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German Pages 378 Year 2014
Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen
Praktiken der Subjektivierung | Band 1
Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie
Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen, Fachrichtung Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft
Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.)
Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist | 9
T EIL I Subjektivierung in sozialen Praktiken Umrisse einer praxeologischen Analytik Thomas Alkemeyer | 33
Anerkennung als Adressierung Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse Norbert Ricken | 69
Subjektivierung in Relationen Ein Versuch über die relationistische Explikation von Sinn Gesa Lindemann | 101
T EIL II Persönlichkeit und geschichtliche Welt Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft Nikolaus Buschmann | 125
»Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen« Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik Dagmar Freist | 151
Der ›Vf.‹ als Subjektform Wie wird man zum ›Wissenschaftler‹ und (wie) lässt sich das beobachten? Thomas Etzemüller | 175
Politik mit Gefühl Emotionen als Subjektivierungselemente des Politischen Gunilla Budde | 197
»Ich wundere mich, daß eine so unscheinbare Handlung eine so große, heilsame Wirkung in der Seele zeigt« Mönchische Praktiken und Selbst-Bildungen bei Caesarius von Heisterbach Rudolf Holbach | 225
T EIL III »Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur« Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft Sabine Kyora | 251
Praktiken des Zu-sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur Silke Wenk | 275
Lebensgestaltung im Netzwerk der Praktiken Überlegungen zu einer praxeologischen Konzeption christlicher Subjektivierung Ulrike Link-Wieczorek | 291
T EIL IV Autonome Subjekte und der Vorrang des Objekts Überlegungen zu einer Implikation von Praxistheorien Maxi Berger | 313
Verkörperter Geist Vicos Neue Wissenschaft und die Frage nach einer Ästhetik der Kultur Johann Kreuzer | 329
Der Wahrnehmungsglaube und Probleme der Sichtbarmachung von Praktiken im Anschluss an Merleau-Ponty Reinhard Schulz | 351
Autorenverzeichnis | 375
Einleitung Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist Subjekt-Diskurse haben Konjunktur: Zunächst, seit dem Ende der 1960er Jahre, in Gestalt der poststrukturalistischen Dekonstruktion des cartesianisch-kantischen Subjekts.1 In der jüngeren Vergangenheit einerseits im Versuch, das Verständnis eines sein Leben wie sich selbst bestimmenden Individuums zu revitalisieren. Andererseits zeichnet sich die Neigung ab, ein neues, revidiertes Subjektverständnis zu entwickeln, das zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsmächtigkeit, Reflexionsvermögen, Selbstbezug und Identität (wieder) Rechnung trägt,2 ohne jedoch hinter die Einsicht in die Historizität und Gesellschaftsgebundenheit des Subjekts zurückzufallen.3 Diese aktuelle Kritik vergangener Subjektkritiken basiert auf der Erkenntnis, dass zusammen mit 1 | Diese poststrukturalistische Dekonstruktion des Subjekts schloss ihrerseits an – unterschiedliche – Kritiken eines idealisierten Subjekts an, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erhoben und zunehmend ausbreiteten. Statt als souveränes und kreatives Wesen wurde das Subjekt u.a. von Marx, Kierkegaard, Nietzsche und Freud als Produkt von außen bzw. ›hinterrücks‹ beeinflussender und steuernder ökonomischer, gesellschaftlicher, geistiger, politischer oder triebhafter Mächte und Kräfte begriffen. 2 | Diese Dimensionen unterscheiden den Subjektbegriff auch von den Konzepten des Individuums und der Person (vgl. die Beiträge von Thomas Etzemüller und Thomas Alkemeyer in diesem Band). 3 | Vgl. exemplarisch Bublitz, Hannelore: Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis, Bielefeld 2010; Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx, Bielefeld 2010; Keller, Reiner/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012; Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006; Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 3. unveränd. Aufl., Tübingen u.a. 2010; Gebauer, Gunter/König, Ekkehard/Volbers, Jörg (Hg.): Selbst-Reflexionen. Performative Perspektiven, München 2012.
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Subjektkonzepten auch deren Kritiken ihren eigenen gesellschaftshistorischen Kontext haben, der ihrer Verabsolutierung entgegensteht.4
B EDINGUNGEN UND M ERKMALE AK TUELLER S UBJEK T -K ONJUNK TUREN Unter einem kulturanalytischen Blickwinkel deutet dieser Wandel der Subjektdiskurse nicht nur auf Veränderungen in den sozioökonomischen ›Basisprozessen‹ der modernen Gesellschaft hin, sondern ist an diesen Prozessen auch selbst tatkräftig beteiligt: Subjekt- und Selbstkonzepte gehören zu den Grundkategorien der Selbstwahrnehmung, -reflexion und -deutung der modernen Gesellschaft. Sie stehen als solche in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis mit deren Ordnungsstrukturen.5 Für historisch verfahrende Kulturanalysen sind Veränderungen von Subjektauffassungen von prominenter Bedeutung, weil diese Auffassungen auf Selbstverständnis und Lebenswelt der Menschen schließen lassen. Die Konjunktur und der leidenschaftlich umkämpfte Charakter von Subjektdiskursen zeigen, dass »die Fragen nach der Form des Subjekts« und der »sozial-kulturellen (Selbst-)Modellierung des Menschen«6 für unsere Kultur und Gesellschaft nach wie vor zu den Schlüsselfragen gehören.7 Der Beginn des aktuellen Diskursbooms von Subjekt, Identität und Selbst lässt sich recht gut datieren: Ähnlich wie ›Körper‹ und ›Raum‹, die nicht zufällig im selben Zeitraum zum Gegenstand zahlreicher Debatten in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften geworden sind, scheinen auch die SubjektKonzepte seit den frühen 1970er Jahren ihre Selbstverständlichkeit verloren zu haben. Angestoßen von einem ökonomischen Denken haben Forderungen nach Flexibilität, Kreativität und Produktivität seither zunehmend die alltägliche Lebenswelt der modernen (westlichen) Gesellschaften erfasst. Ehemals emanzipatorische Hoffnungen auf Selbstbefreiung haben sich in Kreativitäts-
4 | Vgl. Gebauer, Gunter/König, Ekkehard/Volbers, Jörg: »Einleitung«, in: dies., SelbstReflexionen (2012), S. 7-16, hier S. 11. 5 | Gesellschaftliche Strukturen und ihre kulturellen Repräsentationen (in Diskursen, Bildern, Bauwerken, Ritualen, Spielen etc.) sind in kulturanalytischer Sicht relational aufeinander bezogene Dimensionen der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Indem historische Veränderungen von Subjektauffassungen gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse zugleich reflektieren und prägen, gehören sie konstitutiv zu ihnen. 6 | A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 15. 7 | Vgl. auch G. Gebauer/E. König/J. Volbers: Einleitung, S. 10.
E INLEITUNG
imperative und Forderungen nach permanenter Innovation gewandelt:8 Immer mehr Menschen werden mit der normativen Erwartung konfrontiert, sich andauernd zu verändern, anzupassen, neu zu gestalten und zu optimieren.9 Wesentliche Rahmenbedingungen für diesen Wandel sind die nachhaltigen Umstrukturierungen des Sozialstaats in diesem Zeitraum. Unabhängig von ihrer Etikettierung als ›neoliberal‹10 oder ›neosozial‹11 werden in sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen signifikante Zusammenhänge zwischen dem Wandel der Sozialpolitik und den Formen der Vergesellschaftung von Subjektivität, zwischen neuen Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation und individueller Existenzsicherung, zwischen Gesellschafts- und Subjektidealen festgestellt: Die ›Entfesselung‹ des Finanzmarktkapitalismus, Umbrüche in der Organisation von Arbeit und Produktion, die Dauerkrise der öffentlichen Haushalte, der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, der Auftrieb individualisierter Werte- und Lebensführungsmuster, die Revolution der Informationstechnologie, neue Formen und Möglichkeiten der Technologisierung von Geist und Körper (Stichwort: ›enhancement‹) u.v.m. hätten, so eine prominente Zeitdiagnose, einen »neuen Geist des Kapitalismus«12 entstehen lassen: »Die Gesellschaft der Gegenwart gibt sich als ›Aktivgesellschaft‹, und ›ihr‹ Sozialstaat atmet den Geist der ›Aktivierung‹«.13 Mit der teils praktisch vollzogenen, teils aber auch nur proklamierten Gestaltveränderung des (ver-)sorgenden zu einem aktivierenden Sozialstaat sind Forderungen nach Mobilität und Flexibilität, nach Eigentätigkeit, Selbststeuerung und Selbstjustierung zu politischen Steuerungsformeln individueller Selbstnormalisierung geworden. Auch die Allgegenwart des Kompetenz-Begriffs im (bildungs-)wissenschaftlichen Diskursuniversum wie in der Medienöffentlichkeit ist Teil dieser Entwicklung. Anstelle spezifizierbarer Qualifikationen bezeichnet dieser Begriff unspezifische individuumsbezogene Merkmale: Mit Kompetenz sind keine aufgabenbezogenen Eignungen gemeint, sondern nur indirekt zugängliche Dispositionen der ›ganzen Person‹, von denen behauptet wird, sie ließen sich situativ 8 | Vgl. auch Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a.M. 2012. 9 | Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass dies keineswegs alle Milieus der modernen Gesellschaft in gleichem Maße betrifft. Als Gesellschaftsdiagnosen sind deshalb Begriffe wie individualisierte Gesellschaft, Erlebnisgesellschaft oder beschleunigte Gesellschaft nur bedingt tauglich: Sie implizieren die Gefahr eines Mittelschichtsbias. 10 | Butterwege, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (Hg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden 2007. 11 | Vgl. Lessenich, Stephan: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008. 12 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. 13 | S. Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen, S. 16.
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in ganz unterschiedlichen Feldern aktivieren: Der Kompetenzdiskurs adressiert das Individuum als ›Könner/Nichtkönner‹, d.h. als ein Subjekt, das sich nicht durch fachliches Know-how, sondern durch ein komplexes Bündel aus Anlagen, Neigungen, Werthaltungen, Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auszeichnet – oder eben nicht. Impliziert ist die Behauptung, diese ›Schlüsselqualifikationen‹ ließen sich zwar nicht unbegrenzt, aber doch ›immer noch ein wenig mehr‹ steigern – durch pädagogische Kontroll- und Prüfformate, psychologische Testtechniken oder vielfältige Praktiken des Übens und Trainierens.14 Leitend dabei ist die Idee, die persönliche wie die zwischenmenschliche Effektivität (Stichworte: ›soziale‹ und ›emotionale Intelligenz‹) lebenslang steigern zu können. Philosophische Diskurse der (spielerischen) Dekonstruktion des Subjekts und der Selbstbildung alles Humanen,15 soziologische Zeitdiagnosen von »Bastelbiografien«16 und Patchwork-Identitäten im fluiden Kapitalismus oder auch als subversiv etikettierte Körperpraktiken einer mit überkommenden Identitäten experimentierenden Performance-Kunst begleiten diese Entwicklungen intellektuell und ästhetisch. Sie sind damit mehr als deren bloßer Ausdruck, sondern Formen der reflexiven und produktiven Verarbeitung und Gestaltung ›des Realen‹ gemäß der in den verschiedenen Feldern der Wissenschaft und der Kunst gültigen Kodes und Regeln. Es ist wahrscheinlich, dass diese Verarbeitungsformen nicht nur zur kritischen Reflexion, sondern auch zur Verbreitung, Evidenz und Legitimation neuer Gesellschafts- und Subjektentwürfe beitragen.17
N EUE A NFORDERUNGSK ATALOGE UND A NGEBOTE ZUR S ELBSTGESTALTUNG Im Verbund dieser hier nur knapp skizzierten tiefgreifenden Verschiebungen in Ökonomie, Politik, Technologie, Kultur, Kunst und Wissenschaft sind etablierte Grenzziehungen der ›ersten Moderne‹ (zwischen Arbeit und Freizeit, privat und öffentlich, Natur und Kultur, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Authentizität und Verstellung, Mensch und Maschine, Innen und Außen, Subjekt und Objekt) nicht nur durchlässig, sondern oft auch unkenntlich geworden. Eine Folge ist das Ringen um neue Grenzen, zum Teil auch um die Schaffung
14 | Gelhard, Andreas: Kritik der Kompetenz, Zürich 2011, S. 10. 15 | Vgl. etwa Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009. 16 | Hitzler, Ronald: Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur, Opladen 1988. 17 | Vgl. G. Gebauer/E. König/J. Volbers: Einleitung, S. 11.
E INLEITUNG
neuer, ›gegenmoderner‹ Fraglosigkeiten.18 Beispielhaft dafür sind – durchaus populäre – biologisch oder biologistisch argumentierende Ansätze, die das natürliche Fundament eines »Kern-Selbst« propagieren19 oder die Persönlichkeit auf die genetische Ausstattung zurückführen.20 Dieses Ringen betrifft auch den Alltag: Ein wachsender Teil der Menschen sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen handlungsfähig zu sein und vor allem zu bleiben. Komplementär zum Lauterwerden der Forderungen nach Flexibilität, Kreativität, Leistungsoptimierung und Selbstmanagement hat sich ein wachsender und ständig ausdifferenzierender Markt entwickelt, auf dem Vorbilder und Techniken zur Selbstgestaltung und -verbesserung angeboten werden. Im Zentrum steht dabei der Körper mit seinen Praktiken und Performancen: Techniken der Körperformung, -optimierung und -potenzierung – vom Sport und Fitnesstraining über Stil-Rituale bis hin zu schönheitschirurgischen Eingriffen – haben seit den 1970er Jahren an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen und einen wahren Boom erlebt. Einen nicht unerheblichen Beitrag zu diesem Prozess leisten massenmediale Lifestyle-Formate. Vielgestaltige Prozeduren der Körpermanipulation, die sich vordem hinter den Kulissen des Privaten abspielten, werden nun auf die Bühne der Öffentlichkeit gezerrt. Damit werden nicht nur Vorbilder und Deutungsmuster bereitgestellt, sondern die Prozeduren auch normalisiert und veralltäglicht.21 In der postindustriellen Leistungsgesellschaft ist der Körper vor allem in den aufstiegsorientierten Sozialmilieus der Mittelklassen zu einem Medium avanciert, an dessen Modellierung die Hoffnung geknüpft ist, eine ganzheitliche, das Innere wie Äußere einer Person betreffende Selbstformierung zu erreichen. Zugleich wird dem Körper der Status eines idealen ›Schauobjekts‹ übertragen, mit dem sich gesellschaftlich angesehene Tugenden wie Dynamik, Beweglichkeit und Selbstdisziplin für andere wie für sich selbst ›authentisch‹ darstellen lassen: In seiner perfektionierten Form tritt der Körper wie ein Panzer gegen unerwünschte Eigenschaften (Krankheit, Alter, Untüchtigkeit, Erschlaffung) in Erscheinung und verheißt eine – freilich prinzipiell brüchige – Selbstsicherheit in unsicheren Zeiten.22 18 | Vgl. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996. 19 | Vgl. G. Gebauer/E. König/J. Volbers: Einleitung, S. 10, Fn. 8. 20 | Beck, Ulrich: »Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne«, in: Beck/Giddens/Lash, Reflexive Modernisierung (1996), S. 19-112, hier S. 63f. 21 | Vgl. Villa, Paula-Irene (Hg.): Schön normal. Manipulation am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008. 22 | Vgl. Alkemeyer, Thomas: »Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (2007), S. 6-18.
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Schließlich haben gegenkulturelle Strömungen der Popkultur und der modernen Kunst seit der sogenannten Studentenbewegung ihren Teil dazu beigetragen, der Idee ästhetischer Selbstgestaltung einen Resonanzboden weit über die Konsum- und Reproduktionssphäre hinaus zu verschaffen: Ungeachtet ihres empirischen Geltungsbereichs hat die Figur des Künstlers eine Art Modellfunktion auch für die Produktionssphäre erlangt und ist hier in die Sozialfigur eines sich selbst managenden und ständig neu kreierenden »Arbeitskraftunternehmers« integriert worden.23
D ISKURSE UND P R AK TIKEN DER S UBJEK TIVIERUNG Zusammengenommen haben diese Entwicklungen in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ein intensiviertes Nachdenken über den Status des Subjekts, seine Herstellbarkeit und die Möglichkeiten seiner Veränderung durch ›äußere‹ Kräfte und Mächte, gerade in jüngerer Zeit aber auch zunehmend (wieder) über die Bedingungen des Entstehens kritischer (Selbst-)Reflexion und widerständigen Verhaltens provoziert.24 Allerdings krankt die Debatte daran, dass sich das Interesse bislang einseitig nur auf diskursive Subjektentwürfe der Moderne konzentriert hat. Empirisch beobachtbare Praktiken der Subjektivierung25 in verschiedenen Sozialbereichen und zu unterschiedlichen historischen Zeiten sind hingegen unterbelichtet geblieben. Mit dem Instrumentarium der Diskursanalyse ist es gelungen, diskursiv proklamierte Subjektideale und normative Forderungen an das Subjekt nachzuzeichnen. Spannungen oder auch Widersprüche zwischen diskursiven 23 | Pongratz, Hans J./Voß, Gerd-Günter: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; vgl. auch L. Boltanski/È. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. 24 | Vgl. bspw. die sich in Frankreich seit den 1980er Jahren in kritischer Auseinandersetzung insbesondere mit dem Ansatz Pierre Bourdieus sich entwickelnde »Soziologie der Konventionen«, in der Fragen sowohl nach den konstruktiven (›agency‹) als auch nach den kritisch-reflexiven Kompetenzen von Akteuren in den Vordergrund rücken. Vgl. Diaz-Bone, Rainer: »Einführung in die Soziologie der Konventionen«, in: ders. (Hg.), Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie, Frankfurt a.M./New York 2011, S. 9-41. 25 | Der Begriff der Praxis ist im Konzept der Subjektivierung im Grunde bereits enthalten: Jede Subjektivierung geschieht in Praktiken. Wenn wir uns dennoch für den in diesem Sinne tautologischen Titel »Praktiken der Subjektivierung« entschlossen haben, dann deshalb, weil wir damit die für uns grundlegende, in den Begriff ›Subjektivierung‹ bereits eingefaltete praxistheoretische Perspektive entfalten und so offensiv markieren wollen.
E INLEITUNG
›Ansprüchen‹ und empirischer ›Wirklichkeit‹ lassen sich jedoch ausschließlich dann entdecken, wenn die Praktiken der Subjektivierung in den Blick genommen werden.26 Erst dann lassen sich auch die Ambivalenzen und Brüche jeder Subjektwerdung erkennen, die nicht zuletzt auf widersprüchlichen Erfahrungen beruhen können. Eine kritische Perspektive auf Subjektivierungsprozesse eröffnet sich mithin allein in der Verklammerung von Gesellschafts- und Diskursanalysen auf der einen mit Rekonstruktionen alltäglicher Selbst-Bildungsprozesse auf der anderen Seite.27 Eben diese Verklammerung gehört zum Programm des Oldenburger Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«. Leitend für die im Rahmen des Kollegs entstehenden Dissertationen und Habilitationen ist eine praxeologische Perspektive, die im interdisziplinären Zusammenspiel historischer und gegenwartsbezogener Analysen empirisch eingelöst und weiter ausgearbeitet werden soll.28 Bei dieser Perspektive handelt es sich nicht um ein systematisches Theoriegebäude, sondern um einen an empirischen Problemstellungen orientierten, theoretisch-methodologischen Zugang, der sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten u.a. im Umkreis der Ethnomethodologie, Erving Goffmans Interaktionsanalysen, verschiedenen Artefakttheorien, der soziologischen Wissenschaftsforschung, der Organisations-, Medien- und Geschlechtersoziologie, am späten Wittgenstein anschließenden Sozialontologien, den Cultural Studies, der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und, last but not least, der Praxeologie Pierre Bourdieus herausgebildet hat.29 Im deutschen Sprachraum kommt insbesondere Andreas Reckwitz das Verdienst zu, aus dieser Gemengelage disparater theoretischer Zugänge zum Kulturellen und Sozialen gemeinsame Problemstellungen, Sichtweisen, Denkstile und Themen herauspräpariert zu haben, die für die hiesigen Diskussionen um einen kultur- und sozialwissenschaftlichen ›practice turn‹ zentral sind.30 Bei aller Unterschiedlichkeit ähneln sich die genannten Zugänge in ihrer doppelten analytischen Stoßrichtung gegen handlungstheoretische Ansätze auf der einen und strukturtheoretische Ansätze auf der anderen Seite: Soziale Ordnungen, Regelmäßigkeiten und Strukturmuster werden weder auf das Handeln 26 | Vgl. ausführlicher den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 27 | Vgl. die Beiträge von Nikolaus Buschmann und Thomas Etzemüller in diesem Band. 28 | Das Kolleg wird seit dem 1. Oktober 2010 von der DFG gefördert. 29 | Vgl. ausführlich Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a.M. 2012, S. 28-71. 30 | Vgl. besonders Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301. Ausführlichere Darstellungen des praxistheoretischen Zugangs finden sich auch bei Thomas Alkemeyer und Dagmar Freist in diesem Band.
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souverän-autonomer Individuen zurückgeführt, noch werden diese Strukturen als eigenständige verhaltensdeterminierende Mächte vor, hinter oder außerhalb der sozialen Praxis verstanden. Vielmehr steht ihr alltägliches, situationsgebundenes ›doing‹ im Zentrum theoretisch-empirischer Analysen.31 Praxisvollzüge und Strukturen haben in dieser Perspektive keine voneinander unabhängige Existenz, sondern sind koextensiv, so dass auch die in der soziologischen Tradition tief verankerte Logik der Mikro-Makro-Unterscheidung ausgehebelt wird. Anstelle von Bewusstseinsformen, Ideen, Werten, Normen, Symbolsystemen, Sichtweisen, Motiven oder individuellen Absichten treten die verkörperten interdependenten Aktivitäten der Teilnehmer sozialer Praktiken in den Fokus ethnografischer bzw. praxeografischer32 Beobachtungen und Beschreibungen. Diese fokussieren insbesondere die Zeitlichkeit, die Körperlichkeit und die materielle Vermitteltheit der praktischen Vollzüge: Dinge und Artefakte wie Werkzeuge, Maschinen, Kleidung, Sprache, Bilder, Sitten und Gebräuche werden als »Ko-Akteure des Sozialen« in den Blick genommen.33 Gemeinsames praktisches 31 | Im Anschluss an Karin Knorr-Cetina (»The Micro-Sociological Challenge of Macro-Sociology. Towards a Reconstruction of Social Theory and Methodology«, in: dies./ Aaron Victor Cicourel (Hg.), Advances in Social Theory and Methodology, Boston 1981, S. 1-48) kann diese Perspektive in Abgrenzung zum methodologischen Individualismus wie zum methodologischen Kollektivismus als methodologischer Situationalismus gekennzeichnet werden (vgl. auch R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 44). 32 | Mit dem Ausdruck ›Praxeografie‹ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass nicht ›Ethnien‹ i.S. kulturell bestimmter Teilnehmergruppen, sondern praktische Vollzüge zwischen verschiedenen Teilnehmern, Trägern und Infrastrukturen der Gegenstand von Beobachtung und Beschreibung sind (vgl. R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 49, Fn. 71). 33 | Für die Bedeutung der Welt der Artefakte an der Konstituierung des Sozialen hat in jüngerer Zeit vor allem Bruno Latour sensibilisiert (vgl. bspw. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007; ders.: Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002; ders.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1991). Dabei sind die Unterschiede zwischen der Handlungsträgerschaft von ›humans‹ und ›non-humans‹ umstritten: Während die Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie ihre Symmetrie postulieren, sehen andere einen Unterschied darin, dass ›humans‹ ihre ›doings‹ im Unterschied zu den ›acts‹ von ›non-humans‹ artikulieren, d.h. für andere beobachtbar, intelligibel und mitteilbar machen können. Sie indizieren, wie ihre ›doings‹ verstanden sollen und tragen dazu bei, ein Geschehen »als dieses oder jenes soziales Geschehen zu identifizieren und damit sinnhaft zu verwirklichen« (R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 69; vgl. auch Rammert, Werner: Technik in Aktion: Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen, Opladen 2003). Auch wenn Dingen und Artefakten keine eigene Intentionalität und Fähig-
E INLEITUNG
Wissen und sozialer Sinn verbergen sich in dieser analytischen Perspektive nicht hinter dem, sondern stecken im beobachtbaren Geschehen: Das Interesse richtet sich darauf, wie sie im Tun generiert werden und wie sie sich in einem öffentlichen – und damit prinzipiell beobachtbar zu machenden – Raum kollektiv geteilter Perspektiven manifestieren. Aufgrund dieser Orientierung am Offensichtlichen und Öffentlichen stehen praxeologische Zugänge »in einer Wahlverwandtschaft zur Beobachtung«,34 ohne dass allerdings andere kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden wie Dokument-, Bild- und Diskursanalysen oder Interviews ausgeschlossen würden. Ihnen kommt im Rahmen praxeologischer Untersuchungsdesigns unter anderem die Funktion zu, den Beitrag von Texten oder Bildern an der Subjektivierung in »Praxis/DiskursFormationen«35 herauszupräparieren. Und sie können dem wissenschaftlichen Beobachter zweiter Ordnung helfen, Auskünfte auch darüber zu erlangen, was ihm bei der Beobachtung verschlossen bleiben muss.36 Traditionelle kultur- und sozialwissenschaftliche Dichotomien zwischen Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Theorie und Praxis, Handlung und Struktur oder Individualität und Kollektivität werden im Rahmen dieses Zugangs zum Sozialen destabilisiert. Für das Subjekt hat dieser Zugang die Konsequenz, aus dem Zentrum des Geschehens gerückt zu werden: Das Subjekt ist nicht länger der souveräne Ausgangspunkt sozialen Handelns, sondern wird den Praktiken in gewisser Weise nachgeordnet: ›Handlungssubjekte‹ mit ihren jeweiligen Intentionen, ihren empathischen, intellektuellen, sinngebenden und urteilenden Fähigkeiten, ihren sozialen Identitäten als ›Männer‹ oder ›Frauen‹, als ›Migrantinnen‹ oder ›Einkeit zur Sinngebung unterstellt werden, können sie doch als »Aufforderungskomplexe« (Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt a.M. 1994, S. 482) mit eigenen, reflexiv nur schwer zu kontrollierenden Wirkungen betrachtet werden. Diese Phänomene sind schon länger bekannt. Auf sie haben u.a. bereits der Sozialpsychologe Kurt Lewin (Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, Bern 1963, S. 350) und in der Erziehungswissenschaft Karl-Josef Pazzini (Die gegenständliche Umwelt als Erziehungsmoment, Weinheim/Basel 1983) oder Käte Meyer-Drawe (»Herausforderung durch die Dinge. Das andere im Bildungsprozess«, in: Zeitschrift für Pädagogik 45 [1999], S. 329-342) aufmerksam gemacht. Vgl. auch den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band. 34 | R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 45. 35 | Reckwitz, Andreas: »Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation«, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188-209, hier S. 201ff. 36 | Interviews können u.a. Auskunft über den aus Sicht der Befragten in die Praktiken eingelagerten Sinngehalt, oder sie ermöglichen ein ›Anzapfen‹ des Hintergrundwissens und der Deutungen der Teilnehmer, lassen das Geschehen in der Folge mit anderen Augen sehen und können so helfen, die eigene Beobachtungsfähigkeit zu verbessern.
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heimische‹, als ›Angestellte‹ oder ›Arbeiter‹ gehen in praxeologischer Perspektive »erst aus der Inkorporierung von menschlichen Körpern in soziale Praktiken hervor«:37 Sie bilden und schaffen sich als Subjekte, indem sie sich in den ›Spielzügen‹ diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken für andere wie für sich selbst intelligibel machen und als ›mitspielfähig‹ zeigen, d.h. indem sie eine erkennbare und bestimmten normativen Forderungen entsprechende, anerkennbare Form annehmen, die in ihren Bewegungen, Haltungen, Mimiken, Gesten und ›Auftritten‹ zum Ausdruck kommt. ›Mitspielfähigkeit‹ beruht dabei zentral auf einem praktischen, inkorporierten Wissen, das durch praktische Mitgliedschaft in einem sozialen Feld erworben wird. Mit dieser Idee wird, darauf hat Armin Nassehi hingewiesen, eine alte Einsicht des Pragmatisten John Dewey »in die praktische Verschlingung von Motiv und Handlung und in die Subjekt konstituierende, nicht: voraussetzende Funktion der Erfahrung« aufgegriffen:38 Die in sozialen Praktiken erzeugten Ordnungen und deren Subjekte konstituieren sich gegenseitig – und sie verändern sich damit auch in ein und demselben Prozess.39 Das Subjekt wird in dieser Sicht nicht transzendent, also hinter der Praxis, angesetzt, sondern empirisch, d.h. in der Praxis. Das bedeutet, es entwickelt auch in historisch-gesellschaftlichen Praktiken seine Selbstbeziehungen und seine Fähigkeiten zur Stellungnahme.40
S UBJEKTFORMEN , - POSITIONEN , - KULTUREN UND - ORDNUNGEN Im Anschluss an Reckwitz können die Formen, in denen Individuen für andere wie für sich selbst als Subjekte intelligibel werden, als Subjektformen bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um gesellschafts- oder bereichsspezifische kulturelle Typisierungen wie ›der Bürger‹, ›die Unternehmerin‹, ›der Autor‹, ›die Wissenschaftlerin‹ oder ›der Sportler‹. Diese Formen sind bewohnbaren Zonen vergleichbar, die von einem Individuum auf eine akzeptierte Weise bewohnt werden müssen, um als Subjekt soziale Anerkennung zu erlangen:41 Das 37 | R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 70. 38 | Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 228. Zur Bedeutung von (leiblicher) Erfahrung in den Prozessen der Subjektivierung vgl. auch die Beiträge von Nikolaus Buschmann, Maxi Berger und Reinhard Schulz in diesem Band. 39 | Vgl. Alkemeyer, Thomas u.a. (Hg.): Ordnung in Bewegung Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung, Bielefeld 2010. 40 | Vgl. auch den Beitrag von Johann Kreuzer in diesem Band. 41 | Vgl. Villa, Paula-Irene: »Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen«, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Wiesbaden 2010, S. 251-274. Zur Bedeutung von Anerkennung für die Subjektivierung vgl. auch den Beitrag von Norbert Ricken in diesem Band.
E INLEITUNG
Individuum muss die mit diesen Zonen verknüpften normativen Erwartungen öffentlich darstellen, um sich als Subjekt herzustellen.42 Diese Erwartungen an das Individuum beziehen sich nicht nur auf die äußerliche Repräsentanz wie es im Konzept der sozialen Rolle angelegt ist.43 Vielmehr werden sie im Prozess ihrer Subjektivierung praktisch angeeignet, verinnerlicht und sichtbar verkörpert, d.h. zu einem Teil des Subjekts. Entsprechend des praxeologischen Ansatzes des Kollegs wird der Körper also nicht als eine bloß passive Projektionsfläche bzw. als das fertige ›Schaustück‹ eines idealen Selbst betrachtet, sondern als Medium und Schauplatz der Subjekt-Werdung beobachtet. Die zu verkörpernden Subjektformen entstehen und existieren nicht in einem luftleeren, machtfreien Raum, sondern im Schnittfeld von sozialen Feldern, Subjektkulturen und Subjektordnungen.44 Mit dem Konzept des sozialen Feldes greifen wir auf Ideen Pierre Bourdieus zurück, der damit nicht nur die innere Logik und Dynamik verschiedener Sozialbereiche in den Blick bringt, sondern auch die relationalen Positionierungen der Akteure in diesen Bereichen.45 So sieht jedes soziale Feld bestimmte – komplementär, agonal, hierarchisch oder egalitär aufeinander bezogene – Subjektpositionen (wie des ›Autors‹ und des ›Rezipienten‹ im Feld des Kulturellen; des ›Hochleistungsathleten‹, des ›Freizeitsportlers‹ und des ›Zuschauers‹ im Feld des Sports; der ›Ärztin‹ und des ›Patienten‹ im Feld der Medizin; der ›Unternehmerin‹, des ›Angestellten‹ und des ›Konsumenten‹ im Wirtschaftsleben; der ›Wissenschaftlerin‹ und des ›studentischen Mitarbeiters‹ im akademischen Feld usw.) vor, auf die konkrete Individuen als Bezugspunkte verwiesen sind, um in diesem Feld als Subjekt mit einer positionsspezifischen Funktion agieren zu können.46 Jede
42 | Die praxeologische Perspektive teilt dieses Interesse für Wirklichkeitskonstruktionen in performativen Praktiken der gleichzeitigen Dar- und Herstellung mit dem sogenannten ›performative turn‹ (vgl. u.a. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004; Wirth, Uwe [Hg.]: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002). 43 | Vgl. Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie, 2. Aufl., Weinheim/München 2002, S. 37-70. 44 | Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt; ders.: Subjekt, Bielefeld 2008. 45 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998; ders.: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000; ders.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001; ders.: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001; ders.: »Das literarische Feld«, in: Louis Pinto/Franz Schultheis (Hg.), Streifzüge durch das literarische Feld, Konstanz 2007, S. 33-147. 46 | Vgl. auch die Beiträge von Sabine Kyora und Thomas Etzemüller in diesem Band.
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Subjektposition eröffnet oder verschließt dabei Möglichkeiten des Handelns, Sprechens, Denkens, Fühlens und der Selbstthematisierung.47 Mit Subjektkulturen sind cum grano salis historisch sich verändernde und umkämpfte Komplexe aus Praktiken, diskursiven Semantiken, (impliziten) Wissensordnungen und kulturellen Kodes gemeint, die die bewohnbaren Zonen der Subjektformen abstecken. Diese Komplexe können sich von Feld zu Feld unterscheiden. Der Terminus Subjektordnung bezieht sich hingegen auf feldübergreifende historisch-gesellschaftliche (Macht-)Konstellationen typisierter Personen, wie die Geschlechterordnung, die Relationen zwischen den sozialen Klassen oder die Beziehungen unterschiedlicher ethnischer Identitäten, die in jedem Feld ihre spezielle Ausprägung und Gestalt gemäß der dort herrschenden Subjektkulturen erlangen.
S ELBST-B ILDUNGEN Das begriffliche Instrumentarium von Subjektformen, -positionen, -kulturen und -ordnungen richtet den Blick primär auf die historisch wandelbaren kulturellen Kodes und Kriterienkataloge für Subjektförmigkeit, die über diese Praktiken und korrespondierende Diskurse hinweg existieren. Individuen werden in dieser Sicht zu Subjekten, wenn sie sich in der Teilnahme an alltäglichen sozialen Praktiken sowie in speziellen Praktiken des Übens, Trainierens und der Reflexivität48 körperlich wie psychisch in eine (hegemoniale) Subjektform einpassen. Diese Perspektive ist aufschluss- und ertragreich, aber sie birgt auch die ›objektivistische‹ Gefahr, Praxis- und Subjektformen an die Stelle der inzwischen »vielgeschmähten Strukturen«49 treten zu lassen. Um dieser Gefahr zu 47 | Eine historisch spezifische Form der Selbstthematisierung sind Geständnispraktiken, vgl. Hahn, Alois: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 11. 48 | Mit »Praktiken der Reflexivität« bezeichnet Andreas Reckwitz (»Praktiken der Reflexivität. Eine kulturtheoretische Perspektive auf hochmodernes Handeln«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 169182, hier S. 177f.) Praktiken wie die Selbstbeobachtung und das ›self-monitoring‹, die gezielt trainiert werden, um beispielsweise gegenwärtigen gesellschaftlichen Erwartungen an körperliche Attraktivität, gesundheitsbewusstes Verhalten oder emotionale Intelligenz entsprechen zu können. 49 | Füssel, Marian: »Die Rückkehr des ›Subjekts‹ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive«, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 141-159, hier S. 159.
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entgehen und den Gegensatz von individualistischen (subjektivistischen) und holistischen (strukturalistischen) Ansätzen auszubalancieren, richten praxeologische Ansätze das Interesse auf die Koextensivität von Praktiken und ihren Subjekten. Jedoch kann diese Balance nur dann realisiert werden, wenn beiden Seiten die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wird. Wenn also die Analyse von Subjektivierungsprozessen nicht allein der formativen Kraft kulturell kodifizierter Praxisformen gilt, sondern im gleichen Maße auch den Selbstbeziehungen und den vielfachen konstruktiven wie kritisch-reflexiven Fähigkeiten, die Individuen im Laufe ihrer Subjektivierung erwerben, stabilisieren und ausbauen. Diese Fähigkeiten erlauben es ihnen nicht nur ›mitzuspielen‹ und sich in unvorhergesehenen bzw. unklaren Situationen mit anderen – menschlichen und nichtmenschlichen – Handlungsträgern zu koordinieren, sondern auch reflektiert Stellung zu beziehen, intentional in ein soziales Geschehen einzugreifen, Kritik zu üben und eine Subjektform performativ durch »Überschreibungen«50 zu verändern – jedoch nicht souverän und autonom, sondern aus den Verflechtungszusammenhängen des Geschehens heraus, das durch kulturelle Konventionen zwar präfiguriert, historisch jedoch wandelbar und damit nicht determiniert ist. Mit dem Terminus Selbst-Bildungen legen wir explizit den Akzent auf diesen Eigenanteil der Individuen an der praktischen Aus- und Umgestaltung vorgefundener Subjektformen und damit an ihrer eigenen Subjektwerdung in verschiedenen Kontexten, ohne die Individuen als absolut agierende Subjekte misszuverstehen. Fern von einem bildungsbürgerlich eingeschliffenen und normativ besetzten Verständnis nehmen wir den Begriff Bildung wörtlich. In unserem Sinn werden damit Formungs- und Erfahrungsprozesse bezeichnet, die man durch Teilnahme an sozialen Praktiken an und mit sich selber macht, wobei die Betonung auf ›machen‹ liegt. Selbst-Bildungen sind in diesem Sinne sozio-kulturell gerahmte Entdeckungs-, (Er-)Findungs- und Schaffensprozesse, die im historischen Prozess zunehmend unter dem Einfluss von Bildern (Gemälden, Fotos, Videos, digitalen Bildern etc.) stattfinden.51 Auch dies ist ein Grund für unser Festhalten am Bildungsbegriff. Während die Begriffe ›Subjekt‹ und ›Subjektivität‹ zumindest in Philosophie und Soziologie deutlich neuzeitlich bzw. modern konnotiert sind, ist die philosophische Verwendung des Begriffs ›Selbst‹ demgegenüber vor allem durch eine Absetzbewegung von dem Konzept der Subjektivität motiviert.52 Wenn Mi50 | Vgl. den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band sowie P.-I. Villa: Subjekte und ihre Körper. 51 | Vgl. den Beitrag von Silke Wenk in diesem Band. 52 | In der Philosophie sind sie neuzeitlich durch den Cartesianismus und dann modern durch Kant und den deutschen Idealismus festgelegt. Subjekti vität ist in dieser neuzeitlich-modernen Perspektive eine Verhältnisbestimmung: Ein Wesen ist ein Subjekt, wenn die Beziehung, die es zu anderen – Objekten wie Subjekten – herstellt, mit einer Bezie-
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chel Foucault in seinen letzten Arbeiten von einem Selbst (»soi«)53 spricht oder Charles Taylor von »Sources of the Self«,54 hat das mit der Ausweitung des theoretischen Blicks auch auf nicht-neuzeitlich-moderne ›Subjektkonzepte‹ zu tun. Der Begriff des Selbst ist in diesen Arbeiten also historisch und umfangslogisch weiter konzipiert als der des Subjekts. Mit dem Begriffspaar ›Subjektivierung‹ und ›Selbst-Bildung‹ wird somit ein begriffliches und zeitliches Spannungsfeld aufgemacht, das es erlaubt, Prozesse der Subjektwerdung und der Selbstgestaltung unabhängig von gängigen historischen Epocheneinteilungen entlang der triangulären Konstellation von Feldern, Positionen und Praktiken in den Blick zu bringen und diese Konzepte als analytische Seh-Hilfen zu gebrauchen, mit denen beansprucht wird, das Wechselspiel zwischen Welt- und Selbstverhältnis auch in früheren Epochen auszuleuchten.55
hung auf sich selbst einhergeht. Dieser Subjektbegriff unterscheidet sich deutlich von dem der Frühen Neuzeit. ›Subjectum‹ meint hier ontologisch dasjenige, das ›zugrunde liegt‹, grammatisch dasjenige, auf das Prädikate angewendet werden, und politisch eine Person als ›Untertan‹. Zwar führt Descartes den Subjektbegriff auf das für die Folgezeit leitende mentalistische bzw. bewusstseinsphilosophische Subjekt-Objekt-Paradigma eng, doch wird erst mit Kant und dem deutschen Idealismus das Subjekt zu einem Wesen, dessen Beziehung auf Objekte in der Beziehung auf sich selbst gründet (für diese Hinweise danken wir Joseph Früchtl; vgl. auch Menke, Christoph: »Subjekt, Subjektivität«, in: Karlheinz Barck u.a. [Hg.], Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2003, 5. Bd., S. 734-787, hier S. 734f., mit Bezug auf Rehn, Rudolf: »Subjekt/Prädikat«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1998, 10. Bd., S. 433-437, Kible, Brigitte: »Subjekt«, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie [1998], S. 373-383, sowie den Artikel »Selbst«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer [Hg.], Historisches Wörterbuch der Philo sophie, Darmstadt/Basel 2007, Bd. 13, Digitale Beilage). 53 | Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a.M. 1989 (fr. Ausgabe Histoire de la sexualité, vol. 3. Le souci de soi, Paris 1984). 54 | Taylor, Charles: Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, Havard 1989. 55 | Antrag für ein Graduiertenkolleg zum Thema »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«, Oldenburg 2009. Dies schließt ausdrücklich die Untersuchung der historischen Veränderungen jener grundlegenden Kriterien ein, anhand derer kontinuierlich zwischen ›subjektivierbaren‹ Entitäten und anderem unterschieden wird. Ebenso steht die Geschichtlichkeit der Attribute, die zu ›Subjektivierbarkeit‹ befähigen, auf dem Prüfstand. Fraglich ist bspw. die Universalität der für das neuzeitlich-moderne Subjekt unerlässlichen Attribuierungen von Zurechnungsfähigkeit und Selbstverantwortung (vgl. die Beiträge von Gesa Lindemann und Thomas Alkemeyer in diesem Band).
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G ESCHICHTLICHKEIT Einerseits ist ein Wandel von Subjektformen und Subjektivierungsweisen im Laufe der Geschichte wahrscheinlich und empirisch nachweisbar. Andererseits gehören zum Prozess der Selbst-Bildung immer auch Momente des Aufgreifens und Aneignens, des Umformens und Umdeutens bereits existierender Subjektformen. Das Individuum kann in seinem Subjektivierungsprozess auf historische Vor-Bilder zurückgreifen, und es tut dies auch – mal mehr, mal weniger – bewusst. Hat auch jeder historische Kontext seinen spezifischen anerkannten Subjektideale, so existieren diese doch nicht völlig losgelöst von vorgängigen Subjektmodellen. Wie man etwa als Kurator oder Lehrerin, als Unternehmer oder Politikerin auftritt, sich kleidet, welchen Konsumstil man pflegt, welcher Semantiken man sich bedient, mit welchen Gegenständen man sich umgibt, um einer anerkannten Subjektform zu entsprechen, ist historisch höchst variabel und in der Regel ein Ensemble von tradierten und innovativen Elementen. Indem Subjektivierungsprozesse im historischen Längsschnitt untersucht werden, wird die in Philosophie und Soziologie gängige Gleichsetzung von Subjekt und Moderne kritisch hinterfragt, ohne indes die qualitativ neue Dimension des Subjektbegriffs seit dem 18. Jahrhundert aus den Augen zu verlieren. Gerade durch einen historisch komparativen Ansatz lässt sich diese qualitative Veränderung klarer konturieren. Selbst-Bildungen vollziehen sich stets in Praktiken des – mal mehr, mal weniger bewussten – Adaptierens, Variierens, Verwerfens und Delegitimierens bereits existierender, hegemonialer Subjektformen.56 Besonders prägnant tritt dies in sozialen Kämpfen und kulturellen Konflikten zutage, etwa dann, wenn neue gesellschaftliche Formationen auf den Plan traten, die herrschende Eliten herausforderten und Einflusskraft und Deutungsmacht beanspruchten. 56 | Reckwitz (Das hybride Subjekt) rekonstruiert dies für die Moderne, für die er drei sich ablösende hegemoniale Subjektmodelle unterscheidet: Das »moralisch-souveräne Subjekt« der bürgerlichen Moderne, das »nach-bürgerliche Angestelltensubjekt« der organisierten Moderne und das »konsumtorische Kreativsubjekt« der Postmoderne. Er hebt dabei auf den umkämpften Charakter, die Hybridität und die Diskontinuität dieser Formationen ab: Subjektkulturen werden als »ein Palimpsest von kulturellen Versatzstücken der Subjektivität« (S. 15) und von der »selektiven Verarbeitung des Früheren im Späteren« (S. 88) sichtbar gemacht. Dies ermöglicht nach Reckwitz immer wieder die Bildung von Gegenbewegungen, »die die inneren Widersprüche der hegemonialen Kultur aufgreifen, deren Universalitätsanspruch herausfordern und damit letztlich eine subjektgeschichtliche Dynamik in Gang halten würden« (Luks, Timo: »Rezension zu: Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006«, in: H-Soz-u-Kult, 30.10.2007, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-088, abgerufen am 25.09.2012).
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Entwürfe alternativer Subjektformen in mönchischen Diskursen, sich neu formierende soziale Gruppen innerhalb der Ständegesellschaft, Subjektivierungen von Wissenschaftlern oder Veränderungen in der Bedeutung von Emotionen für Politiker sind dabei Beispiele von vielen in der Geschichte.57 Wie in einem Brennglas gebündelt werden über die historische Analyse konkreter Subjektivierungspraktiken und ihrer Transformationen damit auch Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen beobachtbar – und damit die gesellschaftstransformierende Dynamik, die von Subjektivierungsprozessen ausgehen kann.
I NTERDISZIPLINARITÄT Um die verschiedenen – historischen, kulturellen, diskursiven, bildhaften, materiellen und körperlichen – Ebenen von Subjektivierungen in den Blick zu bringen, ist ein intensiver interdisziplinärer Austausch unabdingbar. Die Beiträger und Beiträgerinnen zu diesem Band stammen aus der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Philosophie, der Kunstgeschichte, der Literaturwissenschaft, der Erziehungswissenschaft und der evangelischen Theologie. Diese Interdisziplinarität sichert ein breites Spektrum an Methoden, Fragestellungen und Perspektiven. Eine besondere Herausforderung interdisziplinärer Arbeit besteht darin, die einzelnen Perspektiven nicht einfach zu addieren, sondern in Diskussionen und Kooperationen eine gemeinsame Sprache zu finden. Diese Herausforderung haben die Beteiligten des Graduiertenkollegs produktiv aufgegriffen und eine gewisse, an einem gemeinsamen Interesse an Praktiken orientierte Kongruenz des forschungspraktischen Zugriffs entwickelt. Dies scheint uns eine gute Basis zu sein, um einen eigenen intellektuellen Beitrag zu der derzeitigen Subjektivierungsdebatte beizusteuern. Jede der beteiligten Disziplinen hat ihre eigenen methodischen Grundlagen, Traditionen und Techniken, wissenschaftliche Fragestellungen zu entwerfen und zu beantworten. So ist der Blick der Kunsthistoriker, Historiker, Philosophen, Erziehungswissenschaftler, evangelischen Theologen oder Soziologen auf den Prozess der Subjektivierung jeweils anders. Verkürzt gesagt, konzentriert sich die Kunstgeschichte auf visuelle Praktiken, die Geschichte auf Zeitstrukturen, historische Erscheinungsformen der Praktiken der Subjektivierung und gesellschaftliche Transformationsprozesse, die Theologie auf das theologische Sprachspiel als eine Ausdrucksmöglichkeit für die stumme Voraussetzung des Subjektivierungskonzepts sowie die Lebensgestaltung in religiösen Praktiken, die Soziologie auf die Relationalität von Subjektivierungen und die Konstitution von Subjektförmigkeit in verkörperten sozialen Praktiken, die Literaturwissenschaft auf sprachlich-literarische Subjektentwürfe und Au57 | Vgl. die Beiträge von Rudolf Holbach, Dagmar Freist, Thomas Etzemüller und Gunilla Budde in diesem Band.
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torendarstellungen, die Philosophie auf die Bedeutung sprachlich-diskursiver Praktiken für die Selbstreflexion sowie die Beziehungen zwischen Geistigem und Leiblichem in der Subjektivierung und die Erziehungswissenschaft auf pädagogische Praktiken der Selbst-Bildung sowie die Bedeutung von Anerkennung in diesen Praktiken. Jede dieser Perspektiven hat ihre Stärken aber auch ihre Blindstellen. Wenn nun diese unterschiedlichen disziplinären Sichtweisen aufeinandertreffen, erfolgt dies anders als etwa in den Ingenieurs- oder Naturwissenschaften, bei denen oft ein genau definiertes Problem im Zentrum steht, das durch die Synthese unterschiedlicher Expertise einer möglichst relativ eindeutigen Lösung zugeführt werden soll. Bei unserem geistes-, kulturund gesellschaftswissenschaftlichen Zugang geht es eher darum, dass sich die methodisch ›eigensinnigen‹ Perspektiven der beteiligten Disziplinen produktiv irritieren, inhaltlich ergänzen, kritisch befragen und methodisch stimulieren. Interdisziplinarität heißt hier gerade nicht, eine ›Lösung‹ zu finden, sondern die Praktiken der Subjektivierung durch aufeinander reagierende Perspektiven und Fragen zu umkreisen und in ihrer Vielfältigkeit zu analysieren. So können etwa die körperlichen und vorsprachlichen, auf einem verkörperten Praxiswissen beruhenden Dimensionen der Subjektivierung aus einer sport- und körpersoziologischen Perspektive in den Blick gebracht werden. Oder theoretisch-reflektierende, historisch-empirische Analysen von Praktiken der Subjektivierung können dazu dienen, von gegenwärtigen Subjektkonzepten aus historische Subjektivierungsformen zu erschließen, um dann zu prüfen, wie diese durch die Zeit und über verschiedene Felder hinweg adaptiert, re-artikuliert, anverwandelt und verändert wurden und Transformationsprozesse erklärbar machen. Damit wird zugleich die Historizität der aktuellen Subjektivierungskonzepte fokussiert und die analytische Grundlage strukturanalytisch orientierter Ansätze kritisch hinterfragt. Gerade der wissenschaftliche Austausch zwischen den Disziplinen stellt sicher, dass empirische Untersuchungen nicht zu einer reinen Affirmation gegenwärtiger Theorien führen. Auf diesem Weg wechselseitiger Ergänzung, Irritation und Kritik hoffen wir, das Verhältnis von ›doing subject‹ und ›doing culture‹ neu beschreiben zu können. Der dem überwiegenden Teil der vorliegenden Beiträge gemeinsame historisch-praxeologische Ansatz ist bislang nur ansatzweise in empirische Untersuchungen umgesetzt worden, noch weniger existiert eine entsprechende interdisziplinäre Methodologie. Beides voranzutreiben, wird eine prominente Herausforderung für die zukünftige interdisziplinäre Arbeit des Graduiertenkollegs sein. Dieser Band versteht sich als ein Baustein auf diesem Weg. Er verfolgt das Anliegen, Grundzüge einer Analyseoptik für die Untersuchung historisch wandelbarer sozial-kultureller Formen und Praktiken der Selbst-Bildung zu skizzieren, die Leistungsfähigkeit eines interdisziplinären Vorgehens anzudeuten und Ansätze theoretisch-empirischer Analysen historischer Subjektivierungsprozesse zu präsentieren. Eine weitere Füllung und Ausarbeitung
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dieses Programms erhoffen wir uns von den im Rahmen des Graduiertenkollegs entstehenden Dissertationen und Habilitationen. Nach einem ersten, überwiegend theoretisch ausgerichteten Kapitel orientiert sich die Gliederung des Bandes an den beteiligten Disziplinen. Dabei geht es in den meisten Beiträgen darum, die theoretische Reflexion forschungspraktisch fruchtbar zu machen und zugleich aus der Empirie theoriebildend zu wirken und so eine Trennung zwischen Theorie und Empirie zu destabilisieren.58 Den Auftakt des ersten Teils bildet der Aufsatz von Thomas Alkemeyer zu »Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik«. Ihm liegt ein performatives Verständnis des Subjekts zugrunde. In Abgrenzung sowohl von der neuzeitlich-modernen Idee eines autonomen Subjekts im Sinne einer souveränen Quelle des Handelns als auch von sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die Handelnde auf bloße ›Agenten‹ überindividueller Strukturen reduzieren, wird das Subjekt in seinen verschiedenen Facetten als Erfahrungsraum, Selbstbezug und Identität als eine Entität begriffen, die es nur in historisch wandelbaren sozialen Praktiken gibt: Praktiken, Subjekte und deren Handlungen bilden danach einen dynamischen Verflechtungszusammenhang wechselseitiger Hervorbringungen und Verweisungen. Übergeordnetes Ziel des Beitrags ist es, theoretische Bausteine für praxeologische Analysen der Subjektivierung zu erarbeiten. In dem Artikel »Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse« unternimmt Norbert Ricken den grundlagentheoretisch justierten Versuch, Anerkennung als eine der zentralen Dimensionen des Subjektivationsgeschehens zu rekonstruieren. Vor dem Hintergrund einer knappen Erkundung der Theorie- und Gesellschaftsdiskurse, aus und in denen Subjektivation überhaupt erst als Fragestellung auftaucht, werden dabei zweierlei Problematisierungen unternommen: Zum einen werden ausgewählte Grundzüge einer Theorie der Subjektivation skizziert und auf eine in ihnen enthaltene Leerstelle befragt, so dass der – auch an anderer Stelle betriebene – anerkennungstheoretische Diskurs als ein fruchtbarer Beitrag aufgenommen werden kann. Zum anderen wird ein Vorschlag entwickelt, das Konzept der Anerkennung aufgrund seiner normativen Ausrichtung und empirischen Sperrigkeit stärker analytisch zu fassen und als ein komplexes Geschehen der (sequentiellen und wechselseitigen) Adressierung zu reformulieren. Mit dieser Verschiebung wird die Bedeutung von Intersubjektivität als eine Dimension aller Praktiken für Subjektivierungsprozesse herausgestellt. Der letzte Beitrag dieses Teils von Gesa Lindemann befasst sich mit »Subjektivierung in Relationen. Ein Versuch über die relationistische Explikation von Sinn«. Ausgehend von der Mitwelttheorie Helmuth Plessners fragt der Artikel danach, wie der Kreis derjenigen Entitäten begrenzt wird, von 58 | R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 31.
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denen Subjektivierung zu fordern ist. Es wird als ein Spezifikum moderner Gesellschaften herausgearbeitet, dass der Kreis zu subjektivierender sozialer Personen auf lebende Menschen beschränkt ist. Nichtmoderne Gesellschaften ziehen den Kreis möglicher Personen anders. Es werden z.B. auch Götter, Tiere, Dämonen oder Pflanzen als soziale Personen anerkannt. Diese Historisierung erfordert eine Umstellung des soziologischen Kommunikationsbegriffs: Die dyadische Konstellation zwischen Ego und Alter wird systematisch um den Dritten erweitert. Denn nur im Rahmen einer triadischen Konstellation kann eine Regel der Anerkennung als soziale Person institutionalisiert werden. Mit Hilfe des triadischen Kommunikationsbegriffs wird weiterhin die Doppelstruktur moderner Vergesellschaftung analysiert: 1. lebende menschliche Körper werden als soziale Personen anerkannt, von denen Subjektivierung zu erwarten ist; 2. lebende Menschen werden leistungsbezogen gemäß den Anforderungen einzelner Funktionsbereiche subjektiviert als Subjekt der Wirtschaft, des Rechts usw. Der zweite Teil setzt sich mit der historischen Dimension von Praktiken der Subjektivierung auseinander. Nikolaus Buschmann eröffnet diesen Teil mit einem Beitrag zum Thema »Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft«. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die kulturgeschichtliche Debatte der letzten drei Jahrzehnte und ihre enge Verknüpfung mit der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status des historischen Subjekts. Es wird gezeigt, dass praxistheoretische Ansätze an diese Frage anknüpfen, indem sie Subjektbildung als ein relationales Geschehen begreifen, das soziale Praxis und gesellschaftliche Strukturen miteinander verschränkt. Mit der erfahrungsgeschichtlichen Rückbindung dieses Zugangs entwickelt der Autor eine diachrone Beobachtungsoptik, die mit der Kontinuität und dem Wandel von Subjektformen zugleich die Friktionen zwischen dem ›Eigensinn‹ der Akteure und den Zumutungen der in den sozialen Feldern jeweils angelegten Subjektpositionen in den Blick nimmt, ohne dabei das Autonomiepostulat eines individualistischen Handlungskonzepts zugrunde legen zu müssen. Im Mittelpunkt des Beitrags von Dagmar Freist mit dem Titel »›Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen‹. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik« steht die Frage, wie sich innerhalb einer auf dem Grundprinzip politisch-sozialer Ungleichheit beruhenden Gesellschaftsordnung mit nicht übertragbaren Privilegien und Lebensstilen neue soziale Gruppen entwerfen, selbst autorisieren, wechselseitig anerkennen und von Dritten anerkannt werden konnten. Aus einer praxeologischen Analyseoptik wird das spannungsvolle Zusammenspiel von Einpassung und Veränderung, von sozialer Reproduktion und Subversion, von Unterordnung und Widerstand im praktischen Vollzug sichtbar gemacht und expliziert, wie sich gesellschaftliche Transformationen aus den Logiken sozialer Praktiken ergeben und nicht umgekehrt. Mit der ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken entwickelten sich neue Subjektformen, deren
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Anforderungsprofile sich aus der praktischen Erfahrung neuer Handlungsroutinen und irritierter kultureller Schemata ergaben. Thomas Etzemüller thematisiert in seinem Beitrag »Der ›Vf.‹ als Subjektform. Wie wird man zum ›Wissenschaftler‹ und (wie) lässt sich das beobachten?« die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die Subjektivierung eines Wissenschaftlers zu beschreiben. Die These ist, dass Aussagen zunächst »ins Wahre gerückt« werden müssen (M. Foucault), um in der wissenschaftliche Diskussion als wissenschaftlich erkannt zu werden. Zentral hierfür ist die Subjektform des Wissenschaftlers, die diese Aussagen einerseits mit objektivierter Glaubwürdigkeit, andererseits aber mit subjektiv erworbener Reputation versieht. Wissenschaftler jedoch wird man nicht einfach durch die Ausbildung, sondern man muss seine Persönlichkeit auf eine spezifische Weise formen, d.h. sich von ›Irgendjemanden‹ in ein adressierbares Subjekt verwandeln, das als Wissenschaftler erkannt wird, und das auf paradoxe Weise zugleich hinter den objektiven Gehalt einer Aussage zurücktritt, diesen aber zugleich nur durch die Zurschaustellung seiner Persönlichkeit Bedeutung verleiht. Quellenprobleme und spezifische (auto-)biographische Traditionen erschweren diese Untersuchung, erweisen sich zugleich aber als Teil dieser Subjektivierungsprozesse. Der Beitrag von Gunilla Budde steht unter dem Titel »Politik mit Gefühl. Emotionen als Subjektivierungselemente des Politischen«. Die Autorin fragt nach der emotionalen Komponente im Subjektivierungsprozess von Politikerinnen und Politikern und dem Wandel vom 19. zum 20. Jahrhundert. Als Personen des öffentlichen Lebens standen Staatsoberhäupter – vor allem nach der Medienrevolution seit dem späten 18. Jahrhundert – gleichsam als ›gläserne Subjekte‹ unter ständiger Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit, die als Resonanzboden für ihre historisch sich wandelnde Performanz fungierte. Ob und unter welchen Umständen welche Art von Gefühlen auch im Feld des Politischen gefragt war, änderte sich nach Zeit und Geschlecht der politischen Machtträger. Während es sich im 19. Jahrhundert abzeichnete, dass auch die Gefühlsseite, zumindest situativ, für einen ›authentisch‹ anerkannten Auftritt von Herrscher bzw. Staatsoberhaupt erfordert war und der Einbezug der Herrschafts- bzw. Politikerfamilie hier Augenhöhe mit den Untertanen suggerieren sollte, zeigten und zeigen sich Politikerinnen im 20. und 21. Jahrhundert bemüht, eben diese Subjektdisposition eher zu kaschieren. Die nach wie vor männlich konnotierte und dominierte Welt der Politik hält nach wie vor lediglich für männliche Politiker akzeptierte Spielregeln bereit. Der abschließende Beitrag dieses historischen Teils von Rudolf Holbach steht unter dem Titel »›Ich wundere mich, daß eine so unscheinbare Handlung eine so große, heilsame Wirkung in der Seele zeigt‹. Mönchische Praktiken und Selbst-Bildungen bei Caesarius von Heisterbach«. Der Autor zeigt, wie sich im Dialogus Miraculorum zeitgenössische zisterziensische wie andere kirchliche Diskurse als Grundlage für eine spezifische mönchische Subjektbildung widerspiegeln, die durch eine – wenngleich fiktionale – Darstellung von Problemen,
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Widerständigkeit und alternativen Handlungsoptionen zugleich in ihrer Brüchigkeit, Prozesshaftigkeit und Wandlungsmöglichkeit gezeigt wird. Als routinisierte Handlungen werden neben der täglichen Lektüre, Gebet, Gesang und regelmäßigem Sündenbekenntnis ebenso nonverbale oder nur partiell verbale Praktiken wie Demutshandlungen, Akte der Reue und Buße sowie Askese und Handarbeit in ihrer Bedeutung hervorgehoben. Die Darstellung der Schwierigkeiten des Körpers mit dem zisterziensischen Tagesablauf und Lebensstil wird mit Versuchung und Scheitern der Protagonisten sowie der Schilderung und Bewertung von alternativen Entwürfen verbunden und in diesem Kontext auch die Rolle um die Legitimität konkurrierender weiterer inner- wie außerklösterlicher Akteure und Institutionen in den Blick genommen. Der dritte Teil vereint kulturwissenschaftliche und theologische Perspektiven auf Subjektivierungspraktiken. Den Auftakt bildet der Beitrag von Sabine Kyora »›Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur‹. Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft«. Die Autorin macht die Überlegungen Andreas Reckwitz’ zur Subjektform in zwei Bereichen der Literaturwissenschaft fruchtbar. Zunächst stellt sie mögliche Analyse-Ebenen für die Inszenierungen von Autorschaft vor, im zweiten Teil geht es um den Versuch, Subjektformen in literarischen Texten – als Beispiel dient die Prosa Gottfried Benns – zu extrapolieren. Bei beiden Perspektiven wird auch darauf aufmerksam gemacht, wie das Inventar von Reckwitz ergänzt werden muss, um es auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen übertragen zu können. In ihrem Beitrag »Praktiken des Zu-sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur« diskutiert Silke Wenk, wie Praktiken des Zu-sehen-Gebens in Prozesse der Subjektivierung eingebunden sind. Das Konzept des Zu-sehen-Gebens ist aus der Perspektive der Studien der visuellen Kultur gegen eine Fixierung auf ›das Bild‹ formuliert. Es richtet den Blick auf visuelle Praktiken und ist interessiert an der Art und Weise, wie diese Praktiken – als Praktiken des Herstellens, Interpretierens und Bewertens von (un-)sichtbar Gemachten – mit Machtverhältnissen verwoben sind. Fokussiert werden Praktiken des Sich-zu-sehen-Gebens und deren Rahmungen. Ulrike Link-Wieczoreks Beitrag »Lebensgestaltung im Netzwerk der Praktiken. Überlegungen zu einer praxeologischen Konzeption christlicher Subjektivierung« beschließt diesen Teil. Die Bildung einer christlichen Wirklichkeitsperspektive, also die Subjektivierung von Christinnen und Christen, wird als ein Zusammenhang von drei tragenden Praktiken beschrieben: der elementaren Erzähl-Praktik, der Vergewisserungs-Praktik und der Ratifizierungs-Praktik. Sie bilden einen Verweiszusammenhang, dessen Verknüpfung sich mit Hilfe einer entsprechenden Typologie von Theodore R. Schatzki beschreiben lässt. Der Beitrag zeigt das u.a. am Beispiel des Abendmahls auf. Dabei spielt die Dimension der »teleoaffektiven Struktur« eine besondere Rolle, in der die Akteure ihre Hoffnungen und Intentionen in ihrem konkreten Lebenszusammenhang ausbilden und wirksam wer-
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den lassen. Es stellt sich die Frage, ob man nicht in einem ganzen Komplex von Praktiken, wie hier der christlichen religiösen Wirklichkeitsperspektive, einen solchen (impliziten?) teleoaffektiven Eigensinn ausmachen müsste, so dass der Verweiszusammenhang in einem Strom von Hoffnungen und Intentionen geknüpft gedacht würde. Dadurch, so ließe sich dann denken, perpetuieren sich die Hoffnungen und Intentionen, oder sie ›justieren‹ sich auch – in Krisenzeiten etwa – neu, indem Teilelemente der Verknüpfung, z.B. moralische Normen oder auch ein spezifisches Gottesbild, verschoben und verändert werden. Letztlich kommt dabei auch die Frage auf, ob Praktiken als solche auch scheitern können, wenn ›ihre‹ teleoaffektive Grundstruktur nicht mehr zum Zuge kommen kann. Der Sammelband wird abgerundet mit einem Teil zu philosophischen Perspektiven und Reflexionen auf Praktiken der Subjektivierung. Den Auftakt bildet der Beitrag von Maxi Berger »Autonome Subjekte und der Vorrang des Objekts. Überlegungen zu einer Implikation von Praxistheorien«, in dem sie eine Reflexion auf den geschichtlichen und sozialen Ort praxistheoretischen Denkens postuliert. Eine Intention der Praxistheorien liegt in der Neubeschreibung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt durch die materiale Analyse von kulturell eingebetteten Praktiken. In diesem Aufsatz wird diese praxistheoretische Grundannahme philosophisch hinterfragt. Genauer wird untersucht, wie die Begriffe Subjekt und Objekt als transzendentalphilosophische Termini mit der praxistheoretischen Analyse im Zusammenhang stehen. In seinem Beitrag »Verkörperter Geist. Vicos Neue Wissenschaft und die Frage nach einer Ästhetik der Kultur« diskutiert Johann Kreuzer das Programm der Selbstreflexion kultureller Erfahrung, das G.B. Vico mit seiner Scienza Nuova formuliert hat, und das eine durchgreifende Kritik an jenem Subjektparadigma enthält, das die Neuzeit – mittlerweile in globalem Maßstab – bestimmt. Statt die Subjekte in einem ihren Praxen gegenüber exterritorialen Raum anzunehmen, sucht Vicos Neue Wissenschaft sie in der Wirklichkeit ihres Tuns – im Universum faktischer Symbolisierungsleistungen – auf. Darin gründet die subjekt- wie praxistheoretische Relevanz seines Konzepts. Sprache erweist sich dabei als Schlüsselpraxis. Das setzt freilich voraus, dass man sie – mit Vico – als ›verkörperten Geist‹ begreift. Der abschließende Beitrag von Reinhard Schulz »Der Wahrnehmungsglaube und Probleme der Sichtbarmachung von Praktiken im Anschluss an MerleauPonty« thematisiert die in der Leibphilosophie Merleau-Pontys zum Thema gemachten Verflechtungen von Leib, Praxis und Sprache in der Weise, dass Verbindungslinien sowohl zur Praxistheorie Bourdieus wie auch zur Sprachpragmatik Wittgensteins und zur Systemtheorie Luhmanns deutlich werden. Dabei zeigt sich, dass der gemeinsame Nenner der genannten Autoren nicht nur in der Kritik an der Bewusstseinsphilosophie besteht, sondern auch als analytisches Instrumentarium für die Aufdeckung jener konstitutiven Ambiguität des Menschen (des Zugleich von Akteur und Zuschauer) dienen kann, die mit der Beobachtung verschiedener Praktiken der Subjektivierung einhergeht.
Teil I
Subjektivierung in sozialen Praktiken Umrisse einer praxeologischen Analytik 1 Thomas Alkemeyer
I. E INLEITUNG Die Leistungen der verschiedenen Spielarten des soziologischen Objektivismus – von Parsons Strukturfunktionalismus über den (Post-)Strukturalismus bis hin zu objektivistischen Lesarten der soziologischen Systemtheorie – sind unbestritten: Sie lenken den Blick auf Strukturen, Systemzwänge, Diskurse oder emergente Ordnungen, die das Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen der Menschen ›hinterrücks‹ zu bestimmen scheinen. Diese Diagnose trägt zur Aufklärung bei, denn sie eröffnet die Chance zur Reflexion dieser Einflüsse. Allerdings hat diese Leistung ihren Preis: Das Subjekt wird der Beobachtung entzogen, sein Anteil am Hervorbringen und Verändern sozialer Ordnungen bleibt im Dunkeln. Unser subjektivierungstheoretisches Anliegen ist es, diesen Anteil wieder ans Licht zu bringen – ohne allerdings einen emphatischen, cartesianisch-kantischen, Subjektbegriff zu rehabilitieren.2 Vielmehr begreifen wir das Subjekt in seinen verschiedenen Facetten als Erfahrungsraum, Selbstbezug und Identität als eine Entität, die es nur in historisch wandelbaren sozialen Praktiken gibt: Wenn wir von Subjektivierung sprechen, interessieren wir uns dafür, wie Individuen durch ihr Engagement3 in sozialen Praktiken Welt- und 1 | Ich danke den Teilnehmer/innen meines Forschungskolloquiums und den Mitautor/ innen dieses Bandes für konstruktive Diskussionen des vorliegenden Textes. 2 | Wie Raphael Beer und Ylva Sievi in: »Subjekt oder Subjektivation? Zur Kritik der Subjekttheorie von Andreas Reckwitz«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 35 (2010), S. 3-19, hier S. 5. 3 | Erving Goffman (Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh 1971, S. 44f.) versteht Engagement als »eine Art kognitive[] und affektive[] Versunkenheit« in eine Tätigkeit unter »Mobilisierung der eigenen psycho-biologischen Kräfte«. Er macht damit auf das Changieren des Begriffs zwischen Hingabe an eine und Aktivität in einer Situation aufmerksam.
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Selbstverhältnisse eingehen, die es ihnen ermöglichen, nicht nur reproduzierend, sondern auch transformierend oder subversiv in der sozialen Welt tätig zu werden: Praktiken und ihre Subjekte konstituieren sich, so unsere These, gegenseitig und verändern somit auch gemeinsam ihre Gestalt. Im Unterschied zu einer philosophischen Tradition, in der das Subjekt als ein überdauerndes, autonomes Ganzes transzendent vor, hinter oder außerhalb der gesellschaftlichen Praxis angesetzt wird, richtet sich die praxeologische Perspektive auf Subjekt-Bildungen und damit auf jene in Zeit und Raum ausgedehnten Prozesse, in denen sich die Ordnung des Subjekts herstellt, organisiert und verändert.4 Sie hebt den transitorischen Status, die Unabgeschlossenheit und Unvollständigkeit jeder Subjekthaftigkeit hervor. Der Begriff der Subjektivierung bringt das Subjekt nicht als Substanz, sondern als eine »in Formierung begriffene Struktur«5 in den Blick: Es wird in einer Prozess-Perspektive unter dem Gesichtspunkt seiner Entstehung, Entwicklung, Erhaltung und Veränderung betrachtet und in einer Praxis-Perspektive mit Wie-Fragen konfrontiert: Wie erlangt ein Individuum durch seine Teilnahme an sozialen Praktiken den Status eines intelligiblen, als ›mitspielfähig‹ anerkannten Subjekts?6 Wie bildet, organisiert und transformiert es sich dabei selbst? Und wie beeinflusst es in dieser ›Arbeit‹ der Selbstgestaltung seinerseits die Verlaufsmuster der sozialen Spiele,7 in denen es seine gesellschaftliche Existenz gewinnt?8 Zusammengenommen begründen beide Perspektiven ein performatives Verständnis des Subjekts, das sich für die Schritte von Subjekt-Bildungen ebenso interessiert wie für ihre Regelmäßigkeiten und die jeweils beteiligten Entitäten. Mit diesem Verständnis setzt sich unsere subjektivierungstheoretische Perspektive nicht nur von der neuzeitlich-modernen Idee eines autonomen Subjekts im Sinne eines souveränen Zentrums der Initiative ab, sondern auch von sozial4 | Vgl. auch Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 228. 5 | Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 15. 6 | »Individuum« wird hier, wie bereits von Louis Althusser (Ideologie und ideologische Staatsapparate, Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin 1977, S. 153, Fn. 19), im Sinne einer Entität verwendet, die zu einem Subjekt werden kann. Dabei ist jedes empirische Individuum immer schon Subjekt. 7 | Mit der Spiel-Metapher hebt Pierre Bourdieu hervor, dass Felder keine statischen Gerüste fixierter Positionen sind, sondern sich in kollektiver Praxis zusammen mit den Spielern herstellen und verändern. Soziale Spiele sind insofern ernste Spiele, als es ihnen um Existenz, Macht und Einfluss geht (vgl. Krais, Beate/Gebauer, Gunter: Habitus, Bielefeld 2002, S. 58f.). Empirisch lassen sich Spiele als Praktiken-Geflechte analysieren. 8 | Dies sind auch Leitfragen von Jörg Volbers in: Selbsterkenntnis und Lebensform. Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault, Bielefeld 2009.
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und kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die Handelnde auf »Agenten«9 überindividueller Strukturen reduzieren. Wenn Individuen in einem starken, kausalen Sinn durch Konventionen, eine gemeinsame Rationalität oder die Ordnung der Sprache determiniert aufgefasst oder in ihnen Nebeneffekte von Emergenzprozessen gesehen werden, ist die Frage nach ihrer Subjektivierung letztlich überflüssig. Sie stellt sich nur dann, wenn man ihnen die Möglichkeit einräumt, sich in sozialen Spielen selbst zu positionieren. Beobachtet man Individuen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Positioniert-Werdens, belässt man sie im Objektstatus bloßer Spielbälle. Aus diesem Grund ist die Beobachtungskategorie ›Subjekt‹ auch nicht austauschbar mit ›Individuum‹ oder ›Person‹:10 Das Subjekt ist kein unspezifiziertes Individuum, sondern eine in eine Ordnung der ›Lesbarkeit‹ eingeführte und dort gemäß sozialer Normen qualifizierte Entität, deren Intelligibilität (für andere wie sich selbst), legitime Macht und Teilhabe am Sozialen auf dieser Qualifizierung gründet.11 Durch die Brille des soziologischen Personenbegriffs werden in ähnlicher Weise die Attribute sichtbar, die ein Individuum glaubhaft für andere verkörpern muss, um den normativen Erwartungen einer bestimmten Situation, bspw. als Wissenschaftlerin bei einer Vorlesung im Hörsaal, zu entsprechen.12 Das Konzept des Subjekts hat jedoch darüber hinaus eine kritische Komponente: Es lenkt den Blick auch auf die in sozialen Praktiken sich entwickelnden transsituativen Selbstverhältnisse, auf die konstruktiven Kompetenzen (›agency‹) und kritisch-reflexiven Verstehens-, Sinngebungs- und Urteilsfähigkeiten, die es bspw. ermöglichen, sich selbstbewusst in ein soziales Spiel einzubringen, aber auch Kritik zu üben oder einen Spielverlauf radikal in Frage zu stellen13 – jedoch nicht souverän und autonom, sondern aus dem Spiel heraus als ein Partizipand unter anderen »Partizipanden«.14 9 | Mit dem Begriff »agent« wendet sich Bourdieu gegen die Vorstellung des autonomen Subjekts und korrespondierende intentionalistische Handlungsmodelle: »Agent« ist der Abgesandte, der im Namen Anderer Handelnde (vgl. B. Krais/G. Gebauer: Habitus, S. 84). 10 | Zum Verhältnis dieser Begriffe vgl. auch den Beitrag von Thomas Etzemüller in diesem Band. 11 | Vgl. J. Butler: Psyche der Macht, S. 15. 12 | Vgl. die Beiträge von Thomas Etzemüller und Gesa Lindemann in diesem Band. 13 | In einer Absetzbewegung von Bourdieu wird die praktische Genese kritischer Alltagskompetenzen seit den 1990er Jahren auch in der französischen »Soziologie der Konventionen« fokussiert. Vgl. Diaz-Bone, Rainer (Hg.): Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie, Frankfurt a.M./New York 2011. 14 | Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73-91. Da der Begriff ›Akteur‹ auf den methodologischen Individualismus verweist, der ›Akteure‹ im Unterschied zu pra-
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Eine Bedingung für dieses anti-deterministische Interesse an den Mitgestaltungsmöglichkeiten dezentrierter Subjekte ist die Anerkennung der Ungewissheit des Sozialen. Denn wäre die gesellschaftliche Praxis bis ins Detail vorbestimmt, gäbe es überhaupt nichts mitzugestalten. Allein dann, wenn die Situativität sozialer Praktiken bedacht wird, gewinnen Spielräume für subjektives Handeln an Relevanz für die Ordnung des Sozialen. Deren Unsicherheit, Offenheit und Unruhe scheint historisch erst seit der Frühen Neuzeit ins Bewusstsein der Menschen getreten zu sein.15 Im Wissen um die Historizität des Subjektbegriffs gehört es zum Programm unseres Graduiertenkollegs, das Konzept der Subjektivierung dennoch als eine analytische Seh-Hilfe zu gebrauchen. Mit ihr wird beansprucht, die Wechselspiele zwischen Welt- und Selbstverhältnissen und damit den Anteil einer in Praktiken sich bildenden ›subjektiven‹ Handlungsmacht an der Konstitution des Sozialen auch in früheren Epochen in den Blick zu bringen. Dies schließt ausdrücklich sowohl die Frage nach der transhistorischen und transsozialen Übersetzbarkeit des Subjektbegriffs als auch die Untersuchung der historischen Veränderungen jener grundlegenden Kriterien ein, anhand derer kontinuierlich zwischen als ›mitspielfähig‹ anerkennbaren Entitäten und anderem unterschieden wird.16 In diesem Sinne zielt der vorliegende Beitrag nicht auf eine Theorie, sondern auf die Erarbeitung von Bausteinen für eine Analytik der Subjektivierung. Diese soll zu erforschen erlauben, wie sich in historisch wandelbaren sozialen Praktiken seit der Neuzeit als Subjekte wahrgenommene Entitäten bilden, denen spezifische Fähigkeiten des Erkennens, Verstehens, Tätigwerdens, Urteilens, Bewertens und Reflektierens zugemessen werden können. Nur wenn eine solche Analytik dazu beiträgt, die in soziale Praktiken eingebetteten (Subjekt-) Formen legitimer Teilnahme, korrespondierende Muster des Selbstbezugs sowie die Bedingungen des Auftretens von Verhaltensweisen sichtbar zu machen, in denen sich das Vermögen eines ›Subjekts‹ zeigt, aktiv in und zu sozialen Prozessen Stellung zu beziehen, verspricht sie einen über jeden Determinismus hinausweisenden Erkenntnisgewinn: Sie gestattet es dann, das komplexe Wechselspiel von ›doing subject‹ und ›doing culture‹ in den Blick zu bringen. xeologischen Zugängen nicht als Bestandteile, sondern als außergesellschaftliche Bedingungen von Sozialität begreift, ist in diesem Beitrag durchgängig von ›Teilnehmern‹ oder ›Mitspielern‹ die Rede (vgl. auch Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a.M. 2012, S. 41, Fn. 39). 15 | Wie Dagmar Freist in diesem Band zeigt, reagieren in der frühen Neuzeit u.a. Verhaltensratgeber auf das aufkeimende Bewusstsein von Unsicherheit. 16 | Ebenso steht die Geschichtlichkeit der Attribute von ›Mitspielfähigkeit‹ auf dem Prüfstand. Fraglich ist bspw. die Universalität der für das neuzeitlich-moderne Subjekt unerlässlichen Attribuierungen von Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit (vgl. den Beitrag von Gesa Lindemann in diesem Band).
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II. Z WISCHEN F REMDBESTIMMUNG UND S ELBST -B ILDUNG Die Koordinaten gegenwärtiger Subjektivierungsforschung sind bereits von Karl Marx markiert worden. Gegen die philosophische Apotheose des autonomen Einzelnen entwickelt »der materialistisch gewendete Hegelianer«17 u.a. in der Deutschen Ideologie den Gedanken, dass »die Umstände ebenso sehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«.18 Mit unterschiedlichen Akzentuierungen ist dieser Gedanke auch in den ›Mastertheorien‹ der jüngeren Subjektivierungsforschung von Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler aufgegriffen worden. Ihren Ansätzen sind die Fragen gemeinsam, wie und in welchen Formen aus ›etwas‹ bzw. einem ›niemand‹ (›nobody‹) ein ›jemand‹ (›somebody‹) gemacht wird, der als mündig, handlungsfähig und erinnerungswürdig anerkannt wird und sich auch selbst so versteht:19 Althusser richtet den Blick auf institutionell verankerte, am Körper ansetzende, rituelle Praktiken, in denen Individuen zu Subjekten transformiert werden und ihren Glauben, ihre Ideen und ihr Bewusstsein entwickeln. Dabei ist die Freiheit der qua ›Anrufung‹ aus der Masse der Individuen rekrutierten und geschaffenen Subjekte zwar ideologisch, als solche jedoch real. Foucault interessiert sich für die Historizität der Subjektformen, d.h. für die historisch sich verändernden Weisen des Geformt-Werdens in normativen Wissens- und Machtordnungen (Dispositiven) der Disziplinierung und der Regulierung, die aus Diskursen, Materialitäten und Praktiken zusammengesetzt sind, sowie – in seinem Spätwerk – für die Techniken der Selbsterschaffung und -formung. Butler schließlich lenkt die Aufmerksamkeit auf die Medien der Subjektivierung,20 vor allem auf die Sprache. Ihre Kritik ist deshalb vorwiegend eine Kritik der Sprachformen im Sinne kultureller »Gitter der Lesbarkeit«,21 in denen Individuen als intelligible Subjekte in Erscheinung treten. Überdies stellt Butler die psychische Dynamik der Subjektivierung, ihre Komplikationen und ihr prinzipielles ›Scheitern‹, heraus: Jede Aneignung einer Subjektform, die nicht als ein einmaliger Vorgang, sondern als ein iterativer Prozess zu begreifen ist, beinhaltet in ihrer Sicht 17 | Gebauer, Gunter/König, Ekkehard/Volbers, Jörg: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), SelbstReflexionen. Performative Perspektiven, München 2012, S. 7-16, hier S. 9. 18 | Marx, Karl: Deutsche Ideologie, Berlin 1978, S. 38. 19 | Im lateinischen ›subiectum‹ wie im französischen ›sujet‹ fallen die Bedeutung der Unterwerfung und der Autonomie noch zusammen: ›Sujet‹ ist Untertan ebenso wie freies Zentrum der Initiative und des Handelns. 20 | Butler spricht nicht von Subjektivierung, sondern von Subjektivation. Ich verwende beide Begriffe synonym. Zu ihrer Unterscheidung vgl. den Beitrag von Norbert Ricken in diesem Band. 21 | Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenze des Menschlichen, Frankfurt a.M. 2009, S. 73.
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Momente der Abweichung, der Subversion und des Unabgeschlossenen. Subjektivierung wird damit als ein offenes Geschehen begriffen, das Neues, Überschüsse und Widerstände produziert. Dieser »nicht anzueignende[] Rest« kann das Subjekt jederzeit als »Melancholie« heimsuchen: Er markiert »die Grenzen der Subjektivation«.22 Im Unterschied zu ihrem Verständnis als bloße Struktureffekte gewinnen die Subjekte damit an Komplexität und Ambivalenz: Butler sensibilisiert für die Spannungen zwischen dem Außen und dem Innen, zwischen dem Geformtwerden und der Selbstformung, die in der Subjektivation zwangsläufig entstünden. ›Subjekt‹ steht bei ihr für diese Spannung, es ist der Name dafür.23 In der an diese (post-)strukturalistischen Mastertheorien anschließenden neueren Subjektivierungsforschung scheinen mir die Spannungen und Mehrdeutigkeiten der Subjektivierung allerdings oft vernachlässigt zu werden. Einseitig rücken dann die das Subjekt konstituierenden Kräfte ins Licht, so dass das Subjekt als die einfache Funktion einer von ›oben nach unten‹ wirkenden Macht erscheint. Damit drohen Dimensionen im Dunkeln zu bleiben, die gerade unter einem subjektivierungstheoretischen Blickwinkel relevant sind: die engagierte Hingabe an eine Praktik; die Weisen des Umgangs mit und der Aneignung von Anforderungen und normativen Erwartungen; die aktive Beteiligung des Individuums an seiner Subjektivierung; das zur Identifizierung und sinnhaften Verwirklichung eines sozialen Geschehens erforderliche praktische Verständnis, das in der Beteiligung an diesem Geschehen erlernt und kultiviert wird; oder auch die Konflikte und intrasubjektiven Spannungen, die entstehen, weil die Kluft zwischen individuellen Dispositionen und Subjektformen zu groß ist,24 die Subjekte bei ihrem Engagement in disparaten Lebensbereichen (Familie, Schule, Betrieb, Verein usw.) einem konfligierenden Wissen und widersprüchlichen Erfahrungen begegnen25 oder weil bereichsspezifische Anforderungskataloge mit einer Praxis in Konflikt geraten, in der sie ›angewendet‹ werden. Solche Irritationen regen Reflexion und kritische Nachfragen geradezu an. 22 | J. Butler: Die Psyche der Macht, S. 33. 23 | Vgl. weiterführend Saar, Martin: Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M./New York 2007; Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008 und Norbert Ricken in diesem Band. 24 | Individuen treten nie als a-soziale Entitäten in eine Praktik ein, sondern bringen immer schon Erfahrungen und Dispositionen mit, auf deren Folie sie sich Subjektformen aneignen – vorausgesetzt, diese bieten ihnen Ankopplungsmöglichkeiten. 25 | Zur Bedeutung von Erfahrung in den Praktiken der Subjektivierung vgl. auch die Beiträge von Nikolaus Buschmann und Reinhard Schulz in diesem Band. Auf die das Subjekt nicht voraussetzende, sondern konstituierende Funktion der Erfahrung hat, wie Armin Nassehi (Der soziologische Diskurs der Moderne, S. 228) betont, bereits der Pragmatist John Dewey hingewiesen.
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Ein weiteres, damit zusammenhängendes Desiderat der Subjektivierungsforschung liegt darin, dass sie sich zwar umfassend sowohl mit Theorien der Subjektivierung als auch mit diskursiven Subjektentwürfen der Moderne – wie dem »unternehmerischen Selbst«26 oder dem »Subjekt der Beratung«27 – auseinandergesetzt hat, jedoch kaum mit empirischen Praktiken der Subjektivierung in verschiedenen Zeiten und Sozialbereichen. Spannungen und Widersprüche zwischen verschiedenen Erfahrungsschichten, Wissenstypen oder den diskursiven und den körperlichen Dimensionen der Subjektivierung können jedoch ausschließlich auf dem Weg empirischer Untersuchungen entdeckt werden. Diese kritischen Einschätzungen betreffen auch noch den bislang weitreichendsten deutschsprachigen Versuch einer Analyse moderner Subjektkulturen von Andreas Reckwitz. Reckwitz’ ebenso anregende wie materialreiche Studie28 zielt vorrangig auf die jeweils historisch dominanten kulturellen Kodes und »Kriterienkataloge« für Subjekthaftigkeit in der Moderne,29 die in Praktiken, Diskursen und »Praxis/Diskurs-Formationen«30 lokalisiert werden. Das Individuum kann in dieser Sicht nur zum Subjekt werden, indem es sich körperlich wie psychisch den jeweiligen Kriterien akzeptabler Subjekthaftigkeit unterwirft, d.h. in eine hegemoniale Subjektform einpasst. Reckwitz macht durchaus auch darauf aufmerksam, dass solche Einpassungen kaum einmal reibungslos erfolgen: Immer wieder werde die Ausbildung einer stabilen, widerspruchsfreien Subjektivität dadurch torpediert, dass sich Gräben zwischen den Subjektformen und »dem Einzelnen« auftäten oder in der Subjektivierung ein widerständiges psychisches Reales entstehe.31 Allerdings hält er das Subjekt-
26 | Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 27 | Traue, Boris: Das Subjekt der Beratung. Zur Soziologie einer Psycho-Technik, Bielefeld 2010. 28 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. Dieser Studie kommt das große Verdienst zu, überhaupt einen Resonanzboden für eine praxeologische Subjektivierungsforschung im deutschen Sprachraum geschaffen zu haben. Vgl. auch die Einleitung zu diesem Band. 29 | Ebd., S. 11. 30 | Reckwitz, Andreas: »Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation«, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188209, hier S. 201ff. 31 | Reckwitz, Andreas: »Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individuums«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 75-92, hier S. 80.
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verständnis »bewusst dünn«:32 Es geht ihm vorrangig darum, »nach Subjektformen zu suchen«.33 Infolgedessen zielen die Leitfragen seines heuristischen Bezugsrahmens für kulturwissenschaftliche Subjektanalysen primär auf die formative Kraft von kulturellen Kodes,34 »historisch-spezifischen Strukturen der Materialität«35 oder sozialen Feldern und Klassen.36 In einer »von der Kultur zum Subjekt«37 verlaufenden Erklärungsperspektive wird auch die Instabilität und Widersprüchlichkeit der Subjektivität aus der unberechenbaren Überlagerung unterschiedlicher Diskursordnungen oder daraus erklärt, dass »Subjektkulturen sich als Räume permanenter Definitionskonflikte herausstellen«.38 In einer solchen kulturalistischen Perspektive tritt die Kanalisierung und Normierung subjektiven Auftretens, Verhaltens, Denkens, Fühlens und Handelns durch kulturell kodierte Subjektformen in den Blick, die in den Wiederholungen der Praxis wie in einem Trainingsprozess eingeschliffen und zu körperlich-mentalen Dispositionen verwandelt werden. Damit wird verständlich, dass und wie Subjektformen, die über Wert und Unwert, Normalität und Anomalität empirischer Lebensweisen entscheiden, gesellschaftliche Teilhabe regulieren.39 Wie jedoch Charakteristika des Subjektiven – Intentionalität, (Eigen-)Sinn, praktisches Verständnis, Reflexions- und Entscheidungsvermögen, Begehren – in der anderen Richtung ihrerseits zur Stabilisierung oder Veränderung der kulturellen Ordnung beitragen, innerhalb derer sie erworbenen werden, bleibt weitgehend außen vor. Zwar legen insbesondere starke, traditionsbewusste, dem Gemeinwohl verpflichtete Institutionen wie Krankenhäuser, Gerichte, Militär, Kirche oder Schule großen Wert darauf, dass die von ihnen vorgesehenen
32 | Jonas, Michael: »The social site approach versus the approach of discourse/practice formations«, in: Reihe Soziologie – Sociological Series 92, Institut für Höhere Studien (IHS), Wien 2009, S. 17. Diesem bewussten ›Dünnhalten‹ des Subjektbegriffs liegt das kultursoziologische Erkenntnisinteresse zugrunde, Idealtypen des Subjekts in historisch-kulturellen Großformationen der Moderne aufzuweisen und zu rekonstruieren, wie hegemoniale Subjektkulturen aufgrund innerer Widersprüche allmählich erodierten und durch andere abgelöst wurden. Der bürgerlichen Moderne entspricht »die Form des moralisch-souveränen, respektablen Subjekts«, der industriellen Moderne das »extrovertierte Angestelltensubjekt« und der Postmoderne »das Modell einer kreativ-konsumtorischen Subjektivität« (A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 15 [Herv. i.O.]). 33 | A. Reckwitz: Subjekt, S. 135. 34 | Ebd., S. 136. 35 | Ebd., S. 139. 36 | Ebd., S. 141f. 37 | M. Jonas: The social site approach, S. 17. 38 | A. Reckwitz: Subjekt/Identität, S. 80. 39 | Vgl. M. Saar: Genealogie als Kritik, S. 344.
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Subjektformen genau so verkörpert werden, wie es erwartet wird,40 aber abgesehen davon, dass diese Institutionen nur einen Teil der modernen sozialen Welt ausmachen, kommt es selbst in ihnen immer wieder zu ›Abweichungen‹. Denn auch noch so rigide Vorgaben können nicht verhindern, dass in der Praxis beständig Leerstellen auftauchen, die augenblicklich praktisch interpretiert und kreativ gefüllt werden müssen.41 In solchen ereignishaften Ausgestaltungen situativ sich öffnender Leerstellen können die sich subjektivierenden Individuen überraschende Erfahrungen machen, ein ›anderes‹ Welt- und Selbstverständnis ausbilden und beginnen, Spielräume bewusst auszuloten, auszudehnen und eventuell auch zu überschreiten. Wenn sich ein derartiges ›anderes‹ Handeln zum situationsübergreifenden kollektiven Muster aggregiert, kann es zur Schwächung und Modifikation bestehender Ordnungen und ihrer Subjektformen beitragen.42 Als ein besonderer Typ kultureller Repräsentationen tragen auch wissenschaftliche Darstellungen der Welt zur performativen Erschaffung des Dargestellten bei.43 Objektivistische Theorien der Subjektivierung beinhalten eine Tendenz zur Reifizierung, indem sie die Möglichkeitsräume der Selbstgestaltung und -positionierung dethematisieren. Einen eigenen Beitrag zu den Kulturund Sozialwissenschaften können subjektivierungstheoretische Forschungen 40 | Mit der Forderung, Mitgliedschaft in charakteristischen Subjektformen zu verkörpern, beantworten diese Institutionen das Problem, ein über allen gesellschaftlichen Partikularinteressen schwebendes, standpunkt- und deshalb körperloses Allgemeininteresse zu repräsentieren und zugleich in konkreten Mandatsträgern real werden zu müssen. Um dem Eindruck vorzubeugen, letztere handelten in ihrem eigenen Interesse, wird versucht, sie zu Inkarnationen der Institution zu machen, sie also in Kleidung, Körperhaltung, Gestik und Tonfall institutionsspezifisch zu normieren. Das Extrem ist die Figur des ›Apparatschiks‹, der jedes persönliche Interesse und jede persönliche Reflexion zugunsten seines Aufgehens im ›Apparat‹ aufgibt (vgl. Bourdieu, Pierre: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2, Hamburg 1997, S. 43ff.; Boltanski, Luc: Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010, S. 130ff.). Zur Subjektivierung von Lehrern als ›Verkörperungen‹ der Institution Schule in den Praktiken des Referendariats vgl. Pille, Thomas: Das Referendariat als Trainingsprozess. Die Praktiken der Subjektivierung, Dissertation Universität Oldenburg 2012. 41 | Dass gesellschaftliche Regeln, Normen und Werte stets angemessen auf je besondere Situationen bezogen werden müssen, betont auch Günther Ortmann in seiner praxeologischen Organisationstheorie (Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2003). 42 | Vgl. den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band. 43 | Vgl. Hall, Stuart: »The Work of Representation«, in: Stuart Hall (Hg.), Representation: Cultural Representations and Signifying Practices, London/Thousand Oaks 1997, S. 13-74.
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aber nur dann leisten, wenn sie das Subjekt nicht als eine fiktive und abgeleitete Größe betrachten, sondern es als eine reale, in der sozialen Welt etwas bewirkende Kraft ernst nehmen, ohne es als gegeben vorauszusetzen. Subjektivierungstheoretisch geht es mithin darum, einen Analyserahmen zu entwerfen, der es historisch-empirischen Forschungen ermöglicht, die spannungsvollen Wechselspiele von Unterwerfung und subjektiver Mitgestaltungsmacht, von Heteronomie und Autonomie, von Beharrung und Veränderung zu erfassen anstatt sie einseitig aufzulösen. Eine solche Analytik wäre insofern gesellschaftskritisch, als sie nicht nur Mechanismen der Unterwerfung, sondern auch Handlungsspielräume und Alltagskritiken zu enthüllen erlaubt, die ansonsten in den Evidenzen des Alltags verborgen blieben.
III. S UBJEK TIVIERUNG IN P R AK TIKEN Einen Ansatzpunkt für eine derartige Analytik bieten die Überlegungen des ›späten‹ Foucault über »Ethik« und »Selbstpraktiken«. In einer selbstkritischen Korrektur seiner früheren Arbeiten über die Produktion gefügiger Disziplinarsubjekte in Macht-Wissens-Komplexen wendet sich Foucault hier spezifischen Praktiken der »Autoformation«44 zu, in denen sich Individuen »gewusst und gewollt«45 eine Form geben, die bestimmten kulturellen, ästhetischen oder stilistischen Kriterien entspricht: In Ergänzung zu den Herrschaftstechnologien der Unterwerfung rückt mit den Technologien des Selbst46 das »Verhältnis des Individuums zu sich selbst in den Mittelpunkt«.47 Mit dieser Erweiterung wird die Möglichkeit einer Kritik vorgegebener Subjektformen, einer Distanzierung von diesen Formen sowie einer Veränderung des Selbst im Medium verkörperter Praktiken denkbar, die in der Perspektive des verwandten Habituskonzepts Pierre Bourdieus vergleichsweise unberücksichtigt bleibt.48 Allerdings lässt 44 | Foucault, Michel: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. von H. Becker u.a., Frankfurt a.M. 1985, S. 10. 45 | Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 2, S. 18. 46 | Foucault, Michel: Technologies of the Self, hg. von Luther H. Martin, Amherst/ Mass. 1988. 47 | Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin/Hamburg 1997, S. 262. 48 | Bourdieu begreift den menschlichen Körper primär als Fleisch gewordene und für deren Beharrlichkeit sorgende Sozialstruktur. Kritik und Veränderung setzen in dieser Sicht Bewusstwerdung voraus. Damit droht sein Ansatz von eben jenem cartesianischen Geist-Körper- bzw. Theorie-Praxis-Dualismus eingeholt zu werden, den er zu überwinden beansprucht. Vgl. Alkemeyer, Thomas/Schmidt, Robert: »Habitus und Selbst. Zur Irritation der körperlichen Hexis in der populären Kultur«, in: Thomas Alkemeyer u.a. (Hg.), Aufs
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Foucaults Ansatz seinerseits unterbelichtet, dass sich Handlungs-, Kritik- und Selbstgestaltungsfähigkeiten nicht nur mittels spezieller Selbsttechniken, sondern auch in den Praktiken aller möglichen Lebensbereiche bilden und zeigen (können). Was ist nun aber unter einer sozialen Praktik zu verstehen? Ein geeigneter Startpunkt für die Annäherung an dieses Konzept scheint mir Theodore R. Schatzkis praxeologische Sozialontologie zu sein. In einer subjektivierungstheoretisch interessierten Lesart49 ist an dieser, von Wittgenstein und Heidegger inspirierten Ontologie besonders bemerkenswert, dass Praktiken und Handeln weder miteinander identifiziert noch gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr wird Handeln als ein Bestandteil von Praktiken begriffen, d.h. als eine von praktischen Kontexten gerahmte, aber eigenständige Tätigkeitsform:50 Es vollzieht sich »under the aegis of the practices’ organizations«.51 Mit dieser praxistheoretisch relativierten Autonomie der Handlung rückt auch das strukturalistisch dethematisierte Subjekt wieder in den Fokus, »ohne in subjektphilosophische Verklärungen zurückzufallen«:52 Schatzkis Subjekt ist weder ein »präpraktisches Subjekt«,53 das dem Handlungsvollzug logisch und genealoSpiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 77-102, hier S. 95f. In seinem »Programm für eine Soziologie des Sports« (in: Pierre Bourdieu [Hg.], Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, S. 193-207) und den Meditationen (Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 165ff.) deutet Bourdieu allerdings an, dass der sozialisierte Körper auch ein Medium praktischer Erkenntnis ist. Ich komme im Abschnitt über »Basic Actions – Dispositionen – Umgangskörper« darauf zurück. 49 | Bei Schatzki ist die Subjekt(ivierungs)problematik nicht zentral. Ich rekonstruiere seinen Ansatz methodologisch mit einem dezidiert parteilichen Interesse für das Potenzial, das er für eine über objektivistische Verkürzungen hinausweisende Analytik der Subjektivierung birgt. 50 | Vgl. auch Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282301, hier S. 287f.; Hörning, Karl H.: Experten des Alltags, Weilerswist 2001; R. Schmidt, Soziologie der Praktiken. 51 | Schatzki, Theodore, R.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002, S. 97. 52 | Füssel, Marian: »Die Rückkehr des ›Subjekts‹ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive«, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 141-159, hier S. 156. 53 | Hetzel, Andreas: »Zum Vorrang der Praxis. Berührungspunkte zwischen Pragmatismus und kritischer Theorie«, in: ders./Jens Kertscher/Marc Rölli (Hg.), Pragmatismus – Philosophie der Zukunft? Weilerswist 2008, S. 17-57, hier S. 23.
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gisch als unabhängige Ursache vorausgeht, noch eine von Strukturen, Praktiken oder Diskursen abzuleitende Größe, sondern es konstituiert, organisiert und zeigt sich in menschlicher Koexistenz54 im Rahmen sogenannter »Sites of the Social«. Dabei handelt es sich um Stätten, die menschliches und nichtmenschliches Handeln auf spezifische Weise kontextualisieren: Menschen, Organismen, Dinge und Artefakte55 wie Werkzeuge, technische Apparaturen, Sprache und Bilder verwickeln sich hier in sozialen Praktiken so miteinander, dass sie einen Kontext füreinander bilden, in dem sie intelligibel werden,56 und zugleich eine unterscheidbare soziale Ordnung etabliert wird.57 Das Site-Konzept bringt damit sowohl die »volle Bandbreite« möglicher Beziehungen zwischen ontisch verschiedenen Partizipanden als auch die Gleichzeitigkeit von Stabilität (Regelmäßigkeit) und Instabilität (Unregelmäßigkeit) in den Blick.58 Praktiken sind Momente der »Social Sites«. Schatzki definiert sie als sozial geregelte, kulturell typisierte und organisierte Bündel menschlicher Aktivitäten, die sich in der Zeit entfalten. Sie sind als solche nicht auf intentionale Handlungen rückführbare Wirksamkeitsgefüge. Ihr Zusammenhang wird durch »practical understandings, rules, teleoaffective structures, and general understandings« organisiert, die in jedem praktischen Vollzug mitproduziert und aktualisiert werden.59 Sie haben damit nicht den Status hinter der Praxis 54 | Schatzki (The Site of the Social, S. 143ff.) versteht menschliche Koexistenz bewusst ›dünn‹ als »the hanging together of human lives«. Es wird u.a. durch praktische Intelligibilität, Settings und Handlungsketten gestiftet. 55 | »Humans« sind für Schatzki lebende und fühlende Vertreter des Homo Sapiens, Artefakte Produkte menschlichen Handelns, Organismen vom Menschen sich unterscheidende Lebensformen und Dinge leblose Entitäten, die nicht das Produkt menschlicher Aktivität sind (The Site of the Social, S. 22). 56 | Vgl. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 63ff. und 138ff. 57 | Ebd., S. 70ff. Dies bezieht sich auf integrative Praktiken. Ein hier unbeachteter Typus sind »dispersed practices«. Diese sind ausschließlich um einen Handlungstyp zentriert und zirkulieren durch verschiedene Bereiche des sozialen Lebens (vgl. ebd., S. 86ff.). Vgl. auch den Beitrag von Ulrike Link-Wieczorek in diesem Band. 58 | Mit diesem Konzept erweitert Schatzki seinen in Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social (Cambridge 1996) entfalteten praxeologischen Ansatz ordnungs- und kontexttheoretisch (vgl. M. Jonas: The social site approach, S. 2). 59 | T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 77ff.: »Practical understandings« entsprechen einem praktischen Wissen, das zu umständeadäquatem Verstehen, Identifizieren und Handeln befähigt. »Rules« sind Handlungsverläufe orientierende Kodifikationen vergangener Handlungsregelmäßigkeiten. »Teleoaffective structures« stecken eine »range of normativized and hierarchically ordered ends, projects, and tasks« ab, die mit normativ aufgeladenen Emotionen kombiniert sind; sie regeln, welche praktischen
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verborgener Wirkprinzipien, sondern sind öffentlich und damit prinzipiell beobachtbar.60 Im Vollzug einer Praktik gehen ihre Partizipanden Beziehungen miteinander ein, positionieren sich zueinander und erlangen dadurch Bedeutung. Jeder Teilnehmer ist somit durch seine situierte Beziehung zu anderen Teilnehmern, seine gegenwärtige Positionalität und seine im Vollzug geschaffene Bedeutung resp. Identität gekennzeichnet.61 Identität ist dabei eine Unterart von Bedeutung: Während sich Bedeutung darauf bezieht, was etwas ist, bezieht sich Identität darauf, wer es ist: Sie ist »understood meaning«62 und kommt demzufolge ausschließlich Partizipanden zu, denen ein Verständnis ihrer Bedeutung sowie die Fähigkeit zuerkannt wird, sich verständlich zu machen.63 Als verstandene Bedeutung umfasst sie einerseits die Identität, die einem Mitspieler im Positionierungsgeschehen einer Praktik von anderen Teilnehmern zugeschrieben wird, andererseits das Selbstverständnis, das dieser Mitspieler in der Teilnahme an Praktiken entwickelt und darstellt. In kritischer Auseinandersetzung mit dem soziologischen Rollenbegriff rückt Schatzki dieses Identitätsverständnis explizit in die Nähe des poststrukturalistischen Konzepts der »Subjektposition«, als dessen »grandfather« er Foucault bezeichnet.64 Jedoch grenzt er es in zwei Punkten von diesem Konzept ab: Erstens weist er die von Foucault in der Archäologie des Wissens nahegelegte Auffassung zurück, Subjektpositionen seien rein diskursive Phänomene und postuliert dagegen, Identität konstituiere sich »in the full complexity of the flow of social life«.65 Und zweitens wendet er gegen Foucaults Gleichsetzung von Tätigkeiten zu einer bestimmten Gelegenheit als richtig und akzeptabel gelten können. »General understandings« schließlich zeigen sich in der Hartnäckigkeit der Muster, in denen Angehörige eines Kollektivs etwas tun, wie arbeiten oder spielen. 60 | Dies betonen auch Robert Schmidt und Jörg Volbers (»Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip. Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme«, in: Zeitschrift für Soziologie 40 (2011), S. 3-20). Öffentlichkeit im Sinne eines Raums gemeinsam geteilter Perspektiven ist nicht auf Ko-Präsenz angewiesen, sondern entsteht ebenfalls dann, wenn sich die Teilnehmer daran orientieren, dass gegebene Dinge, Artefakte und Praktiken auch Anderen zugänglich sind. 61 | Vgl. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 47ff. 62 | Ebd., S. 22. 63 | Das heißt nicht, dass Identität ausschließlich »humans« zukommt: »Wether other entities partake of identity is a matter of how similar they are to us, how we interact with them in living with them, and the results of empirical research« (T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 47). 64 | Ebd., S. 49. 65 | »They are neither merely words (or concepts) nor discursive products that arise solely from the talk and conversation that occur as part of this flow« (T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 51).
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Identität mit Subjektposition ein, Identität ließe sich allenfalls teilweise von der Position eines Individuums innerhalb eines Netzes von Relationen ableiten, wie umgekehrt seine Position stets auch von seiner über die aktuelle Situation hinausweisende Identität abhinge: Der Reduktion des Einen auf das Andere wird mit der Auffassung einer Ko-Dependenz von Identität und Position begegnet.66 Diese Konzeptualisierung des Sozialen und seiner Subjekte unterläuft die Dichotomie individualistischer und holistischer Sozialtheorien und Methodologien.67 Sie macht subjektiven Eigensinn denkbar, ohne das Subjekt als autonom zu begreifen:68 Schatzkis Ansatz sensibilisiert nicht nur für die Möglichkeit eines Misslingens der Subjektivierung im Sinne einer reibungslosen Einpassung in eine Subjektform aufgrund des Fehlens von Schnittstellen zwischen mitgebrachten Dispositionen oder zugeschriebenen Attributen einerseits und dem Anforderungsprofil einer Subjektposition andererseits. Er macht vielmehr auch darauf aufmerksam, dass sich zwischen den mit einer Subjektposition verbundenen Verpflichtungen, (Vor-)Rechten und Erwartungen und dem identitären Selbstverständnis eines Teilnehmers eine Kluft auftun kann, die zu einer reflektierten Stellungnahme, z.B. im Sinne einer absichtlichen Distanzierung von oder der umdeutenden »Überschreibung«69 einer Subjektform, führen kann. Schließlich impliziert er drittens, dass Handlungen keine unabhängige Existenz haben, sondern ihre Intentionalität, ihren Sinn, ihre Reflexivität und ihre Intelligibilität ausschließlich als Momente einer sozialen Praktik erlangen: Was ihre Teilnehmer tun und sagen, reflektiert den erwartbaren Ablauf und die Organisation dieser Praktik.70 66 | Ebd., S. 50ff. 67 | Individualistische Ontologien verlegen die Ursache für die Entstehung sozialer Ordnungen in die mentalen Zustände, Pläne und Absichten autonomer Individuen; holistische Ontologien hypostasieren Ganzheiten (›Nation‹, ›Volk‹ etc.), Diskurse oder abstrakte Strukturen zu subjektähnlichen Größen (vgl. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. Xff. u. S. 138ff.). 68 | Dieser Eigensinn kann selbst als ein Sozialisationsprodukt verstanden werden (vgl. Alkemeyer, Thomas/Villa, Paula-Irene: »Somatischer Eigensinn? Kritische Anmerkungen zu Diskurs- und Gouvernementalitätsforschung aus subjektivationstheoretischer und praxeologischer Perspektive«, in: Johannes Angermüller/Silke van Dyk [Hg.], Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 315-335). 69 | Vgl. den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band. 70 | Dies erinnert an George H. Meads (Geist, Identität und Gesellschaft. 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1995) Konzept des »social act«, das die Identität und das Verhalten des Individuums ebenfalls aus der Struktur und Organisation der kollektiven Praxis erklärt anstatt die Struktur und Organisation des Sozialen vom Verhalten einzelner Akteure aus erklären zu wollen. Jedoch gibt es auch Unterschiede: 1. Während Mead Identitäts-
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Praktiken legen in dieser Sicht bestimmte Handlungswege nahe und machen sie leichter, d.h. sie präfigurieren das Handeln, aber sie determinieren es nicht.71 Dieses Verständnis entgeht der Tendenz, schlicht subjektlose Praktiken an die Stelle der inzwischen »vielgeschmähten Strukturen« treten zu lassen und der »Gefahr einer neuen Reifizierung« zu unterliegen.72 Es ermöglicht demgegenüber, der situativen Emergenz von Handlungsspielräumen in praktischen Vollzügen gerecht zu werden, die von den Teilnehmern auf der Basis erlernter praktischer wie kritisch-reflexiver Fähigkeiten genutzt werden können. Handlungen sind vor diesem Hintergrund weder mit dem Bezug auf mentale Voraussetzungen zu erklären noch als bewusstlos-routinierte Vollzüge inkorporierter Strukturen zu verstehen, sondern als aus ›dem Spiel‹ heraus sich ergebende Interventionen, die weitere Handlungen anstoßen und Begebenheiten geschehen machen, d.h. Unterschiede bewirken. Eben diese, von den Teilnehmern als Wirkungen beobachteten und entsprechend beantworteten, Unterschiede konstituieren die Bedeutung einer Handlung – und lassen denjenigen, der sich als ihr ›Urheber‹ verständlich zu machen vermag, als Subjekt in Erscheinung treten. Für die Stabilität oder den Wandel einer Praktik sind in dieser Theorieperspektive mithin nicht allein die sie regulierenden Kodes oder Regeln verantwortlich, sondern wesentlich auch die Agency der Teilnehmer,
erwerb quasi strukturfunktionalistisch an die Anpassungsleistungen des Individuums qua Verinnerlichung des »generalisierten Anderen« (»generalized other«) bindet, lässt Schatzkis Unterscheidung von Identität und Subjektposition die interpretatorische Kraft eines gesellschaftlich konstituierten Subjekts in den Blick treten, das sich ›eigensinnig‹ zu den Anforderungen und normativen Erwartungen einer Praktik verhalten kann. 2. Identität wird von Mead mentalistisch »auf den Akt eines rationalen und reflexiven Sich-Selbst-Gegenübertretens reduziert« (Stross, Annette M.: Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion. Berlin 1991, S. 96). Schatzki weitet den Kreis möglicher Partizipanden des Sozialen hingegen auf die Körper und die Dinge aus und berücksichtigt so die materiell-sinnlichen Dimensionen der Genese eines reflexiven sozialen Selbst. Gegenüber dem Konzept der Gesamthandlung hat sein Konzept sozialer Praktiken somit den Vorzug, nicht nur Veränderung und Kritik, sondern auch fassen zu können, dass sich die Teilnehmer einer Praktik in ihrem Handeln statt an einem abstrakten verallgemeinerten Anderen an konkreten sozialen Konstellationen, den Haltungen, Gesten und Bewegungen anderer Teilnehmer, sowie den materiell-symbolischen Eigenschaften der beteiligten Dinge orientieren. Umgekehrt können Meads Analysen des Austauschs von Gesten zu einer Schärfung des Blicks für die Mikrologik des interaktiven (Re-)Adressierungsgeschehens in einer Praktik beitragen. 71 | Vgl. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 96f. 72 | M. Füssel: Die Rückkehr des ›Subjekts‹, S. 159. Zu dieser Gefahr vgl. auch den Beitrag von Maxi Berger in diesem Band.
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denen diese Kodes und Regeln als situative Ressourcen für ihr Handeln zur Verfügung stehen.73 Wenn man eine Praktik nicht unter dem Aspekt ihrer Abhängigkeit von kulturellen Kodes, sondern als ein dynamisches Gefüge von Beziehungen zwischen (Subjekt-)Positionen und Handlungen betrachtet, in dem bedeutungskonstituierende Unterschiede gemacht werden, eröffnet dies darüber hinaus die Möglichkeit, ihre prinzipielle Multiperspektivität zu erfassen, d.h. zu berücksichtigen, dass sich eine Praktik von jeder Position aus anders darstellt und sich die verschiedenen Blickpunkte auf das Ganze im zeitlichen Verlauf einer Praktik verschieben. Allerdings deutet Schatzki diesen Aspekt nur an.74 Einen Ansatzpunkt für seine Entfaltung bieten die Überlegungen Luc Boltanskis zur Genese von Kritik. Boltanski macht in ihrem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass jeder Praktik schon deshalb Ungewissheit innewohnt, da alle Kandidaten, die zumindest in der neuzeitlich-modernen Gesellschaft als Subjekte in Frage kommen (lebende und fühlende Menschen), über einen Körper verfügen: Sie sind aufgrund ihrer körperlichen Existenz »zwangsläufig situiert«;75 kein Platz kann zur selben Zeit von einer anderen Person eingenommen werden. Jedem Mitspieler bietet sich deshalb die Praktik anders dar: Jeder fasst das, »was geschieht, verschieden auf und [macht] von den gegebenen Möglichkeiten unterschiedlichen Gebrauch«.76 Dies begründet eine Vielfalt an Interpretationen und legt Konfliktpotenziale in einer Praktik an. Solange diese routiniert am Laufen gehalten wird, bleiben diese möglichen Konfliktherde ›kalt‹: Die Praktik vollzieht sich in einem »praktischen Register«, das sich durch limitierte Reflexion und große Toleranz gegenüber den verschiedenen Perspektiven auszeichnet.77 Die Teilnehmer sind in diesem Register körperlich und mental 73 | Dabei zeichnet Schatzki (The Site of the Social, S. 105ff.) die Agency von »humans« in einer Kritik posthumanistischer Ansätze (wie der Actor-Network-Theory) gegenüber der Agency von »nonhumans« z.B. dadurch aus, dass sie ihre »acts« für andere verständlich machen; er betont aber auch, erst im Verlauf einer Praktik entscheide sich, was Agency sei und wem sie zukomme, so dass keine metaphysische Trennung zwischen »humans« und »nonhumans« vorgenommen werden könne. Zu dieser Kritik an der ANT vgl. auch Rammert, Werner: Technik in Aktion: Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen, Opladen 2003; R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 69. 74 | In seiner Analyse der The Site of the Social steht ordnungstheoretisch die Ausrichtung der in eine Praktik involvierten Aktivitäten und Emotionen auf ihre Ziele und Zwecke im Vordergrund. Zwar betont Schatzki, diese könnten zum Gegenstand von Kontroversen werden, jedoch bleibt die aus der Multipositionalität einer Praktik resultierende Konfliktträchtigkeit unterbelichtet (vgl. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 80). 75 | L. Boltanski: Soziologie und Sozialkritik, S. 95. 76 | Ebd., S. 95. 77 | Ebd., S. 102.
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vollkommen vom Spiel ergriffen – sie sind ›im Spiel‹. Allerdings kann die in der Disparatheit der Perspektiven angelegte Möglichkeit des Überschreitens der Toleranzschwelle stets virulent werden. In diesem Fall wechselt die Praktik in ein »metapragmatisches Register«, das sich durch ein »gehobenes Reflexionsniveau« auszeichnet: Die Teilnehmer verlagern ihre Aufmerksamkeit weg von der zu bewältigenden Aufgabe hin zu der Frage, »wie das, was abläuft, zu qualifizieren bzw. zu kennzeichnen ist«. D.h. sie verlassen die praktische Ebene des Spiels, um es auf einer metapragmatischen Ebene fortzusetzen. Hier wird selbstreferentiell darauf reflektiert, »was man da eigentlich tut und wie es zu tun ist, damit das Tunliche wahrhaft getan werde«.78 In subjektivierungstheoretischer Perspektive wirft Boltanskis Unterscheidung der beiden Register zentrale Fragen auf: Wann zeigt sich ein Individuum überhaupt als ein Subjekt? Tritt es als solches bereits im routinierten Mitwirken an einer Praktik, d.h. im praktischen Register, in Erscheinung? Manifestiert es sich erst im metapragmatischen Register? Oder muss es sich in beiden Registern beweisen? Konstituiert es sich also erst dadurch, dass es auffällig wird, indem es aus dem Fluss bzw. der Zweckmäßigkeit einer Praktik heraustritt und sich in deren Öffentlichkeit wie in einem parrhesiastischen Akt79 exponiert? Ist es bereits Subjekt, wenn es sich unauffällig, aber kompetent in einer Praktik engagiert? Oder müssen unterschiedliche Formen und (Reflexions-)Stufen der Subjektwerdung und des Subjektseins unterschieden werden?80 Wenn ›Heraustreten‹ bedeutet, einen Zustand der Unauffälligkeit und Anonymität aufzugeben, sich sichtbar zu machen und den kritischen Urteilen der Mitspieler oder eines Publikums auszusetzen, dann kann dies in der Form einer Unterbrechung des Spiels geschehen, bspw. um es reflektiert zu qualifizieren und ihm eine neue Richtung zu geben. Es kann aber auch die Form eines sich aus dem Spielverlauf ergebenden, jedoch in diesen eingebetteten Auffällig-Werdens haben, so, wie sich eine besonders gelungene Aktion in einem Fußballspiel vom Hintergrund des Spielflusses abhebt, ohne dass das Spiel in ein metapragmatisches Register wechselt. In beiden Fällen wäre das Sich-Exponieren eine Form des schöpferischen Antwortens auf die im Verlauf einer Praktik sich einstellenden situativen 78 | Ebd., S. 105ff. (alle Herv. i.O.). 79 | Foucault (Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin 1986, S. 15) versteht darunter Akte, in denen ohne Rücksicht auf die eigene Existenz die Wahrheit ausgesprochen wird. 80 | Diese Fragen regen umgekehrt zu einer Problematisierung von Boltanskis Unterscheidung an. Denn wenn Reflexion für das metapragmatische Register reserviert und als sprachlich-diskursives Geschehen konzipiert wird, führt dies leicht zu einer Gleichsetzung von Praxis mit Gewohnheit und damit zu einer Dethematisierung anderer, empraktischer Reflexionsmodi. Zudem wäre zu überlegen, ob einige Praktiken eine stärkere Neigung zum Metapragmatischen haben als andere.
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Herausforderungen. Es würde also nicht deren Rahmen sprengen, sondern als ein von der Praktik selbst provoziertes, responsives Verhalten dazu gehören.81 Während das Individuum aber im ersten Fall performativ vor den Augen der Anderen als ein reflektiertes wie reflektierendes Subjekt in Erscheinung tritt, gewinnt es im zweiten Fall einen – möglicherweise anderen – Subjektstatus, indem es wie intuitiv ein im Spiel sich ergebendes Situationspotenzial ergreift.82
IV. B ASIC A CTIONS – D ISPOSITIONEN – U MGANGSKÖRPER Basic Actions Schatzki definiert Praktiken »as a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings«.83 Er bezieht sich damit ausdrücklich auf die philosophische Handlungstheorie Arthur C. Dantos, der ›doings‹ und ›sayings‹ als »basic actions« betrachtet.84 Auf dieser Folie konstruiert Schatzki ein Modell wechselseitig konstitutiver Beziehungen: ›Doings‹ und ›sayings‹ begründen eine spezifische Handlung »of X-ing, Y-ing, Z-ing« im Zusammenhang vorhergehender wie zukünftiger Handlungen sowie eines (Hintergrund-)Verständnisses von »X-ing, Y-ing, Z-ing«, das in die Organisation der durch eine Praktik kontextualisierten Handlungen eingeht.85 Mit der Bezugnahme auf Danto scheint er sich allerdings ein subjektivierungstheoretisch gravierendes Problem einzuhandeln. Denn unterstellen »basic actions« nicht bereits ein kompetentes Subjekt, von dem doch auf der anderen Seite angenommen wird, es würde sich erst in der Teilnahme an sozialen Praktiken erschaffen?86 81 | Mit dem Konzept responsiven Handelns unterstreicht Bernhard Waldenfels (Antwortregister, Frankfurt a.M. 1994) den elementaren Fremdbezug einer jeden Handlung (vgl. auch Gelhard, Andreas: Kritik der Kompetenz, Zürich 2011, S. 71ff.). 82 | Das Verständnis von Handeln als Ergreifen von Situationspotenzialen schreibt der französische Philosoph François Jullien (Über die Wirksamkeit, Berlin 1999) einem östlichen Denken der Regulierung zu, das er einem westlichen Denken der Modellbildung gegenüberstellt. 83 | T.R. Schatzki: Social Practices, S. 89. 84 | Danto, Arthur C.: »Basic Actions«, in: American Philosophical Quarterly 2 (1965), Nr. 2, S. 141-148; ders.: Analytical Philosophy of Action, Cambridge 1973. Ich beziehe mich im Wesentlichen auf Gisela Harras’ Darstellung der Theorie Dantos (Handlungssprache und Sprechhandlung. Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen, 2. Aufl., Berlin 2004, S. 51-58). 85 | T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 96. 86 | So die Kritik Frieder Vogelmanns (Zur Archäologie der Praktiken. Eine Komplikation praxeologischer Foucault-Deutungen. XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11.-15. September 2011, München).
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Betrachten wir Dantos Konzept der ›basic actions‹ deshalb etwas eingehender. Für Danto sind »basic actions« unvermittelte Handlungen, die nicht Konsequenz anderer Handlungen sind. Sie fallen typischerweise mit einfachen Körperbewegungen wie den Arm heben, ein Bein vor das andere setzen, die Finger bewegen oder Laute artikulieren zusammen. Diese Körperbewegungen können offenkundig zu höchst unterschiedlichen anderen – vermittelten, zusammengesetzten oder gestischen – Handlungen gehören. So kann das Heben eines Armes dem Regeln des Verkehrs durch einen Verkehrspolizisten dienen, zur zusammengesetzten Handlung eines Tanzes gehören oder auch die Geste des Segnens durch einen Pfarrer realisieren. Eine Basishandlung lässt sich demnach nicht substanziell definieren, sondern ist eine Basishandlung überhaupt »nur im Zusammenhang mit Nicht-Basishandlungen«:87 Sie ist ausschließlich negativ »durch Subtraktion der Merkmale einer vollständigen Handlung« zu bestimmen,88 ähnlich wie ein ›Element‹ eines Diskurses nur innerhalb dieses Diskurses als Element identifizierbar ist. Entsprechend erlangen Basishandlungen ihre Bedeutung, Verständlichkeit und Intentionalität allein im Kontext eines übergeordneten Handlungszusammenhangs, in dem sie sich als diese oder jene Handlung zeigen. Ein Beispiel ist das Autofahren, bei dem sich eine Vielzahl unterschiedlicher Körperbewegungen – die Hand heben und zum Blinker führen, den Kopf wenden, die Arme so bewegen, dass das Lenkrad gedreht wird – zu einem komplexen Handlungszusammenhang zusammenfügt, in dem jede Körperbewegung ihre erkennbare Form, Signifikanz und Relevanz erlangt. Offensichtlich setzt der Vollzug eines derartigen Handlungszusammenhangs ein spezifisches Repertoire an Basishandlungen (Körperbewegungen) voraus, die jedoch keine ursächlichen Willensakte und damit auch kein ihnen vorgängiges Subjekt unterstellen. Denn wären sie durch Willensakte verursacht, würde daraus folgen, dass sie keine Basishandlungen sein können, sind doch Basishandlungen »gerade dadurch definiert […] [,] durch nichts weiter verursacht« zu werden.89 Bei Danto existieren keine Willensakte, die eine von den Körperbewegungen getrennte Existenz haben, sondern Menschen sind ihre in Körperbewegungen sich realisierenden Handlungen, so Danto in Übereinstimmung mit Gilbert Ryle.90 Subjektivierungstheoretisch reformuliert bedeutet dies – ich bleibe beim Beispiel des Autofahrens –, dass das am Steuer eines Kraftfahrzeugs sitzende Individuum allein zum ›Autofahrer‹ und als solcher verständlich wird, indem verschiedene Basishandlungen unter Mitwirkung anderer Partizipanden – Fahrzeug, Straße, Verkehrszeichen, weitere Verkehrsteilnehmer – in die Praxisform des Autofahrens gebracht werden. Das Auto87 | G. Harras: Handlungssprache und Sprechhandlung, S. 52. 88 | Ebd. 89 | Ebd., S. 55. 90 | Vgl. ebd.; Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969.
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fahrer-Subjekt existiert in dieser Sicht nicht hinter dem Autofahren als dessen verborgene Ursache, sondern ausschließlich in seinen als Autofahren kontextualisierten Körperbewegungen. Dispositionen Um die mit dem Handlungsbegriff gegebene Gefahr der Unterstellung eines Subjekts zu umgehen, lassen sich die in einer Praktik wie dem Autofahren aktualisierten Fähigkeiten besser als Dispositionen begreifen. Im Anschluss an Ryle verstehe ich darunter nicht unsichtbare psychische oder inkorporierte Strukturen als Erzeugungsgrundlage überdauernder Verhaltensweisen, sondern Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheiten, Anlagen und Neigungen, die sich ausschließlich in Praktiken manifestieren, also keine vom situierten Verhalten »zu trennende eigenständige und womöglich okkulte Existenz« haben.91 So zeigt sich die einer Person aufgrund vieler einzelner, ähnlicher, situativer Verhaltensweisen unterstellte Disposition zum »Gewohnheitsraucher« nur dann, wenn diese Person nicht gerade isst, schläft, einen Vortrag hält oder an einer Beerdigung teilnimmt.92 Für praxeologische Subjektanalysen bedeutet dies, Subjektförmigkeit weder als durch die inkorporierten Strukturen des Habitus noch die Vorgaben einer Subjektform vollständig determiniert zu betrachten, sondern sich dafür zu interessieren, wie sich diese situativ in einem intelligiblen Auftreten als Gewohnheitsraucher, Autofahrer, Lehrer usw. konstituiert und zeigt. Subjektivität ist deshalb als in einem durch Anforderungskataloge, Kodes und normative Erwartungen abgesteckten Rahmen als variabel zu begreifen. Dispositionen können sich in einer nahezu unbegrenzten Vielfalt von Praktiken realisieren, so, wie die motorischen Koordinationsfähigkeiten, die sich im Gehen zeigen, auch beim Hüpfen, Springen oder Radfahren im Spiel sind. Sie sind ein »Repertoireboden« im Sinne eines Potenzials, das nie unmittelbar, sondern stets nur in der ausschnitthaften Gestalt eines konkreten Könnens Fassbarkeit gewinnt.93 Dieses Potenzial ist einerseits weniger als das beobachtbare Können: »weniger bestimmt und konturiert«. Es ist andererseits aber auch mehr, nämlich der über die hier und jetzt vorgezeigte Leistung hinaus weisende Fundus, »aus dem alles Können schöpft und sich darin dennoch nicht erschöpft«.94 Die Dispositionen, die eine Praktik zugleich voraussetzt, in Anspruch nimmt und gestaltet, sind demzufolge ausschließlich in den Formen erkenn-, vermit91 | Schmidt, Robert: »Hidden Curriculum revisited«, erscheint in: Thomas Alkemeyer/ Herbert Kalthoff/Markus Rieger-Ladich (Hg.), Praxeologische Bildungsforschung. Körper – Räume – Artefakte, Weilerswist 2013. 92 | G. Ryle: Der Begriff des Geistes, S. 52. 93 | Türcke, Christoph: Wie das Lernen sein Gewicht verliert, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. August 2012. 94 | Beide Zitate: ebd.
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tel- und einem Subjekt zurechenbar, in denen sie in den Vollzügen einer Praktik in Erscheinung treten. Sie gehören damit ebenso wenig wie Intentionen oder Basishandlungen dem Subjekt allein, sondern sind zugleich Eigenschaften der Praktik, insofern sie sich in dieser Form nur in dieser und in keiner anderen Praktik verwirklichen. In einer anderen Praktik nähmen sie eine andere Form an. Dispositionen existieren damit letztlich immer nur als eine auf die Intentionen, Zwecke und Ziele der jeweiligen Praktik bezogene Re-Disposition. Sie sind in diesem Sinne nur indirekt zugängliche Medien von Praktiken, die sich direkter Wahrnehmung ebenso entziehen wie sprachlicher Benennung. Umgangskörper Wie Dispositionen nur in einem konkreten Können fassbar werden, so erlangen auch Körper nur in den konkreten Formen sozialer Praktiken Kontur, Bedeutung und Verständlichkeit. In Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Denken Ludwig Wittgensteins hat Gunter Gebauer diese empirisch erscheinenden Körper als »Umgangskörper« bezeichnet.95 Es handelt sich dabei um Körper, deren Bewegungsrepertoire in die Form eines bestimmten sozialen Spiels gebracht ist und die über das sichtbare Verhalten hinaus so eingestellt sind, dass sie in einem sozialen Spiel nur diejenigen ihrer vielfältigen Möglichkeiten einsetzen, die von diesem Spiel verlangt und darin als regelgerecht und normenkonform akzeptiert werden. Ihre weiteren Dispositionen bleiben als Potenzial im Hintergrund. Der praxeologischen Dezentrierung des Subjekts korrespondiert somit nicht nur eine »Dezentrierung des Mentalen«,96 sondern auch eine Dezentrierung des Körpers: Handlungen werden weder von einem geistigen Planungszentrum noch phänomenologisch aus der ›Mitte des Leibes‹ heraus gedacht, sondern als Vollzüge mental wie körperlich spielgerecht eingestellter Mitspieler betrachtet. Wie die Motive und Absichten des Subjekts nicht unabhängig von den sozialen Praktiken existieren, auf die sie sich beziehen, so erlangen auch Körper ausschließlich in praktiktypischen Bewegungen und Gesten, d.h. als Umgangskörper, eine intelligible soziale Existenz. Sie werden von den Teilnehmern nicht unspezifisch als bloße physische Einheiten oder biologische Organismen wahrgenommen, eingeschätzt und beurteilt, sondern als je besondere Körper, z.B. als Wissenschaftler-, Lehrer- oder Sportler-Körper – und innerhalb des Sports wiederum als Turner-, Tänzer-, Fußballer- oder Boxer-Körper. Das Konzept eines praktikadäquat ›formatierten‹ Umgangskörpers steht somit gegen die theoretische Fiktion des einen, unwandelbaren Körpers. Empirisch erscheinende Kör-
95 | Gebauer, Gunter: Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009, S. 95ff. 96 | M. Füssel: Die Rückkehr des ›Subjekts‹, S. 155 (in Bezug auf Reckwitz).
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per sind variable Körper: Sie unterscheiden sich von einer Praktik zur anderen, aber auch in den wandelbaren historischen Formen einer Praktik.97 Dies lässt sich besonders gut am Sport plausibilisieren: Jede Sportart verlangt von ihren Teilnehmern, dass andere Teile, Zonen, Merkmale oder Bewegungen des eigenen wie des Körpers des anderen als handlungsrelevante Zeichen aus dem Körperganzen ›herausgelesen‹ werden. Umgekehrt wird auch das Körperganze auf der Folie sportartspezifischer Kriterien und Ergänzungsaktivitäten von anderen ›Elementen‹ und ›Inseln‹ her erschlossen, um adäquat (re-)agieren zu können. Das wechselseitige Wahrnehmen, Verstehen, Einschätzen, Beurteilen und in diesem Sinne Konstruieren der Körper vollzieht sich am Leitfaden der Kodes, Erwartungen und situierten Anforderungen, mit denen eine Sportart ihre Teilnehmer in ihrer jeweiligen Position konfrontiert. Darüber hinaus spielen auch weitere gesellschaftliche Mächte, wie hegemoniale Körperideale, in diese Körperkonstruktionen hinein.98 Alle diese Einflüsse instruieren überwiegend implizit darüber, was in einem Spiel als legitim, richtig oder schicklich gilt. Das solcherart strukturierte gegenseitige Wahrnehmen, Einschätzen und Beurteilen ist nun ebenfalls, auch dies lässt sich am Sport plausibilisieren, keine ausschließlich kognitive Leistung, sondern ebenso die Fähigkeit eines auf die Anforderungskataloge einer Praktik eingestellten Körpers: Körper werden nicht nur in ihrem sichtbaren Verhalten, sondern auch in ihren nur indirekt zu erschließenden Spür-, Verstehens- und Beurteilungsfähigkeiten in die Form eines bestimmten sozialen Spiels gebracht. Im Rekurs auf die phänomenologische Unterscheidung zwischen Körper und Leib ließe sich diese Dimension als Umgangsleib bezeichnen:99 Nur für einen entsprechend sozialisierten und eingestellten Umgangsleib ist ein Spielgeschehen unmittelbar verständlich; nur ihm zeigen sich die möglichen »Umgangsqualitäten« (Arnold Gehlen) der in ein Spiel involvierten Gegenstände sowie die im Spielgeschehen situativ sich ergebenden Handlungsmöglichkeiten. Der in Praktiken sich konstituierende »Körperleib«100 sorgt insgesamt für eine »Erledigungsbereitschaft des Subjekts«, die 97 | Zur Konstruktion multipler Körper in medizinischen Praktiken vgl. entsprechend Mol, Annemarie: The Multiple Body: Ontology in Medical Practice, Durham/London 2002. 98 | So werden unter dem Einfluss der visuellen Massenmedien in aller Regel nur als attraktiv geltende Sportler/innen-Körper als vorzeigbar und vermarktungsfähig akzeptiert. Zur sportlichen Leistungsfähigkeit muss die Kompetenz hinzutreten, ein attraktives Bild von sich zu geben. 99 | Gilt der Körper phänomenologisch als instrumentell einsetzbare Größe, so wird mit dem Leibbegriff das radikal subjektive, anderen Menschen als solches nicht mitteilbare Empfinden, Fühlen, Spüren und Erleben in den Blick gebracht. 100 | In der neueren körpersoziologischen Debatte wird die Abhängigkeit leiblichen Spürens von den sozial-kulturellen Formatierungen des Körpers herausgestellt. Um auf die doppelte Gegebenheit des Gegenstandes wie auf seine Einheit zu verweisen, grei-
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auf die »Anforderungen der Welt« gerichtet ist:101 Er greift in seine Umgebung aus, bezieht diese in seinen »Muskelgefühlsraum«102 ein, nimmt augenblicklich Situationspotenziale wahr und mögliche Antworten vorweg und erzeugt – zwar nicht immer, aber doch verblüffend häufig – angemessene Antworten. Angemessenheit ist durch das bloße Abspulen von Automatismen nicht zu erreichen, sondern verlangt Fehlersensitivität und Anpassungsfähigkeit. Einem entsprechend disponierten Körperleib kann mithin eine eigene praktische Intelligenz i.S. spielgerechter Wahrnehmungs- und Spürfähigkeiten zuerkannt werden, die sich in adäquaten Bewegungsvollzügen äußert. Sie erlaubt es, den Verlauf eines Spiels oder eines einzelnen Spielzugs vorreflexiv zu erschließen und bereits in der Gegenwart das Zukünftige vorzubereiten. Zugleich ermöglicht sie es, eine Bewegungshandlung noch in ihrem Vollzug zu korrigieren, schlagfertig auf Überraschungen zu reagieren und zu Routinen geronnene Körpertechniken situationsadäquat zu variieren. Subjektivierungstheoretisch ist dies interessant, weil damit die Möglichkeit eines reflexiven Spürens des eigenen Leibes in seiner Beziehung zu den (funktionalen, ästhetischen, normativen) Anforderungen einer Praktik angesprochen ist. Wie Bourdieu ausführt, gerät der Habitus immer wieder in Situationen der Unangemessenheit und des Misslingens der von ihm bewirkten Handlungen. Ein dann situativ einsetzender »Augenblick des Zögerns« könne dann
» eine Form von Nachdenken hervorrufen, die nichts mit dem eines scholastischen Denkers zu tun hat und die über angedeutete Körperbewegungen (etwa die, mit der ein Tennisspieler einen misslungenen Schlag wiederholt, um durch einen Blick oder eine Geste den Effekt dieser Bewegung oder den Unterschied zwischen ihr und derjenigen zu prüfen, die es auszuführen galt) der Praxis zugewandt bleibt und nicht demjenigen, der sie vollführt«.103
Solche Momente eines situativen Nachdenkens, das eher einem Nachspüren gleichkommen dürfte, findet man keineswegs nur im Sport oder in der Mufen Gesa Lindemann (Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, 2. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 55ff.) und Ulle Jäger (Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, Königsstein i.Ts. 2004, S. 107ff.) auf Hermann Schmitz’ Begriff des »körperlichen Leibes« zurück; Paula-Irene Villa (»Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (2007), S. 18-26, hier S. 20) spricht übereinstimmend von einem »Körperleib« (vgl. auch Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, S. 146ff.). 101 | G. Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken, S. 72. 102 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen §73, zit.n. G. Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken, S. 64. 103 | Beide Zitate: P. Bourdieu: Meditationen, S. 208.
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sik, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen, einschließlich jener, die – wie die Wissenschaft – ausschließlich den Höhenflügen eines immateriellen Geistes vorbehalten zu sein scheinen. Bourdieu bezeichnet diesen Modus der Reflexion als ein »praktisches Reflektieren«, das eine Handlung oder Geste noch im Vollzug an den Maßstäben der jeweiligen Praktik beurteilen, korrigieren und gegebenenfalls zurücknehmen kann.104 Er konzipiert dieses praktische Reflektieren somit als einen inneren selbstregulatorischen Vorgang, der weder auf von außen kommende Korrekturen angewiesen ist noch einen Umweg über Sprache und Bewusstsein nehmen muss, sondern in der Selbststeuerungskapazität eines spezifisch gebildeten bzw. disponierten Körperleibes gründet. Dessen Wahrnehmungs- und Spürfähigkeiten sind somit überwiegend ›weltrichtig‹. Der Grund liegt darin, dass sie in der Sozialisation, im Lernen und in der Bildung genau auf jene Strukturen und Qualitäten hin entstanden sind, die sie erfassen: Sie erschließen ein Spielgeschehen deshalb wie intuitiv, weil sie aus der Einverleibung der Anforderungsstrukturen dieses Spiels (bzw. verwandter Spiele) selbst resultieren. Das Erfasste und das Erfassen sind in dieser Sicht ko-evolutiv. Mit Bezug auf John Searle hat Gebauer das Zusammenstimmen subjektiv einverleibter Wahrnehmungs- und Erkenntnismuster mit den in einem sozialen Spiel sich stellenden Anforderungen als »funktionelle Äquivalenz« bezeichnet.105 Bourdieu fasst Ähnliches mit den Konzepten des »ontologischen Einverständnisses«, der »begriffslose[n] Kohäsion«106 und der »völligen Koinzidenz«107 von Habitus und Habitat, von Disposition und Position. Diese Koinzidenz begründet in seiner Theorie einen sozialen »Sinn für das Spiel«108, mit dem die spezifische »Sensitivität des Habitus«109 für ein situativ erforderliches wie mögliches Handeln benannt wird. Indem Bourdieu diesen Sinn auch als einen praktischen Sinn bezeichnet, lenkt er die Aufmerksamkeit zugleich darauf, dass der Habitus neben seinen rezeptiven Empfangsqualitäten auch eine produktive Seite besitzt: Er ist, zusammengenommen, ein empfindlich auf die situativen Konstellationen einer Praktik reagierendes Produktionssystem, das ein gestaltendes Eingreifen in diese Konstellationen ermöglicht.110
104 | Ebd. 105 | G. Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken, insbesondere 5. Kapitel über »Das Zusammenspiel von Regeln und Habitus«, S. 124ff. 106 | Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J.D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 161. 107 | P. Bourdieu: Der Tote packt den Lebenden, S. 35. 108 | Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. 109 | G. Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken, S. 147. 110 | Vgl. ebd., S. 147f.
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Mit Bourdieus relationalem Konzept von Habitus und Habitat werden die Flexibilität und Kreativität des Handelns denkbar, ohne ein autonomes Subjekt voraussetzen zu müssen. Gleichwohl scheint es mir noch funktionalistisch verkürzt zu sein. Denn wenn der in einer Praktik engagierte Umgangskörper/Umgangsleib die ausschnitthafte Aktualisierung eines weit größeren Feldes möglicher Dispositionen ist, dann bedeutet dies, dass das Ausgeklammerte jederzeit und ungeplant in die Realität der Praktik einbrechen und sich dort als Überraschung oder Störung erwarteter Abläufe geltend machen kann. Solche Irritationen sind subjektivierungstheoretisch besonders deshalb von Bedeutung, weil sie ein Keim für das Entstehen von Reflexion in der Praktik sind. Stets bleibt ein undefinierter, nicht in die Ordnung der Intelligibilität eingehender, womöglich unpassender, nicht aktualisierter Rest, der die Grenzen des Aufgehens eines Individuums in einem Spielgeschehen und damit auch der Subjektivierung markiert.111 Ob eine Irritation durch diesen Rest zu empraktischen oder zu metapragmatischen Reflexionen führt, ist eine ausschließlich empirisch zu beantwortende Frage.
V. I MPLIZITE UND E XPLIZITE S UBJEK T -B ILDUNGEN Der sich in einer Praktik ausschnitthaft realisierende Fundus an Dispositionen ist allem Anschein nach nicht von Natur aus da.112 Er wird vielmehr in der Sozialisation, Bildung und Erziehung angelegt, jedoch nicht im Sinne stabiler Objektivierungen sozialer Strukturen in den Körpern, sondern als variierbare, in der Praxis fortwährend sich verändernde Einverleibungen praktischer Schemata. Diese ermöglichen keineswegs nur Automatismen, sondern auch ein situationsangemessenes und in diesem Sinne intelligentes Handeln.113 Dispositionen-Repertoires werden zu einem großen Teil durch ein in den Alltag eingelassenes, mimetisches Nach- bzw. Noch-Einmal-Machen, durch Ausprobieren und wiederholte ›Anwendungen‹,114 zu einem anderen Teil in 111 | Für diesen Rest, bzw. Überschuss interessiert sich z.B. auch Christoph Menke mit seinem Begriff der »Kraft« (Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008). 112 | Das bedeutet keine Leugnung von Naturanlagen. Aber auch sie müssen aktiviert und kultiviert werden. 113 | Es sind demzufolge nicht nur Dinge und Artefakte, die die transsituative Weitergabe von Wissen und damit kulturelles Erbe sicherstellen, sondern auch sozialisierte, gebildete Körper (vgl. auch Schindler, Larissa: Kampffertigkeit. Eine Soziologie praktischen Wissens, Stuttgart 2011, S. 149ff.). 114 | Vgl. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Hamburg 1998.
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ausdrücklichen Prozessen des Übens und Trainierens erworben und gebildet. Unter Verzicht auf die üblichen normativen Konnotationen aus der humanistischen Tradition der Pädagogik verstehe ich dabei unter Bildung schlicht Vorgänge der Kultivierung von Können und Wissen. Subjekt-Bildungen wären vor diesem Hintergrund als Prozesse zu verstehen, in denen Dispositionen so kultiviert werden, dass es einem Individuum möglich wird, sich unter fortlaufendem Einsatz unterschiedlicher Vollzugs- und Darstellungskompetenzen anerkennbar an sozialen Praktiken zu beteiligen. An diesen Bildungsprozessen hat neben anderen Personen stets auch das gesamte materielle und sensorische Umfeld der Praxis teil: Architekturen, Dinge, nichtmenschliche Lebewesen, Artefakte, Geräusche und Gerüche. Die implizite Pädagogik des Alltags Der Typus einer impliziten Pädagogik des Alltags kommt großenteils ohne explizite verbale Instruktionen aus. Denn das Alltagspraktiken tragende Wissen und Können existiert in den Vollzügen der Praxis selbst: Es kommt als »performed knowledge«115 in gekonnten Bewegungen, Gesten und Auftritten zum Vorschein. Diese Präsenz von Wissen und Können in kompetenten Praxisvollzügen ermöglicht es den Teilnehmern prinzipiell, sie durch Zusehen und Nachmachen zu erschließen und ein Verständnis für sie auszubilden. In den vielfältigen Formen eines informellen, alltäglichen Lernens nehmen die Teilnehmer permanent aufeinander Bezug und konstituieren in diesem Geflecht von Bezugnahmen einen gemeinsam geteilten, öffentlichen Raum der Subjektivierung: Sie instruieren einander durch ihr Verhalten, bringen einander eine spezifische Aufmerksamkeit entgegen, unterscheiden dabei – durch explizite Zurechtweisungen oder versteckte, von außen kaum wahrnehmbare Gesten – zwischen regelhaften und regelwidrigen, kompetenten und inkompetenten Aktionen und sanktionieren jene Handlungen, die ›aus dem Rahmen fallen‹. Durch fortlaufende, in die Praxis eingebundene Kommentare, Kritiken, Korrekturen und Sanktionen wird in actu ein geteiltes praktisches Verständnis darüber hergestellt und subjektiv angeeignet, was eine adäquate Vollzugsform der Praktik ist und was nicht. Die gemeinsame Praktik übergreift alle Aktionen und fordert die Teilnehmer dazu auf, individuelle Handlungen bspw. als Momente eines Small Talks, einer Podiumsdiskussion oder eines Fußballspiels, d.h. in intelligiblen praktischen Formen, hervorzubringen. Wir haben es demnach mit einem doppelten Aneignungsprozess zu tun: In der einen Richtung eignet sich die Praktik ihre Teilnehmer an, indem sie deren Dispositionen unter der Ägide ihrer Zwecke selektiv verfügbar macht und 115 | Hirschauer, Stefan: »Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs«, in: Angelika Wetterer (Hg.), Geschlechterwissen und soziale Praxis. Theoretische Zugänge – empirische Erträge, Königstein i.Ts. 2008, S. 82-95, hier S. 90.
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organisiert. In der anderen Richtung eignen sich die Teilnehmer aber auch die Praktik an, indem sie in ihrem Engagement fortlaufend Know-how, Erkenntnis- und Beurteilungsfähigkeiten einbringen, erwerben und entwickeln, die sie zu kompetenten Mitspielern machen.116 Im Verflechtungszusammenhang wechselseitiger (Re-)Adressierungen zeigen sich die Partizipanden so nicht nur gegenseitig, was ein Small Talk, ein Diskussionsbeitrag oder ein Doppelpass ist, sondern auch wie diese Praktiken gehen und wo die Grenzen dessen liegen, was als eine praktikadäquate Handlung (gerade noch) akzeptiert wird. D.h. sie vermitteln sich zusammen mit spezifischen Fähigkeiten stets auch die implizite Normativität einer Praktik und Gelingenskriterien, die nicht selbst gezeigt werden (können).117 Diese Normativität verlangt ein ständiges Treffen von Unterscheidungen (zwischen richtig und falsch, gelungen und misslungen etc.).118 Indem die Praktik die Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeiten ihrer Teilnehmer damit unter ihrer ›Bestimmungsmacht‹ aktiviert, engagiert sie diese als ihre Subjekte. Mit der kontinuierlichen Entwicklung von Mitspielkompetenz durch regelmäßige Teilnahme werden die Individuen nicht nur zunehmend von der Praktik ›rekrutiert‹, sondern zugleich wächst auch ihre Chance, die Verlaufsform der Praktik reflektiert-intentional mitzugestalten oder kritisch zu kommentieren.
116 | Vgl. Schmidt, Robert: »Stumme Weitergabe. Zur Praxeologie sozialisatorischer Vermittlungsprozesse«, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 28 (2008), S. 121-136, hier S. 131. Allerdings interessiert sich Schmidt praxissoziologisch stärker dafür, wie sich Praktiken ihre Teilnehmer durch »fortlaufende Einsozialisierung« aneignen, als subjektivierungstheoretisch dafür, wie sich Individuen eine Praktik zu eigen und dadurch zu Subjekten machen. Mit dem auf Michel de Certeau (Die Kunst des Handelns, Berlin 1988) zurückgehenden Konzept der Aneignung lassen sich situierte praktische Interpretationen gesellschaftlicher Vorgaben ohne eine Rückkehr zur Subjektphilosophie beobachten, da diese Interpretationen in die Praktiken eingebettet bleiben, aus denen sie hervorgehen. 117 | Vgl. auch L. Schindler: Kampffertigkeit, S. 147ff. 118 | Mit dieser interaktionistischen bzw. genauer ›intra-aktionistischen‹ Auffassung von Normalität beziehe ich mich auf Joseph Rouse (»Social Practices and Normativity«, in: Philosophy of the Social Sciences 37 (2007), Nr. 1, S. 3): »I have in mind the whole range of phenomena for which it is appropriate to apply normative concepts, such as correct or incorrect, just or unjust, appropriate or inappropriate, right or wrong, and the like.« Im Unterschied zu grundlegenden Regeln oder ›Gesetzen‹ können diese normativen Konzepte als die einer sozialen Praktik impliziten Standards gegenseitiger Normalisierung begriffen werden.
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Explizite Pädagogiken Von der impliziten Pädagogik der Praxis können pädagogische Formen unterschieden werden, in denen Dispositionen methodisch-didaktisch, z.B. in organisierten Bildungsgängen, Trainingsprogrammen oder Prüfungsformaten, dauerhaft für die individuelle und kollektive Selbstorganisation in verschiedenen sozialen Praktiken (des Sports, des Arbeitens, der Wissenschaft) verfügbar gemacht werden sollen.119 Um diese expliziten Formen der Subjekt-Bildung zu untersuchen, wäre empirisch das systematische sequentielle Anlegen, Gestalten und Organisieren von Mitspielkompetenz über verschiedene Qualifizierungsstufen hinweg zu beobachten. Neben didaktischen Anweisungen im engeren Sinne wären dabei auch die zu diesem Zweck arrangierten raum-zeitlichen Anordnungen, materiellen Ausstattungen (eines Seminarraums, einer Sporthalle) sowie Lehrmedien und -techniken (Texte, Bilder, Kameras etc.) in den Blick zu nehmen. Vor dem Hintergrund theoretisch-empirischer Forschungen zum sportlichen Training120 scheinen mir in diesem Zusammenhang solche Situationen besonders interessant zu sein, in denen die Übenden vor einem Prüfer oder Teilnehmern anderen so exponiert werden, dass sie unter einem bestimmten, für die jeweilige Praktik relevanten Blickwinkel beobachtbar gemacht werden. Solche Beobachtungsdispositive verfolgen das Ziel, für die jeweilige Praktik als relevant bestimmte Phänomene für einen prüfenden Blick als Körperzeichen lesbar werden zu lassen: Sie stellen Körper so ins Licht, dass (In-)Kompetenzen zum SichZeigen gebracht werden und mit gezielten Korrekturen in den Bildungsverlauf interveniert werden kann. Im Sport kommen zu diesem Zweck auch Kameras oder elektronische (Spiel-)Analyse-Systeme als Ko-Akteure der Beobachtung zum Einsatz. Die mit diesen Technologien gewonnenen Informationen werden dem Übenden möglichst ohne Zeitverzögerung zurück kommuniziert, so dass er sich in allen weiteren Versuchen durch die Brille des Beobachters selbst beobachten, problematisieren und mit entsprechenden Techniken der Selbstverbesserung reagieren kann. Es ist dies ein Musterbeispiel für eine Praktik reflexiver Subjektivierung, mit der ein soziales System (eine Mannschaft, eine 119 | Dieses Verfügbarmachen stößt prinzipiell an Grenzen, da sich Dispositionen der Erkennbarkeit entziehen, so dass nicht direkt auf sie zugegriffen werden kann. Deshalb werden Dispositionen auch als ›Grenzkategorien‹ (z.B. als Talent oder Motiviertheit) behandelt, für die sich eine Organisation unzuständig erklären kann. Sie müssen in dieser Sicht bereits mitgebracht werden und die Organisation beschränkt sich dann darauf, sie zu entdecken, zu definieren, zu fördern und zu kultivieren. Für diesen Hinweis danke ich Matthias Michaeler. 120 | Ich beziehe mich u.a. auf in meinem Arbeitsbereich entstehende Dissertationen über Praktiken der Subjektivierung in der Sportakrobatik (Kristina Brümmer), im Balletttanz und beim Tai-Chi (Robert Mitchell) sowie über »Teambuilding« im Volleyball (Matthias Michaeler).
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Organisation) diejenigen Verhaltensdispositionen systematisch auszubilden, zu kultivieren und zu rekrutieren versucht, die Anschlussfähigkeit an und Inklusionsfähigkeit in seine Praxisformen zu gewährleisten versprechen.121
VI. B AUSTEINE FÜR PR A XEOLOGISCHE S UBJEK TANALYSEN In praxeologischer Perspektive wird der Ausgangspunkt sozialen Handels nicht in autonomen Subjekten lokalisiert, vielmehr gehen Subjekte mit ihren spezifischen sozialen Identitäten (als Mann, Frau, Migrant, Schüler, Lehrer etc.) ihren Selbstbeziehungen und Kompetenzen aus der Teilnahme an sozialen Praktiken hervor.122 Ihre Subjektförmigkeit ist jedoch nicht stabil gegeben,123 sondern muss unter den Bedingungen der Situativität und Kontingenz der Praxis immer wieder aufs Neue performativ vollzogen und beglaubigt werden. Dabei können durchaus Unstimmigkeiten zwischen einem bereits gewonnenen identitären Selbstverständnis und den normativen Erwartungen der in einer Praktik mit einer bestimmten Position verbundenen Subjektform auftreten. Solche Konflikte stellen die Selbstverständlichkeit der Praktiken und ihrer (Subjekt-) Ordnungen immer wieder ein Stück weit in Frage. Aufgrund der Komplexität ihrer Strukturen und Kriterien sozialer Differenzierung legt insbesondere die moderne Gesellschaft eine Fülle von Reibungspunkten in den sozialen Praktiken an: In der Sozialisation erworbene Aufstiegsambitionen werden mit sozialen Barrieren, Beschränkungen und Grenzen konfrontiert, frühkindlich erworbene Dispositionen durch subsystemische Traditionen und Subjektformen überlagert. Spannungen zwischen subsystemischen Weisen, sich zum Subjekt zu machen, sind damit vorprogrammiert, die Ausbildung reflexiven Selbstverständnisses und kritischer Alltagskompetenzen liegt nahe.124 Wie konkret mit derartigen 121 | Technische Apparaturen reflexiver Subjektivierung durchdringen zunehmend das soziale Leben, z.B. in Form von Handy-Apps, die Daten über Bewegungsverhalten und Kalorienverbrauch direkt ins Internet übertragen und einen hohen Verbrauch mit Bonuspunkten belohnen, so dass das Subjekt sofort eine Rückmeldung über das bereits Erreichte im Verhältnis zu einer Zielvorgabe erhält. 122 | Vgl. auch R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 70. 123 | Bspw. durch die Inkorporierung sozialer Strukturen als überdauernde innere Dispositionen, die als Matrix transsituativer Handlungsroutinen konzipiert werden. 124 | Vgl. Hahn, Alois: »Soziologische Relevanzen des Stilbegriffs«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Karl-Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986, S. 603-611, hier S. 609; Krais, Beate: »Geschlechterverhältnis und symbolische Gewalt«, in: Gunter Gebauer/ Christoph Wulf (Hg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt a.M. 1993, S. 208-250, hier S. 220.
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konflikthaften Erfahrungen umgegangen wird, ist eine empirisch offene Frage: Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Anforderungskatalog einer zu verkörpernden Subjektform, ihre Umdeutung und »Überschreibung«,125 ist ebenso möglich wie Auflehnung oder radikale Verweigerung. Methodologisch impliziert das hier skizzierte performative Verständnis des Subjekts eine prinzipielle Beobachtbarkeit der Subjektivierung. Diese ist freilich nicht unmittelbar gegeben, sondern muss durch einen reflektierten, methodisch kontrollierten Einsatz geeigneter Beobachtungsinstrumente hergestellt werden.126 Dabei könnten sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Untersuchungsschwerpunkt folgende Untersuchungsdimensionen als ertragreich erweisen: 1. Anforderungskataloge und teleoaffektive Strukturen Soziale Praktiken gewinnen ihre Unterscheidbarkeit durch die Art und Weise, wie sie ›doings‹ und ›sayings‹ miteinander verknüpfen, organisieren und auf bestimmte Ziele ausrichten. Sie konfrontieren die in ihnen engagierten Partizipanden positionsabhängig mit spezifischen Anforderungen und normativen Erwartungen, die Antworten und Stellungnahmen ermöglichen wie herausfordern. Diese Anforderungen lassen sich zum einen über (Diskurs-)Analysen ›offizieller‹ programmatischer Texte, Regelwerke, Pläne u.Ä., zum anderen über die ethnografische Beobachtung der in den Vollzug der Praktik eingebundenen, sprachlichen wie gestischen Kommentare und Zurechtweisungen rekonstruieren, mittels derer sich die menschlichen Teilnehmer unter Beteiligung der Dinge gegenseitig in eine Praktik ›einsozialisieren‹. Dabei wäre empirisch auch der Frage nach disparaten normativen Forderungen innerhalb einer Praktik nachzugehen. So können sich bspw. Schüler so zu zeigen versuchen, dass sie ihrer Lehrerin gefallen und zugleich ›cool‹ bei ihrer Clique ›rüberkommen‹, um in beiden Bezugssystemen Anerkennung zu finden.127 Rollentheoretisch ließe sich dies als Rollenkonflikt beschreiben; subjektivierungstheoretisch wäre es hingegen interessant zu beobachten, wie ein ständiges performatives Ausbalancieren dieser konfligierend die Schüler bedrängenden Erwartungen seinerseits zur Subjekt-Bildung, bspw. zur Modellierung und Inkorporierung spezifischer Refle-
125 | Vgl. den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band. 126 | Vgl. Scheffer, Thomas: »Das Beobachten als sozialwissenschaftliche Methode – Von den Grenzen der Beobachtbarkeit und ihrer methodischen Bearbeitung«, in: Doris Schaeffer/Gabriele Müller-Mundt (Hg.), Qualitative Forschung in den Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Bern 2002, S. 351-374. 127 | Wir beobachten Derartiges regelmäßig in einem laufenden DFG-Projekt über »Die Körperlichkeit der Anerkennung: Subjektkonstitutionen im Sport- und Mathematikunterricht«, an dem Thomas Pille maßgeblich beteiligt ist.
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xions- und Darstellungskompetenzen, beiträgt und darüber womöglich auch das Gefüge der Positionen und Subjektformen im Klassenzimmer verändert wird. 2. Positionierungen Praktiken vollziehen sich an bestimmten Orten und etablieren ihre eigenen Räume. Dabei sehen in Institutionen auf Dauer gestellte Praktiken, wie das Lehren und Lernen in der Schule, bestimmte sozial-räumliche Positionierungen der Teilnehmer z.B. im Klassenzimmer vor, die sich über eine Rekonstruktion der Anordnung von Körpern und Dingen (Tische, Stühle, Smartboard, Schränke) analysieren lassen. Diese materiell-symbolischen Anordnungen sind maßgeblich an der Organisation praktikbezüglicher Haltungen, Einstellungen, Gefühle und Handlungen sowie der Etablierung sozialer Ordnungen und (Macht-) Beziehungen beteiligt. Sie determinieren das Handeln und die subjektiven Innenräume des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Begehrens und Träumens jedoch nicht kausal, sondern präfigurieren sie ›nur‹. Wie sich die Teilnehmer selber zueinander positionieren und bspw. innerhalb des ›Behälterraums‹ des Klassenzimmers einen eigenen relationalen Raum schaffen,128 auf welche Weise sie vorgesehene Subjektpositionen beziehen, wie sie sich dabei Subjektformen (›Lehrer‹, ›Schüler‹) aneignen, diese (um-)deuten und darstellen, wäre empirisch zu beobachten. In noch nicht oder nur schwach institutionalisierten Zusammenhängen, wie den urbanen Sportpraktiken von Skatebordfahrern oder der Entstehungsphase eines (politischen, kommerziellen etc.) Projekts, stellt sich hingegen die Frage, wie sich Zug um Zug überhaupt erst aufeinander bezogene Subjektpositionen etablieren und wie dauerhaft dieses Positionengefüge ist. 3. Anerkennung und Adressierung Um derartige Positionierungsgeschehen zu untersuchen, kann methodisch das relationale Konzept der Anerkennung als grundlegende Struktur und Medium der Subjektkonstitution in Anschlag gebracht werden:129 Als eine analytische Kategorie bringt ›Anerkennung‹ in den Blick, wie sich Individuen im Kontext einer Praktik wechselseitig in ihrer Unterschiedlichkeit wahrnehmen und über die – großenteils implizite – Thematisierung dieser Differenz als Subjekte in spezifischer Position einsetzen, stiften oder bestätigen.130 Für die empirische Forschung lässt sich Anerkennung als Adressierung operationalisieren: An (trans-) 128 | Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001; Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006. 129 | Vgl. Ricken, Norbert/Balzer, Nicole: »Anerkennung als pädagogisches Problem – Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs«, in: Albrecht Schäfer/Christiane Thompson (Hg.), Anerkennung. Paderborn 2010, S. 35-87; vgl. auch den Beitrag von Ricken in diesem Band. 130 | J. Butler: Die Macht der Geschlechternomen, S. 215ff.
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sequentiellen Akten der Adressierung und Re-Adressierung131 zeigt sich für die Teilnehmer wie für den mit dem Feld vertrauten Beobachter zweiter Ordnung erstens, wer oder was im Kontext der beobachteten Praktik überhaupt von wem in welcher Position als anerkenn- und damit adressierbar wahrgenommen wird, und zweitens, wie sich Individuen gegenseitig als Subjekte ›anrufen‹, indem sie sich sprachlich und gestisch (durch eine flüchtige Berührung, ein Hochziehen der Augenbraue, ein leichtes Nicken) einander zuwenden, kommentieren und kritisieren. Adressierungen und Re-Adressierungen bilden ein öffentliches Geflecht kommunikativer Akte, in deren Vollzug ein ›irgendjemand‹ vor Dritten zu ›jemandem‹ gemacht wird und sich selbst dazu macht. In diesen Geflechten können bestehende Machtverhältnisse bestätigt aber auch in Frage gestellt werden. 4. Dinge und Artefakte Praktiken der Subjektivierung vollziehen sich unter der Beteiligung von Dingen und Artefakten wie Gebäuden, Werkzeugen, Maschinen, Büchern und technischen Medien bzw. (Beobachtungs-)Systemen. Diese Materialitäten können bestimmte Handlungen nahelegen, stimulieren oder provozieren, andere hingegen unwahrscheinlich machen oder verhindern. In praxeologischer Perspektive kommt ihnen jedoch nicht von sich aus Bedeutung und damit ein eigener Aufforderungscharakter (bzw. Agency) zu, sondern ausschließlich im Kontext einer Praktik. In Praktiken stellen sich ihre Subjekte körperlich wie mental darauf ein, die Dinge unter einem auf ihre normativ und affektiv geladenen Ziele bezogenen Blickwinkel, d.h. in ihren praktikbezüglichen Umgangsqualitäten, wahrzunehmen und zu gebrauchen.132 Zu untersuchen wäre zum einen, welche Gebrauchsweisen von einer Praktik nahegelegt und welche praktischen Interpretationen auf welcher Position überhaupt möglich sind, zum anderen, welchen Gebrauch Individuen von den Dingen machen, um darüber in einem sozialen Spiel als Subjekt in Erscheinung zu treten, spezifische Selbstbeziehungen 131 | Vgl. Scheffer, Thomas: »Zug um Zug und Schritt für Schritt. Annäherung an eine transsequentielle Analytik«, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 368-398. 132 | Derartige Beziehungen zwischen Beschaffenheiten der Umgebung und Mitspielern, die diese als handlungsanregende Angebote wahrnehmen, bezeichnet James J. Gibsons (Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München 1982) als »affordances«. Affordanzen sind Gebrauchsgewährleistungen, die erst im Zusammenspiel mit anderen, für ihren Gebrauch disponierten Handlungsträgern existent und intelligibel werden. Das Affordanz-Konzept unterläuft somit Subjekt-Objekt-Dichotomien (vgl. auch R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 67f. und den Beitrag von Dagmar Freist in diesem Band).
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einzugehen oder sich durch einen ›abweichenden‹ Gebrauch als ›eigensinnig‹ zu exponieren. Da sich in Artefakten historisch akkumulierte Erfahrungen objektivieren, konfrontieren sie das Subjekt immer auch mit der eigenen Geschichte: Seine persönliche Erfahrungsgeschichte kommuniziert mit einer Geschichte kollektiver Erfahrungen. Auch dies ist eine Quelle von Selbstreflexion.133 5. Körperlichkeit Praktiken ›rekrutieren‹, involvieren und engagieren Körper. Diese treten in einer Praktik als Umgangskörper in Erscheinung und werden von ihren Teilnehmern unter praktikbezüglichen Gesichtspunkten wahrgenommen und verstanden. Methodologisch können die Körper als Anzeigetafeln bzw. »Displays«134 in den Blick genommen werden, auf denen sich die eine Praktik großenteils implizit regierenden und regulierenden Normen der Anerkennbarkeit als Subjekt ablesen lassen:135 Wenn sich der Subjektstatus in einem adäquat agierenden und auftretenden Umgangskörper öffentlich zeigen und performativ beglaubigen muss, bedeutet dies für die empirische Forschung, die ihn regierenden normativen Forderungen von jenen Bewegungen, Gesten und Auftritten her zu erschließen, die von den Teilnehmern sprachlich wie gestisch als regelgerecht, normgemäß, situationsadäquat und damit kompetent beurteilt und anerkannt werden. 6. Selbstverhältnisse und (praktische) Kompetenzen Praktische Konstruktionen des Körpers als Umgangskörper gehen mit der Ausprägung bestimmter kognitiver, affektiver, ästhetischer und evaluativer Vermögen und Selbstverhältnisse einher. Nicht nur das sichtbare Körperverhalten, sondern auch die nur indirekt zu erschließenden Selbstbeziehungen, Reflexions- und Spürfähigkeiten sind damit als Momente der jeweiligen Praktik, d.h. im Hinblick auf ihre praktikspezifische Gestalt(ung), zu erforschen: Welche Formen und Techniken der Selbstbeobachtung und -problematisierung legt eine Praktik nahe? Mit welchen Körper- und Psycho-Techniken wirken die Individuen auf sich selbst ein, um sich physisch, psychisch und emotional in die Form einer Praktik zu bringen? Wie werden normative Forderungen in einzelnen Übungsschritten nach und nach habitualisiert? Welche Anzeichen für das Entstehen und Fungieren einer empraktischen (Selbst-)Reflexion136 oder einer zu selbstbe133 | Vgl. den Beitrag von Johann Kreuzer in diesem Band. 134 | Goffman, Erving: »Gender Display«, in: ders., Gender Advertisements. London/ Basingstoke 1979, S. 1-8. 135 | Vgl. S. Hirschauer: Körper macht Wissen, S. 88f. 136 | Dieser Modus einer »reflection-in-action« (Schön, Donald: The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action, Aldershot 2005) wäre von jenen ausdrücklichen »Praktiken der Reflexivität« (Reckwitz, Andreas: »Praktiken der Reflexivität. Eine
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wussten Stellungnahmen befähigenden kritischen Alltagskompetenz sind den körperlichen Handlungsvollzügen zu entnehmen? Auch diese Fähigkeiten zu praktischer Reflexion und Kritik sind unerlässliche Komponenten von Mitspielfähigkeit: Sie unterscheiden das Handeln in Praktiken von bloßen Routinen.137 7. Bildung und Training Von einer Praktik ausschnitthaft ›rekrutierbare‹ körperlich-mentale Dispositionen, die in ihrer Gesamtheit Mitspielkompetenz ausmachen, werden in Praktiken impliziter und expliziter Pädagogik in den Teilnehmern anzulegen und verfügbar zu machen versucht. Zur Rekonstruktion dieser Bildungsprozesse wäre die zugängliche Bandbreite mimetischen Lernens sowie gegenseitiger Korrekturen und Sanktionen im Alltag ebenso in den Blick zu nehmen wie die sequentielle Organisation von Mitspielkompetenz in Dispositiven systematischen Übens und Trainierens. 8. Zeitlichkeit und Kontingenz Praktiken verändern ihre Gestalt, ihre normativen Forderungen und die ihnen impliziten Kriterien der Anerkennbarkeit als Subjekt in der Geschichte. Diese Veränderungen sind Gegenstand historischer Untersuchungen. Diese wären zugleich Beiträge zur historischen Gesellschaftsanalyse, insofern die Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen, die Geordnetheit sozialen Geschehens und die Strukturiertheit sozialer Beziehungen in praxeologischer Sicht in sozialen Praktiken hervorgebracht werden. Zeitlichkeit ist subjektierungstheoretisch darüber hinaus auch deshalb von großer Relevanz, weil es sich bei Praktiken um ein offenes, kontingentes Geschehen handelt, »das sich fortlaufend, immer wieder aufs Neue und immer wieder neu im Hier und Jetzt konkreter Gegenwarten vollzieht«.138 Damit muss sich auch das Subjekt immer wieder aufs Neue in einer Praktik performativ realisieren. In diesen Performanzen wird im Zusammenspiel mit der in den Dingen, aber auch in Diskursen, Theorien, Sitten und Gebräuchen vergegenständlichten Geschichte partiell auch die im eigenen Körper niedergelegte Erfahrungsgeschichte vergegenwärtigt. Diese aktualisierte Vergangenheit kann die Richtung zukünftiger Verläufe mitbestimmen und damit die situative Kontingenz der kulturtheoretische Perspektive auf hochmodernes Handeln«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 169-182) wie Selbstbeobachtung und ›self-monitoring‹ zu unterscheiden, die gezielt z.B. trainiert werden, um gesellschaftlichen Erwartungen an körperliche Attraktivität, gesundheitsbewusstes Verhalten oder ›emotionale‹ Intelligenz entsprechen zu können. 137 | Zur praxistheoretischen Tendenz, Praxis mit Routine zu identifizieren, vgl. den Beitrag von Berger in diesem Band. 138 | R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 51.
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Praxisgegenwart ›gegenbalancieren‹, jedoch nie vollständig eliminieren. Vielmehr bildet Kontingenz einen systematischen Grund für die »Variabilität von Praktiken« und ihren Subjektformen; sie hält stets »die Möglichkeit der Verschiebung, Abweichung und Veränderung« bereit.139 Inwiefern diese Möglichkeit real wird, hängt u.a. von dem Grad ab, in dem die in den Handlungsträgern anwesende Vergangenheit die Praxisgegenwart gleichsam eindickt140 oder sich ›eigensinnig‹ in das Geschehen einschaltet. Empirisch zugänglich und soziologisch relevant werden individuelle Verschiebungen, Abweichungen und Veränderungen dann, wenn sie sich zu kollektiven Muster aggregieren, aus denen sich alternative Subjektformen entwickeln können, die dann ihrerseits auf die (Neu-) Gestaltung institutioneller und sozialer Strukturen einwirken.141 9. Konflikte und Misslingen Im Sinne des Prinzips der Offenheit werden die an einer sozialen Praktik beteiligten Entitäten in praxeologischen Untersuchungen zunächst ›nur‹ als Propositionen, d.h. als ›Vorschläge zum Sein‹, aufgefasst. Die Beobachtung richtet sich darauf, ob und wie diese Entitäten in einer Praktik bedeutungsstiftende Verbindungen miteinander eingehen und welcher Art diese Verbindungen sind.142 Diese Herangehensweise verlangt einen für Relationierungen aufmerksamen Beobachtungsstil, der sowohl einer objektivistischen Überbetonung der das Subjekt vermeintlich ›von oben‹ oder ›hinterrücks‹ konstituierenden und steuernden Kräfte als auch einer der Praxeologie aus poststrukturalistischer Richtung vorgeworfenen Voreingenommenheit für das Gelingen und die »iterative Stabilität« von Praktiken vorbeugt.143 Denn sie lässt zum einen offen, ob es überhaupt zu gelingenden Verbindungen kommt, und ist zum anderen sensibel für ein mögliches Misslingen von Subjektivierungen, das zu weiteren Fragen nach den Ursachen führen kann. So ist es bspw. möglich, dass ein Individuum nicht den geltenden Kriterien der Anerkennbarkeit als Subjekt genügt oder aufgrund fehlender Schnittstellen keinen Anschluss an eine Praktik findet.144 139 | Ebd., S. 55. 140 | Ebd. 141 | Vgl. A. Reckwitz: Subjekt, S. 140f. 142 | Vgl. Alkemeyer, Thomas/Rieger-Ladich, Markus: »Symbolische Gewalt im pädagogischen Feld«, in: Robert Schmidt/Volker Woltersdorff (Hg.), Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu, Konstanz 2008, S. 103-124. 143 | Vgl. Moebius, Stefan: »Handlung oder Praxis. Konturen einer poststrukturalistischen Praxistheorie«, in: ders./Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 58-74; vgl. auch R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 264. 144 | Ein solches, sich gleichsam ereignendes Misslingen der Subjektivierung wäre von einer bewussten Verweigerung zu unterscheiden.
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Eine hier nur ansatzweise skizzierte, das jeweilige historisch situierte Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen, Dimensionen und Momente subjektivierender Praktiken fokussierende, Analytik wäre insofern gesellschaftskritisch, als sie sowohl Beharrungskräfte als auch Möglichkeiten des Auftauchens und der Erschaffung von Neuem zu entdecken erlaubt. Diese Möglichkeiten haben ihren systematischen Grund u.a. darin, dass sich die Abhängigkeit des Individuums von der sozialen Welt durch sein praktisches Engagement in dieser Welt in eine eingeräumte subjektive Mitgestaltungsmacht transformieren kann. Eine solche Macht gestattet es, Situationspotenziale zu ergreifen, in den kulturellen Kontext der eigenen Subjektivierung einzugreifen und das komplexe Wechselspiel von Fremd- und Selbstbestimmung, von Widerfahrnis und Widerstand, kompetent mitzugestalten.
Anerkennung als Adressierung Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse Norbert Ricken
Trotz aller ›Toterklärungen‹ – das ›Subjekt‹ hat wieder Konjunktur: Wie kaum ein anderes, noch vor wenigen Jahrzehnten als ebenso unbrauchbar wie überholt diagnostiziertes und schließlich lauthals verabschiedetes Konzept taucht nun das ›Subjekt‹ seit einigen Jahren zunehmend auch im gesellschaftstheoretischen Diskurs wieder auf und reklamiert für sich einen Zentralplatz inmitten alternativer und konkurrierender Kategorien. Doch was zunächst als bloße ›Wiederkehr des Verdrängten‹ gelten könnte und sich darin als Kontinuität einer europäischen Kulturwahrheit erweisen würde,1 zeigt sich bei genauerer Betrachtung als erstaunliche Veränderung und Verschiebung: Es ist gerade nicht das klassische ›Subjekt der Aufklärung‹, das (sich) in sich selbst (be-)gründende, sich selbst bewusste und durchsichtige sowie sich selbst vernünftig bestimmende und als Zweck an sich selbst setzende, kurz: ebenso autonome wie souveräne Subjekt, was nun in den unterschiedlichen Diskursen neuerlich aufund angerufen würde und die noch nicht lange verklungenen und im Namen von vorgängigen Strukturen wie Sprache, Leib und Geschichte ausgerufenen ›Toterklärungen‹ überlebt hätte; vielmehr taucht – diesseits dieser Schieflagen des ›Streits ums Subjekt‹2 – eine Figur relationaler Subjektivität auf, in der nicht nur die eingewöhnten dichotomischen Bestimmungen – wie z.B. Freiheit und Macht, Individuum und Gesellschaft sowie Autonomie und Heteronomie – problematisiert und zu überwinden versucht werden, sondern auch neue Kenn1 | Vgl. z.B. Kögler, Hans-Herbert: »Situierte Autonomie. Zur Wiederkehr des Subjekts nach Foucault«, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 77-92 sowie Fetz, Reto Luzius/Hagenbüchle, Roland/ Schulz, Peter (Hg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 2 Bde., Berlin/New York 1998. 2 | Vgl. Frank, Manfred/Raulet, Gerard/van Reijen, Willem (Hg.): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt a.M. 1988.
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zeichnungen und Markierungen menschlicher Subjektivität entwickelt werden.3 Zugleich eint diese Neueinsätze auch, dass Subjektivität und allemal das Subjekt selbst nicht als Kennzeichnung der menschlichen Verfasstheit schlechthin gelten können, sondern ihrerseits selbst als historisch gelten müssen: Menschen sind nicht an und für sich selbst bereits Subjekte, sondern – so Foucault in einer seiner weichenstellenden Formulierungen – werden »zu Subjekten gemacht«.4 Das Subjekt ist eine – überaus spezifische – Erfindung der Neuzeit und wohl deren dominanteste Selbstauslegungsfigur, die sich sowohl historisch als auch mit Blick auf gegenwärtige Selbstverständigungen abgrenzen lässt und abgegrenzt werden muss, können doch – bloß exemplarisch – weder antike Figuren der ›Selbstsorge‹ noch die der christlichen ›imitatio‹ und ihrer Pointierung der Selbstüberwindung bzw. -entsagung mit eben dieser modernen Figur der ›Selbstverwirklichung‹ umstandslos parallelisiert werden.5 Vielmehr erlaubt erst deren historische Kontrastierung eine stärkere Konturierung der jeweiligen Konzepte und deren Situierung als variierende Formen menschlicher Selbstauslegung.6 Vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtige Konjunktur des Konzepts der ›Subjektivierung‹ vielleicht weniger verwunderlich,7 wird doch in ihm sowohl 3 | Vgl. exemplarisch für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs Meyer-Drawe, Käte: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990 wie auch Ricken, Norbert: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg 1999. 4 | Foucault, Michel: »Das Subjekt und die Macht« [1982], in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, S. 243-261, hier S. 243. 5 | Vgl. dazu Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France 1981/1982, Frankfurt a.M. 2004 wie auch die Überblicke in Meyer-Drawe, Käte: »Subjektivität. Individuelle und kollektive Formen kultureller Selbstverhältnisse und Selbstdeutungen«, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 304315 und Meyer-Drawe, Käte: »Art. Individuum«, in: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004, S. 455-481. 6 | Mit dieser Doppelung lässt sich das – tatsächlich wohl nicht vermeidbare – hermeneutische Dilemma der Subjektivationsforschung beschreiben, denn erst der neuzeitlichmoderne Subjektbegriff setzt dazu instand, andere (und frühere) Formen menschlicher Selbstauslegung als (unterschiedlich dimensionierte) Selbstverhältnisse und Selbst-Bildungen in den Blick zu nehmen, so dass historische Genese und logische Geltung sowohl auseinanderfallen als auch sich konstitutionstheoretisch wieder verschränken. 7 | Vgl. jüngst Keller, Reiner/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012. Vgl. auch die Einleitung in diesem Band.
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nach der sozialen und kulturellen (und insofern auch historischen) Genese von Subjektivität als auch nach den damit verbundenen Praktiken gefragt, so dass das ›Subjekt‹ weder bloß vorausgesetzt noch als übergreifende Konstitutionsmarkierung des Menschlichen verstanden wird. Zugleich erweist sich ›Subjektivierung‹ selbst als Kreuzungspunkt und Bündelung unterschiedlicher theoretischer und auch empirischer Diskurse – mit dem Effekt, dass auch immer deutlicher wird, wie theoretisch, methodisch und empirisch anspruchsvoll und komplex die Thematik der ›Subjektivierung‹ ist und auf wie wenig fertige und gemeinsam geteilte Befunde sich eine solche Arbeit bereits beziehen kann. Worum es in den folgenden Überlegungen geht, lässt sich mit drei Fragen vorab kurz andeuten: Zum einen möchte ich die Frage, was eigentlich die Frage ist, worauf eine (oder mehrere) Theorie(n) der Subjektivierung zu antworten versuchen, problematisieren. Ich werde daher zunächst einige ausgewählte Kontexte markieren, aus denen heraus das gegenwärtige Interesse an ›Subjektivierung‹ verständlicher wird und an die das Konzept anschließt (I.). Zum anderen werde ich mich dann mit der Frage beschäftigen, was denn mit ›Subjektivierung‹ gemeint sein könnte (II.) – um mich schließlich mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Beitrag anerkennungstheoretische Überlegungen für eine Theorie und auch Empirie der Subjektivierung leisten können (III.). Das setzt eine kurze Rekonstruktion des Anerkennungsdenkens voraus (III.1) und führt zu einer spezifischen Lesart von Anerkennung als Adressierung, die hier als ein empirisch anschlussfähiger Zugang zu Kommunikations- und Subjektivationsprozessen rekonstruiert werden soll (III.2). Ein doppelt angelegtes Schlusswort zieht einige subjekt(ivations)theoretische Folgerungen (IV.). Vorab sei aber eine begriffliche Anmerkung eingeschoben: Ich werde – entgegen dem sich abzeichnenden Gebrauch im sozialwissenschaftlichen Diskurs – im Folgenden den Begriff der Subjektivation dem der Subjektivierung vorziehen; weniger, weil dieser in sich selbst bereits präziser oder angemessener wäre, sondern mehr, weil mit ›Subjektivierung‹ in anderen Diskursen auch etwas anderes bezeichnet wird. So meint z.B. in den arbeitswissenschaftlichen und auch ökonomischen Diskursen ›Subjektivierung‹ die Problematisierung von Arbeitsverhältnissen und -bedingungen entlang der Frage, wie sich Arbeit an beschäftigte und tätige Subjekte besser anpassen lässt bzw. wie sich das Subjekt mit seinen für kennzeichnend gehaltenen Strukturmomenten wie Selbsttätigkeit, Verantwortlichkeit und Eigensinn besser in (regulierte) Arbeit integrieren und insofern steuern lässt.8 Während in ›Subjektivierung‹ daher das Subjekt als gegeben und vorausgesetzt betrachtet wird, so dass Bedingungen und Praktiken auf es abgestellt werden können (und müssen), wird mit ›Subjektivation‹ hingegen – unter anderem auch im Anschluss an die Arbeiten von Michel Foucault 8 | Vgl. Moldaschl, Manfred: Subjektivierung von Arbeit, 2., bearb. und erw. Aufl., München u.a. 2003.
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und Judith Butler9 – die diametral entgegengesetzte Frage danach begrifflich gefasst, wie denn jeweilige Individuen – sicherlich auch durch und in Arbeit – zu gesellschaftlichen Subjekten gemacht werden und wie sie sich selbst dazu machen. Mit Subjektivation ist daher jener paradoxe Prozess gemeint, in dem man – als ›Individuum‹10 – zu etwas gemacht wird, zu dem man – qua definitionem als ›Subjekt‹ – gerade nicht gemacht werden kann. Der damit zu Tage tretende Doppelsinn von ›subiectum‹, nämlich sowohl das Zugrundeliegende als auch das Unterworfene zu bezeichnen,11 soll darin auch begrifflich festgehalten werden, weil er – meines Erachtens – sowohl in ›Subjektwerdung‹ als auch in ›Subjektivierung‹ entweder gar nicht enthalten oder wenigstens nur schwerlich mitgehört wird.
I. K ONTE X TE DES SUBJEK TIVATIONSTHEORE TISCHEN D ENKENS Bereits die Frage, worauf Subjektivation als Konzept, Theorieofferte wie empirisch ausgerichtetes Forschungskonzept zu antworten versucht, stellt vor einige Schwierigkeiten und lässt sich – auch wenn das nicht hinreichend sein kann – kaum ohne Verweis auf (allerdings nur ausgewählte) Diskurse beantworten, 9 | Die eigentümliche Begriffsfassung verdankt sich dabei der deutschen Übersetzung des von Judith Butler neben dem Begriff der ›subjection‹ auch gebrauchten Begriffs ›subjectivation‹ (vgl. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 187, Anm. 1 sowie S. 81-82), mit dem diese den französischen Begriff ›assujettissement‹, den Foucault in seiner frühen Studie zur Disziplinarmacht (Foucault, Michel: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975) zur Kennzeichnung eines Produktions- und Unterwerfungsprozesses geprägt hat, übersetzt: »L’homme dont on nous parle et qu’on invite à libérer est déjà en lui-même l’effet d’un assujettissement bien plus profond que lui. Une »àme« l’habite et le porte à l’existence, qui est elle-même une pièce dans la maîtrise que le pouvoir exerce sur le corps. L’âme, effet et instrument d’une anatomie politique; l’âme, prison du corps« (ebd., S. 38). In der englischsprachigen Originalfassung seines für die Thematik zentralen Aufsatzes »The Subject and Power« von 1982 verwendet Foucault ›subjection‹ als Analogon zu ›assujettissment‹ (vgl. Foucault, Michel: »The Subject and Power« [1982], in: ders., Essential Works of Foucault 1954-1984. Volume 3: Power, ed. by James Faubion a. Paul Rabinow, New York 2000, S. 326-348, hier S. 331). 10 | Vgl. J. Butler: Psyche der Macht. – Die komplizierte Frage, wie man eigentlich das bezeichnet, was der Subjektformation mindestens logisch gesehen vorausgeht, lasse ich hier außen vor; in jedem Fall sind aber ›Individuum‹ wie aber auch ›Körper‹ und ›Mensch‹ durchaus nicht unproblematisch, weil sie selbst bereits historisch und kulturell kontingente Interpretamente menschlicher Selbstdeutungen enthalten. 11 | Vgl. K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie.
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aus denen heraus das subjektivationstheoretische Denken sich entwickelt hat. Im Folgenden seien daher zunächst vier sozialtheoretisch bzw. philosophisch übergreifende Diskurse benannt, die – insbesondere in ihrer Kombination – die Konturen des gegenwärtigen subjektivationstheoretischen Denkens prägen. (a) Als überaus zentral für die Genese subjektivationstheoretischer Studien kann zunächst der auch und vor allem philosophisch ausgetragene ›postmoderne Streit ums Subjekt‹12 gelten, der v.a. in den 1980er und 1990er Jahren für erhebliche Unruhe gesorgt hat und inzwischen weitgehend verstummt ist: weniger, weil der Streit zwischen den Befürwortern des Subjektdenkens – wie z.B. Manfred Frank und Dieter Henrich, die Subjektivität als ursprüngliche und nicht weiter hintergehbare Selbstvertrautheit, d.h. als unmittelbares Selbstbewusstsein, skizzieren und von dort ihren Welt- wie auch Theorieaufbau betreiben13 – und seinen vielfachen poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Bestreitern – wie u.a. auch Michel Foucault, der das Subjekt mit dem provozierenden Bild des ›Verschwindens eines Gesichts im Sand am Meeresufer‹ als eine spezifische, bloß historische Formation behauptete14 und damit zugleich in einen machttheoretischen Kontext stellte, mehr noch: es selbst als einen Effekt und eine Strategie der Macht analysierte15 – bereits zu Ende ausgetragen und gelöst wäre; sondern vielmehr, weil schon zu Beginn der 1990er Jahre andere gesellschaftstheoretische Fragen – wie z.B. die nach Globalisierung und den neuen gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen des Neoliberalismus einerseits sowie nach Hirn- und Genforschung andererseits – die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und die ›Frage nach dem Menschen‹ (Derrida) in neuer Weise dringlich gemacht haben. Das aber hat auch dazu beigetragen, dass Konzepte einer differenten und relationalen Subjektivität, die sich diesseits der Kampflinien von Autonomie und Heteronomie zu entwickeln versucht haben,16 zunächst längst nicht die gleiche Resonanz erreichten, so dass das Erbe dieses Dis12 | Vgl. Weimann, Robert/Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.): Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt a.M. 1991 und den Überblick bei Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 3. unveränd. Aufl., Tübingen u.a. 2010. 13 | Vgl. exemplarisch Frank, Manfred: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung, Frankfurt a.M. 1986 wie auch Henrich, Dieter: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a.M. 2007. 14 | Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971 [1966], hier S. 462. 15 | Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Ffm. 1976, S. 42 sowie insbes. S. 394 und 397; vgl. auch Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 23ff., S. 75-82. 16 | Vgl. als Überblick N. Ricken: Subjektivität und Kontingenz.
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kurses auch wohl noch aus manchen uneingelösten Hypotheken besteht. Auch wenn bisweilen der längst verklungene Streit in veränderter Gestalt wieder neu aufzubrechen scheint17 – das Konzept der Subjektivation scheint eine Perspektive zu bieten, die unterschiedlichen Facetten und jeweiligen stichhaltigen Argumente in einer ebenso historisch wie theoretisch überzeugenden Weise zu verbinden und so den damaligen Einseitigkeiten auch zu entkommen, weil das Subjekt in einer subjektivationstheoretischen Perspektive weder als universale Voraussetzung noch bloß als determiniertes Produkt erscheint.18 (b) Als ein weiterer Kontext lassen sich – darin durchaus ähnlich gelagerte – gesellschaftstheoretische Entwicklungen anführen, die sich aus dem soziologischen Streit zwischen Handlungs- und Struktur- bzw. auch Systemtheorie ergeben haben; mit Verweis auf Arbeiten von Pierre Bourdieu, Norbert Elias und anderen ließe sich zeigen, dass subjektivistische und objektivistische Theorieansätze – wie dies von Bourdieu eindrücklich vorgeführt worden ist – an Plausibilität verlieren und Platz machen müssen für eher relational und figurativ gebaute Theoriemodelle, die diese Dichotomie zu überwinden suchen und insofern sowohl auf Fundierungsabsichten als auch auf lineare UrsacheWirkungs-Zusammenhänge verzichten. Auch hier knüpft das Konzept der Subjektivation an diese theoretisch-methodologisch orientierten Vermittlungen an und verbindet sich darüber hinaus zunehmend mit praxistheoretischen Überlegungen, wie sie im Anschluss an Wittgenstein insbesondere von Theodore R. Schatzki geprägt worden sind.19 (c) Ein dritter relevanter Diskurs ist die theoretisch wie empirisch orientierte Auseinandersetzung mit den Arbeiten Michel Foucaults, in der sich insbesondere die Rezeption der Foucault’schen ›Analytik der Macht‹ von der bloßen ›Kritik der Disziplinarmacht‹ über die Diskurstheorie und -analyse zunehmend hin
17 | Vgl. zum Beispiel Beer, Raphael/Sievi, Ylva: »Subjekt oder Subjektivation? Zur Kritik der Subjekttheorie von Andreas Reckwitz«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 35 (2010), S. 3-19. 18 | Vgl. dazu Reckwitz, Andreas: Subjekt. Bielefeld 2008. 19 | Vgl. zur Auseinandersetzung um objektivistische vs. subjektivistische Perspektiven exemplarisch Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a.M. 1987 sowie auch Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. Überblickend dazu auch Emirbayer, Mustafa: »Manifesto for a Relational Sociology«, in: The American Journal of Sociology 103 (1997), S. 281-317. Zu den verschiedenen Ansätzen praxistheoretischen bzw. praktikentheoretischen Denkens vgl. Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996 wie auch Schatzki, Theodore R./Knorr-Cetina, Karin/ von Savigny, Eike (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001.
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zur Gouvernementalitätsforschung20 verschoben hat. So waren es insbesondere die Studien von Nicolas Rose und Ulrich Bröckling, die im Kontext der ›Gouvernementalität‹ – also jener Machtfiguration neben der des Souveräns, der Disziplinarmacht und Bio-Macht, die als säkularisierte Pastoralmacht in besonderer Weise die Selbstführung der Individuen in die Führungsstrategien einzubauen versucht hat – entwickelt wurden und zugleich diesen dadurch auch in seiner Plausibilität beförderten.21 (d) Eng damit verbunden ist schließlich ein weiterer, eher disziplinübergreifender Diskurs, in dem die Frage der Begründung und Theoretisierung von Kritik problematisiert wird und werden muss – unter anderem auch, weil die traditionellen Grundlagen derselben, insbesondere Selbstbestimmung und Emanzipation, sich gerade mit Blick auf Foucaults machttheoretische Arbeiten als theoretisch problematisch erwiesen haben.22 Doch was sich subjektivationstheoretisch durchaus dazu eignet, Kritik zu identifizieren, indem Verschiebungen, Überschreitungen oder Widerstände beobachtbar werden und als struktureller Horizont mitgedacht werden müssen, steht doch zugleich auch in der Gefahr, in einen eher traditionellen Kritikdiskurs zurückzufallen, in dem ›Subjektivierung‹ als ›gesellschaftliche Überformung‹ eines an sich freien Subjekts justiert wird23 – was dann auch die Rückkehr in irgendwie nicht mehr passende 20 | Vgl. dazu Ricken, Norbert: »Von der Kritik der Disziplinarmacht zum Problem der Subjektivation. Anmerkungen zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption Michel Foucaults«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.), Michel Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, S. 157-176 wie auch Angermüller, Johannes/van Dyk, Silke: Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M./ New York 2010. 21 | Vgl. Rose, Nikolas: Inventing Our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1996 und Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. Als Überblick des deutschen Diskurses vgl. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000 sowie Bührmann, Andrea D.: »Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und seine gegenwärtige Hegemonialität. Einige grundlegende Anmerkungen zur Analyse des (Trans-) Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen«, in: Forum Qualitative Sozialforschung 6 (2005), Abs. 16. 22 | Vgl. dazu Foucault, Michel: Was ist Kritik? [Vortrag und Diskussion von 1978], Berlin 1992 und Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), S. 249-265 sowie als Überblick Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo: Was ist Kritik? Philosophische Positionen, Frankfurt a.M. 2009. 23 | Auch wenn diese Figur einer ›Überformung‹ nicht ausdrücklich thematisch wird, so legt sie sich doch – als eine in der jeweiligen Kritik eingenommene Perspektive –
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Frontstellungen der klassischen Subjekttheorie, allen voran die dichotomische Kontrastierung von Selbst- und Fremdbestimmung, impliziert und diese auch ihrerseits evoziert. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ließen sich zwei weitere Diskurse benennen, aus denen heraus inzwischen auf subjektivationstheoretische Arbeiten zugegriffen wird bzw. diese selbst be- und vorangetrieben werden. (e) Das ist zum einen der einst so agile sozialisationstheoretische Diskurs der 1960er, 1970er und auch noch 1980er Jahre, der doch – als Theoriediskurs jedenfalls, nicht unbedingt als empirischer Forschungszweig – weitgehend erlahmt ist. Dieser (jedenfalls zeitweilige) Stillstand hat – in meinen Augen – auch einen Grund in ungeklärten kategorialen Grundlagen, stehen sich doch Analysen zu Struktur- und Sozialverhältnissen und Studien zur Selbstsozialisation weitgehend unvermittelt gegenüber, weil Verhältnisse und Selbstverhältnisse als – wie auch immer geartete – Analogie bloß behauptet werden können.24 Dieter Geulens 2004 vorgetragene und durchaus schonungslose Analyse der vielfach »ungelösten Probleme im sozialisationstheoretischen Diskurs« jedenfalls legt diese Deutung nahe und markiert zugleich den systematischen Ort der Schwierigkeiten: »Das zentrale Problem«, so Geulen, ist dabei – »fast schon nahe, wenn die spezifischen Inhalte und ›programmatischen Anrufungen‹ von neueren Formen der Gouvernementalität analysiert werden und – sozusagen in ideologiekritischer Haltung – als »›Neusprech‹ aus den Labors […] des Neoliberalismus« (Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Zertifizierung, Wien 2006, S. 11) entlarvt werden (sollen); vgl. dazu z.B. die Stichworte ›Employability‹, ›Entrepreneurship‹, ›Flexibilität‹ und ›Mobilität‹ wie auch ›Humankapital‹ und ›Lebenslanges Lernen‹ im Pädagogischen Glossar der Gegenwart (vgl. A. Dzierzbicka/A. Schirlbauer: Pädagogisches Glossar der Gegenwart). Auf die damit verbundene Problematik der (immer nur bedingt ausweisbaren) Kriterien von Kritik und die Differenz von Ideologiekritik einerseits und einer Analyse der »Programme des Regierens« (Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2009, S. 12) andererseits weisen die Herausgeber des (weit stärker an Foucault anschließenden) Glossar der Gegenwart ausdrücklich hin (vgl. U. Bröckling u.a.: Glossar der Gegenwart, S. 11-12). 24 | Vgl. dazu Zinnecker, Jürgen: »Selbstsozialisation. Ein Essay über ein aktuelles Konzept«, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 20 (2000), S. 272290 sowie den sich daran anschließenden Streit in Heft 2 der Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, insbesondere Bauer, Ulrich: »Selbst- und/oder Fremdsozialisation: Zur Theoriedebatte in der Sozialisationsforschung. Eine Entgegnung auf Jürgen Zinnecker«, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 25 (2002), S. 118-142 und Geulen, Dieter: »Subjekt, Sozialisation, ›Selbstsozialisation‹. Einige kritische und einige versöhnliche Bemerkungen«, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 25 (2002), S. 186-196.
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synonym mit dem Sozialisationsbegriff selbst« – »sicherlich die Schnittstelle zwischen dem handelnden Subjekt und seiner Umwelt sowie die daraus resultierenden subjektiven Prozesse und Strukturen«.25 Was zunächst angesichts der Fragestellung der Sozialisationsforschung durchaus verwundern lässt, ist letztlich aber nichts anderes als das – auch in anderen Diskursen nicht gelöste – Problem der Subjekttheorie, dass zwischen Bedingung und Folge, zwischen Ursprung und Effekt kaum etwas Drittes denkbar erscheint. Inwiefern mit Subjektivation darauf bereits eine andere Antwort gegeben werden kann, bleibt abzuwarten; zu erinnern ist aber, dass Judith Butler im Konzept der Subjektivation gerade mit eingewöhnten Formen sozialisationstheoretischen Denkens brechen wollte – insbesondere, weil im Denken der ›Verinnerlichung von Normen‹ das Subjekt bereits vorausgesetzt und nicht in seiner – auch paradoxen – Genese erklärt werde.26 (f) Als ein letzter erziehungswissenschaftlicher Kontext lässt sich schließlich der bildungstheoretische Diskurs benennen, in dem längst anstelle des eher traditionellen Zuschnitts des Bildungsdenkens als einer Selbsthervorbringung durch Weltauseinandersetzung, d.h. einer – seit Humboldt verfolgten – relationalen Konstruktion von Welt und Selbst, zunehmend die Bedeutung von Sozialität – d.h. sich von anderen zu erlernen und insofern auf andere angewiesen zu sein – sowie der Charakter der Transformation im Bildungsdenken betont werden.27 Transformation wird dabei als Transformation einer für das Subjekt grundlegenden, es konstituierenden bzw. generierenden Struktur – in der, wie auch immer genau, Strukturen und Positionen eines Feldes (um- bzw. ab-)gebildet sind oder die sich in einem spezifischen kollektiven Orientierungsrahmen bewegt – verstanden, als Habitus oder als »habits« etwa.28 Transforma25 | Alle Zitate: Geulen, Dieter: »Ungelöste Probleme im sozialisationstheoretischen Diskurs«, in: ders./Hermann Veith (Hg.), Sozialisationstheorie interdisziplinär. Aktuelle Perspektiven, Stuttgart 2004, S. 3-20, hier S. 19 sowie S. 6f. u.ö. 26 | Vgl. Butler, Judith: »Ein Interview«, in: Hannelore Bublitz (Hg.), Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2002, S. 123-133, hier S. 126f. 27 | Vgl. zur sozialen bzw. anerkennungstheoretischen Dimensionierung von Bildung Stojanov, Krassimir: Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006 sowie zur Transformationsstruktur von Bildung Koller, Hans-Christoph: »Probleme einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse«, in: ders./Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung – Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007, S. 69-82 und jüngst auch Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012. 28 | Vgl. etwa von Rosenberg, Florian: Bildung und Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen, Bielefeld 2011.
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tionen dieser Struktur(en) auf Seiten des Subjekts entstehen in spezifischen Reaktionen auf »unklare Situationen« oder aufgrund entstehender Differenzen zwischen der Logik der Welt und der des Habitus, also aufgrund einer sich ändernden Relation von Habitus und Welt, so dass schließlich mit Bildung nicht nur ein grundsätzliches Konstitutionsgeschehen, sondern auch ein Formationsund Transformationsgeschehen von Subjektivität in sozialen Strukturen in den Blick kommt. Bündelt man diese in den unterschiedlichen Diskursen enthaltenen Problemstellungen, dann zeigt sich, dass subjektivationstheoretische Überlegungen von der kategorialen Problematik des Subjektivitätsdenkens profitieren, weil sie sich zunächst gegen zweierlei Missverständnisse absetzen können: Mit Subjektivation wird weder ein Entfaltungsgeschehen – Menschen sind von Anfang an Subjekte und entfalten diese konstitutive Verfasstheit nun sukzessive – noch ein Produktionsgeschehen – Menschen werden als Subjekte hergestellt und determiniert – bezeichnet; vielmehr wird betont, dass die menschliche Epigenesis sowohl als ein relationaler Prozess begriffen werden muss, in dem Selbst- und Anderenbezug als ineinander mehrfach verschränkt zu denken sind, als auch als ein figuratives Geschehen anzusehen ist, das sich nicht zu einer dieser beiden Seiten auflösen und in linear anordbare Faktoren, in Ursachen und Wirkungen zerlegen lässt. Mit dieser Weichenstellung aber ist noch lange nicht gesagt, wie Prozesse der Subjektivation sich denn nun genau vollziehen; die derzeitige – wenn auch erheblich verkürzte – Auskunft, dass Menschen qua Praktiken zu Subjekten gemacht werden wie sich in diesen selbst dazu machen, beschreibt einigermaßen treffend die bereits längere Geschichte der Dichotomie von Selbst- und Fremdbestimmung und schreibt sie in Teilen auch fort. Mit diesen sechs eher disziplinären Kontexten ist allenfalls angedeutet, dass Subjektivationstheorien zunächst und vor allem ein Theorie- und auch Empirieangebot sind, das ebenso verlockend wie durchaus auch mit Hypotheken belastet ist; es ist nur offensichtlich, dass diese Diskursgemengelage durchaus problematische Folgen für das Verständnis von Subjektivation hat und haben muss, weil doch in der Tat sehr unterschiedliche Konzepte und Perspektiven miteinander verknüpft werden, ohne dass deren jeweilige Implikationen und Passungen bereits überschaubar wären. Zugleich wird aber auch deutlich, dass die Konjunktur von ›Subjektivierung‹ allein aus disziplinären bzw. theoretischen Diskursgründen nicht erklärbar ist, sondern auch einen Grund in der – wenn man so vereinfacht sagen darf – ›Sache selbst‹ haben muss. Problematisiert man nun diese Seite der Fragestellung, worauf Subjektivationstheorien zu antworten versuchen, dann öffnet sich – in meiner Perspektive – ein weites Feld gesellschaftlichen Wandels und dessen figurierende Rückwirkungen auf die Individuen: Ohne nun die immer gleichen Schlagworte wie Globalisierung, Wissensgesellschaft oder Digitalisierung etc. anzuführen, so geht es
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doch in subjektivationstheoretischen Studien auch darum, danach zu fragen, welche Folgen die sich spätestens seit den 1990er Jahren abzeichnenden tiefgreifenden ökonomischen, politischen und kulturellen Wandlungsprozesse für unser derzeitiges menschliches Selbstverständnis, d.h. für uns als spezifisch spät- oder postmoderne Subjekte haben. Vielleicht beschäftigen wir uns gerade in dieser Zeit besonders intensiv mit Subjektivation, d.h. mit Formen, Praktiken und Selbstverständnissen sowie Effekten und Funktionen, weil das ›Subjekt‹, wie wir es neuzeitlich-modern kennen, gar nicht mehr bzw. spätmodern zunehmend weniger die Form ist, die gegenwärtige gesellschaftliche Menschenformationspraktiken bestimmt; weil also vielleicht tatsächlich etwas verschwindet, was modern überaus zentral, ebenso kennzeichnend wie identitätsverbürgend war – und das nicht nur aus theoretisch-konzeptionellen Gründen heraus, wie das in manchen der genannten Diskurse bisweilen erscheint, sondern aus Gründen eines gesellschaftlichen Wandels, der unser überkommenes und längst eingewöhntes Selbstverständnis radikal in Frage stellt. Empirisch unbelegt und verkürzt gesagt könnte es dabei darum gehen, dass die neuzeitlich-modern etablierte Figur des Subjekts mit ihren sie auszeichnenden Bestimmungsmomenten des Selbstbewusstseins, der Selbstbestimmung sowie des Selbstzwecks und der daraus resultierenden Würde, wie sie in den Orientierungen an Autonomie und Identität auch praktisch wirksam geworden ist, zunehmend durch andere Formationsmuster und Subjektivationsweisen ersetzt bzw. in andere Formen überführt wird, die sich vielleicht angemessener unter dem Oberbegriff der Funktionalität und Konnektivität fassen lassen; in diesen ginge es dann weniger um eine auf Autonomie und Unabhängigkeit zielende Orientierung an Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, die sich an Normativität und Normalität abarbeitet und auf – auch gegen andere gerichteten – ›Eigensinn‹ (Negt/Kluge) setzt, sondern um eine Orientierung, in der Verbindung bzw. Verbundenheit – sei es als Passung, Verknüpfung oder Anschlussfähigkeit – dominieren.29 Mit Subjektivation jedenfalls kommen nicht nur Praktiken, zu wem wir uns machen und in Wandlungsprozessen gemacht werden, sondern auch damit verbundene jeweilige Selbstverständnisse, als wer wir uns vor welchem fungierenden Horizont selbst verstehen, in den Blick. Vielleicht ist es gerade dieser Zusammenhang, der die Frage nach Subjektivation so interessant macht.
29 | Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006 wie auch Bauman, Zygmunt: Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt a.M. 2007.
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II. G RUNDZÜGE EINER THEORIE DER S UBJEK TIVATION Was unter Subjektivierung bzw. Subjektivation nun jeweilig verstanden wird, ist allerdings weder einheitlich noch inzwischen gar zu einer Theorie der Subjektivation bereits ausgearbeitet worden; vielmehr gilt auch hier, dass sich – auch aufgrund der vielfältigen Diskursherkünfte des Konzepts – z.T. sehr unterschiedliche Verständnisse überlagern und durchkreuzen. Gemeinsamer Ausgangspunkt aber nahezu aller mit ›Subjektivierung‹ bzw. ›Subjektivation‹ operierenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Subjektanalysen ist jene geradezu programmatische Selbstkennzeichnung, in der Michel Foucault seine Arbeiten als eine Art »history of the different modes by which, in our culture, human beings are made subjects«, bezeichnet.30 Mit Subjektivation wird daher – über fast alle unterschiedlichen Positionen hinweg – ein spezifischer Analysefokus markiert, der die praktische Konstitution von Menschen (andere sagen: von ›Individuen‹ oder ›Körpern‹) als Subjekten in unterschiedlichen Zeiten und sozialen Feldern untersucht. Die subjekttheoretisch ausgesprochen befremdliche Formulierung ›zum Subjekt gemacht zu werden‹ zielt dabei sowohl auf die paradoxe Verschränkung von Selbst- und Fremdkonstitution als auch auf die Machtförmigkeit des Subjektkonzepts selbst, das für Foucault weder eine substantiale Verfasstheit des Menschen zum Ausdruck bringt noch bloß ein aufklärerisches Sigel der Emanzipation und Befreiung darstellt; vielmehr stellt es eine spezifisch moderne Form der Unterwerfung dar, die mit dem Gewinn von Souveränität und – so nun Judith Butler die Perspektive Foucaults fortführend – Handlungsfähigkeit einhergeht.31 Foucault bestimmt diesen Machtcharakter doppelt: Das Subjekt – so Michel Foucault in seinem späten Text »The Subject and Power« (1982) – ist »a form of power that […] categorizes the individual, marks him by his own individuality, attaches him to his own identity, imposes a law of truth on him that he must recognize and others have to recognize in him. It is a form of power that makes individuals subjects. [Insofar] There are two meanings of the word ›subject‹: subject to someone else by control and dependence, and tied to his own identity by a conscience or selfknowledge. Both meanings suggest a form of power that subjugates and makes subject to.« 32 30 | M. Foucault: The Subject and Power, S. 326-348, hier S. 326. 31 | Vgl. dazu Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens, München 1974, hier S. 114 wie auch Butler, Judith: »Subjekt«, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin/New York 2008, 2. Bd., S. 1301-1307, hier S. 1302. 32 | M. Foucault: The Subject and Power, S. 331. – Bereits bei Foucault aber ist die Begrifflichkeit nicht eindeutig und schwankt zwischen dreierlei Varianten, wird doch – auch in der französischen Übersetzung des Textes – sowohl von ›subjectivation‹ (vgl.
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Aus den bisherigen Erkundungen lässt sich viererlei zunächst festhalten: Erstens ist mit ›Subjektivation‹ nicht nur ein Entwicklungsgeschehen von Individuen, sondern auch ein sozialer, insofern machtförmiger Formations- und Transformationsprozess markiert, innerhalb dessen weder Ursachen und Wirkungen noch (verantwortliche) Akteure eindeutig bestimmt werden können, weil sowohl die anderen als auch das ›Individuum‹ selbst an dieser Konstitution als Subjekt bzw. zum Subjekt beteiligt sind; ein solches figuratives Geschehen nun mit ›Subjektwerdung‹ zu bezeichnen, wäre m.E. irreführend, wird doch darin nahegelegt, dass man werden müsse (und könne), was man eigentlich schon sei. Zweitens ist mit Subjektivation auch gemeint, dass dieser Prozess nicht als Realisierung einer vorgängigen Verfasstheit, sondern als wirkliche Hervorbringung zu verstehen ist – was dann auch dazu führt, Subjektivation praktikentheoretisch zu fassen und als ein körperliches Geschehen zu konzipieren.33 Drittens schließt dies zugleich aber die Berücksichtigung jeweiliger kultureller symbolischer Ordnungen ein, die als Horizonte jeweiliger Praktiken fungieren (aber diese nicht determinieren) und insofern Arten und Weisen ›zu sein‹ strukturieren, d.h. in ihren jeweiligen Gewichtungen justieren. Damit ist zugleich auch die Frage aufgeworfen, ob sich darin ein (quasi-)strukturales Netz ausmachen ließe, das den verschiedenen Subjektivationsformen unterlegt werden könne, so dass diese dann als je spezifische Figurationen von notwendig zu gewichtenden Dimensionen – z.B. von Selbst-, Anderen- und Weltverhältnissen – und Modi – z.B. von Gegebenheit, Aufgegebenheit und Entzogenheit34 – verstanden werden könnten, ohne dass damit dieses Netz zugleich selbst Foucault, Michel: Dits et Écrits 1954-1988, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 4: 1980-1988, Paris 1994, S. 223) und ›assujettissement‹ (vgl. ebd., S. 227, was in der englischen Textfassung als ›subjection‹ auftaucht [vgl. M. Foucault: The Subject and Power, S. 331] und in der deutschen Übersetzung mit ›Subjektivierung‹ übersetzt wird; vgl. M. Foucault: Das Subjekt und die Macht, S. 247) als auch von ›individualisation‹ (M. Foucault: Dits et Écrits, S. 232) gesprochen. Foucaults Bemühen kreist dabei darum, die Spezifik der modernen Subjektmatrix – nämlich ein spezifisches Selbstverhältnis zu etablieren, das durch eine gleichzeitige Individualisierung und Verallgemeinerung bzw. Totalisierung (vgl. M. Foucault: The Subject and Power, S. 332; ebf. S. 336) gekennzeichnet ist – zu markieren. Zum daran anschließenden Begriffsgebrauch bei Judith Butler vgl. auch Fn. 9. 33 | Vgl. auch Alkemeyer, Thomas: »Verkörperte Gemeinschaftlichkeit. Bewegungen als Medien und Existenzweisen des Sozialen«, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnungen jenseits von Normen und Institutionen, Bielefeld 2010, S. 331-348. 34 | Vgl. ausführlicher Ricken, Norbert: »Menschen: Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension«, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grund-
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als ›ursprüngliche Konstitution‹ des Menschlichen ausgegeben werden kann. Insgesamt ergibt dies schließlich viertens die Figur einer ›anthropologischen Differenz‹ (Kamper), in der Menschen weder als zugrundeliegende Substanz noch als erfinderisches Produkt ihrer selbst, sondern als figurative Gestalt und relationale Gestaltung auftauchen – kurz: als Differenz, sich auf sich im Kontext differenter symbolisch-kultureller Ordnungen zu beziehen. Doch auch wenn die Fokussierung von Subjektivationsprozessen auf praxistheoretische Rahmungen verweist, so ist doch deren – und sei es beispielhafte – Analyse noch weitgehend ein Forschungsdesiderat innerhalb der Praxistheorie; neben wenigen empirischen Einzelstudien und etlichen metatheoretischen Arbeiten zu zentralen Bezugstheorien liegt eine Theorie der Subjektivation derzeit allenfalls in Ansätzen vor.35 In dieser Perspektive lassen sich Praktiken zunächst – im Anschluss an die verschiedenen Positionen der Praxistheorie und über deren jeweiligen Unterschiedlichkeiten hinweg – als »sets of doings and sayings«36, d.h. als wirklich körperlich ausgeführte, routinisierte Aktivitäten und Weisen, etwas zu tun, verstehen, in denen nicht nur ein praktisches Wissen (knowing how) enthalten ist, sondern auch jeweilige spezifische Intentionen und Zwecke wie auch Gefühle und Selbstverständnisse, in die man mit eintritt, wenn man dies oder jenes so tut, eingelagert sind. Auch wenn Praktiken – wie bei Schatzki ausdrücklich betont wird37 – ihrerseits vielfältig zusammengesetzt sind und sowohl symbolische Ordnungen, materielle Dinge sowie jeweilige Akteure umfassen, lassen sie sich nicht in ihre Einzelelemente zerlegen (und daraus wieder zusammensetzen); sie müssen vielmehr als grundlegende Einheiten des Sozialen – wie von Reckwitz mit dem vermutlich nur figurativ zu verstehenden Begriff der »›kleinste[n] Einheit‹ des Sozialen«38 markiert – verstanden werden.
lagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2004, S. 152-172 wie auch Kapitel IV in diesem Beitrag. 35 | Vgl. exemplarisch als Einzelstudie Bublitz, Hannelore: Im Beichtstuhl der Medien. Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis, Bielefeld 2010. Zur theoretischen Diskussion vgl. Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx, Bielefeld 2010 sowie R. Keller/W. Schneider/W. Viehöver: Diskurs – Macht – Subjekt. 36 | Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002, S. 73; für einen Überblick vgl. auch Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301 und A. Reckwitz: Subjekt. 37 | Vgl. ebd., S. 72-88. 38 | A. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 288.
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In den ebenso breit gefächerten wie auch subjektivationstheoretisch fokussierten Arbeiten von Andreas Reckwitz taucht nun Subjektivation bzw. Subjektivierung aber zumeist nur als ein eher analoges Korrelat von Praktiken auf. Dieses Verständnis resultiert zunächst aus dem gewählten kulturwissenschaftlichen Fokus der Arbeiten, nämlich eine Rekonstruktion und Analyse der dominanten Subjektkulturen und der in ihnen enthaltenen Subjektformen zu erarbeiten: So wie die soziale Wirklichkeit allererst durch sozial geregelte, symbolisch codierte und kulturell etablierte Praktiken – kurz: routinisierte Arten und Weisen, etwas zu tun – hergestellt und auf Dauer gestellt wird, wird auch die Form des Subjekts in Alltagspraktiken hervorgebracht, trainiert und stabilisiert.39 Subjektordnungen sind in Praktiken daher doppelt enthalten: Einerseits als diskursiv erzeugte und problematisierte Subjektrepräsentationen und andererseits als praktisch implizierte Subjektformen, die in und qua Praktiken erlernt werden. Indem Reckwitz – wie insbesondere in seiner Studie zum hybriden Subjekt40 – sich überwiegend auf die Analyse der Subjektkulturen und der darin praktizierten Subjektrepräsentationen konzentriert und beschränkt, bleibt das Subjektivationsgeschehen aber eher vage und wird bisweilen bloß als Realisierung einer Implikation gedeutet. Ausformuliert hieße dies: Weil Menschen bzw. Akteure Praktiken erlernen, indem sie diese selbst tun, mittun oder nachtun, entwickeln sie dadurch und darin eine jeweilige (auch und vor allem körperliche) Geschicklichkeit im Umgang mit den Dingen wie den anderen, ›internalisieren‹ oder ›inkorporieren‹ praktisches Wissen (als Wissen um das, wie man etwas tut (Know-how-Wissen) und wofür man etwas tut (Deutungswissen und Selbstverstehen)), differenzieren ihre Sinne (Visualität, Auditivität und Taktilität) und bilden auch entsprechende Affekt- und Motivstrukturen aus. Kurz: Sie werden in den Praktiken zu entsprechenden Subjekten gemacht, weil und indem sie Praktiken ausüben und dadurch die in diesen Praktiken enthaltenen bzw. implizierten spezifischen Subjektformen erlernen und praktisch ausfüllen. Genau diesen Prozess der praktischen doppelten Hervorbringung – von sozialer Ordnung einerseits und jeweiligen Subjekten andererseits – versteht Reckwitz als den Prozess der Subjektformierung, der Subjektkonstitution, der Subjektivierung; er hängt in besonderer Weise an den in den Praktiken implizierten und die Subjektformen präzisierenden Subjektpositionen,41 so dass ›Subjektivierung‹ aus der Verwicklung in Praktiken und den in ihnen enthaltenen, einzunehmenden bzw. abzuweisenden oder gar zu verschiebenden Positionen resultiert. Aber auch wenn mit Subjektpositionen bereits ein wichtiges Moment von Subjektivation benannt ist, so ist doch auch bedeutsam, dass Position und Iden39 | Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 16ff. 40 | Vgl. ebd. 41 | Vgl. A. Reckwitz: Subjekt, hier S. 141.
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tität, Positionierung (in einem Feld) und ›Subjektivierung‹ nicht zusammenfallen; darauf hat immer wieder Theodore R. Schatzki aufmerksam gemacht, indem er zunächst Subjektpositionen von Rollen (also sozial codierten Erwartungen, Verpflichtungen etc.) unterscheidet und dann auch gegenüber Identität abgrenzt: »Contemporary theorists who analyse identity as an amalgam of ›subject positions‹ run the risk of reducing identity to location in a network (i.e., position), instead of properly construing identity and position as codependent«.42 Bedeutsam scheint daher zu sein, Positionierung ihrerseits doppelt relational zu denken: einerseits – im Gegensatz zu einer bloßen Lokalisierung und Verortung – als eine In-Verhältnis-Setzung; und andererseits – aufgrund der bei Plessner formulierten Exzentrizität der menschlichen Positionalität – als ein (Selbst)Verhältnis zu dieser sozialen In-Verhältnis-Setzung.43 Zudem muss – auch wenn der praxistheoretisch zentralen These gefolgt wird, dass »das Soziale […] nicht in der ›Intersubjektivität‹ […], sondern in der Kollektivität von Verhaltensweisen«44 zu suchen ist – der intersubjektiven Struktur von Praktiken doch auch Rechnung getragen werden. Als Subjekte werden Menschen, so die hier von mir verfolgte These, nicht allein nur deshalb konstituiert, weil sie und indem sie an Praktiken teilhaben, sondern auch deshalb, weil sie in den – sich in (interaktiven) Praktiken vollziehenden – ›doings‹ und ›sayings‹ von anderen (als spezifische) anerkannt und adressiert werden. Subjektivation vollzieht sich daher (immer auch) als ein Anerkennungsgeschehen.
III. D ER B EITR AG DER A NERKENNUNGSTHEORIE ZU EINER THEORIE DER S UBJEK TIVATION Vor diesem Problem- wie Theoriehintergrund lässt sich verdeutlichen, dass und inwiefern anerkennungstheoretische Überlegungen einen möglichen Beitrag zu subjektivationstheoretischen Perspektiven leisten können. Denn es ist nicht nur ein ähnlicher Theoriezusammenhang, dem auch Anerkennungstheorien entstammen, wird doch Anerkennung über alle Theoriedifferenzen hinweg 42 | T.R. Schatzki: The Site of the social, S. 53. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 43 | Vgl. Häußling, Roger: »Zur Positionsvergabe im Unterricht. Interaktionen und Beziehungen in ersten Schulklassen und ihre Folgen«, in: Kristin Westphal/Nicole Hoffmann (Hg.), Orte des Lernens – Beiträge zu einer Pädagogik des Raumes, Weinheim/ München 2007, S. 207-224; zur ›exzentrischen Positionalität‹ vgl. Plessner, Helmuth: »Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M. 1981, IV. Band, S. 360ff. 44 | A. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 289.
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durchgängig als kategoriale Überwindung überkommener Dichotomien – wie insbesondere Selbst- und Fremdbestimmung – justiert und konzipiert;45 vielmehr ist es auch die mit Anerkennung verbundene Konstitutionsperspektive des Selbst bzw. des Subjekts, die Anerkennung für Subjektivationsfragen interessant und bedeutsam macht, weil die Genese des Selbst nun vom anderen her zu denken versucht wird. Zugleich aber erschwert die derzeitige Konjunktur des Konzepts der Anerkennung dessen begrifflich genauere Fassung, taucht doch Anerkennung – wie sich im weiteren Durchgang zeigen wird – in ausgesprochen unterschiedlichen Perspektiven und Theoriezusammenhängen auf. Darüber hinaus scheint mit Anerkennung schließlich ein Moment unseres derzeitigen Selbstverständnisses getroffen zu sein, in dem sich Identität und Selbständigkeit auf der einen Seite mit Sozialität und Bedingtheit auf der anderen Seite miteinander verschränken. Dass das nicht immer so war, zeigt sich bereits begrifflich in der historischen Kontingenz des Konzepts:46 Anerkennung taucht – zunächst in Gestalt der Anerkenntnis – erst im 16. Jahrhundert begriffssprachlich auf und bezeichnet den erkenntnistheoretischen Sachverhalt, dass nämlich das Erkannnte als Erkanntes selbst noch anerkannt werden muss; erst im 18. Jahrhundert wird dann mit Anerkennung – in Ablösung des Ehrbegriffs – auch das bezeichnet, was wir gemeinhin unter ihr verstehen: Wertschätzung und (positive) Bestätigung. Seitdem ist der Begriff aus dem modernen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken; die in den letzten fast zwei Jahrzehnten beobachtbare rasante Konjunktur hat jedenfalls auch damit zu tun, dass Anerkennung als spätmoderne (kategorial orientierte) Theorieofferte in verschiedenen Diskursen bestehen konnte,47 zudem als Gesellschaftsdiagnose triftig scheint und auch gegenwärtige Fragen – wie z.B. die nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt – auf den Punkt bringt48 und zugleich schließlich auch als Maxime sozialen Handelns selbst – auch und gerade des pädagogischen Handelns – Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag;49 ich verweise hier nur auf das Muster unzähliger Sozial- und Integrationsprogramme, deren Credo meist ›Anerkennung der Diffe45 | Vgl. exemplarisch Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992. 46 | Vgl. dazu auch Nothdurft, Werner: »Art. Anerkennung«, in: Jürgen Straub/Arne Weidemann/Doris Weidemann (Hg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz, Stuttgart 2007, S. 110-122. 47 | Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung. 48 | Vgl. dazu Heitmeyer, Wilhelm/Imbusch, Peter (Hg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration, Wiesbaden 2005. 49 | Vgl. Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder, Schwalbach i.Ts. 2002.
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renz‹ lautet. Mit diesen drei Aspekten – Theorieofferte, Gesellschaftsdiagnose und Handlungsmaxime – ist aber auch erklärbar, warum der Anerkennungsdiskurs nicht nur so populär, sondern auch selbst so heterogen und in sich überaus widersprüchlich wie unscharf ist.
1.
Bedeutungsfacetten des Anerkennungsbegriffs
In einem ersten Schritt sollen daher – wenn auch nur kurz, weil dies an anderen Stellen bereits erheblich umfangreicher geleistet worden ist50 – unterschiedliche Bedeutungsfacetten vorgestellt und problematisiert werden. Mir kommt es dabei darauf an zu zeigen, dass die skizzierten Facetten einen Gedankengang markieren, in den man unweigerlich gerät, wenn man mit einem üblichen Verständnis von Anerkennung als einem Wertschätzungs- und Bestätigungshandeln beginnt und dieses dann problematisiert. Der Gedankengang lässt sich insofern überschreiben als ein (dekonstruktiver) Weg von einem normativen Anerkennungsverständnis als Bestätigung und positiver Wertschätzung zu einem analytischen Verständnis von Anerkennung als Adressierung. Dennoch geht es mir nicht darum, in einer Art Überbietungslogik einen einzigen – und dann den einzig legitimen – Begriff der Anerkennung zu präsentieren, sondern die verschiedenen – jeweilig begründeten und insofern plausiblen – Perspektiven des Begriffs zu verdeutlichen: Was kommt in den Blick, wenn man Anerkennung als Bestätigung und Wertschätzung fasst? Und was, wenn man Anerkennung anders fasst und sie als Adressierung versteht? (a) Anerkennung als Bestätigung und Wertschätzung: Axel Honneths Konzeption kann als zentraler Bezugspunkt in diesem Diskurs gelten; begrifflich fasst er den »Originalmodus der Anerkennung« als »Affirmierung von positiven Eigenschaften menschlicher Subjekte oder Gruppen«,51 kurz: als wertschätzende Bestätigung und veranschlagt diese – wenn auch wechselseitig gedacht – als »praktische Bedingung eines positiven Selbstverhältnisses«, d.h. als Bedingung 50 | Vgl. dazu Ricken, Norbert: »Über Anerkennung – oder: Spuren einer anderen Subjektivität«, in: Norbert Ricken/Henning Röhr/Jörg Ruhloff u.a. (Hg.), Umlernen. Festschrift für Käte Meyer-Drawe, Paderborn u.a. 2009, S. 75-92 sowie insbesondere Balzer, Nicole/Ricken, Norbert: »Anerkennung als pädagogisches Problem. Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs«, in: Alfred Schäfer/Christiane Thompson (Hg.), Anerkennung, Paderborn 2010, S. 35-87 und jüngst Balzer, Nicole: Spuren der Anerkennung. Studien zu einer Kategorie der pädagogischen Praxis, Dissertation am Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen, unveröffentlichtes Manuskript, Bremen 2011. 51 | Beide Zitate: Honneth, Axel: »Anerkennung als Ideologie«, in: WestEnd 1 (2004), S. 51-70, hier S. 55.
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einer »intakten Identität«52 und der »Möglichkeit der Verwirklichung von individueller Autonomie«.53 Ein Hauptargument seiner anerkennungstheoretischen Weichenstellung ist dabei die Überlegung, Subjektivität – im Anschluss an Hegel, Marx und auch Mead – nicht atomistisch (d.h. erst sind die einzelnen, die dann auf andere stoßen und mit denen sich verständigen, einigen etc. müssen), sondern streng intersubjektivitätstheoretisch zu denken: Das Ich entwickelt und erlernt sich selbst erst von anderen her. Zugleich dient ihm die Ausfaltung seines Anerkennungsverständnisses in drei Sphären, in die der Liebe (als Anerkennung der Bedürfnisse und Affekte durch emotionale Zuwendung), des Rechts (als Anerkennung der Zurechnungsfähigkeit durch kognitive Achtung) und der Solidarität bzw. Wertschätzung (als Anerkennung der Leistung durch soziale Wertschätzung) auch als Markierung der Anerkennung als einem »Grundstein einer Ethik«.54 Anerkennung ist daher neben dieser Grundbegrifflichkeit sowohl Prinzip moralischen Handelns als auch Begründungsprinzip ethischer Argumentationen. Es ist vielfach – und bisweilen heftig – Kritik an Honneths Konzept geübt worden; ich beschränke mich auf vier zentrale Aspekte, die mir wichtig sind: Anerkennung als Bedingung gelingender Autonomie steht erstens in der Gefahr des Instrumentalismus, wie dies Ludwig Siep mal formuliert hat;55 d.h. sie wird selbst auf ein Mittel – nämlich für gelingende Identitäts- und Autonomieentwicklung – reduziert, obwohl sie doch selbst als Struktur und Prinzip derselben ausgegeben werden soll. Letztlich leidet das Konzept Honneths m.E. darunter, Anerkennung nicht radikal genug zu denken, d.h. nicht als Verfasstheit des Subjekts selbst – d.h. als Dekonstruktion der Autonomie zugunsten seiner Relationalität – zu veranschlagen. Zweitens wird Anerkennung auf ihre bloß positive Lesart beschränkt; auch wenn es für Honneth sehr wichtig ist, den »Originalmodus der Anerkennung« als »Affirmierung von positiven Eigenschaften menschlicher Subjekte oder Gruppen«56 zu verstehen, um einer Ausweitung 52 | Beide Zitate: Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 2003 (um ein neues Nachwort erweiterte Ausgabe), S. 308 und S. 209. 53 | Honneth, Axel: »Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«, in: Nancy Fraser/Axel Honneth (Hg.), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a.M. 2003, S. 129-224, hier S. 213. 54 | Honneth, Axel: »Anerkennung und moralische Verpflichtung«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), S. 25-41. 55 | Vgl. exemplarisch Siep, Ludwig/Takeshima, Ayumi/Takeshima, Nao u.a.: »Gutes und gelingendes Leben. Honneth über Anerkennung und Sittlichkeit«, in: Christoph Halbig/Michael Quante (Hg.), Axel Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung, Münster 2004, S. 67-71. 56 | A. Honneth: Anerkennung als Ideologie, S. 56.
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und Abnutzung des Begriffs nicht Vorschub zu leisten, so bleiben darin einerseits alle ungewollt anerkennenden Nebenwirkungen eines nicht-intentional anerkennenden Handelns ebenso wie andererseits alle auch aberkennenden Handlungen ausgeschlossen bzw. werden nur als Defizite thematisch. Mehr noch: Die Problematik der Interpretation von anerkennenden bzw. aberkennenden Handlungen durch die Betroffenen bleibt unberücksichtigt – und mit ihr im Rücken auch die Frage nach der konstitutiven Undurchschaubarkeit der Anderen.57 Drittens wird auch durch diese Reduktion auf ein Bestätigungshandeln die Performativität der Anerkennung verkürzt, wenn nicht sogar gar nicht gedacht; auch wenn Honneth zugesteht, dass Anerkennung konstituierende Effekte hat, die für die Ausformung der Selbstbeziehung wichtig sind, so kommen doch ausschließlich jene Momente in den Blick, die die Subjekte bereits vorgängig besitzen. Anders formuliert: Wenn man Anerkennung radikal denken will, dann kann Anerkennung nicht in Bestätigung aufgehen; wenn aber mehr als Bestätigung – des Weiteren werde ich diesen Aspekt mit Alexander Garcia Düttmann ›Stiftung‹ nennen58 – gedacht werden soll, dann tauchen noch andere Fragen – z.B. die der Macht etc. – auf, die Anerkennung konsequent zu einem mindestens ambivalenten Geschehen machen. Schließlich viertens: Anerkennung als Wertschätzung und Bestätigung zu fassen, ist auch empirisch problematisch, lässt sich doch das, was eine ›positive Bestätigung‹ sein soll, weder einfach an der Sprecherintention noch an der Hörerrezeption festmachen; auch eine eindeutige semantische Bestimmung dieser Positivität kann – angesichts von Ironie – nicht gelingen, so dass letztlich unklar bleiben muss, was berechtigterweise als ›Wertschätzung‹ gelten kann. Alle vier Einwände aber führen auch zu einer Verschiebung und Erweiterung des Begriffs der Anerkennung, die hier in drei Schritten skizziert werden sollen. (b) Anerkennung als Zusammenhang von Bestätigung und Versagung: Auf den Zusammenhang von Versagung und Anerkennung, von Entzug und Zerstörung als Möglichkeitsbedingung der Anerkennung hat insbesondere Jessica Benjamin aufmerksam gemacht, indem sie das Konzept der Anerkennung – in Auseinandersetzung mit Hegel – streng als Paradoxon entwickelt hat.59 57 | Vgl. Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Frankfurt a.M. 2010. 58 | Vgl. Düttmann, Alexander G.: Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung, Frankfurt a.M. 1997. 59 | Vgl. dazu insbesondere Benjamin, Jessica: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Basel 1990 wie auch jüngst Benjamin, Jessica: »Intersubjectivity, Recognition and the Third. A Comment on Judith Butler«, in: Norbert Ricken/Nicole Balzer (Hg.), Judith Butler: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2012, S. 283-302.
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Verkürzt formuliert: Anerkennung ist nicht nur ein Problem des Selbstwertgefühls (sozusagen ein Effekt des Selbstseins), sondern des Selbstgefühls bzw. des Selbstseins überhaupt. Das Gefühl, jemand zu sein, entsteht allererst durch andere, die – qua Anerkennung – mich als jemanden erachten und mir dieses vorlaufend wie fortlaufend unterstellen. Das aber macht Anerkennung zu einem Paradox: Um unabhängig sein zu können, bin ich notwendigerweise von etwas abhängig; Autonomie gelingt nur über und in eingestandener Abhängigkeit – und ist gleichzeitig damit selbst in Heteronomie eingebunden bzw. relativiert. Mit dieser – bei allen Anerkennungstheoretikern zunächst prinzipiell geteilten – Perspektive sind aber zwei Implikationen verbunden, die es hier zu entfalten gilt: Erstens ist Anerkennung gerade nicht bloße positive Bestätigung und Affirmation. Eindringlich und plastisch macht Benjamin darauf aufmerksam, dass Anerkennung dann wertlos ist, wenn sie bloß zentrische Spiegelung ist; es geht dem Selbst nicht darum, bloß anerkannt zu werden, sondern auch von jemandem anerkannt zu werden, der sich als unabhängig von mir, als eigen erweist. Und das geht – so Benjamin – nur über Versagung. Wenn das Kind – so Benjamin in ihren Studien zur frühkindlichen Entwicklung – immer alles bekommt, was es will, dann kann es keinen anderen unabhängig von sich erkennen – und muss die Situation als Verlassensein interpretieren; erst in der Versagung, im Entzug und in der Auseinandersetzung, kurz: in der und als Differenz erscheint der Anerkennende als selbständiger Anderer; und das erst macht Anerkennung tragfähig – und insofern zu etwas anderem als bloßer Bestätigung.60 Man könnte diesen Gedanken nun auch noch weiter verlängern, indem man – z.B. mit Tzvetan Todorov61 – auch auf die Bedeutung von Abwertung, Verachtung und Hass für die Genese des Selbst eingeht, die vom Übergehen und Übersehen trotz aller Verletzung radikal unterschieden werden müssen. Zweitens ist Anerkennung dann aber auch nicht bloß ein zentrisches Bedürfnis (eines Selbst nach Anerkennung durch andere), sondern auch ihrerseits das Bedürfnis, andere anzuerkennen, d.h. sich selbst zu verlassen und lieben zu wollen. Benjamin formuliert dies als »das Bedürfnis, zum Anderen vorzudringen und den Kerker des isolierten Selbst zu sprengen.«62 Kurz: es geht nicht nur um Zentrik, d.h. Selbstbespiegelung und Anderengebrauch, sondern auch um die Alterität des Anderen, seine Fremdheit – was sich dann beides im Begehren spiegelt. Damit ist aber auch jene Dimension mitbenannt, die bei Benjamin als
60 | Vgl. dazu auch Benjamin, Jessica: »Ein Entwurf zur Intersubjektivität: Anerkennung und Zerstörung« [1990], in: dies., Phantasie und Geschlecht. Psychoanalytische Studie über Idealisierung, Anerkennung und Differenz, Frankfurt a.M. 1996, S. 38-58. 61 | Vgl. Todorov, Tzvetan: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1998. 62 | J. Benjamin: Die Fesseln der Liebe, S. 35; vgl. auch S. 83.
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Selbstfremdheit, Selbstentzogenheit deutlich wird und nur in einer in sich gebrochenen Subjektivität angemessen aufgehoben werden kann. (c) Anerkennung als Zusammenhang von Bestätigung und Stiftung: Diesen Gedanken hat auch Alexander Garcia Düttmann aufgegriffen, wenn er Anerkennung nicht nur als Bedürfnis des Selbst, sondern als »Bedürfnis nach einem Selbst«63 beschrieben hat. Zugleich hat er darauf hingewiesen, dass Anerkennung zu kurz verstanden wird, wenn sie bloß als – positive oder negative – Bestätigung verstanden wird; vielmehr geht es auch darum, Anerkennung als ein stiftendes Geschehen zu verstehen – also als etwas, was den Anerkannten erst zu dem macht, wofür sie ihn anerkennt. Anders formuliert: Bestätigung und Stiftung sind nicht zwei unterschiedliche Akte, sondern fallen in Anerkennung als zwei Seiten einer Medaille zusammen; gleichzeitig können aber beide nicht einfach zusammenfallen, weil im ersten Akt das bestätigt wird, was im zweiten Akt allererst hervorgebracht wird – was Anerkennung, anders als bei Benjamin, zu einem unauflösbaren Paradox figuriert. Es ist aber diese Dimension der Stiftung, die überhaupt erst verständlich macht, warum Bestätigung so wichtig und produktiv ist – und gerade nicht bloß eine nachträgliche Kennzeichnung und Würdigung ist. Mit ihr wird der produktive, effektive – sprich: performative – Charakter von Anerkennung allererst deutlich, der in der Fassung als Bestätigung und Wertschätzung bereits irgendwie enthalten und dennoch nicht theoretisch ausgeführt war. (d) Anerkennung als Zusammenhang von Unterwerfung und Überschreitung: Wird aber Anerkennung auch als ein stiftendes Handeln verstanden, dann ist es nur folgerichtig, sie auch machttheoretisch zu interpretieren und zunächst als Unterwerfung auszulegen. Gerade weil die Idee einer ›Freisetzung zu sich selbst‹ qua Anerkennung nicht theoretisch konsistent konzeptualisierbar ist – man wird ja immer als jemand (und nicht schlechthin) anerkannt und insofern genau darauf festgelegt bzw. reduziert –, muss Anerkennung auch als Unterwerfung wie auch Überschreitung gedacht werden, d.h. als ein Geschehen der Auseinandersetzung um sozial etablierte intelligible Normen der Sichtbarkeit und Anerkennbarkeit, wie dies insbesondere in den Arbeiten Judith Butlers immer wieder auftaucht.64
63 | Düttmann, Alexander G.: Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung, Frankfurt a.M. 1997, S. 52. 64 | Vgl. insbesondere Butler, Judith: »Noch einmal: Körper und Macht«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a.M. 2003, S. 52-67 und Butler, Judith: »Gewalt, Trauer, Politik«, in: dies. (Hg.), Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M. 2005, S. 36-68.
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Butler hat gerade diese machttheoretischen Rahmung des eben skizzierten Konstitutionsproblems vorgelegt: In der Genese des Selbst aus der Anerkennung heraus geht es immer auch darum, was es eigentlich heißt, für andere anerkennbar zu sein; d.h. – und hier folge ich Judith Butler – es geht nicht bloß darum, dass ich Anerkennung für etwas erhalte, was ich bin, und dadurch dieses auch werde, sondern auch immer darum, dass Anerkennung in sozialen Kontexten nach Normen, Erwartungen etc. vergeben wird, so dass es darauf ankommt, anerkennbar zu sein. Mit Normen der Anerkennbarkeit sind daher jene Strukturen und Praktiken gekennzeichnet, denen ich mich einerseits unterwerfen muss, andererseits aber nicht vollständig unterwerfen kann, da ich als spezifischer (und nicht irgend-)jemand anerkannt werden will. Butler formuliert: »Um zu sein, müssen wir anerkennbar sein, und zugleich die Normen in Frage stellen, durch die uns Anerkennung zuteil wird«,65 d.h. die gegebenen Normen werden sowohl akzeptiert als auch überschritten und damit permanent verschoben. Entscheidend ist daher für Butler, dass das Selbst sich nicht unabhängig von anderen und den sozialen Normen auf sich selbst zu beziehen vermag, sondern sich selbst durch und von diesen anderen allererst erlernt.66 Anders formuliert: Man wird qua Anerkennung nicht nur als jemand angerufen und im sozialen Raum positioniert, sondern erlernt sich selbst in diesen Akten, weil jeder Selbstbezug immer über andere und anderes vermittelt ist, insofern man sich auf sich bezieht bzw. zu beziehen lernt in sozial etablierten Kategorien. ›Selbstverhaftung‹, so Butler, ist ihrerseits »gesellschaftlich vermittelt« und insofern ein Prozess, in dem das Subjekt »an seine eigene Subjektivität geheftet wird«.67 Die Folgerungen bei Butler seien nur stichwortartig genannt: Anerkennung ist erstens gerade kein bloß positiver, moralisch aufladbarer und mit Freiheit besetzbarer Begriff, sondern selbst ambivalent; mehr noch: sie muss mit Macht zusammengedacht werden und kann nicht als ihr bloßes Gegenstück gelobt werden. Das aber heißt auch zweitens, verändert über das Subjekt zu denken, wie dies Butler mit dem Stichwort der Exposition des Selbst, d.h. der Tatsache, anderen ausgeliefert zu sein und verletzbar zu sein, unternommen hat. Radikal formuliert: Wir sind nicht nur anderen von Anfang an übergeben und insofern exponiert bzw. außerhalb unserer selbst, ausgeliefert und enteignet; sondern wir suchen auch genau diese Entäußerung und Ekstase: »Machen wir uns nichts vor: wir werden von den jeweils anderen zunichte gemacht, und wenn nicht, dann fehlt uns etwas.«68 Es ist genau dieser ›ekstatische Charakter‹ menschlicher Existenz, der bei Butler Verletzbarkeit und Begehren miteinander in einen 65 | J. Butler: Noch einmal: Körper und Macht, S. 64. 66 | Zum Verständnis von Subjekt und Subjektivität bei Butler vgl. insbesondere J. Butler: Subjekt. 67 | J. Butler: Noch einmal: Körper und Macht, S. 62 u. 66. 68 | J. Butler: Gewalt, Trauer, Politik, S. 40.
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Zusammenhang bringt. Mit diesen Akzenten ist aber auch drittens verbunden, dass Anerkennung als gelingende Anerkennung gar nicht möglich ist: Weil in Anerkennung der Anerkannte immer als jemand Bestimmter anerkannt wird, ist er als immer auch Unbestimmter bzw. sich anders Bestimmender auch immer verkannt – d.h. jemanden als jemanden anzuerkennen, legt den Anderen als diesen Anderen fest; gehört aber – wie dies Thomas Bedorf zur Geltung gebracht hat – Verkennung notwendig zur Anerkennung, dann liegt im Eingeständnis der Verkennung ein besonderes Moment der Anerkennung – nämlich das Zugeständnis einer unbestimmten Differenz des oder der Anderen, der oder die immer auch anders ist, als ich ihn oder sie er- und anerkennen kann.
2.
Anerkennung als Adressierungsgeschehen
Vor dem Hintergrund eines analytisch justierten Verständnisses von Anerkennung und im Anschluss an die Arbeiten Judith Butlers scheint es nun sinnvoll, Anerkennung als Adressierung zu operationalisieren und damit als grundsätzliche Struktur in und von Kommunikation wie Interaktion insgesamt zu interpretieren.69 Mit Adressierung käme dabei nicht nur ein eigener Bestandteil bzw. Gegenstandsbereich von Kommunikation – nämlich die explizite Anrede von jemandem – in den Blick, sondern auch die grundsätzliche Struktur aller Rede und insofern ein durchgängiges Moment aller sozialer Praktiken. Insofern käme es weniger darauf an, ob man positiv (sprich: wertschätzend) oder negativ (sprich: abwertend oder abschätzig) angesprochen wird, sondern darauf, wie man von wem vor wem als wer angesprochen bzw. explizit oder implizit adressiert wird und zu wem man dadurch von wem und vor wem gemacht wird. Mit Adressierung ist daher zunächst ein zentraler Mechanismus von Anerkennung bzw. Anerkennungspraktiken bezeichnet, der sowohl die Wirksamkeit und Etablierung der jeweiligen ›Ordnungen der Anerkennbarkeit‹ (Butler) nachvollziehen lässt als auch deren praktische Verfasstheit zu erschließen erlaubt. Angesprochenwerden bedeutet – im Anschluss an Überlegungen Butlers –, zugleich als jemand anerkannt und subjektiviert zu werden, weil die Ansprache von jemandem den Angesprochenen vor einem Horizont der Sichtund Anerkennbarkeit als jemanden bezeichnet und dadurch diesen sowohl inner- oder außerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung setzt als auch 69 | Dieser Vorschlag, Anerkennung analytisch zu fassen und als Adressierung zu operationalisieren, ist in Zusammenarbeit mit Nicole Balzer verschiedentlich vorgestellt (vgl. insbesondere N. Balzer/N. Ricken: Anerkennung als pädagogisches Problem) und mit Sabine Reh zusammen präzisiert worden (vgl. Reh, Sabine/Ricken, Norbert: »Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation«, in: Ingrid Miethe/Hans-Rüdiger Müller [Hg.], Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, Opladen & Farmington Hills 2012, S. 35-56).
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den Angesprochenen als jemanden allererst hervorbringt. Mit dieser These der Performativität der Anerkennung qua Ansprache bzw. Anrufung greift Butler ihrerseits auf Austin und Althusser zurück, grenzt sich aber in zweierlei Hinsicht ab:70 Im Gegensatz zu Austin lassen sich Adressierungen nicht einfach als Ausdruck und Intention eines handelnden Subjekts verstehen, weil weder das Subjekt einfach vorausgesetzt werden kann noch der Zusammenhang von Absichten, Äußerungen und Effekten linear und schon gar nicht kausal gegeben ist;71 und in Auseinandersetzung mit Althussers Modell der Anrufung – gebündelt im Ruf des Polizisten: »Hey, Sie da«72 – kommt es ihr darauf an, die subjektivierende Kraft nicht allein und ausschließlich im einzelnen Akt der Adressierung zu sehen, so dass der anrufenden Seite nicht einfach die (alleinige) Macht zukommt, jemanden zu jemandem zu machen; vielmehr ist es entscheidend, wie denn der Anruf beantwortet wird – d.h. wie der Angerufene sich selbst zur Anrufung positioniert; dies aber lässt sich nur erfassen, wenn man Adressierungen sowohl als ein sequentielles Geschehen der Adressierung und Readressierung als auch als Resignifizierungen versteht.73 Vor diesem Hintergrund lassen sich nun mit Adressierung zunächst sowohl alle Formen der direkten Adressierung als auch der indirekten Adressierung – d.h. der Adressiertheit von allen Akten – verstehen;74 in beiden Formen der kommunikativen Ansprache eines anderen (als einem kooperativen Akt) setzt sich der Ansprechende in ein Verhältnis zum anderen und diesen in ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst. Dabei wird die Dimension der Adressiertheit nicht nur sprachlich, sondern auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Modi realisiert; so sind Sprechakte nicht nur schon selbst körperliche (d.h. stimmliche) Akte, sondern auch in körperliche Akte – auch des Adressierens qua Berühren, Blicken, Annicken oder gar Zeigen sowie im Ausrichten oder Bewegen auf einen anderen Körper zu – eingebettet. Mehr noch: Jeder Bezug auf einen anderen in körperlichen Akten, d.h. in Blicken und Gesten, und sprachlichen Akten ist ein mehr oder weniger sedimentiertes, konventionelles Zeichen, das seine Wirksamkeit erst aus seinem permanenten Gebrauch und den damit verbundenen permanenten Verschiebungen bezieht. Wie also adressiert 70 | Vgl. ausführlicher N. Balzer: Spuren der Anerkennung, S. 365-378. 71 | Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 41ff. 72 | Althusser, Louis: »Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung)«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin 1977, S. 108-153, hier S. 142. 73 | Vgl. dazu auch Rose, Nadine/Koller, Hans-Christoph: »Interpellation – Diskurs – Performativität. Sprachtheoretische Konzepte im Werk Butlers und ihre bildungstheoretischen Implikationen«, in: Ricken/Balzer, Judith Butler: Pädagogische Lektüren (2012), S. 75-94. 74 | Vgl. ausführlicher S. Reh/N. Ricken: Das Konzept der Adressierung, S. 35-56.
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wird bzw. Adressiertheit hergestellt wird – z.B. neben dem Nennen von Namen und dem Gebrauch der 2. Person durch Kontaktwörter, generische Platzhalter (wie z.B. ›Hey Leute‹) oder von situationsspezifischen Formeln (›So, alle mal herhören‹) –, ist dabei gesondert zu beachten.75 Darüber hinaus haben Adressierungen nicht nur die Funktion, den Angesprochenen auszuwählen (Selektion) und dessen Aufmerksamkeit zu erzeugen bzw. zu sichern; sie verpflichten auch auf eine Antwort bzw. Reaktion und weisen dem Adressierten daher sowohl eine soziale Aufgabe und eine bestimmte soziale Rolle als auch einen Horizont und Kontext zu, der mit der Adressierung und deren Implikationen – wie z.B. Geltungshorizonte des Gesagten, Erwartungshorizonte etc. – unweigerlich verbunden ist. In Adressierungen bzw. in der Adressiertheit von Akten werden also spezifische Ordnungen und Rahmungen mitgesetzt (und insofern sichtbar) und verschiedene Positionierungen im Sinne eines mehrfachen Zueinander-ins-Verhältnis-Setzens vorgenommen. Mit Blick auf die Bedeutung von Adressierungen für Fragen der Anerkennung bzw. Anerkennbarkeit und im Anschluss an bereits publizierte heuristische Fragen76 lassen sich heuristisch vier unterschiedliche Aspekte in Adressierungen unterscheiden: (1) Selektion und Reaktion: Adressierungen sind als auf jemanden bezogene Ansprache bzw. als auf jemanden gerichteter Akt immer eine – sei es nun individualisierende oder generalisierende – Auswahl von jemandem, d.h. sie markieren jemanden als Angesprochenen und andere (zumeist implizit) als Nichtangesprochene bzw. Nichtausgewählte.77 Versteht man diese Auswahl oder Selektion als kooperativen Akt, dann ist mit der Selektion auch das antwortende Signal des Ausgewählten, sich als angesprochen zu sehen, verbunden – ansonsten würde wiederholt adressiert werden bzw. die Adressierung (vermutlich kommentierend) zurückgenommen werden –, die sich wiederum kaum von der mit der Ansprache verbundenen Antwortverpflichtung trennen lässt. Wer angesprochen ist bzw. sich angesprochen fühlt, kann danach nicht mehr nicht antworten, denn auch wenn er oder sie nicht explizit antwortet, ist bereits die Kenntnisnahme der Ansprache eine erste Antwort. Zugleich kann – weil An75 | Vgl. dazu auch Hartung, Martin: »Formen der Adressiertheit der Rede«, in: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann u.a. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York 2001, S. 1348-1355. 76 | In Zusammenarbeit mit Sabine Reh ist eine erste Frageheuristik entwickelt worden, um (a) die verschiedenen Ordnungen, die im jeweiligen (Äußerungs-)Akt fungieren bzw. mitgesetzt sind, (b) die verschiedenen Positionierungen und (c) die performativen Effekte zu analysieren; vgl. dazu ausführlicher S. Reh/N. Ricken: Das Konzept der Adressierung, S. 44-45. 77 | Vgl. ausführlicher M. Hartung: Formen der Adressiertheit.
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fänge nicht fixiert werden können – die Ansprache ihrerseits als eine Antwort auf etwas Vorangehendes verstanden werden, auch wenn das nicht immer unmittelbar ersichtlich ist. (2) Definition und Normation: Adressierungen sind nicht nur immer an bzw. auf jemanden gerichtet, sondern etablieren auch – als gültig behauptete – Ordnungen, die als Rahmungen der jeweiligen (Äußerungs-)Akte fungieren. Gerade weil Ordnungen nicht einfach bereits vorhanden sind, müssen sie – sowohl praktisch als auch diskursiv – immer auch neu hervorgebracht und insofern tatsächlich ›praktiziert‹ werden. In ihnen ist zum einen enthalten, wie und als welche Situation das Geschehen gedeutet oder definiert wird – und wie nicht (Situationsdefinition); zum anderen aber werden immer auch normative Horizonte mitgesetzt, beansprucht bzw. als gültig behauptet (und andere abgewiesen), innerhalb derer der (Äußerungs-)Akt selbst erst sinnvoll wird. Dabei können die fungierenden Normen – als (implizite oder explizite) Festlegungen dessen, was sein soll78 – unterschiedlichen Charakter haben, d.h. unterschiedlich fixiert und sedimentiert sein und insofern auch auf unterschiedlichen Ebenen liegen; zudem ist mit Variabilitäten und Überschneidungen ebenso wie mit Widersprüchen von Normen zu rechnen. Die behaupteten und beanspruchten bzw. mitgesetzten Normen lassen sich dabei immer auch als Indikatoren einer kommunikativ errichteten Ordnung der Anerkennbarkeit lesen. (3) Position und Relation: Innerhalb dieses im (Äußerungs-)Akt entworfenen (Ordnungs-)Rahmens finden unterschiedliche Positionierungen und Positionszuweisungen statt, die nicht bloß jeweilige Verortungen bzw. Lokalisierungen, sondern immer Formen des Ins-Verhältnis-Setzens zu sich selbst, zu anderen und zur Welt sind. Innerhalb dieser Figurationen ist zu unterscheiden zwischen dem Aspekt, als wer man sich selbst positioniert – d.h. nicht nur als wer man sich selbst versteht, sondern auch als wen man sich vom anderen wahrgenommen und antizipiert sieht –, und dem Aspekt, als wen man den anderen positioniert – d.h. ebenso als wen man den anderen (u.U. auch antizipierend) versteht wie auch in welches Verhältnis man den anderen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt damit setzt.
78 | In Differenz zu ›Normierung‹ sowie ›Normalisierung‹, die beide ein Geschehen bezeichnen, in dem ›etwas‹ entsprechend einer vorgegebenen Norm bzw. einer gegebenen Normalität ›passend‹ gemacht wird, d.h. darauf bezogen und bearbeitet wird, zielt ›Normation‹ auf die Einsetzung der Norm oder Normativität selbst und damit auf die Art ihrer Einführung, Behauptung, Begründung etc. vor einem bzw. mit Bezug auf einen Hintergrund anders möglicher und insofern konkurrierender Normen. Ein ähnlicher Begriffsgebrauch findet sich auch in den machttheoretischen Vorlesungen Michel Foucaults zur Gouvernementalität (vgl. Foucault, Michel: Gouvernementalität. Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M. 2004, S. 88-90).
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(4) Valuation: Von Selektion wie aber auch insbesondere von Normation und Position zu unterscheiden wäre schließlich auch eine Wertzuschreibung, die mit Adressierungen einhergeht und in ihnen enthalten ist; andere werden nicht nur ausgewählt, in einen spezifischen normativen Ordnungszusammenhang gestellt und darin bzw. dadurch positioniert, sondern auch ›bewertet‹. Eine solche Bewertung bzw. Wertzuschreibung kann nicht nur positiv oder negativ (und insofern ›anerkennend‹ oder ›aberkennend‹) ausfallen, sondern auch komplexere Logiken – wie z.B. Entwicklungsmöglichkeiten, unterschiedliche Zeithorizonte etc. – enthalten; gerade darin läge der Gewinn, Anerkennung qua Adressierung analytisch (und nicht vorschnell normativ) zu fassen und dann die Breite der möglichen Valuation in den Blick zu nehmen. Mit diesen vier Aspekten lassen sich Adressierungen bzw. die Adressiertheit von (Äußerungs-)Akten hinsichtlich der Frage, als wer man – genauer: von wem, vor wem und wie – angesprochen und adressiert worden ist, genauer bestimmen; um nun den performativen Effekten einer solchen Adressierung – d.h. der Frage, zu wem man dadurch gemacht worden ist – auf die Spur zu kommen, gilt es, in besonderer Weise die Abfolge der einzelnen Adressierungen im Prozess zu beachten und als eine Sequenz von Adressierungen und Readressierungen zu verstehen. In dieser Aufmerksamkeit für die jeweiligen Verknüpfungen kann einerseits deutlich werden, wie die vorgenommene Selektion, Normation, Position und Valuation jeweilig beantwortet wird – d.h. zum Beispiel bestätigt, zurückgewiesen oder verschoben wird –, und zum anderen wie man sich zu der vorgenommenen Ins-Verhältnis-Setzung seinerseits nochmal in ein Verhältnis setzt und welcher Möglichkeitsraum dadurch eröffnet wird. Zugleich wird damit auch deutlich, dass Adressierungen nicht nur ›hin und her‹ prozessiert werden, sondern jeweilig auch frühere, verfestigte etc. Adressierungen enthalten bzw. auf diese verweisen und insofern nicht bloß streng sequentiell, sondern auch in Rückgriffen – gewissermaßen ›in Schleifen‹79 – erfolgen. Erst die Kombination von Adressierung und Readressierung erlaubt dann, (in Ansätzen) von einem Subjektivationsgeschehen zu sprechen, in dem man zu einem Subjekt gemacht wird und sich selbst dazu macht; auch wenn mit bzw. in dieser Analyse von Adressierungen und Readressierungen noch kein biografischer Prozess der Subjektivation in den Blick kommen kann, so scheint es doch in diesem Zugriff zu gelingen, wenigstens konzeptionell einen Mechanismus der Subjektivation – neben anderen – ausfindig und analysierbar zu machen. Zudem böte eine solche Perspektive einen anderen Blick auf das, was in anderen Theorietraditionen – geradezu durchgängig – als Verinnerlichung, Internalisierung oder Inkorporierung etc. bezeichnet wird und als ein dichotomes Außen-Innen-Geschehen nicht sonderlich zu überzeugen vermag. 79 | Diesen Hinweis auf die zeitlich in sich gebrochene Logik von Adressierungen verdanke ich Thomas Alkemeyer.
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IV. E IN SUBJEK T (IVATIONS) THEORE TISCHES S CHLUSSWORT Subjektivation – jedenfalls momenthaft – auch als ein Anerkennungsgeschehen zu begreifen und über die differenzierte Analyse von (insbesondere sprachlichen) Adressierungspraktiken zu erschließen, hat erhebliche subjekt(ivations) theoretische Implikationen. Auf zwei Momente – sozusagen rück- (a) wie vorblickend (b) – sei hier abschließend hingewiesen. (a) Wer Anerkennung denkt, wer diese auch als bedeutsam und damit konstitutiv für die Genese von Individuen denkt, kann Subjektivität nicht schlicht unverändert modern – sprich: als autonome, sich selbst bestimmende und sich selbst bewusste Subjektivität – denken; vielmehr ist es zwingend, Subjektivität – ausgehend von Gedanken der Genesis des Selbst vom Anderen her – als differentielle und relationale ›Inter-Subjektivität‹ (Meyer-Drawe) zu fassen und in dreierlei Hinsicht zuzuspitzen. So heißt – erstens – sich selbst von anderen her zu erlernen, sich selbst sowohl vertraut als auch fremd zugleich zu sein; denn auch wenn der Blick der – konstitutiven(!) – anderen als Anderen höchst bedeutsam ist, so ist es doch nicht möglich, diesen Blick auf sich selbst einzunehmen. Anders formuliert: Ich kenne mich von außen nicht bzw. nur fragmentarisch und illusionär, wie dies Jacques Lacan deutlich gemacht hat;80 und doch erlerne ich mich in den Kategorien, Schemata und Betrachtungsweisen der anderen auf mich. Mit dieser paradoxen Verschränkung von Selbstvertrautheit und Fremdheit ist – zweitens – eine elementare Anderenbezogenheit verbunden, die das Eigene und Fremde kaum angemessen zu unterscheiden erlaubt und auch Identität konsequent mit Nichtidentität verknüpft; die Frage, »wer bin ich ohne Dich«81, ist nicht nur letztlich nicht beantwortbar, sondern macht auch darauf aufmerksam, dass ich jemand erst durch die anderen werde, der ich ohne sie nie sein könnte (sowie der Vater nicht erst Vater ist und dann eine Tochter und einen Sohn bekommt, sondern durch die Tochter, den Sohn Vater wird – auch und indem er von diesen anerkannt wird). Zu dieser Figuration anderenbezogener Identität gehört aber auch, die Schwierigkeit, sich selbst vor sich zu bringen, über den Umweg, sich mit anderen zu vergleichen und von diesen abzuheben, aufzulösen oder wenigstens zu lindern: Wenn ich schon nicht sagen kann, wer ich bin, dann weiß ich vielleicht etwas mehr von mir, wenn ich mich vergleichen und abheben bzw. unterscheiden kann – Identität durch Distinktion, schlimmstenfalls als Selbstaufwertung durch Abwertung anderer. Damit ist schließlich – drittens – verbunden, dass Subjektivität nur als Ambivalenz, als paradoxes Doppel zu haben ist: nämlich als unauflösbarer Zu80 | Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« [1949], in: ders., Schriften I, Weinheim/Berlin 1991, S. 61-70. 81 | J. Butler: Gewalt, Trauer, Politik, S. 39.
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sammenhang des Zugrundeliegenden und des Unterworfenen zugleich, kurz: als ›subiectum‹ im vollen Sinn.82 Mit diesen knappen Andeutungen ziele ich auf ein Verständnis ebenso differentieller und relationaler wie unvollständiger und (in sich) gebrochener Subjektivität; die klassischen Vorstellungen von Identität als Authentizität, von Autonomie als vernünftiger Selbstbestimmung, von Selbstbewusstsein als Transparenz vor und für sich selbst lassen sich dann in einem solchen relationalen Verständnis des Selbst als ein »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«,83 nicht länger als Subjektkennzeichen aufrechterhalten. (b) Folgt man aber dieser Weichenstellung auch noch über die Kontrastierung verschiedener Subjektkonzeptionen hinaus, dann ist es vielleicht nicht abwegig, die unterschiedlichen Konzepte als differierende Ausgestaltungen und Gewichtungen der verschiedenen, das ›Subjekt‹ aufspannenden Differenzen und Relationen zu verstehen. Anders formuliert: ›Autonomie‹ wie auch ›Authentizität‹ sind dann z.B. nicht zwei der Relationalität unangemessene bzw. diese nur verkürzt aufgreifende Formen menschlicher Selbstdeutungen, sondern lassen sich als zwei historisch kontingente, die Differenzen unterschiedlich ausgestaltende Subjektformen analysieren. Insofern wäre es lohnend, differente Subjektformen (und Subjektivationsformen) auf ein gemeinsames Raster zu beziehen und als unterschiedliche, historisch-gesellschaftlich bedingte Ausgestaltungen, Gewichtungen und Pointierungen innerhalb dieses Rasters zu verstehen. Unterscheiden ließen sich – wiederum bloß heuristisch – drei Dimensionen, in denen das Selbst zu sich selbst (Art und Weise des Selbstbezugs), zu anderen bzw. Anderen und Dritten (Anderenbezug) sowie schließlich zur Welt, d.h. sowohl Materialität als auch Kulturalität (Weltbezug), in ein (jeweilig spezifisches) Verhältnis gesetzt wird. In diesen drei Dimensionen ließen sich zugleich drei Modalitäten dieser Bezugsetzungen entlang der Modi des Gegebenen, des Aufgegebenen und des Entzogenen unterscheiden. Beispielhaft formuliert: Die starke Akzentuierung des Aufgegebenen im aufklärerisch-modernen Modell des Subjekts ist auch als Kontrast (und Kritik) des christlichen Modells zu lesen, in dem sowohl das Gegebene als auch das Entzogene als Modalitäten prägend sind.84 Entscheidend aber wäre, dieses strukturale Raster möglicher Subjektivationsformen nicht als Matrix einer strukturalen Anthropologie, d.h. als Ausdruck 82 | Vgl. dazu auch Meyer-Drawe, Käte: »Das ›Ich als die Differenz der Masken‹. Zur Problematik autonomer Subjektivität«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 67 (1991), S. 390-400. 83 | Kierkegaard, Søren: »Die Krankheit zum Tode« [1849]. Gesammelte Werke Abt. 24/25, hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, übers. von Emanuel Hirsch, Gütersloh 1992, S. 8; vgl. dazu auch N. Ricken: Über Anerkennung – oder: Spuren einer anderen Subjektivität. 84 | Vgl. ausführlicher die Überlegungen dazu in N. Ricken: Menschen: Zur Struktur anthropologischer Reflexionen.
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einer fixen und ebenso überzeitlich wie übergesellschaftlich gültigen Konfiguration des Menschlichen zu lesen, sondern als eine in historisch-kulturellen Praktiken etablierte und über die Zeit hinweg sedimentierte Struktur und Figuration menschlicher Selbstverständnisse bzw. Selbstverständigungen zu verstehen, die zwar nicht im strengen Sinn notwendig ist, an die aber – in bestimmten historisch-kulturellen Kontexten und Traditionen – dennoch angeknüpft wird und werden muss. Wie weit man auch immer in diesen Fragen zu gehen nun bereit ist, deutlich wird vielleicht, dass praxis- bzw. praktikentheoretische und subjektivationstheoretische Arbeiten nicht nur eng aneinander gekoppelt sind und insofern sich wechselseitig benötigen, sondern auch, dass anerkennungstheoretische Überlegungen – wie die hier angestellten – einen wichtigen analytischen und auch theoriebildenden Beitrag dazu leisten können. Dabei scheint mir die Verknüpfung dieser drei Diskursfelder auch insofern besonders lohnend, weil darin die unterschiedlich liegen gebliebenen Hypotheken des ›Streits ums Subjekt‹ (Frank) – wie z.B. Autonomie und Heteronomie bzw. Individualität und intersubjektive Relationalität – produktiv aufgenommen und bearbeitet werden können.
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Subjektivierung in Relationen Ein Versuch über die relationistische Explikation von Sinn Gesa Lindemann
Unter Subjektivierung verstehe ich, dass sich eine Entität X für sich selbst und für andere als eine verstehbare, intelligible oder sinnhaft einzuordnende Entität darstellt. Dies erfolgt, indem sich X in ihrer Darstellung für sich selbst und für andere an vorgegebenen Regeln bzw. Normen orientiert. X stellt sich einer Regel entsprechend dar – etwa der Regel, die für gültige und überzeugende Darstellungen von Verkäuferinnen oder Professorinnen gilt. Zumindest für einige – vielleicht sogar alle – dieser Darstellungen gilt, dass sie authentisch ausgeführt werden müssen, d.h. X muss sich nicht nur als ein bestimmtes Subjekt darstellen, sondern auch so, dass sie dieses Subjekt authentisch ist. Dass X es selbst ist, die diese Darstellungsleistungen vor sich und vor anderen vollbringt, wird ebenfalls in sozialen Prozessen zur Darstellung gebracht. X wird nämlich sowohl von sich selbst als auch von anderen dafür verantwortlich gemacht, wenn die Darstellung nicht gelingt. D.h., wenn die Subjektivierung nicht in der geforderten Weise verläuft. Diesem Verständnis zufolge ist Subjektivierung als ein normativer Sachverhalt zu verstehen. Es gibt Entitäten, von denen in sozialen Prozessen normativ erwartet wird, dass sie sich subjektivieren und dass sie dies in einer regelgemäßen Weise tun. Bei einer Vorlesung richtet sich die Subjektivierungserwartung z.B. an die Professorin und nicht an das Mikrofon bzw. die Mikrofonanlage. Dies gilt auch dann, wenn es die Technik ist, die eine misslingende Darstellung als professorales Subjekt verursacht. Nicht das Mikrofon, sondern die Professorin wird um Entschuldigung dafür bitten, dass die Darstellung nicht gelungen ist und nach Erklärungen suchen. Der so als Subjektivierung beschriebene Sachverhalt wird mit jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen in verschiedenen Theorieansätzen verhandelt. In einer poststrukturalistischen Perspektive würde man davon sprechen, dass die vorgegebenen Normen ›zitiert‹ werden, dass Subjekte sich unter vorgegebene Subjektformen und die damit verbundenen Normen unterwerfen und da-
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bei einen Teil ihrer selbst verwerfen müssen.1 Die Ethnomethodologie benennt einen ähnlichen Sachverhalt, wenn sie die Herstellung und Reproduktion sozialer Formen in den Blick nimmt und untersucht, wie sich Akteure dabei wechselseitig unterstützen, kontrollieren und normalisieren.2 In einer systemtheoretischen Perspektive wäre X damit beschäftigt, sich orientiert an personalen Formen selbst zu sozialisieren,3 wodurch eine Selbstbindung für weitere Kommunikationen entsteht. In allen Fällen wird Bezug genommen auf aufeinanderbezogene Darstellungs- und Interpretationsleistungen. Durch diese Leistungen wird eine sinnhafte Welt geschaffen, von der gilt, dass sie für alle Beteiligten eine in gleicher Weise sinnhaft geordnete Welt ist, in der alle Beteiligten selbst sinnhaft eingeordnet werden können. Unabhängig davon, wie Subjektivierung im Detail gedacht wird, wird in dieser Perspektive darauf verzichtet, ein handelndes Subjekt vorauszusetzen. Vielmehr wird danach gefragt, wie aus einer Entität X ein handelndes Subjekt mit einer bestimmten Identität wird. Implizit wird dabei allerdings die Unterscheidung zwischen mindestens zwei Sorten von Entitäten angenommen, nämlich zwischen einerseits denjenigen Entitäten, von denen normativ erwartet wird, dass sie sich subjektivieren, und andererseits denjenigen Entitäten, von denen dies nicht zu erwarten ist. Mit der Umstellung von Subjekt auf Subjektivierung wird es zu einem kontinuierlich ablaufenden Prozess, sich zu einem geformten Subjekt zu machen. Ein Subjekt nicht zu sein, sondern sich in einem fortlaufenden Prozess dazu zu machen, heißt aber auch, kontinuierlich die Unterscheidung zwischen sich subjektivierenden X-Entitäten und anderen Entitäten zu vollziehen. Diese kontinuierlich zu reproduzierende Grundlage von Subjektivierung wird in den bisherigen Ansätzen nicht thematisiert. Sie explizit zum Gegenstand zu machen, wäre eine Bereicherung für das Programm der Subjektivierungsanalyse. Dass es sinnvoll ist, diese Unterscheidung in den Blick zu nehmen, zeigt das schon erwähnte Beispiel der Professorin, deren erfolgreiche Selbstdarstellung als eine Vorlesung haltende Professorin aufgrund einer technischen Störung der Mikrofonanlage misslingt. In diesem Fall machen sowohl die Professorin als auch die Studierenden zunächst die Professorin für die misslingen1 | Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2007. Für sehr gute Diskussion der Subjekttheorie Butlers im Vergleich mit Foucault vgl. Hauskeller, Christine: Das paradoxe Subjekt. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault, Tübingen 2000. 2 | Garfinkel, Harold: »Common sense knowledge of social structures: The documentary method of interpretation in lay and professional fact finding«, in: ders., Studies in Ethnomethodolgy, Englewood Cliffs, NJ 1967, S. 76-103. 3 | Luhmann, Niklas: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 1995 [1987], S. 86ff.
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de Subjektivierung verantwortlich. Dies ist daran zu erkennen, dass diese sich entschuldigt, nach Gründen für das Versagen sucht etc. All dies wird von der Mikrofonanlage nicht erwartet. Das Beispiel verweist auf zweierlei: Einerseits sind Subjektivierungsleistungen auf technische Artefakte angewiesen, andererseits werden im beschriebenen Fall die technischen Artefakte nicht selbst subjektiviert. Wenn es nicht von vornherein als geklärt gilt, von welchen X-Entitäten Subjektivierungsleistungen zu erwarten sind, geht es um zwei Fragen. Erstens: Wie wird in ablaufenden Subjektivierungsprozessen die Unterscheidung zwischen zu subjektivierenden Entitäten und anderem getroffen? Zweitens: Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise kommt technischen Artefakten eine Bedeutung für Subjektivierungsleistungen zu? Die zweite Frage verweist auf die Bedeutung von Verkörperung und Technik für die Analyse von Subjektivierungsprozessen. Dies habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich untersucht mit besonderem Bezug auf den Körper und mit Bezug auf den Zusammenhang von Verkörperung und Technik.4 Ich werde mich hier auf die erste Frage konzentrieren. Die Argumentation ist in drei Schritten aufgebaut. Zunächst entfalte ich den Vorschlag, die Grenzen des Kreises derjenigen, von denen Subjektivierung erwartet wird, kontingent zu setzen. Dies beinhaltet eine grundlegende Erweiterung des Problemhorizonts soziologischer Forschung um das »Problem der Kontingenz der Mitwelt« (I). Die Einbeziehung dieses Problems erfordert einen spezifischen Zuschnitt sozialtheoretischer Konzepte. Nicht der Handlungs-, sondern der Kommunikationsbegriff steht im Mittelpunkt und dieser muss triadisch konzeptualisiert werden. Im Sinne einer Weiterentwicklung des Kommunikationsbegriffs Luhmanns5 stelle ich daher im zweiten Abschnitt einen neuen triadisch strukturierten Kommunikationsbegriffs vor (II). Daran anschließend arbeite ich die im triadischen Kommunikationsbegriff angelegte Struktur sozialer Reflexivität heraus und entfalte die darin angelegten Implikationen für die Subjektivierungsanalyse unter den strukturellen Bedingungen moderner Vergesellschaftung (III).
4 | Vgl. Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Wiesbaden 2011 u. dies.: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009, Kap. 5. 5 | Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.
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I. D AS P ROBLEM DER K ONTINGENZ DER M IT WELT Wenn man es als eine offene und nur empirisch zu beantwortende Frage versteht, von welchen Entitäten zu erwarten ist, dass sie sich subjektivieren, wird eine implizite Voraussetzung von Subjektivierungsanalysen deutlich. Es wird nämlich implizit und unbefragt davon ausgegangen, dass nur von lebendigen Menschen zu fordern ist, sich zu subjektivieren. Damit gelten Menschen als natürliche Voraussetzung eines Vergesellschaftungsprozesses, der sich durch Subjektivierung strukturiert. Diese Annahme gilt es einzuklammern und selbst als ein bemerkenswertes Phänomen zu begreifen. Als klassische Vertreter dieser Fragerichtung können Plessner, Kelsen und Luckmann gelten.6 Kelsen und Luckmann zufolge ist es ein Spezifikum der westlich-europäisch geprägten Moderne, dass nur lebende Menschen soziale Akteure sein können. Kelsen rekonstruiert in einer geistesgeschichtlichen Untersuchung, wie Naturdinge in der westlichen Moderne den Status eines sozialen Akteurs verloren haben. Natürliche Dinge und technische Artefakte werden zwar als materiell wirksam betrachtet, jedoch würden sie in der Moderne als Wesen angesehen, bei denen es sich nicht um ein soziales Gegenüber mit Intentionen und Erwartungen handelt. Kelsen zeigt auf, wie der Aspekt der Vergeltung, der in vormodernen Auffassungen der Beziehung zu Naturdingen und Artefakten noch enthalten war, 6 | Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975 [1928]; Kelsen, Hans: Vergeltung und Kausalität, Wien/Köln/Graz 1982 [1941]; Luckmann, Thomas: »Über die Grenzen der Sozialwelt«, in: Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn, München/Wien/Zürich 1980 [1970], S. 56-92. Auch die Arbeiten von Bruno Latour – ders.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995 [1991] – und anderen – Woolgar, Steve/Latour, Bruno: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, London/Beverly Hills 1979; Callon, Michel: »Some Elements of a sociology of translation. Domestication of the scallops and the fishermen of St Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.), Power, Action and Belief. A new sociology of knowledge?, London 1986, S. 196-233 – sind in diese Richtung interpretiert worden. Denn letztgenannte Autoren verwenden einen weiten Akteursbegriff (vgl. Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005), der auch nichtmenschliche Entitäten einbezieht. Latour versucht, auf dieser Grundlage die »Verfassung der Moderne« (B. Latour: Wir sind modern gewesen) zu rekonstruieren. Dabei bleibt er aber insofern einer anthropologisch orientierten akteurszentrierten Theorie verhaftet, als er implizit menschliche Akteure in den Mittelpunkt stellt, denen die Macht zuerkannt wird, im Weiteren auch anderen Entitäten einen Akteursstatus zuzuschreiben (vgl. Lindemann, Gesa: »On Latour’s social theory and theory of society, and his contribution to saving the world«, in: Human Studies 34 [2011], Nr. 1, S. 93-110). Im Unterschied zu Luckmann und Kelsen wird auf diese Weise die Frage nach den Grenzen der Sozialwelt nicht ernsthaft gestellt.
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zunehmend verschwindet. Die Beziehungen zu Naturdingen und Artefakten wurden desozialisiert. Luckmanns Ansatz folgt methodisch Husserl, wenn er in transzendentaltheoretischer Perspektive das Argument entfaltet, dass die Projektion des anderen Ich a priori nicht auf lebende Menschen beschränkt werden kann. Anhand eines reichhaltigen ethnologischen Materials legt er dar, dass in nicht-modernen Gesellschaften auch Tiere, Pflanzen oder Götter und Verstorbene den Status von allgemein anerkannten Akteuren einnehmen können. Luckmann sieht richtig, dass die Frage nach den Grenzen der Sozialwelt mit dem Problem des anderen Ich zusammenhängt, d.h. mit der Frage, wie entschieden wird, welche Entitäten als ein Alter Ego anzuerkennen sind. Dass er bei der Bearbeitung dieser Frage transzendentaltheoretisch argumentiert, ist allerdings problematisch. Bereits Schütz hatte gezeigt, dass sich das Problem des anderen Ich transzendentaltheoretisch nicht lösen lässt.7 Wenn es auch aus methodischen Gründen nicht sinnvoll ist, der Argumentation Luckmanns direkt zu folgen, so bleiben doch zwei wichtige Einsichten von ihm erhalten: seine Kritik des methodologischen Ethnozentrismus und die Annahme eines Zusammenhangs zwischen einerseits der Grenzziehung soziale Personen/Anderes und andererseits der Differenzierungsstruktur einer Gesellschaft. Um diese Einsichten weiterzuentwickeln, ist es erforderlich, sie im Rahmen einer mundanen Theorie des anderen Ich bzw. einer mundanen Theorie der kontingenten Grenzen der Sozialwelt zu reformulieren. Als Bezugspunkt für eine solche Theorie begreife ich Helmuth Plessners Theorie der Mitwelt, die er im Rahmen der Theorie der exzentrischen Positionalität entwickelt.8 ›Exzentrische Positionalität‹ besagt, dass sich die Umweltbeziehung von exzentrisch strukturierten Wesen in dreifacher Weise ausdifferenziert. Ein exzentrisches Selbst ist erlebend und wirkend auf seine Umwelt bezogen und zugleich erlebt es das eigene Erleben. Insofern hat ein exzentrisches Selbst eine Innenwelt, es unterscheidet sich nicht nur von der Außenwelt, sondern erlebt diese als eine ihm objektiv gegenüberstehende Welt und es erfährt sich als Glied der Mitwelt. Die Mitwelt bezeichnet eine Sphäre des wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins exzentrischer Wesen. Aufgrund ihres wechselseitigen Bezuges übernehmen exzentrische Selbste wechselseitig ihre Positionen, d.h., ein exzentrisch-positionales Selbst verhält sich aus der Perspektive anderer zu sich 7 | Eine sehr gute Darstellung der Auseinandersetzung von Schütz mit Husserl in dieser Frage findet sich bei Lüdtke, Nico: »Intersubjektivität bei Schütz – oder: Ist die Frage nach dem Anderen aus der Phänomenologie entlassen?«, in: Jürgen Raab/Michaela Pfadenhauer/Peter Stegmaier/Jochen Dreher/Bernt Schnettler (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden 2008, S. 187-197. 8 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 300ff.
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und zu anderen. Folglich ist sowohl der Selbstbezug als auch der Bezug auf die Außenwelt und auf andere darüber vermittelt, dass sich ein exzentrisches Wesen als Glied einer Mitwelt erfährt.9 Wesen, die in einer solchen Beziehung zu anderen und zu sich selbst stehen, bezeichnet Plessner als »Personen«.10 Für die hier behandelten Probleme ist entscheidend, dass die Theorie der Mitwelt nicht von vornherein festlegt, wer ein Glied der Mitwelt sein kann, d.h., es steht nicht von vornherein fest, wer in den Kreis der Personen gehört und was aus diesem Kreis ausgeschlossen ist.11 Folgerichtig unterscheidet Plessner die Mitwelt im Allgemeinen, die »Wirsphäre«, und eine je historisch aus der »Wirsphäre ausgesonderte Gruppe oder Gemeinschaft, die zu sich Wir sagen kann«.12 Die Mitwelt als »Wirsphäre« im Allgemeinen ist die Bedingung dafür, sich als Glied einer Mitwelt in seiner Stellung erfassen zu können.13 Davon zu unterscheiden ist der Sachverhalt, dass Personen sich als Glied einer bestimmten historisch ausdifferenzierten Mitwelt erfassen. Entsprechend gilt es als Charakteristikum einer je historischen Mitwelt, wie die Mitwelt konkret beschränkt wird, d.h., wie je historisch der Kreis möglicher Personen begrenzt wird. Die Mitwelttheorie eröffnet eine Frageperspektive, die es systematisch zu einem empirischen Problem macht, wie der Kreis legitimer sozialer Personen beschränkt wird. Dies führt im Weiteren zu einer gesellschaftstheoretisch relevanten Frage: Lassen sich Gesellschaften danach unterscheiden, wie die je konkrete Mitwelt begrenzt und wie der Prozess personaler Vergesellschaftung strukturiert wird? Eine konkrete Beschränkung der Mitwelt muss als eine strukturelle Bedingung des Prozesses personaler Vergesellschaftung angesehen werden. Denn der Umgang mit Personen unterscheidet sich praktisch vom Umgang mit Nichtpersonen. Personen gehen z.B. davon aus, dass andere Personen Erwartungen entwickeln, die zu erwarten und zu deuten sind. Dies bildet die Grundlage einer wechselseitigen Bezugnahme und Abstimmung. Im Umgang mit Nichtpersonen kommt dagegen der Sachverhalt nicht vor, dass die Erwartungen des Gegenübers zu erwarten und zu deuten sind. Die Grenzziehung zwischen Personen und Nichtpersonen legt also auf grundlegende Weise fest, wie der Vollzug personaler Vergesellschaftung praktisch verläuft. Insofern muss diese Grenzziehung als institutionelle Strukturierung des Vollzugs von Vergesellschaftung begriffen werden.
9 | Vgl. H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 304; vgl. auch G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 2. 10 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 301. 11 | Vgl. ebd., S. 301. 12 | Ebd., S. 303. 13 | Vgl. ebd.
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Um sich den Status der Theorie der Mitwelt im Allgemeinen im Unterschied zur je historischen gesellschaftlichen Mitwelt zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, sich die Funktion des Theorems der reinen doppelten Kontingenz im Unterschied zur empirisch beobachtbaren eingeschränkten doppelten Kontingenz zu vergegenwärtigen. Reine doppelte Kontingenz ist empirisch nicht beobachtbar.14 Das Theorem doppelter Kontingenz formuliert vielmehr ein Problem und begreift soziale Phänomene als dessen Lösung. Insofern fungiert das Theorem der doppelten Kontingenz als eine beobachtungsleitende Annahme, die dazu anhält, soziale Phänomene als Lösungen eines bestimmten Problems zu begreifen. In analoger Weise fungiert die Theorie der Mitwelt im Allgemeinen als beobachtungsleitende Annahme. Sie führt dazu, faktische Begrenzungen des Kreises sozialer Personen als Lösung des Problems der Unbestimmtheit der Begrenzung des Kreises sozialer Personen zu verstehen. Analog zum Problem der doppelten Kontingenz spreche ich hier vom ›Problem der Kontingenz der Mitwelt‹. Dessen Lösung besteht in der Etablierung von Grenzinstitutionen mit Bezug auf die reguliert wird, wie der Kreis sozialer Personen beschränkt wird.15 Weiterhin lässt es die Theorie Mitwelt offen, ob die voreinander und füreinander vollzogenen personalen (Selbst-)Darstellungen so interpretiert werden, dass Personen als Subjekte für ihre (Selbst-)Darstellungen verantwortlich gemacht werden und sich selbst verantwortlich machen. Nur im letzteren Fall handelte es sich um personale Verhältnisse, die durch Subjektivierungen strukturiert sind. Subjektivierung scheint auf den ersten Blick ein universales Phänomen zu sein. Demnach würden sich Gesellschaften danach unterscheiden, wie sich Menschen zu Subjekten machen, indem sie sich bestimmte Subjektformen aneignen. Letztere würden als gesellschaftlich akzeptierte Formen der Selbstdarstellung gelten. Wenn Subjektivierung in dieser Weise als allgemein vorkommend angesehen würde, müsste es auch als allgemein gültig angesehen werden, dass Normen bzw. allgemein soziale Ordnung aufrechterhalten werden, indem ein agierendes X als ein handelndes Subjekt gilt, das für seine Taten subjektiv verantwortlich ist. Es scheint mir fraglich zu sein, ob Subjektivierung in diesem Sinn tatsächlich ein universales Phänomen darstellt. Denn es gibt gesellschaftliche Verhältnisse, in denen es nicht darauf ankommt, wer für eine Tat subjektiv verantwortlich ist. Normativ nicht erwartetes Verhalten kann auch darauf hin beobachtet werden, wie es die Welt in Unordnung bringt. Es kommt dann nur noch darauf an, dass jemand einen Ausgleich leistet, der das Gleichgewicht der Welt wieder herstellt. In einem solchen Fall ist es unerheblich, wer
14 | Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. 3; vgl. auch den Betrag von Reinhard Schulz in diesem Band. 15 | Lindemann, Gesa: »Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung«, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), Nr. 2, S. 92-112.
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für eine Tat subjektiv verantwortlich war, es kommt nur darauf an, dass und wie der Ausgleich geschaffen wird.16 Wenn man Subjektivierung versteht als Vollzug subjektiv zu verantwortender Selbstdarstellungen, wie es Ethnomethodologie und Poststrukturalismus machen, ist diese eng mit der Idee verknüpft, dass es individuelle Verantwortlichkeit,17 somit auch eine schuldhafte Verfehlung und damit eine mögliche Strafe geben kann. Hierbei handelt es sich aber um historisch kontingente Sachverhalte. In den Gebieten Mittel- und Westeuropas wurde die Vorstellung, dass es Akteure gibt, die subjektiv für ihre Taten verantwortlich sind, erst im 12. und 13. Jahrhundert im säkularen Recht durchgesetzt.18 Erst dadurch wird die die Subjektivierung kennzeichnende Verbindung von Tat und subjektiver Verantwortung für die Tat hergestellt. Erst hiermit wird eine Tat unausweichlich immer auch zu einer subjektiv zu verantwortenden Selbstdarstellung. Die hier vorgeschlagene Perspektive der Kontingenz der Mitwelt führt also mit Bezug auf Subjektivierung zu einer zweifachen Historisierung: 1. Es wird als historisch veränderlich begriffen, welche Entitäten normativ als soziale Personen anzuerkennen sind; 2. es wird als historisch kontingent gesetzt, dass soziale Personen ihr Verhältnis zueinander durch Subjektivierung strukturieren. Die Gesellschaftsordnung, die sich in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend durchzusetzen beginnt, zeichnet sich strukturell durch zwei Merkmale aus: Nur lebende Menschen sind allgemein verbindlich als soziale 16 | Vgl. Achter, Victor: Geburt der Strafe, Frankfurt a.M. 1951. 17 | Das folgende Zitat bringt dies sehr schön zum Ausdruck: »Ich kann nicht genau erklären, warum ich gerade so geworden bin, und meine Bemühungen um eine narrative Rekonstruktion unterliegen einer ständigen Überarbeitung. In mir und an mir ist etwas, von dem ich keine Rechenschaft abgeben kann« (J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 57). Eine solche Formulierung setzt voraus, dass man anerkennt, subjektiv verantwortlich zu sein und deshalb Rechenschaft über sein Leben abgeben muss. Sich für eine umfassende biografische Rekonstruktion verantwortlich zu fühlen, kommt vermutlich nur bei Leuten vor, die sich für wichtig halten oder von denen gefordert wird, es für wichtig zu halten, eine biografische Rekonstruktion anbieten zu können. Die Ethnomethodologie nimmt sozusagen eine alltägliche Verantwortlichkeit in den Blick. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen auf den Fuß getreten bin, aber es ist so eng hier, dass man gar nicht weiß, wohin man treten soll.« Auch das ist eine kleine biografische Rekonstruktion, mit der man sich für einen Normverstoß verantwortlich macht und um Vergebung bittet. Für alltägliche kleine Leute reicht das aus. 18 | Vgl. V. Achter: Geburt der Strafe u. G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 3.
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Personen anzuerkennen und soziale Personen machen sich wechselseitig subjektiv für Taten verantwortlich; damit wird individuierende Subjektivierung zu einer tragenden Struktur der Herstellung und Reproduktion von Ordnung.
II. TRIADISCH - REL ATIONISTISCHER K OMMUNIK ATIONSBEGRIFF Als Ausgangspunkt dient mir der Kommunikationsbegriff Luhmanns.19 Dieser beschreibt, wie das Problem der doppelten Kontingenz kommunikativ gelöst werden kann. Allerdings erweist sich dieser Kommunikationsbegriff nicht mehr als ausreichend, um das Problem der Kontingenz der Mitwelt zu bearbeiten. Die Analyse des Problems der Kontingenz der Mitwelt macht es vielmehr erforderlich, von einer triadischen Sozialitätskonzeption auszugehen. Denn nur, wenn man die Ego-Alter-Konstellation um Dritte, d.h. um Tertius, erweitert, lässt sich die Emergenz einer institutionellen Regel der Grenzziehung begreifen und empirisch rekonstruieren.20 Strukturell weist die Ego-Alter-Konstellation, in der sich Kommunikation ereignet, folgende Merkmale auf: 1. Erwartungs-Erwartungen: Ego erwartet die Erwartungen von Alter Ego und orientiert seine eigenen Aktivitäten an diesen erwarteten Erwartungen. 2. Doppelte Kontingenz: Für Ego ist es unsicher, wie Alter sich im Weiteren verhält, was Alter erwartet usw. (= einfache Kontingenz). Da Ego seine eigenen Aktivitäten und auch sein weiteres Erwarten davon abhängig macht, was Alter erwartet, wird für Ego zusätzlich sein eigenes Verhalten, sein eigenes Erwarten unsicher (= doppelte Kontingenz). Diese Situation wird durch Kommunikation aufgelöst. Ego interpretiert die Aktivitäten versuchshalber und macht sich im Weiteren von Alters Reaktionen abhängig. Ordnung entsteht damit zunächst in der Zeitdimension. Es ist ein Charakteristikum dieses Kommunikationsbegriffs, dass er nicht bei der Mitteilungshandlung ansetzt, sondern bei der von Ego vorgenommenen Deutung von Alters sichtbarem Verhalten als kommunikative Handlung.21 In diesem Sinne wird danach gefragt, ob eine Entität A (Alterposition) eine erfahrbare Mitteilungshandlung produziert, die von einer anderen Entität B (Egoposition) als Hinweis darauf gedeutet wird, dass A eine Information mitteilt und damit eine Erwartung an B richtet.
19 | N. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. 4. 20 | G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 6.2. 21 | N. Luhmann: Soziale Systeme, Kap. 4.
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Der Unterschied zwischen dem dyadischen und dem triadischen Kommunikationsbegriff besteht darin, dass der letztere eine Objektivierung der Relation zwischen Ego und Alter erlaubt. Ego deutet die Mitteilungshandlung Alters mit Bezug auf die Erwartung, die Tertius an den Vollzug dieser Deutung hat. Wenn B (Egoposition) die Deutung nicht einfach nur vollzieht, sondern die Deutung als eine versteht, die vor Tertius stattfindet, wird die Deutung objektiviert; sie existiert für Ego, insofern Ego die Perspektive von Tertius auf den Vollzug der Deutung übernimmt. Dies ermöglicht es, eine Regel der Anerkennung zu etablieren, durch die festgelegt wird, wie Entitäten als kommunikative Entitäten, die als solche anzuerkennen sind, identifiziert werden können.22 Diese Regel ist die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt. Die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt erfolgt durch eine Ordnungsbildung, die in der Sozialdimension ansetzt. Im Rahmen einer dyadischen Konstellation wäre das Problem nicht lösbar. Selbst wenn man annehmen würde, es gäbe bereits eine Regel, müsste Ego diese gegenüber dem fraglichen Alter Ego allein anwenden. Eine nur durch den Akteur selbst kontrollierte Regelanwendung wäre aber willkürlich und würde daher zu keinem konsistenten Ergebnis führen. Dies ist das von Wittgenstein aufgezeigte Problem der privaten Regelbefolgung. Diese sei nicht möglich, denn einer »Regel ›privatim‹ zu folgen«, heißt nicht der Regel zu folgen, sondern nur »der Regel zu folgen glauben«.23 Der systematische Bezug auf den Dritten ist also aus zwei Gründen erforderlich: 1. Nur im Rahmen einer triadischen Konstellation kann eine Regel der Anerkennung institutionalisiert werden; 2. Ego kann nur mit Bezug auf Tertius sinnvoll dieser Regel folgen. Im Rahmen solcher triadischen Vollzüge werden die Bedingungen geschaffen, unter denen Entitäten als Personen gedeutet werden, die sich in der Kommunikation für sich und andere darstellen. Die Frage danach, wer die Grenze zwischen sozialen Personen und anderem zieht, lässt sich zunächst nur formal beantworten. Alle diejenigen, die funktional in der Position von Ego sind, vollziehen eine grenzziehende Deutung. Diese Deutung ist nicht beliebig, denn sie ist über Tertius vermittelt orientiert an einer Regel. Die operativ relevanten Einheiten, die den Vollzug der Grenzziehung tragen sind Ego-Alter-Tertius. Die Grenzziehung erfolgt nicht als Tat eines Individuums, sondern sie erfolgt in 22 | Vgl. Lindemann, Gesa: »Die Emergenzfunktion des Dritten – ihre Bedeutung für die Analyse der Ordnung einer funktional differenzierten Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), Nr. 6, S. 493-511. 23 | Beide Zitate: Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1977, S. 128.
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einer Relation, deren reflexive Vollzugstruktur eine Musterbildung durch Objektivierung ermöglicht. Dass die Musterbildung tatsächlich erfolgt und wie sie erfolgt, lässt sich nur im Rahmen empirischer Forschungen in den Blick nehmen. Theoretisch lässt sich nur begründen, dass solche Muster ausgebildet werden müssen. Denn es ist für Akteure praktisch relevant, zwischen solchen Entitäten zu unterscheiden, deren Erwartungen zu erwarten sind, und solchen Entitäten, bei denen das nicht der Fall ist. Durch solche Deutungen wird im Feld die Unterscheidung getroffen zwischen denjenigen Entitäten, die in einer generalisiert gültigen Weise soziale Personen sind, und solchen Entitäten, die sporadisch oder idiosynkratischerweise Personen sind.24 Für moderne Gesellschaften gilt, dass nur lebende Menschen soziale Personen sein können. Dies lässt sich empirisch anhand der Grenzziehungen am Lebensanfang und am Lebensende aufzeigen. Die kommunikativen Positionen von Ego-Alter-Tertius werden hier eingenommen von einem Patienten, bei dem es fraglich ist, ob er noch lebt (Alterposition), von Medizinern, die die Lebenszeichen des Patienten deuten (Egoposition) und dabei eine Beobachtung durch andere Kollegen und durch Juristen antizipieren (Tertiusposition). Die Grenzziehung entspricht einer sachlichen Feststellung: Bei diesem menschlichen Körper handelt es sich um einen lebendigen Körper. Dass nur lebende Menschen die Ego-Alter-Tertius-Positionen übernehmen, ist ein Merkmal der modernen Gesellschaft. In vormodernen Gesellschaften können die Positionen von Ego-Alter-Tertius auch von Geistern oder anderen nicht-menschlichen Wesen eingenommen werden. Relevant ist die triadische Struktur der Kommunikation, die eine Objektivierung der Regel ermöglicht. Die Struktur des modernen Vergesellschaftungsprozesses zeichnet sich zentral durch zwei Merkmale aus: 1. Nur lebendige Menschen können in einer generalisiert gültigen Weise soziale Personen sein. 2. Die kommunikative Darstellung beinhaltet immer einen Verweis auf die subjektive Verantwortlichkeit für die Darstellung. D.h., in der mit Bezug auf Tertius vollzogenen Deutung durch Ego wird Alter Ego subjektiviert. Da dieser Sachverhalt in der Darstellung Alters antizipiert wird, stellt sich Alter für eine beobachtete Deutung dar, von der er eine Subjektivierungsforderung erwartet. Derartig subjektivierten Personen steht es frei, sporadisch auch andere Entitäten als soziale Personen zu behandeln und sie zu subjektivieren. In diesem Sinne können etwa Haustiere oder technische Artefakte sporadisch den Status einer sozialen Person zugesprochen bekommen und für ihre Taten subjektiv 24 | G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 6.2.
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verantwortlich gemacht werden. Dies hat jedoch keine allgemeine Gültigkeit und der Subjektstatus kann dem Tier bzw. dem Artefakt nach Belieben auch wieder entzogen werden. Dabei ist insgesamt zu beachten, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen generalisiert anerkannten und daher sich subjektivierenden Personen und idiosynkratischen Personen, die den personalen Status lediglich sporadisch innehaben, um eine feldinterne Unterscheidung handelt. Es handelt sich nicht um eine Unterscheidung, die die soziologische Beobachterin trifft, sondern um eine Unterscheidung, welche die soziologische Beobachterin als einen Sachverhalt im Feld beobachtet. Die Berücksichtigung der Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt führt zu einer Erweiterung des soziologischen Deutungsbegriffs. Es geht 1. um eine fundierende Deutung, durch die festgelegt wird, welche Entität als kommunizierend anzuerkennen ist, und 2. um eine im engeren Sinne kommunikative Deutung, d.h. die Deutung der Mitteilungshandlung. Bislang wurde in der soziologischen Deutungskonzeption lediglich die Deutung der Mitteilungshandlung einbezogen. Die erste Stufe der Deutung, d.h. die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt, wird dagegen bislang als unproblematisch vorausgesetzt. Wenn man dieses Problem in gleicher Weise berücksichtigt, wie das Problem der doppelten Kontingenz, das der kommunikativen Deutung zugrunde liegt, wird der Dritte grundlegend in die beobachtungsleitenden Annahmen eingearbeitet. Damit trägt jeder Vollzug einer triadischen Konstellation einen gesellschaftlichen Index, denn in der fundierenden Deutung wird die institutionalisierte Regel der Grenzziehung zwischen sozialen Personen und Anderem aktualisiert.
III. S OZIALE R EFLE XIVITÄT Wie stellt sich das Problem der Subjektivierung im Einzelnen dar, wenn man es im Rahmen eines triadischen Kommunikationsbegriffs entwickelt. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Struktur triadischer Kommunikation zu einer komplexeren Struktur sozialer Reflexivität führt, als sie bei dyadischen Sozialitätskonzepten vorliegt. Solange man von Ego und Alter ausgeht, muss man von wechselseitigen Erwartungs-Erwartungen ausgehen. Ego erwartet die Erwartungen von Alter und umgekehrt. Durch das Hinzukommen des Dritten wird diese Struktur dahingehend modifiziert, dass die Erwartungen von Tertius dafür relevant sind, wie Ego bezogen auf ein fragliches Alter erwartet. Die Erwartungen an Alter werden damit zu Erwartungen, die aus der Perspektive von
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Tertius zu erwarten sind. Aus der dyadischen Struktur der Erwartungs-Erwartungen wird die triadische Struktur erwarteter Erwartungs-Erwartungen. Die Relevanz erwarteter Erwartungs-Erwartungen findet sich sowohl auf der Ebene der fundierenden Deutung als auch auf derjenigen der kommunikativen Deutung. Auf der Ebene der fundierenden Deutung handelt es sich darum, in welcher Weise Tertius erwartet, von wem Ego Erwartungen zu erwarten hat – es geht also um die Erwartung, dass Ego sich in der Deutung des fraglichen Alter an einem normativen Muster der Grenzziehung orientiert. Dadurch wird festgelegt, welche Entität als ein Alter Ego anzuerkennen ist. Bezogen auf die kommunikative Deutung orientieren sich die erwarteten Erwartungs-Erwartungen an der Norm der Subjektivierung, d.h. darauf, wie soziale Personen für ihre aktuellen Darstellungen verantwortlich zu machen sind. Die über den Dritten vermittelte Struktur sozialer Reflexivität verunmöglicht es, soziale Situationen isoliert in den Blick zu nehmen. Denn die Dritten, durch die die Objektivierung der Interpretation ermöglicht wird, müssen nicht anwesend sein. Idealtypisch lassen sich zumindest folgende Strukturmodelle unterscheiden: Die Dritten sind anwesend. Die Dritten sind abwesend. Die Anwesenheit/Abwesenheit von Dritten ist temporalisiert gedacht – jetzt abwesend/zukünftig anwesend oder umgekehrt.25 Dadurch wird der gegenwärtige Vollzug von Interpretationen in einen Rahmen gestellt, der eine Fokussierung auf die Gegenwart des Vollzugs verunmöglicht, denn es werden Dritte als relevant unterstellt, die sich in anderen, d.h. vergangenen, zukünftigen oder parallell, hier/jetzt ablaufenden Vollzügen von Darstellung/Interpretation befinden. Der Bezug auf Tertius zwingt also zu der Annahme, dass es Akteure gibt, die sich in mehreren parallel ablaufenden Gegenwarten finden und diese kommunikativ explizieren.
1.
Basale Subjektivierung
Wenn man sich vor diesem Hintergrund dem Problem der Subjektivierung zuwendet, fällt auf, dass in modernen Gesellschaften der Ansatzpunkt für Subjektivierung nicht direkt in der Sozialdimension liegt. Denn die Grenzen des Kreises derjenigen, die in modernen Gesellschaften überhaupt für eine Subjektivierung in Frage kommen, werden anhand eines sachlichen Kriteriums gezogen. Für moderne Gesellschaften gilt, dass nur lebende Menschen soziale Personen sein können.26 Subjektivierungsanforderungen werden also nur an lebende Menschen gestellt. Wie diese Anforderung in einer basalen Weise gestellt wird, lässt sich besonders gut anhand kommunikativer Grenzsituationen herausarbeiten. Diese finden sich empirisch beobachtbar z.B. am Lebensanfang 25 | Vgl. G. Lindemann: Die Emergenzfunktion des Dritten. 26 | Vgl. G. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime.
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und am Lebensende. Die bisher vorliegenden empirischen Analysen stützen die folgende These: Die Grenzziehung erfolgt nicht anhand eines Kriteriums, das direkt der Sozialdimension entstammt, sondern anhand eines universalen sachlichen Kriteriums. Wenn ein menschlicher Körper sich in einer identifizierbaren Weise als lebendig genug zeigt, wird er als ein personaler Körper anerkannt, der kommuniziert. Bezogen auf die Grenzziehung am Lebensende zeigt sich dies an der Struktur der »Vitalindikation«.27 Um die Problematik zu verstehen, muss man sich Folgendes vergegenwärtigen: Jeder medizinische Eingriff in den Körper stellt rechtlich eine Körperverletzung dar. Der Unterschied zwischen einem Arzt und einem kriminellen Messerstecher besteht darin, dass im Fall eines ärztlichen Eingriffs, etwa einer Intubation,28 der Patient aus eigenem Willen heraus zugestimmt hat. Die Einstellung der Behandlung erfordert ebenfalls eine Willensentscheidung des Patienten. Für die Zustimmung oder Ablehnung der Behandlung wird der Patient auch verantwortlich gemacht. Wenn er der Behandlung zustimmt, muss der Patient für die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Kosten aufkommen. Wenn er gegen den Rat eines Arztes eine Behandlung beendet, muss er erklären, dass er die Verantwortung dafür übernimmt. Die Struktur der Vitalindikation zeigt nun eine seltsame Eigenart, denn es handelt sich um eine »absolute Indikation«.29 Darunter ist zu verstehen, dass ein Arzt in jedem Fall verpflichtet ist, einem menschlichen Körper, der sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet, auch unter Einsatz invasiver Maßnahmen zu helfen, die rechtlich den Tatbestand einer schweren Körperverletzung erfüllen. Genau dies darf der Arzt aber nur, wenn der Patient zugestimmt hat. Das sich daraus ergebende Problem wird durch Subjektivierung des bewusstlosen lebendigen Patientenkörpers gelöst. Der Körper muss sachlich als ein lebendiger Körper identifiziert werden. Wenn dies zweifelhaft ist, wird der Körper vorsorglich auf eine Intensivstation gebracht, wo eine genauere medizinisch-technische Diagnose erfolgen kann als an einem Unfallort.30 Wenn ein Körper als lebendiger menschlicher Körper kognitiv-sachlich erkannt wird, wird 27 | Lindemann, Gesa: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München 2002, S. 327f. 28 | Bei einer Intubation schiebt ein Arzt ein biegsames Rohr durch den Rachen in die Luftröhre, um ihn künstlich zu beatmen. Dies ist eine Notfallmaßnahme, die regelmäßig ergriffen wird, wenn ein Patient bewusstlos ist. Eine Intubation ist die Voraussetzung für eine Behandlung auf einer Intensivstation. Wer wach ist und selbständig atmen kann, ist zu gesund, um auf einer Intensivstation behandelt zu werden. 29 | Vgl. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 256. neu bearb. Aufl., Berlin/New York 1990, S. 779. 30 | Nach derzeitigem Stand der medizinischen Praxis wird es sich um eine Hirntoddiagnostik handeln (G. Lindemann: Die Grenzen des Sozialen, Kap. 6).
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er zugleich als soziale Person anerkannt.31 Die sachliche Feststellung impliziert eine basale Subjektivierung. Von dem als lebendig erkannten Körper wird erwartet, dass er leben will und dies kommuniziert. D.h.: Wenn ein menschlicher Körper sachlich als ein lebendiger Körper identifiziert wird, ist dies identisch damit, den lebendigen Körper als ein kommunikatives Symbol zu deuten, dessen semantischer Gehalt sich in die Worte übersetzen ließe: ›Ich möchte, dass mir geholfen wird und ich stimme zu, dass invasive medizinische Maßnahmen dazu angewendet werden.‹ Als lebendiger Körper teilt ein Mensch zumindest immer mit, dass er/sie leben möchte und dass ihm/ihr geholfen werden soll, wenn er/sie sich in einem lebensbedrohenden Zustand befindet.32 Der lebende menschliche Körper ist also eine zu subjektivierende X-Entität, insofern er lebt. Die subjektivierende kommunikative Deutung des lebenden Körpers vollzieht sich empirisch gut beobachtbar im Rahmen einer triadischen Struktur. Die Todesdiagnostik wird so vollzogen, dass die Deutung der Lebenszeichen vor Dritten vollzogen wird. Dies gilt verschärft, wenn der Körper als tot gedeutet wird. Es wird in der Diagnose eine Beobachtung durch Dritte antizipiert, die durch die Aufbahrungspflicht für Verstorbene in jedem Fall gesichert ist. Dadurch wird eine weitere Beobachtung auf Lebenszeichen hin ermöglicht.33 Bei schwierigen Fällen wird die Todesdiagnostik selbst als beobachtete Diagnostik durchgeführt, d.h., die Todesfeststellung wird wie im Fall der Hirntoddiagnostik vorgeschriebenermaßen nicht von einem Arzt durchgeführt, sondern immer von zwei Ärzten, die wechselseitig ihre Diagnostik beobachten. Weiterhin bestehende Zweifel werden durch Hinzuziehung weiterer Dritter bearbeitet.34 Besonders bei der Todesdiagnostik oder bei lebensentscheidenden Behandlungsentscheidungen steht die Arzt-Patient-Beziehung unter der Beobachtung medizinexterner Dritter, nämlich rechtlicher Akteure. Im Verhältnis zu den kommunikativen Vollzügen, die sich direkt im Krankenhaus beobachten lassen, sind die Bezüge auf Akteure des Rechts derart, dass sie abwesende Dritte, die gegenwärtig mit anderem beschäftigt sind, einbeziehen. In solchen triadisch strukturierten Geflechten werden die Prozeduren vollzogen, die einen menschlichen Körper sachlich als lebendig identifizieren, ihn damit als soziale Person anerkennen und subjektivieren. Es gibt gute empirische Indizien dafür, dass diese Struktur basaler Subjektivierung sich sinnentsprechend am Lebensanfang vollzieht. Hier geht es um 31 | Lindemann, Gesa: »Moralischer Status und menschliche Gattung – Versuch einer soziologischen Aufklärung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), Nr. 3, S. 359-376. 32 | G. Lindemann: Die Grenzen des Sozialen, S. 324ff. 33 | Lindemann, Gesa: Beunruhigende Sicherheiten. Zur Genese des Hirntodkonzepts, Konstanz 2003, S. 53f. 34 | G. Lindemann: Die Grenzen des Sozialen, Kap. 6.
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die Frage, ab wann ein menschlicher Körper als lebendig genug identifiziert werden kann, um eine Person zu sein, die eigenständig zu subjektiveren ist. Die Beziehung zwischen Fötus und dem körperlichen Subjekt, in dem der Fötus heranwächst, wird zunehmend unter die Beobachtung Dritter gestellt. Je länger der Fötus heranwächst, umso weniger können die Mutter bzw. die Eltern allein über das Weiterleben des Fötus entscheiden. Vielmehr wird diese Entscheidung unter die Kontrolle Dritter gestellt. Es bleibt aber bis zur Geburt letztlich doch Sache der Mutter bzw. der Eltern, über das Weiterleben des Fötus zu entscheiden. Der Fötus scheint nicht vor der Geburt generalisiert als eine soziale Person anerkannt zu sein, von der eine Subjektivierung zu erwarten ist. Erst wenn der Trennungsvorgang mütterlicher Körper/Fötus-Kind als Geburt interpretiert wird und das Geborene sich von sich aus als so lebendig zeigt, dass es außerhalb eines menschlichen Körpers mit intensivmedizinischer Unterstützung leben kann, gilt: Der geborene menschliche Kleinkörper ist als soziale Person anzuerkennen, seine physische Existenz wird zu einem kommunikativen Symbol und der lebendige menschliche Kleinkörper wird eigenständig subjektiviert.35 Auch hier erfolgt die sachliche Identifikation als lebendiger menschlicher Körper und die darauf aufbauende Subjektivierung im Rahmen triadisch strukturierter Deutungsprozesse.36 Vor der Geburt trifft all dies nicht zu, d.h., vor der Geburt bedeutet der Sachverhalt, dass es einen lebendigen Fötus gibt, nicht, dass dieser in einer generalisierten Weise als soziale Person anzuerkennen ist.
2.
Die Doppelstruktur moderner Vergesellschaftlichung und ihre Implikationen für das Programm der Subjektivierungsanalyse
Die Anerkennung als soziale Person legt den Kreis derjenigen fest, von denen Subjektivierungsleistungen zu erwarten sind. Die basale Subjektivierung beinhaltet, den lebenden menschlichen Körper in ein kommunikatives Symbol mit einem spezifischen semantischen Gehalt zu transformieren. Anspruchsvolle subjekthafte Leistungen im Sinne von Selbstbewusstsein, Intentionalität oder zu sich Stellung zu nehmen werden als Bedingung der basalen Subjektivierung nicht gefordert. Die Versachlichung der Grenzziehung und die damit implizierte Subjektivierung bilden die strukturelle Grundlage für eine spezifische gesell35 | Vgl. dazu Büsing, Sarah M.: Grenzziehungen am Lebensanfang – zur politischen Debatte um aktuelle Änderungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland, Master-Arbeit, CvO Universität, Oldenburg 2010 u. Schaeffer, Katja: Grenzziehungen am Lebensanfang – Eine qualitative Analyse der Bedeutung des Beisetzungsrituals im Kontext später Schwangerschaftsabbrüche, Master-Arbeit, CvO Universität, Oldenburg 2010. 36 | Vgl. ebd.
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schaftliche Differenzierungsform, der Differenzierung nach sachlich-funktional ausdifferenzierten Kommunikationszusammenhängen. Die an einem allgemeinen sachlichen Kriterium orientierte Form der Grenzziehung ermöglicht es, dass weltweit einheitlich anhand eines Kriteriums Kommunikationspartner identifiziert werden. Dies bildet die Voraussetzung dafür, Kommunikationen weltweit zu adressieren. Die Ordnung dieser Kommunikationen erfolgt primär nicht durch eine Orientierung an sozialen Hierarchien, sondern anhand einer Orientierung an differenzierten Kommunikationslogiken. In diesem Sinne lassen sich die Sachlogik wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer und rechtlicher Kommunikationen voneinander unterscheiden. Solche Festlegungen setzen voraus, dass die Deutung der Mitteilungshandlung durch Ego nicht einfach nur vollzogen wird, sondern dass im Vollzug der Deutung die aktuelle Mitteilung/Information auf einen übergreifenden Sachverhalt bezogen wird. Die Identifikation der Mitteilung als Beitrag zu einem die gegenwärtige Kommunikation bzw. die gegenwärtige Situation übergreifenden und überdauernden thematischen Sachverhalt erfordert eine Beobachtung der Kommunikation in deren Vollzug. In der beobachteten Beobachtung der Mitteilung/Information wird diese als Hinweis auf einen übergreifenden strukturierten Sachverhalt bezogen, von dem her die aktuelle Mitteilung ihren Sinn erhält.37 Auf diese Weise können in der Deutung der einen Mitteilung/Information zwei Aspekte unterschieden werden: Die Mitteilung/Information ist ein einzelnes Ereignis hier/ jetzt und zugleich an einem übergreifenden Muster orientiert. Im beobachteten Verstehen wird also eine Doppelselektion vorgenommen. Es wird verstanden, dass hier/jetzt eine Information mitgeteilt wird und die mitgeteilte Information wird als Element eines übergreifenden Musters verstanden. Wenn Ego eine derartige Interpretation mit Bezug auf Tertius vollzieht, unterstellt Ego, dass Alter diese Form der Doppelselektivität antizipiert hat.38
37 | Diese Verweisstruktur hat Karl Mannheim herausgearbeitet (ders.: »Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation«, in: ders., Wissenssoziologie, 2. Aufl., Neuwied/Berlin 1970, S. 91-154). Harold Garfinkel hat sie zur Analyse von Interaktionssequenzen verwendet (ders.: »Common sense knowledge of social structures, S. 77f). 38 | Dass jede Kommunikation in dieser Hinsicht doppelselektiv ist, hat auch Luhmann (ders.: Soziale Systeme, S. 188) gesehen. Er unterstellt dabei, dass die erforderliche Reflexivität bereits in der Ego-Alter-Dyade entstehen könne. Ego beobachtet die eigene Deutung aus der Perspektive von Alter Ego und würde damit die Deutung in einen Selektionszusammenhang integrieren. Auf dieser Grundlage können aber kaum dauerhafte situationsübergreifende Sachzusammenhänge entstehen. Dies haben Berger und Luckmann bei ihrer Analyse von Institutionalisierungsprozessen gezeigt (Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1980 [1966], S. 59ff.).
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Die strukturelle Relevanz ausdifferenzierter Sachzusammenhänge kann man nicht zuletzt daran erkennen, dass im Vollzug von Kommunikationen in generalisierter Weise spezielle Subjektiverungsanforderungen gestellt werden. Die Wirtschaft bringt eine ganze Reihe spezieller Subjektiverungsanforderungen hervor. D.h., wenn Akteure sich in wirtschaftlicher Weise aufeinander beziehen, werden spezifische Leistungsanforderungen von ihnen erwartet. Diese beziehen sich z.B. darauf, dass wirtschaftlich handelnde Akteure als solche erwartet werden, die sich in kalkuliert nutzenorientierter Weise aufeinander beziehen. Im Rahmen anderer Funktionszusammenhänge etwa dem Recht, der Familie oder der Wissenschaft werden andere Subjektiverungsanforderungen gestellt. Diese spezifischen Subjektivierungsanforderungen unterscheiden sich strukturell von der als basal beschriebenen Subjektivierung. Während die letztere als einzige konkrete Leistungsanforderung beinhaltet, dass sich ein menschlicher Körper als lebendig zeigt, beinhalten zumindest einige der funktionsspezifischen Subjektivierungen Leistungsanforderungen, die im klassischen Sinne Merkmale von Subjekten sind. Dazu gehören etwa rational kalkulieren, rational zu sich Stellung nehmen usw. Wer sich an der Sachlogik der Wissenschaft orientiert, muss die Erwartungen erfüllen, die an wissenschaftliche Rationalität gestellt werden. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich also durch zwei grundlegend unterschiedliche Subjektivitätsformen aus, die aber beide strukturell relevant sind für funktionale Differenzierung. Die beiden Subjektivitätsformen existieren auch nicht unabhängig nebeneinander, sondern implizieren einander wechselseitig. Dies zeigt sich an der spezifischen Form der kommunikativen Adressierung. E-A-T adressieren/interpretieren einander zum einen als lebendigen menschlichen Körper und zum anderen gemäß den Zwecksetzungen und der Sachlogik eines Funktionsbereichs. Diese Doppeladressierung nimmt beide Subjektivitätsformen in Anspruch. Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, dass eine Verkürzung auf eine der beiden Adressierungen zu einer Gefährdung funktionaler Differenzierung führen würde. Wenn Akteure vollkommen von den Relevanzen und Zwecksetzungen eines funktionalen Teilbereichs vereinnahmt würden, stünden sie nicht mehr für kommunikative Adressierungen zur Verfügung, die sich an der Sachlogik anderer Funktionsbereiche orientieren. Damit wäre strukturell das Muster funktionaler Differenzierung gefährdet. Damit EA-T kontinuierlich als Menschen für beliebige Kommunikationen adressierbar bleiben, muss es also ausgeschlossen werden, dass Akteure von der Sachlogik einzelner Funktionsbereiche vollständig vereinnahmt werden.39 Wenn sich Subjektivierung andererseits auf die basale Subjektivierung beschränken würde und E-A-T als Menschen nicht als zu aktivierendes Bereit39 | Vgl. G. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime und dies.: Die Emergenzfunktion des Dritten.
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schaftspotenzial für die Orientierung an beliebigen Sachlogiken interpretiert würden und wenn dieses Potenzial nicht auch zumindest teilweise erfolgreich mobilisiert werden könnte, würde dies ebenfalls zum Zusammenbruch des Strukturmusters funktionaler Differenzierung führen. Beide Subjektivierungsformen dürfen also nicht verabsolutiert, sondern müssen in einer aufeinander bezogenen Balance gehalten werden. Der kommunikative Doppelbezug, der in der Kommunikation funktional differenzierter Gesellschaften40 immer vorhanden sein muss, weist eine normative Strukturvorgabe auf. Die Beteiligten dürfen sich nicht nur anhand aktueller funktionsgebundener Zwecksetzungen aufeinander beziehen, sondern müssen immer zugleich anerkennen, dass das Gegenüber als lebendiger menschlicher Körper bereits mit einer Subjektivierungsanforderung belegt ist und dieser auf basale Weise insofern genügt, als der Sachverhalt ›lebendig-zu-sein‹ ihn bedingungslos in die Kommunikation einbezieht. Als derart subjektivierter Körper können E-A-T im Weiteren in beliebige andere Kommunikationen involviert werden. Diese jedem kommunikativen Vollzug immanente Grenze weist eine Ähnlichkeit mit dem Objektivierungsverbot auf, das Kant im kategorischen Imperativ formuliert.41 Der lebendige Mensch wird in der funktional differenzierten Gesellschaft zu einer funktionale Einzelzwecke konkreter Kommunikationen übersteigenden Größe, weil er die Bedingung der Ausdifferenzierung einzelner funktionaler Zweckordnungen ist. Insofern kann der Mensch unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht zu einem Zweck unter anderem werden. Solche Zwecke wären etwa die Wertsetzungen wirtschaftlichen, rechtlichen oder wissenschaftlichen Kommunizierens. Der Mensch ist nicht Mittel für diese Zwecke, vielmehr ist er selbst als der Zweck der kommunikativen Ordnung insgesamt zu verstehen; denn der Mensch bzw. die Menschheit bildet die stets zu reproduzierende Bedingung funktionaler Differenzierung. Es erscheint mir sinnvoll, diesen Sachverhalt mit dem Wort ›Menschenwürde‹ zu bezeichnen. Jeder sozialen Person der funktional differenzierten Gesellschaft kommt Menschenwürde zu, insofern der lebendige menschlicher Körper einer basalen Subjektivierung unterzogen wird. Ein derart subjektivierter menschlicher Körper ist ein Glied einer aus prinzipiell gleichartigen Individuen bestehenden Menschheit. In diesem Sinne kommt jedem lebendigen menschlichen Körper
40 | Vgl. G. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime. 41 | Der praktische Imperativ wird also folgender sein: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel [Hg.], Werkausgabe VII: Kritik der praktischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1974 [1785], S. 61).
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in gleicher Weise Würde zu,42 d.h., das Kriterium für die Zuerkennung von Würde ist identisch mit dem sachlichen Kriterium für die Zuerkennung des Status der sozialen Person. Es reicht aus, in einem gesellschaftlich anerkannten Sinn ein lebendiger Körper zu sein.43 Menschliche Körper, denen in dieser Weise Würde zukommt, sind frei, sich in beliebige funktional differenzierte Funktionsbereiche zu integrieren und zu versuchen, den dort geforderten leistungsorientierten Subjektivierungsanforderungen zu genügen. Demnach bildet Freiheit ebenso ein funktionales Erfordernis moderner Gesellschaften. Sie bezeichnet den Anspruch, sich im Prinzip in alle Kommunikationen funktionaler Teilbereiche involvieren zu können. Die einzige Vorbedingung besteht darin, die Erfordernisse, die durch die Sachlogik des jeweiligen Teilbereichs vorgegeben sind, erfüllen zu können. An der Wirtschaft kann jeder teilnehmen, sofern er/sie etwas zu verkaufen hat oder etwas kaufen kann. An der Wissenschaft kann jeder teilnehmen, sofern er/sie die erforderlichen Qualifikationen mitbringt. An der Medizin kann jeder teilnehmen, wenn er/sie krank oder heilbefugt im Sinne des Systems ist. Usw.
IV. S CHLUSSFOLGERUNG Die hier vorgeschlagene Perspektive unterscheidet zwischen sozialer Person und Subjekt i.S. von subjektivierter X-Entität. Soziale Personen sind alle diejeni42 | Stratifizierte Gesellschaften können darauf verzichten, allen Gliedern, die in den Vergesellschaftungsprozess involviert sind, eine gleiche Würde zuzusprechen, denn es kommt ja gerade auf die unterschiedlichen Statuspositionen an. Wenn es zweifelhaft ist, welcher Status einem Wesen zukommt, ist die einzig mögliche Reaktion in stratifizierten Gesellschaften, dass eine in der Hierarchie zuständige Stelle identifiziert wird, die den Zweifelsfall entscheidet. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür war etwa die Junta von Valladolid, bei der untersucht wurde, um was es sich bei den Indianern Südamerikas handelt. Diese Verhandlungen machen direkt die personalen Leistungen der fraglichen Entitäten zum Thema. 43 | Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den individualisierungstheoretisch gedachten Modernisierungstheorien von Durkheim und Luhmann, denn diese beziehen den Würdestatus der Person auf die Leistungsfähigkeit als individuelle Persönlichkeit (vgl. Lindemann, Gesa: »Die Würde des diesseitig lebendigen Menschen«, in: Antje Kapust/Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke (Hg.), Handbuch »Menschenwürde«, München 2012 [in Vorbereitung]). Sowohl Durkheim als auch Luhmann stellen in Rechnung, dass bei einem Mangel an personaler Leistungsfähigkeit der individuellen Persönlichkeit ein Würdeverlust erfolgt (Vgl. Durkheim, Émile: Der Selbstmord, Frankfurt a.M. 1983 [1898], S. 191 u. Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, Berlin 1999 [1965], S. 69).
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gen, die die Positionen von Ego-Alter-Tertius übernehmen können. Dies gilt für moderne wie für nichtmoderne Gesellschaften gleichermaßen. Nur die moderne Form der Grenzziehung beschränkt soziale Personen anhand des sachlichen Kriteriums lebender Mensch/anderes, d.h., nur lebende Menschen können die Positionen von Ego-Alter-Tertius übernehmen. Zusätzlich zeichnet sich die moderne Form der Vergesellschaftung durch Subjektivierung aus. Damit ist gemeint, dass diejenigen, die die Positionen von Ego-Alter-Tertius übernehmen, nicht nur als Kommunikanten anzuerkennen sind, sondern dass Ego-Alter-Tertius sich subjektiv für ihre kommunikativen Darstellungen verantwortlich machen und dies füreinander darstellen. Es zeigt sich, dass die subjektivierende Anerkennung als soziale Person einer modernen Gesellschaft gestuft erfolgt: Anerkennung als lebender Mensch (basale Subjektivierung) und Anerkennung als kommunizierendes Subjekt gemäß der Logik funktionaler Teilbereiche. Diese Analyse eröffnet eine subjektivierungstheoretische Perspektive auf funktionale Differenzierung, die beinhaltet, sich von einer Lieblingsannahme der Systemtheorie Luhmanns zu verabschieden, nämlich dass sich der Mensch in der Umwelt sozialer Systeme befindet. Es ist richtig, dass der Mensch nur partiell in funktionale Teilbereiche vergesellschaftet wird,44 dennoch ist der lebendige Mensch aus Fleisch und Blut als solcher das institutionalisierte Element der modernen Gesellschaft. Er wird als solcher kommunikativ integriert und subjektiviert. Die moderne Gesellschaft ist die erste Gesellschaft, die ausschließlich aus lebendigen Menschen als kommunikativen Operatoren besteht.45 Dieses Ergebnis steht in einem engen Zusammenhang mit der Aufdeckung der normativen Struktur funktionaler Differenzierung, nämlich der Institutionalisierung von Würde und Freiheit als normativen Prinzipien.46 Die Explikation gesellschaftsstruktureller Normvorgaben ermöglicht es, den normativen Aspekt der Subjektivierungsanalyse explizit zu thematisieren. Subjektivierung beschreibt die Bezüge auf Normen des Subjektseins. Die Aufdeckung solcher Normen wirkt wie von selbst normkritisch. Dieser Aspekt wird durch die Rhetorik einiger Ansätze deutlich in den Vordergrund gestellt. Dies gilt etwa für Butlers Rhetorik von »Unterwerfung« bzw. »Verwerfung«. Allerdings sucht man bei Butler vergeblich nach einer Begründung des kritischen Maßstabs der Kritik.47 Ähnliche Probleme finden sich etwa in der ethnosoziologisch orientierten Forschung zur Transsexualität. Analysiert wird die Subjek44 | Vgl. G. Lindemann: Die Emergenzfunktion des Dritten; G. Lindemann: Moralischer Status und menschliche Gattung. 45 | Vgl. G. Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Kap. 3; dies: Gesellschaftliche Grenzsysteme. 46 | G. Lindemann: Die Würde des diesseitig lebendigen Menschen. 47 | Graumann, Siegrid: »Anerkennung und Sorgebeziehungen«, in: Nico Lüdtke/Hironori Matsuzaki (Hg.), Akteur – Individuum – Subjekt, Wiesbaden 2011, S. 385-399.
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tivierung in einen Geschlechtsstatus hinein. Die damit einhergehenden Formen des Erlernens von überzeugenden Darstellungspraktiken wird einerseits sympathisierend nachvollzogen, aber die chirurgischen Veränderungen des Körpers, denen sich Frau-zu-Mann- und Mann-zu-Frau-Transsexuelle unterziehen, werden als »verkörperte Kastrationsdrohung« für potenzielle andere Geschlechtswechsler beschrieben.48 Dabei mutiert unter der Hand der natürliche Körper zu einem normativ schützenswerten Gut. Auf kritische Nachfragen nach einer Begründung dieser ›Norm‹49 erhält man allerdings keine Auskunft, sondern nur den Bescheid, dass der Autor eben dieser Meinung sei.50 Unexplizierte oder schlicht meinungsbasierte normative Aussagen lassen sich nicht mehr rational diskutieren. Es kann nur apologetisch Meinung gegen Meinung stehen. Bestenfalls kann man sich, wie an manchen Stammtischen üblich, darauf verständigen, dass jeder halt seine eigene Meinung hat, man sich deshalb aber doch bitte nicht streiten möge. Wenn man auch normative Sachverhalte einer kritischen Diskussion zugänglich machen möchte, ist es erforderlich, den eigenen Maßstab zu explizieren und ihn damit kritisierbar zu machen. In diesem Sinne verstehe ich die Explikation der normativen Strukturvorgaben ›Würde‹ und ›Freiheit‹. Damit ist keine universell rationale Begründung normativer Prinzipien geleistet, sondern eine historisch situierte ›Begründung‹. Aber auch auf einer solchen Basis können gesellschaftliche Prozesse normativ bewertet werden. Dabei muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich nicht um eine Kritik an der Struktur funktionaler Differenzierung selbst handelt, sondern nur um eine immanente Kritik, die auf die Selbstgefährdungen funktionaler Differenzierung aufmerksam macht. Diese ergeben sich z.B. durch eine totale neoliberale Ökonomisierung oder totale Politisierung gesellschaftlicher Kommunikation. Auf die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Probleme kann man begründetermaßen aufmerksam machen. Das ist nicht viel, aber immerhin mehr als bloße Apologie unexplizierter und/oder unbegründeter normativer Standards.
48 | Hirschhauer, Stefan: Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt a.M. 1993, S. 351f. 49 | Lindemann, Gesa: »Volkmar Siguschs ›unstillbare Suche‹ nach dem Guten oder warum die Transsexuellen moralisch homosexualisiert werden müssen«, in: Zeitschrift für Sexualforschung 5 (1992), S. 261-270; G. Lindemann: Das paradoxe Geschlecht, S. 296. 50 | Hirschauer, Stefan: »Über szientistische Tarnungen medizinischer Zuständigkeitsprobleme«, in: Zeitschrift für Sexualforschung 10 (1997), Heft 4, S. 324-338, hier S. 337.
Teil II
Persönlichkeit und geschichtliche Welt Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft Nikolaus Buschmann
»Was bedeutet die geschichtliche Welt für die Bildung der Persönlichkeit?«1 Mit dieser Frage verwies Friedrich Meinecke gegen Ende des Ersten Weltkrieges auf ein geschichtstheoretisches Grundproblem, das seine Konturen durch den Aufstieg der modernen Kultur- und Sozialwissenschaften um 1900 erhalten hatte. Sie wirft zugleich ein Schlaglicht auf die »Krise des Historismus«, die von Friedrich Nietzsche bis Ernst Troeltsch in unterschiedlichen Stoßrichtungen formuliert worden war; gemeint war zum einen der Historismus als ein konstitutives Moment der Moderne, zum anderen die Krise der Moderne selbst, die durch den Historismus ausgelöst worden sei.2 Die Bindung der historischen Erkenntnis an die Subjektivität des Betrachters hatte dem Historismus unter anderem den Vorwurf des erkenntnistheoretischen Solipsismus eingetragen.3 Damit war auch der Status des Subjekts in der Geschichte, das im Zuge der Säkularisierung des Denkens an die Stelle Gottes als Ursprung aller Ordnung getreten war, radikal in Frage gestellt.4 Meinecke zog der Kritik den Stachel, indem er den Historismus zu einem Epochenphänomen des 19. Jahrhunderts reduzierte; 1 | Meinecke, Friedrich: Persönlichkeit und geschichtliche Welt, 2. Aufl., Berlin 1923, S. 7. 2 | Oexle, Otto Gerhard: »Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne«, in: ders. (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932, Göttingen 2007, S. 11-116, hier S. 12. 3 | Jordan, Stefan: Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und Klassischem Historismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 156-166. 4 | O.G. Oexle: Krise des Historismus, S. 35f.; vgl. auch Schulin, Ernst: »Das Problem der Individualität. Eine kritische Betrachtung des Historismus-Werkes von Friedrich Meinecke«, in: Historische Zeitschrift 197 (1963), S. 102-133.
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zugleich versuchte er, den Begriff der ›Individualität‹ als Schlüsselfigur historischen Denkens weiterhin plausibel zu halten.5 Das damit verknüpfte Subjektkonzept bildete einen Gegenentwurf zu dem Postulat der Sozialwissenschaften, die strukturellen Ermöglichungsbedingungen menschlichen Handelns in den Fokus zu rücken – und damit die »intellektualistische« These zu untermauern, das Individuum bilde »nur den Schnitt- und Durchgangspunkt der verschiedenen sozialen Kräfte«, die für den Aufbau der freien Persönlichkeit keinen Raum ließen.6 In Meineckes Plädoyer für »die spontanen und unberechenbaren Elemente der menschlichen Freiheit«7 spiegelte sich das Anliegen, die »kollektivistische« Erkenntnis zu widerlegen, dass »der Mensch aus gemeinem Stoffe gemacht ist und die Gewohnheit seine Amme«, wie er mit spitzer Feder formulierte.8 Was er unter Berufung auf Goethe als »Persönlichkeit« auswies, könne sich nur unter der Voraussetzung entwickeln, dass diese als »Besitzer einer verborgenen Quelle spontanen Lebens« gedacht werde.9 So verwarf er auch die »positivistische« Auffassung, nach der die geschichtliche Welt – und damit auch der Mensch als das Subjekt der Geschichte – als kausales Produkt allgemeiner Verhältnisse und Kräfte aufzufassen sei. Gleichwohl räumte Meinecke ein, dass die »individualistische Richtung in der Geschichtswissenschaft«, der er sich zuordnete, mit der »steigenden Bedeutung der Massen« unter den Druck »kollektivistischer Erkenntnisse« geraten sei, das Individuelle der Geschichte also an seinen historischen Entstehungskontext zurückgebunden werden müsse. Der Historiker habe sich daher einer doppelten Problemstellung zu widmen: der Bedeutung der »geschichtlichen Welt für den Aufbau der Persönlichkeit« einerseits und der Bedeutung der »Persönlichkeit für die geschichtliche Welt« andererseits.10 In dem vorliegenden Aufsatz geht es um eine Konzeptualisierung des Subjekts, die – um in der Sprache Meineckes zu bleiben – eine Brücke zwischen »individualistischen« und »kollektivistischen« Akteurskonzepten schlägt. In der deutschen Geschichtswissenschaft wurde die Theoriedebatte lange von scheinbar unversöhnbaren Gegensätzen geprägt, in denen sich das Ringen um geschichtspolitische Deutungshoheit und die institutionelle Vormacht an den Universitäten abbildete. Erst die kulturgeschichtliche Debatte der letzten drei Jahrzehnte führte zu einer interdisziplinären Öffnung der Fachkulturen; sie 5 | Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S. 115f. 6 | Alle Zitate: F. Meinecke: Persönlichkeit und geschichtliche Welt, S. 10. 7 | Iggers, Georg: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 19f.; vgl. auch O.G. Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 95-101. 8 | F. Meinecke: Persönlichkeit und geschichtliche Welt, S. 11. 9 | Ebd., S. 12. 10 | Ebd., S. 8f.
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ist verbunden mit einer Diskussion über die Rückkehr des Subjekts in die Geschichte, das bei genauerer Betrachtung allerdings niemals so ganz verschwunden war, sondern vielmehr neu konzeptualisiert wurde (1). Im Rahmen dieser Entwicklung bietet der jüngst postulierte ›practical turn‹ innerhalb der Geschichtswissenschaft die Möglichkeit, Subjektivierung als ein prozessuales und zugleich relationales Geschehen zu begreifen, dessen Ort die gesellschaftliche Praxis ist. Studien, die diesen programmatischen Anspruch empirisch einlösen, liegen bislang zwar kaum vor, doch zeichnen sich die Umrisse eines solchen Forschungskonzepts in der gegenwärtigen Diskussion bereits ab (2). Praxistheorien kommt nicht nur das Verdienst zu, der Materialität des Sozialen wieder mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen, sie fassen auch den Stellenwert von Sprechhandlungen in anderer Weise als individualistische Handlungstheorien. So erscheint aus einer praxistheoretischen Perspektive zum einen die strikte Unterscheidung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln obsolet. Zum anderen lässt sich der Gebrauch von Sprache nicht auf die ›Intentionen‹ einzelner Akteure reduzieren, sondern wird erst in ihrem praktischen Vollzug auf der Deutungsfolie gesellschaftlich konventionalisierter Verstehensmuster interpretierbar (3). Fasst man Subjektivierung nicht einseitig als ein strukturell bedingtes Determinationsgeschehen auf, sondern auch als Selbst-Bildung ›eigensinniger‹ Akteure, so erscheint es sinnvoll, die praxeologische Konzeptualisierung des Subjekts erfahrungsgeschichtlich zu erweitern, um mit Blick auf Kontinuität und Wandel gesellschaftlich konventionalisierter Subjektformen die temporale Struktur und die darin eingelagerte immanente Spannung von Subjektivierungsprozessen offenlegen zu können. Ein solcher Zugang begreift menschliches Sprachhandeln, das in praxeologischen Theorieangeboten bisweilen ausgeblendet wird, als Ausdruck subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse, in denen zugleich die Reflexivität der Praxis zur Geltung kommt (4). Mit dem Erfahrungsbegriff wird indes keine Reifizierung eines sich selbst unmittelbaren Subjekts quasi durch die Hintertür vorgenommen; vielmehr dient die erfahrungsgeschichtliche Rahmung der praxeologischen Analyseoptik dazu, die historisch situierte Herausbildung von Subjektivität als ein individuell zuschreibbares und zugleich ›immer schon‹ in sozialkulturelle Formungen eingefasstes praktisches Erfahrungsgeschehen beobachtbar zu machen.
W IEDERKEHR DES S UBJEK TS ? Die terminologisch zwischen den Polen ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ aufgespannte Frage nach der Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft durchzieht die Positionskämpfe innerhalb des Fachs spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu einem ersten Höhepunkt gelangte die Auseinandersetzung mit der von Karl Lamprecht ausgelösten Kontroverse
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über eine »Kulturgeschichte«, die sich nicht mehr für Personen und Ereignisse, sondern im Rahmen eines »kausalgenetischen« Zugangs für »Gesetzmäßigkeiten« in der Geschichte interessierte.11 Nach 1945 wurde sie an der Frontlinie zwischen den Traditionshütern des Historismus und der sich an den deutschen Universitäten etablierenden Struktur- und Sozialgeschichtsschreibung fortgeschrieben. Einen weiteren Kulminationspunkt bildete der Historikerstreit über die ›Singularität‹ des Holocaust, der vom Richtungskampf zwischen ›Intentionalisten‹ und ›Strukturalisten‹ befeuert wurde, wobei geschichtspolitische Polemik und fachwissenschaftlicher Diskurs nicht zwingend zur Deckung kommen mussten.12 Der These Hans Mommsens von der »kumulativen Radikalisierung« des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, die sich den Intentionen einzelner Akteure zunehmend entzogen habe, stellten Autoren wie Raul Hilberg die Bedeutung antisemitischer Einstellungen für das Handeln (nicht nur) der nationalsozialistischen Führungselite entgegen.13 In der Folgezeit rückte die Frage nach der Täterschaft im Nationalsozialismus immer wieder in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen wie der öffentlichen Aufmerksamkeit. Weitere Marksteine dieser Kontroverse bildeten die Debatten über die Goldhagen-These14 und die vom Hamburger Institut für Sozialforschung initiierte Wehrmachtausstellung, die zum 50. Jahrestag des Kriegsendes eröffnet wurde.15 Auch hier ging es im Kern um die subjektiven Motive, die dem Tötungshandeln zugrunde lagen, sowie um den Stellenwert kollektiv geteilter »Legitimationsfiguren« (Walter Manoschek) für das Massenmorden im Zweiten Weltkrieg.16
11 | Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus, München 1992, S. 141. 12 | Zur Debatte über den Holocaust vgl. Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. 13 | Mommsen, Hans: »Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes«, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1976, Bd. 16, S. 785-790; Hilberg, Raul: »Vom Antisemitismus zur Judenvernichtung. Eine historiographische Studie zur nationalsozialistischen Judenpolitik und Versuch einer Interpretation«, in: ders., Nachdenken über den Holocaust, München 2007, S. 9-45. 14 | Goldhagen, Daniel Noah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Schoeps, Julius H. (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, 3. Aufl., Hamburg 1996. 15 | Heer, Hannes/Naumann, Klaus (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995; Hartmann, Christian/Hürter, Johannes/Jureit, Ulrike (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005. 16 | Manoschek, Walter: »›Gehst mit Juden erschießen?‹ Die Vernichtung der Juden in Serbien«, in: Heer/Naumann, Vernichtungskrieg (1995), S. 39-56, hier S. 44.
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Die von der Bielefelder Schule vorangetriebene Verbindung von Gesellschaftsgeschichte und historischer Soziologie war mit dem Anspruch verbunden, historische Wirklichkeit in ihren kausalen Zusammenhängen zu erfassen. Eng damit verknüpft war eine kritische Distanzierung von der Idealisierung des historischen (und des Historiker-)Subjekts durch den Historismus zugunsten einer dezidiert anti-hermeneutischen strukturanalytischen Geschichtsschreibung.17 Mit dem programmatischen Interesse an makrohistorischen Gesellschaftsanalysen gerieten individuelle Lebensgeschichten zwangsläufig aus dem Blickfeld; an ihre Stelle traten Großentitäten wie ›Adel‹, ›Bürgertum‹, ›Eliten‹ und ›Staat‹.18 Auch die französische Mentalitätengeschichte relativierte die Handlungsmacht des Individuums, indem sie den Blick auf langfristig angelegte Strukturen des Denkens und Fühlens lenkte, die sich der Verfügbarkeit der Akteure weitgehend entziehen. Menschliches Verhalten erscheint aus dieser Perspektive als Ausdruck mentaler Dispositionen, die über Generationen hinweg stabil bleiben können und allenfalls langfristigen Veränderungszyklen unterworfen sind. Der Mentalitätengeschichte geht es mit anderen Worten um das, was ein historisches Individuum mit anderen Menschen seiner Zeit gemeinsam hat. Ihre Ebene ist, so Jacques Le Goff, »die des Alltäglichen und des Automatischen, dessen, was den individuellen Subjekten der Geschichte entgeht, weil es den unpersönlichen Inhalt ihres Denkens ausmacht«.19 Das Unbehagen am Verschwinden des Subjekts in der Anonymität von Strukturen, Prozessen und Diskursen setzte in den 1980er Jahren eine Suchbewegung in Gang, die den historischen Akteur wieder stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Formuliert wurde es insbesondere von der Alltagsgeschichtsschreibung, die dem strukturgeschichtlichen Credo der Bielefelder Schule das Plädoyer für eine »Geschichte von unten« entgegenhielt.20 Auch die Historische Anthropologie stellte »den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der historischen Analyse«, wie Richard van Dülmen formuliert hat, und zielte damit auf die Subjektivität ge17 | Sarasin, Philipp: »Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte«, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 131-164, hier S. 134. 18 | Osterhammel, Jürgen: »Gesellschaftsgeschichte und Historische Soziologie«, in: ders./Dieter Langewiesche/Paul Nolte (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 82-102, hier S. 87. 19 | Le Goff, Jacques: »Eine mehrdeutige Geschichte«, in: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 18-32, hier S. 21. 20 | Ehalt, Hubert Ch. (Hg.): Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags, Wien 1984.
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schichtlicher Zusammenhänge.21 Beide Ansätze richteten ihren Fokus auf die lebensweltlich gebundene Praxis der sogenannten ›kleinen Leute‹, die zuvor nur im Aggregatzustand strukturell bedingter Milieus aufgetaucht waren.22 Das neu erwachte Interesse an der subjektiven Innenseite der Geschichte setzte eine Konjunktur kultur-, alltags- und erfahrungsgeschichtlicher Ansätze in Gang, die schließlich auch in sozialgeschichtliche Forschungskonzepte einzusickern begannen.23 Die Wiederkehr des Subjekts in der Geschichte erfolgte in der Folgezeit auf ganz unterschiedlichen Pfaden, so dass sich kein kohärentes Subjektkonzept aus der kulturgeschichtlichen Debatte rekonstruieren lässt.24 Jene Ansätze, die einer akteurszentrierten Handlungstheorie folgen, sind in eine nunmehr kulturalistisch runderneuerte Sozialgeschichte zurückgekehrt. Sie widmet subjektbezogenen Dimensionen der Geschichte inzwischen erheblich mehr Aufmerksamkeit, als es in der Vergangenheit der Fall war, indem sie etwa auf die Rekonstruktion historischer Lebenswelten und deren Deutung durch die Akteure blickt.25 Um zu verstehen, wie die Welt der historischen Subjekte beschaffen sei, so der Berliner Historiker Jörg Baberowski, müsse man über ihre Selbstwahrnehmung sprechen.26 Zur Zauberformel für die kulturalistische Er21 | van Dülmen, Richard: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln 2000, S. 32. 22 | Lüdtke, Alf (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. 1989. 23 | Sieder, Reinhard: »Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft?«, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 445-468. 24 | Füssel, Marian: »Die Rückkehr des ›Subjekts‹ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive«, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 141-159, hier S. 151. Zur Konzeptualisierung der Kulturgeschichte vgl. Hardtwig/Wehler: Kulturgeschichte Heute; Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2006; Berghoff, Peter/Vogel, Jakob (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004; Burke, Peter: Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt a.M. 2005; Tschopp, Silvia Serena/ Weber, Wolfgang: Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007; Kusber, Jan/ Dreyer, Mechthild/Rogge, Jörg/Hütig, Andreas (Hg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010. 25 | Kocka, Jürgen: »Wandlungen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte am Beispiel Berlins 1949 bis 2005«, in: Osterhammel/Langewiesche/Nolte, Wege der Gesellschaftsgeschichte (2006), S. 11-31, hier S. 25. 26 | Baberowski, Jörg: »Gibt es eine historische Wirklichkeit und wie können Historiker von ihr erzählen? Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Ethnologie«, in: Jens
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weiterung der Geschichtswissenschaft avancierte der berühmte Satz von Clifford Geertz, nach dem der Mensch ein in »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe« verstricktes Wesen sei, und das damit verknüpfte Konzept einer »Dichten Beschreibung«.27 Marian Füssel führt den Erfolg dieses modischen Etiketts unter anderem auf das Anliegen zurück, neo-historischem »Einfühlen« und quellennahem »Nacherzählen« theoretische Legitimität zu verleihen.28 Geertz wäre in einer solchen Lesart freilich völlig missverstanden, verweist er doch gerade auf die Unabschließbarkeit von Kultur als einer Praxis, die ihr jeweiliges Bedeutungsgefüge im Akt des Webens überhaupt erst hervorbringt. Sie entschlüsselt sich nicht, wie schon Wilhelm Dilthey wusste, auf dem Weg der Introspektion, da sie keine mentalen Strukturen repräsentiert, sondern vielmehr den Kontext bildet, mit dem Handlungen, Akteure und Institutionen beschreibbar werden.29 An diese Definition von Kultur knüpften neben alltagsgeschichtlichen Ansätzen auch diskursanalytische Konzeptualisierungen des historischen Subjekts an. Die postmoderne Theoriebildung sperrt sich gegen die akteurszentrierte Interpretation menschlichen Handelns und verweist stattdessen auf die Eigenlogik kultureller Zuschreibungsmechanismen.30 Das solchermaßen ›dezentrierte‹ Subjekt ist als ein offener Prozess konzeptualisiert, der die personale Identität gleichsam verflüssigt, was im Umkehrschluss nicht bedeuten muss, Subjektivität auf einen reinen ›Diskurseffekt‹ zu reduzieren. Vielmehr eröffnet sich im Anschluss an Autoren wie Michel Foucault die Möglichkeit, Subjektivierung als historisch situierte Verschränkung von gesellschaftlichen Machtrelationen und Wissensformen zu analysieren.31 Das im Spätwerk Foucaults skizzierte Forschungsprogramm folgt der Überlegung, dass die Unterwerfungsmacht des Hacke/Matthias Pohlig (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 109-129, hier S. 100. 27 | Geertz, Clifford: »Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur«, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983, S. 7-43, hier S. 9. 28 | M. Füssel: Die Rückkehr des ›Subjekts‹, S. 146. 29 | Barberowski, Jörg: »Dichte Beschreibungen. Geschichte und Ethnologie«, in: ders., Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, S. 174-189. 30 | Reichardt, Sven: »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«, in: Sozial.Geschichte 22 (2007), S. 43-65, hier S. 44. 31 | Krasmann, Susanne: »Gouvernementalität. Zur Kontinuität der Foucaultschen Analytik der Oberfläche«, in: Jürgen Martuschak (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 79-95, hier S. 87-95. Vgl. auch Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M. 2007.
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Dispositivs immer auch Möglichkeitsräume individueller Selbstformung eröffnet, denn sie ist auf reflexions- und handlungsfähige Subjekte angewiesen, um sich selbst aufrechtzuerhalten. Studien zur Gouvernementalität moderner Gesellschaften halten dabei meist am »ontologischen Primat der Macht« (HansHerbert Kögler) fest: Sie gehen davon aus, dass das Subjekt selbst noch in seiner Widerständigkeit zur Stabilisierung einer Ordnung beiträgt, da Gegenbewegungen Führungsprogramme zwar infrage stellen können, genau damit aber auch deren Modifizierung und Erneuerung – sprich Optimierung – unterstützen.32 Eine solche Analyseoptik läuft freilich Gefahr, Subjekt-Bildung in erster Linie in ihrer konstituierten und weniger in ihrer konstituierenden Dimension in den Blick zu nehmen, wie Stefanie Graefe jüngst anmerkte. Eine Konzeptualisierung von ›agency‹ jenseits intentionalistischer Handlungstheorien müsse vielmehr das Menschengemachte der Gouvernementalitäten, Diskurse und Materialitäten und deren Veränderbarkeit herauspräparieren. Sie plädiert deshalb dafür, das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Unterwerfung und Handlungsfähigkeit analytisch fruchtbar zu machen, ohne »theoriepolitische« Vorentscheidungen für die eine oder die andere Seite zu treffen.33
P RA XISTHEORETISCHE A NSÄTZE IN DER G ESCHICHTSWISSENSCHAF T Eine hybride Mittelstellung zwischen den genannten Positionen nehmen praxistheoretische Ansätze ein, die über die Rezeption prominenter Autoren wie Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und – mit einigen Abstrichen34 – Michel Foucault allmählich auch in die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft Einzug hielten. In ihrer doppelten Frontstellung gegen akteurszentrierte Handlungstheorien einerseits und strukturfunktionalistische Ansätze andererseits beantworten Praxistheorien die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in einer Weise, die auch für die Frage nach dem Subjekt in der Ge-
32 | Vgl. dazu Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 33 | Graefe, Stefanie: »Effekt, Stützpunkt, Überzähliges? Subjektivität zwischen hegemonialer Rationalität und Eigensinn«, in: Johannes Angermüller/Silke van Dyk (Hg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M. 2010, S. 289-313. 34 | Vgl. insbesondere die über das Ziel hinausschießende, aber nichtsdestotrotz einflussreiche Foucault-Kritik von Wehler, Hans-Ulrich: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 45-95; demgegenüber Brieler, Ulrich: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln 1998.
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schichte fruchtbar gemacht werden kann, indem sie auf die relationalen und prozessualen Dimensionen der Subjekt-Bildung blicken. Der methodologische Mehrwert praxistheoretischer Ansätze für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen wird innerhalb des Fachs bislang kontrovers diskutiert. Auch wenn Autoren wie Jürgen Osterhammel dafür eintreten, die gängige Annahme einer interessengeleiteten Zweckrationalität menschlichen Handelns zugunsten eines praxeologischen Modells situativ gerahmter Problemlösung zu ersetzen,35 spielte dieser Zugang in der kulturgeschichtlichen Debatte der letzten drei Jahrzehnte meist nur eine untergeordnete Rolle.36 Manche Autoren zweifeln aufgrund des angeblich ›präsentistischen‹ Forschungskonzepts an seiner Brauchbarkeit für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen oder sprechen ihr, wie der Bochumer Zeithistoriker Rüdiger Graf, die Fähigkeit zur Synthese- und Hypothesenbildung weitgehend ab. Graf hält praxeologische Theorieangebote für verzichtbar und empfiehlt seinem Fach, sich stattdessen wieder auf die »methodisch-theoretischen Basisoperationen der Geschichtswissenschaft« zu konzentrieren. Gemeint sind Heuristik, Begriffsexplikation, Bestimmung des Quellenkorpus, Untersuchungsmethoden, Auswahl der Darstellungsformen – also die klassischen Versatzstücke geschichtswissenschaftlicher Propädeutik.37 Von einem ›practical turn‹ ist die Geschichtswissenschaft also weit entfernt. Gleichwohl lässt sich das pauschale Verdikt Grafs zurückweisen, wenn man die neuere Forschung in den Blick nimmt. Die Leistungsfähigkeit, die Graf der Praxeologie abspricht, beginnt sie insbesondere auf jenen Feldern unter Beweis zu stellen, die klassischerweise zu den Domänen der Sozialgeschichte zählen. Hier zeigt sich, wie um praxeologische Fragestellungen erweiterte Forschungskonzepte den Blick für innovative Interpretationen vermeintlich bekannter Sachverhalte weiten können. So konnte Sven Reichardt in einer international vergleichenden Studie zeigen, dass die faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland, ganz im Unterschied zu Verbandsnationalisten und Kommunisten, ihr besonderes Gepräge durch die Habitualisierung von Gewalt entwickelten. Programmatische Zielsetzungen und politische Strategien spielten demgegenüber zwar keine untergeordnete Rolle, bildeten aber eben nur einen
35 | J. Osterhammel: Gesellschaftsgeschichte und historische Soziologie, S. 101. 36 | Vgl. beispielsweise Barberowski, Jörg: Der Sinn der Geschichte, München 2005; Daniel, Ute: Kompendium der Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselworte, Frankfurt a.M. 2001. 37 | Graf, Rüdiger: »Was macht die Theorie in der Geschichte? ›Praxeologie‹ als Anwendung des ›gesunden Menschenverstandes‹«, in: Jens Hacke/Matthias Pohlig (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 109-129, hier S. 127-129.
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Faktor der von Reichardt beschriebenen Gewaltkultur.38 Sein Ansatz, den Ländervergleich auf die Ebenen der sozialen Praxis zu verlagern, ist zu Recht als »Königsweg« methodischer Innovation bezeichnet worden.39 Reichardts Arbeit wirft zugleich die Frage auf, wie der theoretische Anspruch, der mit einem praxeologischen Zugang erhoben wird, im Umgang mit dem empirischen Material eingelöst werden kann. So ergänzt Reichardt seine organisationsgeschichtliche Strukturanalyse um eine mikrosoziologische Analyse der Alltagskultur, die mit den Selbstauslegungen der Akteure verschränkt wird; dabei bezieht er etwa die symbolische Praxis der Namensgebung auf bestimmte Lebensführungskonzepte, die innerhalb der Kampfverbände vorherrschten, oder leuchtet deren Organisationsprinzipien in den kleinräumigen Einheiten von Nachbarschaften, verwandtschaftlichen Beziehungen und Freundschaften aus, um so das Portrait einer Kleingruppenmentalität zu erstellen. Die Subjektivierung junger Männer zu »faschistischen Kampfbündlern« erfolgte demnach über deren sukzessive Verstrickung in eine Gewaltkultur, die durch die Selbstdynamisierung gewalttätiger Aktionen, den Konformitätsdruck der Gruppe und die stete Präsenz anerkannte Autoritätspersonen immer weiter verfestigt wurde.40 Eine praxeologische Untersuchungsperspektive nimmt auch die Arbeit von Thomas Welskopp über die Frühgeschichte der deutschen Sozialdemokratie ein. Welskopp untersucht nicht nur, wie das in sozialgeschichtlichen Untersuchungen üblicherweise geschieht, deren Organisationsstruktur, Mitgliederbasis und Programmatik, sondern auch die politische und symbolische Alltagspraxis der Arbeitervereinsbewegung. Auf diese Weise kann er belegen, dass diese nicht nur Produkt, sondern auch Motor der Klassenbildung war. Die sozialdemokratischen Vereine waren Teil einer radikaldemokratischen Sammlungsbewegung, deren Leitbild nicht der ›Proletarier‹ war, sondern der ›Citoyen‹. Die Sozialdemokratie ging mit anderen Worten der Arbeiterklasse als einer ökonomisch bedingten gesellschaftlichen Formation voraus; sie etablierte sich als radikaldemokratische Volksbewegung, deren Integrationsanspruch mit einem Klassenmodell nicht zu verstehen ist.41 38 | Reichardt, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. 39 | So Charlotte Tacke in ihrer Rezension zu S. Reichardt: Faschistische Kampfhunde, in: H-Soz-u-Kult (19.11.2002), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ id=1416&t ype=rezbuecher&sor t=datum&order =down&search=Charlot te+Tacke, abgeru fen am 14.08.2012. 40 | S. Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 390-534, hier S. 475. 41 | Welskopp, Thomas: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000. Vgl. dazu die Rezension von Martin Lengwiler in: H-Soz-u-Kult (28.02.2002), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/
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Diese Interpretation erinnert an die Thesen, die der britische Historiker Edward P. Thompson 1963 in seinem berühmten Buch über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse präsentierte, dessen Originaltitel The Making of the English Working Class den methodischen Zugang der Studie treffender wiedergibt als die deutsche Übersetzung.42 Thompson verteidigte, verkürzt formuliert, den Praxeologen Marx gegen den materialistischen Determinismus seiner Adepten, indem er Wirklichkeit, wie es in den Feuerbach-Thesen heißt, als »sinnliche menschliche Tätigkeit« und damit als den eigentlichen Ort des Sozialen begreift.43 So unternimmt das Buch auch keine ökonomische Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern untersucht die Konfrontation historischer Akteure mit der Herausbildung einer neuen ökonomischen Ordnung. ›Kultur‹ wird hier – ganz im Sinne von Marx – als eine Praxis begriffen, die ihren Ort in den Spannungsfeldern sozialer, politischer und ökonomischer Konflikte hat.44 Bemerkenswert an der Rezeption dieses bahnbrechenden Buches ist, dass es in Teilen der deutschen Geschichtswissenschaft zwar häufig zitiert, für ein Werk seiner Bedeutung aber wohl recht selten gelesen wurde; für die Übersetzung ins Deutsche ging ein Vierteljahrhundert ins Land, die erste und einzige Auflage ist längst vergriffen. Für eine praxistheoretisch informierte Geschichtswissenschaft ist die Arbeit Thompsons gleichwohl eine unverzichtbare Fundgrube. In ihrem Interesse für kollektive Handlungsmuster und Alltagsroutinen ähneln praxistheoretische Ansätze der Mentalitätengeschichtsschreibung, die sich, wie Jacques Le Goff treffend formuliert hat, der »Geschichte der Langsamkeit in der Geschichte« verschreibt.45 Während es diesem Ansatz aber in erster Linie um die Geschichtsmacht kognitiver Dispositionen geht, blickt die Praxeologie vornehmlich auf den impliziten Handlungssinn der Akteure.46 Damit ist ein Problem aufgeworfen, das für die Konzeptualisierung eines kulturwissenschaftlich informierten Handlungsbegriffs von zentraler Bedeutung ist, rezensionen/id=1175&type=rezbuecher&sort=datum&order=down&search=Martin+ Lengwiler, abgerufen am 14.08.2012. 42 | Thompson, Edward P.: The Making of the English Working Class, London 1963; dt.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a.M. 1987. 43 | Marx, Karl: »Ad Feuerbach«, in: MEW, Berlin 1969, 3. Bd., S. 5f. 44 | Medick, Hans: »E.P. Thompson und sein ›empirisches Idiom‹. Bemerkungen zu Werk und Wirkung eines außergewöhnlichen Historikers«, in: Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Michael Mitterauer zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1997, S. 69-82. 45 | Le Goff, Jacques: »Eine mehrdeutige Geschichte«, in: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1989, S. 18-32, hier S. 23. 46 | S. Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 60.
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nämlich das Verhältnis von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen sozialtheoretisch und methodologisch fruchtbar zu machen. Oder um es mit dem Althistoriker Egon Flaig polemisch zuzuspitzen: »Wenn die Praxis einer Logik folgt, die mit dem, was Akteure sagen, wenig zu tun hat, dann rutscht jenem Teil der Mentalitätengeschichte der Boden unter den Füßen weg, der aus Meinungen und Diskursen stabile Mentalitäten abzuleiten bemüht war.« 47
Im umgekehrten Sinn gilt das freilich auch für jene Theorieangebote, welche die Bedeutung der Sprache für die Herstellung von sozialer Intelligibilität mit dem Hinweis auf den impliziten Charakter praktischen Wissens ausblenden, ohne begründen zu können, wie ein solches Wissen zur Reflexion kommt und damit (durch die Akteure selbst oder die Wissenschaft, die es ins Visier nimmt) explizit gemacht wird – wenn nicht durch Sprache, die in Form des Sprechens und Schreibens ihrerseits eine maßgebliche Dimension sozialer Praxis darstellt.
P ERSPEK TIVEN EINER PR A XEOLOGISCHEN A NALYSEOP TIK Praxeologische Theorieangebote verstehen sich als Alternativen zum methodologischen Individualismus akteurszentrierter Handlungstheorien und grenzen sich zugleich von der strukturalistischen Auslöschung des Subjekts ab. Sie interpretieren menschliches Handeln weder als materiellen Ausdruck subjektiv gemeinten Sinns noch als Manifestation struktureller Bedingungen, sondern als einen »nexus of doings and sayings« (Theordore R. Schatzki), der in kollektiv verfügbares Wissen eingebettet ist und dieses zugleich hervorbringt. Das Soziale vollzieht sich aus dieser Perspektive in der Verschränkung von körperlichen Routinen und praktischem Können einerseits und dem Aneignen und Deuten dieser Praktiken andererseits. Damit ergeben sich auch neue Zugänge für die Analyse von Sprachhandlungen. Wie Sven Reichhardt betont, liegt der Erkenntnisgewinn eines solchen Ansatzes gegenüber klassischen Diskursanalysen unter anderem darin, dass erst der performative Gebrauch diskursiver Aussagesysteme klären kann, welche Bedeutung einem Diskurs im praktischen Wissen der Akteure zukommt.48 In einer praxeologischen Perspektive erscheint die strikte Unterscheidung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln obsolet. Beide werden als Bestandteile sozialer Praktiken aufgefasst, denen eine je spezifische Intelligibi47 | Flaig, Egon: »Habitus, Mentalitäten und die Frage des Subjekts. Kulturelle Orientierungen sozialen Handelns«, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 356-371, hier S. 360. 48 | S. Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 54-56.
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lität und Wirkungsweise zu eigen ist. Diese Denkfigur findet sich bereits in der Sprechakttheorie Austins und Searles, auf die sich einer der führenden Köpfe der Cambridge School of Intellectual History bezieht, der britische Ideenhistoriker Quentin Skinner.49 Skinner interessiert sich dafür, wie Menschen mit den konventionalisierten Strukturen der Sprache umgehen, sie reproduzieren, aber auch transformieren. Texte haben für ihn gleichsam den Status ›erstarrter‹ Sprechakte. Die Relevanz der Sprechakttheorie für die Interpretation literarischer Texte liegt also darin, diese als Ausdrucksformen sozialer Handlungen zu begreifen. Ihre Bedeutung erschließt sich demnach nicht über die Rekonstruktion von Ideensystemen, sondern über die Intentionen, die ihrer Produktion sowie ihrer Rezeption zugrunde liegen.50 Ausgehend von der Einsicht, dass Intentionen nicht introspektiv erfasst werden können, schlägt Skinner eine Analyse der sprachlichen und ideologischen Konventionen vor, die zu einer bestimmten Zeit vorherrschten. Jedes Handeln ist also nur in Bezug auf das jeweilige Normengefüge interpretierbar, das mit diesen Konventionen korrespondiert. Skinner hält dabei am Begriff des Autors fest; anders als strukturalistische Ansätze fasst er ihn nicht als eine bloße Chiffre im intertextuellen Diskursgewebe, sondern als einen Akteur, der »die Bausteine des von ihm bewohnten Sprachgebäudes neu zusammenstellt, ihre Bedeutung tatkräftig verändern kann«.51 Dieses Akteurskonzept weist, bei allen Unterschieden, deutliche Parallelen zu den subjektivierungstheoretischen Überlegungen Judith Butlers (die ebenfalls sprechakttheoretisch argumentiert) und Michel Foucaults auf, von dem sich Skinner gleichwohl abgrenzt. Die Bedeutung einer Handlung zu verstehen, heißt für Skinner, die in ihrem Kontext angesiedelten Konventionen herauszuarbeiten, die den Sprachgebrauch durchdringen und diesen für andere Teilnehmer verständlich machen. Intentionen bilden in diesem Modell keine unabhängigen Variablen, denen eine irgendwie ›ursprüngliche‹ kausale Qualität zukommt, sondern sie sind eingebettet in den Bedeutungskontext, innerhalb dessen sich eine Sprachhandlung vollzieht und der durch diese gleichsam fortgesponnen wird. Sie verweisen also nicht auf eine Wirklichkeit des Autors jenseits der Sprache und des Sprechens; ihre
49 | Wittrock, Björn: »Menschliches Handeln, Geschichte und sozialer Wandel. Rekonstruktion der Sozialtheorie in drei Kontexten«, in: Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt a.M. 2011, S. 343-375, hier S. 363-369. 50 | Skinner, Quentin: »Hermeneutics and the Role of History«, in: New Literary History 7 (1975), S. 209-232, hier S. 212. 51 | Heinz, Marion/Ruehl, Martin: »Nachwort«, in: Quentin Skinner, Visionen des Politischen, hg. v. Marion Heinz u. Martin Ruehl, Frankfurt a.M. 2009, S. 253-286, hier S. 267.
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Identifikation ist vielmehr Bestandteil eines Interpretationsprozesses, »der eine Erklärung, ob kausal oder nicht, überhaupt erst möglich macht«.52 Skinner wurde für sein Konzept einer rein diskursiven Kontextualisierung von Sprechakten scharf kritisiert, da es politische, ökonomische und soziale Einflüsse auf das Sprachhandeln der Akteure unberücksichtigt lasse.53 Unabhängig davon sind seine Überlegungen über das Verhältnis von ›social meaning‹ und ›social action‹ für eine praxistheoretische Perspektive insofern anschlussfähig, als sie den Begriff der Intention nicht individualistisch verkürzen, sondern auf die sozialkulturell geformte Intelligibilität menschlichen Handelns beziehen: Intentionalität ist demnach keine Eigenschaft autonom handelnder Akteure, sondern bildet als »teleoaffektive Struktur« (Theodore R. Schatzki) eine präfigurierte Dimension der sozialen Praxis. Dem praxeologischen Theorem der ›öffentlichen Sichtbarkeit‹ liegt die Annahme zugrunde, dass die in Sprache, Körperbewegungen und Artefakten vollzogenen Praktiken an soziale Kategorien des Verstehens gebunden sein müssen, um von den Akteuren als ›sinnhaftes Verhalten‹ interpretiert werden zu können. Voraussetzung für das Verstehen der Praxis ist wiederum der Erwerb praktischer Intelligibilität, die durch die Teilnahme an Praktiken vermittelt und bestätigt wird. Die über Praktiken konstituierte Öffentlichkeit ist demnach an einen Hintergrund sozial konventionalisierter und zugleich praktisch erworbener Fähigkeiten und Wahrnehmungsweisen geknüpft, wie sich mit Jörg Volbers und Robert Schmidt festhalten lässt.54 Die These von der öffentlichen Sichtbarkeit der Praktiken sollte jedoch nicht zu dem präsentistischen Fehlschluss verleiten, praxistheoretische Untersuchungen müssten methodisch auf die ko-präsente Beobachtung lokaler Settings angelegt sein. Begreift man Sozialität als Verkettung von Praktiken über Raum und Zeit hinweg, so wird deutlich, dass diese immer auch an Bedingungen gebunden sind, die sich vermeintlich ›unmittelbarer‹ Beobachtung entziehen. So wird in der aktuellen Theoriedebatte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Öffentlichkeitsthese »nicht nur quer zur unproduktiven und missverständlichen Mikro-Makro-Dichotomie« liege und »sich auch nicht in den mit dieser Unterscheidung verquickten Gegensatz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einordnen« lasse. Vielmehr sei die Praxissoziologie »gerade mit ihrer Öffent-
52 | B. Wittrock: Menschliches Handeln, S. 368. 53 | M. Heinz/M. Rühl: Nachwort, S. 273f. Vgl. auch Shapiro, Ian/Wendt, Alexander: »The Difference that Realism Makes. Social Science and the Politics of Consent«, in: Politics and Society 20 (1992), S. 197-223. 54 | Schmidt, Robert/Volbers, Jörg: »Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip. Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme«, in: Zeitschrift für Soziologie 40 (2011), S. 3-20, hier S. 4.
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lichkeitsannahme darauf ausgerichtet, diese Gegensätze und die mit ihnen verbundenen epistemologischen Hindernisse zu unterlaufen.«55 Wenngleich die Einnahme einer praxistheoretischen Perspektive also keineswegs die Anwesenheit des Beobachters voraussetzt, was einen historischen Zugang von vorneherein ausschlösse, stellt sich Historikern das Problem, den Erkenntnisgegenstand ›Praxis‹ beobachtbar zu machen, doch in anderer Weise als jenen Disziplinen, die sich des methodischen Instrumentariums der empirischen Sozialforschung oder der Ethnomethodologie bedienen. Historiker haben es nicht mit Praktiken in actu zu tun, können also nicht über teilnehmende Beobachtung, Videoanalysen oder Interviews empirische Daten produzieren, sondern sind darauf angewiesen, das vorhandene Material einer praxeologischen Re-Lektüre zu unterziehen, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle von menschlichen Körpern und Artefakten für das Einüben und Aufführen sozialer Praktiken richten und das Verhältnis kollektiver Deutungsmuster und individueller Sinnzuschreibungen zu bestimmen versuchen.56 Das Interesse kann sich dabei ebenso auf Subjektkonstruktionen in Wissenschaft, Kunst und Kultur wie gesellschaftliche Disziplinierungspraktiken oder die Narrativierung von Lebensläufen in Ego-Dokumenten richten. Autobiografische Quellen als soziale Praxis zu begreifen, würde dann gerade nicht bedeuten, sie als unmittelbare Repräsentationen menschlicher Auffassungen und Einstellungen zu lesen, sondern den Akt des Schreibens als gesellschaftliches Handeln im Kontext sozialer Netzwerke zum Gegenstand der Beobachtung zu machen. Wie Gabriele Jancke in ihrer Studie über Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit zeigen kann, erweisen sich Selbstbeschreibungen in einer solchen Analyseoptik weniger als ungefilterter Ausdruck individueller ›Subjektivität‹, sondern vielmehr als strategisch motivierte Praktiken, die der Beziehungslogik frühneuzeitlicher Klientelbeziehungen entspringen.57 Wie die Konturen eines praxeologischen Forschungskonzepts aussehen könnten, führt Andreas Reckwitz in seinen Untersuchungen über das »hybride Subjekt« vor. Reckwitz erfasst die Subjektkulturen der Moderne nicht entlang ihrer ideengeschichtlichen Entwürfe, wie das etwa in Charles Taylors Buch über die neuzeitliche Auffassung des Selbst geschieht,58 sondern fragt nach den Alltagspraktiken, durch die bestimmte Subjektformen hervorgebracht, stabilisiert und trainiert werden. Die Analyse der gesellschaftlich relevanten Diskurse 55 | Alle Zitate: R. Schmidt/J. Volbers: Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip, S. 6. 56 | M. Füssel: Die Rückkehr des ›Subjekts‹, S. 154f. 57 | Jancke, Gabriele: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Köln 2002. 58 | Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996.
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wird dabei nicht ausgeklammert, sondern mit der Analyse dieser Praktiken verknüpft – etwa der ökonomischen Praktiken der Arbeit, der Praktiken persönlicher und intimer Beziehungen sowie der Technologien des Selbst, in denen das Subjekt ein Verhältnis zu sich selbst gewinnt. Reckwitz geht es um die Identifikation »basaler Homologien« der Subjektformierung, die quer zu den funktionalen Differenzierungsprozessen moderner Gesellschaften verlaufen und in der Heterogenität der genannten Alltagspraktiken aufgesucht werden.59 Reckwitz legt sein Augenmerk allerdings vor allem auf die Verkörperung historisch vorgegebener Subjektformen und deren Reproduktion in routinisierten Handlungsmustern, weniger auf den Aspekt der ›eigensinnigen‹ Selbst-Bildung von Subjekten, so dass die Reibungsflächen zwischen den feldspezifischen Anforderungen an das Subjekt und den ›mitgebrachten‹ Dispositionen der Akteure kaum in den Blick geraten.60
E RFAHRUNG UND P R A XIS Auf den ersten Blick scheinen praxeologische Theorieangebote nur bedingt für subjektivierungstheoretische Fragestellungen anschlussfähig zu sein, weil sie – zumal in einer bestimmten Lesart des Theorieangebots Pierre Bourdieus – dazu neigen, die soziale Ordnung als eine dem Bewusstsein nicht zugängliche Struktur zu denken, die gleichsam »hinter dem Rücken« der Menschen wirkt.61 Das Subjekt wird auf diese Weise zu einer residualen Größe, die sich dem (reflexiven) Zugriff der Akteure weitgehend entzieht; die Möglichkeit einer Selbst-Bildung des Subjekts erscheint in einer solchen Perspektive von vornherein ausgeschlossen. Demgegenüber ist eingewandt worden, dass das Verhältnis von Habitus und Feld in der sozialen Praxis nicht einfach nur mechanisch reproduziert, sondern auch durch den ›Eigensinn‹ der Akteure bestimmt wird und dadurch prinzipiell veränderbar ist.62 Menschen ist ein solcher Eigensinn allerdings nicht naturhaft mit auf den Weg gegeben. Wie Alf Lüdtke betont, 59 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 16f. 60 | Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 61 | Volbers, Jörg: Praxis als Erfahrung. Zur Philosophie des Pragmatismus. Unveröffentlichtes Manuskript, Institut für Philosophie FU Berlin 2011, S. 3. 62 | Villa, Paula-Irene: »Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen«, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Wiesbaden 2010, S. 251-274; Alkemeyer, Thomas/Villa, Paula-Irene: »Somatischer Eigensinn? Kritische Anmerkungen zu Diskurs- und Gouvernementalitätsforschung aus subjektivationstheoretischer und praxeologischer Perspektive«, in: Johannes Angermüller/Silke van Dyk (Hg.), Diskursanalyse meets Gouvernementali-
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verweist das Konzept des Eigensinns nicht auf ein autonomes Subjekt, das den historischen Bezügen vorausläuft, sondern umschreibt vielmehr ein zu Selbstdeutungen und Handlungsmustern geronnenes Erfahrungswissen, das sich im Verlauf einer Lebensgeschichte aufschichtet.63 Es besteht aus nur lose miteinander verknüpften, teilweise widersprüchlichen Wissensbeständen, die erst dann als ›Eigensinn‹ identifizierbar werden, wenn sie nicht mit der feldspezifischen Ausprägung von Subjektivität kompatibel sind.64 Das Wissen, das sich die Akteure während ihrer Sozialisation aneignen, kann in der Praxis also einerseits bestätigt, andererseits aber auch irritiert oder konterkariert werden.65 Diese Erfahrungen wirken auf die soziale Ordnung zurück; zugleich treiben sie die Eigenschaften des Subjekts hervor und führen sie in ein Selbstverhältnis über. Subjekte sind aufgrund der lebensgeschichtlichen Aufschichtung ihrer habituellen Grundausstattung also immer schon historische Akteure, deren Handlungsmöglichkeiten einerseits habituell geformt sind, sich andererseits aber erst im Spannungsfeld aus biografisch erworbenem Erfahrungswissen und feldspezifisch konstituierten Erfahrungsräumen situativ und in historisch kontingenter Weise immer wieder neu entfalten.66 Welche Geschichtsmacht ein solcher auf kollektiv geteilten Erfahrungen beruhender ›Eigensinn‹ entwickeln kann, wenn er auf veränderte historische Zusammenhänge trifft, hat Edward P. Thompson am Beispiel der englischen Arbeiterklasse dargelegt. Ihre Entstehung war der Beharrungskraft traditionaler Deutungs- und Handlungsmuster geschuldet, die der Industrialisierung vorausliefen und sich unter ihrem Eindruck – insbesondere den damit verbuntätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 315-335. 63 | Lüdtke, Alf: »Geschichte und Eigensinn«, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139-153. 64 | Vgl. dazu Davis, Belinda/Lindenberger, Thomas/Wildt, Michael (Hg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen, Frankfurt a.M. 2008. Zur Forschungsdebatte Eichhorn, Jaana: Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, Göttingen 2006, S. 230-247. 65 | Vgl. dazu Bourdieu, Pierre: Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974, S. 125-158; ders., Körperliche Erkenntnis, in: ders., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 165-209. 66 | S. Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 58. Zum Konzept der ›Erfahrung‹ vgl. Koselleck, Reinhart: »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹. Zwei historische Kategorien«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 349-375.
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denen Verelendungserfahrungen – neu formierten.67 Der Klassenbegriff wird in dieser Argumentation gleichsam verflüssigt, wodurch der ökonomische Reduktionismus orthodoxer marxistischer Geschichtsdeutungen vermieden wird. Thompson versteht unter Klasse keinen festgefügten Gegenstand, sondern ein relationales Geflecht von aufeinander bezogenen Praktiken.68 Klasse findet dann statt, »wenn Menschen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen – seien sie von den Vorfahren weitergegeben oder zusammen erworben – die Identität ihrer Interessen empfinden und artikulieren, und zwar sowohl untereinander als auch gegenüber anderen«.69 Zwar geht auch Thompson davon aus, dass kollektive Erfahrungen durch die Produktionsverhältnisse bestimmt werden, in die man hineingeboren wird. Doch entscheidend für die Entstehung eines Klassenbewusstseins ist die Art und Weise, wie diese Erfahrungen kulturell interpretiert und in der sozialen Praxis vermittelt werden. Der Begriff der Struktur, der für eine strukturanalytische Gesellschaftsgeschichtsschreibung so bedeutsam ist, wird in einer praxeologischen Perspektive nicht als stabiles System verstanden, das sich allein durch die Analyse sozioökonomischer Daten erschließen ließe, sondern als dynamischer Prozess, der aus einem wandelbaren Set aus Regeln, Routinen und Ressourcen besteht.70 Der für die Vorgehensweise Thompsons so zentrale Erfahrungsbegriff weist viele Bedeutungsschichten auf und ist in der Geschichtswissenschaft entsprechend unterschiedlich konzeptualisiert worden.71 Gegen die Verkürzung des Erfahrungsbegriffs auf den Aspekt des Wahrnehmens betont ein praxeologisches Verständnis auch dessen aktiven, prozessualen Gehalt im Sinne einer produktiven Erkundung erlebter Wirklichkeit. Ein solches umfassendes Verständnis von Erfahrung findet sich bereits in der aristotelischen Philosophie, wo der Begriff auf Kunstfertigkeit und erworbene Fähigkeiten verweist und damit »auf eine Verbindung von Welt- und Selbstbearbeitung und eine erinnernde Anreicherung des Gewussten durch Variations- und Regelkenntnis, durch die Aus67 | E.P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, S. 207-209. 68 | Ebd., S. 7. 69 | Ebd., S. 8. 70 | S. Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 57. 71 | Breyer, Thiemo/Creutz, Daniel (Hg.): Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin 2010; B. Davis/T. Lindenberger/M. Wildt: Alltag, Erfahrung, Eigensinn; François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2007; Labisch, Alfons/Paul, Norbert (Hg.): Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin, Stuttgart 2004; Münch, Paul (Hg.): »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001; Buschmann, Nikolaus/Carl, Horst (Hg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001.
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wertung von Anwendungserfolgen und deren Gegenteil«.72 Erfahrung enthält immer auch eine auf das menschliche Handeln gerichtete Komponente, indem sie als handlungsstrukturierende Erwartung in die Zukunft hinein entworfen ist.73 Ihre Orientierungsfunktion für die soziale Praxis besteht darin, wie der Philosoph Jörg Volbers konstatiert, »im Verlauf einer Aktivität (und sei es die des Stillhaltens) unmittelbare Erfahrungen mit Blick auf das Kommende als etwas zu verstehen, vermittelt durch vergangene Erfahrungen«.74 Anders als strukturfunktionalistische Auffassungen, die Handeln vor allem als gesellschaftlich determinierte Rollenzuweisung begreifen, betonen praxeologische Ansätze die wechselseitige Konstitution von gesellschaftlicher Struktur und sozialer Praxis. Strukturen sind in dieser Sichtweise Produkte menschlichen Handelns und bilden zugleich dessen Medium.75 Erfahrungen stellen also keine reine Reflexionsleistung des Subjekts dar, sondern sind dem praktischen Lebensvollzug als soziale Objektivationen immer schon vorgelagert. Strukturen objektiven Sinns (in Form von Typisierung, Habitualisierung und Institutionalisierung) erscheinen so als Verdichtung menschlicher Erfahrung, die in der Praxis immer wieder aktualisiert wird – oder eben nicht.76 Folgt man dieser Überlegung, so genügt es nicht, Erfahrung allein dem Bereich kognitiver Reflexion zuzuweisen. Denn eine solche Sichtweise liefe Gefahr, die mit der Erfahrung verbundene Tätigkeit der Akteure zu unterschlagen und das Ineinanderverwobensein von Deuten und Handeln künstlich zu trennen.77 Erfahrung erschöpft sich nicht in ihren Inhalten und Gegenständen, sondern vollzieht sich als ein Prozess, dem ein menschliches Tun zugrunde liegt. Es geht mit anderen Worten darum, nach dem praxeologischen Bezug von (impliziten wie expliziten) Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zu fragen, um so den wechselseitigen Konstitutionszusammenhang von Praxis und Erfahrung in den Blick zu 72 | Rehberg, Karl-Siegbert: »Menschliche Lebensform und historische Erfahrung. Philosophische Anthropologie als Vermittlung von Historismus und Invariantenlehre«, in: Handlung und Erfahrung, S. 317-342, hier S. 328. 73 | Luckmann, Thomas: »Lebensweltliche Zeitkategorien, Zeitstrukturen des Alltags und der Ort des ›historischen Bewusstsein‹«, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Heidelberg 1986, S. 117-126, hier S. 118. 74 | J. Volbers: Praxis als Erfahrung, S. 15 (Herv. i.O.). 75 | Giddens, Anthony: Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt a.M. 1984, S. 148. 76 | Vgl. dazu Oevermann, Ulrich/Allert, Tillmann/Konau, Elisabeth/Krambeck, Jürgen: »Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften«, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352-434. 77 | R. Sieder: Sozialgeschichte auf dem Weg zur historischen Kulturwissenschaft?, S. 454.
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bekommen. Damit verbunden ist das Anliegen, die scheinbare Kohärenz eines objektivistischen Weltverständnisses zugunsten einer Vielfalt zeit- und standortgebundener Wirklichkeiten aufzulösen, deren Interpretation zugleich vergesellschaftete Deutungskategorien zugrunde liegen. Die Anerkennung einer Pluralität der Erfahrung ermöglicht die Konzeptualisierung eines Praxisbegriffs, der offen ist für Veränderungen – und Praxis nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Phänomen der Erfahrung begreift.78 Die temporale Struktur von Erfahrung verweist auf ihre prinzipielle Wandelbarkeit und Zukunftsoffenheit. Zugleich bleibt jede neue Erfahrung auf bereits gemachte Erfahrungen verwiesen. So greift die praktische Aneignung der Wirklichkeit durch vergangene Erfahrungen wie Lernprozesse oder Routinen des Gebrauchs in die gegenwärtige Erfahrung ein. Diese Ungleichzeitigkeit stelle den Schlüssel zum Verständnis der Praxis dar, wie Volbers betont: »In der Praxis stehen nicht weltlose Subjekte einer distanzierten Welt gegenüber. Vielmehr werden Erfahrungen gemacht, durch die sich dann neue Mittel und Wege herausbilden, wieder auf Erfahrungen Bezug zu nehmen – auf eine neue, veränderte Art und Weise.«79
Diese dem philosophischen Pragmatismus entlehnte Argumentation weist Parallelen zu der geschichtswissenschaftlichen Grundlegung des Erfahrungsbegriffs durch Reinhart Koselleck auf. Der durch die Erfahrungen der Vergangenheit konstituierte »Erfahrungsraum« bildet demnach den Orientierungsrahmen für die Antizipation zukünftiger Erfahrungen, die den »Erwartungshorizont« des Akteurs abstecken. Erfahrung ist also niemals ›unmittelbar‹ oder rein individuell gefasst, da in der je eigenen Erfahrung immer auch die institutionell oder personal vermittelte Erfahrung anderer enthalten ist.80 Zugleich steht sie im thematischen Umfeld gegenwärtiger Erfahrungen, die alternative Handlungsentwürfe repräsentieren, ist also stets dem Veränderungsdruck geschichtlicher Kontingenz ausgesetzt.81 Insofern neue Erfahrungen bestehende Erwartungen durchkreuzen, erweist sich Erfahrung somit als »laufende Rekonstruktion der sinnhaft konstituierten Wirklichkeit durch Ab-
78 | J. Volbers: Praxis als Erfahrung, S. 5. 79 | Ebd., S. 14. 80 | R. Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, S. 349-375; vgl. auch Buschmann, Nikolaus/Carl, Horst: »Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung«, in: dies., Die Erfahrung des Krieges (2001), S. 10-26. 81 | T. Luckmann: Lebensweltliche Zeitkategorien, S. 122.
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arbeitung von Enttäuschungen«, wie Niklas Luhmann aus systemtheoretischer Perspektive formuliert.82 Erfahrungen stehen mit anderen Worten immer dann auf dem Prüfstand, wenn sie sich an der Wirklichkeit brechen und das Wissen, das sie hervorbringen, seinen Bezug auf die Praxis verliert. Damit die Akteure unter den Bedingungen einer veränderten Wirklichkeit ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen können, müssen die vorhandenen Wissensbestände neu formiert werden. In der Analyse Thompsons erfolgte die Entstehung der englischen Arbeiterklasse nach genau diesem Modell: Das Klassenbewusstsein, das sich um 1800 in England formierte, wurde demnach nicht durch den gesellschaftlichen Antagonismus der kapitalistischen Industriegesellschaft determiniert, sondern bildete sich vielmehr in der Konfrontation traditionaler Handlungs- und Deutungsmuster mit den lebensweltlich situierten Zumutungen dieser Produktionsverhältnisse aus. Es entstand in den sozialen Konflikten, die von den ökonomischen Verhältnissen der Zeit hervorgetrieben wurden, doch sein spezifisches Profil gewann es vor dem Hintergrund eines überlieferten Wissens, dessen Versatzstücke – religiöse Traditionen, frühneuzeitliche Protestformen und die Praktiken einer ›moralischen Ökonomie‹ – aus dem Erfahrungsraum einer vorindustriellen Welt stammten. Dieses in der alltäglichen Praxis verankerte und zumeist unhinterfragte Erfahrungswissen durchlief unter dem Eindruck neuer Erfahrungen eine Transformation, an der die subjektive Innenseite der Klassenbildung greifbar wird. Folgt man den Überlegungen Kosellecks, so handelt es sich bei dieser Art des Erfahrungsgewinns – im Unterschied zu singulären Erfahrungen und solchen, die sich über Wiederholung bestätigen – um einen langfristigen, die Lebensgeschichten einzelner Personen überspannenden kollektiven Erfahrungswandel, der den eingespielten Erfahrungshaushalt verändert, indem er die generationsbedingten, verstetigten oder eingeschliffenen Erfahrungen der Akteure verschiebt. Solche langfristigen Vorgänge sind als Hintergrunderfahrung in die Praxis eingelassen, indem sie auf den jeweiligen Konflikt einwirken oder ihn sogar hervorrufen, doch eingefangen werden können sie erst in der methodisch angeleiteten Reflexion rückblickender Betrachter, da sie auf Faktoren beruhen, die der ›unmittelbaren‹ Erfahrung der Beteiligten nicht zugänglich sind.83 Geschichte wird dann nicht mehr nur auf- oder fortgeschrieben, sondern auf der Grundlage einmal festgehaltener Erfahrungsbestände ›umgeschrieben‹ 82 | Luhmann, Niklas: »Sinn als Grundbegriff der Soziologie«, in: Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 25-100, hier S. 42. 83 | Koselleck, Reinhart: »Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze«, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 27-77, hier S. 38f.
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und einer alternativen Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingefügt. Erfahrungswandel und Methodenwechsel greifen dabei ineinander: Die ideologiekritischen Methoden, die Marx entwickelte, um langfristige ökonomische Prozesse auf die aktuelle Politik beziehen zu können, ließen sich dann als ein Versuch begreifen, die kollektive Erfahrung ökonomisch bedingter sozialer Konflikte in das Analysemodell des Klassenkampfes zu überführen und als einen solchen ins Bewusstsein zu heben.84 An dieser Stelle wird eine Kluft zwischen den Erfahrungen der Akteure und dem Erkenntnispostulat der wissenschaftlichen Analyse sichtbar; sie muss methodologisch offengelegt werden, damit die Erfahrungsgebundenheit wissenschaftlicher Praxis nicht ihrerseits zugunsten einer objektivistischen Reifizierung ihrer idealtypisch angelegten Modelle, Typologien und Begriffe ausgeblendet wird.85 Dieser Hinweis korrespondiert mit der Einsicht, dass die Aktualisierung bestimmter Erfahrungszusammenhänge in ihren jeweiligen Modi des Aufschreibens, Fortschreibens und Umschreibens immer auch mit der De-Thematisierung anderer Erfahrungen einhergeht. Aus der zur ›Erfahrung‹ geronnenen Verschränkung von Erinnern und Vergessen gehen auf diese Weise neue Erfahrungssubjekte hervor, die dem kollektiven Erfahrungshaushalt wiederum ihren Stempel aufdrücken. ›Doing experience‹ und ›doing subject‹ stehen mit anderen Worten in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis, dessen Dynamik zumal im erinnerungspolitischen Ringen um die Deutungshoheit über die legitime Vergangenheit (und die daraus abgeleitete Zukunft) der eigenen Gegenwart greifbar wird.86
P R A XEOLOGISCHE K ONZEP TUALISIERUNG DES HISTORISCHEN S UBJEK TS Ein praxeologisch gewendetes Erfahrungskonzept überwindet die häufig vorausgesetzte Opposition zwischen Struktur und Handlung insofern, als die Frage nach den Erfahrungen die Wirkungsmacht übergreifender Strukturen in der sozialen Praxis untersucht und damit zugleich die Handlungsspielräume der sozialen Akteure ausmisst. Zugleich werden Erfahrungen und deren Subjekte durch Praktiken überhaupt erst hergestellt. Dem muss hinzugefügt werden, dass ›Strukturen‹ und ›Handlungsspielräume‹ ihrerseits abstrahierende Kategorien einer spezifischen – nämlich wissenschaftlichen – Erfahrungslogik darstellen, deren ›Wirklichkeit‹ letztlich auf der Ebene ihrer Repräsentationen 84 | R. Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel, S. 76. 85 | J. Volbers: Praxis als Erfahrung, S. 3; vgl. auch Boltanski, Luc: Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008, Berlin 2010. 86 | Bock, Petra/Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999.
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aufgesucht werden muss. In diesem Zusammenhang ist einmal mehr auf die doppelte kulturelle Bedingtheit von Subjektivität hinzuweisen: Zum einen ist die Vorstellung von autonomen Subjekten als wesentlichen Trägern sozialer und kultureller Prozesse selbst historisch bedingt. Die damit zusammenhängenden Deutungsmuster können also nicht unbesehen in eine Theoretisierung historischer Erfahrung übernommen werden.87 Zum anderen ist die Subjektivität von Erfahrungen eingebettet in einen semantischen Apparat, welcher der ›biographischen Illusion‹ erst zu ihrer kulturellen Erzählbarkeit verhilft. Insofern stellt sich das Subjekt nicht nur als Ursprung, sondern auch als das Produkt sozialer Praxis dar.88 Denn seinen Subjektstatus gewinnt das Individuum erst über seine Positionierung im ›öffentlichen‹ Raum sozialer Praktiken und die damit verknüpfte wechselseitige Anerkennung der in diese Praktiken verwickelten Akteure. In diesem Sinne ließe sich Erfahrung als eine – immer nur vorläufige – Rationalisierung dieses Vorgangs im Bewusstsein der Akteure begreifen, den man mit Foucault ›Subjektivierung‹ nennen könnte.89 Gesellschaft erscheint aus dieser Perspektive einerseits als ein sozialkulturelles Strukturgeschehen, das individueller menschlicher Erfahrung voraus läuft, andererseits als Produkt menschlicher Deutungen und Fertigkeiten, die in historisch situierten Praktiken auf gesellschaftliche Objektivationen zurückwirken und diese bestätigen oder verändern können. Erfahrung und Handeln sind dabei eng verklammert, begreift man Handeln im Sinne Bergsons als »durchlebte Erfahrung«, die dem Bewusstsein als unmittelbar evidente Wirklichkeit seiner selbst erscheint.90 Hält man also am Konzept einer Reflexivität ›subjektiver‹ Akteure fest, entwirft man damit keineswegs die Kunstfigur eines autonomen Individuums, denn Reflexivität ist auf soziale Kategorien des Verstehens angewiesen. Sie bedient sich gesellschaftlich konventionalisierter Werkzeuge wie Sprache, Semantik und Institutionen, die als Objektivationen menschlicher Erfahrung wiederum Produkte der sozialen Praxis sind.91 Ein solcher Zugang geht also nicht von ›authentischen‹ Erfahrungen aus, die der sozialen Praxis gleichsam vorauslaufen, sondern begreift diese vielmehr als einen 87 | Vgl. dazu die Beiträge von Norbert Ricken und Gesa Lindemann in diesem Band. 88 | Schmitz-Emans, Monika: »Das Leben als literarisches Projekt. Über biographisches Schreiben aus poetischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive«, in: BIOS 8 (1995), S. 1-29. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Etzemüller in diesem Band. 89 | Foucault, Michel: »Die Rückkehr der Moral«, in: Eva Erdmann (Hg.), Ethos der Moderne, Frankfurt a.M. 1990, S. 133-145, hier S. 144. 90 | Spateneder, Peter: Leibhaftige Zeit. Die Verteidigung des Wirklichen bei Henri Bergson, Stuttgart 2007, S. 14. 91 | Buschmann, Nikolaus/Reimann, Aribert: »Die Konstruktion historischer Erfahrung. Neue Wege zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges«, in: Buschmann/Carl, Die Erfahrung des Krieges (2001), S. 261-271.
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Modus der Herstellung, Reproduktion und Transformation eines in Praktiken eingelassenen Wissens, das in der sozialen Kommunikation in eine erzählbare Form gebracht wird. Die Annahme, dass Erfahrungen auf eine subjektive Wirklichkeit – etwa die eines ursprünglichen ›Erlebnisses‹ – jenseits ihrer Repräsentationen verweisen, führt dagegen in erkenntnistheoretische Widersprüche, die das Problem auf die Ebene des Körpers oder der Psyche verlagern, die dann wiederum als Instanzen einer scheinbar unmittelbaren Verarbeitung von Umwelteindrücken durch das Subjekt gedacht werden müssen.92 Nach dem bisher Gesagten stellt sich also vielmehr die Frage, inwiefern Erfahrungen ihre Subjekte überhaupt erst hervorbringen, formen und verändern. Erfahrungen sind immer schon Interpretationen, gleichwohl bleiben sie, wie Joan Scott in einem richtungsweisenden Aufsatz festgehalten hat, interpretationsbedürftig in Hinblick auf ihre sozialkulturelle Formung und die damit verknüpften Identitätskonstruktionen.93 Angesichts der temporalen Struktur menschlicher Erfahrung besteht die Aufgabe einer praxeologischen Perspektive auf Subjektivierungsprozesse darin, nach den ›Passungsverhältnissen‹ von – gesellschaftlich vermittelten – biografischen Prägungen einerseits und feldspezifischen Subjektformen andererseits zu fragen. Die Geschichtlichkeit der Subjektwerdung zeigt sich damit als Kehrseite der subjektiven Hervorbringung von Geschichte, ohne dass beide Seiten als harmonisch miteinander vermittelt gedacht werden müssen.94 Der Weg zu einer praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts führt über die Herstellung einer Beobachtungsoptik, die ihre Aufmerksamkeit ebenso auf die kulturelle Repräsentation des Subjekts richtet wie auf die Praktiken seiner Herstellung und das lebensgeschichtlich zurückgebundene Erfahrungswissen, das dabei zur Geltung kommt. Der Gewinn einer solchen Perspektive auf die Praktiken der Subjektivierung liegt darin, dass ein diachroner Zugang die Spannung zwischen dem erfahrungsgesättigten Wissen der Akteure und den in den sozialen Feldern angelegten Subjektpositionen im Sinne einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) offenlegen kann; die geschichtliche Dimensionierung der Subjektwerdung gibt damit Aufschlüsse darüber, unter welchen Bedingungen Subjektwerdung ›gelingt‹ und wann es zu Innovation kommt, indem feldspezifische Subjektformen von den Akteuren ›eigensinnig‹ verändert werden, ohne dabei das Autonomiepostulat eines individualistischen Handlungskonzepts zugrunde legen zu müssen. 92 | Piller, Gudrun: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, Köln 2007, S. 9f. 93 | Scott, Joan: »The Evidence of Experience«, in: Critical Inquiry 17 (1991), S. 773797, hier S. 797. 94 | Antrag für ein Graduiertenkolleg zum Thema »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«, Oldenburg 2009.
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Eine praxeologische Konzeptualisierung des Subjekts geht schlussendlich von der prinzipiellen Wandelbarkeit dessen aus, was Subjektivität in bestimmten historischen Kontexten bedeutet und wie sie in der gesellschaftlichen Praxis jeweils konstituiert wird. Sie lenkt den Blick auf die epochenspezifischen Konstellationen, unter denen sich Subjektivierungsprozesse vollziehen, überkommene Subjektformen transformiert werden und neue Subjektformen entstehen. Die erfahrungsgeschichtliche Einbettung dieses Erkenntnisinteresses ermöglicht es, die temporale Struktur solcher Prozesse näher zu bestimmen. Über einen solchen diachronen Zugriff geraten auch jene Erfahrungszusammenhänge in den Blick, die sich aus den Praktiken der historischen Akteure und deren darauf bezogenen Deutungen nicht unmittelbar erschließen lassen, von diesen aber zugleich reproduziert und transformiert werden. Denn wie schon Friedrich Meinecke wusste, stehe »alles Neue, was die einzelne Persönlichkeit zum geschichtlichen Leben beizusteuern vermag, in engster und ursächlicher Verknüpfung mit dem Alten, Überlieferten« und werde von ihm »auf Schritt und Tritt bedingt und begrenzt«. Die Bewegungsfreiheit und die Eigenart des Einzelnen könne »dann wohl so klein erscheinen, dass man es begreift, wie man sie als wesentlichen Faktor aus der Geschichte hat ausschalten wollen«, sie sei aber »groß genug, um das Wunder zu verstehen, dass der Geist sich über die Schranken der Natur trotz aller Bindung an sie hat erheben und eine geschichtliche Welt hat erschaffen können.«95
95 | Alle Zitate: F. Meinecke: Persönlichkeit und geschichtliche Welt, S. 13f.
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»Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen« Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik Dagmar Freist
S TÄNDEGESELLSCHAF T UND GESELLSCHAF TLICHE D YNAMIK »Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen« – mit diesen Zeilen beginnt Erasmus von Rotterdam ein Selbstporträt an den englischen Gelehrten John Colet, das so gar nicht den ständischen Vorstellungen seiner Zeit entsprach. Wie in so vielen anderen Äußerungen auch erhob Erasmus die nobilitas litteraria zur höchsten Auszeichnung eines jeden Menschen und hinterfragte zugleich die geburtsstandrechtlichen Privilegien des Adels.1 Dieses offensichtliche Aufbegehren gegen ständische Normen war ein weit verbreitetes Phänomen seit dem 15. Jahrhundert. Entsprechend kontrovers wird in der Frühneuzeitforschung die Bedeutung der ›Ständegesellschaft‹ als Modell der frühmodernen Gesellschaft diskutiert: normativ gültig bis in das frühe 19. Jahrhundert scheint die ständische, hierarchisch gegliederte und gottgegebene Ordnung, in die man hinein geboren wurde, wenig aussagekräftig zu sein, um die gesellschaftliche Dynamik der frühen Moderne analytisch und terminologisch in den Griff zu bekommen. Dennoch bildete das Grundprinzip politisch-sozialer Ungleichheit2 gewissermaßen den Orientierungsrahmen der frühneuzeitlichen Gesellschaft, wurde in Ritualen, Raumanordnungen und Zeremonien immer wieder aktualisiert und sollte selbst in Kleidung und Lebensstil für alle sichtbar sein.
1 | Zitat aus einem Brief von Erasmus von Rotterdam an John Colet, in: Walther Köhler (Hg.), Erasmus von Rotterdam. Briefe, Wiesbaden 1947, S. 38. 2 | Weller, Thomas: »Einleitung«, in: Marian Füssel/Thomas Weller (Hg.), Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung, Frankfurt a.M. 2011, S. 3-23, hier S. 5.
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So heißt es repräsentativ für diese Vorstellungen in der Augsburger Reichspoliceyordnung von 1530: »Nachdem ehrlich, ziemlich und billich, daß sich ein jeder, weß Würden oder Herkommen der sey, nach seinem Stand, Ehren und Vermögen trage, damit in jeglichem Stand unterschiedlich Erkäntnüß seyn mög, so haben Wir Uns mit Churfürsten, Fürsten und Ständen nachfolgender Ordnung der Kleidung vereiniget und verglichen, die Wir auch bey Straff und Pön, darauff gesetzt, gänzlich gehalten haben wöllen.« 3
In Reaktion auf das aufkommende Konsumverhalten und die soziale und professionelle Ausdifferenzierung der Gesellschaft unter dem Einfluss von Humanismus, Staatsbildung und Proto-Globalisierung seit dem 16. Jahrhundert erreichten ständische Festschreibungen eine neue Qualität. Kleiderordnungen versuchten die gesellschaftliche Ausdifferenzierung, die sich in neuen sozialen Gruppen und Berufen wie Kaufleuten, Ärzten, Beamten und Gelehrten manifestierte, innerhalb der Ständeordnung einzufangen und ihnen einen festen Platz im ständischen Gefüge zuzuweisen. Die Augsburger Reichspolizeiordnung von 1530 beinhaltete Kleidervorschriften für so verschiedene Gruppen wie Bauern, Stadtbürger, Kaufleute, Ratsangehörige alten Geschlechts, Adel, Doktoren, Soldaten, Knechte, Prostituierte, Juden, um nur einige zu nennen.4 Die begehrten Marderfelle beispielsweise waren allein dem Adel als besonderes Distinktionsmerkmal vorbehalten.5 Gleichzeitig häuften sich Beschwerden über Verletzungen von Kleider- und Rangordnungen, was von Zeitgenossen zugleich als Angriff auf die ständische Ordnung interpretiert wurde.6 Die bisherige historische Forschung hat sich mit dem Aufstieg und den Netzwerken dieser neuen gesellschaftlichen Gruppen als »Funktionseliten«, mit Typologisierungen und dem Verhältnis zum Adel befasst und wichtige Beiträge zu einer prosopographischen und regionalen Erfassung der ›homi-
3 | Römischer Kayserlicher Majestät Ordnung und Reformation guter Policen, im Heiligen Römischen Reich, zu Augsburg Anno 1530 auffgericht. 4 | Neben diesen Kleiderordnungen gab es weitere Formen der Visualisierung von Standesunterschieden, dazu gehörten Sitzordnungen in Kirchen, Empfangsrituale und zeremonielle, exklusive Orte wie etwa die Herrenstuben, die dem städtischen Patriziat allein vorbehalten waren sowie die hierarchische Anordnung der Stände auf Festumzügen. 5 | Zitzlsperger, Philipp: Dürers Pelz und das Recht im Bild. Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008, S. 26-47. 6 | Bulst, Neidhard/Lüttenberg, Thomas/Priever, Andreas: Abbild oder Wunschbild. Bildnisse Christoph Ambergers im Spannungsfeld von Rechtsnorm und gesellschaftlichem Anspruch, in: Saeculum 53 (2002), S. 21-73, hier S. 29-32.
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nes novi‹ geleistet.7 Ihr Aufstieg wurde sozial- und strukturgeschichtlich analysiert als ein Prozess »im Rahmen der gegebenen Gesellschaftsstruktur«.8 Während Georg Schmid 2009 noch betonte, dass »die hierarchische Gliederung der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft […] in Deutschland im 18. Jahrhundert unangefochten« geblieben sei,9 haben sich eine Reihe jüngerer Studien intensiv mit Fragen von Rang- und Standeskonflikten und mit sozialer Differenzierung und Distinktion in der städtischen Gesellschaft befasst.10 Für die ländliche Gesellschaft, etwa mit Blick auf bürgerlich-bäuerliche Eliten, werden diese Fragen gerade erst gestellt.11 Mit Recht haben Marian Füssel und Thomas Weller betont, dass sich »die sozialen Unterschiede in der ständischen Gesellschaft nicht unmittelbar aus vermeintlich ›objektiven‹ Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Subsistenzweise, rechtlichem Status etc. ergaben, sondern stets aufs Neue in der sozialen Praxis hergestellt und geltend gemacht werden mussten«.12
In der englischen Frühneuzeitforschung löste die Forschungskritik an »the indiscriminatory lumping together of groups occupying very different positions and experiences in the social order« bereits in den 1980er Jahren eine lebhafte Debatte über das Verständnis der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft
7 | Für einen Überblick mit Verweisen auf die wichtigsten Werke zwischen 1965 und ca. 2000 vgl. die Einleitung von Günther Schulz in: ders. (Hg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, München 2002, S. 9-16, hier S. 14. 8 | Schwabe, Klaus: »Zusammenfassung«, in: Hanns Hubert Hofmann/Günther Franz (Hg.), Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz, Boppard a.Rh. 1980, S. 219-223, hier S. 220. 9 | Vgl. Schmidt, Georg: Wandel durch Vernunft. Deutschland 1715-1806, München 2009, S. 291, zur älteren Ständeforschung vgl. die Beiträge in Schulze, Winfried (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988. 10 | G. Schulz: Sozialer Aufstieg; Schmidt, Patrick/Carl, Horst (Hg.): Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin 2007; Haug-Moritz, Gabriele: Die württembergische Ehrbarkeit. Annäherungen an eine bürgerliche Machtelite der frühen Neuzeit, Tübingen 2009; M. Füssel/T. Weller: Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. 11 | Vgl. das von der VW-Stiftung geförderte Projekt »Hinter dem Horizont. Bürgerlichbäuerliche Eliten« an der Universität Oldenburg im Verbund mit den Museen Cloppenburg und Jever und dem Staatsarchiv Oldenburg (www.laendliche-eliten.de). 12 | T. Weller: »Einleitung«, S. 6 und Weller, Thomas/Füssel, Marian: Einleitung, in: dies. (Hg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentationen in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005, S. 9-22, hier S. 11.
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aus.13 In den Mittelpunkt des Forschungsprozesses rückten Fragen nach der Binnendifferenzierung innerhalb ständischer Gruppen, den Mechanismen sozialen Distinktionsverhaltens und Legitimationsstrategien. Insbesondere am Beispiel lokaler Amtsträger hat etwa Michael Braddick aufgezeigt, dass die ständische Zugehörigkeit allein nicht ausreichte, um sich als Amtsinhaber zu qualifizieren. Geradezu essentiell waren »social fitness«, »personal behaviour [which] could be made to conform to […] normative standards«, »social credentials« und »the expression of social distinction«.14 Die Forschung zu den Niederlanden und ansatzweise auch zu Schweden schließlich hat sich in den letzten Jahren verstärkt mit dem sozialen Distinktionsverhalten der bürgerlichen Mittelschicht seit dem späten 16. Jahrhundert befasst, was sich in Titeln wie »The Self-Presentation of Early Modern Capitalists« aus dem Jahre 2008 niederschlägt.15 Versucht man den derzeitigen Forschungsstand zur frühneuzeitlichen Ständegesellschaft zusammen zu fassen, so lassen sich vier Linien erkennen: 1. Sozial- und kulturgeschichtliche Analysen bestimmter »Funktionseliten« seit dem 15. Jahrhundert mit Blick auf Herkunft, Ausbildung, Karrierewege, Netzwerke und das Verhältnis zum Adel, dessen standesgemäße Machtposition nicht hinterfragt wurde. 2. »Social fitness« – Analyse der sozialen und kulturellen Kompetenz von Amtsträgern, bestimmten Anforderungsprofilen zu entsprechen und so die eigene Stellung zu legitimieren und Anerkennung zu erhalten. 3. Analyse von Rangordnungen, Ritualen und Distinktionsverhalten zur Manifestation eines gesellschaftlichen Status (Repräsentation, Zeremoniell, Rituale, Performanz) 4. Konsumgeschichtliche Studien mit der Betonung von »conspicuous consumption« sowie neuere Studien, die sich mit Artefakten und dem Wechselspiel »begehrenswerter Objekte« und Konsumverhalten seit der Renaissance befassen, das zunehmend ständische Grenzen transzendierte. Im Zentrum steht nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand,
13 | Walter, John: Understanding popular violence in the English revolution: the Colchester plunderings. Past and Present Publications, Cambridge 1999, S. 265. 14 | Alle Zitate: Braddick, Michael: »State formation and political culture in Elizabethan and Stuart England. Micro-histories and macro-historical change«, in: Ronald G. Asch/ Dagmar Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005, S. 69-90, hier S. 72-74. 15 | Jacob, Margaret/Secretan, Catherine (Hg.): The Self-Presentation of Early Modern Capitalists, London 2008.
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sondern die Aneignung eines bestimmten Habitus über den Gebrauch von Dingen.16 Der Forschungsertrag dieser Analysen besteht darin, dass die Vielschichtigkeit der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft und die Bedeutung von Konsumverhalten vor dem 18. Jahrhundert in allen Facetten deutlich geworden sind. Darüber hinaus haben einzelne Studien in Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitus-Konzept aufgezeigt, wie sich neu formierende gesellschaftliche Gruppen, die sich in erster Linie über ihre Berufszugehörigkeit innerhalb der Ständegesellschaft definierten, durch die symbolische Konstruktion von Rangordnungen durch Rituale und Konflikte sowohl nach innen differenzierten als auch nach außen abgrenzten und dabei auf ein Arsenal bereits vertrauter Praktiken zurückgriffen. So konnte beispielsweise Marian Füssel in seiner Studie zur frühneuzeitlichen Gelehrtenwelt an deutschen Universitäten aufzeigen, wie sich Rituale und Kleidung an geistlichen Vorgängern orientierten. Die Forschung zu wohlhabenden frühneuzeitlichen Unternehmern hat wiederholt die Nähe zum Adel im Repräsentations- und Distinktionsverhalten bis hin zu Nobilitierungen betont.17
G ESELLSCHAF TLICHE TR ANSFORMATIONSPROZESSE AUS PR A XEOLOGISCHER P ERSPEK TIVE Noch weitgehend unbeantwortet geblieben ist allerdings die Frage, wie sich innerhalb einer auf dem Grundprinzip politisch-sozialer Ungleichheit beruhenden Gesellschaftsordnung mit nicht übertragbaren Privilegien und Lebensstilen neue soziale Gruppen entwerfen, selbst autorisieren, wechselseitig anerkennen und von dritten anerkannt werden konnten. Die Referenzen an Bourdieus Sozialtheorie in einer Reihe frühneuzeitlicher Studien gehen davon aus, dass Unternehmer oder Gelehrte einen bestimmten Habitus verkörperten, der ihre soziale Machtstellung beeinflusste und ihr Handeln hervorbrachte. Der Habitus als eine Art erlernte Handlungsgrammatik generiert nach Bourdieu Gewohn16 | Vgl. Smith, Woodruff D.: Consumption and the Making of Respectability, 16001800, London 2002. Für die Renaissance vgl. Goldwaithe, Richard A.: Wealth and the Demand for art in Italy 1300-1600, Baltimore 1993; Welch, Evelyn/O’Malley, Michelle (Hg.): Renaissance Material Culture, Manchester 2007; Rublack, Ulinka: Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford 2011. 17 | Füssel, Marian: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 73ff.; Müller, Leos: The Merchant Houses of Stockholm c. 1640-1800. A Comparative Study of Early Modern Entrepreneurial Behaviour, Uppsala 1998.
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heiten, die nicht reflexiv gelernt und nur schwer reflexiv zugänglich sind, sondern durch Routinen und den stillschweigenden und regelmäßigen Vollzug von Praktiken in einer Welt gemeinsamer Bedeutungen verinnerlicht werden. Habitus wird gleichgesetzt mit dauerhaften Dispositionen, die als Resultat einer sich unentwegt vollziehenden Inkorporierung von Strukturen verstanden werden und wie eine Art »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« funktionieren, die auch vor-reflexiv auf unvorhergesehene Situationen reagieren kann.18 Komplementär zum Habitus sieht Bourdieu das Habitat oder soziale Feld. Beide stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung und bilden eine Art »ontologischer Komplizenschaft«.19 Der Habitus ließe sich hier auch verstehen als Ausschlussmechanismus (nach Bourdieu sind dies Mechanismen symbolischer Gewalt), der regelt, wer wann, wo und wie sprechen bzw. handeln kann oder eben nicht. Subjektheoretisch gewendet, so etwa Peter Zima, erscheint individuelle und kollektive Subjektivität mithin als Effekt spezifischer Zwänge des jeweiligen Feldes.20 Die Verknüpfung des Habitus mit seinen Existenzbedingungen verdeutlicht zugleich die Grenzen von Bourdieus Sozialtheorie. In seinem Primärinteresse für die soziale Reproduktion hat Bourdieu den Habitus überwiegend als eine gewordene, bereits verfestigte Form thematisiert, dessen Handlungsschemata zuverlässig und störungsfrei durch die Umwelt ausgelöst würden, wenn diese nur auf einen zu ihr passenden Habitus träfen. Kaum thematisiert werden dagegen die nicht selten reibungsvollen Beziehungsgefüge zwischen Habitus und sozialer Welt, die mehr als nur Brüche und Nichtpassungen evozieren. Weitgehend unbeantwortet bleibt die Frage, wie gesellschaftliche Transformationen erklärbar sind.21 Aber gerade die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse in der Frühen Neuzeit und die damit einhergehende Verflüssigung von Standesgrenzen verlangen nach Erklärungsansätzen für die Entstehung neuer sozialer Teilräume, die über Bourdieus Theorie der Praxis und das »stillschweigende Einverständnis zwischen Habitus und Feld« hinausgehen.22 18 | Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1976, S. 165-69. 19 | Hörning, Karl H.: »Die Macht der Dinge. Die praxistheoretische Perspektive«, in: ders. (Hg.), Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weiterswist 2001, S. 157-184, hier S. 169. 20 | Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2000, S. 310ff. Bourdieu selbst vermeidet den Subjektbegriff. 21 | Wacquant, Loïc J.D.: »Auf dem Weg zu einer Sozialpraxologie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bourdieus«, in: Pierre Bourdieu/Loïc J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 17-92, hier S. 40. 22 | Bourdieu, Pierre: »Gespräch mit Beate Krais«, in: ders./Jean-Claude Chamboredon/Jean-Claude Passeron (Hg.), Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische
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In der Geschichtswissenschaft wie auch in der Soziologie wurde vor allem in Anlehnung an akteurstheoretische Ansätze das Verhältnis von Strukturen und Akteuren für soziale Ausdifferenzierungsprozesse betont. Wirtschaftlicher Wandel im Zuge der Protoglobalisierung brachte aus dieser Perspektive den Typus des frühneuzeitlichen Unternehmers hervor, der mit seiner wachsenden unternehmerischen Expertise wiederum den wirtschaftlichen Wandel vorantrieb und Wirtschaftsstrukturen veränderte. Mit der Absage an die strukturgeschichtlich orientierte Historiografie der 1980er Jahre und der Wiederentdeckung des Subjekts als handlungsmächtiger Akteur wurde zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Strukturen und Subjekten und dem Verhältnis von mikro- und makrohistorischen Veränderungen intensiv und kontrovers diskutiert, ohne dass diese Dualitäten theoretisch und methodisch hätten überwunden werden können.23 In den letzten Jahren haben insbesondere Soziologen das Potenzial praxistheoretischer Ansätze für die Analyse des Sozialen und des sozialen Wandels hervorgehoben,24 in der Geschichtswissenschaft wurden Praxistheorien zumindest ansatzweise rezipiert.25 Während handlungstheoretische Ansätze die Motive und Ziele der Akteure untersuchen und die Systemtheorie die Operationsweisen sozialer Systeme als emergente Ordnungen in den Mittelpunkt stellt, gehen Praxistheorien bei allen Differenzen davon aus, dass soziales Handeln Teil von kollektiven Handlungsgefügen ist und nicht primär intentionalem Handeln entspricht.26 Praktiken, so gänVoraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin/New York 1991, S. 269-283, hier S. 275. 23 | Für einen aktuellen Überblick vgl. Freist, Dagmar: »Geschichte der Geschichtsschreibung«, in: Hilke Günther-Arndt/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.), Geschichte. Studium-Wissenschaft-Beruf, Berlin 2008, S. 178-196. 24 | Schatzki, Theodore R.: »Introduction. Practice Theory«, in: ders./Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 1-14; ders.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002; Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301; Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a.M. 2012. 25 | Vgl. die Überblicksartikel von Reichardt, Sven: »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«, in: Sozial. Geschichte 22 (2007), S. 43-65 und Marian Füssel: »Die Rückkehr des Subjekts in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive«, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 141-159. 26 | A. Reckwitz: Theorie sozialer Praktiken, S. 288-89; T.R. Schatzki: Introduction. Practice Theory, S. 3.
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gige Definitionen, weisen über die Akteure hinaus auf unterliegende kulturelle Schemata und einen latenten Gemein-Sinn, der im ständigen Vollzug von Praktiken angeeignet und realisiert wird und die Voraussetzung dafür ist, auf die Handlungszüge anderer angemessen zu reagieren und die Bedeutung von Handlungsweisen zu beurteilen. In Praxistheorien gewinnen Akteure erst in den Spielräumen sozialer Praxis durch Verwicklung mit der Welt ein Verständnis von dieser. Dies schließt ein kognitives Vorwissen um die Welt nicht aus, das aber allein genommen nicht ›gesellschaftsfähig‹ macht. Erst praktisches Handlungswissen und die Realisierung kultureller Schemata, die sich im Vollzug sozialer Praktiken zeigen, machen Akteure in jeweils spezifischen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Situierungen zu erkennbaren und anerkannten Mitspielern eines Feldes. In subjekttheoretischer Perspektive bilden sich Individuen zu Subjekten in einem ständigen Prozess des Einübens, Aneignens, Mitspielens und Einpassens in Praktiken, der sie zu intelligiblen und anerkannten Teilhabern verschiedener gesellschaftlicher Felder macht.27 Nicht der Anspruch auf Zugehörigkeit führt zu Teilhabe und Anerkennung oder der formale Beitritt etwa in einen Debattierklub der Aufklärung, sondern die erfolgreiche performative Verkörperung und Ausführung sozialer Praktiken, die in den jeweiligen sozialen Feldern für angemessen, geeignet und relevant erachtet werden und verstehbar sind. Aus der inzwischen breiten Theoriedebatte über Praktiken interessiert im Folgenden allerdings weniger ein Verständnis von Praktiken, das reduziert wird auf beobachtbare, körperlich vollzogene, routinisierte Praktiken, die einübbar und für Mitspieler eines Feldes implizit vollziehbar und intelligibel sind, die zu Passungen oder Nichtpassungen, zum Gelingen oder Scheitern eines Spiels etwa im Feld des Sports führen. Weitergeführt werden ebenso wenig praxeologische Ansätze, die sich dafür interessieren, wie soziale Felder »mit Hilfe spezifischer sozialer Praktiken und Diskurse bestimmte Subjektivierungsweisen« institutionalisiert haben.28 Stattdessen soll es in diesem Beitrag um das Erproben einer praxistheoretischen Perspektive gehen, die es erlaubt, durch die Analyse sozialer Praktiken in ihrer Diskursivität, Körperlichkeit, Materialität und Subversivität gesellschaftliche Transformationsprozesse zu explizieren und zugleich das geschichtswissenschaftliche und gesellschaftskritische Potenzial praxeologischer Ansätze durch das Entfalten ihnen 27 | Vgl. den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 28 | Jonas, Michael: »The social site approach versus the approach of discourse/practice formations«, in: Reihe Soziologie – Sociological Series 92, Institut für Höhere Studien (IHS), Wien 2009, S. 1-22, hier S. 13 und Reckwitz, Andreas: »Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individuums«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 75-92, hier S. 88.
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innewohnender Logiken zurück zu gewinnen.29 Anders als im Geschichtsdenken der 1980er Jahre, in dem die historische Sozialwissenschaft Kritik und Aufklärung als Auftrag und Ziel theoretisch fundierter historischer Analyse definierte, liegt das kritische Potenzial praxeologischer Ansätze darin, aus den Logiken der Praktiken heraus soziale Kräfteverhältnisse und Asymmetrien zu explizieren.30 Das Potenzial so inspirierter praxeologischer Ansätze für die Geschichtswissenschaft liegt darin, eine Überwindung der Dichotomien von Subjekt und Struktur zu ermöglichen und nicht länger nach der wechselseitigen Bedingtheit von Struktur und Subjekt zu fragen. An ihre Stelle tritt eine praxeologische Analyseoptik, die das spannungsvolle Zusammenspiel von Einpassung und Veränderung, von sozialer Reproduktion und Subversion, von Unterordnung und Widerstand im praktischen Vollzug sichtbar macht. Gesellschaftliche Transformationen ergeben sich so gesehen aus den Logiken sozialer Praktiken und nicht umgekehrt.
P R AK TIKEN SOZIALER D ISTINK TION ALS S UBVERSION Aus dieser Perspektive liest sich das prachtvolle Kleidungsverhalten reicher Augsburger Unternehmer im 16. Jahrhundert, die sich durchaus unter Missachtung der Kleiderordnung in Marderfell kleideten, nicht mehr als Imitation des Adels. Im praktischen Vollzug der Subjektform ›Adel‹ als Platzhalter der ständischen Führungsschicht werden die unternehmerischen Ansprüche auf eine gesellschaftlich herausgehobene Stellung intelligibel und der Alleinanspruch des Adels auf bestimmte Privilegien zugleich für alle sichtbar unterlaufen. Anders als bei Bourdieu stehen hier nicht primär Passungsverhältnisse zwischen Habitus und Feld im Mittelpunkt. Der Blick richtet sich vielmehr darauf, wie kollektive Wissens- und Deutungsschemata, das Sag- und Machbare, in den Praktiken körperlich tätiger Akteure zum einen reaktualisiert und beglaubigt, zum anderen transzendiert und umgedeutet werden. In diesen Prozessen werden kulturelle Schemata irritiert, die »in routinisierten Interpretationen und Sinnzuschreibungen der Akteure« gleichsam in soziale Praktiken eingelassen sind, »als implizite Unterscheidungsraster wirken« und 29 | U.a. in Anlehnung an T.R. Schatzki: The Site of the Social; für das kritische Potenzial praxeologischer Ansätze vgl. u.a. Bennett, Toni: »Culture, power, knowledge. Between Foucault and Bourdieu«, in: Elizabeth Silva/Alan Warde (Hg.), Cultural Analysis: The Legacy of Bourdieu, London/New York 2010, S. 102-116. 30 | Vgl. etwa Luc Boltanskis Überlegungen zu einer »pragmatischen Soziologie der Kritik«. Boltanski, Luc: Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008, Berlin 2010, S. 45-55.
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so »bestimmte Gebrauchsformen nahelegen und andere als unpassend ausschließen«.31 Zugleich werden erst in den Praktiken die ihnen innewohnenden Möglichkeiten von Veränderung und Kritik entfaltet und neue Sinn- und Deutungsschemata situativ verstehbar. Mit Marderfellen besetzte Umhänge, Goldketten und Seide, Ahnentafeln, Landhäuser, Stiftungswesen, Tapferkeit und Ehre, Präsenz am Hof, die höchsten Ämter im Staat und eine bis ins Detail ausgefeilte körperliche Beredsamkeit erschufen im praktischen Vollzug die Subjektform ›Adel‹ und mit ihr eine feste Position in der Ständegesellschaft. In ihren sozialen Praktiken stützen sich reiche Unternehmer auf dieses vorhandene und vor allem intelligible Repertoire sozialer Distinktion und projektieren sich im praktischen Vollzug auf eine gesellschaftliche Stufe mit dem Adel. Zugleich ersetzen sie das Distinktionsmerkmal Geburt durch Reichtum und Bildung und verschieben so kollektive Wissens- und Deutungsschemata und positionieren sich konkurrierend zum Adel. Dass dieser gesellschaftliche Anspruch im Vollzug sozialer Praktiken nicht nur manifest, sondern auch verstanden wurde, zeigen Kontroversen im Augsburger Stadtrat im späten 16. Jahrhundert um die Einhaltung der Kleiderordnung und die Beharrung auf standesgemäßem Lebensstil.32 Darüber hinaus sind zahlreiche Porträts wohlhabender Unternehmer überliefert, die sich in kostbarer Kleidung mit den Distinktionsmerkmalen des Adels – Marderfelle und Goldketten – porträtieren ließen und so gezielt ein Bild von sich entwarfen.33 Während die historische Forschung diese Auftragsarbeiten als »Mittel sozialer Prätention« bewertet hat,34 ist die Beauftragung repräsentativer Porträts aus praxeologischer Perspektive ein Teil routinierten Distinktionsverhaltens, das die Zugehörigkeit zur Oberschicht markierte und erkennbar machte. Dass dieses Verhalten kulturelle Deutungsschemata von Habitus und Habitat irritierte und nicht automatisch auf Anerkennung stieß, zeigen wiederum die Proteste des Adels sowie der Obrigkeit. Im Entwurf einer Regensburger Kleiderordnung aus dem Jahre 1661 wurde darauf angespielt, dass einzelne Bürger repräsentative Selbstporträts in Auftrag gaben und so ein nicht standesgemäßes Bild von sich entwarfen. Die Ordnung verlangte: »Soll sich niemandts über seinem standt conterfeiten lassen, und da es beraidts geschehen wäre, solchen in vorgesetzter Zeit bey gleicher straff endern.«35 31 | Alle Zitate: K.H. Hörning: Die Macht der Dinge, S. 165. 32 | N. Bulst/T. Lüttenberg/A. Priever: Abbild oder Wunschbild, S. 21-73, hier S. 29-32. 33 | Kranz, Anette: Christoph Amberger. Bildnismaler zu Augsburg. Städtische Eliten im Spiegel ihrer Porträts, Regensburg 2004. 34 | N. Bulst/T. Lüttenberg/A. Priever: Abbild oder Wunschbild, S. 24. 35 | Bartholomäus Marchthaler: Unmaßgeblicher project einer kleyder Ordnung Zu Regensburg, Anno 1661, Hauptstaatsarchiv München, RL Regensburg 390, fol. 247r-271r, zit.n. N. Bulst/T. Lüttenberg/A. Priever: Abbild oder Wunschbild, S. 51.
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Im Mittelpunkt der Ausführungen stand bislang idealtypisch die Aneignung und der Vollzug sozialer Praktiken, um in körperlicher Beredsamkeit und durch In-Gang-Setzung eines vertrauten Repertoires sozialen Distinktionsverhaltens Statusansprüche im Praxisvollzug zu manifestieren. Es ging perspektivisch um kollektiv gedachte Subjektformen – ›Adel und Unternehmer‹ – und die Irritierung von Subjektpositionen durch soziale Praktiken, die die Grenzen der Ständegesellschaft überschreiten und in den ihnen innewohnenden Logiken kulturellen und gesellschaftlichen Wandel markieren.
P R AK TIKEN DER S UBJEK TIVIERUNG Eine andere Perspektive eröffnet die Frage nach dem praktischen Hineinweben in eine Subjektform durch Individuen, die über bestimmte geistige wie körperliche Dispositionen verfügen – um im Bild zu bleiben: die Subjektform ›Adel‹ oder ›reicher Unternehmer‹ als kollektive, kulturelle Typisierung, die in Praktiken realisiert wird. Mit Subjektform ist hier ausdrücklich nicht eine ›soziale Rolle‹ gemeint, die durch bestimmte Verhaltensweisen oder etwa die Übernahme von Ämtern oder Titeln angeeignet werden kann. Und bei der Frage nach dem Subjekt interessiert nicht eine spezifische, historisch irgendwie nachweisbare ontologische Entität, sondern der Prozess der Subjektwerdung. In diesem Prozess geht es weniger um die Frage, in welcher Richtung »Praktiken subjektivieren, d.h. welche Dispositionen eines zugehörigen Subjekts sie nahe legen und über welche Wege ihnen diese Modellierung eines entsprechenden Körpers, eines Wissens und einer Psyche gelingt«.36 Vielmehr ist von Interesse, wie sich soziale Ordnungen und relationale Positionen von Subjekten in Praktiken konstituieren, verwerfen und neu formieren.37 Subjektivierungsprozesse sind aus dieser Perspektive eingebettet in Figurationen,38 die sich zum einen in einem aufeinander reagierenden, stabilisierenden und irritierenden Zusammenspiel von Praktiken ergeben,39 zum anderen entstehen in Praktiken Figurationen von sich subjektivierenden Individuen. Entscheidend für die Analyse von Subjektivierungsprozessen ist die historisch-spezifische Materialität oder, in Anlehnung an Schatzki, die »arrange36 | Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 135. 37 | Vgl. den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 38 | In Anlehnung an Nobert Elias Figurationssoziologie ist Gesellschaft das von Individuen gebildete Interdependenzgeflecht selbst. Elias, Norbert: Was ist Soziologie, Weinheim 1970, S. 142f. und ders.: Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976, Bd. 1, S. LXVII-LXX. 39 | Vgl. dazu auch die Überlegungen von Schatzki zu »practice-order complexes«. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 266ff.
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ments of entities« (Menschen, Artefakte, Dinge)40 und die Berücksichtigung textueller und visueller diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken.41 Dabei ist insbesondere aus historischer Perspektive zwischen drei Analyseebenen zu unterscheiden. Erstens, den konkreten Praktiken der Text-, Bild- und Dingherstellung in je spezifischen materiellen Kontexten und Artefaktkonstellationen, zweitens, den ritualisierten und routinierten Praktiken der Selbst-Bildung einschließlich ihres subversiven Potenzials42 textueller, visueller und materieller Produktionen etwa als Distinktionsmerkmal (z.B. Sprachstile und Bildtechniken oder Porträtaufträge als standesgemäße Praktik) und schließlich drittens im Sinne Foucaults einem Verständnis diskursiver Praktiken, die »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«.43 Subjektivierungsprozesse sind aus praxistheoretischer Perspektive gekennzeichnet durch übende Teilnahme an sozialen Praktiken, Beobachtung und Arbeit an sich selbst, um Routinen einzuüben, Gebrauchswissen zu erlangen und ein Verständnis für die Mithandelnden und die Dingwelt zu gewinnen und so den jeweiligen feldspezifischen Kriterien zu entsprechen:44 Bezogen auf den Adel sind das die Höfische Gesellschaft, Politik, Ehre und das Zeremoniell oder mit Blick auf reiche Unternehmer die Kontore, Kennerschaft, Handelsnetzwerke und das Kapital des Vertrauens. Diese Subjektivierungsprozesse sind gekennzeichnet von dem Zusammenspiel und den Reibungsflächen zwischen feldspezifischen sozialen Praktiken und dem Eigensinn der Akteure, der körperlich oder psychisch gegebenen oder die Folge bereits eingenommener Subjektformen und der damit inkorporierten Praktiken und Dispositionen ist.45 In 40 | T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 89ff. 41 | Schatzki definiert Praktiken als »Gemisch« (motley) diskursiver und nichtdiskursiver Handlungen und überwindet damit die Dichotomien von Praxis und Diskurs. T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 77. Für das Verhältnis nicht-diskursiver Praktiken und Diskurse vgl. A. Reckwitz: Subjekt, S. 138. 42 | Dies ist bezogen auf die Normen der Ständegesellschaft, die in Praktiken aktualisiert und hervorgebracht werden und hier im Vollzug von Praktiken unterlaufen und gewissermaßen neu besetzt werden. 43 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1969, S. 74. 44 | K.H. Hörning: Die Macht der Dinge, S. 162. 45 | Mit Eigensinn ist hier nicht der in der historischen Forschung seit den 1990er Jahren verwendete Begriff des »Eigensinns« als Form politischer Widerständigkeit oder als das »gesamte Spektrum der alltäglichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen der Individuen« gemeint: Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993 oder Schindler, Norbert: Widerspenstige Leute, Frankfurt a.M. 1992. Vielmehr geht es hier um Dispositionen (mental/ körperlich/leiblich), die sich bestimmten Subjektivierungsprozessen in den Weg stellen. Vgl. dazu Alkemeyer, Thomas/Villa, Paula-Irene: »Somatischer Eigensinn? Kritische
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diesen Prozessen werden vor-intentionale Erfahrungsstrukturen, die bestimmte Handlungsmuster nahe legen, befremdet und irritiert, wenn sie auf Handlungszüge treffen, die im bis dahin angeeigneten Repertoire praktischen Handlungswissens faktisch nicht vorkommen. Im »Netz von Korrespondenzen« werden zwischen diesen unvergleichbaren Erfahrungen Zusammenhänge hergestellt, die als analogisch bezeichnet werden können. Soziale Praktiken sind damit immer auch reflexiv, implizites und explizites Wissen werden laufend aktualisiert im Vollzug der Praktiken.46 Subjektivierungen sind damit keine passiven oder aktiven Einschreibungen in vorgegebene Praktiken und Subjektformen, die Akteure zu Trägern sozialer Praktiken machen, die gewissermaßen von selbst ablaufen oder ins Stocken geraten. Im Vollzug sozialer Praktiken werden Passungen oder Nichtpassungen seismographisch registriert in den Handlungszügen, Irritationen oder Verweigerungen der Mitspieler und den sich erst im praktischen Vollzug konstituierenden Relationen der Akteure. Aus dieser Perspektive werden Praktiken nicht als Übermittler fest eingeschriebener, kollektiver kultureller Deutungsschemata verstanden, die intuitiv erfahrbar sind im Sinne eines »having a feeling for the game« oder »tacitly grasping a rule«, wie dies beispielsweise in Bourdieus Logik der Praxis angelegt ist.47 Die Intelligibilität wie auch der Vollzug von Praktiken ist vielmehr situativ und temporär spezifisch und ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel der Akteure, ihrem Praxiswissen und der teleoaffektiven Struktur von Praktiken, d.h. den ihnen inhärenten Zielen, Projekten und Aufgaben, die nicht gleichermaßen von allen Teilnehmern geteilt und wahrgenommen werden.48 Die Bewegung einer Hand beispielsweise kann als Gruß gemeint/verstanden werden, als Geste, mit der jemand herbei gerufen wird oder als Abwinken, das wiederum abfällig gemeint sein kann oder beruhigend, indem signalisiert wird, das etwas bereits erledigt ist.49 Die Erwiderung oder aber Missachtung kann Ausdruck (mangelnden) Praxiswissens sein, eine Anmerkungen zu Diskurs- und Gouvernementalitätsforschung aus subjektivationstheoretischer und praxeologischer Perspektive«, in: Johannes Angermüller/Silke van Dyk (Hg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 315-335. 46 | Bei aller Heterogenität von Praxistheorien besteht weitgehend Übereinkunft darin, dass ein Kennzeichen von Praktiken »tacid oder implicit knowledge« und »shared practical understandings« (Gemein-Sinn) sind. T.R. Schatzki: Introduction. Practice Theory, S. 2-3. Uneinigkeit besteht in der Frage nach dem Verhältnis von impliziten und explizitem Wissen. 47 | T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 78 und Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 147-179, bes. S. 167ff. 48 | T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 80. Vgl. den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 49 | Vgl. dazu T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 72.
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Missachtung bzw. Verweigerung kann aber auch Ausdruck sozialer Relationen, Positionierungen und Machtansprüche bedeuten. Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen stellt sich nicht länger die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis ständischer Ordnung und gesellschaftlicher Dynamik. Soziale Ordnungen werden aus praxeologischer Perspektive erst in Praktiken erkennbar, die sie hervorbringen und für die soziale Ordnungen zugleich konstitutiv aber nicht determinierend sind. Anders formuliert, Praktiken und Ordnungen sind ko-evolutiv.50 Die frühneuzeitliche ständisch gegliederte soziale Ordnung wird aus dieser Perspektive betrachtet als in Praktiken hervorgebracht, im Vollzug aktualisiert, irritiert und transformiert. Die Beanspruchung von Subjektpositionen, die durch die Überschreitung standesabhängiger Privilegien eingenommen wurden, gelang nur in der ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken durch deren Vollzug. Mit der ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken wird auf vorgegebene Praktiken als Teil kollektiver Handlungsschemata und die damit korrelierenden sozialen Felder zugegriffen, ohne sich in die dafür vorgesehenen Subjektformen und Subjektrelationen einzuschreiben. An ihrer Stelle entwickelten sich neue Subjektformen, deren Anforderungsprofile sich aus der praktischen Erfahrung neuer Handlungsroutinen und irritierter kultureller Schemata ergaben, diesen also nicht vorrangig waren. Trotz konzeptioneller Schnittmengen unterscheidet sich dieser Prozess der ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken von den von Gunter Gebauer und Christoph Wulf analysierten »mimetischen Weltzugängen« in einem entscheidenden Punkt: Während nach Gebauer und Wulf »in mimetischen Prozessen […] vom Handelnden bereits Erworbenes als Eigenes konstituiert und durch Habitualisierung verfügbar gemacht wird« und Prozesse sozialer Mimesis kreative Aneignungsprozesse der Welt beschreibbar machen,51 geht es bei der ›Überschreibung‹ darum, im Vollzug sozialer Praktiken relationale Subjektpositionen und damit Macht- und Einflussgefüge zu verändern und neu zu besetzen.
S ELBST-B ILDUNG ALS A UFFORDERUNG UND M ÖGLICHKEITSR AUM AM B EGINN DER M ODERNE Diese hier zunächst nur theoretisch postulierten Selbst-Bildungsprozesse wurden seit dem 15. Jahrhundert durch eine diskursive Verdichtung von Reflexio50 | T.R. Schatzki: Introduction. Practice Theory, S. 5. 51 | Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Mimetische Weltzugänge. Soziales Handeln – Rituale und Spiele – ästhetische Produktionen, Stuttgart 2003, S. 9 und S. 120. Nach Gebauer und Wulf können mimetische Handlungen etwa in Spiel, Ritual und Geste durchaus aus einer Welt eine andere schaffen, aber das ist dann eher zufällig das Ergebnis kreativer Aneignungsprozesse.
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nen über die Selbst-Bildungsfähigkeit des Menschen als Möglichkeitsraum mit Aufforderungscharakter eröffnet. An die Stelle einer gottgewollten Ständegesellschaft trat nun zumindest als Idee ein Gesellschaftsbild, das nicht göttlichen Willen allein, sondern die Geisteskräfte und das eigene Vermögen des Menschen in den Mittelpunkt rückte. Kaum jemand hat diesen Vorstellungen mehr Ausdruck und zugleich Aufforderungscharakter verliehen als Pico della Mirandola (146394). In seiner Rede »Über die Würde des Menschen« argumentierte er, dass Gott den Menschen als Mittelpunkt der Welt geschaffen habe.52 In seinen Anlagen unterscheide er sich vom Tier. Der Mensch könne je nach Perfektion seiner Fähigkeiten entweder zum Tier entarten oder er könne sich zum göttlichen Sein entwickeln. Welches ›Sein‹ er wähle, hänge allein von seinem freien Willen ab. Damit wird der Mensch zu seinem eigenen Gestalter, der nach seinem freien Willen selbst entscheidet, wie und wo und was er sein will. Nach Stephen Greenblatt lässt sich seit dem 16. Jahrhundert eine qualitative Veränderung in dem Bewusstsein über die Selbst-Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen feststellen, die sich nicht mehr ausschließlich auf die Imitatio Christi konzentrieren: »in the sixteenth century there appears to be an increased self-consciousness about the fashioning of human identity as a manipulable, artful process.«53 Seit dem 16. Jahrhundert entstand eine nicht mehr überschaubare Zahl von »Anstandsbüchern«, »Sittenlehren«, »Ratgebern«, »Erbauungsliteratur« und Ordnungen, die detaillierte Handreichungen zur Einübung sozialer Praktiken und zu Fragen der Lebensführung je nach Alter, Geschlecht, Stand, Profession und sozialem Feld beinhalteten. Trotz Unterschieden vereinte diese Schriften bis in das 18. Jahrhundert die Körperlichkeit sozialer Praktiken und die Vorstellung, dass bestimmte Körperpraktiken durch Nachahmung gewissermaßen im Feld eingeübt, ausprobiert und im kontinuierlichen Vollzug verinnerlicht werden müssten. Das bezog sich nicht nur auf die Kleidung und das Erscheinungsbild, die bestimmten standes-, professions- und geschlechtspezifischen Vorstellungen entsprechen mussten, sondern auch auf die »körperliche Beredsamkeit«, die beherrscht werden müsste.54 Exemplarisch für dieses Schrifttum 52 | Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, hg. und übersetzt von Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997. 53 | Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago/London 2005 [1980], S. 2. ›Self-fashioning‹ ist für Greenblatt in Anlehnung an Clifford Geertz »the Renaissance version of these control mechanisms, the cultural system of meanings that create specific individuals by governing the passage from abstract potential to concrete historical embodiment« (ebd., S. 3-4). 54 | Zur Kleidung immer noch aktuell Dinges, Martin: »Von der ›Lesbarkeit der Welt‹ zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft«, in: Saeculum 44 (1993), S. 90-112; Kapp, Volker: »Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Frühen Neuzeit«, in: ders.
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sollen im Folgenden aus drei Jahrhunderten einige Abhandlungen kurz vorgestellt werden. Zunächst Erasmus Sittenlehre von 1531. Bereits der Titel beinhaltet die zentralen Elemente von Körper, Gebärden und Übung: »Züchtiger Sitten zierlichen Wandels und höfflicher Geberden der Jugent In alle weg und nach Ordenung des gantzen leibs/Den Jungen sich darin zu üben/Den Alten, ihre Kind nach solichem ebenbild inn zucht zu erziehen. New verteutscht«.55 In seinen Ausführungen unterscheidet Erasmus zwischen Verhaltensweisen, die durch ständiges Üben verbessert werden können – beispielsweise kann man sich schnelles Reden oder unpassendes Stirnrunzeln abgewöhnen, weil sie nicht Teil der Natur seien – und zwischen Verhaltensweisen, die nicht völlig verändert werden könnten wie das Stottern.56 Der Eigensinn des Körpers in seiner natürlichen Leiblichkeit verweigert bestimmte Gebrauchsweisen. In Baldassare Castigliones Der Hofmann, einem Anstandsbuch für den Adel aus dem 16. Jahrhundert, wird die Vorstellung noch deutlicher, dass angemessenes Verhalten im übenden Vollzug sozialer Praktiken verinnerlicht werden soll.57 So wird konkret gefragt: »ob der […] vorzunehmende Unterricht/von der Gewohnheit und gleichsam täglichen Lebens-Arten müsste angefangen werden, die ihn ohne sein Vermuthen gewöhnen gut zu thun/und tugendhafft zu leben; oder ob man mit vernünftigem Einreden und des guten oder bösen Bewandnitz ernsthafften vor Augenstellung den Anfang machen soll«. 58
Die Antwort lautet: der »erste Unterricht« müsse mit der »Gewohnheit« anfangen. Im weiteren Verlauf werden, bezogen auf verschiedenste Lebenssituationen und soziale Kontexte, die erwartbaren sozialen Praktiken beschrieben und zum routinierten Vollzug durch ständiges Einüben angeleitet, bis sie zur zweiten Natur würden. Die englische Ausgabe von 1561 endet mit einer Wiederholung der wichtigsten Voraussetzungen und Eigenschaften eines Höflings und bezieht sich dabei sowohl auf die körperliche Beschaffenheit als auch auf Bewegungen, die so ausgeführt werden müssten »as though they were rather naturally in him than learned with study«.59 Wie das konkret aussehen sollte, (Hg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Marburg 1990, S. 40-64. 55 | Erasmus von Rotterdam: Züchtiger Sitten zierlichen Wandels und höfflicher Geberden der Jugent […], 1531. 56 | Erasmus: Züchtiger Sitten (ohne Seitenzählung). 57 | Baldassare Castiglione: Der Hofmann, Frankfurt a.M. 1684 [1528]. Auf die Erstausgabe erfolgten viele Neuauflagen und Übersetzungen. 58 | Castiglione: Der Hofmann, S. 656. 59 | The Cortyer of Count Baldessar Castilio divided into four bookes […] done into English by Thomas Hoby, London 1561 (ohne Seitenzählung).
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zeigt sich beispielsweise in sogenannten Pagenordnungen, die die Auswahl, die Ausbildung und das Verhalten adligen Nachwuchses am Hof regelten. Junge Adlige mit vorher genau definierten Dispositionen und sozialen Merkmalen (Körper, Alter, Herkunft, Bildung) wurden für den Dienst am Hof ausgesucht, um im übenden und nachahmenden Vollzug höfischer Praktiken zu angehenden Mitspielern gemacht zu werden. Die Grundlage bildete ein fein strukturierter Tagesablauf mit konkreten praktischen Übungen im höfischen Umfeld. Wie eng im Denken der Zeit »Praktiken« mit »Subjektformen« zusammenhingen und als körperliche Beredsamkeit verstanden wurden, hat Wilhelm Kühlmann bereits in seiner Deutung der Antrittsrede des Späthumanisten und Pädagogen Caspar Dornau aus dem Jahre 1617 hervorgehoben. Dornau zeige, dass »der Mensch auch in seiner äußeren Erscheinung, in seinem Benehmen, in seiner Gestik und in seiner Sprache einerseits das Bild vollendeter Harmonie zu bieten habe […] und andererseits in vollendeter Manier die sich aus der sozialen Ordnung ergebenden Rollenpostulate und Verhaltensnormen zu beherrschen und das jeweils Angemessene zu beurteilen und zu praktizieren habe«. 60
Für die Vorstellung, dass sich angemessenes Verhalten am besten durch praktische Teilhabe einüben und verinnerlichen lasse, gibt es auch aus dem 18. Jahrhundert Belege. In seiner Abhandlung mit dem Titel »Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben« schreibt Christian Carve: »Der Umgang ist eine Kunst, und wird wie alle Künste, nur durch Uebung zur Vollkommenheit gebracht. So wie nur nach sehr vielem Zeichnen und Malen, in einer Nation, große Mahler zum Vorschein kommen; so wie der welcher ein großer Tonkuenstler werden soll, sehr viel musicieren muß; so muß in einer Gesellschaft von Menschen, wo der Umgang sehr verfeinert werden soll, sehr viel Umgang seyn; der Mensch, welcher ein guter Gesellschafter werden will, muß viel Zeit in Gesellschaft zubringen.« 61
Auch wenn die Betonung hier auf den ersten Blick auf einer Zivilisierung des Verhaltens liegt, so geht es in dieser Schrift doch um die übende Aneignung sozialer Praktiken, die in bestimmten sozialen Feldern die Voraussetzung zum Mitspielen sind.
60 | Kühlmann, Wilhelm: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, S. 141-42. 61 | Christian Carve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, 1. Theil, Breslau 1792, S. 312.
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S ELBSTENT WÜRFE IN DEN P R AK TIKEN DES S CHREIBENS Mit diesen Vorstellungen der Selbst-Bildungsfähigkeiten von Menschen wurde gesellschaftlicher Wandel in der Ständegesellschaft erstmals denkbar und diskursiv in den Bereich des Sag- und Machbaren transferiert. Die Verfasser von Anstandslehren, überwiegend Nicht-Adlige, Humanisten, Gelehrte und Pädagogen, entwarfen sich selbst in den Praktiken des Schreibens. Wird im Verfassen von Anstandsbüchern als soziale Praktik das »Überschreiben vorgegebener sozialer Praktiken« explizit, so lassen sich im gleichen Zeitraum sehr unterschiedliche Zeugnisse einer kontinuierlichen Selbstthematisierung und Selbst-Modellierung und einer reflexiven Überprüfung des Selbst- und Weltverhältnisses beobachten.62 Diese Tendenz zur Selbstthematisierung schlägt sich in einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Quellen nieder. Dazu zählen Porträts und Trachtenbücher, Selbstzeugnisse, Anstandsbücher, medizinische Verhaltensratgeber, Ordnungen und Gerichtsakten. Insbesondere Selbstzeugnisse offenbaren implizite »Platzierungen und Deplatzierungen im sozialen Raum, also, genauer, in den verschiedenen aufeinander folgenden Zuständen der Verteilungsstruktur der verschiedenen Kapitalsorten, die in dem betreffenden Feld im Spiel sind.«63 »Deplatzierungen« werden allerdings nicht zwangsläufig mit Nichtpassungen und daraus resultierendem möglichen Scheitern assoziiert, sondern als Eigensinn mit dem Potenzial zur Transformation gesellschaftlicher Formationen verstanden. Eine Re-Lektüre dieser Selbstthematisierungen aus praxeologischer Perspektive kann die Prozesse des übenden, selbstreflexiven Einschreibens in bislang nicht besetzte soziale Felder aufzeigen. Dabei wird insbesondere das spannungsvolle Zusammenspiel von Einpassung und Veränderung, von sozialer Reproduktion und Subversion, von Unterordnung und Widerstand im praktischen Vollzug vorgegebener Subjektformen sichtbar. Die Korrespondenzen von Gelehrten im 16. und 17. Jahrhundert liefern ein beredtes Zeugnis dieses Zusammenspiels. In einem Brief an Ulrich Hutten entwirft Erasmus von Rotterdam das Porträt eines gemeinsamen Freundes, Thomas More. In diesem Brief, wie in unzähligen anderen Schriften des Erasmus, erschafft sich der Gelehrte selbst und ringt um Anerkennung als Gelehrter über das Bild des Freundes, das zugleich immer auch eine Subversion adliger sozialer Praktiken ist. Gleich zu Beginn wird die Bedeutung der Gelehrsamkeit ins Zentrum des Selbst gerückt: »Daß Dir der Geist des Thomas Morus solche Liebe einflößt und Du, fast hätte ich gesagt, nach ihm verschmachtest – denn natürlich haben Dich seine Schriften begeistert, 62 | Hahn, Alois: »Biographie und Lebenslauf«, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 2000, S. 97-115. 63 | Bourdieu, Pierre: »Die biographische Illusion«, in: BIOS 1 (1990), S. 75-81, hier S. 80.
»I CH WILL D IR SELBST EIN B ILD VON MIR ENT WERFEN « die, wie Du richtig schreibst, das Gelehrteste und Reizendste sind, was man sich vorstellen kann –, das hast Du, glaube mir, hochberühmter Hutten, mit vielen gemeinsam, und Morus geht es sogar genauso mit Dir; denn er ist seinerseits von der Anmut Deiner Schriften so entzückt, daß ich beinahe neidisch bin auf Dich.« 64
In den nachfolgenden Passagen wird die Subversion adliger Praktiken bei gleichzeitiger Einpassung in das Feld des Hofes deutlich und auch hier kreiert Erasmus ein Bild des Gelehrten, eine Imagination, wie er übrigens einleitend selbst schreibt: »Nun aber zu Deiner Bitte, ich möchte Dir den ganzen Morus wie in einem Gemälde schildern […] Er liebt einfache Kleidung, trägt weder Seide noch Purpur noch goldene Ketten, außer wenn es von Amts wegen sein muß. Es ist erstaunlich, wie wenig er auf Fragen der Etikette gibt, nach der die meisten Menschen das Maß der Herablassung bemessen. Wie er sie von niemand fordert, so unterwirft er sich ihr auch anderen gegenüber nicht sklavisch, weder bei offiziellen Anlässen noch im privaten Verkehr. Trotzdem beherrscht er sie vollendet, wenn es ihm beliebt. Aber er hält es für weibisch und eines Mannes unwürdig, mit solchem Firlefanz viel Zeit zu vergeuden […] Hat er einmal jemanden als aufrichtig und ihm zusagend befunden, dann genießt er den Verkehr und die Unterhaltung mit ihm so, daß man den Eindruck hat, er schöpfe seine Lebensfreude hauptsächlich hieraus. Denn mit dem Ball-, Würfel- und Kartenspiel, mit dem sich das Gros der Vornehmen die Langeweile zu vertreiben pflegt, hat er nichts im Sinn.« 65
D IE M ATERIALITÄT VON P R AK TIKEN Eine genaue Analyse dieses Schrifttums als soziale Praktik des Selbstentwurfs zeigt nicht nur die relationale Positionierung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, sondern macht zugleich die dingliche Welt und materielle Kultur sichtbar, die Teil dieser Praktiken waren: Schreibpult, Papier, Schreibwerkzeuge, Raumanordnungen, die sich um die Praktik des Schreibens gruppieren: Licht, Bücher, Regale, Abgeschiedenheit und Ruhe als klarer Kontrast zur höfischen Welt. Es ist wenig überraschend, dass sich Humanisten eingebettet in Artefakte des Schreibens und Lesens porträtieren ließen. Darüber hinaus wird in den vielfältigen Ordnungen, die seit dem 16. Jahrhundert Interventionen in die Lebenswelten und Alltagspraktiken vornahmen, die materielle Welt und die Gebrauchsweisen der Dinge sichtbar. In den be64 | Desiderius Erasmus an Ulrich von Hutten. Aus: Mout, Nicolette: Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München 1998, S. 363-372. 65 | Aus: ebd., S. 363-372.
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reits erwähnten Pagenordnungen aus dem 17. Jahrhundert wird der Umgang mit Dingen sehr detailliert als einzuübende Praxis beschrieben: Der Praeceptor hat dafür zu sorgen, »… dass Sie [die Pagen] Rosen Crentz, bettbücher, geistliche bilder, agnus Dei am halß, weihwaßer im Zimmer undt Cammer und dergleichen iedem Christenmensch zum leib und seell nutzliche sachen haben: […]«.66 Und an anderer Stelle: »Bey höchstem dienst [die Messe] haben sie fein langsam auß und in die sacristey, zwey und zwey zu gehen, oder wo eß eng, nacheinander: die erforderte reverentzen [=Verbeugungen] fleißig tief undt zugleich, auch auf ein manier zu machen: die fackell auch allemale aufrecht zu tragen: auch dahin zu sehen, dass keiner dem hochwürdigen Sacrament, eß seye wo eß wolle, den rücken biethe.« 67
Ähnlich detailliert waren die Anweisungen für die Dienste bei Gastmählern und bezogen sich sowohl auf das angemessene äußere Erscheinungsbild, Körperhaltung, Sprache wie auch auf einzuübende Bewegungsabläufe bei Tisch. Da das Ziel der Ausbildung war, »dass sie edle knaben sein sollen in tugendten und sitten«, wurden die jungen Pagen nicht zu besonderer Körperpflege angeleitet, sondern Hygiene sollten sie aus sich selbst heraus »lieb haben«: »Deroselben hat ein ieder erstlich zu sehen, dass er die reinigkeit lieb habe in allen sachen, am leib, kleidern, leingewand und allen anderen sachen wie dan mit frischen hemdern alle wochen, kragen undt […] wenigst zweymahl sich versehen sollen: Item wan sie auffstehen, sollen sie sich fleißig kaemen, item die kleider taglich putzen lassen, und waß zerbrochen, bessern. Sich befleißen, dass sie die kleider selbsten oder einer dem anderen unnutzer weise nitt (über dem eigentlichen Text geschrieben) zerrissen oder verderben: in der fruhe, wan sie auffstehen, sollen sie dass angesicht und hend, auch dass maull fleißig waschen: unter tags vor und nach dem essen oder so oft eß sonsten nötig.« 68
Anstandsbücher und Sittenlehren des 16. und 17. Jahrhunderts schließlich offenbaren nicht nur Raumanordnungen und Relationen der Akteure, sondern eine ganze Grammatik an Gebrauchsweisen von Dingen, die zunächst erworben und deren Gebrauch im Umgang erlernt werden muss: Diese reichen vom Taschentuch zum Naseputzen über den Einsatz von Besteck und die Haltung am Tisch bis hin zu speziellen Orten, um die Notdurft nicht öffentlich zu verrichten. Im Umkehrschluss führen falsche Gebrauchsweisen oder eine Verweigerung der Dinge, sobald diese Teil routinisierter Handlungsverläufe 66 | Pagenordnung, Staatsarchiv Osnabrück StaOs, Rep 100/17/16, 75. 67 | Ebd. 68 | Ebd.
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geworden sind, zu Irritationen bis hin zu Nichtpassungen im sozialen Feld oder zur Subversion. Während anhand von Inventaren, die sämtliche Besitztümer auflisten, die Existenz von Dingen und ansatzweise Bedeutungszuschreibungen und Beziehungsnetzwerke in der frühen Neuzeit erfasst werden können,69 erlaubt die Musealisierung von Dingen die Materialität haptisch nachzuvollziehen und mögliche Gebrauchsweisen zu rekonstruieren, etwa die Höhe und Beschaffenheit von Schreibpulten, Schreibfedern und Papier. Die Materialität sozialer Praktiken und die »Sozialität von Artefakten« ist in Praxissoziologien vielfach betont worden.70 Während Bruno Latour aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie71 Artefakten eine Handlungskompetenz (Aufforderungscharakter von Dingen) und damit auch in gewisser Weise Intelligibilität aus sich heraus zugesteht, Dinge gewissermaßen in klassischer handlungstheoretischer Perspektive bzw. in einer bloßen Umkehrung dieser Perspektive vom Objekt zum Subjekt mutieren können, geht das AffordanzKonzept in kritischer Distanz zur Akteur-Netzwerk-Theorie davon aus, dass Artefakte Träger von Praktiken mit gleichsam eingelassenen Gebrauchsgewährleistungen ›affordances‹ sind, die erst im Zusammenspiel mit anderen Trägern und in Bezug auf bestimmte Vermögen und Fähigkeiten existieren und intelligibel sind.72 Übertragen auf eine praxeologische Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse in der Frühen Neuzeit erschöpft sich die Sozialität von Artefakten nicht in ihrer Bedeutung als Träger bestimmter sozialer Distinktionsmerkmale – das bereits mehrfach erwähnte Marderfell als exklusives Distinktionsmerkmal des Adels. Gleichfalls erschöpft sich die Materialität von Praktiken nicht in der sozialen Gebrauchsweise – implizit oder explizit – von Dingen.73 Das schlichte Tragen eines Marderfells, um bei diesem Beispiel zu bleiben, würde zwar materiell erkannt werden als Distinktionsmerkmal des Adels, intelligibel würde diese Kleidung aber erst im Zusammenspiel sozialer Praktiken, und erst darin würde sie ihre besonde69 | Simon-Muscheid, Katharina: Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze, Göttingen 2004. 70 | R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 63. 71 | Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005. 72 | R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 67-68 und T.R. Schatzki: The Site of the Social, S. 71 sowie Schatzki, Theodore R.: »Materiality and Social Life«, in: Nature and Culture 5 (2010), S. 123-149, S. 134-138. Vgl. den Beitrag von Alkemeyer in diesem Band. 73 | So hat etwa Marian Füssel anhand von Selbstzeugnissen des Siebenjährigen Krieges untersucht, welchen Stellenwert Dinge in diesen Berichten hatten und wie der Umgang mit Dingen beschrieben wurde. Marian Füssel: »Der Wert der Dinge. Materielle Kultur in soldatischen Selbstzeugnissen des Siebenjährigen Krieges«, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 13/1 (2009), S. 104-121.
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re Bedeutung erhalten. Die Relevanz des Kleidungsverhaltens für die ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken im Vollzug existiert erst in dem komplexen Zusammenspiel konkurrierender sozialer Ordnungsmuster.
S CHLUSS Bei der Frage nach dem Subjekt interessiert in diesem Beitrag nicht eine spezifische, historisch nachweisbare ontologische Entität – etwa ein Adliger oder ein Unternehmer des 17. Jahrhunderts –, sondern der Prozess der Subjektivierung. Das Erkenntnisinteresse gilt mithin weniger der definitorischen Frage, was das Subjekt ist, was es macht und mit welchen Intentionen und Zielen es handelt, als vielmehr der Frage, wie Individuen in den spezifischen politischen, kulturellen und sozialen Kontexten der zumindest normativ proklamierten Ständegesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts zu Subjekten gemacht werden, wie sie sich selbst zu Subjekten machen und wie sie sich als Subjekte zu erkennen geben. Diese Wie-Fragen werden theoretisch-empirisch im Anschluss an neuere praxistheoretische Konzeptualisierungen aufgegriffen, die das Soziale nicht primär über intentional handelnde Individuen, Sprache und Sinn erschließen. Im Unterschied zu Handlungen gehen Praktiken nicht von Subjekten aus, sondern Subjekte schaffen und bilden sich in Praktiken. Praktiken sind stets eingebettet in umfassende historische, soziale und kulturelle Kontexte, innerhalb derer Individuen und Gruppen eine kulturelle Form erlangen müssen, in der ihre Handlungen für andere, aber auch für sich selbst erkenn- und zurechenbar werden. Zu den Leitfragen dieses Beitrags zählt die Frage, wie sich innerhalb einer auf dem Grundprinzip politisch-sozialer Ungleichheit beruhenden Gesellschaftsordnung mit normativen Zuschreibungen bestimmter Subjektpositionen (Ständeordnung) und idealtypischen Subjektformen (Adel, Geistlichkeit, Bürger, Bauer) neue soziale Gruppen entwerfen, autorisieren, wechselseitig anerkennen und von dritten anerkannt werden können – oder im Sinne der Ausführungen oben – eine kulturelle Form erlangen können, in der ihre Handlungen für andere, aber auch für sich selbst erkenn- und zurechenbar werden. Damit geht die Frage nach dem Prozess der Subjektivierung über ein Verständnis von Subjektivierungsprozessen hinaus, das vor allem danach fragt, in welche Richtung Praktiken subjektivieren, oder mit dem untersucht wird, wie soziale Felder bestimmte Subjektivierungsweisen mithilfe sozialer Praktiken und Diskurse institutionalisiert haben. Stattdessen interessiert sich dieser Beitrag dafür, wie sich soziale Ordnungen – die frühneuzeitliche Ständegesellschaft – und relationale Positionen von Subjekten in Praktiken konstituieren, verwerfen und neu formieren. Aus dieser Perspektive werden Praktiken nicht als Übermittler fest eingeschriebener kultureller Deutungsschemata verstan-
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den, sondern die Intelligibilität wie auch der Vollzug von Praktiken ist situativ und temporär spezifisch und ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel der Individuen, ihrem Praxiswissen und der teleoaffektiven Struktur von Praktiken. Soziale Praktiken sind damit immer auch reflexiv, implizites und explizites Wissen wird laufend aktualisiert im Vollzug der Praktiken. Mit dem Begriffspaar ›Subjektivierung‹ und ›Selbst-Bildung‹ wird ein begriffliches und zeitliches Spannungsfeld aufgemacht,74 das es erlaubt, Prozesse des ›self-making‹ unabhängig von gängigen Beschreibungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft als Ständegesellschaft und entlang der triangulären Konstellation von Feldern, Positionen und Praktiken in den Blick zu nehmen. Mit dem Terminus ›Selbst-Bildungen‹ wird explizit der Eigenanteil der Individuen an der praktischen Aus- und eventuell Umgestaltung vorgefundener Subjektpositionen und damit an ihrer eigenen Subjektwerdung in verschiedenen Kontexten hervorgehoben, ohne die Individuen als selbstherrlich agierende Subjekte misszuverstehen. Leitend für diesen Beitrag ist die Frage, inwiefern Individuen durch diese Akte der Selbst-Bildung qua Verkörperung zur Reproduktion, Transformation oder gar Subversion jener gesellschaftlich festgelegten bzw. strukturierten Spielräume beitragen, innerhalb derer sie ihr Verhältnis zur Umwelt wie zu sich selbst gestalten. Seit dem 15. Jahrhundert rückt die Vorstellung der Selbst-Bildung des Menschen durch die diskursive Verdichtung von Reflexionen über die Fähigkeit und Pflicht des Menschen zur Selbst-Bildung in den Bereich des Sag- und Machbaren, ja wird gewissermaßen zum Programm einer ganzen Epoche. Die traditionelle ständische Sichtweise von Nobilität durch Geburt wird konfrontiert mit der provozierenden Forderung nach Nobilität durch Bildung. Allerdings, so eine der zentralen Thesen dieses Beitrags, gelingt die Einnahme neuer Subjektpositionen nicht durch deren Reklamation, sondern erst in der ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken durch deren Vollzug. Diese ›Überschreibung‹ sozialer Praktiken ist eine Voraussetzung dafür, dass Subjektivierungsprozesse und die damit beanspruchten neuen Subjektpositionen ungeachtet des transformierenden Effekts erkennbar und zurechenbar sind. Erst aus der praktischen Erfahrung neuer Handlungsroutinen und irritierter kultureller Schemata ergeben sich neue Subjektformen, diese sind ihnen nicht vorgängig. Subjektivierungstheoretisch bietet die hier erprobte praxeologische Perspektive auf die frühneuzeitliche Gesellschaft mögliche Präzisierungen, die hier abschließend gewissermaßen als weiterer Diskussionsrahmen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit benannt werden sollen.
74 | Antrag für ein Graduiertenkolleg zum Thema »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«, Oldenburg 2009. Vgl. dazu auch die Einleitung in diesem Band.
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Erstens: Subjektivierung erschöpft sich nicht in der Einschreibung in vorhandene Felder und Subjektformen, die als gelungen angesehen wird, sobald die Bedienung der Klaviatur sozialer Praktiken gewissermaßen zur zweiten Natur geworden ist. Zweitens: Die Kopplung von individuell verkörperten Dispositionen und den sozialen Erwartungen im Prozess der Subjektivierung ist nicht zwingend. Aus der Perspektive der Selbst-Bildung sind Dispositionen durch Arbeit an sich selbst veränderbar; statt ein homogenes Gebilde, das bestimmte Handlungszüge erwartbar macht, wird der Habitus eher verstanden als ein Ensemble von Dispositionen, die situativ angesprochen werden.75 Drittens: Subjekte konstituieren, verwerfen und re-formieren sich in Praktiken. Sie sind zugleich Teil von Figurationen, die in Praktiken sich subjektivierender Individuen sichtbar werden. Und schließlich viertens: Subjektivierungsprozesse sind immer relational; aus den Logiken der Praktiken entfalten sich soziale Kräfteverhältnisse und Asymmetrien.
75 | Vgl. den Beitrag von Alkemeyer in diesem Band.
Der ›Vf.‹ als Subjektform Wie wird man zum ›Wissenschaftler‹ und (wie) lässt sich das beobachten? Thomas Etzemüller
Es scheint auf den ersten Blick eine reizvolle und durchaus unkomplizierte Angelegenheit zu sein, Subjektivierungsprozesse in der Wissenschaft zu beobachten, schließlich sind die Vertreter dieser Profession es gewohnt, intellektuelle und persönliche Spuren in der Öffentlichkeit zu hinterlassen. Man stößt jedoch rasch auf eine ganze Reihe von Problemen: eine Mauer des Beschweigens, eine übermächtige biografische Tradition, der »blinde Fleck« des »tacit knowledge«1 und – für Historiker – die Dürftigkeit der Quellen. Hätte die Wissenschaftssoziologie die Möglichkeit, eine beobachtende Langzeitstudie zu initiieren, könnte man diese Probleme überwinden – die Studie müsste ihre Objekte allerdings vom Studienbeginn bis zur festen Etablierung als Professor begleiten und am besten mehrere Fächer vergleichen. Doch selbst damit wäre die Frage, wie sich Subjektivierungsprozesse in der Wissenschaft seit der Frühen Neuzeit etabliert, verfestigt und verändert haben, nicht beantwortet. In diesem Aufsatz werde ich deshalb teils beschreiben, wie man eine (historiografische) Analyse von Subjektivierungsprozessen in der Wissenschaft durchführen sollte, teils aber auch, welche Hindernisse sich dieser Arbeit in den Weg stellen. Ich denke dabei sehr stark von einer wissenschaftssoziologischen Perspektive unter dem Gesichtspunkt der sozialen Ordnung her: Wie sehen die Mechanismen aus, mit denen ›Wahrheiten‹ generiert und derart etabliert werden, dass sie als unhinterfragbar ›wissenschaftlich‹ gelten, also mit einer Autorität ausgestattet sind, die dann konkrete Effekte auf die soziale Ordnung
1 | Vgl. Luhmann, Niklas: Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988; Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985.
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und das Leben einzelner Menschen ausüben kann?2 Subjektivierungstheorien können dabei ein Instrument bieten, diese Frage zu untersuchen, wenn man nämlich in den Mittelpunkt ein spezifisches Wissenschaftler-Subjekt stellt, das eine Position einnimmt, von der aus erst beliebige Aussagen in wissenschaftliche Wahrheiten transformiert werden, die dann konkrete Machteffekte zeitigen. Dabei verstehe ich den Subjektbegriff zunächst als eine ›Beobachtungskategorie‹,3 die man von Begriffen wie ›Individuum‹ und ›Person‹ unterscheiden sollte.4 Diese Begriffe bezeichnen eine Außenperspektive: Ein biologischer Körper wird beobachtet, als Mensch identifiziert und mit einem Eigennamen belegt. Ihm wird während der Dauer der Beobachtung eine über die Zeit und eventuelle Brüche hinweg stabile Identität zugeschrieben und damit eine biografische Kohärenz hergestellt.5 Wird dieser Mensch als ›Person‹ adressiert, so besteht er ausschließlich aus Attributen, die in bestimmten sozialen Situationen gefragt sind, um Funktionen zu erfüllen. Der Beobachter nimmt beispielsweise nur wahr, was auf einen verlässlichen, kompetenten Wissenschaftler schließen lässt; alles andere, was diesen Menschen auch ausmacht – private Vorlieben, Abneigungen, Urlaubsziele, der Stand der Ehe etc. – bleiben ausgeblendet (und gehören, in Luhmanns Worten, zur »Unperson«6) bzw. werden erst dann sichtbar, wenn Ihnen Relevanz für die wissenschaftliche Qualität des betreffenden Menschen zugeschrieben wird (so konnten zerrüttete Ehen in Berufungsverfahren selbst nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus eine Rolle spielen). Wird der Mensch als ›Individuum‹ bezeichnet, so wird er als einmalig erklärt und in Gegensatz zu anderen konkreten Individuen oder aber, depersonalisiert, in Gegensatz zur ›Masse‹ oder zu ›Strukturen‹ gesetzt, also als Unterscheidung genutzt, mit deren Hilfe die Welt kognitiv geordnet wird. Im Gegensatz zur Person/Unperson ist das Individuum eine ungeteilte, dafür aber auch weniger spezifizierte Entität. Wird ein Mensch dagegen in der Form eines ›Subjekts‹ beobachtet, so soll eine Innensicht simuliert und die Beziehung zwischen ›Außen‹ und ›Innen‹ in 2 | Vgl. z.B. Etzemüller, Thomas: »Die ›Bevölkerungsfrage‹ – und wie sie in die Welt kam«, in: Zeitgeschichte-Online vom Januar 2011, www.zeitgeschichte-online.de/ md=Bevoelkerung, abgerufen am 03.08.2012. 3 | Ich folge N. Luhmann: Erkenntnis als Konstruktion. 4 | Vgl. Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1980-1999, 3. Bd., S. 149-258; ders.: »Die Form ›Person‹«, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 142-154. 5 | Ausführlicher dazu Etzemüller, Thomas: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a.M./New York 2012, bes. Kap. 3 und 5. 6 | N. Luhmann: Die Form ›Person‹, S. 148f.
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den Blick genommen werden. Es geht darum, wie ein Mensch sich im Wechselspiel von Dispositionen und Praktiken7 von innen heraus bildet, sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt konstituiert, sich zu sich selbst verhält, sich als seiner selbst bewusstes ›Ich‹ in Gegensatz zu anderen Individuum setzt und sich selbst als Person anerkennungsfähig macht.8 Das ist ein stetes, unabgeschlossenes Arbeiten am eigenen Ich, das innerhalb sozio-kultureller Kontexte situiert ist und spezifischen Gestaltungsregeln folgt. Denn wenn einer Person Attribute zuerkannt werden, die es von außen betrachtet als Wissenschaftler zurechnungsfähig machen, so müssen die Eigenschaften, die als relevant attribuiert werden können, erst einmal im Innern ausgebildet worden sein. Wer als Person adressiert wird, muss sich als entsprechendes Subjekt selbst begreifen und so geformt haben, dass es als Person adressierbar ist.9 Diese Formung geschieht dadurch, dass ein Mensch sich in eine Subjektform hineintrainiert und in ihr zugerichtet wird, also ihre Regeln und Praktiken inkorporiert. Die Form ist ein Ensemble von Verhaltensweisen, Werten, Zielen und Praktiken, ein Bündel von Dispositionen, die Verhalten, Wahrnehmungen und Handlungen regelrecht formatieren. Das Hineintrainieren ist von der Zurichtung nicht zu trennen, es geschieht durch ein eher habitualisiertes als explizites Erlernen und Anwenden der Regeln und Praktiken in der Praxis, durch den ständigen Umgang mit Vorbildern, durch Praktiken, mit denen die Dispositionen inkorporiert werden. So konstituiert sich ein spezifisches Subjekt, zugerichtet einerseits, dem andererseits aber gerade die Dispositionen eine kreative Aktivierung der Praktiken, also Eigensinn erlauben. Drei Fragen bleiben dabei zunächst offen, nämlich erstens die Frage, wie das Verhältnis zwischen formatierenden Dispositionen und den ›Eigensinn‹ erfordernden/erlaubenden Praktiken aussieht, zweitens die Frage, ob Subjektivierungsprozesse einen Menschen ein für alle Mal auf eine Subjektform festlegen, und drittens die Frage, ob wir es beim Subjekt nicht doch mit einer empirisch verifizierbaren Essenz zu tun haben oder eben bloß mit einer Beobachtungskategorie. Wäre dieses Letztere der Fall, wären die ersten beiden Fragen beantwortet: Das Verhältnis Disposition/Eigensinn und die Durchdringungstiefe von Subjektivierungsprozessen lässt sich nur fallweise in konkreten empirischen Beschreibungen von Subjekten bestimmen und wird nicht durch eine ›Realität‹ determiniert, sondern durch unterschiedliche Beobachter in unterschiedlicher Form stabilisiert – was der eine mit guten Gründen als ›Eigensinn‹ beschreibt, 7 | Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 8 | Vgl. dazu den Beitrag von Norbert Ricken in diesem Band. 9 | Natürlich kann man als eine Person adressiert werden, für die man sich wahrlich nicht hält – und umgekehrt: Man kann sich für ein spezifisches Subjekt halten (und sich objektiv sogar zu einem solchen subjektiviert haben), ohne als solches adressiert zu werden. In beiden Fällen hat das Bemühen um Anerkennung nichts mit der faktischen Anerkennung zu tun.
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kann ein anderer mit ebenfalls guten Gründen als opportunistisches Verhalten interpretieren. Daraus ergäbe sich dann allerdings eine vierte Frage: Droht aus einer konsequenten Beobachterperspektive heraus nicht die Gefahr, dass der Subjektbegriff derart mit Eigensinn, Autonomie und Reflexionsvermögen aufgeladen, dass seine Stärke – das Ineinander äußerer Dispositionen und innerer Selbst-Bildung zu beschreiben – verloren geht, dass also aus dem ambivalenten, komplexen Subjekt doch wieder das klassische autonome Individuum der konventionellen Biografien ›Großer Männer‹ wird? Gibt es eine einigermaßen verbindliche Sicherung, die verhindert, dass man mit Hilfe von Subjekttheorien auf herkömmliche Weise einfach autonome Individuen beobachtet? Ich werde im Folgenden zunächst umreißen, wie man das Subjekt als in einem doppelten Beobachtungsprozess entstehend beschreiben könnte, nämlich – zeitgenössisch – beobachtet durch seine abschätzende Umwelt und – posthum – durch den analysierenden Historiker. Wenn festgestellt wird, so die eine These, dass ein beliebiger Irgendjemand sich zu Jemandem verwandelt hat, und zwar in der paradoxen Form des ›Vf.‹, einer wissenschaftlichen Autorität, die gleichzeitig hinter ihrer wissenschaftlichen Arbeit verschwindet, ein individueller, depersonalisierter Autor, dann ist das Subjekt in der Wissenschaft konstituiert (III.). Zuvor allerdings werde ich die (auto-)biografische Selbstthematisierung von Wissenschaftlern anreißen, denn in einem eigentümlichen Zirkel von Lebenslauf und (Auto-)Biografie, so die andere These, entsteht das Wissenschaftlersubjekt, indem es gezielt beschwiegen und zugleich als spezifische Form der Repräsentation evoziert wird (I., II.). Abschließend werde ich knapp die Quellen einer solchen Beobachtung zusammenfassen und die Grenzen und Probleme dieses Zugriffs skizzieren (IV.).
I. B IOGR AFISCHE S ELBSTBESCHWEIGUNG Wenn wir die biografische Praxis von Wissenschaftlern beobachten, stoßen wir zunächst auf ein etwas widersprüchliches Bild. Sehr unwillig hatte beispielsweise der Historiker Gerhard Ritter 1965 reagiert, als er vom »Institut für den wissenschaftlichen Film« um eine Stellungnahme zu seiner Person gebeten worden war: »Ein Professor soll durch seine Schriften wirken, die für sich selbst sprechen müssen, nicht aber sich selbst gewissermaßen auf die Bühne stellen und vor unbekannten und unsichtbaren Betrachtern produzieren. Das Persönliche ist unwichtig, das wissenschaftliche Werk allein wichtig.« 10 10 | Institut für den wissenschaftlichen Film, Göttingen: Filmdokumente zur Zeitgeschichte. G 106/1967: Gerhard Ritter, Freiburg i.Br. 1966. Beiheft, Göttingen 1967, S. 113.
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Nicht anders hatte es der Eugeniker Fritz Lenz 1925 formuliert, als er zu einem Vortrag an das »Rassenbiologische Institut« in Uppsala eingeladen worden war: »Über mein Leben und Wirken ist sehr wenig zu sagen. Es wäre mir am liebsten, wenn bei der Ankündigung [des Vortrages] mehr auf die Sache als auf die Person hingewiesen würde.«11 In den Quellen sind solche Hinweise zwar spärlich gesät, doch in (auto-)biografischen Texten wird man fündig. Martin Kohli hat in einem Aufsatz mit dem treffenden Titel »Von uns selber schweigen wir« solche Lebensgeschichten von Wissenschaftlern untersucht und kommt zu dem Schluss: »Es ist für die Selbstdeutung der modernen Wissenschaften zentral, daß es in ihnen um die ›Sache‹ gehe und nicht um die ›Person‹. Daraus erwächst für diese – strenggenommen – eine Schweigepflicht; zumindest ist das Reden von sich selber problematisch.« 12
Viele Historiker (oder deren Nachfahren) haben in diesem Sinne bereits an den Wurzeln vorgesorgt, indem sie Nachlässe regelrecht modelliert haben, da sie die intellektuelle und wissenschaftspolitische Entwicklung ihrer Stifter abbilden sollten, weshalb das ›Private‹, nicht zuletzt die Spuren der Ehefrauen, zu tilgen waren. Das spiegelt ein Ideal, das Wissenschaft und Privatleben als getrennte Sphären begreift.13 Nun sind Wissenschaftler(auto-)biografien jedoch ein anerkanntes und florierendes Genre. Auch gefallen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittlerweile durchaus in der medialen Inszenierung oder lassen sich gar ein regelrechtes Image-Styling gefallen.14 Es wurde sogar spekuliert, dass Wissen11 | Universität Uppsala, Universitätsarchiv, Herman Lundborgs brevsamling, Mappe 5: »Fritz Lenz an Herman Lundborg« vom 7.7.1925. Ähnlich hieß es 1972 über die Wissenschaftlerin Anneliese Maier: »Die private Sphäre galt ihr wenig, die Betätigung in wissenschaftlichen Unternehmungen alles« (Otto Lehmann-Brockhaus, zit.n. Hoffmann, Petra: Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft. Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945, Bielefeld 2011, S. 316, Anm. 290). 12 | Kohli, Martin: »›Von uns selber schweigen wir‹. Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten«, in: Wolf Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1981, 1. Bd., S. 428-465, hier S. 428. 13 | Es gibt noch keine historische Analyse der Genese von Nachlassbildungen, deshalb muss offen bleiben, ob dieses Verhalten für Wissenschaftler aller Professionen typisch ist und ob es nationale Unterschiede gibt. Meine eigenen, unsystematischen Eindrücke legen die Vermutung nahe, dass beispielsweise schwedische Soziologen in dieser Beziehung wesentlich weniger restriktiv gewesen sind. 14 | Als zwei Beispiele mögen die Historiker Götz Aly und Philipp Sarasin dienen (vgl. Die Zeit vom 01.07.2004, S. 28, und vom 19.5.2005, S. 63f.). Vgl. auch Schöttler, Peter:
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schaftler zunehmend primär von sich erzählten; die Frequenz der Wortverwendung »ich« nehme zu, das Postulat der »Objektivität« drohe dabei auf der Strecke zu bleiben.15 Das Interessante ist jedoch, dass in wissenschaftlichen und populären Texten Wissenschaftler gleichermaßen durch Beschweigen und Beschreiben modellhaft gestaltet werden. Denn wenn sie über sich und ihresgleichen reden, heißt das noch lange nicht, dass sie viel über sich preisgeben. Ein Bildband beispielsweise stilisiert Mitglieder der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Wort und Bild. Die Fotografien zeigen die Wissenschaftler an ihrem Arbeitsplatz und in alltäglichen Umgebungen, die Texte (von Kollegen) sind persönliche Portraits der Abgebildeten. Die Inszenierung wird rasch deutlich. Die Fotos sind an den akademischen Wirkungsstätten, in den Privatwohnungen und vereinzelt in bildungsbürgerlich konnotierten Räumen aufgenommen; Büsten von den Größen der jeweiligen Fächer und immer wieder Bücherwände bilden den Hintergrund. Die gezeigten und beschriebenen Themen handeln von der intellektuellen Arbeit, bildungsbürgerlichen Tätigkeiten und der Fähigkeit, das Leben zu genießen. Bei den Frauen spielen das Kochen und der Einsatz für andere (Frauen) eine gewisse Rolle, bei den Männern sind es tendenziell eher intellektuelle Inhalte. In kurzen Viten werden geballt Rufe, Erfolge und internationale Auszeichnungen der Portraitierten aufgelistet, in den Portraits werden sie von den Kollegen, manchmal geradezu hymnisch, als vielseitige, neugierige Grenzgänger gezeichnet, die sich eher gegen einen molochartigen Wissenschaftsbetrieb behaupten als dessen Teil zu sein. Die Tatsache, dass sich Wissenschaftler für eine Publikation von einem Künstler haben ablichten lassen, mag ungewöhnlich sein, und dem 21. Jahrhundert geschuldet ist sicherlich die Betonung hedonistischer Qualitäten. Die Art der Darstellung ist jedoch erprobt. Sie überhöht in auserlesenen SchwarzWeiß-Fotografien ausgewählter Akademiemitglieder und Texten, die dem Genre der lobpreisenden Ehrung zuzurechnen sind, den Habitus des seriösen Wissenschaftlers, der geistig nicht verengt ist, der Wissenschaftler ist und nicht Funktionär des Wissenschaftsbetriebs, der nicht allein Wissenschaftler, sondern auch ›Mensch‹ ist, dem Leben und der Kunst zugetan.16 Das Alltagsleben wird zwar in die Biografie des Wissenschaftlers hineingeholt, es rundet dessen Lebensbild geradezu ab. Doch zugleich bleibt verschleiert, wie die herausragenden Gelehrten im ganz normalen Alltagsbetrieb der Wissenschaft funktionieren, welche Rolle also die Mühle der Professionen und Institutionen für ihre Existenz als
»Die autobiographische Versuchung«, in: Alf Lüdtke/Reiner Prass (Hg.), Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln 2008, S. 131-140. 15 | So Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 09.09.2008, S. 39. 16 | Vgl. Bersch, Günter: ForscherLeben. Akademiemitglieder – 15 Portraits, Berlin 2005.
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Wissenschaftlersubjekte spielt bzw. inwieweit sie selber diese Mühle durch ihre Alltagspraktiken am Laufen halten. Text und Bild transportieren nicht nur Inhalte, über Narrativ und Ästhetik schieben sie vielmehr ein Modell des Wissenschaftlers unter, das wir auch in anderen (auto-)biografischen Texten finden. Zwei Beispiele: Eine Reihe von Soziologen blenden in ihren Erinnerungen persönliche Dinge, einschließlich ihrer Ehepartner und Familien, fast durchweg aus. Darüber hinaus überspielen sie sogar die teilweise existenzbedrohenden Brüche des akademischen Lebens, etwa wenn sie gescheiterte Habilitationsversuche wie missglückte Einkaufsversuche nach Ladenschluss behandeln, oder wenn nicht einmal die Soziologinnen, deren Karrieren fast sämtlich blockiert wurden, sich als Verliererinnen beschreiben. Vielmehr reproduzieren selbst sie, wie ihre männlichen Kollegen, unreflektiert standardisierte Erfolgsgeschichten, die das Ideal einer geschlechtsneutralen, reinen Leistungskarriere konfirmieren; Abweichungen von diesem Weg können sich deshalb jeweils ausschließlich persönlichen Gründen verdanken, nicht wissenschaftsspezifischen strukturellen Hindernissen.17 Eher selten dienen solche Texte dazu, wissenschaftskritisch beispielsweise die Bedeutung der diskriminierenden Kategorie Geschlecht für den (eigenen) beruflichen Werdegang zu beleuchten.18 Das andere Beispiel sind – ebenfalls pars pro toto – zwei Biografien über die Historiker Hermann Aubin und Gerhard Ritter, intellektuell zu Recht vergessene, aber wissenschaftspolitisch für das Fach eminent prägende Gestalten.19 Ihre Biografen, ebenfalls Historiker, haben voluminöse und auf absehbare Zeit kaum zu übertreffende Lebensbeschreibungen vorgelegt, die gleichwohl das hier interessierende Problem spiegeln. Im Gegensatz zu älteren Wissenschaftlerbiografien behandeln sie zwar den Alltag ihrer Protagonisten, konzentrieren sich insgesamt aber doch vor allem auf deren intellektuelle und wissenschaftspolitische Arbeit. Die Ehefrauen, die möglicherweise planmäßig angeheiratet wurden, um eine Schreibkraft bzw. Haushaltshilfe zu gewinnen, tauchen kaum auf, das Privatleben bleibt ebenfalls zu unterbelichtet oder wird nicht mit der wissenschaftlichen Arbeit verknüpft. Ritter und Aubin sind im bzw. nach dem Ersten Weltkrieg zu ihren Habilitationsvorträgen in Felduniform bzw. mit dem 17 | Vgl. Fleck, Christian (Hg.): Wege zur Soziologie nach 1945. Autobiographische Notizen, Opladen 1996; Berger, Bennett M. (Hg.): Authors of Their Own Lives. Intellectual Autobiographies by Twenty American Sociologists, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990. 18 | Vgl. Vogel, Ulrike (Hg.): Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung. Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität, Wiesbaden 2006. 19 | Vgl. Cornelißen, Christoph: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Mühle, Eduard: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.
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Eisernen Kreuz am Revers aufgetaucht, aber diese damals offenbar ganz selbstverständliche Verquickung von Patriotismus und Wissenschaft wird nicht weiter untersucht – mit einem sichtbar angesteckten Parteiabzeichen wären sie nämlich kaum habilitiert worden, weil sie durch diesen Ausweis von ›Parteilichkeit‹ gegen das Gebot der ›Wissenschaftlichkeit‹ verstoßen hätten. Tendenziell hallt in solchen Biografien eine nach wie vor gängige Geringschätzung des Alltags ›Großer Männer‹ nach. Nach wie vor kann es als irreführend gelten, öffentliches Wirken und bleibende Leistungen durch die alltäglichen Querelen des privaten Lebens erklären zu wollen. »Fragt man«, um den Rezensenten einer Edition der Tagebücher Carl Schmitts zu zitieren, »nach der Gewichtung von Politischem und Privatem in den Tagebüchern, so überwiegt eindeutig das Private. Schmitts verquere Liebesgeschichten und seine seltsamen Liebesbedürfnisse sind aus der Warte des historischen Interesses nicht lesenswert. Auch seine Selbstzerpflückungen und Ich-Quälereien geben wenig her. Ein tragfähiger Zugriff auf die Lebensgeschichte Carl Schmitts müsste eine Blickachse wählen, die seine Tagebücher als ›Material‹ für die Stufungen in der Werkbiographie dieses bedeutenden Gelehrten nutzt.« 20
Immer wieder finden wir in den (auto-)biografischen Texten eine spezifische Form der Entkörperlichung und Vergeistigung. Das bekannte Postulat, dass das Private politisch sei, und die wissenschaftssoziologische Erkenntnis, dass der Alltag konstitutiv für die intellektuelle, wissenschaftliche oder politische Arbeit ist, wird nur selten ernst genommen.21 Es wäre zwar zu prüfen, ob diese Form des Beschweigens gleichermaßen für alle Professionen zutrifft, doch lässt sich zumindest für die deutsche Geschichtswissenschaft ein charakteristischer Zirkel feststellen: Da die wissenschaftliche Arbeit zu Lebzeiten von allen subjektiven Kontaminierungen bewahrt bleiben musste, so durfte der Nachlass dieses Ethos nach dem Tode nicht konterkarieren – deshalb dessen erwähnte Bereinigung von ›privatem‹ Material. Die Biografen dieser Wissenschaftler, selbst Wissenschaftler, reproduzieren dann bis heute diese Trennung – zwangsweise der Quellenüberlieferung folgend und/oder aus Überzeugung – und schreiben das Selbstbild der Wissenschaft fest: als Script für den Nachwuchs, dem die Großen des Faches posthum derart ihr Ethos durch die Federn der Biografen
20 | Blasius, Dirk: Rezension zu: Schuller, Wolfgang (Hg.): Carl Schmitt. Tagebücher 1930 bis 1934, Berlin 2010, in: H-Soz-u-Kult (23.02.2011), http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-134, abgerufen am 03.08.2012. 21 | Eine der wenigen Ausnahmen: Hirdman, Yvonne: Alva Myrdal. The Passionate Mind, Bloomington 2008.
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vermitteln.22 »Es wird ein ideales Ich impliziert, das von allen alltäglichen Bezügen gereinigt ist und nur als Autor des wissenschaftlichen Werks auftritt.«23 Ein Ideal schlägt sich in den Quellen nieder, auf denen biografische Texte gründen, die wiederum das Ideal konfirmieren. Deshalb kann man in solchen (Auto-)Biografien nicht die Subjektivierungsprozesse selbst ablesen – vielmehr muss man sie als Quellen lesen, weil sie einen Baustein dieser Prozesse bilden, indem die (auto-)biografische Gestaltung der Wanderung auf einem schmalen Grat zwischen Selbstverleugnung und Exposition hindurch zur Entstehung einer spezifischen Subjektform der Wissenschaftler beiträgt, die ich als ›Vf.‹ skizzieren werde, weil sie in das Selbstbild der angehenden Wissenschaftler eingeht. Die Subjektform entsteht, weil der Lebenslauf eines Menschen mit einer wissenschaftlichen Normalbiografie konvergiert.
II. B IOGR AFIEGENER ATOREN Der Soziologe Alois Hahn hat den Begriff der »Biographie-Generatoren« geprägt. Damit meint er institutionelle Arrangements, die Menschen dazu bringen, ihren Lebenslauf in der Form von Biografien zu erzählen, also Beichte, Psychoanalyse, Tagebuch oder Memoiren, medizinische Anamnesen oder Geständnisse vor Gericht.24 Biografiegeneratoren sind das Scharnier zwischen Lebensläufen und Biografien. Sie verwandeln eine Gesamtheit von Ereignissen und Erfahrungen, Passagen, die ein Mensch gemeinsam mit anderen durchläuft: Bildungswege, Karrieren, Professionalisierungsmuster, Familienzyklen, Fertilitätsgeschichten (den Lebenslauf), in einen Text, der den Lebenslauf explizit zum Thema macht (die Biografie). Der Lebenslauf ist einerseits kontingent, weil er von zahlreichen Zufällen und individuellen Entscheidungen abhängt, zugleich aber in hohem Maße ein kollektives Erlebnis und durch institutionelle Rahmenbedingungen geprägt, etwa durch das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt oder die Rentenversicherung. Diese Institutionen stellen normative Lebenspläne bereit, die einem Menschen vermitteln, was in welcher Altersstufe von ihm erwartet wird. Sie leiten an, wie man sich in sozialen Situationen altersgerecht zu verhalten hat und wie man seine Zukunft planen sollten; auf diese Weise entstehen ›Normallebensläufe‹, die Stabilität, Veränderung und Individualität zugleich garantieren. Die Menschen richten sich an diesen Muster aus, transformieren sie in Handeln, werden an ihnen gemessen; Abweichungen 22 | Vgl. als klassische Studie für die Kunst: Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934. 23 | M. Kohli: ›Von uns selber schweigen wir‹, S. 453. 24 | Hahn, Alois: »Biographie und Lebenslauf«, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 2000, S. 97-115.
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können von der Gesellschaft sanktioniert werden.25 Die Biografie dagegen stellt »eine stets selektive Vergegenwärtigung dar«, sie »stiftet Zusammenhänge, die es so vorher gar nicht geben konnte. Der Lebenslauf ist uns nur über die Fiktion biographischer Repräsentation als Wirklichkeit zugänglich.«26 Biografien machen Lebensläufe individuell, was eine der Grundlagen ist, Personen zu konstituieren. Lebensläufe sind zu einem wichtigen sozialen Ordnungsprinzip in der Moderne geworden, zu einer Realität eigenen Gewichts, die eine Abfolge von Positionen, Brüchen und Übergängen gesellschaftlich objektiviert, historisch zunehmend verfestigt und zeitlich sequenziert haben, als langfristige Programme, die Individualität überformen und ihrer zugleich bedürfen, um Störungen zu beseitigen, d.h. kurzfristige historische Veränderungen, die Normallebensläufe auf die Probe stellen. In solchen Ausnahmesituationen sind die Menschen gefragt, Kohärenz herzustellen und die Orientierungsfunktion von Lebensläufen zu sichern, beispielsweise wenn erwartbare Karrierewege unmöglich oder aber unerwartet beschleunigt werden. Leerstellen im Normallebenslauf wiederum bedeuten individuelle ›Freiheit‹, die zu einer konservativen oder evolutionären Transformation genutzt werden können: Sie reproduzieren vorhandene Muster oder ergreifen neue Möglichkeiten.27 Und um die Jahrtausendwende sind zunehmend Entwicklungsschemata entstanden, »in denen der Anspruch auf oder sogar die Forderung nach Selbstentfaltung im Sinn einer ›Biographisierung‹ kulturell festgeschrieben wird«,28 etwa das »unternehmerische Selbst«, von dem gegenwärtig erwartet wird, dass es »sich in allen Lebenslagen kreativ, flexibel, eigenverantwortlich, risikobewusst und kundenorientiert verhält«, dessen Normallebenslauf also unter dem »Diktat fortwährender Selbstoptimierung« und der permanenten Angst vor dem Scheitern besteht.29 Das ist eine Beobachtungsperspektive, die zwischen Freiheit und Determinierung changiert. Menschen sammeln Erfahrungen, die »den Verlauf der Lebensgeschichte [steuern], aber sie [diese Erfahrungen] sind gleichzeitig auch Handlungsressourcen, um neue Handlungssituationen zu strukturieren und zu bewältigen.« Durch die Irritationen ihres Lebensplans »entwickeln sie (be25 | Vgl. zusammenfassend Sackmann, Reinhold: Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2007. 26 | A. Hahn: Biographie und Lebenslauf, S. 101. 27 | Vgl. Hoerning, Erika M.: »Lebensereignisse: Übergänge im Lebenslauf«, in: Wolfgang Voges (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, S. 231-259. 28 | Fischer, Wolfram/Kohli, Martin: »Biographieforschung«, in: Voges, Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung (1987), S. 25-49, hier S. 42. 29 | Alle Zitate: Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007, S. 2.
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wußt oder unbewußt) eine dialektische Beziehung zwischen Bruch und Kontinuität […], die einerseits das Gelebte bewahrt, andererseits jedoch eben dieses Gelebte so transformiert oder verwandelt, daß es in die ›neue‹ Zeit hineinpaßt.« Und selbst für »radikale persönliche Um- und Neuorientierungen […] gibt es (generationsübergreifende) latente, aber auch offene, kollektive und individuelle Vorstellungen darüber, wie Eingriffe in die Biographie bewältigt werden.«30 Das macht deutlich, dass das Verhältnis zwischen Strukturen und individuellen Handlungen nicht simpel ist. Denn zum einen fallen die Situationen, in denen entschieden werden muss, unterschiedlich aus. Die ›Leerstellen‹ lassen echte Freiräume, weil sie nicht durch Lebensläufe normalisierend erfasst werden. Die Ausnahmesituationen erfordern individuelle Handlungen, die in irgendeiner Weise Normallebensläufe reparieren. Und Entwicklungsschemata, die ›Selbstentfaltung‹ geradezu verlangen, machen ›freies‹ Handeln nicht unbedingt zum Vergnügen. Letztlich haben wir es, folgen wir der soziologischen Lebenslaufforschung, mit einem zirkulären Zusammenhang zu tun: Normative Erwartungen an Lebenslaufmuster normalisieren die individuellen Lebensläufe und stabilisieren damit kollektive Lebenslaufstrukturen. Störungen, Freiräume und Zumutungen verlangen individuelles Handeln und begünstigen Verschiebungen, ohne dass die Individuen den strukturierenden Mustern vollends entkommen. Individuelles Handeln entsteht erst durch Zumutungen von außen, die zugemuteten Entscheidungen sind jedoch ebenfalls durch überindividuelle Vorstellungen und Schemata geprägt. Man muss dieses Wechselspiel von Lebenslauf und Biografie in den Blick nehmen, um Subjektivierungsprozesse beschreiben zu können. Etwas schematisch könnte man die Unterscheidung derart treffen: (Auto-)biografische Texte transformieren die Brüchigkeit und Kontingenz von Lebensläufen in ein kohärentes Narrativ. Dieses Narrativ muss die Brüche nicht verschweigen, aber es belegt sie mit Sinn, gestaltet also ein Bild, das die Kontingenz des Lebens überdeckt. Dieses ist, gemessen an einer ›Realität‹, nicht ›falsch‹, sondern eine reflektierende, erklärende Beobachtung, sei es durch den Autobiografen, sei es durch einen oder mehrere aufeinander folgende Biografen. Die Lebenslaufforschung dagegen thematisiert die kontingenten Grundlagen von Biografien, das Wechselspiel von Zumutungen und Reaktionen. Ob sie näher an die ›Realität‹ herankommt als Biografien, mag bezweifelt werden, da sie ihr Material vor allem mit Hilfe biografischer Narrative erhebt, d.h. sie versucht aus zahlreichen individuellen biografischen Selbstvergewisserungen auf deren kollektiv strukturierte Grundlagen zu schließen. Sie ist deshalb ebenfalls eine Beobachtung, aber nicht notwendig höherer Ordnung als die biografische, sondern eine aus 30 | Hoerning, Erika M.: »Biographische Sozialisation. Theoretische und forschungspraktische Verankerung. Eine Einleitung zu den Beiträgen«, in: dies. (Hg.), Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 1-20, hier S. 6.
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einer anderen Perspektive. Wenn Biografien eine echte Individualität festschreiben, so versucht die Lebenslaufforschung, eine vergesellschaftete Individualität aufzudecken. Beide folgen stets chronologisch einem Lebensweg, entweder von Geburt bis Tod oder zumindest in ausgewählten Sequenzen. Wer sich für Subjektivierungsprozesse interessiert, beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen in sozialen Prozessen zu spezifischen Subjekten gemacht werden bzw. sich selbst zu Subjekten machen.31 Die einflussreichsten Konzepte, Subjektivierungsprozesse analytisch zu fassen, dürften von Pierre Bourdieu und Michel Foucault stammen. An sie haben sich eine Reihe weiterer wichtiger Autorinnen und Autoren angelehnt, vor allem Judith Butlers Untersuchungen, wie Geschlechterdifferenzen im Alltag performativ hergestellt und in die Körper eingeschrieben werden.32 Mit diesen (und weiteren) Theorien erhält man eine Reihe von Ansatzpunkten, Subjekte als soziale, kulturelle und/oder materielle Konstruktionen, nicht aber als von der Natur vorgegebene Entitäten zu betrachten. All diese Theorien setzen sich mit der Frage auseinander, inwieweit die soziale und materielle Umwelt die Genese von Subjekten formatiert bzw. wie individuelle Widerständigkeit gegen konstituierende Zumutungen aussehen kann, und wo sie auszumachen ist, wenn man nicht mehr einfach von einem naturgegebenen, autonomen Willen eines Menschen ausgehen will. Sie begreifen Subjekte demnach nicht als Opposition zu Strukturen, sondern beschreiben Menschen, die als Subjekte über Körper und Seele mit ihrer Umwelt verwoben sind. Diese zeichnen sich durch Fragmentierung und PatchworkIdentitäten aus, also durch das Gegenteil von Kohärenz. Subjekte entstehen in einem komplexen Prozess, an dem sie selbst mitwirken – und zwar nicht als die autonomen, ihrer selbst bewussten Individuen der klassischen Biografie, sondern als solche, die soziale Formationen, welche sich ihrer Kenntnis, ihres Überblicks und der Beherrschbarkeit entziehen, durch ihr Handeln zugleich hervorbringen wie sie deren Effekte sind. Wenn Biografien eine unverwechselbare Individualität betonen und Lebensläufe eine sozial strukturierte Kontingenz des Seins beleuchten, dann beschreibt der Subjektbegriff die unsichere Stabilität der Identität, während der Subjektivierungsbegriff den Prozesscharakter und die Performativität der Subjektwerdung in den Blick nimmt. Subjekte müssen zwar ständig an sich arbeiten, aber sie können das nur noch im Rahmen spezifischer Subjektivierungsformen tun. Subjekte sind also durchaus unsichere, aber nicht mehr kontingente Gestalten; sie entstehen in historischen Prozessen, können (oder wollen) jedoch anschlie31 | Vgl. zusammenfassend Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008; außerdem Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2000; Hogrebe, Wolfram (Hg.): Subjektivität, München 1998. 32 | Vgl. hierzu auch die Einleitung in diesem Band.
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ßend nicht mehr jede beliebige Subjektform annehmen. Auch hier handelt es sich nicht um eine Beobachtung höherer Ordnung, sondern anderer Perspektive. Biografie, Lebenslauf und Subjektivierung ergänzen nicht nur einander, vielmehr sollten diese drei Perspektiven als unlösbar verwoben miteinander betrachtet werden.
III. S UBJEK TIVIERUNG Ein Subjektbegriff, der auf eine spezifische Form der Stabilität setzt, ist als Instrument nutzbar, um empirisch die Subjektwerdung von Wissenschaftlern zu beobachten. Mit seiner Hilfe lässt sich, zumindest theoretisch, zeigen, wie ein Mensch in eine Profession hineinwächst und sich dadurch zu einem Subjekt gestaltet, das sich in kollektive Lebenslaufmuster, einen Habitus und Praktiken einschreibt und darüber in genretypischen Narrativen biografisch reflektiert. Es wird als Person adressiert (Wissenschaftler) und als Individuum gegen den Wissenschaftsbetrieb gesetzt; als Subjekt ist es durch Habitus, Wertvorstellungen und Praktiken derart geprägt, eine spezifische Identität ist derart eingeschliffen, dass es nicht mehr freihändig in andere Subjektformen wechseln kann.33 Voraussetzung einer solchen Analyse ist zunächst die Beschreibung des Systems Wissenschaft, d.h. die Ausdifferenzierung ihrer Codes, die – historisch sich wandelnde – Selbstorganisation der Wissenschaft, die Differenz unterschiedlicher Fachkulturen sowie die Besonderheiten der einzelnen wissenschaftlichen Institutionen mit ihren jeweiligen Formen der Selbstorganisation, ihren Traditionen, ihrer Sprache, ihren Methoden, Themen, Denkweisen, Verhaltenscodes, ihrer Personalpolitik, der sozialen Rekrutierung des Personals und den Formen der Abgrenzung zu anderen Fächern.34 Zudem muss man die Koppelung zwi33 | Genauer gesagt: Ein Wissenschaftler mag in seiner Freizeit im Sport mit seinen Codes und Praktiken aufgehen oder als Kommunalpolitiker die Heimatgemeinde gestalten. In solchen temporären Situationen wird das Wissenschaftlersubjekt zurückstehen und der Sportler oder Politiker im Menschen durchbrechen. Das wäre allerdings kein Wechsel der fundamentalen Subjektform. Vom Vollblutwissenschaftler zum Vollblutpolitiker zu wechseln, dürfte schwieriger sein, weil dadurch die in langen Prozessen eingeschliffene Identität eines Subjekts in Frage gestellt wird. 34 | Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 167-189; ders.: »Selbststeuerung der Wissenschaft«, in: ders., Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 6. Aufl., Opladen 1991, S. 232-252; Krohn, Wolfgang/Küppers, Günter: Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Bielefeld 1987; Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1991; dies.: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M. 2002.
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schen den Fächern und konkreten gesellschaftspolitischen Situationen in den Blick nehmen, zwischen politischem System und gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Wissenschaftlern, außerdem die Bedeutung gesellschaftlicher Entwicklungen für die Genese von Teilfächern und neuen Ansätzen, die formatierende Kraft von Diskursen. Nur so lässt sich jeweils historisch konkret die Rahmung beschreiben, die inhaltlich die Grenzen des ›Sagbaren‹ zieht und zugleich die Mechanismen bereitstellt, Menschen zu Wissenschaftlern zu formen. Deren Funktion ist es, Aussagen im Rahmen des ›Sagbaren‹ den Status wissenschaftlicher Wahrheiten zu verleihen. Erst Aussagen, die als ›wahr‹ gelten, können als wissenschaftliche Erkenntnis bezeichnet werden; nur derjenige kann Aussagen zu Erkenntnis machen, der in eine ›Position des Sprechers‹ gerückt ist.35 Und das bedeutet einen doppelten Transformationsprozess: Irgendjemand (ein beliebiger Mensch) wird in Jemanden, ein Subjekt verwandelt, das von den Kollegen tatsächlich als Wissenschaftler, als ihresgleichen adressiert wird, das dann wiederum erprobte Strategien anwendet, um beliebige Aussagen in wissenschaftliche Erkenntnis zu transformieren. Subjektivierung ist in diesem Fall eine Funktion der Erkenntnisproduktion; das Hineinwachsen in die Subjektform ›Wissenschaftler‹ geht einher mit dem Hineinwachsen in eine Funktionsposition – erst dann ist es möglich, auf spezifische Weise originell zu sein.36 Diesen Prozess kann man mit vier Begriffen umreißen: ›Gestaltsehen‹, ›sichtbar werden‹, ›Aufmerksamkeit erringen‹ und ›Subjekt-/Personwerdung‹. Ich werde das am Beispiel eines Historikers andeuten, der entscheidend zur Genese der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik beigetragen hat.37 1. Gestaltsehen: Werner Conze wurde 1910 geboren, und offenbar wuchs er bereits früh in einen tiefwurzelnden akademischen Habitus hinein, der bestimmte künftige Curriculum Vitae nahelegte und andere ausschloss. Trotzdem war sein Weg nicht klar vorgezeichnet. Beinahe hätte er das Studium aufgegeben, weil ihm, wie er im Rückblick schrieb, das politische Neutralitätsgebot der Wissenschaft und die Notwendigkeit politischen Engagements in der Weimarer Republik nicht vereinbar erschienen. Erst der charismatische Hans Rothfels 35 | Ich folge Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 75-82. 36 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Sabine Kyora in diesem Band. 37 | Vgl. für die empirischen Belege Etzemüller, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; und für die theoretische Verdichtung ders.: »›Ich sehe das, was Du nicht siehst‹. Zu den theoretischen Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Arbeit«, in: Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27-68; ders.: »How to make a historian. Problems in writing biographies of historians«, in: Storia della Storiografia 27 (2008), H. 53, S. 47-58.
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lehrte ihn in Königsberg, ein Zentrum des deutschen ›Volkstumskampfes‹ im Osten, Wissenschaft und Politik zu vereinen. Und in diesem Kontext entstanden ein »Denkkollektiv« mit einem eigentümlichen »Denkstil«,38 der Conzes Arbeiten seitdem prägte. Seit seiner Dissertation beschrieb er – im Einklang mit seinen Kollegen, aber auch Autoren anderer Professionen – eine Welt, die durch die Dualität von Desintegration und Reintegration strukturiert war. Das Ideal einer homogenen Entität schien von außen wie von innen bedroht. Aufgabe des Historikers war es, in einer Welt des Chaos Elemente der Stabilität aufzuspüren. Selbst in der politisch bald stabilen Bundesrepublik hielt sich diese Weltsicht bis in die 1980er Jahre; in der narrativen Struktur zahlloser Texte lässt sich diese Kontinuität des Denkens ablesen. Die Vergangenheit wurde also in einer spezifischen Gestalt wahrgenommen. 2. Sichtbar werden: Als Student galt Conze als Lehrling. Mit Promotion und Habilitation (1934 und 1940) stieg er zum ›Gesellen‹39 auf. Doch selbst ein Ruf auf eine Professur an der Reichsuniversität Posen machte ihn 1944 noch nicht zum ›Meister‹. Wegen des Krieges lehrte er nie in Posen, danach musste er ganz neu anfangen. Er hatte seine wissenschaftliche Qualität bewiesen und passte auch habituell in die ›Zunft‹. Doch als er 1945 die etablierten Professoren um Hilfe bei der Stellensuche bat, waren die ihm zwar wohlgesonnen, aber sie kannten ihn kaum. Sie sahen nur skizzenhaft eine Person, die ein vielversprechender Historiker werden könnte. Dass er »kompetent« und »respektabel« sei, konnten sie in ihren Briefen untereinander immerhin vermerken; manchmal buchstabierten sie ihn »Konze«. Er war für sie erst einmal einer von viel zu vielen Bewerbern auf viel zu wenige Professuren. Conze machte sich systematisch bekannt. Er erschien in Konferenzberichten als Teilnehmer und Diskutant, er nahm Kontakt zu den Vorsitzenden des Historikerverbandes auf, er schrieb Rezensionen und drei programmatische Aufsätze. Unablässig propagierte er in Briefen und Texten seine Idee, dass nur Sozialgeschichte als Methode in der Lage sei, die bedrohliche Komplexität der modernen Welt intellektuell in den Griff zu bekommen. Und nach und nach setzten die etablierten Ordinarien die Fragmente zusammen und ein kohärentes Bild Conzes zeichnete sich ihnen ab. Sie schrieben seinen Namen nicht mehr falsch und bezogen ihn in ihre Diskussionen ein. Er wurde vom Flüchtling zum Kollegen, dessen Texte man zu lesen und zu zitieren begann. Er wurde Mitglied deutscher und internationaler Historikerkommissionen, und als er
38 | Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1993; ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1983. 39 | Historiker haben eine Vorliebe für Handwerksmetaphern bei der Selbstbeschreibung ihres Faches. In diesem Fall stammt die Diktion von Conzes Lehrer Gunther Ipsen.
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1957 endlich zum gut ausgestatteten Professor in Heidelberg berufen wurde, wusste jeder Kollege exakt, mit wem er es zu tun hatte. 3. Aufmerksamkeit erringen: Conze setzte auf eine Strategie der serialisierten Wiederholung. Wo immer es möglich war, erwähnte er sein Projekt einer modernen Sozialgeschichte; selbst in fünfzeiligen Rezensionen brachte er es unter. Drei programmatische Aufsätze erklärten sein Konzept und versicherten den Kollegen, dass sie keine Revolution zu fürchten hätten. Schon Ende der 1940er Jahre setzte er erste Schüler auf die Sozialgeschichte an, er gründete sein eigenes Institut sowie einen einflussreichen Arbeitskreis. Für seine Studien standen ihm seit den 1950er Jahren umfangreiche Forschungsmittel zur Verfügung. Seine frühen Briefe waren von den Professoren höflich beantwortet worden. Sie speicherten seinen Name im Archiv der Zunft, seine Vorstellungen stießen auf freundliche Indifferenz. In Heidelberg war er zu einem der mächtigsten Historiker geworden und seine Kollegen nahmen sorgfältig auf seine Interessen Rücksicht. Wenn er schrieb, wurde er ernst genommen; wurde er kontaktiert, konnte er sich mit der Antwort Zeit lassen. Diese Inversion der brieflichen Hierarchie spiegelt den Prozess der ›Meisterwerdung‹. 4. Subjekt-/Personwerdung: In den 1950er und 1960er Jahren führte die Standardkarriere in ein Ordinariat. Niemand, der als Talent angesehen wurde, erwartete, allzu lange ein Extraordinarius zu bleiben. Rezeption und Ordinariat bedingten einander gegenseitig. Jede Äußerung eines angehenden Professors wurde mit einem Vertrauensvorschuss aufgenommen. Als Ordinarius hatte er dann bewiesen, dass er seine Ausbildung konform mit den wissenschaftlichen und sozialen Standards des Faches beendet hatte. Der Vorschuss erwies sich als gerechtfertigt, Aussagen wurden nun grundsätzlich bedingungslos akzeptiert. Und wenn Conze in seine frühen Briefe höfliche Fragen nach dem Befinden seiner Korrespondenzpartner eingefügt hatte, so verkündete er als Ordinarius. Seine Kollegen schrieben ihm als ihresgleichen, nicht als einem Anwärter, der sie möglicherweise noch enttäuschen könnte. Er hatte sich in die Subjektform ›Wissenschaftler‹ und zugleich in eine jener raren ›Positionen des Sprechers‹ einarbeiten können, die Aussagen eine Autorität verliehen, die sie aus sich selbst heraus nicht besaßen. Von einem unbekannten Irgendjemand war er zu einem Jemand geworden. Als Person wurden ihm Merkmale zugewiesen, die ihn als verlässlichen Partner in der Wissenschaft auswiesen: Er war qualifiziert, aber nicht genial. Er war innovativ, aber kein Rebell. Er war mächtig, aber bereit zu kooperieren. Er teilte die nationalkonservative Einstellung vieler Historiker, ohne reaktionär zu sein. Er durfte also in jeder Beziehung als kompetent und verlässlich eingeschätzt werden. Als Subjekt hatte er ein entscheidendes Paradox gelöst. Er musste Qualität und Originalität seiner wissenschaftlichen Arbeit durch Kompetenz und Individualität sichern und sie durch intellektuelle wie persönliche Konformität in der Wissenschaft implementieren. Dann be-
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gann seine Reputation zu wachsen.40 Er musste seine Persönlichkeit – Vorlieben, Privatleben usw. – hinreichend auslöschen, um seine Texte vor Kontamination mit Subjektivität zu bewahren, zugleich aber dosiert einsetzen, um seine wissenschaftlichen Aussagen mit der Autorität des Experten zu versehen. Er musste lernen, den Grat zwischen einem zu egozentrischen ›Ich‹ und einem zu unbekannten ›Autor‹ zu gehen, also zum ›Vf.‹ zu werden.41 Der ›Vf.‹ ist das Ideal, die wissenschaftliche Markierung eines Subjekts, das sich von einem Irgendjemand erfolgreich zu einem individuellen, depersonalisierten Autor geformt hat. Der ›Vf.‹ verfasst ein Werk, macht sich, in der Diktion Philippe Lejeunes, durch narrative Selbstauslöschung seiner Subjektivität zum Erzähler, beglaubigt dadurch die Objektivität seines Werks,42 das wiederum, in der Diktion Roland Barthes’ und Michel Foucaults, durch Zurechnung eines Autor-Individuums kohärent gemacht und gegen andere Texte abgegrenzt wird43 – und genau diese Figur ist dann das Objekt klassischer Wissenschaftlerbiografien, die es festschreiben und dadurch dem Nachwuchs als Vorbild vor Augen führen. Diese Vorblendung funktioniert, wie die erwähnten autobiografischen Texte von Soziologinnen und Soziologen gezeigt haben, so effektiv, dass eine wissenschaftliche Laufbahn blockiert werden kann, ohne dass der ›Vf.‹ auf die Idee kommt, das auf Strukturen, also etwa auf sein Geschlecht zu beziehen, statt es persönlich zu nehmen.
IV. Q UELLENPROBLEME Genese und Form des ›Vf.‹ sind historischen Veränderungen unterworfen. Werner Conze ist ein typisches deutsches Historikersubjekt der 1940er bis 1960er Jahre. Didier Eribon dagegen hat beschrieben, wie in den Elitehochschulen Frankreichs eine Subjektform befördert wurde, die eine demonstrativ herausgekehrte Nonkonformität und Originalität zur Grundlage machte, um im erbarmungslos selektierenden Hochschulsystem bestehen zu können – das war eine Form der Nonkonformität, die notwendig war, um sich konform in ein intellek-
40 | Vgl. zum Zusammenhang von Konformität und Reputation T. Etzemüller: ›Ich sehe das, was Du nicht siehst‹, S. 57-61. — ›Konformität‹ ist hier positiv gemeint: Man verhält sich auf eine Weise, die einen als Person attribuierbar macht, sodass sich durch Einpassung Freiräume eröffnen, originell sein zu können. 41 | Das ist die früher gebräuchliche Abkürzung für Verfasser, genutzt sowohl in der ersten wie dritten Person. 42 | Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994 [1975]. 43 | Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000 [1968], S. 185-193; Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988 [1969], S. 7-31.
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tuelles Feld voller brillanter Konkurrenten einpassen zu können.44 Wenn man den ›Vf.‹ jedoch zum Modell abstrahiert, so kann man für unterschiedliche Felder und Situationen empirisch konkret untersuchen, wie im Wechselspiel von Profession, Fachtraditionen, gesellschaftlicher Situation, Ausbildung (Lebenslauf), der Herausbildung von Dispositionen sowie der biografischen Reflexion ein Wissenschaftlersubjekt entsteht, das für die wissenschaftliche Kommunikation eine entscheidende Funktion ausübt, nämlich die ›Wahrheit‹ einer Aussage garantiert. Und genau dieser Prozess einer Zurichtung und Selbstkonstituierung wird in (auto-)biografischen Texten zugleich verschleiert und befördert. Allerdings dürfte deutlich geworden sein, dass meine Skizze merklich oberflächlich ausgefallen ist. Das ist nicht allein dem Platz geschuldet, sondern einem gravierenden Quellenproblem. Gerade einmal wissenschaftssoziologische Laborstudien mögen im Prozess der Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnis hinreichend viele Primärquellen sichern können – Labortagebücher, Notizen, Protokolle teilnehmender Beobachtung, unmittelbare Befragungen –, um zu verfolgen, wie ein Denkkollektiv und ein Denkstil entstehen. Der informelle und teilweise hochgradig personalisierte Ausbildungsgang außerhalb der Labors, besonders in den Geistes-, aber auch in den Naturwissenschaften, entzieht sich dagegen in die Dunkelheit. Man mag beobachten, wenn sich bestimmte Dispositionen fertig ausgebildet haben, vielleicht auch einige wenige Schritte dahin grob differenzieren. Die zumeist vollkommen implizite Praxis des Sehenlernens selbst, durch soziale Interaktion innerhalb eines Kollektivs: durch Kommunikation, Erklären, Zeigen, Nachahmen, variierende Reproduktion und gemeinschaftsstiftende Aktivitäten, die Ludwik Fleck auf Grund eigener Beobachtungen beschrieben hat,45 ist jedoch nirgendwo protokolliert – noch weniger das Verlernen von Fertigkeiten, das konstitutiv für das Erlernen ist.46 Dass Menschen sich zum ›Vf.‹ wandeln, lässt sich beispielsweise über die Struktur ihrer Textproduktion verfolgen – wie das geschieht, freilich nicht. Und so lässt sich auch die Frage nach dem vereinnahmenden Charakter der Subjektform ›Wissenschaftler‹ nur schwer beantworten. Man müsste die Lebenswelt der Forscher rekonstruieren, um zu sehen, ob die Dispositionen des ›Vf.‹ auf den ›Privat44 | Vgl. Eribon, Didier: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1991, S. 53. 45 | Vgl. L. Fleck: Erfahrung und Tatsache. 46 | Nichtsagen-Können, Nichtsehen-Können, Nichtwollen-Können sind produktive Begrenzungen, weil sie konstitutiv sind für eine Strukturierung von Möglichkeiten: Man spricht, sieht und will auf eine jeweils spezifische Weise, weil man Alternativen regelrecht verlernt hat. Ludwik Fleck hat das mit dem Blick durch ein Mikroskop erläutert: Anfänger sehen nur Durcheinander und keine Form, ausgebildete Wissenschaftler sehen auf einen Blick die charakteristische Form von Bakterien, können aber selbst mit Anstrengung nicht mehr das ursprüngliche Durcheinander erkennen (T. Etzemüller: ›Ich sehe das, was Du nicht siehst‹, S. 67).
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menschen‹ übergreifen und weitgehend oder vollkommen prägen. In (auto-) biografischen Mitteilungen von Wissenschaftlern wird das oft bestritten und versucht, eine Differenz einzuführen: Der Wissenschaftler habe sich nicht ›mit Haut und Haar‹ seiner Profession verschrieben, er sei immer auch ›Mensch geblieben‹,47 also nicht auf eine Subjektform festgelegt. Um diese Lebenswelt zu beschreiben, muss man verstreute, heterogene Quellensplitter zusammentragen, etwa jene Bemerkung des Rassenforschers Hans F.K. Günther, er könne »die lateinische Schrift nicht mit der Feder schreiben, die bei mir ganz an die gotischen Buchstaben gewöhnt ist.«48 Oder das für persönliche Charakterisierungen häufig verwendete Adjektiv »feinsinnig«, das die feinsinnigen Menschen ein-, und folglich, ohne dass es ausgesprochen werden musste, die nichtfeinsinnigen Menschen ausschloss. Auch die ›Musizierkartelle‹, die zur Ausstattung des Bildungsbürgers gehörten und für Historiker bis in die 1960er Jahre eine Grundlage für Gemeinsamkeit und Abgrenzung bildeten, können zu solchen Quellensplittern zählen. Aus Interviews kann man, wenn auch nur sehr vermittelt, ebenfalls Hinweise auf akademische Lebensformen destillieren.49 Es ist aufwendig, auf diese Weise eine hinreichend dichte Beschreibung der Lebenswelt und der alltäglichen habituellen und sozialen Praktiken von Wissenschaftlern zu gewinnen. Vermutlich ist das nur für größere Kollektive, nicht für einzelne Menschen möglich. Es ist jedoch die Voraussetzung, um die Intensität zu bestimmen, mit der der ›Vf.‹ einen Menschen durchtränkt. Die Literatur macht kaum Hoffnung. Einige wenige Studien versuchen mit Hilfe von Gesprächen, in die ›Werkstatt‹ der Historiker zu blicken oder einen gelehrten Habitus zu entschlüsseln. Sie kommen nicht weit, weil sie die soziologische Begrifflichkeit zwar durchaus zitieren, das Instrumentarium aber nicht wirklich produktiv machen können.50 Sozialhistorische Arbeiten können erfolgreich die soziale und materielle Situation von Wissenschaftlern umrei-
47 | So die erwähnten Kollegenhuldigungen in G. Bersch: ForscherLeben. 48 | Universität Uppsala, Universitätsarchiv, Herman Lundborgs brevsamling, Mappe 3, Hans F.K. Günther an Herman Lundborg vom 23.3.1923. 49 | Vgl. z.B. Kraus, Alexander/Kohtz, Birte: Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche, Frankfurt a.M./New York 2011. Weitere Bausteine finden sich in den Beiträgen der Zeitschrift Science in Context 16 (2003), H. 1-2. 50 | Vgl. z.B. A. Kraus/B. Kohtz: Geschichte als Passion; Demm, Eberhard/Suchoples, Jaroslaw (Hg.): Akademische Lebenswelten. Habitus und Sozialprofil von Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2011; Wagner-Hasel, Beate: Die Arbeit des Gelehrten. Der Nationalökonom Karl Bücher (1847-1930), Frankfurt a.M./New York 2011.
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ßen, dringen aber nicht zu dem vor, was als Dispositionen beschrieben wird.51 Zwei Soziologinnen hatten die Möglichkeit, durch intensive Interviews auszuloten, wie Wissenschaftler tatsächlich gemacht werden. Doch auch ihnen gelang es nur, detaillierte Momentaufnahmen verschiedener Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu erhalten, die in unterschiedlichen Graden bereits in verschiedenen Bereichen des Wissenschaftsfeldes etabliert waren, nicht aber dem Weg zu folgen, auf dem ihre Probanden zu Wissenschaftlern wurden.52 Das wird nur in Langzeitbeobachtungen möglich sein, die allerdings in die Machtstrukturen der jeweiligen Fachkonstellationen eindringen und damit erhebliche Konflikte riskieren müssten. Denn es reicht nicht, Wissenschaftler nach ihrem Werdegang und ihren Praktiken zu befragen. Abgesehen von den zahlreichen ›blinden Flecken‹, die jede Selbstbeobachtung schmücken, abgesehen von den erwähnten biografischen Mustern, die sich vor den Blick auf das eigene Leben blenden, und abgesehen vom ausgeprägten Hang von Wissenschaftlern, dem Interviewer die eigene Sicht in den Text einschreiben zu wollen, finden Subjektivierungsprozesse nicht allein innerhalb der einzelnen Menschen statt, sondern stets in, teilweise sehr engen und persönlichen, Beziehungen, und zwar mit Lehrern, Förderern und Gegnern, mit den Angehörigen des eigenen Instituts oder Weggefährten desselben Alters und auf derselben Hierarchiestufe, und das bedeutet: stets auch im Konflikt mit der kollegialen Umwelt. Wenn man aber wissen will, wie sich Subjekte in Auseinandersetzung mit anderen Subjekten herausbilden, muss man diese Beziehungen offen legen. Man muss indiskret sein, was für alle Beteiligten schmerzhaft und riskant werden kann. Eine 51 | So z.B. Willett, Olaf: Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933, Göttingen 2001; Wischmeyer, Johannes: »Akademischer Habitus und Sozialprofil der protestantischen Universitätstheologen im Nachmärz (1850-1870)«, in: Demm/Suchoples, Akademische Lebenswelten (2011), S. 33-67. 52 | Beaufaÿs, Sandra: Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003; Engler, Steffani: »In Einsamkeit und Freiheit«? Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur, Konstanz 2001. Ähnlich: Rademacher-Bensing, Bettina: Wissenschaftlerbilder: Promovenden und die Rekonstruktion des Wissenschaftlers zwischen Fachsozialisation und Entwicklungsaufgabe, Oberhausen 2004; White, Pepper: The Idea Factory. Learning to Think at MIT, New York 1991; Mialet, Hélène: »Do Angels Have Bodies? Two Stories About Subjectivity in Science: The Cases of William X and Mister H«, in: Social Studies of Science 29 (1999), S. 551-581; Sonnert, Gerhard: »What Makes a Good Scientist?: Determinants of Peer Evaluation among Biologists«, in: Social Studies of Science 25 (1995), S. 35-55; Wils, Kaat: »The Revelation of a Modern Saint: Marie Curie’s Scientific Asceticism and the Culture of Professionalised Science«, in: Evert Peeters/Leen van Molle/Kaat Wils (Hg.), Beyond Pleasure. Cultures of Modern Asceticism, New York/Oxford 2011, S. 171-189.
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Subjektanalyse rührt immer an Machtverhältnissen innerhalb eines Faches bis hin zu denen innerhalb kollegialer Freundschaften. Pierre Bourdieu hat gezeigt, welche Rolle universitäre Macht, intellektuelle Prominenz sowie die Verflechtung von sozialer (öffentlicher) und wissenschaftlicher (universitärer) Autorität spielen, um die Perpetuierung intellektueller Standards, die Reproduktion der Körperschaft und die Regeln des Aufstiegs zu sichern.53 Und vermutlich kann man erst durch die stark anonymisierende und depersonalisierende Feldanalyse den Risiken einer teilnehmenden Beobachtung innerhalb einer Profession entgehen. Dann aber beleuchtet man vor allem Machtstrukturen und Kapitalverteilungen, weniger den Habitus bzw. wissenschaftliche Praktiken. Wie aber werden Lebenslaufmuster und Dispositionen tatsächlich eingeschliffen? Nimmt man Individuen in den Blick, fehlen zu viele Quellen für eine dichte Beschreibung bzw. ihre (mündliche) Erhebung kann riskant sein. Begnügt man sich mit einem größeren Kollektiv, könnte die Untersuchung rasch zu abstrakt werden, da das heterogene Quellenmaterial über eine große Personengruppe streut. Die Frage, inwieweit nun der ›Vf.‹ entsteht, und inwieweit er die gesamte Persönlichkeit eines Menschen prägt, lässt sich also nur annäherungsweise beantworten. Und damit bleibt die Frage nach dem Status eines Subjekts – zumindest in der Wissenschaft – wohl offen. Bedeutet Subjektivierung eine bestimmte Form der Professionalisierung, die immer dann spezifische Dispositionen eines Individuums mobilisiert, wenn es die Schwelle zur Wissenschaft überschreitet? Dann könnte ein Individuum verschiedene Subjektformen ausfüllen, ohne dass seine Persönlichkeit – Vorlieben, Weltsicht, Geschmack usw. – von einer entscheidend geformt ist; das wäre eine Art Partial- oder Sektoralsubjektivierung. Oder wirken sich bestimmte professionelle Verhaltensweisen doch derart prägend aus, dass die gesamte Persönlichkeit eines Menschen durch die in der Profession antrainierten Praktiken formatiert wird, dass dann beispielsweise eben auch der Geschmack dem alles balancierenden Habitus des ›Vf.‹ unterworfen ist? Da man jedoch an diese Verinnerlichungen, Inkorporierungen und Einschleifungen ins Innere eines Menschen nicht herankommt (eine Reihe von Theorien jedoch nahe legen, dass genau dort die Subjektivierungsprozesse stattfinden), haben wir es mit einer Leerstelle zu tun. Entzieht sich das Subjekt in sie hinein und umhüllt sich nach außen hin höchstens mit Repräsentationen seiner Subjektivität – also den Beschreibungen akademischer Lebensstile, die auf Fotos, in Gedichten, Ehrungen, Feiern, Festschriften, wissenschaftlichen Texten, im Blick auf Gestik, Körperhaltung, Raumgreifung, Kleidung, Utensilien, Wohnorte, Netzwerke, Kommunikationsformen oder der Platzierung bei Tisch abzulesen sind – als eine unhintergehbare Vorblendung? Oder siedelt es sich doch nur in diesen Repräsentationen an, weil die es sind, die von anderen Subjekten wahrgenommen und, in der Form ›Person‹, als Indiz einer erfolgreichen 53 | Bourdieu, Pierre: Homo academicus, Frankfurt a.M. 1992.
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Subjektivierung gedeutet werden? Gibt es in oder hinter den Zeichen ein sich in seiner Realität offenbarendes Subjekt?54 Oder bleibt es verborgen und lässt sich nur indirekt über Zeichen erschließen?55 Oder existiert es gar nicht, sondern etwas wird als Subjekt beobachtet, um die Perspektive zu verschieben, um ein alternatives Beschreibungsmodell zu erhalten, wie Menschen Kritik- und Handlungsfähigkeit erlangen – nämlich in der charakteristischen Doppelung von sich formen/formatiert werden und dem Konnex von Dispositionen und Eigensinn, von Originalität und Konformität als Voraussetzung einer Performanz von Autonomie, die aber das Ergebnis einer Anmutung ist, sich als spezifisches Subjekt zu bilden?56
54 | In diesem Fall müssten viele Quellen auf zwei Ebenen parallel gelesen werden, auf der Diskursebene als Wahrnehmung des Historikers, dass jemand einen Diskurs oder Lebenslaufmuster reproduziert (»meine Person soll im Hintergrund bleiben«), auf der praxeologischen Ebene jedoch als Indiz einer tatsächlich und real vollzogenen Praxis eines Menschen, der sich damit zum Subjekt macht. 55 | Das wäre eine der »schwächliche[n], unentschlossene[n] Ja/Aber-Ausgaben von Konstruktivismus« (N. Luhmann: Erkenntnis als Konstruktion, S. 7). 56 | Damit wäre die Subjektivierungsforschung in den ›radikalen Konstruktivismus‹ hereingeholt.
Politik mit Gefühl Emotionen als Subjektivierungselemente des Politischen Gunilla Budde
»Welch ein aufregendes Ereignis waren nicht früher die sozialdemokratischen Parteitage. […] Heute ist der Jahreskongreß der größten Partei eine Begebenheit untergeordneten Grades.« Nein, das Zitat stammt nicht aus einem Pressebericht des frühen 21. Jahrhunderts. Der Verfasser, seine Enttäuschung kaum verhehlend, ist der Publizist Carl von Ossietzky. In seiner Zeitschrift Weltbühne kanzelte er damit den Kieler Parteitag vom Mai 1927 als leb- und visionslos ab. An die Politik und an Politiker knüpfte er weit höhere Erwartungen. Erwartungen, die seine Ernüchterung erklärten. Als knapp 15-Jähriger hatte er seinen Stiefvater auf eine Parteiversammlung ganz anderer Art begleitet: »Die Gedanken fliegen um fast zwei Jahrzehnte zurück. Ein großer verräucherter Versammlungssaal. Viel tausend Menschen dicht zusammengedrängt, Arbeiter, Arbeiter. Es ist schon heldenhaft, hier in diesem stickigen Pferch stundenlang auszuhalten. Und plötzlich bricht ein Orkan von Begeisterung aus. An der Rampe ist ein kleines gelblichgraues Männchen erschienen, ein gebücktes, kränkliches Männchen mit mächtigem schneeweißem Haarschopf. […] Doch wie er zu sprechen beginnt, weicht dieser Eindruck von Hinfälligkeit. Breite ausholende Gesten, helle, jugendlich timbrierende Stimme, Kommandostimme, gewohnt, Hunderttausende in Gleichtakt zu bringen, und die mächtige weiße Tolle weht dazu wie ein Helmbusch. Aber der Alte ist mehr als ein effektsicherer Sprecher, nicht Beredsamkeit trägt ihn: er reitet auf einer Woge von Vertrauen. August Bebel, mehr als ein Abgeordneter und Parteiführer von diktatorischem Gehaben, nein, der eigentliche Erwählte des Volkes, der Präsident einer unsichtbaren deutschen Republik, der Gegenkaiser der Massen gegen Den mit der Bartbinde. Einen Volksdichter hat ihn Friedrich Naumann in einem Nachruf genannt. In der Tat, er spielt auf dem Volk wie auf einem edlen Instrument: er bringt es zum Klingen, er entlockt ihm Liebe und Haß, bittre Seufzer und sternklare Sehnsucht. Plötzlich senkt er die Stimme, sein Gesicht wird ganz böse, er schwingt den Zeigefinger wie einen Bakel: ›Man hat euch das Wahlrecht verschlechtert, und ihr habt es euch gefallen lassen!‹ Und diese dreitausend Männer werden plötzlich zu heruntergeputzten Schulbuben: sie senken die Köpfe, sie
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G UNILL A B UDDE schämen sich. Schweigen. Doch da wirft der Alte das Haupt in den Nacken, Jubel bricht wieder fanfarenhaft aus der Stimme: ›Das ist eine Scharte, die muß ausgewetzt werden! Ich habe Vertrauen zu euch, daß ihr es tut. Wenn ich wieder in eure Stadt komme, wird alles wieder in Ordnung sein – das weiß ich.‹ Ein einziges leidenschaftliches Ja braust auf wie ein vieltausendstimmiger Fahneneid für die heilige Sache.« 1
Ein wahrer Meister der Manipulation hat hier offenbar das Podium erklommen. Ein Politiker mit der Begabung, »hunderttausende in Gleichtakt zu bringen«, »auf dem Volk wie auf einem edlen Instrument zu spielen«, es gleichsam in ein Wechselbad von Gefühlen zu tauchen. Im krisengeschüttelten Weimar, nach verlorenem Krieg und kollektiv verletzter Ehre, schien diese Sehnsucht nach politischen Integrationsfiguren, nach Brückenbauern, unabhängig von der politischen Couleur, besonders stark. Zu diesem Zeitpunkt war das Bedürfnis nach starken, charismatischen Leitfiguren noch nicht getrübt durch die gleichzeitige Angst, solche Menschenfischer könnten sich über kurz oder lang als Rattenfänger entpuppen. Noch war die Fähigkeit eines Politikers, seine Wählerschaft ebenso emotional wie inhaltlich ›führen‹ zu können, uneingeschränkt positiv besetzt. Dass der Herausgeber der Weltbühne bei der Bebel-Apologie den Akzent auf die emotionale Kompetenz eines Politikers legte, und die Unfähigkeit, das Gefühlserleben anderer zu manipulieren, für die Misere der SPD seiner Zeit verantwortlich machte, unterstreicht, welche Bedeutung er Emotionen in der Politik beimaß. In der Politikgeschichtsschreibung hat sich der Ansatz, Gefühle als wesentliche Ingredienzien des politisch verantwortlichen Subjekts und als integralen Teil seiner Politik zu betrachten, bislang noch wenig durchgesetzt.2 »Gefühlspolitik«, laut Ute Frevert, als »Politik mit Gefühlen und um Gefühle«, bei der »affektive Empfindungen und Einstellungen« nicht die Motive, sondern »Ressourcen, Werkzeuge und Objekte politischen Handelns« sind, wird
1 | von Ossietzky, Carl: »Der Kieler Parteitag«, in: Die Weltbühne vom 31. Mai 1927, S. 845-850, hier S. 845 u. S. 846. 2 | Darauf verweist Ute Frevert, in dies.: »Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert«, in: Paul Nolte u.a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 95-111 u. Frevert, Ute: »Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen«, in: dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 7-26. S. auch Aschmann, Birgit: »Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung«, in: dies. (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9-32.
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erst allmählich als neue Perspektive auf Politikgeschichte entdeckt und entwickelt.3 Welche Bedeutung ist der emotionalen Komponente im Subjektivierungsprozess von Politikerinnen und Politikern in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beizumessen? In welchem Maß und welcher Ausprägung gehörten Gefühle und ihr Management zum Selbst- und Fremdkonzept von politisch agierenden Subjekten. Und inwieweit prägte ein auch emotionaler Habitus den jeweiligen Politikstil? Eine Besonderheit des politischen Subjekts ist die ständige Beobachtung, der es ausgesetzt ist, das permanente Gemessen-Werden an selbst- und fremdgesetzten Maßstäben für eine »angemessene« Praxis. Als Personen des »öffentlichen Lebens«, als gleichsam »gläsernes Subjekt« waren und sind Politikerinnen und Politiker – und dies mit der rasanten Ausbreitung der Öffentlichkeit und ihrer Medien seit dem 19. Jahrhundert umso mehr – damit konfrontiert, dass ihr Subjektivierungsprozess sich über weite Strecken als eine Praxis vor den Augen eines kritischen Publikums vollzog. Dies verlangt einen Balanceakt besonderer Art: die Paradoxie einer authentischen Inszenierung, eines unmaskierten Sich-Treu-Bleibens. Politische Führungsgestalten agierten und agieren damit als Repräsentanten einer sich historisch wandelnden Vorstellung, die sie verkörpern und immer neu in Szene setzen müssen. Sie performieren damit das politische Subjekt, von dem sie hoffen, dass es bei seinem Gegenüber auf positive Resonanz stößt. »Politik war schon immer großes Theater, von der griechischen Polis bis heute.«4 Entsprechend zeigte sich auch der Subjektivierungsprozess von Politikern in der Geschichte als schauspielerischer Akt. In fünf Schritten soll dieser Akt beobachtet werden: Erstens werden grundsätzliche Überlegungen einer »neuen Politikgeschichte« skizziert und es wird danach gefragt, inwieweit Emotionen als prägende Kräfte des Politischen darin Eingang finden könnten. Zweitens lotet der Beitrag Gefühlskonjunkturen im politischen Feld aus. Zu welchen Zeiten in der Geschichte fanden welche Emotionen in welcher Ausprägung Anerkennung? Drittens wird gefragt, inwieweit kollektiv evozierte Emotionen halfen, einen Resonanzraum zu schaffen, der emotional agierenden Politikerinnen und Politikern ein positives Echo verschaffte und damit als Verstärker fungierte, Gefühlen in seiner/ihrer Subjektivierungspraxis Raum zu geben. Viertens wird an historischen Beispielen skizziert, wie Privates und Politisches im Subjektivierungsprozess politisch Handelnder zunehmend miteinander verquickt wurden und die Grenzen dazwischen fließen. Nicht zuletzt die zunehmende Bedeutung, die den Medien im Subjektivierungsprozess der öffentlich agierenden politischen Repräsentanten 3 | Federführend auch hier: Frevert, Ute: Gefühls-Politik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2012, S. 16. 4 | Alle Zitate: ebd., S. 23.
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zukam, zwang zur Performanz und – vermeintlichen – Transparenz. Fünftens und abschließend wird danach gefragt, welches unterschiedliche Gefühlsmanagement von männlichen und weiblichen Politikern erwartet und eingelöst wurde und wird. Gab und gibt es überhaupt so etwas wie einen männlichen und weiblichen Politikstil? Unterscheiden sich die Gefühle, die man von männlichen Politikern erwartete, von denen der weiblichen? Oder muss nicht vielmehr die jeweils situative Komponente als eine den Habitus verstörende, da wenig berechenbare Größe mit in Anschlag gebracht werden?
I. G EFÜHLE IN DER P OLITIKGESCHICHTSSCHREIBUNG Was haben Gefühle in der Politik zu suchen? Möglichst wenig, am besten gar nichts. So könnte man auf den ersten Blick Max Webers Vortrag aus dem Jahr 1919 deuten, in dem er das Berufsbild des idealen Politikers entwarf.5 Als die entscheidende »psychologische Qualität des Politikers« betrachtete er die »des Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Spannung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der D i s t a n z zu den Dingen und Menschen.«6 »Unsachlichkeit« geißelte er als Todsünde des Politikers, denn, so sein häufig zitiertes Diktum: »Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.«7 Weber ist häufig missverstanden worden, nicht zuletzt von Historikern. Diese beriefen sich, wenn sie Politikgeschichte schrieben und dabei jegliche Gefühlsregungen links liegen ließen, nicht selten auf den Gründungsvater der Soziologie. Nicht zuletzt Webers These von der »Entzauberung« der Welt der Moderne, in der für Gefühle kein Platz sei, und wenn, dann nur im Privaten, galt als Legitimation, Politikgeschichte bis weit in die 1980er Jahren hinein als Geschichte von Haupt- und Staatsaktionen zu schreiben. Warum Entscheidungen so und nicht anders gefallen sind, warum es manchen Politikern gelang, die Wählerschaft für sich zu gewinnen, anderen hingegen nicht, wurde lange Zeit ohne Blick auf mitspielende Emotionen zu erklären versucht. Dabei hat Max Weber selbst die emotionale Seite der Politik durchaus ernst genommen. Vor allem sein Konzept der charismatischen Herrschaft fußt auf der Vorstellung, dass es »emotionaler Ueberzeugung«8 des charismatischen Herrschers bedarf, um dessen Wirkungsmacht immer aufs Neue herstellen zu können. Und wir kennen genügend Beispiele aus der Geschichte, die uns zeigen, dass viele Politiker sehr wohl darum wussten und entsprechend kräftig Strippen zogen, um 5 | Weber, Max: Politik als Beruf, Stuttgart 2002 [1919], (Herv. i.O.). 6 | Beide Zitate: ebd., S. 62. 7 | Beide Zitate: ebd., S. 62f. 8 | Ebd.
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(Krisen-)Situationen zu evozieren, aus denen sie, nach außen als Retter in Not stilisiert, als strahlende Helden immer neu hervorgehen konnten. In dieser Idee Max Webers klang bereits an, was in der Emotionsforschung seit einigen Jahren zum Konsens gehört:9 Emotionalität und Rationalität, Gefühl und Kalkül sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern gleichberechtigte Elemente politischen Denkens, Handelns, Wirkens und Erfahrens. Emotionen spielen sich nicht zuletzt im Kopf ab, auch wenn sie sich häufig an anderen Stellen des Körpers artikulieren: durch die Choreographie des Auftretens, die Rhythmik der Bewegung, durch Haltung und Gesten, Timbre und Gesichtsfärbung, Mund- und Augenregungen. Namentlich der mehr oder weniger bewusste und berechnende Einsatz von Emotionen, wie er in ganz unterschiedlichen Formen politischer Inszenierung beobachtbar ist, machen Gefühle zu wirkmächtigen Faktoren einer rationalen Politik. Dass Gefühlen in einer herkömmlichen Politikgeschichtsschreibung keine Geschichtsmächtigkeit eingeräumt wurde, hing damit zusammen, dass hier Politik als unpersönlicher und eindimensionalen Akt verstanden wird, in dem von oben nach unten dekretiert wird, ohne dass die unterschiedlichen Facetten der Wahr-Nehmung der Politik und der Politiker dabei berücksichtigt wurden. »Politics is supposed to be a down-to-earth business, governed by dry procedures und conducted by unemotional, target-oriented personnel. Driven by interests and norms, it follows a rational logic, exemplified by the grey, colourless appearances of politicians.«10
Die Uniformierung der politischen Klasse, die Farblosigkeit, die man ihr zuund einschrieb, sind Teil eines Politik- und Politikerverständnisses, der von politischen Handlungsträgern erwartete, subjektive Befindlichkeiten gänzlich auszublenden, sich ausschließlich über ihre Amtsfunktion zu definieren, immer das gesellschaftliche Gesamtinteresse vor Augen zu haben und ihre Praxis entsprechend auszurichten. Emotionen als primärer Kern des Subjekts waren bei Politikern nicht gefragt, durften lediglich gekonnt dosiert artikuliert und auf keinen Fall außer Kontrolle geraten. Diesem Dilemma, das aus einer so verstandenen, undifferenzierten, Facetten-Vielfalt ignorierenden Politik-Vorstellung resultiert, versucht eine neue Politikgeschichtsschreibung insofern zu entgehen, indem sie das »Politische« als
9 | Zum aktuellen Forschungsstand der »Emotionsgeschichte« vgl. Hitzer, Bettina: »Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen«, in: H-Soz-u-Kult (23.11.2011), http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001, abgerufen am 20.07.2012. 10 | Frevert, Ute: Emotions in History – Lost and Found, Budapest/New York 2011, S. 6.
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einen »kommunikativ entstandenen Raum«11 definiert, der durch Deutung und Gebrauch politischer Symbole und Semantiken – immer neu – geordnet und reguliert wird. Somit rücken zum einen auch inszenatorische und performative Elemente in den Fokus. Symbole, Rituale und nicht zuletzt die dadurch evozierten Emotionen werden in einer so konzipierten »neuen Politikgeschichte« keineswegs als bloßes Beiwerk, sondern als eigenwertiger, durchaus prägender Bestandteil politischer Praxis betrachtet und analysiert. Zum anderen, hier steht die »neue« Politikgeschichtsschreibung noch ganz am Anfang, gilt es auch, die Subjektivierungspraktiken von Politikern in den Blick zu nehmen, das ›embodied knowledge‹ des Politikers, wie es sich in der Praxis ausformte und entfaltete. Inwieweit hier auch Emotionen zum Tragen kommen durften oder sogar mussten, so die These, differierte nach geschichtlicher Epoche, aber auch nach Situation und Geschlecht des politischen Subjekts. Gefühle im politischen Raum lassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten: Einerseits als Instrument und Medium des Subjektivierungsprozesses von Machtträgern und als Einflusskräfte ihres Handelns und Entscheidens. Andererseits als Faktoren, die den politischen Raum beeinflussen und verändern und die Wahr-Nehmung durch ihre Untertanen bzw. Wähler prägen. Namentlich weil die Welt der Politik und das Subjekt des Politikers gemeinhin als rational bestimmt und gefühlsfern definiert, Gefühle eher als Fremdkörper im politischen Habitus betrachtet wurden, galt es, die emotionale Komponente im Subjektivierungsprozess geschickt zu dosieren und persönliche Befindlichkeiten entweder zu kaschieren oder wohl überlegt zu platzieren. ›Doing emotions‹, Gefühlspraxis als Gefühlsmanagement, ist das Schlüsselkonzept politischer Praxis. Wo es versagte, Gefühle sich unkontrolliert Bahn brachen oder körperliche Artikulationen Gefühle ungewollt wahrnehmbar machten, die zu unterdrücken als opportun erschien, geriet der politisch Handelnde aufs Glatteis, wurde die Grenze zur Akzeptanz hauchdünn. Wann in der Geschichte von Entscheidungsträgern auch bestimmte Gefühle gefragt waren, differierte. Lucien Febvre hatte, als er im Jahr 1941 in seinem Aufsatz »La sensibilité et l’histoire« seine Kollegen mit großer Emphase dazu aufforderte, mit ihren Forschungen zum Gefühlsleben früherer Epochen vorzustoßen, noch nicht zwischen unterschiedlichen Emotionen differenziert.12 Auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen – von zwei Weltkriegen und der generellen Emotionalisierung des politischen Lebens im Zuge der Dreyfuss-Affäre –, ging er davon aus, »daß es in der Geschichte Perioden prädominierender Intel11 | Beide Zitate: U. Frevert: Neue Politikgeschichte, S. 14f. 12 | Febvre, Lucien: »Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen«, in: Claudia Honegger (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a. Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a.M. 1977, S. 313-333.
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lektualität gegeben« habe, die auf »Perioden besonders ausgeprägter Affektivität« folgten.13 Animiert dazu wurde er nicht zuletzt durch die Lektüre von Johan Huizingas Herbst des Mittelalters aus dem Jahr 1919. Der bekannte niederländische Mediävist schrieb darin von der »zügellosen Extravaganz und Entflammbarkeit des mittelalterlichen Gemütes«.14 Diese setzte Febvre und mit ihm dann auch Norbert Elias in Kontrast zur zugeknöpften, »zivilisierten« Aufklärung15 und sah damit die regelhafte Abfolge von mal mehr, mal weniger emotional gestimmten Zeiten bestätigt. Schon Huizinga betrachtete das ausgeprägte Gerechtigkeitsgefühl des mittelalterlichen Menschen als die Grunddisposition für die vermeintlich besonders häufigen Gefühlsausbrüche und fügte damit seiner quantitativen Argumentation ein qualitatives Moment hinzu. Auch andere sahen nicht allein einzelne Epochen als besonders gefühlsbestimmt, sondern durch spezifische Gefühle geprägt. In ihrer gut sechs Jahrzehnte später erschienenen Theorie der Gefühle stellte die ungarische Philosophin Ágnes Heller lapidar fest: »Jede Epoche hat ihre dominierenden Gefühle.«16 Ute Frevert differenziert diese Vorstellung, wenn sie weniger von einem epochenbestimmenden Grundgefühl, sondern von historisch jeweils unterschiedlichen Gefühlskombinationen und -legierungen ausgeht.17
II. G EFÜHLSKONJUNK TUREN IM POLITISCHEN F ELD Emotionale Grundierungen, wie sie sich für unterschiedliche Zeiten in der Geschichte herausdestillieren lassen, strahlten auch auf das politische Feld aus. Auch wenn es zu kurz greift, ganze Epochen auf ein Grundgefühl zu reduzieren, lassen sich, folgt man der jeweiligen zeitgenössischen politischen Semantik, Konjunkturen von spezifischen Emotionen herausfiltern, die im politischen Feld zu unterschiedlichen Zeiten der Geschichte Anerkennung fanden. Am Beispiel von Treue, Ehre und Vertrauen, lässt sich zeigen, dass es auch auf dem Feld der Politik als adäquat erachtete Emotionen gab und dass diese zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich ausgeprägt waren, unterschiedlich häufig
13 | Ebd., S. 319. 14 | Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. von Kurt Köster, mit einer Einl. von Birgit Franke und Barbara Welzel, 12. Aufl., Stuttgart 2006 (Dt. Fassung – unter Benutzung der älteren Übers. von T. Wolff-Mönckeberg [1923] – von Kurt Köster), S. 43. 15 | Elias, Norbert: The Civilizing Process, Oxford 2000 [1938]. 16 | Heller, Ágnes: Theorie der Gefühle, Hamburg 1980, S. 247. 17 | U. Frevert: Angst vor Gefühlen?, S. 95.
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eingesetzt wurden und entsprechend unterschiedlich starke Wirkungsmacht entfalteten. Die erste Besonderheit und gleichzeitige Gemeinsamkeit, die alle drei auszeichnet, befördert die Möglichkeit, ja den Bedarf, sie zu historisieren. Unterscheidet man, wie es unter anderen auch Ágnes Heller tut, zwischen elementaren »Basisgefühlen« und eher kognitiv grundierten »komplexen Gefühlen«,18 gehören Treue, Ehre und Vertrauen in die letzte Kategorie. Gleichzeitig werden sie als Teil eines Wertekanons im Sozialisationsprozess internalisiert und sind demnach sozial erlernbare und eher prozessual und praxeologisch angelegte Gefühlsdispositionen. Ob und wie sie ausgelöst, wahrgenommen und artikuliert werden, differiert im Laufe der Geschichte. Alle drei vereinen emotionale und rationale Elemente miteinander, sind gleichzeitig gefühlsgrundierte Werthaltungen und wertbesetzte Gefühlshaltungen. Eine weitere Gemeinsamkeit von Treue, Ehre und Vertrauen ist, dass sie in der Geschichte als primär männliche Gefühlshaltungen auftreten: Das die Treue generierende Lehnsverhältnis war ein Verhältnis ausschließlich unter Männern, Frauen hatten keine Ehre, die sie selbst verteidigen konnten, sondern mussten dies ihren Männern, Vätern und Brüdern überlassen.19 Und nicht zuletzt das gesamteuropäisch spät zugestandene Wahlrecht für Frauen markiert ein mangelndes Vertrauen gegenüber der politischen Kompetenz von Frauen, vereint mit dem Vorwurf, sie würden sich beim Gang an die Wahlurne zu sehr vom Gefühl leiten lassen. Bei allen Gemeinsamkeiten treten Treue, Ehre und Vertrauen zu jeweils unterschiedlichen Zeiten der Geschichte in den Vordergrund. Die Treue ist ein Gefühl, dass eher dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit zugehörig scheint. Die Vasallentreue und die Treue des Lehnsherrn meinten eine lebenslange, persönliche Bindung,20 deren Unbedingtheit in Huldigungszeremonien immer wieder versinnbildlicht und untermauert wurde.21 Auflösungsversuche zogen scharfe Sanktionen nach sich. Wenn in späteren und vornehmlich krisenhaften Zeiten, die das Bedürfnis nach moralischer Orientierung nähren, wieder auf
18 | Beide Zitate: Á. Heller: Theorie, S. 86. 19 | Vgl. Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. 20 | Gloyna, Tanja: »›Treue‹: Zur Geschichte des Begriffs«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 4 (1999), S. 64-85. 21 | Vgl. Andres, Jan/Schwengelbeck, Matthias: »Das Zeremoniell als politischer Kommunikationsraum. Inthronisationsfeiern in Preußen im ›langen‹ 19. Jahrhundert«, in: Frevert/Haupt, Neue Politikgeschichte (2005), S. 27-81; Hack, Achim Thomas: »Nähe und Distanz im Zeremoniell – eine Frage des Vertrauens?«, in: Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), S. 431-479.
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›Treue‹ rekurriert wurde, dann mit bewusst anachronistischem Blick zurück in glorifizierte Zeiten.22 Auch die Ehre spielte schon in der Frühen Neuzeit, wie Martin Dinges betont hat, eine prominente Rolle im politischen Leben, wobei sich im 18. Jahrhundert eine gewisse Demokratisierung abzeichnete.23 Nun teilte sich die Ehre in eine Standesehre und eine allgemeine Ehre eines jeden Individuums, vereinte damit in sich sowohl hierarchische als auch universalisierende Aspekte. Dies schwingt auch bei Carl Welckers Artikel im Staatslexikon aus den späten 1830er und 1840er Jahren mit.24 Der liberale Jurist und Politiker verwandte in seiner Darstellung »Ehre« als Kampfbegriff in seinem Plädoyer für einen, an eine aktiv partizipierende Öffentlichkeit gebundenen »politisch freien Staat«.25 Und schon Welcker verwies dagegen die Treue als negativ besetzten Gegenwert zurück in eine überholte, despotische Zeit, in der »hündische Treue und Unterordnung« das Verhältnis zur Regierung bestimmt habe.26 Gefeit davor, unter dem Deckmantel der Treue einen »verderblichen Servilismus« zu pflegen,27 sah Welcker allein in der Republik den größten Entfaltungsraum für die Ehre, wecke sie doch »weit lebendiger [als die Monarchie] die Tugend des Gemeingeistes und die allgemeine patriotische Energie der Bürger«. Die Kraft für diese Art der Tugend würde hier nicht durch »die Tugend der Treue getheilt und in […] Collisionen gebracht.«28 Kein anderes Gefühl als das Ehrgefühl beflügele zu den »höchsten Anstrengungen und Opfern«, um die »Erhaltung der Ehre«, die Welcker mit Selbsterhaltung gleichsetzte, zu gewährleisten. »In der Ehre besitzen die Einzelnen und die moralischen Persönlichkeiten das erhebende, kräftigende Bewußtsein ihrer Würde und höheren Bestimmung und zugleich die Grundbedingung und die Gewähr für ihre äußere Unverletzlichkeit, für das Vertrauen 22 | Buschmann, Nikolaus: »Die Erfindung der Deutschen Treue. Von der semantischen Innovation zur Gefolgschaftsideologie«, in: ders./Karl Borromäus von Murr (Hg.), Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 75-109. 23 | Dinges, Martin: »Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne«, in: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1990), Nr. 4, S. 409-440. 24 | Welcker, Carl Theodor: »Infamie, Ehre, Ehrenstrafen. Ueber Ehre als Princip des Rechtsstaates und der Monarchie, und über den Zweikampf als Schutzmittel der Ehre«, in: ders./Carl von Rotteck (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Altona 1839, 8. Bd., S. 310-350. 25 | Beide Zitate: ebd., S. 320. 26 | Ebd. 27 | Ebd., S. 331. 28 | Beide Zitate: ebd.
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G UNILL A B UDDE ihrer Mitmenschen und für die Verwirklichung ihrer Lebenszwecke, der niederen wie der höheren. Deshalb bestimmt kein anderes Gefühl gleich stark zu den höchsten Anstrengungen und Opfern.« 29
Im bürgerlichen 19. Jahrhundert findet man eine fast inflationäre und ausschließlich lobpreisende Bezugnahme auf die Ehre. Sie galt als Bindeglied und Referenzkategorie: ›Ehrenwerte‹ Männer trafen sich in Vereinen und Assoziationen, um sich dort, häufig einem rigiden Ritualkatalog folgend, dieser Tugend im Umgang miteinander immer wieder neu zu versichern. Die Verbindlichkeit der Ehrgesetze machte das theatralisch inszenierte Duell jetzt vor allem auch in bürgerlichen Kreisen zur beliebten Pflichtübung.30 Seine feste Einbürgerung in den zeitgenössischen Lebenshaushalt erlaubte es dann auch, den kollektiven Waffengang im deutsch-französischen Krieg 70/71 als Duellkampf für die Ehre zu legitimieren.31 Während nach 1945 sowohl Treue als auch Ehre weitgehend aus der politischen Semantik verschwunden sind, und sich auf sie zu berufen, erinnert sei an Uwe Barschels missglücktes Ehrenwort, eher kontraproduktiv wirkte, geriet vor allem seit den 1980er Jahren Vertrauen zu einer gewichtigen emotionalen Chiffre politischer Kommunikation. Wo vordem die Treue beschworen wurde, kam nun das Vertrauen als ihr modernes Substitut ins Spiel. Der Übergang zu einem konstitutionellen Regierungssystem wurde von einer sprudelnden Vertrauenssemantik begleitet. Seitdem werben Regenten bis heute um das Vertrauen ihrer Wähler.32 Wie lässt sich erklären, dass einige Gefühlshaltungen in der politischen Welt Bestand haben, andere hingegen nicht? Mehrere Gründe lassen sich nennen: Zum Ersten lässt sich am Beispiel des Vertrauens zeigen, dass seine praxeologische Komponente,33 seine Flexibilität und relative Unverbindlichkeit die Passfähigkeit in das neue, demokratische System des Parlamentarismus erhöhte. Anders als die Treue und Ehre wird Vertrauen nicht als letztverbindlicher, absoluter Wert gesetzt. Um Vertrauen muss praktisch gebuhlt werden, geschenkt wird es freiwillig und auf Zeit, während Treue, einmal geschworen und eidlich bekräftigt, lebenslang band. Um ungeachtet dieser Fluidität dem Vertrauen eine gewisse Stabilität zu sichern, wurde, dies lässt sich in der Geschichte 29 | Alle Zitate: ebd., S. 333. 30 | Vgl. U. Frevert: Ehrenmänner. 31 | Aschmann, Birgit: »Ehre – das verletzte Gefühl als Grund für den Krieg. Der Kriegsausbruch 1870«, in: dies., Gefühl und Kalkül (2005), S. 151-174. 32 | Frevert, Ute: »Vertrauen – eine historische Spurensuche«, in: dies. (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 7-66. 33 | Dumouchel, Paul: »Trust as an Action«, in: Archives européennes de sociologie 46 (2005), Nr. 3, S. 417-428.
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wiederholt beobachten, gleichsam ein doppelter Boden eingezogen. Vor allem in Diktaturen wurden zwischen Diktator und ›Volk‹ Chargen installiert, die im Zweifelsfall als Puffer und Sündenbock herhalten mussten, um die Vertrauensbasis zwischen Führer und Gefolgschaft nicht zu gefährden. Der perfide, im Nationalsozialismus häufig zu hörende Satz »Wenn das der Führer wüsste«, zeigt, wie perfekt hier die Abschirmung des Diktators vor negativen Konnotationen und deren Umlenkung funktionierte. Auch in der DDR kehrte, wenn sich gesellschaftlicher Unmut in einer langen Kette von Eingaben und unbefriedigenden Antworten hochschaukelte, dieses Muster wieder, wenn Walter oder Lotte Ulbricht als klärende Letztinstanzen auftraten, um die Wogen wieder zu glätten. Auf diese Weise konnte sich Vertrauen, entgegen der historisch wie soziologisch gängigen These, dass es eher in ökonomisch saturierten und vergleichsweise offenen Gesellschaften gedeiht,34 auch in Diktaturen überleben. Zum zweiten müssen spezifische Gefühle, um eine politische Erfolgsgeschichte verbuchen zu können, einen positiven Resonanzkörper finden. Sie müssen Teil eines konsensualen Wertekanons sein, durch Sozialisation internalisiert und durch Diskurse imprägniert werden. Nur wenn sie einen Widerhall erwarten können, wenn sie in der jeweiligen Gesellschaft Wiedererkennungseffekte hervorrufen und in der Lage sind, Gefühlsgemeinschaften zu kreieren, lassen sie sich für politische Zwecke instrumentalisieren. Zum dritten gibt es Gefühle, die durch ihre missbräuchliche, zum Teil inflationäre Instrumentalisierung diskreditiert worden sind. Auch die politische Indienstnahme von Gefühlen hat eine Geschichte, die darüber entscheidet, ob eine Gefühlshaltung überlebensfähig ist, als konsensfähig gilt, in Misskredit geraten oder schlicht aus der Mode gekommen ist. Treue und Ehre, in den Reden und Schriften der Nationalsozialisten exzessiv beschworen, haben in der deutschen Politik nicht nur ihre positiven Konnotationen verloren, sondern sind aus der politischen Semantik, zumindest westeuropäischer Gesellschaften, weitgehend verschwunden. Die Geschichte der Indienstnahme von Gefühlen für Herrschaftszwecke legt nahe, die Geschichte der Emotionen in der Politik auch im internationalen Vergleich zu betrachten. Inwieweit lassen sich nationale Grundmuster und internationale Übereinstimmungen erkennen? Je nach unterschiedlichen nationalen Entwicklungen, so ist zu erwarten, hat auch der Gefühls-Einsatz seine jeweils nationale Einfärbung. Es scheint so, dass der politische Gefühlseinsatz 34 | Vgl. Freitag, Markus/Bühlmann, Marc: »Politische Institutionen und die Entwicklung generalisierten Vertrauens. Ein internationaler Vergleich«, in: Politische Vierteljahresschrift 46 (2005), Heft 4, S. 575-601; Hosking, Geoffrey: »Trust and Distrust: A Suitable Theme for Historians?«, in: Transactions of the RHS 16 (2006), S. 95-115, hier S. 109f.; Gabriel, Oscar W./Zmerli, Sonja: »Politisches Vertrauen: Deutschland in Europa«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2006), Nr. 30/31, S. 8-15.
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weniger systemabhängig, sondern zeitlich und national differiert und nicht zuletzt mit dem Nimbus von Politik und Politikern in den jeweiligen Gesellschaften zusammenhängt. Je besser das professionelle Image, desto tiefer der Fall, wenn dieses eingebüßt wird. So konnte die Affäre des englischen ›Kriegsministers‹ John Profumo mit dem Call-Girl Christine Keeler Mitte der 1960er Jahren nur deshalb so eskalieren, die parlamentarische Arbeit im House of Commons monatelang lähmen und die englischen Gemüter bewegen, weil der Politiker durch öffentliches Leugnen im Parlament das ›heilige‹ Haus entzaubert und ihm und der politischen Klasse die Aura der Unfehlbarkeit genommen hatte.35 Noch Wochen nach der »persönlichen Erklärung« Profumos kreisten die Debatten um persönliche Befindlichkeiten der Abgeordneten. Hörbar entnervt reagierte die Öffentlichkeit, die die Gefühlsseligkeit ihrer politischen Klasse offenbar als unerträglich empfand. Als das eigentliche Dilemma betrachteten es die meisten Times-Leser, vernehmbar kopfschüttelnd, dass es ihren Politikern nicht zu gelingen schien, den bekannt-sachlichen Ton wiederzufinden und damit das für seine Diskussionskultur berühmte Unterhaus nachhaltig schädigten. »It is a signal of a particularly stupid, priggish and puerile attitude when men, allegedly adult, work themselves up into an emotional panic and like lemmings, jettison themselves and others over the cliffs of prudery«. Und der Leserbriefschreiber fragte abschließend: »Who are public men? Surely not just politicians. If the private lives of all men and women in places of authority were known, perhaps there might be less pontificating and more practical action.«36 Nicht die Öffentlichkeit, wie uns die gängigen Skandaltheorien glauben machen wollen, klagte hier eine Öffnung des Privaten ein, sondern die Öffentlichkeit war es, die ein Wieder-Herausdrängen der persönlichen Emotionen aus dem politischen Raum forderte.
III. G EFÜHLSGEMEINSCHAF TEN ALS R ESONANZR AUM POLITISCHEN H ANDELNS In der Regel waren die Erwartungen umgekehrt. Die Untertanen der Monarchien und die potentielle Wählerschaft der Republiken waren als Resonanzkörper politischen Handelns gefragt. Sie mussten einerseits eingestimmt werden auf politisch gewünschte Haltungen und Handlungen, andererseits aber auch als Kulisse und Claqueure dienen, vor deren Hintergrund die Machtträger agier35 | Vgl. die Protokolle des House of Parliament und die Leserbriefe in der TIMES vom März bis August 1963. 36 | Antony C.B. Chancellor als ein Beispiel der sich über mehrere Wochen erstreckende Leserbriefreihe, die unter der Überschrift »It is a moral issue« mehrere TIMES-Seiten füllte, 15.6.1963.
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ten. Das man dem Herrscherhaus in ›Liebe‹ zugetan sein sollte, galt in Monarchien als Selbstverständlichkeit und sollte durch entsprechende Inszenierungen immer aufs Neue unter Beweis gestellt werden.37 Solche regelmäßigen Zurschaustellungen gegenseitiger Verbundenheit sollten den jeweiligen Herrscherinnen und Herrschern Sicherheit vermitteln und einen durch inkorporierte Rituale eingehegten Raum ständig wiederkehrender Selbst-Bestärkung schaffen. Die Erkenntnis, dass eine solche Atmosphäre gegenseitiger Übereinstimmung nur entstehen konnte, wenn dafür auf beiden Seiten auch auf der Klaviatur der Gefühle gespielt wurde, setzte sich mit zunehmender Politisierung der Gesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr durch. Erfolgreiche Herrscher und Politiker brauchten ein begeistertes Publikum als bestätigenden Spiegel ihres ›richtigen‹ Tuns. Aber auch die jubelnden Untertanen, die bei den Herrschaftsauftritten Spalier standen, nutzten diese Bühne, »um ihre eigene Ehre in der des Königs zu spiegeln.«38 Bei allen historischen und nationalen Differenzen wurden Gefühle in der Politik immer auch genutzt, um Ungleichheiten zu überspielen und Gefühlsgemeinschaften zu konstruieren. Die Übereinstimmung und Gleichzeitigkeit der Gefühlsbewegungen, so Lucien Febvre, verleihen unterschiedlichen Gruppen größere Sicherheit oder größere Macht und schweißen alle Beteiligten in einer Art höherer Individualität gleichsam zu einem Kollektivsubjekt zusammen.39 Vor allem in Krisensituationen, in denen die Vertrauensbasis zwischen Regierung und Volk zu bröckeln drohte, finden wir in der Politik häufig einen Rekurs auf das alle verbindende Gefühl als Basis einer erfolgreichen Politik. So auch in einer Rede Gustav Stresemanns im Reichstag vom 27. März 1917, also mitten im Ersten Weltkrieg, in der er vom »Zusammengehörigkeitsgefühl aller Bürger des Reichs« als dem »natürlichen Gefühl des Volkes« sprach: »Ich darf mich auch hier auf Treitschke berufen, der einmal ausgesprochen hat, daß es Zeiten gibt, in denen das natürliche Gefühl der Massen eine Macht wird im Leben des Staates. Wir wünschen, daß das natürliche Gefühl der deutschen Massen nicht nur eine Macht im Staate wird, sondern eine Macht in der Hand des Staates, daß Staat und Volk zu einer Einheit sich zusammenschweißen. […] Das ist aber nur möglich, wenn Regierung und Volksvertretung und Volk ein einheitliches Ganzes bildet, nur möglich, wenn das Volk nicht die Empfindung hat, daß eine Kluft besteht zwischen der Regierung und dem in den Parlamenten nicht genügend zum Ausdruck kommenden Volke. Überbrücken Sie diese Kluft, dann wird das Staatsgefühl des deutschen Volkes, das sich in diesem
37 | Büschel, Hubertus: Untertanenliebe. Der Kult um deutsche Monarchen 17701830, Göttingen 2006. 38 | U. Frevert: Gefühls-Politik, S. 99. 39 | L. Febvre: Sensibilität und Geschichte, S. 316f.
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G UNILL A B UDDE Kriege so herrlich bewährt hat, das sicherste Fundament werden für unsere gesamte deutsche Zukunft.« 40
Bezeichnenderweise beschwor Stresemann hier das »natürliche Gefühl der deutschen Massen« als eine Macht »in der Hand des Staates«. Damit geriet die Masse zum vom Politiker gestaltbaren Artefakt. Dieses Objekt der (Selbst-) Gestaltung kam vor allem bei Massenveranstaltungen zum Tragen, bei denen, in ausgeklügelter Dramaturgie und Choreographie, auf einen gemeinsamen Erfahrungs- und Gefühlshaushalt Bezug genommen wurde. Emotionsbesetzte Symbole und Rituale als Formen politischer Inszenierungen spielten dabei eine wichtige Rolle. Damit wurde ein alle verbindendes Moment geschaffen, in dem die Zeit aufgehoben schien, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Kontinuum zusammenflossen. Individuelle Unterschiede sollten für den Moment verwischt werden, gefühlsmäßiger Gleichklang, eine »emotionale Synchronisierung« zwischen der Masse und dem politischen Subjekt erzeugt werden.41 Dieses wurde damit zum ›Herrn‹ über die Gefühle der Masse, die Masse zum Objekt seiner Subjektivierung. Als harmonisierend und verstärkend wirkten dabei Instrumentarien wie Musik, Licht, Flammen und liturgische Handlungen. Anders als bei den frühneuzeitlichen Herrscherinszenierungen, bei denen Hofmusiker und -feuerwerker eigens für den Anlass neue Kompositionen zur Aufführung brachten, schöpften moderne Regenten aus einem bekannt-bewährten Repertoire für ihre akustische Kulisse. Bislang wissen wir viel zu wenig, welche Wirkungen der Einsatz der vermeintlich so unpolitischen Musik bei politischen Ereignissen in der Geschichte zeitigte. Reinhart Koselleck hat auf die besondere Rezeption von Musik verwiesen: »Die für die okulare Sinnlichkeit vorgegebene Distanz zwischen Bild und Betrachter verschwindet in der Musik vollends. ….auch die Zuhörer sind in strengerer Weise determiniert, sie können nicht schlicht weghören, weil das Ohr nicht geschlossen werden kann wie das Auge …. Der aktive und produktive Anteil der sinnlichen Verkörperung ist beim Sprechen, Singen und Musizieren jeder Art weit grösser als beim deutenden Hinsehen mit dem Auge, das primär wahrnimmt und nicht ›wahrmacht‹.« 42 40 | Stresemann, Gustav: »Neue Zeiten. Rede am 27. März 1917 im Reichstag«, in: ders., Macht und Freiheit. Vorträge, Reden und Aufsätze, Halle a.d.S. 1918, S. 38-59, hier S. 59. 41 | Ciompi, Luc/Endert, Elke: Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen von Hitler bis Obama, Göttingen 2011, S. 36. 42 | Koselleck, Reinhart: »Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste«, in: Sabine R. Arnold u.a. (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 25-34, hier S. 27.
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Liest man etwa Erinnerungen an die 1848er Revolution, wurden in dem »tollen Jahr« offenbar ständig Massengesänge intoniert, in der Regel allseits bekannte Choräle. In dieser Zeit, in der die traditionellen Formen politischer Herrschaftspraxis eher bekämpft als bestärkt wurden, konnte das »Kollektivsubjekt Volk« der Macht des Herrschers auch entgleiten. Dem damals sechzehnjährigen und späteren Kaiser Friedrich III. wurde das am 19. März 1848 sehr bewusst. Er trug in sein Tagebuch ein: »In der Tat konnten wir aber nicht heraus, denn der Schlossplatz war […] ganz angefüllt. Ein Blick dort hinunter war grauenhaft und geeignet, das Herz im Leibe zu wenden. Nicht genug, daß die Leichen halb entkleidet, mit bloßgedeckten Wunden und mit Blumen geschmückt hereingetragen wurden, kamen jetzt große Möbelwagen von Menschen gezogen; 20-30 Leichen lagen nebeneinander auf denselben, nur so hingelegt, umgeben von Pöbelhaufen, die Choräle sangen.« 43
Der Schlossplatz, bislang Ort öffentlicher Ehrbezeugungen für die Monarchie, hatte ganz offensichtlich durch seine neue Nutzung und Inanspruchnahme anderer Akteure eine neue Aura bekommen,44 die den Regenten nicht mehr mit Sicherheit umgab, sondern verstörte und zum Fremdkörper degradierte. So nahmen es offenbar auch Zuschauer von außen wahr. Auf der ›anderen Seite‹ der Barrikaden erlebte der neunjährige Pfarrerssohn Paul Lindau wie vor dem Schloss das Königspaar zur Ehrung der Märzgefallenen genötigt wurde und das Volk »Jesus, meine Zuversicht« anstimmte. »Wir waren zu weit entfernt, um die schauerliche Szene, die sich vor dem Königsschlosse abspielte, zu sehen. Wir hörten nur ein dumpfbrausendes Stimmengewirr, Lärm, der bedrohlich anschwoll, dazwischen unverständliche Rufe. Dann plötzlich trat Ruhe ein, während sich aller Blicke nach oben, nach dem Balkon des Schlosses richteten – den Balkon selbst konnten wir nicht sehen – und wiederum hörten wir unverständliches Geschrei. Dazwischen erklang etwas Gesang, erst undeutlich, dann immer vernehmlicher. Der Lärm dämpfte sich zu leiserem Gemurmel, verstummte. Und siegreich, feierlich, ergreifend ertönte nun von tausenden von Stimmen der Choral: ›Jesus meine Zuversicht!‹
43 | Kaiser Friedrich III.: Tagebücher von 1848-1866, mit einer Einleitung und Ergänzungen hg. v. Heinrich Otto Meisner, Leipzig 1929, S. 19. 44 | Dies bestätigt das dynamische Raumkonzept, wie es Vertreterinnen und Vertreter des ›spatial turn‹ vorschlagen: »Raum wird durch menschliches Handeln (wozu auch Wahrnehmung zählt) konstituiert, umgekehrt wirken Räume auf das Handeln und die Gefühle zurück« (Lehnert, Gertrud [Hg.]: Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 11).
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G UNILL A B UDDE Alle Häupter entblößten sich. Was da zu bedeuten hatte, was diese erregte, andächtig singende Menschenmenge wollte, ahnten wir nicht.« 45
IV. D IE S TUNDE DER F R AUEN : E MOTIONALISIERUNG DER H ERRSCHAF T SEIT DEM 19. J AHRHUNDERT Neben diesen auf Emotionen zielenden Massenveranstaltungen, die durch ihre regelmäßige Inszenierung das Zusammengehörigkeitsgefühl einer ausgewählten Gruppe stärken und das Herrschersubjekt bestärken sollten, zeichnete sich schon mit Ende des 18. Jahrhunderts die Strategie ab, sich als Herrscher oder Politiker von Zeit zu Zeit auf Augenhöhe mit seinem Volk, seiner Wählerschaft zu zeigen, das Gefühl des ›Menschen wie du und ich‹ zu kreieren. Herrscher, die sich jetzt bewusst im Kreis ihrer Familien porträtieren ließen, brachte diese neue Dimension strategisch eingesetzter Familienpolitik zum Ausdruck. Namentlich in Krisenzeiten stilisierten sich Fürstenhäuser zu harmonischen Familienclans mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die in ihrer ›Ähnlichkeit‹ mit den Untertanen nahbar wurden und mit dem Volk in einer Gefühlsgemeinschaft verschmolzen. Nun war die Familie des Herrschers als Ganze gefragt, vor allem die Gattinnen übernahmen Schlüsselfunktionen, die der politischen Funktion eine emotionale Komponente verlieh. Perfekt durchinszeniert finden wir die Emotionalisierung der Politik in der Ehe von Friedrich Wilhelm und Luise von Preußen. Letztere begnügte sich in dem Schauspiel Monarchie, in dem sie eine der Hauptrollen spielte, nicht, den für sie vorgesehenen ›Text‹ getreulich wiederzugeben und die Gesten zu vollziehen, welche die über Jahrhunderte gewachsenen Regieanweisungen ihr nahe legten. Vielmehr interpretierte sie die Königinnenrolle eigensinnig, fügte ihr subjektive Facetten hinzu, erfand sogar neue Szenen, Dialoge und Bilder, die in ihrem Innovationswert durchaus von den Zeitgenossen wahrgenommen und goutiert wurden.46 In Zeiten von bürgerlicher Adels- und Monarchiekritik war eine Annäherung an einen bürgerlichen Werthimmel, den man in der Darstellung des preußischen Königspaares hineinlas, durchaus gewünscht. Durch die in den Medien nicht nachlassende Betonung ihres ›bürgerlichen‹ Lebensstils, der sich vor allem in einem spezifischen Familienideal ausdrückte, wurden beide auf Augenhöhe gerückt. Namentlich Luise, aus der ›Provinz‹ stammend, wurde in ihrer ›Natürlichkeit‹ und ›Authentizität‹ als liebende Ehefrau und Mutter ohne Standesdünkel verklärt. Dass ihre Ehe mit dem preußischen Kronprinzen dynastischen Überlegungen entsprang, war in dieser Inszenierung ein 45 | Lindau, Paul: Nur Erinnerungen, Stuttgart 1916, 1. Bd., S. 17f. 46 | Schönpflug, Daniel: Luise von Preußen. Königin der Herzen, 3., durchgesehene Aufl., München 2010, S. 10.
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Schönheitsfehler, den beide mit einem intensiven vorehelichen Briefwechsel zu kaschieren versuchten, indem sie sich Seite für Seite eine Liebesbeziehung mit durchaus auch körperlichen Bedürfnissen regelrecht erschrieben: »Meine Zuneigung für Sie wächst an jedem Tage, an dem ich Sie sehe und macht mir die lange Zeit, die wir noch warten müssen, ehe wir uns ganz vereinigen können, vollends lang und unerträglich«, klagte der ansonsten als nüchtern bekannte Friedrich Wilhelm.47 Luise konterte mit dem Wunsch, sich beim nächsten Zusammentreffen kräftig »schmatzen« zu wollen, »daß das Echo es wiederholt und die Brücke von Ginsheim persten soll«.48 Überschwang und Pragmatismus wechselten in den Brautbriefen: »Sie lieben mich, ich liebe Sie, ein wenig Nachsicht von beiden Seiten und alles wird gut gehen. Ich habe meine Fehler, die Sie noch zu wenig kennen; deshalb bitte ich Sie im voraus, haben Sie viel Nachsicht mit mir, erwarten Sie nicht zu viel von mir, denn ich bin sehr unvollkommen, sehr jung, ich werde also oft irren. Aber wir werden doch glücklich sein.« 49
Die Ruf der Direktheit und Bodenständigkeit, der Luise vorauseilte, fand sich nicht nur in ihren Episteln, sondern auch in der Art ihrer Kleidung wieder: Sie verzichtete zur Freude ihres Zukünftigen auf modische Absätze, ihre erste Begegnung mit ihren Untertanen geschah in einem einfachen »Reisekleid«, auch die weitere Garderobe und Haartracht wurde entsprechend dem Gebot der Schlichtheit und Ungezwungenheit gewählt.50 Luise selbst stilisierte diese Eigenschaft: »Meine Verlegenheit wegen der Ankunft in Berlin wächst mit jedem Augenblick; deshalb sage ich es ihnen vorher und bitte Sie, es allen Leuten zu sagen, dass ich ganz einfach bin.«51 Wohl wissend, dass seine Braut bei ihrer »Einholung« tausenden von prüfenden Blicken ausgesetzt sein würde, mahnte Friedrich Wilhelm, Luises Eigenarten offenbar zunehmend kennend, sie möge im Vorfeld nicht schwer Verdauliches »naschen«, die ihr Beschwerden bringen könnten, »die Sie so häufig plagen und Sie sofort ein böses Gesicht machen 47 | »Friedrich Wilhelm an Luise« am 30. April 1763, in: Karl Griewank (Hg.), Briefwechsel der Königin Luise mit ihrem Gemahl Friedrich Wilhelm III., 1793-1810, Leipzig 1929, S. 65. 48 | »Luise an Friedrich Wilhelm« am 1. Mai 1793, in: Griewank, Briefwechsel (1929), S. 66. Man beachte den schnellen Rhythmus des Briefwechsels. Die Boten zwischen beiden Häusern waren offenbar ständig in Bewegung. 49 | »Luise an Friedrich Wilhelm« am 22. Oktober 1793, in: Griewank, Briefwechsel (1929), S. 127. 50 | D. Schönpflug: Luise, S. 73 u. S. 127. 51 | »Luise an Friedrich Wilhlem« am 4. Dezember 1793, in: Griewank, Briefwechsel (1929), S. 142.
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lassen.«52 Selbst bei der Regie der Herrscherauftritte hörte man nun durchaus auf die Stimme des Volkes. Auf Vorschlag eines Bürgercorps wich man etwa von der gewohnten Reihenfolge der in Berlin einziehenden Kutschen ab. Es handelte sich dabei zwar um »eine minimale Abweichung vom seit Jahrhunderten festgelegten Zeremoniell, und doch sandte sie ein Signal aus«, nämlich die Bereitschaft, im Konsens zwischen Beherrschenden und Beherrschten Traditionen zu verändern.53 Die Aufmerksamkeit und Offenheit gegenüber den Bedürfnissen der Untertanen kennzeichnete auch die Herrschaftspraxis nach der Hochzeitsfeier. Luises begab sich regelmäßig in die Öffentlichkeit der Hauptstadt und zog dabei die Berlinerinnen und Berliner in Massen an. Doch auch die Untertanen in den entferntesten Winkeln Preußens mussten auf die Kronprinzessin und später dann Königin nicht verzichten, ein Privileg, das Luise mit Leib und Seele forderte: Im ausgehenden 18. Jahrhundert gingen Reisen mit enormen körperlichen Strapazen einher. Nach stundenlangen Fahrten in schlecht gefederten Kutschen und auf holprigen Wegen verlangte ein makelloser Auftritt in der preußischen Provinz der Königin ein hohes Maß an Selbstdisziplin ab. Hinzu kam, dass Luise während ihrer Regentschaft mit wenigen Unterbrechungen in ›anderen Umständen‹ und von daher körperlich besonders belastet war. Bei den Untertanen evozierten die regelmäßigen Besuche der häufig schwangeren Landesmutter das Gefühl, dass die geliebte Königin in allen Lebenssituationen bewusst die Nähe ihres Volkes suchte und man ihr nahe kommen konnte. Ihre kleinen, zunächst unbeholfen wirkenden, offenbar dann, weil sie Applaus ernteten, zur bewussten Attitüde geratenen Abweichungen von der höfischen Etikette, schürten das Image der positiv konnotierten Bescheidenheit und jugendlichen Unbefangenheit. Das Wahrnehmen unzähliger Repräsentationstermine, die sie auch körperlich angriffen, erweckten in ihrer Umgebung und offenbar auch bei ihr selbst das Gefühl, dass ihr die Rolle der Monarchin ›auf den Leib‹ geschrieben sei, diesen aber auch bis an seine Grenzen brachte. »Mach Dich darauf gefasst zu erfahren, daß ich bald sterben werde«,54 schrieb sie am Rande der Erschöpfung an ihre Schwester. Aber auch diesen gesellschaftlichen Pflichtübungen, die nach jahrhundertealtem Protokoll abliefen, wusste sie ihre eigene Handschrift zu geben. Bei den unzähligen Bällen führte sie gemeinsam mit ihrer Schwester Friederike den Walzer ein, von dem der Berliner Aufklärer Friedrich
52 | Alle Zitate: »Friedrich Wilhlem an Luise« am 22. Oktober 1793, in: Griewank, Briefwechsel (1929), S. 129. 53 | D. Schönpflug: Luise, S. 76f. 54 | »Luise an ihre Schwester Therese von Thurn und Taxis« am 25. Februar 1794, in: Malve Gräfin Rothkirch (Hg.), Königin Luise von Preußen. Briefe und Aufzeichnungen 1786-1810, München 1995, S. 53.
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Nicolai schrieb, es sei ein »Tanz vertrauter Zuneigung«.55 Auf dem Tanzparkett konnte das königliche Paar vor einer repräsentativen Öffentlichkeit damit seine auch körperliche Nähe dokumentieren. Dass Luise selbst zunehmend Behagen an ihrer mit so viel Beifall bedachten Rolleninterpretation fand, lässt sich in ihren Briefen nachlesen, die, wie ihr Biograf Schönpflug treffend schrieb, »eine gute Grundlage« sind, »um die Figur der Luise zu entzuckern«.56 Hier findet Luise nicht nur eine deutliche Sprache, sondern ließ auch ihren Gefühlen freien Lauf. Wie belastend der Zwang zur Selbstbeherrschung sein konnte, lässt sich hier nachlesen. Wenige Minuten nachdem Luise vom Tod ihrer kleinen Nichte erfahren hatte, hatte sie sich wieder einer beobachtenden Öffentlichkeit zu zeigen, wie sie gequält ihrer Schwester schrieb: »Aber am Abend musste ich zu einer großen Gesellschaft gehen, auf der alle Leute wegen meiner rotgeweinten Augen miteinander flüsterten. Ich stand wie auf Kohlen, denn mit meinem schweren, übervollen Herzen wusste ich nicht, wohin ich mich wenden sollte, um eine Ecke zu finden, in der ich meinen Tränen freien Lauf lassen konnte, ohne gesehen zu werden.« 57
Bei allen Erwartungen an das emotionale Kapital namentlich der Herrscherinnen galt auch für sie ein wohltemperierter Einsatz. Gute Miene zum bösen Spiel machen zu können, Tanzen trotz Trauer, zwangen ein Verhaltenskorsett auf, das ungezügelte Emotionen auch bei weiblichen Amtsträgern nicht zuließ. Als beherzte Herrschergattin mit bislang ungeahnten Qualitäten tritt uns auch Kaiserin Augusta dann einige Jahre später, während des deutsch-französischen Krieges, entgegen.58 Als eher im Hintergrund wirkend und »dem Hofleben wenig Theilnahme schenkende Frau, die den größten Theil des Jahres außerhalb der Residenz verlebt«,59 schien sie in den Augen der Öffentlichkeit vordem einen Hauch zu viel dem seit Luise propagierten Ideal des »Bürgerkönigtum« zu huldigen.60 »Schlicht und einfach wie irgendeine andere wohlsituierte Frau« begab sie sich regelmäßig zu Spaziergängen in den Tiergarten. »Viele gehen an ihr vorüber, ohne sie zu kennen; viele erkennen sie nur an 55 | D. Schönpflug: Luise, S. 106. 56 | Beide Zitate: ebd., S. 25. 57 | »Luise an ihre Schwester Therese von Thurn und Taxis« am 5. Februar 1795, in: Rothkirch, Königin Luise (1995), S. 100. 58 | Vgl. hierzu Geisthövel, Alexa: »Augusta-Erlebnisse: Repräsentationen der preußischen Königin 1870«, in: Frevert/Haupt, Neue Politikgeschichte (2005), S. 82-114. 59 | »Augusta Königin von Preußen«, in: Illustrirte Zeitung, Nr. 1256, vom 27.07.1867, S. 63. 60 | Vgl. hierzu Daniel, Ute: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 123-125.
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der Equipage und dem Lakaien, die ihr folgen.«61 Schlichtheit und fast schon programmatische Unauffälligkeit zeichnete die Regentin nicht nur in ihrem Auftreten in der Residenz aus, auch bei ihren regelmäßigen Kuraufenthalten frönte sie einem alles andere als luxuriösen Lebensstil.62 Von ihrem Gemahl nach Berlin zurückbeordert, trat sie dann in den Kriegstagen des Jahres 1870 als regelmäßig erscheinende Siegesbotin auf die Berliner Bühne. Zuvor bereits hatte sie weibliche, emotional besetzte Kriegsaufgaben übernommen, die ihr Titel wie »Samariterin« oder »Friedensengel« eingebracht hatten. Dazu gehörte die Verabschiedung von Regimentern am Bahnhof, regelmäßige Besuche in Lazaretten, Kriegervereinen, Volksküchen und bei Hinterbliebenen. Doch erst die Auftritte der Kaiserin während der letzten Kampfhandlungen, wohlbedacht und entsprechend inszeniert, brachten sie in die Rolle der Inkarnation des Nationalgefühls: Vor aller Augen und Ohren wurden die ›privaten‹ Briefe und Depeschen, die ihr von ihrem Gemahl inmitten des Kriegsgeschehens zukamen, einer Öffentlichkeit preisgegeben. Schauplatz wurde hier das Tauentziensche Palais Unter den Linden, vor dessen Portal das Reiterdenkmal Friedrich II. seinen Platz hatte. Weitgehend vor der Öffentlichkeit abgeschottet, bot lediglich ein Eckfenster im Erdgeschoss Einblicke ins herrschaftliche ›Privatleben‹. Gleichsam als »lebendes Bild« präsentierte sich hier regelmäßig der Kaiser um 6.00 in der Früh als ruhelos für sein Reich sich aufreibender Monarch, wie es die Familienzeitschrift Daheim lobend hervorhob.63 In Kriegs- und Krisenzeiten galt die Regel, die hoheitliche Privatheit zu schützen, nicht mehr. Bereits nächtlich hell erleuchtete Fenster des Schlosses wurden von einer ständig das Palais inspizierenden Menge als Signale von Bedeutung wahrgenommen. Die Auftritte der Kaiserin fanden auf dem Balkon statt, der wie kein anderer Teil des Gebäudes innen und außen miteinander verschränkte64 und die Grenze zwischen Volk und Monarchin fluide machte. Am Abend des 5. August fiel der Startschuss für einen sich in den folgenden Wochen einspielenden und hoch emotionalen Dialog zwischen Kaiserin und Volk: Auf drängendes Rufen der Menge vor dem Schloss trat ein Offizier, gefolgt von Augusta an die Brüstung, verlas im Schein einer Petroleumlampe die privaten Telegramme mit der Siegesbotschaft, während die Kaiserin, begleitet von Jubel, huldvoll in die Menge winkte. Danach tauchten Chöre, »Die Wacht am Rhein« intonierend, die Szenerie die ganze Nacht in stolze Töne. Bei jedem Etappensieg wiederholte sich dieses Ritual. Zu Recht verweist Alexa Geisthövel darauf, dass es weniger die Verkündigung der guten Botschaft war, – die konnten alle bereits vorher an 61 | Beide Zitate: »Augusta Königin von Preußen«, in: Illustrirte Zeitung, Nr. 1256, vom 27.7.1867, S. 63. 62 | A. Geisthövel: Augusta-Erlebnisse, S. 86f. 63 | »Der Preußische Hof«, in: Daheim, Nr. 45, vom August 1865, S. 658. 64 | A. Geisthövel: Augusta-Erlebnisse, S. 96.
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unterschiedlichen Stellen der mittlerweile reichen Presselandschaft lesen – die mit Bedeutung versehen wurde. Vielmehr war es das Erscheinen der Kaiserin und der Moment, in dem die Regentin mit dem Volk in einer Gefühlsgemeinschaft verschmolz. Nicht zuletzt die Kleider, die sie zu diesen Anlässen trug, markierten symbolische ihr Einssein mit ihrem Land. Ob im »schwarzen Kleid« mit »weißem Umhang und Hut« oder im weißen »Piquékleid« mit Hut, besetzt von schwarzen und weißen Federn – stets zeigte sie sich in den preußischen Farben.65 Die Botschaft dieser Performanz war eindeutig: In Zeiten nationaler Herausforderung sind Standesschranken aufgehoben, fühlen wir gemeinsam. Dadurch wurde eine Atmosphäre der Vertrautheit zwischen Herrschenden und Beherrschten kreiert und die Kaiserin zur Initiatorin und Verkörperung einer Gefühlsgemeinschaft. Einen Höhepunkt erreichte diese Eintracht zwischen Kaiserin und Untertanen am 3. September 1870. Die vielgelesene Illustrirte Zeitung widmete einer sich an diesem Tag abspielenden Szene eine ganzseitige Illustration. Die Berliner Jugend hatte bei der Nachricht vom Sieg bei Sedan das Friedrich-Denkmal erklommen und den legendären Herrscher mit Lorbeerkränzen geschmückt.66 »Volksnahes Wohlwollen« zeigte hier die Kaiserin, die einen der Rädelsführer der Denkmaleroberung in den Palais rufen ließ, um ihm zu danken und mit einer Tasse mit dem Porträt ihres Mannes zu beschenken.67 Diese demonstrierte Volksnähe bot viel Stoff für schwelgerische Presseberichte, in der ein besonders getönter, unverkrampfter Berliner Royalismus konstruiert wurde, der »nichts Respektvolles und Ehrfürchtiges« hat, sondern sich »familiär und humorvoll« an die königliche Familie richtet. »Wenn Muttern kommt, jiebt’s was«, beschrieb der Berliner Volksmund den Auftritt der Königin.68 Die zelebrierte Teilhabe des Volkes am kaiserlichen Privatleben durch das Verlesen der persönlichen Briefe lüftete zumindest kurzzeitig auch den Schleier über der emotionalen Seite des Kaisers. Von »überwältigenden Gefühlen« schreibt er wiederholt, von »unermesslichem Jubel« und »Freuden-Taumel« ist in den Texten der zeitgenössischen Presse zu lesen.69 In der Person der Königin, die als Stellvertreterin und gleichzeitig Gefühle transportierende Leitfigur fungierte, wurden Anwesende und Abwesende zur nationalen Einheit synchronisiert.70 Geteilte Gefühle und ihre gleichzeitige Entäußerung waren dabei der Kitt der Jubelgemeinschaft. 65 | Alle Zitate: ebd., S. 100. 66 | »Das Denkmal Friedrich des Großen in Berlin bei der Nachricht von der Katastrophe bei Sedan«, in: Illusttrirte Zeitung, Nr. 1421, 24.9.1870. 67 | Zit. n.: A. Geisthövel: Augusta-Erlebnisse, S. 102. 68 | Alle Zitate: von Adlersfeld-Ballestrem, Eufemia: Kaiserin Augusta. Ein Lebensbild, Berlin 1902, S. 217. 69 | A. Geisthövel: Augusta-Erlebnisse, S. 109 70 | Ebd., S. 110.
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G UNILL A B UDDE »Das Heraustreten der Königin vor das Publikum während der Verlesung der königlichen Telegramme vergegenwärtigte den Urheber der Siege(snachrichten) und reauratisierte die im technischen Kanal ernüchterte Botschaft. Vor allem aber gab ihr erwartungsgemäßes Erscheinen, der Momente, in der Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit umschlug, den Einsatz zum Gefühlsausbruch.«71
Die Stilisierung der vordem eher unnahbaren Königin zur »Mutter der künftigen Nation«, das Gemeinschaftsgefühl von Stolz und Verehrung für ihren Gemahl und für ihre Vorfahren evozierte Bilder der Vertrautheit, emotional besetzte und abrufbare Momentaufnahmen, die die Wahrnehmung des Herrscherhauses dauerhaft prägten. Dieser emotionale Habitus im politischen Feld wurde zunächst ausschließlich den »Frauen an seiner Seite« zugesprochen und von ihnen praktiziert. Sie hatten die Welt der Gefühle zu verkörpern und in der Praxis im gemeinsamen Auftreten mit dem Gemahl von Zeit zu Zeit das gesamte Herrscherhaus mit einer emotiven Aura zu umgeben. Königin Luise hatte das Ideal der Regentin, die bürgerliche Werte einer harmonischen, arbeitsteilig funktionierenden Familie pflegte, vorgelebt. Andere Herrschergemahlinnen folgten. Queen Victoria von England war dann die erste Regentin, die, selbst an der Macht, die Balance zwischen imperialer Herrscherin und liebender Mutter finden musste. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann in zunehmenden Maß im 20. Jahrhundert erschien es auch männlichen Politikern von Zeit zu Zeit opportun, ihre ›menschliche‹, besser: emotionale Seite zu zeigen. Bebels Könnerschaft auf diesem Terrain wurde bereits eingangs skizziert. Besonders geschickt bzw. gekonnt beraten von seinem PR-Büro, erwies sich dabei John F. Kennedy. Die Fotos vom Oval Office, die Mr. President an seinem Schreibtisch arbeitend, doch mit wachsamen Auge auch auf sein zwischen seinen Beinen krabbelnden Söhnchen John Jr. zeigten, gingen um die Welt und dokumentierten eine Politikerpersönlichkeit, die der Verantwortung als Präsident und Vater gleichermaßen gerecht wird und damit Vertrauen generiert. Mittels dieser buchstäblichen Domestizierung des Herrscherbildes erhielt die Herrschaft menschliche Züge, sie fungierte gleichsam als Signum für das Ende der Unnahbarkeit. Auch in Reden auf die Bedeutung der eigenen Familie zu rekurrieren, wurde zum beliebten Mittel, um sich der Hörerschaft anzunähern. Seine Antrittsrede im deutschen Bundestag am 12. September 1949 begann Theodor Heuss mit einem Rekurs auf seine Familie: »Niemand wird – so hoffe ich – mißdeuten, und mancher wird, denke ich, verstehen, wenn ich in dieser mich sehr bewegenden Stunde, die mein Leben verwandelt, zunächst sehr persönliche Dinge ausspreche.« Er warb um Verständnis, zunächst seines früh verstorbenen Vaters gedenken zu wollen, 71 | Ebd., S. 110f.
P OLITIK MIT G EFÜHL »der in die Seelen seiner jungen Söhne die Legenden des Jahres 48 gegossen hat, die mit der Familiengeschichte verbunden sind, und der uns einen Begriff davon gab, daß die Worte Demokratie und Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebensgestaltende Werte sind.«72
Während Heuss hier seine Verwurzelung in einer liberalen Wertewelt unterstreichen wollte, dienten andere Familienbezüge häufig als Ablenkung von politischen Problemen. Es galt Gegenbilder zu schaffen, um ein drohendes oder bereits bestehendes Negativimage zu überblenden. Mit einer solchen Flucht in die Privatheit, die Richard Sennett als »Tyrannei der Intimität« gegeißelt hat,73 sollte Sympathie geweckt und Mitgefühl erheischt werden. »Es ist ein Merkmal von Unzivilisiertheit«, so Sennett, »wenn eine Gesellschaft ihren Bürgern das Gefühl vermittelt, ein Politiker sei glaubwürdig, weil er seine eigenen Motivationen zu dramatisieren vermag. Dann wird Politik zur Verführung.«74 Richard Nixons berühmt-berüchtigte Checkers-Rede, in der er auf dem Höhepunkt seiner Regierungskrise vor laufenden Kameras mit tränenerstickter Stimme über die Liebe zu seinem Hund erzählte, führt Sennett als Paradebeispiel dafür an.75 Auch das als Schnappschuss stilisierte, aber dennoch geschickt lancierte Foto von Ex-Kanzler Gerhard Schröder nach dem Kauf einer Puppe für seine gerade adoptierte Tochter,76 appellierte an Gefühle der Rührung bei dem im Sommer 2004 ihm nicht gerade wohl gesonnenen Wählervolk. In Zeiten, in denen die soziale Seite des damaligen Kanzlers hinterfragt wurde, galt es offenbar, seine emotionale Seite zur Schau zu stellen. Eine solche Familialisierung des Politikers sollte jedoch nicht das Bild eines hedonistischen Gefühlsmenschen entstehen lassen, sondern eines Politikers, der sich ebenso um das Wohl der Wähler wie um das Wohl seiner Familie sorgt. Nicht seine Fähigkeit, eigene Gefühle zu
72 | Beide Zitate: Heuss, Theodor: »Antrittsrede im Deutschen Bundestag«, Bonn, 12. September 1949, in: Dolf Sternberger (Hg.), Reden der deutschen Bundespräsidenten Heuss, Lübke, Heinemann, Scheel, Wien/München 1979, S. 5-10, hier S. 5. 73 | Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, 12. Aufl., Frankfurt a.M. 2001. 74 | Ebd., S. 337. 75 | Ebd., S. 355. 76 | Nur auf den ersten Blick erscheint das Foto, das der »Stern« in Heft 36 (2004) abdruckte, als Paparazzi-Schnappschuss. Doch beim näheren Hinsehen bleiben eine Reihe von Fragen: Warum posiert Schröder eine Zeitlang vor dem Spielzeuglagen, anstatt in die wartende Limousine zu springen? Warum hat er auf die Verpackung der Puppe verzichtet und hält sie stattdessen wie ein Baby im Arm und gab sich, ansonsten bemüht, sein Privatleben vor der Öffentlichkeit zu schützen, zur Besichtigung und Ablichtung frei?
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zeigen, sondern vor allem die Fähigkeit zum Mit-Gefühl ist es, die das politische Subjekt auszeichnet.77 Doch auch wenn diese Familiarisierung der Politik ein schon seit dem 19. Jahrhundert eingeübtes und zudem internationales Phänomen ist, fallen dennoch erklärungsbedürftige Unterschiede ins Auge. So scheinen vor allem in den amerikanischen Wahlkämpfen die so genannten ›soft issues‹ eine besonders große Rolle zu spielen. Hier treten die Ehefrauen und Kinder der sich zur Wahl Stellenden häufig nicht nur an ihrer Seite auf, sondern auch eigenständig aufs Podium, um als engste Vertraute um das Vertrauen aller zu werben. Das Individuum und seine liebenswerten Eigenarten werden, unabhängig von der politischen Programmatik, während der Wahlkämpfe erfunden und von der Familie öffentlich beglaubigt. Mit gewisser Überheblichkeit wird dies von europäischen Politikern mit ihrem ständigen Plädoyer, Politik müsse entpersonalisiert sein, beobachtet. Glaubwürdig ist das nicht. Es ist eher die Dosierung von Gefühlen, damit eine gefühlsmäßige Annäherung nicht als Anbiederung empfunden wird, die hier den Unterschied ausmacht.
V. P OLITIKERINNEN UND G EFÜHLE Die situativ eingesetzte Familiarisierung des Politischen scheint auch eine Strategie – zumindest im 20. und 21. Jahrhundert – zu sein, die eher von männlichen Politikern genutzt wurde und auch eher für sie die Wirkung zu zeigen vermag, die intendiert ist. So zitierte die EMMA im Frühjahr 2007 Nicolas Sarkozy mit folgenden Worten: »Ich glaubte früher, ein starker Mann müsse seine Gefühle verbergen, aber ich habe inzwischen verstanden, dass nur derjenige stark ist, der in seiner ganzen Wahrheit erscheint«. Konfrontiert mit einer Bewerberin auf das Amt des französischen Staatspräsidenten glaubte die EMMA zu beobachten, dass der »gewiefte Sarkozy im Wahlkampf die ›weibliche‹ Karte [spielte]: die der Gefühle«.78 Abgesehen davon, dass selbst die EMMA sich mit 77 | Diese Vorstellung knüpft an die Idee der ›moral philosophy‹, die als gesellschaftspolitischer Bezugsrahmen vor allem in Großbritannien seit dem 18. Jahrhunderts ausgeprägt war. Gesellschaft, so die darin implizierte Botschaft, funktioniere nur dann, wenn deren Mitglieder public affection hegten und einander mit Mitgefühl, Freundschaft und Wohlwollen begegnen. Vgl. hierzu: Frevert, Ute: »Gefühle definieren: Begriff und Debatten aus drei Jahrhunderten«, in: dies. u.a., Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M./New York 2011, S. 9-40, hier S. 32. 78 | Beide Zitate: o.V.: »Die Favoritin der Basis«, in: EMMA vom März/April 2007, www.emma.de/ressorts/artikel/politikerinnen/die-favoritin-der-basis, abgerufen am 25.07.2012.
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dieser Formulierung in traditionellem Gender-Fahrwasser bewegte, wurde bereits vorn gezeigt, dass es auch im Feld der Politik männlich besetzte Gefühle gab, die auf Akzeptanz stießen. In der Regel handelte es sich dabei eher um Gefühlshaltungen, die weniger das Politikersubjekt bewegten, sondern ihn gleichsam als Stellvertreter für ›sein Volk‹ oder die ›Ehre seiner Familie‹ auftreten ließ. Auch von Zeit zu Zeit als emotionaler Familienvater in die Öffentlichkeit zu treten, war für Herrscher und Politiker seit dem 19. Jahrhundert eine durchaus gefragte und geübte Praxis. Erstaunlicherweise machen Herrscherinnen und Spitzenpolitikerinnen eher weniger Gebrauch davon. Ein Phänomen, dem die Öffentlichkeit interessiert aber auch irritiert begegnet. Frauen an der Macht, die nicht, wie erwartet, ihren Gefühlen folgen, können provozieren aber auch imponieren. Es fällt auf, dass sich mächtige Frauen, die langsam seit dem 20. Jahrhundert auch das Feld der modernen Politik zu erobern begannen, weit seltener im Kreis ihrer Familie als Ehefrauen und Mütter präsentierten. Im Gegenteil ging es etwa Golda Meir und Margaret Thatcher eher darum, ihr Privatleben so weit wie möglich unter Verschluss zu halten. Wie verstörend dies offenbar wirkte, zeigte der Spitzname »Eiserne Lady«, den Thatcher über ihre Amtszeit hinaus nicht verlor. Auch Angela Merkel erlaubt nur seltene Schlüssellochblicke in ihre Privatwelt. Es scheint fast so, dass Politikerinnen in den ersten Reihen noch immer dem Image größerer, und im Politischen kontraproduktiven Gefühlsnähe entgegenlenken zu müssen glauben, sich bewusst spröde gaben und geben, um nicht in den latenten Verdacht zu geraten, sich als Frauen zu sehr von ihren Emotionen leiten zu lassen. Die Diskrepanz zwischen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und gesellschaftliche Vorstellungen bringen namentlich Frauen, die die nach wie vor männlich besetzte Politik zu erobern beginnen, grundsätzlich in eine prekäre Lage. Sie begeben sich damit offenbar immer in eine Doublebind-Situation, aus der sie nur als Verliererinnen hervorgehen können. »Geben sich die Frauen kühl, kalkulierend und aggressiv, wie es das politische Geschäft verlangt, riskieren sie Ablehnung als ›Mannweiber‹; empfehlen sie sich mit vermeintlich weiblichen Eigenschaften, gelten sie als ungeeignet für die schweren Herausforderungen der Politik.«79
Bei Politikerinnen werden in der Beurteilung überdies Kriterien herangezogen, die sich nicht am konkreten politischen Stil und Inhalt orientieren, sondern
79 | Holtz-Bacha, Christina: »Politikerinnen-Bilder im internationalen Vergleich«, in: www.bpb.de/themen/BDDLJH.thml, abgerufen am 25.07.2012.
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sich eher auf subjektives Auftreten und Aussehen kaprizieren.80 In dem bis heute von Männern dominierten Feld der Politik fehlen verbindliche Spielregeln für Angehörige des anderen Geschlechts, um Akzeptanz zu finden. Keine bewährten Rezepte, keine eingefahrenen Bahnen stehen von daher Politikerinnen bereit, die sich somit auf ungewisse Gratwanderungen begeben. Die Wahl, sich den Gegebenheiten anzupassen, die Spielregeln unverändert anzuerkennen oder eher mit den ›Waffen der Frau‹ zu agieren, wird von den Politikerinnen sehr unterschiedlich getroffen. Auch wenn zunächst versucht wurde »Kohls Mädchen« mit Diskussionen über ihre Frisur und Nachfragen nach der privaten Seite in die weibliche Ecke zu schieben, zog Angela Merkel 2005 in den Wahlkampf, ohne auf vermeintlich weibliche Attribute zu rekurrieren. »Wie ich Menschen begegne, hat mit meiner Persönlichkeit zu tun, […] sicher auch damit, dass ich eine Frau und eine Naturwissenschaftlerin bin.«81 Ihren Führungsstil brachte sie wie folgt auf den Punkt: »Mein Prinzip ist nicht ›Basta‹, sondern Nachdenken, Beraten und dann Entscheiden«.82 Dazu gehören eine hohe Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit, häufig bei Auslandsbesuch mit privat anmutendem Charakter zelebriert, sowie die Schaffung eines Kreises enger Vertrauter, die berühmte »Morgenlage« der Kanzlerin mit ihrem »inner circle«, einem rein weiblich besetzten Kreis mit hoher Diskretionspflicht, die eine robuste und belastbare Führungssituation schafft. »Angela Merkel hat ihren Führungsstil gefunden. Überlegt, uneitel, mütterlich und von sprödem Pathos«.83 Allein das Spektrum der Attribute, die der ZEIT-Journalist hier bemüht, um den Kanzlerinnenstil zu charakterisieren, verweist darauf, dass offenbar weniger das Geschlecht – ersetzte man »mütterlich« durch »väterlich«, könnte diese Facetten durchaus auch einen erfolgreichen männlichen Politiker schmücken – sondern vielmehr ein seismographisches Gespür für den situativen Augenblick den Ausschlag geben kann, ob eine mehr oder weniger emotional eingefärbte Praxis von Politikerinnen und Politikern bei der Wählerschaft ›ankommt‹. Auch Hilary Clinton, mit der Bürde der ehemaligen First Lady behaftet, die sich zwischen Plätzchen backend und zupackend entscheiden musste, wählte im Jahr 2008 die vermeintlich ›harte‹ Strategie, um Führungsstärke und damit Eignung für das Präsidentenamt zu demonstrieren.84 Doch punkten konnte sie letztlich mit ihren öffentlichen Tränen nach ihrer ersten unerwarteten Wahlnie80 | Meyer, Birgit: »›Nachts, wenn der Generalsekretär weint‹ – Politikerinnen in der Presse«, in: www.bpb.de/themen/24QDW1.html, abgerufen am 25.07.2012. 81 | Angela Merkel im Interview mit Sheryl Pitzen u.a., in: Hamburger Abendblatt vom 16.09.2009. 82 | Angela Merkel im Gespräch mit Maybrit Illner im ZDF, 28.09.2006. 83 | Schmidt, Thomas E.: »Die Meistersängerin«, in: ZEIT-online, www.zeit.de/2007/31/ Bayreuth-Gipfel, abgerufen am 25.07.2012. 84 | C. Holtz-Bacha: Politikerinnen-Bilder, S. 7.
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derlage im Rennen um die demokratische Präsidentschaftskandidatur, indem sie bald darauf in New Hampshire den Sieg davontrug.85 Die Tränen von Frau Clinton brachten den »gender trouble wieder ins rechte Lot«.86 Dieses Gefühl für den richtigen Augenblick der Emotion, das bewusste Haushalten mit öffentlich gezeigten Gefühlen, das Merkel und Clinton in ihrer Selbst-Performation teilen, und das nur ab und an sie als ›wirkliche‹ Frau hinter der ansonsten knallharten Politikerin zeigt, scheint im 21. Jahrhundert für weibliche Politiker aufzugehen. Doch: Es bleibt ein Balanceakt, auf den sich Politiker und mehr noch Politikerinnen mit ihrem Einsatz von Emotionen begeben. Zu viel Gefühl oder deplatzierte Gefühle können ebenso wie Gefühlskälte kontraproduktiv wirken. Emotionale Kompetenz, der am stärksten körpergebundene Teil des inkorporierten Kulturkapitals ist mittlerweile, wie Eva Illouz gezeigt hat, zumindest in der amerikanischen Wirtschaftswelt angekommen: »Das emotionale Verhalten wurde so wichtig für das ökonomische Verhalten, daß der in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Begriff der emotionalen Intelligenz das amerikanische Unternehmen im Sturm erobern konnte«. 87
Namentlich im Bereich des im Zeichen zunehmender Globalisierung immer wichtigeren Netzwerkkapitalismus steht die Bedeutung des emotionalen Kapitals als grenzüberbrückendes Bindemittel mittlerweile außer Frage. »Die emotionale Geste ist ein verbindender Akt.«88 Für den Bereich der Politik beginnt sich diese Vorstellung erst zögernd durchzusetzen. Eher die kleinen emotionalen Gesten ›am Rande‹ der großen Politik finden zunehmend öffentliche Beachtung und Akzeptanz. Der weiße Steiff-Teddybär, den Kanzlerin Merkel dem französischen Kollegen wenigen Minuten nach der Geburt seiner Tochter persönlich überreichte, fand Eingang selbst in seriöse Nachrichtensendungen und ging um die Welt – gleichsam als Ausweis für den ›guten Draht‹ zwischen den beiden Regierungsspitzen. Dass die Art von Beziehungen zwischen Politikern und damit auch die mitspielenden Emotionen nicht nur Fußnoten der Geschichte sind, sondern häufig entscheidend für die Subjektivierung von Politikerpersönlichkeiten und die Ausgestaltung des Politischen waren, bedarf erst allgemeiner Akzeptanz in der Historiographie und weiterer empirischer, auch national vergleichender Untersuchungen. 85 | U. Frevert: Gefühls-Politik, S. 18. 86 | Ebd., S. 22 87 | Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 99. Vgl. auch Frevert, Ute: »Gefühle und Kapitalismus«, in: Gunilla Budde (Hg.), Kapitalismus – Historische Annäherungen, Göttingen 2011, S. 50-72; Budde, Gunilla: »Das wechselvolle Kapital der Familie«, in: dies., Kapitalismus (2011), S. 97-115. 88 | U. Frevert: Gefühls-Politik, S. 17.
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»Ich wundere mich, daß eine so unscheinbare Handlung eine so große, heilsame Wirkung in der Seele zeigt«1 Mönchische Praktiken und Selbst-Bildungen bei Caesarius von Heisterbach Rudolf Holbach
I. D AS E NDE EINES P ROBE JAHRES In seinem um 1220 verfassten2 Dialogus Miraculorum lässt der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach den Scholaster Gottfried aus dem Kölner Andreasstift auftreten. Dieser – bereits alt und kränklich – entschließt sich zum Eintritt in den Zisterzienserorden, wird aber zunächst auf vielfältige Weise vom Teufel versucht: »Als das Ende des Probejahres nahte, begann der Teufel, ihm verschiedene Annehmlichkeiten in Erinnerung zu rufen, die er in der Welt genoß. Gleichzeitig hielt er ihm sehr vieles vor Augen, was im Kloster beschwerlich erscheint: zum Beispiel das Gewicht der Kleidung, die langen Nachtwachen und das lange Schweigen, die Hitze im Sommer und die Kälte im Winter, das regelmäßige Fasten, die karge Kost und dergleichen mehr. Als er dies alles betrachtete, wurde er dermaßen kleinmütig, daß er an seiner Kraft zum Durchhalten ganz verzweifelte. Er sagte zu mir: ›Ich dachte nicht, daß der Orden so streng sei; bisher hatte ich geglaubt, daß diejenigen, die zur Ader gelassen worden sind, Fleisch äßen und daß die Mönche ohne ihre Kukullen schliefen. Es reut mich, dass ich 1 | Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Dialog über die Wunder, eingel. v. Horst Schneider, übersetzt u. kommentiert von Nikolaus Nösges/Horst Schneider, 5 Bde., Turnhout 2009, I, 21, S. 268f. (künftig zitiert Mirac. mit Zählung nach den Distinktionen). 2 | Zur Abfassung, deren Kernzeit in die Jahre 1219-1223 gelegt wird, Mirac. I, Einl., S. 59-66.
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R UDOLF H OLBACH hierhergekommen bin. Ich habe vor, für mich allein in meiner Kirche zu Herlisheim zu singen, deren Pastor ich bin und die nun in einer recht schlimmen Lage ist; ich hoffe, daß ich dort mit Gottes Hilfe das mir von Gott anvertraute Volk ehrbar und untadelig leiten kann«.
Nachdem ihm Caesarius persönlich das Ganze als Versuchung des Satans vor Augen geführt und den Kompromissvorschlag Gottfrieds verworfen hat, in der Nähe des Klosters ein Zimmer zu suchen, kanonisch zu leben, Almosen zu geben und zumindest am Chorgebet der Mönche teilzunehmen, führt zur Entscheidung schließlich ein Psalterstechen, das als Mittel der Prophezeiung dienende ungezielte Aufschlagen der Psalmen:3 Gottfried, dem bewusst wird, dass ihm bei einer Rückkehr der Spott seiner Mitkanoniker droht, wird von Gott auf den rechten Weg gebracht. Er bestärkt sich selbst in seinem Beschluss zum Mönchsein und geht wenig später in der Gesinnung aufrichtiger Reue ein zum Herrn.4
II. W UNDERGESCHICHTEN UND S ELBST -B ILDUNG Die von Caesarius dargestellte Episode aus dem Leben eines Mitbruders ist durchaus typisch für sein Werk, in dessen Mittelpunkt zunächst und sehr stark die conversio steht.5 Diese wird als cordis versio, als Wandlung des Herzens vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Besseren oder gar vom Besseren zum Besten verstanden, die mit der Kontemplation erreicht wird.6 Für einen solchen Weg wirbt Caesarius immer wieder bei seinen Lesern, verschweigt aber mögliche Probleme nicht und stellt verschiedentlich auch das Scheitern dar. Die didaktische Absicht des Textes ist unverkennbar. Als Anlass zum Abfassen der Geschichten gibt der als Novizenmeister tätige Autor an, die wundersamen Geschehnisse den Neulingen im Orden erzählt zu haben, von diesen zur Erbauung um eine Verschriftlichung gebeten worden zu sein und nach Widerstreben schließlich dem Befehl seines Abtes Heinrich7 und dem Rat des Abtes von Marienstatt hierzu Folge geleistet zu haben.8 Gepaart mit dem Topos der Bescheidenheit unter Hinweis auf unzulängliche Lateinkenntnisse und einen weniger bedeutsamen Gegenstand der Schrift – »Brosamen« statt »ganzer Bro3 | Dazu Mirac. IV, 49, S. 793 mit Anm. 580. Zum Psalter als Ausdruck von Gottes Willen auch III, 20, S. 572f. 4 | Mirac. IV, 49, S. 790-795. 5 | Dazu auch Mirac. I, Einl., S. 56f. 6 | Mirac. I, 2, S. 212-215. 7 | Zu diesem Mirac. I, Einl., S. 33-35. 8 | Mirac. I, Prolog, S. 200f.
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te«9 – demonstriert Caesarius damit zu Beginn seinen Rezipienten gleich die mönchische Tugend des Gehorsams. Nehmen wir seine Bemerkungen ernst, können wir auch davon ausgehen, dass er mit seinen Wundergeschichten den »Nerv« seiner Oberen wie der ihm anvertrauten Novizen traf. Mit der unterhaltsamen Form seiner knappen und pointenreichen Erzählungen sowie der gut verständlichen lateinischen Sprache wurde er – wie die breite Rezeption seines in über 100 Handschriften überlieferten Dialogus beweist – auch einer der beliebtesten Autoren des Mittelalters.10 Wenn es sich im Wesentlichen bei seiner Schrift um eine Sammlung von Beispielen über den rechten oder unrichtigen Lebensweg hin zu Gott handelt, könnte man deren Verfasser als eine Art »Wahrsprecher« und Leiter des Gewissens11 oder aber als einen im Auftrag handelnden Aktanten der Aussage bezeichnen, der über Subjekt-Objekt-Antisubjekt-Beziehungen narrativ die SelbstBildung seiner Rezipienten zu beeinflussen und sie dem Einwirken potentieller oder tatsächlicher Widersacher zisterziensischen Ordenslebens zu entziehen beabsichtigt.12 Im Kontext mönchischer Diskurse versucht Caesarius jedenfalls in seinen Erzählungen, alternative Lebensstile seiner Figuren in Kirche und Welt wie beim eingangs erwähnten Stiftsgeistlichen teilweise als minderwertig 9 | Ebd.; zur dahinterstehenden Auffassung traditionsstiftender Sammeltätigkeit Schreiner, Klaus: »Caesarius von Heisterbach (1180-1240) und die Reform zisterziensischen Gemeinschaftslebens«, in: Raymund Kottje (Hg.), Die niederrheinischen Zisterzienser im späten Mittelalter. Reformbemühungen, Wirtschaft und Kultur, Bonn 1992, S. 75-99, hier S. 78. Zum ähnlichen Bekenntnis zur »Heranbildung der Sitten« statt Gelehrsamkeit Kleine, Uta: »Mirakel zwischen Kult-Ereignis und Kult-Buch: Die Verehrung Erzbischof Engelberts von Köln im Spiegel der Miraculae Engelberti des Caesarius von Heisterbach«, in: Martin Heinzelmann/Klaus Herbers/Dieter R. Bauer (Hg.), Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen – Erscheinungsformen – Deutungen, Stuttgart 2002, S. 271-310, hier S. 302. 10 | Vgl. etwa Mirac. I, Einl., S. 84-88; Wagner, Fritz: »Der rheinische Zisterzienser und Predigtschriftsteller Caesarius von Heisterbach«, in: Cistercienserchronik 101 (1994), S. 93-111. 11 | Vgl. Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84, Frankfurt a.M. 2010, mit Bezug auf die Antike; zu Christentum und Mittelalter etwa S. 18, 20 u. bes. S. 50. Er nimmt allerdings mit dem Christentum eine stärkere Verschiebung der Sorge um sich selbst zur Sorge um die anderen an, ohne dass erstere verschwinde; vgl. etwa ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2007, S. 216f., S. 263. 12 | Dazu Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 3. unveränd. Aufl., Tübingen/Basel 2010, S. 9-11 im Sinne der Semantik von Algirdas Julien Greimas.
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oder gar gefährlich für das Seelenheil abzutun, somit innerhalb des Ensembles von religiösen Spiel-Räumen eine Hierarchie herzustellen und im relational zu verstehenden »Feld von aktuellen und potentiellen Kräften« die zisterziensische Position zu festigen oder zu verbessern.13 Im Gegenzug beschreibt er nämlich die heilsame Wirkung von Praktiken innerhalb seines eigenen Ordens für alle daran Beteiligten, die sich durch von der Gemeinschaft oder von ihnen selbst gestellte Aufgaben zugleich mit »Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung«14 persönlich zu größerer Vollkommenheit entwickeln können.15 Dass es sich hier nicht um ›reale‹ Selbst-Bildungen handelt, die aus mittelalterlichen Quellen ohnehin kaum zu eruieren sind, liegt auf der Hand und ergibt sich per se aus dem Genre, dem der Dialogus zuzuordnen ist: Er bewegt sich in der Tradition der Exempla- und Miraculaliteratur.16 Dabei geht es zwar statt der Ausbreitung theologischer Gelehrsamkeit um anschauliche Konkretisierung, die in diesem Falle angeblich teilweise sogar auf eigener Anschauung beruht.17 Ansonsten greift der Autor jedoch auf mündliche Erzählungen von Zeitgenossen und auf vielfältige schriftliche Überlieferung von der Bibel und den Kirchenvätern bis zu zeitgenössischen Legendensammlungen zurück.18 13 | Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J.D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 132, vgl. auch etwa S. 37f., 128f. sowie bes. S. 124-147 zum Begriff des Feldes. 14 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 2011 [12. Nachdr.], S. 207f. 15 | Vgl. Füser, Thomas: Mönche im Konflikt. Zum Spannungsfeld von Norm, Devianz und Sanktion bei den Cisterziensern und Cluniazensern (12. bis frühes 14. Jahrhundert), Münster/Hamburg/London 2000, S. 22. 16 | Wichtig etwa Daxelmüller, Christoph: »Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit«, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil, Berlin/New York 1985, S. 72-87; von Moos, Peter: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policraticus« Johanns von Salisbury, Hildesheim/Zürich/New York 1988. 17 | Siehe z.B. Mirac. IV, 49, S. 790f. 18 | Mirac. I, Einl., S. 55-57, zu den Quellen S. 74-79, zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit S. 80-82. Zum Kommunikationsnetz und den Sammlungsgrundlagen des Caesarius bes. McGuire, Brian Patrick: »Written Sources and Cistercian Inspiration in Caesarius of Heisterbach«, in: Analecta Cisterciensia 35 (1979), S. 227-282; ders.: »Friends and Tales in the Cloister. Oral Sources in Caesarius of Heisterbach’s Dialogus Miraculorum«, in: Analecta Cisterciensia 36 (1980), S. 167-245; U. Kleine: Mirakel, S. 297 u. 299. Zur Reisetätigkeit des Caesarius Wagner, Fritz: »Studien zu Caesarius von Heisterbach«, in: Analecta Cisterciensia 29 (1973), S. 79-95, hier S. 82-84; Brunsch, Swen Holger: Das Zisterzienserkloster Heisterbach von seiner Gründung bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, Siegburg 1998, S. 147-150.
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Angaben von Namen und Orten bei Caesarius, insbesondere mit Bezug auf seine Heimatstadt Köln und deren Umgebung,19 sowie die Erwähnung bestimmter historischer Ereignisse20 wie der Plünderung Konstantinopels 1204 suggerieren zwar durchaus eine Authentizität von Episoden.21 Dennoch ist die starke Stilisierung beim »narrativen Diskurs zwischen den beiden Gesprächspartnern als typisiertes rhetorisches Medium«22 und die Verwendung von zahlreichen Topoi unschwer zu erkennen, was nichts daran ändert, dass Caesarius seine Geschichten für ›wahr‹ hielt.23 Inwieweit sich hinter der Darstellung von Figuren durch ihn zumindest teilweise ein reales individuelles Subjekt verbirgt, »das eigene Meinungen äußert, Verantwortung trägt, Dissens anmeldet und autonom handelt«,24 muss jedenfalls offenbleiben, selbst dort, wo konkrete Personen als Akteure oder Erzähler von Geschehnissen genannt werden und es um eine »Wundermemoria« geht.25 Ungeachtet dessen erscheint der Text als Quelle mittelalterlicher Subjektbildung wie auch in praxeologischer Hinsicht von besonderem Interesse. Denn die ›Wundergeschichten‹ enthalten einerseits so viel an routinisierten, zu kollektiven Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichteten Handlungsweisen26 sowie an An- und Einpassung, andererseits aber auch so viel an mit Handlungen verbundener Neuorientierung von Protagonisten aus unterschiedlichen Erfahrungen (Kontingenz), so viel an differierenden Lebensstilen innerhalb wie außerhalb des Klosters wie an Eigensinn und akzeptierter oder 19 | Dazu bes. Mirac. I, Einl., S. 43-47. 20 | Ebd., S. 57f. 21 | Für historische Bezüge etwa auch Bombi, Barbara: »The authority of Miracles: Caesarius of Heisterbach and the Livonian Crusade«, in: Brenda Bolton (Hg.), Aspects of power and authority in the Middle ages, Turnhout 2007, S. 305-325. Zur Problematik der Mirakel als historische Quelle auch: van Moolenbroek, Jaap: Mirakels historisch. De exempels van Caesarius van Heisterbach over Nederland en Nederlanders, Hilversum 1999. 22 | Mirac. I, Einl., S. 56, zur Dialogform auch S. 67f. 23 | So K. Schreiner: Caesarius von Heisterbach, S. 79, da sich die Erzählungen »in ein Welt- und Geschichtsbild einfügten«. 24 | P.V. Zima: Theorie des Subjekts, S. 4. 25 | Diesen treffenden Begriff prägte U. Kleine: Mirakel, S. 278. 26 | Zu einem solchen Praxisbegriff vgl. Hörning, Karl H.: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001, S. 160; ferner Reichardt, Sven: »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«, in: Sozial. Geschichte 22 (2007), S. 43-65, hier S. 48; Reckwitz, Andreas: »Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation«, in: Kalthoff, Herbert/ Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188-209, hier S. 192.
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verworfener Widerständigkeit gegen religiös-kirchlich oder gesellschaftlich vorgegebene Entwürfe, dass die Möglichkeiten einer individuellen Selbst-Bildung auch in dieser Zeit sehr wohl deutlich werden, obwohl es sich bei deren Erzählung ausschließlich oder weitgehend um Fiktionen handelt. Die Messung und Vergleichung der Praktiken bleibt zwar auf die ›totale‹ Institution Kloster bezogen, wie sie Thomas Füser im Anschluss an Goffman angenommen hat.27 Nicht bestritten sei weiterhin, dass viele Geschichten final angelegt sind, indem sie entweder auf eine volle Verwirklichung zisterziensischer Ideale mit der Erwartung ewiger Glückseligkeit oder aber auf die ewige Verdammnis bzw. ein längeres oder kürzeres Fegefeuer zusteuern. Ungeachtet einer Tendenz zur Dichotomisierung von Gut und Böse sind sie jeweils aber keineswegs eindimensional, sondern decken ein breites Spektrum ab;28 für die »Unberechenbarkeit« von Praktiken29 steht zudem das oftmalige Auftreten und die Heimsuchung30 von Teufel und Dämonen, die Störungen hervorrufen.31 Insgesamt schlagen sich im Dialogus Miraculorum nicht nur die Subjektivierungsvorstellungen des Autors nieder. Vielmehr spiegeln sich zeitgenössische zisterziensische wie alternative kirchliche Diskurse als Grundlage für spezifische mönchische Subjektformen wider, die sich deutlich von anderen abgrenzen, aber auch Teil einer religiös geprägten ganzen Subjektordnung sind. Durch die Erzählungen werden Subjektformen repräsentiert wie problematisiert und es wird zugleich – denken wir nur an die erwähnte conversio – die Prozesshaf27 | Th. Füser: Mönche, S. 20-25; Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 2011 [Nachdr.], S. 13-123, bes. S. 15f. Dies blendet freilich aus, dass im Unterschied zu psychiatrischen Anstalten Klosterinsassen über stärkere Außenkontakte verfügten und die Möglichkeit hatten, die Institution wiederum zu verlassen. 28 | Zu dieser Tendenz Th. Füser: Mönche, S. 26. 29 | Zur Problematik von Routiniertheit und Unberechenbarkeit Reckwitz, Andreas: »Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 4054 sowie Meier, Michael: »Bourdieus Theorie der Praxis – eine ›Theorie sozialer Praktiken‹?«, in: Hörning/Reuter, Doing Culture (2004), S. 55-69, hier S. 58f. 30 | Zur Problematik der »Heimsuchung« durch ein konstitutives »Außen« als Erklärung für Handlungsmöglichkeiten Keller, Reiner: »Der menschliche Faktor. Über Akteur(inn)en, Sprecher(inn)en, Subjektpositionen, Subjektivierungsweisen in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse«, in: ders./Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 69-107, bes. S. 78f. 31 | Vgl. auch Schmidt, Philipp: Der Teufels- und Dämonenglaube in den Erzählungen des Caesarius von Heisterbach, Basel 1926.
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tigkeit der Subjektivierung abgebildet.32 Erwähnt werden ebenfalls immer wieder mönchische Körperroutinen als auf Wiederholung angelegte Techniken,33 die bisweilen auf eine »von Unbestimmtheiten und Ambivalenzen geprägte soziale und kulturelle Wirklichkeit« treffen34 und entweder zur Etablierung innerhalb des Ordens beitragen oder – wie beim Scholaster Gottfried – vorübergehend bzw. auf Dauer als lästig oder allzu beschwerlich empfunden werden. Die Form des Dialogs35 zwischen einem fragenden Novizen und einem antwortenden Mönch simuliert eine Situation, die im Sinne eines Lehr-LernVerhältnisses zwischen einem Wissenden und einem noch stärker Unentschiedenen und Übenden charakterisiert werden kann, dessen Handeln »zögernd, gleichsam noch experimentell« und nicht »selbstverständlich« ist,36 vielmehr ständiger Anleitung und Prüfung bedarf, bis er durch »Kalibrierung des Subjekts« vom Nachahmer zum (vollwertigen) Mitspieler wird.37 Die Gesamtgliederung der ›Wundergeschichten‹38 nimmt u.a. sichtbare Verhaltensweisen der Protagonisten wie die erwähnte äußere Umkehr (conversio), die Reue (contritio) als Schmerz des Herzens oder Folge einer Heimsuchung des Leibes,39 das Bekenntnis (confessio), speziell als Sündenbekenntnis,40 und die Buße als die Sünde auslöschende und vor weiterer Strafe im Jenseits schützende41 »äußere Genugtuung«42 auf, weiterhin als hilfreiche Tugend die von Caesarius bewusst gegen die Gelehrsamkeit propagierte und auch im Erzählstil sich niederschlagende Einfalt,43 aber auch Einflüsse von außen (Versuchung, Dämonen, Jung32 | Vgl. allg. Reckwitz, Andreas: Subjekt (Einsichten), 2. Aufl., Bielefeld 2010, S. 10. 33 | Dazu ebd., S. 14, S. 24f. 34 | Hörning, Karl H.: »Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem«, in: ders./Reuter, Doing Culture (2004), S. 19-39, hier S. 19; ders., Experten des Alltags, S. 160. 35 | Für Caesarius Ch. Daxelmüller: Auctoritas, S. 80f. 36 | Volbers, Jörg: Selbsterkenntnis und Lebensform. Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault, Bielefeld 2009, S. 123 unter Bezug auf Meredith Williams, die explizit das Bild von Meister und Novize verwendet. 37 | Ebd., S. 127f. Vollwertig wurde hier von mir ergänzt. Denn man könnte gegen die Auffassung, dass »Mitspielen« erst eine gewisse Perfektion erfordert, durchaus auch Einwände erheben. 38 | Dazu bes. Tewes, Ludger: »Der Dialogus Miraculorum des Caesarius von Heisterbach. Beobachtungen zum Gliederungs- und Werkcharakter«, in: Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997), S. 13-30. 39 | Mirac. II, 1, bes. S. 344f., S. 348f. 40 | Zu weiteren Formen des Bekenntnisses Mirac. III, 1, S. 498-501. 41 | Mirac. II, 6, S. 378f: »denn Gott bestraft ein und dasselbe nicht zweimal«. 42 | Mirac. II, 1, S. 416f. 43 | Dazu auch K. Schreiner: Caesarius von Heisterbach, S. 76.
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frau Maria) sowie bestimmte Lebensstationen (Krankheit, Sterben).44 Eingangs werden von Caesarius einige Bedingungen und Ideale des Ordens beschrieben, die zugleich eine Richtschnur für das gewünschte Handeln abgeben können und sollen. Dazu zählen der Eremos, d.h. das Aufsuchen einer einsamen Gegend, die Handarbeit, das Bewahren der Disziplin und eine Strenge der Regel.45 In den anschließenden Erzählungen werden dann immer wieder Praktiken berichtet, die zu dieser Form des Mönchseins gehören und zur Einpassung der Einzelnen in den Orden und zugleich zur Selbst-Bildung innerhalb von diesem beitragen können.
III. M ÖNCHISCHE P R AK TIKEN Die tägliche Lectio Divina als Praxis, vor allem das Studium der heiligen Schrift und der Texte der wichtigsten Kirchenväter, war ein wichtiger Bestandteil des Mönchslebens und sollte der persönlichen tieferen Erkenntnis und damit der eigenen Vervollkommnung auf dem Weg zu Gott dienen. Zu den wichtigsten integrativen Elementen für die Mönchsgemeinschaft gehörte hingegen das gemeinsame Lob Gottes, das Gebet und der Gesang, ob von Sequenzen in der Liturgie, des Psalters oder süßer Lieder zu Ehren Mariens.46 Das Lesen, Singen und Beten als Praxis erweist sich bei Caesarius auch als Hilfe bei der Angst vor Repressionen von außen47 und wird mit Blick auf das Jenseits mehrfach als erfolgversprechendes Mittel zur Verkürzung von Sündenstrafen zu zeigen versucht.48 Nicht zuletzt hebt er die Kraft des Gebets und auch das Wirken der Predigt oder Rede im Zusammenhang mit dem Entschluss hervor, Mönch zu werden49 und bringt dies sogar in Verbindung zur eigenen Biografie. So gibt er an, durch die Erzählung des Abtes Gevard von Walberberg über eine Marienerscheinung in Clairvaux zum Eintritt in Heisterbach veranlasst worden zu sein.50 Ebenso sind andere dargestellte Praktiken mit Worten verknüpft, vor allem das für eminent wichtig gehaltene Bekenntnis der Sünden in Form der regelmäßigen oder doch rechtzeitigen Beichte, die nach Caesarius allerdings vollständig51 44 | Zur Gliederung Mirac. I, Einl., S. 68-74 u. Prolog, S. 204f. 45 | Mirac. I, 1, S. 206f., S. 210-213. 46 | Z.B. Mirac. I, 6, S. 218-223 u. S. 232f. 47 | Mirac. II, 18, S. 432-435. 48 | Mirac. I, 19, S. 260-263 u. I, 20, S. 264-267 u. II, 2, S. 356-359. 49 | Z.B. Mirac. I, 16, S. 252-255 u. I, 18 S. 258-261. 50 | Mirac. I, 17, S. 256-259. 51 | In diesem Kontext Mirac. III, 33, S. 612f. über einen Mönch, der aus Vergesslichkeit Sünden ausließ bzw. aus Schamgefühl nicht vollständig beichtete. Zum Schamgefühl Müller, Jörn: »Scham und menschliche Natur bei Augustinus und Thomas von Aquin«,
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und mit aufrichtiger Reue erfolgen muss.52 Die Offenlegung eigener Verfehlungen vor einer anderen Person – selbst vor einem Nichtgeweihten – mit der Bitte um Auferlegung einer Buße und deren Umsetzung vermögen sogar – wie der Autor zu zeigen sucht – ehebrechende Sünder vor der Rache der jeweiligen Gatten zu bewahren,53 Dämonen für immer zu vertreiben,54 einen Dieb aus dem Gefängnis,55 eine Mordhelferin vor dem Flammentod zu retten56 oder Häretiker wundersam von den Brandwunden durch das glühende Eisen zu heilen.57 Darüber hinaus betont Caesarius jedoch die Bedeutung nonverbaler oder nur partiell verbaler Praktiken, die offenbar auch auf außerhalb des Ordens stehende Personen große Wirkung ausüben: »Das sollst Du wissen, daß täglich viele ohne die Hilfe ermahnender Reden und besonderer Gebete zum Ordensleben kommen; sie werden allein durch vorbildhaftes Ordensleben zum Orden hingezogen, und bekehren sich durch bestimmte Zeichen der Frömmigkeit, der Disziplin und Heiligkeit, die sie sehen.« 58
In mehreren Miracula bringt Caesarius hierfür Beispiele: In einem Falle ist es z.B. das Beiwohnen bei der Beerdigung eines verstorbenen Klosterbruders und die in großer Demut mit der Bitte um Sündenvergebung vollzogene venia, die tiefe Verneigung am Grab, die mehr als vorherige Ermahnungen wirkt. Die Verwunderung des Novizen, »daß eine so unscheinbare Handlung eine so große Wirkung in der Seele zeigt«, wird mit dem Bild einer alle Adern des Körpers
in: Michaela Bauks/Martin F. Meyer (Hg.), Zur Kulturgeschichte der Scham, Hamburg 2011, S. 55-72. 52 | Zu den Gefahren später oder falscher Reue und Buße bzw. unvollständiger Beichte etwa Mirac. II, 1f., S. 418-425 u. III, 23f., S. 580-587 und zu frühzeitiger Beichte III, 22, S. 578f. Allg. Hahn, Alois: »Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess«, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt a.M. 2000, S. 197236. Für die Rolle der Beichte bei Caesarius Koeniger, Albert Michael: Die Beicht nach Cäsarius von Heisterbach, München 1906. 53 | Mirac. III, 2f., S. 504-511. 54 | Mirac. III, 13, S. 546f. u. III, 14, S. 552-555. 55 | Mirac. III, 19, S. 570f. 56 | Mirac. III, 15, S. 556-561. 57 | Mirac. III, 16, S. 560-565, dagegen III, 17, S. 564-567. Zum Sieg eines Ritters im gerichtlichen Zweikampf III, 18, S. 568-571, zur Beruhigung des stürmischen Meeres III, 21, S. 574-577. 58 | Mirac. I, 20, S. 266f.
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durchlaufenden Pille beantwortet.59 In einer anderen Erzählung wirkt die Praxis der sichtbaren Bestrafung und Kasteiung des Körpers, die als eine Demütigung, eine Unterwerfung des Subjekts unter strenge Regeln der Gemeinschaft und als Unterdrückung eigener abweichender Bestrebungen verstanden werden kann, vorbildhaft für andere.60 Die Wahrnehmung der alten und jungen Mönche, die »zu den verschiedenen Altären gingen und ihre Rücken entblößten, um Peitschenhiebe zu empfangen und dabei reumütig ihre Sünden bekannten«,61 veranlasst etwa den späteren Osnabrücker Bischof Simon von Tecklenburg zum Eintritt in den Orden.62 Auch bringt die »Gabe der Tränen« bei einem die Messe lesenden Mönch als Ausdruck der Ergriffenheit von Gott und wahrer Frömmigkeit seinen Ministranten dazu, den Orden zu »lieben«.63 Wie das letztgenannte Beispiel beweist, spielen gerade mit Gefühlsäußerungen verbundene Praktiken und körperliche Befindlichkeiten eine nicht unwesentliche Rolle. Das Vergießen von Tränen erscheint so bei Caesarius immer wieder als Motiv, um bei einem Protagonisten die Aufrichtigkeit von dessen Gesinnung sichtbar zu machen, ob als Ausdruck des Glücks in der Gottesnähe oder der Reue über die Sünden64 wie beim Weinen und Seufzen des abtrünnigen Mönchs, dem zudem wie einem anderen Sünder mehrfach die Stimme
59 | Mirac. I, 21, S. 268-271. Kniebeugen werden im Werk mehrfach erwähnt. 60 | Vgl. in diesem Kontext auch Th. Füser: Mönche, S. 21. Zu Reinheitszeremonien allg. Hahn, Alois: »Kultische und sakrale Riten und Zeremonien in soziologischer Sicht«, in: ders., Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2010, S. 37-61. Zu Normativierung und Abweichung auch Giesen, Bernhard: »Latenz und Ordnung. Eine konstruktivistische Skizze«, in: Rudolf Schlögl/Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004, S. 73-100, bes. S. 94f. 61 | Mirac. I, 22, S. 270f.; zur Geißelung etwa auch I, 35, S. 310f., I, 40, S. 328f. u. III, 5, S. 514f. Zum monastischen Strafwesen Th. Füser: Mönche, S. 64-90. 62 | Zur Vielfalt der möglichen Motive bis hin zur Armut Mirac. I, 6, S. 224f. Zur Nichtanerkennung wirtschaftlicher Versorgung als Anlass zur Mönchwerdung bei Caesarius K. Schreiner: Caesarius von Heisterbach, S. 84-86. 63 | Z.B. Mirac. I, 24, S. 272-275 u. III, 32, S. 608f.; als Zeichen der Frömmigkeit und Heiligkeit ebenso I, 35, S. 308f. Zur »Gabe der Tränen«, auch als Zeichen der Nachfolge Christi, Le Goff, Jacques/Truong, Nicolas: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart 2007, S. 77-83. 64 | Mirac. II, 19-22, S. 436-445 u. III, 25, S. 590f.
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versagt.65 Die Tränen als unabdingbar für den Mönch66 werden von Caesarius freilich nicht mit der Reue selbst gleichgesetzt, die als Herzensregung verstanden wird, sondern lediglich als deren äußeres Zeichen gedeutet.67 Inwieweit es bei der Darstellung mittelalterlichen Weinens um tatsächliche Empfindungen oder aber um performative Akte im Rahmen einer »spieladäquaten Körpertechnik« geht,68 braucht – auch angesichts der Fiktionalität des Geschehens – hier zwar nicht weiter diskutiert zu werden;69 die Trennung von Handlungen als Ausdruck, den der Betreffende »sich selbst gibt«, von dem Ausdruck, »den er ausstrahlt«,70 erscheint ohnehin schwierig. Gerade in der mittelalterlichen Beichtpraxis spielt das Weinen aber jedenfalls neben bestimmten Körperhaltungen wie dem Senken des Kopfes als Kennzeichen wahrer Bußfertigkeit eine wesentliche Rolle, deren Wahrnehmung auch für den Beichtvater wichtig war.71 Dies bedeutet zugleich die Anerkennung und Mimesis »vorgelebter Körperpraxen«.72 Wie stark gerade Reue und Buße mit der Inszenierung für andere ver65 | Mirac. II, 1, S. 351f. u. II, 10, S. 396-399. Im letzteren Fall werden die Sünden auf einen Zettel geschrieben und von Gott auf wundersame Weise gelöscht. Zu Tränen der Reue etwa auch Mirac. II, 17, S. 428f. Das Motiv des Versagens der Stimme wird aber auch auf anklagende Juden angewendet; Mirac. II, 23, S. 448-451. 66 | In Mirac. II, 20, S. 438f. lässt er eine Frau äußern: »Wer seine Sünden nicht beweinen kann, ist kein Mönch«. 67 | Mirac. II, 34, S. 494f. 68 | Dazu Alkemeyer, Thomas: »Bewegen und Mitbewegen. Zeigen und Sich-ZeigenLassen als soziale Körperpraxis«, in: Robert Schmidt/Wiebke-Marie Stock/Jörg Volbers (Hg.), Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011, S. 44-72, hier bes. S. 53. 69 | Althoff, Gerd: »Empörung, Tränen, Zerknirschung. ›Emotionen‹ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters«, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 258-281; dagegen Dinzelbacher, Peter: Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler 2009. Vgl. allg. auch Schneider, Christoph: »Symbol und Authentizität. Zur Kommunikation von Gefühlen in der Lebenswelt«, in: Schlögl/Giesen/Osterhammel, Wirklichkeit der Symbole (2004), S. 101-133; Benthien, Claudia/Fleig, Anne/Kasten, Ingrid (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln/Weimar/Wien 2000. 70 | Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 10. Aufl., München/Zürich 2011, S. 6. 71 | Freimuth, Torsten: »Körper und Selbstthematisierung in der mittelalterlichen Beichtpraxis«, in: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hg.), Körper macht Geschichte – Geschichte macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 166-190, hier bes. S. 181f. 72 | Siehe Moldenhauer, Benjamin: Die Einverleibung der Gesellschaft. Der Körper in der Soziologie Pierre Bourdieus, Köln 2010, S. 45.
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knüpft sein konnten, beweist nicht zuletzt der Akt der Erniedrigung des Grafen Philipp I. von Hennegau, den Caesarius schildert: Dieser schlingt sich wegen der von ihm nachträglich als Sünde bewerteten Übergabe seiner Nichten an den französischen König ein Seil um den Hals und zeigt sich damit in der Öffentlichkeit.73
IV. P ROBLEME DER E INPASSUNG : DIE S CHWERE DES M ÖNCHSLEBENS Befindlichkeiten wie Altersschwäche, Krankheit oder Verwundung sind mehrfach ein Thema im Dialogus Miraculorum;74 vor allem geht es aber um die Disziplinierung des Körpers durch das Ordensleben und die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten. Als besondere Herausforderungen erscheinen so die bereits genannte Zeiteinteilung und die Praxis der Askese.75 Die Erzählungen von Klosterinsassen, die beim gemeinsamen Chorgebet, beim individuell vorgesehenen Gebet und beim Psalmenlesen nach der Matutin oder bei der Predigt einschliefen,76 illustrieren die Schwierigkeiten des Körpers mit dem zisterziensischen Tagesablauf; Hunger und lange Nachtwachen werden so auch 73 | Mirac. II, 17, S. 428-433; zu antijüdischen Erzählungen, aber auch Bekehrungsgeschichten II, 24-26, S. 452-467. Allg. zur körpergebundenen Kommunikation etwa Wenzel, Horst: »Ohren und Augen – Schrift und Bild. Zur medialen Transformation körperlicher Wahrnehmung im Mittelalter«, in: Manfred Faßler/Wulf R. Halbach (Hg.), Geschichte der Medien, München 1998, S. 109-140. 74 | Sie können der Beweggrund zum Eintritt ins Kloster oder doch dessen Begleiterscheinung sein und schließlich eine besondere Bedingung darstellen, mit der im Hinblick auf das harte Zisterzienserleben umzugehen ist; z.B. Mirac. I, 16, S. 252-255 u. I, 23, S. 272f. u. I, 24, S. 274f. Die Erzählung über die wundersame Heilung eines Todkranken durch dessen Entschluss, dem Orden beizutreten, führt zugleich zu Überlegungen darüber, ob man mit Gebet und Buße eventuell sein Leben verlängern kann oder es durch Fehlhandlungen abkürzt; Mirac. I, 25-27, S. 274-285. Gerade lebensbedrohliche Situationen lösen in Verbindung mit religiösen Handlungen eine Umkehr aus, so beim abtrünnigen, zum Räuber gewordenen Mönch; Mirac. II, 2, S. 350-353. 75 | Zur grundsätzlichen Einstellung zur Körperlichkeit in der Frömmigkeit Dinzelbacher, Peter: Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn 2007, bes. S. 11-49. Den Aspekt der Zeitplanung betont auch M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 192; zur erschöpfenden Ausnutzung ebd., S. 197f. Auf die Problematik der Unterscheidung von Körper (als von Einschreibung veränderter) und Leib sei hier nicht eingegangen; dazu etwa Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 103-107. 76 | Mirac. IV, 29f., S. 742-745, Nr. 32-38, S. 756-767.
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der Nonne Aleidis von einem Dämon als unerträgliche Belastung vor Augen gestellt.77 Mit der Reduzierung und Kargheit der Mahlzeiten78 und »Könnensform des Mangelleidens«,79 die von vorbildlichen Mönchen erfüllt werden sollte, suchte sich zugleich der Zisterzienser von anderen, weniger strengen Formen geistlichen Lebens abzusetzen. Eine Fleischabstinenz ist auch für Heisterbach durch die Erzählungen des Caesarius belegt.80 Die von Arno Borst als »Kasernendienst« bezeichnete Lebensweise, bei der bereits um zwei Uhr nachts der Chordienst begann, die rund sechs bis sieben Stunden täglich in der wie der Schlafsaal ungeheizten Kirche, die etwa sieben Stunden der Handarbeit und außerhalb von Gebet und Kontemplation die nur halbe Stunde Erholungszeit, während der überhaupt miteinander gesprochen werden durfte, all das zeigt die ursprüngliche Strenge des zisterziensischen Lebens, die auch Caesarius immer wieder hervorkehrt, nicht ohne inzwischen eingetretene Missstände zu verkennen. Die Darstellung der Schwere des Mönchslebens reicht bis zum Thema des Ungeziefers in den Gewändern, das angeblich zunächst einen Ritter abschreckte, in Kamp Mönch zu werden, bis er sich doch dazu entschloss, sich nicht von Läusen das Reich Gottes wegnehmen zu lassen.81 Zu den hervorstechenden Merkmalen des Ordens, die ihn von konkurrierenden Richtungen wie den Cluniazensern unterschied,82 zählte die mit Verzicht auf grundherrschaftliche Rechte einhergehende körperliche Arbeit, deren Hochschätzung bei Caesarius allerdings nicht allzu oft zum Tragen kommt.83 Aufschlussreich erscheint jedoch jene Szene, in der die Himmeroder Mönche Kohl pflanzen und einer von ihnen dies als Tätigkeit von Mägden empfindet und sich – wie es heißt – vom Geist des Hochmuts geführt hinwegbegibt; der anschließenden Versuchung durch den Teufel in Gestalt einer Frau entkommt er erst durch eine Anrufung Gottes.84 Hochmut wird hier also mit sexueller Versuchung,85 gemeinsame oder einzeln betriebene körperliche Arbeit jedoch eindeutig mit den klösterlichen Tugenden der Demut und des Gehorsams ver77 | Mirac. III, 13, S. 544f. 78 | Hierzu und für das Folgende auch Borst, Arno: Mönche am Bodensee. 610-1525, 4. Aufl., Sigmaringen 1997, S. 198f. 79 | Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009, S. 115. 80 | S.H. Brunsch: Heisterbach, S. 121. 81 | Mirac. IV, 48, S. 786-789. 82 | Vgl. Kurze, Dietrich: »Die Bedeutung der Arbeit im zisterziensischen Denken«, in: Kaspar Elm/Peter Joerißen/Hermann Josef Roth (Hg.), Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, Köln 1980, S. 179-202. 83 | Erwähnung auch Mirac. III, 14, S. 552f. 84 | Mirac. V, 51, S. 1120-1122. 85 | Umgekehrt kann aber auch Keuschheit zu Hochmut führen; Mirac. IV, 5, S. 682f.
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knüpft, ohne dass eine solche »durch Sozialisation erreichte Kollektivierung«86 und »gewollte Konformität«87 den völligen Verzicht auf das Selbst bedeuten musste.88 Die regelmäßige Betätigung mit den Händen in jenen Bereichen, die ansonsten eher der einfachen Landbevölkerung vorbehalten sind, vermag Demut und Gehorsam freilich in besonderer Weise einzuüben. Als beispielhaft werden so auch bei Caesarius wie in anderer mittelalterlicher Literatur Adelige oder Kleriker dargestellt, die bewusst ihre bisherige Stellung verleugnen und es auf sich nehmen, das Vieh zu hüten oder Kloaken zu reinigen.89 Das Thema Hochmut und Demut im Zusammenhang mit Arbeit beschreibt Caesarius schließlich auch für jenen Novizen Theobald, der auf eigenen Wunsch die Wundtücher der Kranken wäscht, dabei vom Satan mit dem Gedanken an die Unverträglichkeit dieser Tätigkeit mit seiner Abkunft versucht wird, aber – um den Teufel zu ärgern und die superbia zu beseitigen – das Schmutzwasser trinkt.90 Hier ist gleichzeitig die Möglichkeit der (Über-)Steigerung eines als vorbildlich empfundenen Verhaltens und damit auch eine innerklösterliche Variationsbreite bei der Selbst-Bildung zu erkennen. Die Bewahrung der Keuschheit aber zeigt der Autor des Dialogus Miraculorum als eine der größten körperlich-seelischen Herausforderungen für mittelalterliche Geistliche und Nonnen,91 indem er immer wieder Verfehlungen wie Unzucht und Ehebruch oder doch sexuelle Versuchungen als Gefahr für das 86 | Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 201. 87 | Füser, Thomas: »Vom exemplum Christi über das exemplum sanctorum zum ›Jedermansbeispiel‹. Überlegungen zur Normativität exemplarischer Verhaltensmuster im institutionellen Gefüge der Bettelorden des 13. Jahrhunderts«, in: Gert Melville/Jörg Oberste (Hg.), Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 1999, S. 27-105, hier S. 58. 88 | Dies (mit Bourdieu) gegen Foucault; z.B. M. Foucault: Ästhetik der Existenz, S. 317; ders., Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/1982), Frankfurt a.M. 2004, S. 236, S. 311f., S. 392 mit Bezug auf die Askese. Nur hingewiesen sei auch auf eine die Bildung des Selbst fördernde Agonalität in der mittelalterlichen Gesellschaft, die selbst im Kloster bis hin zum Wetteifern um das rechte Verwirklichen mönchischer Ideale Niederschlag finden konnte. 89 | Grundmann, Herbert: »Adelsbekehrungen im Hochmittelalter«, in: ders., Ausgewählte Aufsätze, T. 1, Stuttgart 1976, S. 125-149, hier S. 142-144, S. 147; Schreiner, Klaus: »Mönchtum zwischen asketischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Spiritualität, Sozialverhalten und Sozialverfassung schwäbischer Reformmönche im Spiegel ihrer Geschichtsschreibung«, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 41 (1982), S. 250-307, hier etwa S. 282, 287f. 90 | Mirac. IV, 6, S. 682-687, wobei Theobald als Mönch schließlich doch scheitert. 91 | Für Nonnen etwa Mirac. III, 28, S. 598f.
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Seelenheil thematisiert,92 ohne diesem Aspekt freilich den Stellenwert eines eigenen Abschnitts zuzugestehen.93 Selbst heiligmäßige, mit der Gabe der Weissagung gesegnete Ordensmitglieder wie der Konverse Simon von Aulne werden aber vom »Geist der Unzucht« mit den »Lockmitteln des Fleisches« gequält,94 und der Teufel oder Dämonen erscheinen häufiger in Gestalt einer schönen Frau oder eines schönen Mannes, um die Betreffenden als Succubus oder Incubus zu verführen.95 Die Unterdrückung sexueller Aktivität und Bildung eines Intimitätssubjekts96 unter Orientierung auf andere Formen der Partnerschaft gelang also offenbar nur begrenzt. Das Problem des Konkubinats wird freilich durchaus realitätsnah eher für andere geistliche Lebensformen wie den Pfarr- oder Stiftsklerus aufgegriffen,97 als Steigerungsform der Sünde u.a. bei einem Pfarrer gewordenen ehemaligen Mönch.98 Insgesamt ist es Caesarius dabei wichtig, dass der Herr »an den Priestern nicht nur das Laster der Habsucht, sondern auch das Laster der Unzucht tadelt«, wobei er die Konkubinen gar mit jenen als unzüchtige Tiere geltenden Kühen vergleicht, die nach Hosea die Bewohner von Samaria verehrten.99 Der mit der Ehefrau eines anderen schlafende oder der mit einer einsamen Frau auf dem Felde Unzucht begehende Mönch, die beide dennoch anschließend die Messe zelebrieren,100 werden allerdings gleichzeitig als Beispiele genutzt, um die Langmut Gottes mit Sündern zu zeigen.
V. V ERSUCHUNG , S CHEITERN UND A LTERNATIVEN : A K TEURE UND I NSTITUTIONEN IN K ONKURRENZ Das Thema der Sünde ist für Caesarius immer wieder Gelegenheit, um zum einen das Scheitern von Novizen und Mönchen in ihrem Bestreben zu schildern, zum anderen um in einer Gegenüberstellung alternative Lebensentwürfe als die der Zisterzienser zu bewerten. Dass die Strenge der Regel und umgekehrt die Möglichkeiten außerhalb des Klosters eine hohe Hürde für viele darstellen, ist 92 | Für Sexualität etwa Mirac. II, 16, S. 424-429; II, 23f., S. 446-457; III, 2, S. 504507 u. III, 29, S. 600f. Zum Problem der Keuschheit allg. Th. Füser: Mönche, S. 158-162. 93 | Dies betont L. Tewes: Dialogus Miraculorum, S. 24. 94 | Mirac. III, 33, S. 610-623, Zitat S. 622f. 95 | So etwa Mirac. III, 6-13, S. 516-549 u. V, 51, S. 1120-1122. 96 | Dazu Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010, S. 57. 97 | Etwa Mirac. II, 16, S. 424-429 u. III, 13, S. 542f. u. III, 29, S. 600f. u. IX, 3, S. 1754f. 98 | Mirac. II, 3, S. 360f. 99 | Mirac III, 41, S. 640f. 100 | Mirac. II, 4f., S. 364-375.
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ihm wohlbewusst. Dies wird so auch in die Wundergeschichten miteinbezogen, die ja keineswegs nur zisterziensische Erfolgsstories enthalten. Vielmehr lässt Caesarius nicht nur wie im eingangs zitierten Beispiel Novizen und Mönche als ›Alltagshelden‹ immer wieder zweifeln101 und sogar untergehen, sondern auch aus einer fehlenden Standhaftigkeit gegenüber den Versuchungen der Welt mehrfach wieder in diese zurückkehren. Zwar handelt es sich hier um Gegenfiguren, zu denen eine »Differenzmarkierung«102 stattfindet. Dennoch werden damit größere Spielräume des Handelns und zugleich Notwendigkeiten wie Risiken ständiger Selbst-Bildung durch Einüben des Mönchseins angedeutet. Gerade im Zusammenhang mit der Versuchung sind es außer dem Eingreifen von Teufel und Dämonen einerseits, von Gott, Maria oder der in der Imitatio Christi erfolgreichen Heiligen andererseits103 neben den jeweiligen Protagonisten weitere menschliche Akteure, die auf das Verhalten der Klosterinsassen einwirken. Zum Stärken der Gemeinschaft im Kloster und zum Kontrollsystem zur Verhinderung von Devianz mit ›Norm und Sanktion‹, der Praxis des Sündenbekenntnisses, Bußritualen und anderem mehr104 gehören nämlich wesentlich auch Personen: die Mitbrüder, die Abweichler immer wieder auf den rechten Weg zu bringen suchen, sowie klösterliche Amtsträger105 oder Autoritäten von außerhalb, wie sie im Orden über Generalkapitel und Visitation fest institutionalisiert waren.106 Bei Caesarius treten vereinzelt auch herausragende Persönlichkeiten wie Bernhard von Clairvaux auf, deren Nennung allein schon eine gewisse Wirkung auf die Rezipienten gehabt haben dürfte107 und die durch ihre Anerkennung als Autorität über besondere symbolische Gewalt verfügten.108 Vor allem aber wird der innerklösterlichen Kommunikation erhebliches Gewicht beigemessen und die Forderung erhoben, dem Rat der Ordensbrüder zu folgen. Umgekehrt werden der Wiederaustritt oder die Flucht109 aus dem
101 | Zu diesem Exempla-Typ P. von Moos: Geschichte als Topik, S. 117; Th. Füser: Vom exemplum Christi. 102 | A. Reckwitz: Subjekt, S. 16. 103 | Deren Rolle als Beweis für die Möglichkeit »christlicher Höchstleistungen« betont P. von Moos: Geschichte als Topik, S. 95f. Zugleich bedeutet für ihn das Eingreifen höherer Mächte eine »Entheroisierung der persönlichen Leistung«. 104 | Th. Füser: Mönche, passim, bes. S. 25-38. 105 | Dazu knapp Mirac. I, Einl., S. 36-38 sowie für Heisterbach S.H. Brunsch: Heisterbach, S. 93-105. 106 | Vgl. Th. Füser: Mönche, S. 39-63. 107 | Z.B. Mirac. II, 3, S. 360-363; II, 16, S. 426f. u. II, 18, S. 434-437. 108 | Dazu auch B. Moldenhauer: Einverleibung, S. 36-41; allg. Bourdieu, Pierre: Religion, hg. von Franz Schultheis/Stephan Egger, Konstanz 2009, S. 17-19. 109 | Zum Problem der Flucht etwa Th. Füser: Mönche, S. 260-309.
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Kloster nicht nur auf mangelndes Auserwähltsein110 oder auf Charaktereigenschaften wie Leichtsinn und Spielsucht111 zurückgeführt. Vielmehr erscheint auch eine Beratungsresistenz und mangelnde Empfänglichkeit für das interne Kommunikations- und Disziplinierungssystem wie beim zur Strafe schrecklich endenden Novizen Benneco als Ursache.112 Als Akteure, die Novizen und Mönche negativ beeinflussen, führt Caesarius verschiedentlich auch außerhalb des Klosters lebende Personen vor. So ist die Rede von der Verführung durch weltliche Freunde113 oder dem Versuch von Verwandten, die Mitglieder des Ordens wieder zurückzuholen.114 Damit werden Einwirkungen aus anderen sozialen Subfeldern thematisiert, die für den Verbleib oder Weggang und insgesamt die Subjektivierung der einzelnen Insassen auch in der Realität ganz erheblich gewesen sein dürften. Sie wirkten sich jedenfalls nachweislich auf das innerklösterliche Leben aus und erzeugten hier auf Dauer einen Reformbedarf, den auch Caesarius erkannte.115 Wie groß speziell beim »Mönchsein in der Adelsgesellschaft des Mittelalters« die Spannung zwischen »spiritueller Selbstbehauptung und sozialer Anpassung« war, hat Klaus Schreiner u.a. mit Blick auf Fleischverzehr, Pferde und anderes eindrucksvoll beschrieben.116 Eine große Gelehrsamkeit und ein Ansehen in der Wissenschaft – also in einem anderen sozialen Subfeld – wird von Caesarius als Verfechter der sancta simplicitas freilich ebenfalls als mögliche Gefahr für das Mönchsleben angesehen.117 Den Versuch des in Clairvaux eingetretenen, hochangesehenen Magisters Stephan von Vitry, einige von ihm zuvor ausgebildete Novizen wieder in die Weltgeistlichkeit zurückzuführen, lässt er allerdings scheitern.118
110 | Mirac. I, 4, S. 222f. 111 | Mirac. I, 11f., S. 242-245. 112 | Mirac. I, 15, S. 248-253. Hier wird der Stellenwert des Rats der Ordensbrüder besonders betont. 113 | Z.B. Mirac. I, 12, S. 242-245 u. I, 14, S. 246-249. 114 | Mirac. I, 13, S. 244-247. 115 | Vgl. K. Schreiner: Caesarius von Heisterbach. 116 | Ders.: Mönchsein in der Adelsgesellschaft des hohen und späten Mittelalters. Klösterliche Gemeinschaftsbildung zwischen spiritueller Selbstbehauptung und sozialer Anpassung, München 1989. 117 | Zum Verhältnis von Wissenschaft und heiliger Einfalt ders.: Caesarius von Heisterbach, S. 88-93. Vgl. auch Wesjohann, Achim: »Simplicitas als franziskanisches Ideal und der Prozess der Institutionalisierung des Minoritenordens«, in: Melville/Oberste, Bettelorden (1999), S. 107-167, zu Caesarius S. 116-118. 118 | Mirac. I, 9, S. 238-241.
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Mit alternativen Formen des geistlichen Lebens119 setzt sich der Verfasser des Dialogus Miraculorum immer wieder auseinander und sieht selbst die deutschen Bischöfe mit ihrer Verwicklung in herrschaftlich-militärische Angelegenheiten durchaus kritisch.120 Sein Anliegen, die Höherrangigkeit des Zisterzienserdaseins zu erweisen, versucht er nicht zuletzt über die Darstellung von Fehlverhalten bei der Weltgeistlichkeit zu verfolgen und seinen Ansichten dazu teilweise durch die Erzählung vom Eingreifen höherer Mächte größere Autorität zu verleihen.121 Pfarrer erscheinen bei ihm jedenfalls alles andere als tugendhaft, halten sich nicht nur Konkubinen, sondern werden bisweilen auch als habgierig gezeigt, so jener Beichtvater, der zwei Angehörigen seiner Gemeinde wegen Beischlafs wie Enthaltsamkeit in der Fastenzeit gleichermaßen eine Geldbuße für Messen verhängte.122 Spezielle Kritik wird am Leben von Stiftsgeistlichen geübt,123 wenngleich es mit den leuchtenden Vorbildern des Dekans Ensfried am Kölner Andreasstift und des Hildesheimer Domdekans Hermann hier Gegenbeispiele gibt.124 Jedoch erscheint dem Kanoniker Heinrich von St. Kunibert in Köln die Muttergottes und nennt ihn wegen seiner Lebensweise einen verlorenen Menschen.125 Dieser wird – durch die Süßigkeit der Welt verführt – dann erst durch schwere Krankheit zur echten Umkehr bewegt und kann sozusagen als Beispiel jener gelten, die durch Anrufung126 und eine Lebenskrise aus ihrem »Wasser des Habitus«127 heraussteigen, ihr Leben ändern und unter Heranbildung eines zisterziensischen »Übungssubjekts« eine »Konversion zum Können« vollziehen.128 Dazu gehört, dass erst das Mönchsein als die vollkommene Nachfolge Christi verstanden und die gehorsame Unterwerfung unter die Regeln als das tägliche Kreuz gesehen wird, das die einzelnen Glieder leiden lässt.129 119 | Für die Kritik am weltlichen Leben, etwa dem der Kaufleute, Mirac. III, 37, S. 630-633. 120 | Mirac. II, 27-30, S. 466-481. 121 | Dabei geht er durchaus auch mit Kritik an zisterziensischen Verhaltensweisen um, so am Handel. Hierzu und zu den wirtschaftlichen Aktivitäten etwa Schich, Winfried: »Der Handel der rheinischen Zisterzienserhöfe und die Einrichtung ihrer Stadthöfe im 12. und 13. Jahrhundert«, in: Elm/Joerißen/Roth, Zisterzienser (1980), S. 49-73, bes. S. 51. 122 | Mirac. III, 40, S. 636-639, siehe auch III, 41, S. 638-641. 123 | Zu höheren Einkünften Mirac. I, 13, S. 244-247. 124 | Zu diesen Mirac. VI, 5f., S. 1148-1183. 125 | Mirac. VII, 8, S. 1306-1309. 126 | Dazu auch A. Reckwitz: Subjekt, S. 14. 127 | Dieses Bild gebraucht P. Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern, S. 299. 128 | Ebd., S. 306. 129 | Mirac. I, 6, S. 226f.
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VI. D IE W IRKUNG VON R ÄUMEN UND D INGEN Räume und Dinge, denen in der praxeologischen Diskussion ebenfalls besondere Aufmerksamkeit zuteilwird,130 spielen in den Wundergeschichten des Caesarius durchaus eine Rolle. Die Bedeutung von Räumen liegt schon deshalb auf der Hand, als mit dem Kloster als »geschlossener Anstalt« die Trennung von der Welt beabsichtigt war,131 die bei den Zisterziensern trotz ihrer Lage abseits großer Siedlungen freilich nicht vollständig vollzogen wurde.132 Die Anlage der Abteien mit einer »bisweilen nüchternen, von Rationalität durchdrungenen Architektur«133 darf als Bedingung bei der Subjektivierung der Mönche jedenfalls nicht außer Acht gelassen werden; auch beim Kloster Heisterbach lässt sich zisterziensische Schlichtheit etwa bei den Kapitellen erkennen.134 Allerdings spiegelt sich die Einfachheit der Räume insofern nur indirekt bei Caesarius wider, als auf die Darstellung von deren Ausgestaltung kein Wert gelegt wird. Immerhin werden etliche Räumlichkeiten erwähnt, so der Kapitelsaal135, das Dormitorium136 oder das Refektorium137, die Küche, wo ein allzu sehr den 130 | Dazu etwa Wieser, Matthias: »Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von sozialen Praktiken und Artefakten«, in: Hörning/Reuter, Doing Culture (2004), S. 92-107; A. Reckwitz: Praktiken und Diskurse, S. 191f.; allg. auch Veit, Ulrich u.a. (Hg.): Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur, Münster u.a. 2003; Rau, Susanne/Schwerhoff, Gerd (Hg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München/Hamburg 2008. Auch Tiere erscheinen bei Caesarius immer wieder; dazu knapp F. Wagner: Der rheinische Zisterzienser, S. 105f. 131 | In diesem Kontext Th. Füser: Mönche, S. 21. 132 | Dies auch durch die Stadthöfe und die Lage an Verkehrswegen; vgl. etwa Bender, Wolfgang: Zisterzienser und Städte. Studien zu den Beziehungen zwischen den Zisterzienserklöstern und den großen urbanen Zentren des mittleren Moselraumes (12.-14. Jahrhundert), Trier 1992; Hirschmann, Frank G.: »Zisterzienser und Straßen«, in: Friedhelm Burgard/Alfred Haverkamp (Hg.), Auf den Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert, Mainz 1997, S. 381-406. Vgl. auch S.H. Brunsch: Heisterbach, S. 122. 133 | Rüffer, Jens: Die Zisterzienser und ihre Klöster. Leben und Bauen für Gott, Darmstadt 2008, S. 185 und insgesamt; ferner Leroux-Dhuys, Jean-François: Die Zisterzienser. Geschichte und Architektur, Köln 2006; Eberl, Immo: Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens, Stuttgart 2002, S. 192-212. 134 | Cîteaux 1098-1998. Rheinische Zisterzienser im Spiegel der Buchkunst, Wiesbaden 1998, S. 164f. mit Abb. Zur Anlage ansonsten auch Mirac., Einl., S. 28-32; S.H. Brunsch: Heisterbach, S. 122-135. 135 | Mirac. III, 14, S. 552f. u. III, 24 S. 586f. 136 | Mirac. I, 43, S. 338f. 137 | Mirac. IV, 91, S. 900f.
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»Genüssen des Gaumens und des Fleisches« zugeneigter Novize nach Speisen für die Kranken schaut,138 das Gästehaus139 und sogar die Latrine140, teils nur als Nebenschauplatz, so beim Mönch, der sich von dort kommend nicht die ungewaschenen Hände mit Weihwasser besprengen wollte,141 teils aber auch als Ort, wo das Böse sichtbar oder wirksam wird.142 Die Kirche mit dem Altarraum aber ist in einer Zeit starker Trennung von Heiligem und Profanem auch bei Caesarius143 der Ort, an dem in besonderer Weise das Überirdische zugegen ist und die Gnade Gottes und die Fürsprache der Heiligen erfahren werden.144 Die wesentliche Rolle des Ordensgewandes in symbolkommunikativer wie wertender Perspektive145 wurde bereits angedeutet. Das Tragen des Habits gehört ebenso wie das Hungern und Arbeiten zu jenen Praktiken der Selbstentäußerung und des gehorsamen Leidens, durch die man sich in die Nachfolge Christi zu stellen suchte; die Uniformität nahm Möglichkeiten zur Distinktion in ständischer Hinsicht. Das Anlegen bei der Einkleidung ist neben der Aufgabe von weiterem persönlichem Besitz, dem Verzicht auf eine Privatsphäre und anderen Elementen des Mönchseins einer der Akte der Diskulturation unter Verlust bisheriger sozialer Rollen.146 Es erscheint bei Caesarius auch als Symbol neuer Zugehörigkeit für jene Frauen, die gegen den Willen von Eltern oder Verwandten ins Kloster eintreten wollen,147 während umgekehrt Eltern ihre Tochter gegen deren Wunsch zum Nonnendasein mit purpurnen Gewändern bekleiden und damit – freilich vergeblich – Reichtum und Prestige in der Welt als Alternative demonstrieren.148
138 | Mirac. V, 6, S. 980f. Diese erhielten auch Fleisch; Vgl. S.H. Brunsch: Heisterbach, S. 120. 139 | Mirac. I, 10, S. 240f. 140 | Mirac. III, 14, S. 552-555. 141 | Mirac. VIII, 92, S. 1726f. 142 | Mirac. IV, 6, S. 684-687 u. Mirac. V, 40, S. 1094f. 143 | Mirac. II, 12, S. 410-413. 144 | Allg. etwa Dinzelbacher, Peter: »Raum – Mittelalter«, in: ders. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, 2. Aufl., Stuttgart 2008, S. 695-708. 145 | Vgl. dazu Veit, Ulrich: »Menschen – Objekte – Zeichen: Perspektiven des Studiums materieller Kultur«, in: ders. u.a., Spuren und Botschaften, S. 17-28, speziell S. 21f. unter Rückgriff auf Nils-Arved Bringéus. 146 | So Th. Füser: Mönche, S. 21. 147 | Mirac. I, 41, S. 334f. u. I, 43, S. 338f. 148 | Mirac. I, 42, S. 336f. Zur Rolle der Frauen bei Caesarius überhaupt Krusemeyer, Maria: Die Frau bei Caesarius von Heisterbach, Bonn-Oberkassel 2007.
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Die Gestaltung des Eintritts in den Orden – auch wenn sie durch festgelegte Elemente vor »kommunikativer Verflüssigung« geschützt blieb149 – ließ indessen Spielräume, gerade mit Blick auf das Materielle. Sie schloss nämlich ebenso die Möglichkeit ständischer Zurschaustellung wie der Demonstration von Demut ein, wobei je nach Absicht der Eintretenden »das Vorzeigen weltlichen Ruhmes« von Caesarius nicht grundsätzlich abgelehnt wird, »kleiden sich doch« einige »neu ein und kommen mit Verwandten und Freunden zum Kloster, damit sie nicht wie Vagabunden und Arme abgewiesen werden«, während andere wie Arme auftreten, obwohl sie reich sind, »um durch die Demut ihres Eintritts größere Verdienste (sc. bei Gott) zu erlangen«.150 Praktiken der Mönchwerdung zeigen sich bei Caesarius so zwar durchaus als rituell eingespielte Handlungsreihen,151 enthielten aber ebenso einen Spielraum zur Hervorbringung von Neuem, konnten also zugleich »Wiederholung wie Neuerschließung«152 sein. Eine wie große Spannbreite es gab und wie sehr hier differierende Möglichkeiten der Inszenierung genutzt und akzeptiert wurden, zeigt einerseits das Beispiel des bewaffnet mit Streitross und Rüstung ins Kloster eintretenden und vom Pförtner bis in den Chorraum der Kirche geführten Ritters Walewan, der sich selbst am Altar der Jungfrau Maria dem Orden übergab, und andererseits des Kölner Kanonikers Philipp von Otterberg, der »als eleganter junger Mann mit schönen Kleidern angetan« diese unterwegs mit einem armen Studenten tauschte und dann angeblich erst gewisser Überzeugungskraft bedurfte, um trotz seines zerschlissenen Mantels aufgenommen zu werden.153 Das Verbergen des Klerikerstandes, um als Konverse zu dienen und »lieber das Vieh hüten als Bücher lesen« zu können, erscheint als häufigere Praxis, aber auch als Problem.154 149 | Dazu im Zusammenhang der Unterscheidung von identitätsbildender »großer« und »kleiner« Symbolik Schlögl, Rudolf: »Symbole in der Kommunikation. Zur Einführung«, in: Schlögl/Giesen/Osterhammel, Wirklichkeit der Symbole (2004), S. 9-38, hier S. 26. 150 | Mirac. I, 36, S. 312f. 151 | Wie sehr Riten einerseits Vorstellungen über notwendige Abläufe zugrunde lagen und zur Befestigung einer Ritualgemeinschaft beitrugen, aber auch Abwandlungen praktiziert, wahrgenommen und akzeptiert wurden, zeigt in vielen Beiträgen eindrucksvoll Gerd Althoff, stellvertretend: G. Althoff: Spielregeln der Politik; ders.: Die Veränderbarkeit von Ritualen im Mittelalter, in: ders. (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2001, S. 157-176; allg. Soeffner, Hans-Georg: »Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals«, in: Schlögl/Giesen/Osterhammel, Wirklichkeit der Symbole (2004), S. 41-72; Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, München 2004. 152 | K.H. Hörning: Experten des Alltags, S. 163. 153 | Mirac. I, 37f., S. 314-317. 154 | Mirac. I, 39, S. 316-319.
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Neben dem Ordensgewand155, dessen Tragen von Caesarius explizit eine heilsame Wirkung zugeschrieben wird,156 sind noch andere profane wie heilige Gegenstände in den Wundererzählungen von Bedeutung. Dies reicht von der Nähnadel, die als ständig mitgeführtes Utensil zur Ausstattung eines Mönchs gehört und als Symbol der Demut und Regeltreue verstanden wird,157 über Schuhwerk, Gürtel oder Kukulle, deren Ablegen beim Schlaf bereits als Regelverstoß gewertet wird,158 bis zu sakralen Dingen wie dem Kreuz oder der Eucharistie, deren Wunderkraft gezeigt wird.159 Vor allem werden im Kontext einer stark vom Visuellen und Haptischen geprägten Zeit immer wieder die Reliquien von Heiligen erwähnt und in ihrer Wirkmächtigkeit vor Augen geführt.160 Dies gilt bei vorhandenem Glauben dank des Wirkens Gottes sogar für solche, denen eine entsprechende Herkunft fehlt, wie das für die Andreaskirche gekaufte Bärenfell, das das tosende Meer beruhigt, oder den von einem listigen Priester verkauften falschen Zügel des Thomas von Canterbury.161
VII. Z ISTERZIENSISCHER H ABITUS ALS E RFOLGSMODELL Insgesamt zeigt der Dialogus Miraculorum des Caesarius von Heisterbach sehr schön den Habitus der Mönche, deren »feiner« Unterschied162 wesentlich in einer besonderen Bildung und Frömmigkeit, geregelten Abläufen, freiwilligem Verzicht und einer religiös überhöhten Arbeit liegt. Sie sind »ein Stück ver155 | Die Geschichte der Hildegund, die nach dem Tod ihres Vaters aus Jerusalem in Männerkleidern zurückgekehrt und später als Bruder Joseph ins Kloster Schönau eingetreten sein soll, spart Caesarius ebenfalls nicht aus; Mirac. I, 40, S. 321-335. 156 | Beim späteren Prior von Clairvaux, der nach Landstreicherei in den Orden eingetreten sei, um die dortigen Schätze zu stehlen, werden Reue und Änderung des Lebens wesentlich »ex virtute et benedictione sancti vestimenti« hergeleitet, das wie eine Taufe wirke; Mirac. I, 3, S. 216-219. Im Falle des Priesters Goswin, der während der Probezeit mit Diebesgut flieht, wirkt dies allerdings nicht; Mirac. I, 10, S. 240f. 157 | Mirac. VI, 15-17, S. 1214-1219. 158 | Dazu etwa Mirac. VII, 14, S. 1322f. Das Ausziehen der Kukulle führt bei einem Sterbenden sogar dazu, dass er zunächst nicht ins Paradies gelangen darf; Mirac. XI, 36, S. 2124-2129. 159 | Zum Kreuz etwa Mirac. X, 19-21, S. 1934-1943. Der Eucharistie wird eine eigene Distinktion gewidmet. 160 | Vgl. Gompf, Ludwig: »Heilige und Reliquien bei Caesarius von Heisterbach«, in: Cistercienserchronik 104 (1997), S. 383-389. 161 | Mirac. VIII, 57, S. 1638f.; VIII, 70, S. 1668-1671. 162 | Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 21. Aufl., Frankfurt a.M. 2011.
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innerlichter Gesellschaft« mit Akteuren, die recht stark durch eine soziale und institutionelle, die Körperdisziplinierung fördernde Struktur163 und speziell auch durch die »Pastoralmacht«164 von kirchlichen Oberen beeinflusst waren, aber zugleich ihrerseits die Gemeinschaft wie sich selbst durch Praktiken innerhalb dauerhafter, aber wandelbarer »Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsschemata« prägten,165 zu denen mit dem Selbstvorwurf auch die »Wendung des Subjekts gegen sich selbst«166 gehörte. Innerhalb ihres sozialen Feldes, das über das Kloster hinausreichte, sind bei ihnen etliche individuelle Spielräume zum Agieren167 wie auch in der Begegnung mit dem Heiligen die Möglichkeit zu persönlicher Heilserfahrung zu erkennen.168 Wollte man für das 13. Jahrhundert also nur vom »kollektiven Kontext der religiösen Gemeinschaft« ausgehen, deren Wirkmächtigkeit den einzelnen seiner Individualität und der Freiheit zur Selbst-Bildung beraubt,169 wäre dies wie die häufig zu findende Einschränkung der Subjektivierung auf die Neuzeit zu kurz gegriffen und entspräche allenfalls einer traditionellen holzschnittartigen Gegenüberstellung zur Moderne. Wie gerade das Beispiel der Wundergeschichten mit häufigen Zweifeln und der Versuchung von innen wie außen, mit Innehalten, Umkehr, Durchhalten wie Scheitern der Protagonisten zeigt, ist jedenfalls eine individuelle Selbstbefragung nach eigenen Lebenszielen bzw. eine persönliche »Einbettung« unter Konstruktion eines neuen sozialen Kontextes wohl kaum nur vor dem Hintergrund eines angenommenen Zerfalls von sozialen und anderweitigen Vorgaben in der modernen Gesellschaft denkbar.170
163 | Als solche Institution sieht das Kloster auch M. Foucault: Überwachen und Strafen, z.B. S. 175f., S. 180-195, S. 304. 164 | Zu diesem Begriff ders.: Analytik der Macht, hg. von Daniel Defert/François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2005, S. 247f.; ausführlich ders.: Geschichte der Gouvernementalität. Bd.1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt a.M. 2004. 165 | Reichardt, Sven: »Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte«, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 71-93, hier S. 73f. 166 | Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 23. 167 | Wichtig in diesem Kontext Th. Füser: Vom exemplum Christi, bes. S. 31. 168 | In diesem Kontext allg. Knoblauch, Hubert: »Der Topos der Spiritualität. Zum Verhältnis von Kommunikation, Diskurs und Subjektivität am Beispiel der Religion«, in: Keller/Schneider/Viehöver, Diskurs – Macht – Subjekt (2012), S. 247-264. 169 | So P.V. Zima: Theorie des Subjekts, S. 5. 170 | Siehe dagegen A. Reckwitz: Subjekt, S. 16; vgl. auch P.V. Zima: Theorie des Subjekts, S. 69.
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Einen recht hohen Stellenwert besitzt in den Miracula des Caesarius die Beschreibung von jenen – beim Knien und Beten und auch sonst teilweise mit Körperkontrolle verbundenen171 – Praktiken, die geeignet sind, ein entsprechendes »Subjektideal« in wiederholtem Üben zu verwirklichen.172 Nicht zuletzt geht es Caesarius bei seiner persönlich getroffenen Auswahl von Wundergeschichten173 um ein Angebot zu einer speziellen zisterziensischen Identität, die sich deutlich von anderen Identitäten, so denen von Stiftskanonikern174 oder Pfarrern abgrenzt. Dies dient gegenüber Klerikern wie Laien vor allem zur Gewinnung und Behauptung von Autorität innerhalb der Vielheit an Gemeinschaftsformen,175 von einem »Kapital an Charisma« und einer hervorgehobenen Position der Zisterzienser in der Konkurrenz um religiöse Legitimität.176 Für Caesarius selbst ist jedenfalls das Mönchsein in seinem Orden, wie er der Geistererscheinung eines Verstorbenen in den Mund legt, der sicherste Weg zum ewigen Leben: »denn aus dem ganzen Menschengeschlecht steigen nirgends so wenig zur Hölle herab wie aus diesem Orden«177.
171 | Dazu auch Uffmann, Heike: »Körper und Klosterreform. Leiblichkeit und Geschlecht in spätmittelalterlichen Frauenkonventen«, in: Körper macht Geschichte (1999), S. 191221, bes. S. 203. Zum »Zwang durch den Körper« B. Moldenhauer: Einverleibung der Gesellschaft, S. 42-46. 172 | So A. Reckwitz: Subjekt, S. 28 mit Bezug auf Foucault. 173 | Dies und die Betroffenheit des Autors selbst betont L. Tewes: Dialogus Miraculorum, bes. S. 25. 174 | Dazu auch Holbach, Rudolf: »Identitäten von Säkularkanonikern im Mittelalter«, in: Stefan Kwiatkowski/Janusz Małłek (Hg.), Ständische und religiöse Identitäten in Mittelalter und früher Neuzeit, Torun´ 1998, S. 19-41. Zu Abgrenzung von Subjekt und Identität A. Reckwitz: Subjekt, S. 17. 175 | Auch aus den daraus resultierenden Alternativen ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der Subjektivierung. Zur mittelalterlichen Wahrnehmung der Vielheit im Mönchsleben Melville, Gert: »Duo novae conversationis ordines. Zur Wahrnehmung der frühen Mendikanten vor dem Problem institutioneller Neuartigkeit im mittelalterlichen Religiosentum«, in: ders./Oberste, Bettelorden (1999), S. 1-23, bes. S. 19f. 176 | Dazu P. Bourdieu: Religion, S. 17-21, S. 66. 177 | Mirac. I, 33, S. 298f.
Teil III
»Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur« Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft Sabine Kyora Schon das titelgebende Zitat aus Franz Kafkas Briefen an Felice zeigt den engen Zusammenhang von literarischen Schreibweisen und der Artikulation von Subjektivität. Einerseits sehen wir hier einen Autor am Werk, der sich selbst positioniert, indem er sich als Person negiert. Andererseits zeigt Kafkas Tagebucheintrag einen literarischen Entwurf von Subjektivität, der das Verhältnis von Subjekt und Literatur reflektiert. Diese beiden Aspekte deuten bereits an, dass ›Selbst-Bildungen‹ in literarischen Texten und im Literaturbetrieb sehr unterschiedliche Phänomene umfassen können. Dabei zeigen Äußerungen wie Kafkas Positionierung nicht nur eine aktuelle Komponente, d.h. sie sind nicht nur auf die Literatur und den Literaturbetrieb der Gegenwart gerichtet, sondern auch mit historischen Positionierungen und literaturgeschichtlichen Subjektkonzepten verbunden. Bei dieser komplexen Ausgangslage kann die praxeologische Ausrichtung auf inkorporiertes Wissen und den Prozess der Einübung einen innovativen Zugang zur Autorpositionierung im Literaturbetrieb eröffnen, weil sie etablierten literaturwissenschaftlichen, besonders literatursoziologischen und poetologischen, Ansätzen eine größere Differenzierung ermöglicht. So können Positionierungen von Autorinnen und Autoren im literarischen Feld fruchtbringend mit bereits existierenden Konzepten von Autorschaft in Verbindung gebracht werden. Literaturwissenschaftlich zu beschreibende Autorschaftsvorstellungen haben zudem eine historische Perspektive, die der eher synchron argumentierenden Praxeologie eine diachrone Ebene hinzufügt. Diese diachrone Perspektive spielt auch in einem zweiten Bereich, nämlich bei der Beschreibung von literarischen Entwürfen von Subjektivität, wie Kafka sie in seinen Tagebüchern formuliert, eine Rolle. Sie erfordert eine textnahe Arbeitsweise, die literatursoziologischen Fragestellungen in der Regel eher fremd ist. Durch die Möglich-
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keit, literarische Subjektentwürfe zu kultursoziologisch bereits benannten Subjektformen in Beziehung zu setzen, lassen sich Konzepte der Selbst-Bildung aber auch für die Textanalyse fruchtbar einsetzen. Literarische Subjektentwürfe können die praxeologische Perspektive auf Subjektformen bereichern und zur Weiterentwicklung der Theorie beitragen, indem sie die Bedeutung historischer, diachroner Faktoren für die jeweilige Aktualisierung der Subjektform erkennbar werden lassen. Dieser Aufsatz wird im Folgenden beide Untersuchungsformen erproben: Zunächst wird es unter praxeologischen Gesichtspunkten um die Selbstinszenierung von Autoren im gegenwärtigen Literaturbetrieb gehen. Ausgehend von den theoretischen Aspekten der Subjektivierung, wie sie von Andreas Reckwitz formuliert worden sind, wird so eine erweiterte Perspektive auf das literaturwissenschaftliche Phänomen der Autorschaft entwickelt. Im zweiten Teil stehen literarische Subjektentwürfe am Beispiel der Prosa von Gottfried Benn im Mittelpunkt, die in den Kontext kultursoziologisch beschriebener Subjektformen gestellt werden. Ausgangspunkt ist dabei die Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Subjektform und der Subjektform der Avantgarde in den 1910er bis 1940er Jahren.
I. S ELBSTINSZENIERUNG VON A UTOREN Autorinnen und Autoren setzen sich in der Art, wie sie sich im literarischen Feld positionieren, mit bestehenden Vorstellungen von Autorschaft auseinander und beanspruchen dadurch ihren Platz im literarischen Betrieb.1 Nun haben Überlegungen zur Autorschaft in der Literaturwissenschaft längere Zeit Konjunktur gehabt. Zunächst wurde der Autor in seiner Bedeutung eher relativiert und als Knotenpunkt im Geflecht der Diskurse verstanden, dann wurde wiederum diese Relativierung eher kritisch betrachtet.2 Autorschaftskonzepte sind aber ›empirisch‹ auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu finden, eine dieser Ebenen ist sicher die der Selbstinszenierung, der bisher zwar schon Aufmerksamkeit geschenkt, die methodisch aber kaum genauer gefasst wurde. Die 1 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999; Künzel, Christine/Schönert, Jörg (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007; Grimm, Gunter E./Schärf, Christian (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008; Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011. 2 | Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martínez, Matías/Winko, Simone (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; Detering, Heinrich (Hg): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002.
»I CH HABE KEIN LITERARISCHES I NTERESSE , SONDERN BESTEHE AUS L ITERATUR «
folgenden Überlegungen wollen hier unterschiedliche Kategorien vorschlagen, mit denen das Phänomen der Selbstinszenierung genauer analysiert und in Bezug zu Autorschaftskonzepten gesetzt werden kann. Im Folgenden wird die Selbstinszenierung von Autorinnen und Autoren als eine Praktik der Subjektivierung verstanden, d.h. ein Autor inszeniert sich selbst als Autorsubjekt, wird aber auch durch den Diskurs über Autorschaft und durch die Vorbilder, die zeigen, wie ein Autor in der Öffentlichkeit agiert, geprägt. Will er als Autor aber anerkannt werden, muss er sich in diese Vorgaben einpassen bzw. wird er eingepasst. Unter welchen Bedingungen kann sich also ein Individuum als Autor formen und unter welchen Bedingungen wird es als solcher anerkannt?
1.
Subjektform ›Autor‹
Das Subjekt trainiert sich und wird trainiert durch Praktiken, die auf den drei Feldern Arbeit, persönliche Beziehungen und Technologien des Selbst anzusiedeln sind.3 Technologien des Selbst (ein Begriff der von Foucault entliehen ist) meint dabei, alle Möglichkeiten, die ein Subjekt hat, mit sich selbst in Kontakt zu treten, sich also z.B. mit Hilfe der Schrift – vielleicht durch ein Tagebuch – selbstreferentiell zu verhalten.4 Das Schreiben des Tagebuchs wäre dabei eine Praktik der Subjektivierung. Eine Praktik lässt sich als »eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)« definieren, sie »umfasst darin spezifische Formen des impliziten Wissens, des Know-how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion.«5 Praktiken führen dazu, dass sich ein Subjekt formieren kann, das gesellschaftlich als solches anerkannt wird. Es wird anerkannt, weil seine Subjektwerdung in den gesellschaftlich etablierten Praxisformen stattgefunden hat und ständig weiter stattfindet. Das Ergebnis der Praktiken ist, dass ein Subjekt einen bestimmten sozialen Typus verkörpert, man kann hier durchaus an den Habitus-Begriff von Bourdieu denken, der Parallelen aufweist. Reckwitz beschreibt einerseits eine generelle, verbindliche Vorstellung des Subjekts als einen sozialen Typus innerhalb einer Epoche. Für die Postmoderne nach 1980 ist dieser Typus seiner Meinung nach das ästhetisch-ökonomische Konzept von Subjektivität. Andererseits – so Reckwitz – verkörpert das Subjekt in der modernen Gesellschaft nicht nur eine Subjektform. Durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft kommt es auch zu einer Ausdifferenzierung von Subjektformen, wobei die Autorrolle eine dieser Formen wäre. Bei jeder Sub3 | Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 16f. 4 | Ebd., S. 58. 5 | Beide Zitate: Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 135.
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jektform kann man nach den Praktiken fragen, deren Effekt sie sind, aber auch nach den Codes, Körperroutinen, Wunschstrukturen und dem Umgang mit Artefakten, die zu dieser Subjektform gehören. Ausgehend von Reckwitz’ praxeologischem Konzept kann man von einer Subjektform ›Autor‹ sprechen, wobei diese als Subjektform der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft seit etwa 1800 betrachtet wird, die zudem eindeutig männlich konnotiert ist. Zu diesem Zeitpunkt entwickelt sich im Bereich der deutschsprachigen Literatur langsam auch der literarische Markt und der Literaturbetrieb, wie wir ihn heute kennen. Die Subjektform ›Autor‹ wird zunächst einmal auf dem Feld der Arbeit zu situieren sein – so wie alle Subjektformen, die den Beruf betreffen. Dass diese Zuordnung nicht ganz so eindeutig ist, ist auch evident. Denn Schriftsteller haben ja häufig einen sogenannten ›Brotberuf‹. Wenn wir davon ausgehen, dass die Subjektform ›Autor‹ durch und in Praktiken gebildet wird, wäre die Perspektive auf die Autoren eine, die auf »eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)« achtet. So betrachtet, ginge es darum zu zeigen, inwiefern die Selbstinszenierung von Autoren durch Praktiken bestimmt wird und in welchem Verhältnis die Selbstinszenierung wiederum zur Subjektform ›Autor‹ steht. Abgeleitet aus dem von Reckwitz beschriebenen Prozess der Subjektivierung können der Subjektform ›Autor‹ die folgenden Ebenen zugeschrieben werden: 1.) die körperliche Performance und 2.) das praktische prozessorientierte Wissen, das sich auch in körperlichen Aktionen zeigt. Sie wird aber auch durch 3.) den Umgang mit Artefakten konstituiert. Schließlich zeigt sie sich 4.) am Deutungswissen, 5.) an Form und Stil des Zeichengebrauchs und 6.) an der Formung der Sinne und Affekte.6 Zeichengebrauch und Deutungswissen reichen dabei auch in den literarischen Text hinein, d.h. die Subjektform ›Autor‹ verbindet Auftreten und beobachtbare literarische Praxis mit den genuin literarischen Äußerungsformen. Mit diesen sind nicht nur die autobiografischen oder die poetologischen Texte gemeint, bei denen diese Verknüpfung nahe liegt, sondern prinzipiell jeder literarische Text. Wenn man die einzelnen Ebenen von Praktiken genauer betrachtet, wird deutlich, welche vielfältigen Aspekte für die Subjektform ›Autor‹ wichtig sind. Zugleich lassen sich erste Hypothesen bilden, welche typisierte und routinisierte Form des körperlichen Verhaltens für deutschsprachige Gegenwartsautoren, die sich innerhalb der Hochliteratur positionieren wollen, gültig sein könnte. Die körperliche Performance umfasst z.B. Mimik und Gestik, Stimme und Kleidung. Wenn man sich Autorenlesungen und -Interviews vergegenwärtigt, dann dominiert hier die Zurückgenommenheit. Mimik und Gestik werden zwar eingesetzt, aber in der Regel nicht inszenatorisch betont (Kinder- und Jugendliteraturautoren sind ein gutes Gegenbeispiel, das zeigt, dass sich ›ernsthafte‹ und 6 | A. Reckwitz: Subjekt, S. 136f.
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›erwachsene‹ Literatur durch diese Zurückgenommenheit auszeichnet).7 Die Stimme ist in der Regel halblaut und wenig von der regionalen Herkunft geprägt (das gilt vor allem für den Literaturbetrieb der BRD). Bei der Kleidung ist gehobener Casual-Stil die Regel, also kein Anzug mit Krawatte bei den Herren, eher Hose plus Jackett oder Pullover – wie festgelegt hier die Regeln sind, wird immer an den Abweichungen deutlich: Anzugträger wie Walter Kempowski werden sofort bewertet, auch die Anzüge der Popautoren z.B. von Stuckrad-Barre in den 90ern wurden als Statement wahrgenommen. Die Abweichungen im Kleidungsstil nach ›unten‹ führen meist zur Einordnung als ›Szene‹-Autor (z.B. bei Punk-Elementen). Die Autorinnen sind nicht ganz so leicht zu typisieren, die Regel ist aber auch hier eher (geschlechts-)neutrale Kleidung im Casual-Stil, wie für die Autoren beschrieben. Wenn als ›weiblich‹ klassifizierte Kleidung getragen wird, also z.B. kurze Röcke, wird das auch wegen der männlich geprägten Subjektform eher als ein Ausweis mangelnder Professionalität betrachtet. D.h. die Subjektform ›Autor‹ ist an diesen neutralen Casual-Stil gebunden. Natürlich kann ein ›unpassender‹ Kleidungsstil auch reflektiert eingesetzt werden – als Beispiel wäre hier der Auftritt von Alexa von Hennig Lange bei Harald Schmidt anzuführen: Sie trägt einen sehr kurzen Rock und erklärt dann auch noch, sie trüge nichts darunter. Der Bruch mit den Regeln wird so zum Element der Selbstinszenierung als Autorin – die Reaktionen auf »YouTube« machen allerdings deutlich, dass die Leser/Zuschauer hier nur begrenzt mitgehen, die Sexualisierung wird als Unprofessionalität und Zeichen für Drogenkonsum interpretiert.8 Bei der körperlichen Performance von Autorinnen und Autoren ist die Rücknahme des Körpers sicher als ein Hinweis auf die Wichtigkeit des ›Geistes‹, auf die Wichtigkeit des intellektuellen Produkts Literatur zu deuten, von dem nicht abgelenkt werden soll und durch das sich der Autor definiert. Die zweite Kategorie des praktischen prozessorientierten Wissens meint ein im Moment der Aktion meist unbewusstes, ›inkorporiertes‹ Wissen um das richtige Verhalten, z.B. um Mimik, Gestik und die richtige Kleidung, wie oben bereits dargestellt, aber auch um die Art und Schnelligkeit der Bewegung. So sind die Körperbewegungen von Autorinnen und Autoren, wenn sie sich in der Öffentlichkeit präsentieren, eher gemessen – eine Gemessenheit, die sich auch im Umgang der Medien mit Autoren abbildet: Nicht nur die Fragen der Inter7 | Zur Autorenlesung als ›Gattung‹ vgl. Grimm, Gunter E.: »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesung zwischen Marketing und Selbstpräsentation«, in: ders./Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen (2008), S. 141-167. 8 | Als provozierender Verstoß gegen die herrschenden Konventionen der Autorenlesung (als Selbstpositionierung) wird auch immer wieder Rainald Goetz’ Schnitt in seine Stirn während der Klagenfurter Lesung 1983 interpretiert (vgl. Gropp, Petra: »›Ich/ Goetz/Raspe/Dichter‹. Medienästhetische Verkörperungsformen der Autorfigur Rainald Goetz«, in: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen (2008), S. 231-247.
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viewer werden eher langsam gestellt, auch die Schnitte in Fernsehinterviews sind nicht schell hintereinander, sondern die Kamera bleibt meist längere Zeit in der Nahaufnahme. Den Umgang mit Artefakten als drittes Element der Subjektform ›Autor‹, also mit dem Buch, dem Stift, dem Computer oder der Schreibmaschine, mit Tisch und Stuhl, bestimmt einerseits die Schreibsituation und ist auch an der Gestaltung des Arbeitszimmers erkennbar, die gerne auf Fotos abgebildet wird und Teil der Selbstinszenierung ist. Dichterarbeitszimmer sind insofern typisiert, als sie den Umgang mit den Gegenständen, die die Subjektform ›Autor‹ konstituieren, zeigen: Also gibt es immer Bücher und ein Aufschreibgerät, immer einen Schreibtisch mit einem Stuhl davor. Diese Gegenstände deuten an, dass sich der Schriftsteller in seinen Praktiken, dem Lesen und Schreiben, als professionell konstituiert. Eine ähnliche Professionalität sollen auch die Artefakte einer Dichterlesung herstellen, hier ist vor allem die Reduktion auffällig: Tisch, Stuhl, manchmal eine Lampe, manchmal noch ein Mikrofon, mehr ist meist nicht auf der Bühne. Der Schriftsteller und sein Buch fügen sich in dieses Setting ein, der Umgang mit den Gegenständen ist ebenfalls ruhig und auf das Buch konzentriert. Man kann die Reduktion der Artefakte wohl so lesen, dass sie vor allem dazu dient, die gelesenen Worte gelten zu lassen. Ein Schriftsteller, der sich auf den drei bisher beschriebenen Ebenen den Praktiken entziehen würde, würde vermutlich nicht als solcher anerkannt, er hätte aber auch keine Möglichkeit zur Selbstinszenierung, weil diese immer, wenn auch nicht ausschließlich, auf vorgeformte Elemente angewiesen ist oder in solche eingeordnet wird. Neben den bereits genannten Ebenen der Subjektivierung sind nun noch das Deutungswissen (Selbstreflexion, Reflexion über die Autorrolle) und sein Verhältnis zur Selbstinszenierung, Form und Stil des Zeichengebrauchs sowie die Formung der Sinne und Affekte zu nennen und kurz auf die Subjektform ›Autor‹ zu beziehen. Zum Deutungswissen gehören z.B. Interpretationen des eigenen Selbst und damit die Definition der eigenen Rolle, also Sätze wie »Ich bin Schriftsteller« oder »ich bin ein Autor, der experimentell arbeitet«. Zu diesem diskursiven Teil der Selbstinszenierung zählt ebenfalls die Frage nach der Form und dem Stil des Zeichengebrauchs – eine Frage, die bei Autorinnen und Autoren natürlich entscheidend ist. Denn hier findet nicht nur die am deutlichsten erkennbare Unterscheidung zwischen Autoren aus dem nicht literarischen Bereich und Schriftstellern statt, sondern literarische Autoren sind hier auch ›zweisprachig‹, d.h. ihre literarische Sprache und die Sprache, die sie im nichtliterarischen Sprechen benutzen, unterscheiden sich in der Regel. Kein Schriftsteller antwortet bei Interviews mit Gedichten. Die Formung der Sinne und Affekte, die durch die Typisierung und Einübung in die Subjektform ›Autor‹ auf den unterschiedlichen, gerade aufgezeigten Ebenen zustande kommt, ist am schwersten zu fassen und sicher auch nur hypothetisch zu formulieren. Wenn man sich Interviews und Lesungen
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anguckt, dann kann man sicher die Ruhigstellung des Körpers als ›Formung‹ betrachten (die gleichfalls für die Zuhörer gilt) ebenso wie die mittlere Engagiertheit beim Reden über die eigene Produktion oder beim Vorlesen, die Reflexivität, die vorgeführt und vom Interviewer auch erwartet wird, und die Fähigkeit zur Konzentration. Man könnte hier mit Foucault durchaus von einer Disziplinierung der Affekte reden. Gleichzeitig kann der Schriftsteller innerhalb dieser Praktiken, sich nicht nur als solcher subjektivieren, sondern auch seine Selbstinszenierung positionieren. Abgesteckt ist also auch ein Rahmen, in dem es Spielräume gibt, die allerdings historisch und durch das literarische Feld vordefiniert sind. Über Reckwitz’ Konzept hinaus sind also diachrone Elemente, die er nicht berücksichtigt, in den Blick zu nehmen. Denn die Subjektform ›Autor‹ mit den eben ausgefalteten Ebenen ist in Beziehung zu setzen zu den Autorschaftskonzepten, die im literarischen Feld bereits bestehen. Dadurch wird die Spezifik der Subjektform des literarischen Autors als Verschränkung von gegenwärtigen und historischen, aber in der Subjektform aktualisierten Elementen erst adäquat beschreibbar.
2.
Autorschaftskonzepte
Autorschaftskonzepte sind Teil des literarischen Feldes sowohl im Bereich der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft als auch bei Positionierungen von Schriftstellern im literarischen Feld. Sie sind aber auch als Motiv in literarischen Texten zu finden: Der Schriftsteller als Figur eines Romans oder einer Erzählung partizipiert genauso an den vorhandenen Autorschaftskonzepten wie der empirische Autor. Die Konzepte verändern sich historisch, gleichzeitig haben Gegenwartsautoren die Möglichkeit, an unterschiedliche, bereits vorhandene Konzepte anzuknüpfen und sie miteinander zu kombinieren. Literaturwissenschaftlicher Konsens dürfte sein, dass um 1800 das Autorschaftskonzept des ästhetisch autonomen Autors entsteht. Schon vor dieser Vorstellung von Autorschaft existieren Konzepte des Autors als Handwerker, als poeta doctus und als poeta vates. Die Konzepte des handwerklich versierten Autors, des gelehrten Autors und des Autors als inspiriertem Seher entstehen schon in der Antike,9 werden aber ebenfalls für Autoren des 20. Jahrhunderts in Anschlag gebracht, sind also aktualisierbar. So wurde etwa Robert Musil als poeta doctus bezeichnet oder Stefan George als poeta vates.10 Für die klassische Moderne kann man an Benjamins Vorstellung des Autors als Produzent, aber 9 | Vgl. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martínez, Matías/Winko, Simone: »Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische und systematische Perspektiven«, in: dies., Rückkehr des Autors (1999), S. 3-35. 10 | Cremerius, Johannes: »Robert Musil. Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus poeta doctus nach Freud«, in: Psyche 33 (1979), S. 733-772; zu George: Marx, Fried-
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auch an den Autor als Montierenden denken.11 Für Gegenwartsautoren schlägt Dirk Niefanger darüber hinaus das Modell des Autors als Marke vor,12 eine Konzeption, die im literarischen Feld eine Parallele zu Reckwitz’ Modell des ästhetisch-ökonomischen Subjekts der Postmoderne darstellt. Diese, hier nur beispielhaft benannten, historisch bereits formulierten Positionierungen von Autorschaft sind der Kontext, in dem sich Gegenwartsautoren als Autorsubjekt bilden, sie haben dabei zumindest begrenzt die Wahl zwischen unterschiedlichen Positionierungen. Als Autorschaftskonzept, zu dem sich Autoren, die sich gegenwärtig im literarischen Feld bewegen, in irgendeiner Form verhalten müssen, kann sicher die Positionierung als ästhetisch autonomer Autor gelten. Dieses Konzept ist gekennzeichnet durch die Vorstellung, dass Literatur nur nach rein literarischen Kriterien produziert und bewertet wird, also weder von religiösen, noch moralischen oder pädagogischen Zielen abhängig ist. Der Autor, die Autorin ist dann ebenfalls eine unabhängige Figur, die nur der »reinen Kunst« – wie Bourdieu es formuliert – verpflichtet ist, d.h. sich weder von ökonomischen noch politischen Interessen in seiner Tätigkeit leiten lässt.13 Kafkas Satz, er habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, bringt dieses Autorschaftskonzept auf den Punkt. Die Frage wäre nun, welche Praktiken der Subjektivierung dieser speziellen Subjektform ›Autor‹ zugerechnet werden können: Wie muss ein Autor agieren und wie sich prägen lassen, damit er als ästhetisch autonomer Autor anerkannt wird? Sind die bereits beschriebenen Praktiken der Subjektform ›Autor‹ Praktiken, die auf dieses spezifische Autorschaftsmodell rekurrieren? Versteht man die Reduktion von Mimik, Gestik und Mobiliar als Konzentration auf die reine Literatur, die Unauffälligkeit der Kleidung als die Vermeidung der Ablenkung durch Äußerliches und Dichterlesungen als scheinbar nicht kommerzielle Veranstaltungen, in denen z.B. keine Werbung gemacht wird, dann lassen sich diese Praktiken auf das Konzept des autonomen Autors beziehen. Die ökonomische Abhängigkeit des Autors wird verdeckt: Falls Sponsoren und Logos etwa bei Lesungen auftauchen, dann dezent und für die Sponsoren wird selbstverständlich nicht geworben, der Verlag eines vorgestellten Buches kommt nur am Rande vor. Auch die Arbeitszimmer von Autoren zeigen die Konzentration auf die Literatur. Dagegen ist im gegenwärtigen Literaturbetrieb ein anderich: »Heilige Autorschaft? Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne«, in: Detering, Autorschaft (2002), S. 105-120. 11 | Vgl. dazu Wetzel, Michael: »Der Autor zwischen Hyperlinks und Copyrights«, in: Detering, Autorschaft (2002), S. 278-290. 12 | Niefanger, Dirk: »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur ›fonction classificateure‹ Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Krakauer)«, in: Detering, Autorschaft (2002), S. 521-539. 13 | P. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 98-105.
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res Autorschaftsmodell und eine andere Form der Selbstinszenierung durchaus erkennbar: Es lässt sich mit Niefanger beschreiben als Autor, der sich als Marke inszeniert bzw. inszeniert wird. Dieses Autorschaftsmodell muss sich aber auf dem Hintergrund und gegen das ästhetische Autonomiemodells etablieren und behaupten. Die Werbekampagne für P&C von Benjamin von Stuckrad-Barre erregt deswegen Aufmerksamkeit, weil ein (ästhetisch-autonomer) Autor ›so etwas nicht macht‹, sie führt jedoch gleichzeitig den Autor als Konsumenten und Werbeträger vor. Stuckrad-Barres Selbstinszenierung integriert den Autor in die Konsumkultur und in die ökonomischen Regeln des Marktes, übernimmt aber auch eine andere Art der körperlichen Performanz, des Umgangs mit den Artefakten (Anzug!) und des praktischen Wissens (in der Art, wie hier der Körper als Werbefläche eingesetzt wird), die vor allem aus dem Gebiet der Ökonomie stammt. Dabei ist die Verschränkung von der literaturhistorischen Autorschaftsvorstellung des autonomen Autors und der neu entwickelten Positionierung deutlich erkennbar.
3.
Praktiken der Subjektivierung: Friederike Mayröcker
Zum Abschluss des ersten Teils soll ein Beispiel für die Verbindung der Subjektform ›Autor‹ mit dem Autorschaftskonzept etwas genauer analysiert werden. Das folgende Foto zeigt die österreichische Hörspielautorin, Lyrikerin und Prosaistin Friederike Mayröcker im Jahr 1999. Mayröcker gehört zu den Autorinnen und Autoren, die der experimentellen Literatur nahestehen. Sie ist im deutschsprachigen Literaturbetrieb durch ihre Beziehung zu Ernst Jandl und der Nähe zur Wiener Gruppe in den 1950er und frühen 1960er Jahren eindeutig positioniert: Ihre Positionierung ist einerseits durch die Übernahme des Konzepts autonomer Autorschaft, andererseits durch eine Poetik gekennzeichnet, die Sprache als Material versteht. Das Foto wurde anlässlich der Verleihung des Hermann-Lenz-Preises an Mayröcker in der Zeitung Die Welt am 5.7. 2009 abgedruckt. Die Unterschrift lautete: »Gedichte sind ihre Welt: Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker am 9. Dezember 1999«. Der Artikel dazu wurde von Mayröckers Verlegerin Ulla Berkéwicz verfasst. Die Selbstinszenierung der Autorin (Mimik, Köperhaltung, Kleidung, Arbeitszimmer), eine Autorinszenierung des Mediums Fotografie (Genre: Autor am Schreibtisch), die der Zeitung (»Gedichteschreibende Frauen«, Kunst und Leben) und des Verlages im Artikel, möglicherweise auch durch die Wahl dieses Fotos, sind hier gleichermaßen präsent.
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Abbildung 1
Quelle: picture-alliance/dpa
Zu diesen Aspekten tritt die Möglichkeit der Autorin mit dieser Autorinszenierung auch selber zu agieren, so dass ein Spiel zwischen bereits bestehenden Formen der Subjektform ›Autor‹, den eigenen Deutungen und Konzepten zur Autorschaft, die etwa in Interviews oder Essays formuliert werden, und den explizit literarischen Texten, etwa dessen ›Ich‹ und seinen Eigenarten dort, zustande kommen kann. Dabei sind die Grenzen zwischen den einzelnen Ausdrucksformen gerade bei Mayröcker schwer zu ziehen, ihre Reden und Essays sind kaum vom eigentlich literarischen Schreiben zu trennen.
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Wenn wir uns die Praktiken der Subjektform ›Autor‹ ansehen, kann man am Foto zunächst einmal Aspekte der routinisierten, typisierten Inszenierung erkennen. Die Praktiken auf der Ebene der körperlichen Performance, d.h. Mimik, Gestik und Körperhaltung, entsprechen in ihrer Reduziertheit der bereits beschriebenen Subjektform ›Autor‹. Auch der (geschlechts-)neutrale CasualKleidungstil, in Mayröckers Fall allerdings durchgehend in schwarz, kann entsprechend der Subjektform und ihrer Praktiken gelesen werden. Der Umgang mit Artefakten, die zur Subjektform ›Autor‹ gehören, wird ebenfalls auf dem Foto deutlich: Schreibtisch und Stuhl, Schreibmaschine, Notizbuch und Bücher dominieren das Bild. Wenn wir nicht wüssten, wer Friederike Mayröcker ist, die Umgebung und ihr Auftreten definierten sie eindeutig als Autorin. Gleichzeitig kann man ihr Arbeitszimmer als Verstoß gegen das praktische inkorporierte Wissen um die Subjektform ›Autor‹ lesen: Die Professionalisierung, die dem Arbeitszimmer des Schriftstellers seinen Büro-Charakter verleiht, wird durch die überbordenden Mengen an Büchern und Papierstapeln konterkariert. Den Verstoß, der dadurch zum Ausdruck kommt, kann man aber auch als Zeichen für Inspiriertheit lesen, als Praktik, die vorführt, dass der Dichter nicht an Ordnungsvorstellungen aus dem genormten (Angestellten-)Arbeitsalltag gebunden ist. Dass dieser Verstoß bei Dichterinnen durchaus erlaubt ist, zeigt die oben bereits angeführte Unterschrift des Fotos »Gedichte sind ihre Welt: Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker am 9. Dezember 1999«. Das Arbeitszimmer und die Art, wie sich Mayröcker in ihm eingerichtet hat, wird also als Zeichen für den Rückzug aus dem (trivialen) Alltag in die Welt der Literatur gelesen und bestätigt damit das Konzept der ästhetischen Autonomie. Die Unterschrift macht ebenso den Aspekt des Geprägtwerdens deutlich: Die Zuschreibung stellt Friederike Mayröcker als den Inbegriff des ästhetisch autonomen Autors dar, wobei dieses Etikett auch ein Element der (literaturgeschichtlich aus der Romantik stammenden) Weltfremdheit transportiert. Im Interview mit Dieter Sperl, ebenfalls von 1999, das anscheinend in Mayröckers Arbeitszimmer stattfindet, fragt dieser, ob ihr »›poetische Haltung‹ als Lebensform« etwas sage. Sie antwortet: »Ich habe das so deutlich in Erinnerung von H.C. Artmann, der hat immer gesagt, er lebt eine poetische Haltung. […] Er lebt und erlebt sich selbst als Poet, was ich gar nicht tue, sondern je gewöhnlicher meine Umgebung und mein Alltag – und wie du siehst auch meine häusliche Umgebung, die ist ja wirklich nicht so, dass man sagen könnte, das ist das Schreibzimmer eines Dichters – ist, desto besser. […] Ich kann über mich auch nicht Auskunft geben, habe auch keine poetische Aura in diesem Sinne. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch.«14 14 | Sperl, Dieter: »›Ich will natürlich immer schreiben.‹«, in: Gerhard Melzer/Stefan Schwar (Hg.), Friederike Mayröcker, Graz 1999, S. 9-30, hier S. 20f.
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Das Deutungswissen, also die Einschätzung der eigenen Selbstinszenierung oder des Selbstverständnisses, kollidiert hier mit dem Umgang mit Artefakten, den der Interviewer als »poetische Haltung« zu deuten versucht. Mayröckers Selbsteinschätzung ihrer körperlichen Performanz, ihres Zeichengebrauchs und ihres Deutungswissens richtet sich gegen ein Autorschaftskonzept, das Kunst und Leben als Einheit ansieht.15 Diese Einheit ließe dann die Inspiriertheit des ›Poeten‹ erkennen, anzitiert würde dadurch ebenso das romantische Konzept des Autors als die Harmonie von Leben und Kunst verkörpernd wie das des poeta vates. Diese (romantische) Vorstellung der Einheit von Leben und Kunst transportiert ja auch Die Welt in ihrer Bildunterschrift mit. Gleichzeitig schreibt Mayröcker im Interview der/ihrer Sprache Eigenschaften zu – sie nennt sie »geheimnisvolle und magische« Sprache16 –, die das Autorschaftskonzept des poeta vates, des Dichters als inspiriertem Seher, trotzdem aufrufen. Während die Darstellung des Alltags als »ganz gewöhnlich« das Autorschaftskonzept des poeta vates unterläuft, finden sich durch die magische Qualität der Sprache durchaus Ähnlichkeiten. Diese Anleihen an das Konzept des poeta vates korrespondieren wiederum mit der Radikalisierung des Autorschaftskonzepts der ästhetischen Autonomie in Richtung Avantgarde. So betont Mayröcker mehrmals, sie schreibe Literatur nur für wenige Leser, die ihren Anspruch an Literatur, immer etwas Neues auszuprobieren, teilen und verstünde Sprache als Material. Es erstaunt deswegen auch nicht, dass sie die Vorstellung des Autors als Handwerkers ablehnt: »der setzt sich halt hin und häkelt was«.17 Alle diese Grenzziehungen und Kombinationen im Interview befinden sich auf der Ebene des Deutungswissens. Auf der Ebene der körperlichen Performance lassen sich neben den typisierten, bereits beschriebenen Elementen, die zuvor hypothetisch der Subjektform des ästhetisch autonomen Autors zugeordnet wurden, auch solche finden, die als Modernisierung des poeta vates z.B. in der schwarzen, priesterlichen Kleidung und der Kette mit dem Kreuz um den Hals gelesen werden können. Auch den Umgang mit Artefakten, mit dem aufgehäuften Papier, könnte man als Hinweis auf die Wichtigkeit, vielleicht sogar Heiligkeit der Schrift deuten, die es unmöglich macht, etwas wegzuwerfen. Das zurückhaltende Auftreten Mayröckers, auch die leise, eher monotone Stimme, 15 | Vgl. zur Problematik dieses Konzepts bezogen auf Mayröcker: Block, Friedrich W.: »›Schreiben = Leben + Abstraktum‹. Zur Verbindung von Kunst und Leben bei Friederike Mayröcker«, in: Renate Kühn (Hg.), Friederike Mayröcker oder »das Innere des Sehens«. Studien zu Lyrik, Hörspiel und Prosa, Bielefeld 2002, S. 241-268. 16 | D. Sperl: ›Ich will natürlich immer schreiben‹, S. 18. 17 | Ebd., S. 16; vgl. Kyora, Sabine: »›1 Waldbrausen zwischen Hirn und Hand‹. Körperlichkeit und Inspiration in Friederike Mayröckers Prosa brütt oder Die seufzenden Gärten«, in: dies./Axel Dunker/Dirk Sangmeister (Hg.), Literatur ohne Kompromisse. Ein Buch für Jörg Drews, Bielefeld 2004, S. 441-454.
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und die Körperhaltung des Fotos führen dagegen die Inspiriertheit, die »poetische Aura«, nicht vor. Die Subjektform ›Autor‹ – so wie Mayröcker sie verkörpert – könnte man also einerseits als dominiert von den Praktiken autonomer Autorschaft verstehen, andererseits führt die Positionierung Mayröckers auch Nuancierungen vor, die ihrer individuellen Selbstinszenierung dienen, wobei hier das kombinatorische Element auffällig ist.18 Sie zitiert in ihren Praktiken z.B. im Kleidungsstil das Autorschaftskonzept des poeta vates, ohne es insgesamt zu übernehmen: Sie lehnt im Interview die (romantische) Vorstellung der »›poetischen Haltung‹ als Lebenform« ab, beruft sich aber auf die ›magische‹ Sprache. Darüber hinaus übernimmt sie Elemente eines Avantgarde-Konzepts, das im Wesentlichen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Diese Kombinatorik führt jedoch nicht dazu, dass Mayröcker als Autorin nicht anerkannt wird. Es scheint also eine gewisse Spannbreite möglicher Praktiken zu geben, die alle als zur Subjektform ›Autor‹ gehörig gelten, obwohl sie relativ divergent sind. Die Frage, die sich dann stellt, ist, ab welchem Grad von Divergenz die Subjektform nicht ›gelingt‹ oder nicht anerkannt wird. Die Vermutung wäre einerseits, dass bei der Aktualisierung von historisch bereits vorhandenen Anteilen die Toleranz größer ist, andererseits eine gewisse ›Widersetzlichkeit‹ gegenüber der Subjektform als zur Subjektform ›Autor‹ zugehörig verstanden wird, z.B. als Ausdruck von Kreativität oder Authentizität. Reckwitz’ methodische Vorschläge zur Erforschung der Subjektform sind also einerseits auf die Subjektform ›Autor‹ übertragbar und bringen Ebenen der Inszenierung ins Blickfeld, die sonst eher vernachlässigt werden. Allerdings zeigt sich bei der konkreten Analyse ebenfalls, dass die historische Perspektive auf die Subjektform unverzichtbar ist und eine Art Reservoir von Elementen erkennbar werden lässt, die innerhalb der Subjektform aktualisiert werden können, eine Diagnose, die eventuell auch auf andere Subjektivierungspraxen übertragbar sein könnte.
II. S UBJEK TENT WÜRFE IN LITER ARISCHEN TE X TEN : DAS B EISPIEL G OT TFRIED B ENN Im zweiten Teil soll nun anhand der Prosa von Gottfried Benn eine andere Perspektive auf praxeologisch beschreibbare Subjektformen vorgeführt werden, die jedoch die historische Komponente von Subjektformen anders perspektiviert, aber ebenfalls einbezieht. Ausgehend von Benns literarischen Texten wird es 18 | Man könnte diese Fragmentarisierung als Form der Kombination von bereits entwickelten Inszenierungsformen lesen: vgl. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: dies., Schriftstellerische Inszenierungspraktiken (2011), S. 9-30, hier S. 17.
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um die literatur- und kulturgeschichtliche Analyse literarischer Subjektformen gehen. Dabei ist in Benns Prosa besonders die Konfrontation zwischen der bürgerlichen Subjektform und der Subjektform des Avantgarde-Künstlers gut erkennbar. Von den literarischen Subjektentwürfen wird dann auf die theoretischen praxeologischen Subjektkonzepte zurückzukommen sein. Durch das gesamte Prosa-Werk Gottfried Benns zieht sich der Gegensatz zwischen Subjekten, die sich in den festen Grenzen von bürgerlichen Normen bewegen, und andererseits denjenigen, für die der Wunsch nach Entgrenzung, weil sie der Kunst oder dem ›Geist‹ verpflichtet sind, bezeichnend ist. Dieser Gegensatz, der vor allem für die Subjektentwürfe der Avantgarde-Bewegungen zwischen 1910 und 1940 charakteristisch ist, wird im Folgenden genauer zu betrachten sein. Dabei geht es nicht um den Bezug zwischen den Konzepten von Subjektivität und der Biografie Benns, sondern um die im Werk entworfenen Subjektformen, die anhand von Teilen der Prosa rekonstruiert werden können.19 Es geht mit anderen Worten, um das, was Benn in der Vorrede zum »Vermessungsdirigenten« als Programm formuliert, nämlich um die Frage, was es heißt, »das Ich experimentell zu revidieren.«20 Wendet mach sich Benns Prosa der 1910er Jahre zu, dann lässt sich zunächst eine Polarität der Subjektkonzepte beobachten. In der Novelle Die Reise, einer der Texte um den Arzt Rönne, beteiligt sich Rönne mit einer Bemerkung an einem Tischgespräch und erntet dadurch die folgenden Reaktionen: »[…] einige nickten kauend. […] Nun hallte Antwort mit Aufrechterhaltung gegenüber Zweiflern, und das galt ihm. Einreihung geschah […]. Aus Erz saßen die Männer. Voll kostete Rönne seinen Triumph. Er erlebte tief, wie aus jedem der Mitesser ihm der Titel eines Herrn zustieg, der nach der Mahlzeit einen kleinen Schnaps nicht verschmähte und ihn mit einem bescheidenen Witzwort zu sich nimmt […].« 21
Interessant ist hier einerseits der dargestellte Prozess der »Einreihung«, andererseits der Typus der Subjektform. »Der Titel eines Herrn«, den Rönne hier für sich reklamiert, kann als die hegemoniale Form des Subjekts gelesen werden, die in diesem Fall deutlich bürgerliche, man kann fast sagen, philisterhafte Züge trägt. Die bürgerliche Subjektform kann sozialhistorisch als die im 19. und frü19 | Zu Benns Selbstinszenierung vgl. Kampmann, Elisabeth: »Selbstinszenierung im Dilemma – Gottfried Benns ›Pathos der Distanz‹ und der späte Ruhm«, in: Jürgensen/ Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken (2011), S. 253-267. 20 | Beide Zitate: Benn, Gottfried: »Der Vermessungsdirigent. Erkenntnistheoretisches Drama«, in: ders., Szenen und Schriften in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 1990, S. 43-80, hier S. 43. 21 | Benn, Gottfried: »Die Reise«, in: ders., Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 1984, S. 33-40, hier S. 35.
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hen 20. Jahrhundert herrschende verstanden werden, d.h. ihre Werte und Praktiken dominieren die Bereiche Arbeit, Privatleben und Selbstbeziehung. Folgt man Reckwitz, dann wären die Werte der bürgerlichen Subjektform vor allem als Respektabilität, Moderatheit und Teilhabe an der Kultur zu fassen, die sich polar abgrenzen gegenüber Primitivität, Exzessivität und Natur.22 Für Rönne verkörpern seine Tischgenossen genau die bürgerlichen Werte, die sie in dieser Szene auch ihm zubilligen: Moderatheit – es ist nur ein »kleiner Schnaps« –, Kultur im »Witzwort« und Respektabilität im »Titel eines Herrn«. Der geschilderte Prozess der »Einreihung« wiederum betont die Performativität als grundlegend für den Erwerb oder die Behauptung dieser Subjektform, d.h. zumindest Rönne muss sich durch die Praktik des Gesprächs immer wieder bestätigen lassen, dass er den »Titel eines Herrn« tatsächlich trägt. Die Möglichkeit zur Übernahme der Subjektform »Herr« erfolgt dabei durch die Anerkennung der anderen am Gespräch Beteiligten. Was der Text dadurch erkennen lässt, ist die »sozial-kulturelle ›Gemachtheit‹ des Subjekts«.23 Das Subjekt entsteht (immer wieder neu) in den Praktiken des Essens, des Tischgespräches, in denen es sich angemessen verhält und deswegen von den anderen als Subjekt anerkannt wird. Damit ist sein Subjektstatus aber von diesen sozialen Praktiken abhängig, d.h. erst durch diese wird es zum hegemonialen, bürgerlichen Subjekt. »Aus avantgardistischer Perspektive erscheinen die ›Natur‹ und das, was das Bürgertum als das scheinbar Natürliche präsentiert, als diskursive Mittel, um eine fixe Struktur vor jeder Technik und vor jedem Spiel der Bedeutungen zu installieren. […] Vor allem die sozial-kulturelle ›Gemachtheit‹ des Subjekts wird nun – vom Ästhetizismus bis zum Dadaismus – präjudiziert, und diese Artifizialität stellt sich als Chance, letztlich als notwendige Bedingung seiner Nichtfestgelegtheit und erratischen Selbstüberschreitung dar.« 24
Während in der bürgerlichen Subjektform – so Reckwitz’ These – die Abhängigkeit des Subjekts von sozialen Praktiken und seine Gemachtheit zum Verschwinden gebracht, also naturalisiert wird, beruhen die Subjektentwürfe der Avantgarde-Bewegungen gerade auf der Aufdeckung und Reflexion dieser Praktiken, ohne die kein bürgerliches Subjekt entsteht. Die Selbstüberschreitung, die Reckwitz als Subjektform der Avantgarde zuschreibt, ist dann deswegen möglich, weil die hegemoniale Subjektform nur noch eine mögliche unter anderen praktizierbaren ist.
22 | A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 273. 23 | Ebd., S. 297. 24 | Ebd.
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Diese avantgardistische Subjektform der Selbstüberschreitung wird in den Rönne-Novellen der bürgerlichen Subjektform gegenüber gestellt, beispielhaft sei noch einmal aus der Reise zitiert. Rönne betritt ein Kino: »Rönne atmete kaum, behutsam, es nicht zu zerbrechen. Denn es war vollbracht, es hatte sich vollzogen. Über den Trümmern einer kranken Zeit hatte sich zusammengefunden die Bewegung und der Geist, ohne Zwischentritt. Klar aus den Reizen segelte der Arm, vom Licht zur Hüfte, ein heller Schwung, von Ast zu Ast. In sich rauschte der Strom. Oder wenn es kein Strom war, ein Wurf von Formen, ein Spiel in Fibern, sinnlos und das Ende um allen Saum. Rönne, ein Gebilde, ein heller Zusammentritt, zerfallend, von blauen Buchten benagt, über den Lidern kichernd das Licht.« 25
Dabei unterscheidet sich die hier inszenierte Subjektform nicht nur durch die Überschreitung der (auch sprachlichen) Konventionen von der bürgerlichen, sondern ebenfalls durch das Wissen um die Artifizialität dieser Überschreitung, die in diesem Fall abhängig ist von den Kinobildern – also von der Technik – und von der sprachlichen Formulierung des Subjektzustands, die flexibel und nicht fix ist. Es ist also keine »natürliche« Überschreitung, die etwa aus einem Freiheitsdrang Rönnes legitimiert wird, sondern eine, die der Technik bedarf und die sich ihrer Künstlichkeit als »Gebilde« bewusst ist. Die Bewegung der Kinobilder, des »Geistes« und der Sprache setzen das Subjekt einer Prozesshaftigkeit aus, die tendenziell unabschließbar ist. Nicht nur die Überschreitung der bürgerlichen Subjektform, wie sie Reckwitz für die Avantgarde-Konzepte beschreibt, ist das Charakteristikum des Benn’schen Subjektentwurfs, sondern die Reflexion jeder Subjektform und ihre Auflösung in der Bewegung werden hier erkennbar. Diese Reflexion von Subjektformen und die Dynamik ihrer Auflösung sollen im Weiteren verfolgt werden. Ziel ist es dabei, Reckwitz’ Modell des Avantgarde-Subjekts um die Komponente der Reflexion von Subjektförmigkeit und die sprachliche Materialität der Überschreitung zu erweitern. Ebenso ist die zumindest bei Benn deutlich zu sehende Stabilität der bürgerlichen Subjektform als Reibungsfläche über die 1920er Jahre hinaus herauszupräparieren. In der theoretischen Beschreibung dominiert zudem die Statik der Subjektformen, deren Veränderungen aber nur schwer zu beschreiben sind. Genau diese Verwandlungen interessieren Benn aber, wenn er davon spricht, das »Ich experimentell zu revidieren«.
25 | G. Benn: Die Reise, S. 39f.
»I CH HABE KEIN LITERARISCHES I NTERESSE , SONDERN BESTEHE AUS L ITERATUR «
1.
Bürgerliche Subjektform und die Subjektform der avantgardistischen Entgrenzung
Die Rönne-Novellen entwerfen und reflektieren also ein Verhältnis von hegemonialer, bürgerlicher und avantgardistischer Subjektform der Entgrenzung. Beide Subjektformen werden dabei performativ, in der Wiederholung bestimmter sozialer Praktiken, produziert. Bürgerliche Praktiken wie das gemeinsame Mittagessen mit Tischgespräch stehen dabei den Praktiken des (künstlerischen) Subjekts gegenüber: Rönne geht ins Kino, übt sich im Assoziieren und schafft eine imaginäre Frau. Andererseits sind bürgerliche und avantgardistische Praktiken gar nicht so leicht voneinander zu trennen. Beispielhaft sieht man ihr Verhältnis in Gehirne, ähnliche Tendenzen lassen sich aber auch in den anderen Novellen finden. In Gehirne geht Rönne seiner ärztlichen Tätigkeit in einem Sanatorium nach, nachdem er zuvor als Pathologie gearbeitet hat. Je länger er im Sanatorium ist, desto mehr ist er von einer Handbewegung fasziniert, die aus seinem Alltag als Pathologe kommt: dem Auseinanderklappen des zu sezierenden Gehirns. Er wiederholt diese Geste ständig und wird schließlich so von ihr dominiert, dass er seiner eigentlichen Arbeit nicht mehr nachgehen kann. Es ist gerade Rönnes Handbewegung, die den Beginn der Entgrenzung anzeigt, obwohl sie aus seiner beruflichen Routine und damit aus dem Bereich der sozialen Praktiken des Arztes stammt. Als bürgerlich anerkannter, akademischer Beruf ist dieser Teil der hegemonialen Subjektform; die verschiedenen Spielarten des Krankenhauses innerhalb der Rönne-Novellen haben zudem alle gemeinsam, dass sie ärztliche Routinen als Praktiken festlegen, die für die Anerkennung der Subjekts unerlässlich sind und die Rönne bis zu einem bestimmten Punkt auch erfüllt.26 Das Auseinanderklappen des Gehirns als Praktik des Pathologen wird nun von der konkreten Situation im Leichenschauhaus abgelöst, damit verliert die Geste ihre Funktion im Rahmen der Subjektform ›Arzt‹. Gleichzeitig ist es eine Geste, die Rönnes Körper offensichtlich eingeschrieben ist und die dieser automatisch wiederholt. Die Wiederholung ist für soziale Praktiken unerlässlich – einerseits werden sie so eingeübt, andererseits sind sie durch die Wiederholung des Musters für die anderen erkennbar, die dann wiederum ihre Anerkennung signalisieren können. Rönnes Handbewegung wird dagegen von der Schwester, die ihn beobachtet, nicht wieder- und damit auch nicht als für die Praxis notwendig anerkannt. Im nächsten Schritt schreibt Rönne der inkorporierten Geste eine andere Bedeutung zu: »Nun halte ich immer mein eigenes [Gehirn, 26 | Vgl. zum Verhältnis zwischen Arztrolle und Selbstbeobachtung: Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994, S. 155; Glann, Thomas: Gehirn und Züchtung. Gottfried Benns psychiatrische Poetik 1910-1933/34, Bielefeld 2007, S. 63-67.
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27 | Benn, Gottfried: »Gehirne«, in: ders., Prosa und Autobiographie (1984), S. 19-23, S. 23. 28 | Ebd.
»I CH HABE KEIN LITERARISCHES I NTERESSE , SONDERN BESTEHE AUS L ITERATUR « Simultan-Vision, der Halluzinatorische mit dem schiefen Blick –: Kain und Abel, Klante und Zoroaster, lächerliche Nüancen der gleichen Clownerie […].« 29
Zunächst wird hier ein polares Modell der Subjektformen aufgebaut, das bei den Figurenpaaren anscheinend auch vorherrscht, also »Kain und Abel«. Im Nachsatz wird es jedoch gleich wieder aufgehoben: »lächerliche Nüancen der gleichen Clownerie«. Würde man die beiden Subjektentwürfe zuordnen, könnte man die »soziale Personalität« mit ihrer »ausgeglichenen Blutfülle« als hegemoniales bürgerliches Subjekt verstehen (respektabel, kultiviert, moderat), während der »Schwelltyp mit der Simultan-Vision« als die Subjektform der Überschreitung zu identifizieren wäre. Wenn dann beide Subjektformen als Nuancen von »Clownerien« bezeichnet werden, ist daran zweierlei interessant. Einerseits ist das Modell wohl nicht so gedacht, dass die bürgerliche Subjektform – wie gelegentlich auch in der älteren Sekundärliteratur zu Benn üblich – als die Entfremdung oder die Unterdrückung von der ›eigentlichen‹, kreativen Subjektivität zu lesen wäre, vielmehr sind beide Subjektformen gleichgeordnet und es sind Subjektformen. Zweitens ist also das Subjekt der Entgrenzung nicht »wahrer«, »freier« oder »natürlicher«30 als das bürgerliche, also auch nicht als Rebellion gegen die »Unterdrückung« zu lesen; es ist genauso »Clownerie« wie die soziale Persönlichkeit. In beiden Fällen wird etwas vorgeführt, das bestimmten Routinen, Praktiken und Erwartungen entspricht und das darüber hinaus ›verkörpert‹ wird. Benn schreibt den beiden Typen ja sogar unterschiedlichen Blutdruck zu. In der Reflexion von Subjektformen stellt Benn also die avantgardistische Subjektform als eine dar, die gegen die Grenzen der bürgerlichen rebelliert, gleichzeitig installiert sie sich aber als neue Subjektform (und zwar als eine paradoxe, indem sie Entgrenzung an eine Form bindet). Damit ist sie wie die bürgerliche, durch bestimmte sprachliche Formeln, Praktiken und Routinen der Entgrenzung gekennzeichnet. Diese paradoxe Konstitution führt dann in Benns Spätwerk zum Versuch, einen neuen Umgang mit Subjektformen zu entwerfen und das Paradox so zu überwinden.
2.
Um- und Neuformulierung der antibürgerlichen Subjektform
Auch in Weinhaus Wolf, geschrieben 1936, und im Roman des Phänotyp, entstanden 1944, geht es immer noch um die Konfrontation zweier Subjektformen, al29 | Benn, Gottfried: »Alexanderzüge mittels Wallungen«, in: ders., Prosa und Autobiographie (1984), S. 107-110, hier S. 110; vgl. Preiß, Martin: »Gottfried Benns Alexanderzüge mittels Wallungen. Ein Porträt des Künstlers als nicht mehr ganz junger Mann«, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 8 (2003), S. 153-168. 30 | Dies auch gegen die Darstellung des Avantgarde-Subjekts bei A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 293.
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lerdings ist diese jetzt anders konstruiert als in den bisher analysierten Beispielen. Während im Phänotyp versucht wird, in Abgrenzung zur bürgerlichen und zur Subjektform der Entgrenzung, eine andere Subjektform aufzubauen, wird im Weinhaus Wolf die bürgerliche Maskerade des Subjekts in der Gesellschaft mit seiner von außen nicht erkennbaren tatsächlichen Verfasstheit konfrontiert. Während Reckwitz für die 1920er Jahre die postbürgerliche Subjektform des ›Angestellten‹ als hegemonial ansieht,31 die während des nationalsozialistischen Regimes durch die faschistische Ideologie modifiziert wurde,32 ist bei Benn auch in den 1930er und 1940er Jahren die bürgerliche Subjektform diejenige, gegen die sich seine Figuren zu behaupten versuchen. So lautet die Maxime des sprechenden Ich in Weinhaus Wolf denn auch: »Öffne Deine Blicke nur der Nacht, des Tags erhebe das Glas auf das Wohl der Herren, besprich mit den Damen die zur Diskussion stehenden Themen und laß das Blumenmädchen nicht vorbei, entnimm ihm Sträuße.« 33
Der äußerlichen Angepasstheit an die bürgerliche Subjektform und ihre Praktiken steht das ›geheime Leben‹ des Subjekts gegenüber. Durch seine Beherrschung der sozialen Praktiken versucht der Ich-Erzähler, nicht von den bürgerlichen Subjekten, den Herren und Damen, unterscheidbar zu sein: Er sitzt im Wirtshaus wie alle anderen auch, er tarnt seine (abweichende) Innenwelt durch die bürgerlichen Praktiken, er hat einen bürgerlichen Beruf als Konsularbeamter. Diese Maskerade zeigt einerseits etwas von der Künstlichkeit der bürgerlichen Subjektform, ist andererseits eben auch ein Hinweis auf eine andere – bei Benn allerdings weder auf ein Angestelltensubjekt noch auf dessen Modifizierung durch faschistische Elemente. Die Möglichkeit dieser letzten Tendenz wird aber bezogen auf den Roman des Phänotyp noch einmal zu erörtern sein. Erkennbar wird die andere Subjektform an einer der Gesten des Ich-Erzählers, die ein Anzeichen dafür ist, dass er einen anderen Blick auf das Geschehen hat. Die Wirtin fragt ihn, anscheinend im Auftrag anderer Gäste: »Ich lag wie immer mit einem Arm auf der Lehne der Bank. […] ›Immer so untätig?‹ Ich füllte tagsüber meinen Beruf aus, soll ich abends noch eine besondere Tätigkeit für das Weltall entfalten?[…] Wenn sie noch Tieferes erblickten? Untätigkeit bei günstigen äußeren Lebensbedingungen, das war, wenn ich es so ausdrücken darf, in der Tat mein Ideal. Untätigkeit im allgemeinen Sinn: Kein Büro, kein pünktlicher Dienstbeginn, kein Bezugszeichen links oben auf den Akten. Keineswegs durch die Natur schweifen, ich war 31 | Ebd., S. 410. 32 | Ebd., S. 284f. 33 | Benn, Gottfried: »Weinhaus Wolf«, in: ders., Prosa und Autobiographie (1984), S. 129-148, hier S. 148.
»I CH HABE KEIN LITERARISCHES I NTERESSE , SONDERN BESTEHE AUS L ITERATUR « kein Rutengänger und Steppenwolf, mehr ein Sichauslegen mit Wurm und Angel, etwas anbeißen lassen, Eindrücke, Träume – die große Vergeudung der Stunden.« 34
Das Subjekt fürchtet durch eine seiner Gesten doch verraten worden zu sein, eine Geste, die auf seine tatsächliche Einstellung schließen lässt. Wie bei Rönnes Geste ist also auch hier ein Übergang zwischen der Nachahmung der bürgerlichen Subjektform und der ihr entgegenstehenden erkennbar. Diese andere Form entzieht sich den bürgerlichen Normen in diesem Fall dadurch, dass sie Nützlichkeit und Arbeit als Wert verweigert. Gleichermaßen wird jedoch die Bewegung in der Natur, die hier als antibürgerliches Abenteurertum verstanden wird, abgelehnt. Die Bewegung des Ich-Erzählers wird dagegen ganz in den Innenraum zurückgenommen, er lässt nur seine Gedanken laufen und stellt den »Geist und seine antinaturalistische Funktion«35 gegen den handelnden Menschen. Die Anhänger dieser Subjektform, die dem »Geist« verpflichtet sind, charakterisiert er folgendermaßen: »Keinen Augenblick sind sie sich im Unklaren über das Wesen ihrer inneren Subtanz. Das Abgründige ist es, das Leere, das Resultatlose, das Unmenschliche.«36 Die Subjektform, die das sprechende Ich hier entwirft, ist nicht mehr die der Entgrenzung. Stattdessen zeigt sich eine Radikalisierung des Konzepts aus Alexanderzüge mittels Wallungen. Die Substanzlosigkeit auch der Subjektform der Entgrenzung, die in der Kennzeichnung als »Clownerie« angedeutet wird, wird nun als das eigentlich Charakteristische akzentuiert. Darüber hinaus entwirft der Ich-Erzähler eine Subjektform, die ähnlich paradox ist, weil ihr Inhalt quasi die Leere ist. Die sozialen Praktiken, die zur bürgerlichen Subjektform gehören, bilden also kein bürgerliches Subjekt mehr aus, vielmehr verdecken sie eine Subjektform, die sich in die Wiederholung bürgerlicher Praktiken einerseits und den substanzlosen Geist andererseits spaltet. Entgrenzung ist so im Sinne einer Sprengung der bürgerlichen Subjektform nicht mehr möglich. Darüber hinaus ist die Bewegung jetzt dezidiert eine des Geistes bei möglichster Bewegungslosigkeit des Körpers. Ist Bewegung dagegen notwendig, soll sie nur die routinierten Gesten des bürgerlichen Subjekts wiederholen, damit sie nicht als Abweichung lesbar ist. Entworfen wird also eine Subjektform ohne (eigene) Praktiken. Ähnliche Tendenzen finden sich auch im Roman des Phänotyp, den das sprechenden Ich als »Roman im Sitzen« bezeichnet. Die Bewegungslosigkeit des Subjekts spielt also in diesem Entwurf ebenfalls eine Rolle und dient als Ausgangspunkt für seine Assoziationen und Reflexionen. Dabei geht es dem Ich-Erzähler um den Entwurf einer neuen Subjektform, eben des »Phänotyps«. Diese definiert er scheinbar biologisch als »aktuelle[n] Ausschnitt des Geno34 | Ebd., S. 134f. 35 | Ebd., S. 139. 36 | Ebd., S. 145.
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typs, des Arttyps«.37 Aktuell meint in diesem Fall die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation. Anders als in Weinhaus Wolf soll das äußere Auftreten des Subjekts, das nicht der hegemonialen Subjektform entspricht, aber durch eine spezifische Form der »Haltung« geprägt sein. »[…] man soll erleben und etwas Artifizielles daraus machen […]. Das Ziel ist die Herrichtung des Ich zu einer durchlebten, geistig überprüften Form, zu einer Haltung, aus der interessiertes Entgegenkommen gegenüber fremdem Wesen und keine Furcht vor dem Ende spricht.« 38
Das Erlebnis des Subjekts wird also bearbeitet und zu etwas »Artifiziellem« gemacht. Darüber hinaus wird das Ich »hergerichtet«, es soll eine gewisse »Haltung« zeigen, die seiner geistigen Verfassung entsprechen soll. So entsteht eine Subjektform, die dem Phänotyp eigen ist. Seine Denkweise wird durch Interesse und Toleranz gegenüber »fremden Wesen« charakterisiert. Man könnte dieses durchaus auf die Moderatheit als Teil der bürgerlichen Subjektform, fast im aufklärerischen Sinne, beziehen und auch als Abgrenzung gegenüber der Ideologie des Nationalsozialismus verstehen. Zumindest unterscheidet sich diese Haltung deutlich von der des Ich-Erzählers des Weinhaus Wolf. Der erklärt nämlich seine Mitmenschen als reif für die Guillotine, weil sie in den Theaterpausen Schinkenbrote essen. Andererseits ist der Benn’sche »Phänotyp«, der sozusagen die Hauptfigur des Romans ist, durch eine ganze Reihe von Gegensätzen geprägt, die nicht der bürgerlichen Subjektform entsprechen und sein Bestehen auf einer eigenen Subjektform erkennbar machen. So erforscht er sein Subjektsein: »Der Phänotyp des 12. und 13. Jahrhunderts zelebrierte die Minne, der des 17. Jahrhunderts vergeistigte den Prunk, der des 18. Jahrhunderts säkularisierte die Erkenntnis, der heutige integriert die Ambivalenz, die Verschmelzung eines jeglichen mit den Gegenbegriffen. Einerseits dem Geist und seine Maßstäben verpflichtet bis in die letzte Faser des Gebeins, – andererseits diesem Geist als regionaler, geographisch-historischer Ausgeburt der Rasse skeptisch gegenüber. Einerseits um Ausdruck kämpfend bis zu qualgezeichneten Sonderbarkeiten, Formzerstörungen bis zum bizarren Spiel mit Worten, – andererseits diesen Ausdruck schon bei der Prägung mit seinen Zügen des Zerfalls und des Übergangs bitter belächelnd.« 39
37 | G. Benn: Roman des Phänotyp. Landsberger Fragment, 1944, in: ders., Prosa und Autobiographie (1984), S. 149-191, hier S. 150. 38 | Ebd., S. 150. 39 | Ebd., S. 152f. (Herv. i.O.).
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Die Polaritäten innerhalb der Subjektform, die hier verhandelt werden, sind weder allein durch das zur bürgerlichen Subjektform polare Konzept des Avantgarde-Künstlers zu erklären noch durch die Orientierung am bürgerlichen oder am Angestellten-Subjekt, vielmehr sind sie innerhalb des Phänotyps zu finden. Allerdings wird der Phänotyp hier als moderne Form des Künstlers, der an historische Entwicklungen in den Künsten anknüpft, verstanden. Dessen ›dekonstruktive‹ Verfasstheit – er kämpft um Ausdruck und zieht diesen Ausdruck im Moment seiner Formulierung in Zweifel – kontrastiert wiederum mit seinem Leben als Soldat: »Er wohnte in einer östlichen Kaserne, bekam Truppenverpflegung, […] sein Zimmer ging auf einen Exerzierplatz, auf dem die Allgemeinheit ihre Ideen betrieb.«40 Die »Herrichtung des Ich«, die der Phänotyp proklamiert, steht dem Exerzieren gegenüber, das genau das auch tut und zwar im Namen der Ideen der Allgemeinheit, die hier die Ideen des Nationalsozialismus sind. Beides, »Herrichtung« wie Exerzieren, sind allerdings Formen der Disziplinierung, die Denken – die nationalsozialistische Ideologie in der Wehrmacht, Ästhetik und Toleranz beim Phänotyp – einüben. Wobei die Einübung des Phänotyps vorgibt, eine rein geistige zu sein, während die nationalsozialistische Ideologie durch körperliche Routinen vermittelt wird. Insofern tritt hier die Wehrmacht an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Praktiken, die ebenfalls auf körperlich eingeübten Routinen beruhen. Und ähnlich wie in Weinhaus Wolf hat der Phänotyp als Künstler in dieser Situation keine eigenen Praktiken, er handelt nicht, er kann nur eine (geistige) »Haltung« zeigen. Inwiefern die Praktiken der Subjektform ›Soldat‹ auch den Phänotyp selbst prägen, reflektiert der Text nicht. Vielmehr versucht er, den Phänotyp als ganz mit seiner geistigen Bewegung beschäftigten Künstler darzustellen, der die körperliche Bewegung verweigert und einen Roman im Sitzen schreibt, während die Bewegung des marschierenden Heeres draußen stattfindet und von ihm nur beobachtet wird. Man könnte insgesamt behaupten, dass Benn mit dem Phänotyp versucht, eine eigene Subjektform zu entwerfen, die Elemente der bürgerlichen und eines Künstler-Subjekts übernimmt, aber anders zusammensetzt und begründet: Die Subjektform des Phänotyps ist durch eine spezifische Denkweise (das Interesse gegenüber fremden Wesen) und durch die Integration von Ambivalenzen, die auch an der »Haltung« erkennbar werden, gekennzeichnet. Blickt man nun zusammenfassend auf Benns Subjektformen, so zeigt sich einerseits die Gegenüberstellung von bürgerlicher Subjektform und der Subjektform der Entgrenzung, bei der die Übergänge zwischen den Subjektformen bei der Konstruktion des Subjekts, aber auch des Textes besonders in den Fokus treten. Die in den späteren Texten entworfenen Subjektformen sehen als ihr Gegenüber meist immer noch die bürgerliche Subjektform, erfüllen auch deren 40 | Ebd., S. 178.
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Praktiken, ohne dadurch zum bürgerlichen Subjekt zu werden. Vielmehr versuchen sie diesem eine Subjektform des »Geistes« gegenüberzustellen. Diese erweist sich in Weinhaus Wolf als leer – weil ihr keine sozialen Praktiken entsprechen und weil die Subjektform der Entgrenzung auf die sprachliche Artikulation angewiesen ist, die diesem Ich-Erzähler nicht zugänglich ist. Im Phänotyp wird dagegen eine eigene Subjektform des »Geistes« angeboten, die einerseits durch Ambivalenzen gekennzeichnet ist und so gegen eine einheitliche Subjektform rebelliert, andererseits eine Subjektform des Künstlers konstruiert, die nicht mehr die des Avantgarde-Künstlers ist. Subjektentwürfe in literarischen Texten können also durch den kultursoziologischen Ansatz zu soziologisch und historisch beschreibbaren Subjektformen in Beziehung gesetzt werden. Allerdings sind Benns experimentelle literarische Subjektformen durch ein größeres Schwergewicht der bürgerlichen Praktiken gekennzeichnet, die – ähnlich wie bei der Subjektform ›Autor‹ historische Autorschaftskonzepte – ein Reservoir bilden, das weiter verwandt wird. Dagegen scheint die Subjektform der Entgrenzung, die Reckwitz den Avantgarden zuordnet, bei Benn wesentlich flüchtiger konstruiert zu sein und nur eine Momentaufnahme im ständigen Prozess der Ich-Revisionen zu bilden. Insgesamt lässt sich resümieren, dass die praxeologische Perspektive bei literaturwissenschaftlichen Fragestellungen sowohl in der Analyse von Autorschaftskonzepten und Inszenierungspraktiken wie bei der Charakterisierung von literarischen Subjektentwürfen als theoretische Anregung dienen kann. Durch den Blick auf das konkrete Material lassen sich allerdings auch Annahmen der Theorie relativieren, wenn nicht sogar revidieren: Einerseits wäre auch die diachrone, historische Perspektive bei der Konstruktion von Subjektformen stärker zu berücksichtigen, andererseits sind Subjektformen zumindest im literarischen Feld und im literarischen Text ausgesprochen flexibel und einem ständigen Prozess der Reformulierung unterworfen. So muss auch eine von der Praxeologie inspirierte Literaturwissenschaft in der Lage sein, wenn auch auf ganz andere Weise, als Benn das vorschwebte, das »Ich experimentell zu revidieren«.
Praktiken des Zu-sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur Silke Wenk
»Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt.«1 Georg Simmel, der Klassiker der Soziologie, hat damit dem Sehen, genauer dem Sich-gegenseitigAnsehen eine zentrale Funktion in der Herstellung von Sozialität, in der Vergesellschaftung von Individuen zugewiesen. Hier können Studien der visuellen Kultur anknüpfen, die davon ausgehen, dass das Visuelle untrennbar in das Soziale eingelassen ist oder auch weitergehend noch, dass das Soziale immer auch visuell verfasst ist.2 Zugleich – und das ist die Trennlinie eben zu einer Analyse visueller Kulturen – hat Simmel das Sich-Anblicken tendenziell jeder Vermittlung enthoben: »Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht« und er hat das Sehen z.B. der Sprache entgegengestellt.3 Mit der Fokussierung auf die Beziehung von Auge zu Auge ist Mehrfaches ausgeblendet: die präexistenten Bilder (innere und äußere) ebenso wie auch die Aktivitäten, die mit dem Sehen verbunden sind – von wo aus geblickt wird, wie sich das Sich-Anblicken immer auch mit körperlichen Aktivitäten, die nicht immer sichtbar sein müssen, verknüpft oder wie man sich zu sehen/anzublicken gibt oder gar dem Angeblickt-Werden verweigert. Ausgeblendet werden mithin 1 | Simmel, Georg: »Exkurs über die Soziologie der Sinne«, in: ders., Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 484. 2 | Vgl. Mitchell, William J. Thomas: Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 323; Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008 und Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011. 3 | G. Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, S. 484 (Herv. S.W.). Simmel fährt fort: »Wo sich sonst soziologische Fäden spinnen, pflegen sie einen objektiven Inhalt zu besitzen, eine objektive Form zu erzeugen. Selbst das gesprochene und gehörte Wort hat doch eine Sachbedeutung, die allenfalls noch auf andre Weise überlieferbar wäre.«
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die von Machtbeziehungen strukturierten Blickpositionen: Wer zum Beispiel darf wem in die Augen blicken, sich ›gegenseitig‹ anblicken oder wie wird die Gegenseitigkeit hergestellt.4 Ausgeblendet werden die Rahmungen des Blicks und des Sehens. Simmels ontologisierende Beschreibung des Visuellen lässt zugleich Versuche gegenwärtiger Kunsthistoriker und Philosophen assoziieren, die das Wesen ›des Bildes‹ zu erkunden suchen. Das Bild wird dabei abstrahiert von den Kontexten, in denen es produziert, rezipiert und interpretiert wurde bzw. wird. Die essentialisierende Dimension solcher Definitionsversuche ist mehrfach kritisiert worden: von der Seite der Kunstwissenschaft bzw. in Studien der visuellen Kultur5 und jüngst auch von der Seite der Soziologie.6 Mit der Engführung auf ›das Bild‹, wie sie in neueren Versuchen einer ›Bildwissenschaft‹ geschieht,7 geht eine Ontologisierung des Bildes einher, die zugleich eurozentrisch perspektiviert ist.8 Das Konzept der ›visuellen Kultur‹ interessiert sich dagegen nicht nur für verschiedene Felder und Tätigkeiten – es umfasst Kunst ebenso wie Popularkulturen, wissenschaftliche Illustrationen oder bildgebende Verfahren –, sondern es interessiert sich auch für visuelle Praktiken und wie sie in Machtverhältnisse verwoben sind. Eine praxeologische Perspektive, wie sie bereits den Cultural Studies, insbesondere der Birmingham School eigen war,9 ist dem Konzept der visuellen Kultur somit inhärent.10 4 | Zur Konstruktion von Geschlechterpositionen in der »Soziologie der Sinne« vgl. Fraisl, Bettina: »Visualisierung als Aspekt der Modernisierung. Ein Blick auf ›modernes‹ Sehen im Spiegel der Geschlechterverhältnisse um 1900«, in: Homepage des Spezialforschungsbereichs (SFB) »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900«, http:// www-gewi. kfunigraz.ac.at/moderne/sheft1f.htm, abgerufen am 27.02.2012. 5 | Vgl. S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 35-53; Loreck, Hanne: »Bild-Andropologie [sic!]? Kritik einer Theorie des Visuellen«, in: Susanne von Falkenhausen/Silke Förschler/Ingeborg Reiche/Bettina Uppenkamp (Hg.), Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code, Marburg 2004, S. 23-26. 6 | Burri, Regula: »Bilder als soziale Praxis: Grundlegungen einer Soziologie des Visuellen«, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 342-358. 7 | Exemplarisch seien hier Kunsthistoriker wie Gottfried Boehm, Philosophen wie Sachs-Hombach u.a., als Sozialwissenschaftler sei z.B. Ralf Bohnsack genannt. 8 | Siehe auch Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008, S. 16: Bilder mögen für den Westen der Maßstab sein, aber »eine visuelle Kultur (kann) auch anders definiert werden als durch Bilder«. 9 | Zum Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham vgl. insbesondere die Schriften von Stuart Hall, der das CCCS von 1968 bis zu seiner Schließung 2002 leitete. 10 | Der Begriff der »visuellen Praktiken« weist über das von Burri (Bilder als soziale Praxis) vorgeschlagene Konzept von »Bildern als soziale Praxis« hinaus. Burri versucht
P RAK TIKEN DES Z U - SEHEN -G EBENS
V ISUELLE P R AK TIKEN DER S UBJEK TIVIERUNG UND M EDIEN »Visuell« meint hier keineswegs nur sichtbar Gemachtes, sondern – da jedes Sichtbar-Machen als ein Markieren oder Exponieren immer auch heißt, etwas anderes aus dem Blickfeld zu nehmen – auch unsichtbar Gemachtes: So bietet sich die Präzisierung visueller Praktiken als »Praktiken des Zu-sehen-Gebens« an.11 Sie sind zugleich nie nur »visuell«, sie sprechen nie »nur den Augensinn an[…], sondern [sind] mit Texten, mit Sprache, mit Zu-hören-Gegebenem notwendig verknüpft«.12 Die »visuelle Konstruktion des Sozialen«, von der der Literatur- und Kunstwissenschaftler W.J.T. Mitchell13 schreibt, ist nie eine nur visuelle.14 Damit ist die theoretische Rahmung eines Konzepts skizziert, das die Reduktion auf den Augensinn ebenso wie auf das Bild zu überwinden beansprucht und zugleich mit der Fokussierung auf die Praktiken die soziale, vergesellschaftende Funktion des Visuellen mit einschließt und Machtverhältnisse nicht ausklammert.15 In welcher Weise sind diese Praktiken mit der Frage nach der Subjektivierung verknüpfbar? »Wie visuelle Repertoires, Modellierungen, Spiegelungen, Identifikationsangebote und Normierungen an der Produktion von Subjektivität mitwirken, lässt sich in Zeiten überbordender Selbst-Visualisierung – ›Broadcast Yourself‹ lautet das urheberrechtsgeschützte Motto des Videoportals YouTube – kaum ignorieren. Visualität und Subjektivität umschlingen sich wechselseitig bis zur Unauflöslichkeit.« mit dem Ziel, den Begriff des Bildes in praxeologischer Perspektive zu entessentialisieren, indem sie diejenigen Objekte – visuelle und materielle – als Bilder zu begreifen vorschlägt, »die von den Akteuren als solche klassifiziert werden« (ebd., S. 342). Damit klammert sie wiederum, ihrem eigenen Untersuchungsfeld (technische Bilder in der Praxis der Medizin) durchaus angemessen, einen breiten Bereich visueller Praktiken aus, die sich nicht als »Bild« zu erkennen geben und zugleich zwischen verschiedenen Feldern, etwa zwischen Kunst und Sport, zwischen Kunst und Ökonomie etc. eben auch im Alltag oder im Kunstbetrieb »vermitteln«. Ich komme darauf zurück. 11 | S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 9. 12 | Ebd. 13 | W.J.T. Mitchell: Bildtheorie, S. 323. Siehe auch Burri: Es gelte, »danach zu fragen, inwiefern die soziale Realität durch visuelle Repräsentationen geprägt und transformiert wird oder, noch genereller ausgedrückt, inwiefern Sozialität durch Visualität konstituiert, strukturiert und reproduziert wird« (R. Burri: Bilder als soziale Praxis, S. 343). 14 | S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 9. 15 | Das Sich-sehen(-Lassen) steht immer auch in Beziehung zu einem sich gegenseitigen Zur-Kenntnis-Nehmen, ist so, kurz und vorgreifend, auch mit Anerkennung verbunden.
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So schreibt Tom Holert in seinem Buch Regieren im Bildraum,16 in dem er den Fokus auf visuelle Praktiken insbesondere im Kontext von neuen Bildtechnologien und neoliberalen Machttechniken richtet. Mit Michel Foucault lasse sich als ihr Spezifikum ausmachen, »dass sie den Individuen immer größere Bereiche der Subjektivierungsarbeit übertragen«.17 Subjektivierung hieße hier: sich so zu bilden und zu positionieren, sich so zu sehen zu geben, wie man gesehen werden will, die Erwartungen und Anforderungen der anderen antizipierend, Erwartungen, Anforderungen, die auch in Bildern vorgegeben, fixiert sind und kursieren. Selbst-Bildung lässt sich in dieser Hinsicht beschreiben als ein Sich-Selbst-zum-Bild-Machen. Man könnte hier auch von ›Selbstinszenierung‹ sprechen. Mit diesem Begriff jedoch ist häufig auch ein bewusstes Tun mit unterstellt, ein zielstrebiges Benutzen der je vorhandenen Mittel zur Selbstdarstellung für ein bestimmtes Publikum, auf einer Bühne, bei deren Verlassen man wieder zum eigenen ›Selbst‹ als gleichsam beständigem ›Wesen‹ zurückkehrt, um sich dann gegebenenfalls auf einer anderen Bühne anderen Erwartungen gemäß zu gestalten.18 Nach dem Verhältnis von Subjektivierung/Subjektivation und visuellen Praktiken zu fragen, impliziert jedoch mehr, nämlich auch nach der Dimension zu fragen, wie über das Sehen und das Sich-zu-sehen-Geben, was immer auch ein Deuten, ein Interpretieren und Bewerten einschließt, auch das eigene ›Selbst‹ gebildet und auch verändert wird, weitergehend: wie sich Subjektbildung, um den bekannten doppelten Sinn von »subjectum«19 in Anspruch zu nehmen, als ein Ineinander von (Selbst)Ermächtigung und Unterwerfung vollzieht. Bilder sind zweifellos an Prozessen der Subjektivierung beteiligt, gleichwohl sind sie es nicht per se und von sich aus.20 Dass Bilder machtvoll sind, unsere Wünsche, Fantasien ebenso anregen wie unsere Ängste, dürfte ein Gemeinplatz sein. Die weit verbreitete Rede von der ›Macht der Bilder‹ hat offenbar Plausibilität gefunden angesichts der beschleunigten Zirkulation der Bilder, wie sie durch neue Informationstechnologien ebenso wie durch Prozesse der Globali16 | T. Holert: Regieren im Bildraum, S. 28. 17 | Ebd., S. 41. 18 | Siehe auch Haug, Frigga: Kritik der Rollentheorie, Berlin 1994. 19 | Verwiesen sei hier auf Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin 1977. Weitergeführt haben diesen Gedanken sowohl Michel Foucault als auch Judith Butler. 20 | Gegen die Idee des Eigenlebens von Bildern argumentiert auch Tom Holert und stellt dagegen den Standpunkt, »dass Bilder vor allem ziel- und zweckgerichtet gebraucht werden« (T. Holert: Regieren im Bildraum, S. 29). Zum Konzept des »Bildaktes« und der ihm inhärenten Künstlerzentrierung siehe Haverkamp, Anselm: »Schnittpunkte im Äusseren. Über die Theorie des ›Bildakts‹ von Horst Bredekamp«, in: Texte zur Kunst (2011), Heft 84, S. 133-137.
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sierung seit Jahren zu beobachten ist und deren ›Sender‹ nach Web 2.0 weit verstreut und keineswegs immer einfach ausmachbar sind. Die Rede ist auch von »Bilderfluten« oder einer »Überflutung«,21 gegen die man nicht mehr Herr wird, die gleichermaßen alle tangiert – und affiziert. Ausgeblendet wird mit derartigen Tropen nicht nur die Frage nach der Verfügung über die Technologien, sondern auch die Frage nach den Praktiken der MediennutzerInnen und dem, was sie antreibt und antreiben lässt. Diagnostizieren lässt sich mit Holert ein Ineinander von neuen Regierungstechnologien und neuen Bildtechnologien, die ein Sich-Zeigen, ein Sich-zusehen-Geben verlangen und ermöglichen. »Bildfähigkeiten« erscheinen als »Schlüsselqualifikation politischer, juristischer und ökonomischer Teilhabe« und die »Anrufungen«, kreativ zu sein, omnipräsent (man denke an Facebook, Social Media Marketing),22 sie sind zugleich aber auch geschlechtlich zu differenzieren.23 Im Kontext der Entwicklungen neuer Bild- und Regierungstechnologien ist auch die Funktion des Künstlers neu zu bestimmen versucht worden: War der Künstler (der per definitionem maskulin war) seit der Renaissance als »Ausnahmesubjekt« zu beschreiben, das sich durch »Genialität« und »Männlichkeit« auszeichnete, dem das Privileg zukam zu sehen zu geben, so scheint die Figur des Künstlers heute zu einer Art ›role model‹ geworden zu sein für die allseits kreative und flexible Einnahme von Positionen unter neoliberalen Bedingungen, für das »unternehmerische Selbst«.24 Damit sind jedoch die Grenzen zwischen den Feldern – etwa zwischen Ökonomie, Politik und Kunst25 – nicht 21 | Zur Kritik an diesen Tropen, in der sich auch ikonophobe Tendenzen artikulieren, vgl. S. Schade/S. Wenk: Studien zu visuellen Kultur, S. 35-40. 22 | T. Holert: Regieren im Bildraum, S. 21. 23 | Vgl. dazu McRobbie, Angela: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden 2010. 24 | Vgl. von Osten, Marion: Norm der Abweichung, Zürich 2003, S. 9ff. und Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. Zur Verbindung von Künstler und Männlichkeit seit der Renaissance vgl. die Studien kunstwissenschaftlicher Genderforschung, eine Übersicht findet sich in Schade, Sigrid/Wenk, Silke: »Strategien des Zu-Sehen-Gebens. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte«, in: Hadomud Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 2005, S. 144-184. 25 | Siehe dazu grundlegend Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001. Zum Verhältnis zwischen ökonomischem und künstlerischem Feld siehe auch Fraser, Andrea: »Es geht um Kultur«, in: Beatrice von Bismarck/Therese Kaufmann/Ulf Wuggenig (Hg.), Nach Bourdieu. Visualität, Kunst und Politik, Wien 2008, S. 289-302 und Zahner, Nina Tessa: Die neuen Regeln
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aufgehoben: Ihre relative Eigendynamik zu beachten, erlaubt erst die spezifischen Regeln und die gegenseitigen Bezugnahmen ebenso wie die (expliziten) Abgrenzungen gegeneinander zu verstehen.26
K ÖRPERREPR ÄSENTATIONEN UND M EDIENGESCHICHTE Was sich aktuell als historisch neues Phänomen der Verschränkung von Entwicklung der Bildtechnologien und (Selbst-)Regierungsformen zu beschreiben anbietet, ist jedoch nicht gänzlich neu. Bereits um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert lassen sich zumindest teilweise vergleichbare Formen ausmachen.27 Allgemein lässt sich sagen, dass Praktiken der Subjektivierung als visuelle Praktiken nicht jenseits der Geschichte der Medien zu sehen sind. Solches dürfte insbesondere in Zeiten des Umbruchs in der Medienentwicklung und im Mediengebrauch zu verfolgen sein. Erinnert sei an die mit der Entwicklung der Druckgrafik in der Frühen Neuzeit einhergehenden Umbrüche in der (Re-) Produktion und Rezeption von visuellen Darstellungen, mit denen nicht nur Veränderungen oder Erweiterungen religiöser Praktiken einhergingen (man denke an das Andachtsbild und die Reproduktionsmedien des Holzschnitts), sondern auch neue Formen der Selbstdarstellung in Umlauf kamen (ein bekanntes Beispiel dürfte das Ständebuch von Jost Ammann (1568) sein, das an August Sanders Fotografien von Menschen des 20. Jahrhunderts erinnern mag, zugleich jedoch in seiner medialen Wirkung deutlich unterschieden ist), ganz zu schweigen von der durch die Entwicklung der Reproduktionsmedien bewirkder Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006. Vgl. auch S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 171-176. 26 | Das Konzept des Feldes erinnere daran, schreibt Bourdieu, »daß die Wahrheit über jede einzelne dieser Institutionen [Bourdieu verweist hier auf Arbeiten über den Hochschulbereich, S.W.] paradoxerweise nur zu gewinnen ist, wenn sie in das System objektiver Beziehungen eingereiht wird, das den Konkurrenzraum konstituiert, den sie mit allen anderen zusammen bildet« (P. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 208). – Gerade unter dieser Perspektive überzeugt mich das Konzept etwa eines »Avantgarde-« oder eines »Kreativsubjekts« nicht, wie es nicht nur große Zeiträume, sondern eben auch Felder mit unterschiedlichen Dynamiken überspringend Andreas Reckwitz entwirft. Vgl. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 27 | Damit wäre auch nachvollziehbar, wie neue Bildtechnologien dazu beitragen können, ›alte‹ in ihrer Wirkungsweise besser zu verstehen. Siehe dazu etwa Huber, Hans Dieter: »Kommunikation in Abwesenheit. Zur Mediengeschichte der künstlerischen Bildmedien«, in: René Hirmer (Hg.), Vom Holzschnitt zum Internet. Die Kunst und die Geschichte der Bildmedien von 1450 bis heute, Heidenheim 1997, S. 19-36, hier S. 33.
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ten Beschleunigung des Austausches zwischen verschiedenen Regionen der Welt.28 Doch zurück zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Mit der Entwicklung der Fotografie war ein Bildmedium zur Hand, das auf besondere Weise den menschlichen Körper als »Wissensobjekt« herstellen ließ und »mit der Herstellung und Regulierung spezifischer Sichtbarkeiten« einherging:29 »Das Bild des Verbrechers entstand […] als Gegenbild des gesetzestreuen Bürgers in einer auf Besitzstand und Besitzrechten basierenden Gesellschaftsordnung, die es zu schützen und zu verteidigen galt.« 30
In den gegenläufigen Bewegungen »einer ›Privatisierung‹ der bürgerlichen Fotografie und einer generalisierten Sichtbarkeit der (nicht-bürgerlichen, nicht weißen) Anderen« hat der Fotografiehistoriker John Tagg das ausgemacht, was Michel Foucault an der Gefängnisarchitektur von Bentham, einer Anlage von »Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen« analysierte, den Panoptismus31 als eine »verfeinerte und kalkulierte Technologie der Unterwerfung/Subjektivierung«.32 Sie ist nicht nur durch Unter-Beobachtung-Stehen charakterisiert, sondern ebenso durch ein (Sich-) »Unter-Beobachtung-Stellen«.33 Man kann davon ausgehen, dass neue Medien, sowie sie dem allgemeinen, privaten Gebrauch zugänglich wurden, wie etwa der Fotoapparat bzw. die Handkamera und später die Videokamera34 und digitale Fotografie, spezifische Praktiken der Selbstmodellierung und -darstellung im Gefolge hatten bzw. – 28 | Vgl. dazu H.D. Huber: Kommunikation in Abwesenheit, S. 23: »Die Bewegungen verschieben sich von der Wanderschaft der Personen zur Wanderschaft der Bilder und Texte.« Es bildet sich eine »Kommunikation in Abwesenheit« heraus (ebd.). 29 | Brandes, Kerstin: Fotografie und »Identität«. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld 2010, S. 77. Brandes bezieht sich u.a. auf die aufschlussreichen Studie von John Tagg (Tagg, John: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Houndmills/London 1993) und Allan Sekula (Sekula, Allan: »Der Körper und das Archiv«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2003, S. 269-334). 30 | K. Brandes: Fotografie und »Identität«, S. 77. 31 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S. 257. 32 | Ebd., S. 283. 33 | Ebd., S. 292. 34 | Vgl. dazu auch Adorf, Sigrid: Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre, Bielefeld 2008.
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um nicht eindimensional die Ursache in dem Medium zu suchen – mit ihnen einhergingen und gehen und sich vervielfältigten. Interessant sind dabei eben nicht nur die mit der Fotografie möglichen neuen Praktiken der ›Dokumentation‹ des jeweiligen Selbst, sondern auch dessen Praktiken des Sich-Darstellens und der Formierung über das Sich-Vergleichen(-Lassen) und des Sich-Positionierens gegenüber Vor-Bildern bzw. Negativbildern des Fremden oder zu Verwerfenden.
KÖRPERREPRÄSENTATIONEN ALS P RAKTIKEN DER N ORMALISIERUNG Wie sich entsprechende Körperrepräsentationen in einem sich entwickelnden diskursiven Netz zwischen bildender Kunst, Sport, Medizin und (Amateur-) Fotografie35 herausbilden und somit auch ein Feld des Handelns präfiguriert wird, das man auch als Dispositiv bezeichnen könnte, habe ich für eine Zeit zu verstehen versucht, in der die öffentliche Präsenz nackter – auch weiblicher36 – Körper(bilder) enorm zunahm, nämlich in der Zeit um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die zunehmende öffentliche Exposition nackter Körper – sei es in der Fotografie, auch in der Reproduktion tradierter Kunstwerke oder in der Skulptur auf öffentlichen Plätzen – ging mit heftigen Kontroversen um die Legitimität der (öffentlichen) Sichtbarkeit des Nackten einher. Ich habe diese als ein Symptom für eine neue, sich herausbildende Politik der Normalisierung37 oder auch, so könnte ich zuspitzen, der Selbstregierung im Feld des Visuellen analysiert. An den Auseinandersetzungen um die Initiative für ein derartiges Gesetz, die sogenannte Lex Heinze mit ihren Polizei- und Strafmaßregeln, die schließlich durch einen sozialdemokratischen Boykott zu Fall gebracht werden konnte, ist bemerkenswert, wie sich die diskursiven Rahmen des Legitimen verschieben und neue Regeln bzw. Normen in den Vordergrund traten. Die Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher Felder, dem 35 | Vgl. dazu auch Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München/Berlin 1985. 36 | Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wird die heute so selbstverständlich gewordene Präsenz weiblicher Aktfiguren im öffentlichen Raum etabliert. Vgl. dazu auch Walters, Margret: Der männliche Akt. Ideal und Verdrängung in der europäischen Kunstgeschichte, Berlin 1979. 37 | Siehe dazu auch die materialreiche Studie von Möhring, Maren: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930), Köln/Weimar/Wien 2004; Möhring analysiert die Nacktgymnastik als »selbstnormalisierende Körperpraktik«. Siehe zum Folgenden Wenk, Silke: »Der öffentliche weibliche Akt: eine Allegorie des Sozialstaates«, in: Ilsebill Barta u.a. (Hg.), Frauen – Bilder – Männer – Mythen. Kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 217-238.
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juristischen, dem medizinischen, dem pädagogischen und nicht zuletzt dem künstlerischen, stritten um die Notwendigkeit bzw. den Unsinn eines Verbots von pornografischen, zeitgenössisch formuliert ›unzüchtigen‹ Darstellungen in der Öffentlichkeit. Es war nicht so sehr oder nicht nur die vornehmlich aus dem literarischen und bildkünstlerischen Feld heraus proklamierte ›Freiheit der Kunst‹, um die die Akteure und Akteurinnen aus den verschiedenen Feldern kämpften, sondern mehr noch neue Rahmungen des Zu-Sehen-Gebens. Die Zeitgenossen, die gegen die Institutionalisierung eines Verbots angingen, plädierten mehr oder weniger explizit, aber übereinstimmend für eine »moralische Erziehung«, in deren Fokus sowohl eine »gesunde Sexualität«, eine »normale sexuelle Entwicklung« als auch eine »Schulung des Sehens« stehen sollte: Im zeitgenössischen Diskurs ging es auch um das »Laienauge«, das den »höheren Sinn« des Nackten begreifen müsse und dieses nicht nur als »etwas Enthülltes und Bloßgestelltes« verstehen dürfe, d.h. gestritten wurde auch um die Praktiken des Interpretierens und Bewertens, die wiederum neu justiert werden sollten.38 Was diesen Fall interessant und aufschlussreich macht, ist zum einen, wie sich die Diskurse der Kunst, der Medizin und der Pädagogik verschränken, und zum anderen, wie sich hier Strategien der Normalisierung39 durchsetzen, die somit nicht nur als eine »Wahrnehmungstechnik«40 beschrieben werden kann, sondern der es eigen ist, wiederum neue Praktiken oder auch neue Praxisformate41 zu fordern und zu fördern. Anstelle eines Verbots, anstelle von Maßnahmen des unmittelbaren Ausschlusses visueller Praktiken konnten bzw. sollten diese von den Individuen selbst neu gehandhabt und gleichsam aus einem ›Innen‹ der Individuen gesteuert werden, um selbstreflexiv und -reguliert immer wieder von neuem die Norm herzustellen und zu bestätigen. Ein berühmtes Beispiel für entsprechende Handlungsanleitungen stellt auch das 1898 erstmals erschienene und vielfach bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhundert wieder aufgelegte Buch Die Schönheit des weiblichen Körpers von Carl Heinrich Stratz dar. Wie seine Widmung »Den Müttern, den Ärzten und
38 | Zitate in S. Wenk: Der öffentliche weibliche Akt, S. 229f. 39 | Siehe hierzu M. Foucault: Überwachen und Strafen; weiterführend Jürgen Link, der den »flexiblen Normalismus« von dem eher statischen Modell »sozialer Normierung« des 19. Jahrhunderts bzw. vom »Protonormalismus« abzugrenzen sucht. Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus, Opladen 1996; siehe auch Mehrtens, Herbert: »Kontrolltechnik Normalisierung. Einführende Überlegungen«, in: Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Wiesbaden 1999, S. 44-64. 40 | H. Mehrtens: Kontrolltechnik Normalisierung, S. 46. 41 | Diesen Begriff übernehme ich aus A. Reckwitz: Das hybride Subjekt.
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den Künstlern« bereits verrät,42 versuchte er, in verschiedene Diskurse zu intervenieren und deren Praktiken zu verschränken mit dem Ziel der Bildung »schöner« weiblicher Körper, die auch der »Rassenschönheit des Weibes« entsprechen sollten.43 Der Gynäkologe beanspruchte einen »neuen Weg zur Beurtheilung menschlicher Schönheit einzuschlagen«, indem er »neben dem Standpunkt des Künstlers und des Anatomen den des Arztes stellte«.44 In dem Buch werden Körperbilder verschiedener Medialität – Fotografien von lebenden ›Modellen‹ aus verschieden Teilen der Welt und von Skulpturen der griechischen Antike45 – neben Proportionszeichnungen vergleichend präsentiert. Im Medienverbund werden die Möglichkeiten des Vergleichens idealer und den Idealen entgegenstehender Körper ausgelegt, die in Verhaltensregeln münden und sich auf Alltagspraktiken übertragen lassen, eben nicht nur von Ärzten und Künstlern, sondern auch von Frauen als Müttern, denen damit eine Aufwertung ihrer (Subjekt-) Position versprochen wird wie auch ihren Töchtern – in der Selbst-Bildung gegen die Anderen, als ›rassisch‹ unterlegen markierten. Normalismus als auch die auf das Selbst bezogene und durch eine Integration unterschiedlicher, sich gegenseitig stützender medialer Praktiken fundierte Wahrnehmungstechnik verbindet gleichsam automatisch Sehen, Zu-sehen-Geben und Bewerten, was sprachlich artikuliert werden kann, aber nicht (mehr) muss. Selbstbildung als »Selbstertüchtigung« und damit für relativ neue körperliche Subjektivierungspraktiken waren und sind – über den Nationalsozialismus46 bis weit ins 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein47 – in ihrer 42 | Stratz, Carl Heinrich: Die Schönheit des Weibes, 13. Aufl., Stuttgart 1902. Eine ähnliche Widmung »Deutschen Müttern, die Töchter haben« findet sich wieder in Hessen, Robert: Wege zur Frauenschönheit, Stuttgart/Leipzig/Berlin 1916, S. 7. Siehe dazu Frietsch, Elke: »Die ›nackte Wahrheit‹ – Der entschleierte weibliche Körper im deutschen Rassendiskurs und in der Kunst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Bettina Dennerlein/Elke Frietsch/Therese Steffen (Hg.), Verschleierter Orient – Entschleierter Okzident? (Un)Sichtbarkeit in Politik, Recht, Kunst und Kultur seit dem 19. Jahrhundert, München 2012, S. 203-224, hier S. 212. 43 | »Die Rassenschönheit des Weibes« war der Titel des 1907 publizierten Buches von Carl Heinrich Stratz. Siehe dazu auch E. Frietsch: Die ›nackte Wahrheit‹. 44 | Stratz in einer Erklärung zu seinem Werk, zit.n. http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_ Heinrich_Stratz, abgerufen am 24.02.2012. 45 | Zur Bedeutung der Bezugnahme auf die Antike vgl. auch M. Möhring: Marmorleiber, S. 169-257 und auch E. Frietsch: Die ›nackte Wahrheit‹. 46 | Siehe dazu grundlegend Haug, Wolfgang Fritz: Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts. Die Ideologie der gesunden Normalität und die Ausrottungspolitiken im deutschen Faschismus, Berlin 1986. 47 | Siehe dazu auch M. Möhring: Marmorleiber, S. 379-390 und Wenk, Silke: »Verschleiern und Entschleiern. Ordnungen der (Un)Sichtbarkeit zwischen Kunst und Poli-
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Verschränkung mit je neuen Medien zu verfolgen. Über Praktiken des Sichzu-Sehen-Gebens und Sich-Zeigens verschränken sich verschiedene Diskurse, künstlerische, pädagogische, juristische und nicht zuletzt bevölkerungspolitische und treiben Individuen an und werden von ihnen gleichsam realisiert. Sich permanent zu prüfen, zu vergleichen, schließt spezifische Formen der Selbstreflexivität mit ein, die wiederum durch Bildmedien gleichsam perfektioniert werden können.48 Eine zentrale, mit dem Medium der Fotografie eng verwobene (von Roland Barthes zugespitzt als die »Natur« der Fotografie beschriebene)49 Form visueller Subjektivierung ist das Sich-in-Pose-Setzen50 angesichts einer Kamera: »Ich nehme eine ›posierende‹ Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits im Voraus in ein Bild. Diese Umformung ist eine aktive […].«51 Bis hierher habe ich Praktiken des (Sich-)Zu-sehen-Gebens bzw. ihre Bedingungen und Möglichkeiten, wie sie durch bestimmte Körperpolitiken bzw. -diskurse und Medienentwicklung als gegeben bestimmt werden können, rekonstruiert. Wie sie konkret ›erfahren‹ wurden oder wie sie durch unterschiedliche tik«, in: B. Dennerlein/E. Frietsch/T. Steffen, Verschleierter Orient – Entschleierte Okzident?, S. 47-67. Meine These – zugespitzt formuliert – lautet: Vieles deutet darauf hin, dass sich eben spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert eine folgenreiche Verschiebung von einem autoritativen Schauverbot zu einer Form von Selbstregierungstechnologie vollzog oder anders formuliert: Es vollzog sich eine Verschiebung und Überführung von Praktiken der Selbstbefragung in Praktiken der Selbst-Sichtbarmachung in Bezug auf vorgegebene Subjektpositionen – eine Entwicklung, die mit der Videokamera und schließlich Web 2.0 nochmals einen neuen Schub erhielt. Siehe dazu auch Adorf, Sigrid/John, Jenifer: »Das Private bleibt politisch. Symptomatische Subjektentwürfe der Gegenwart«, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (2010), Heft 4, S. 5-10. 48 | Zu vergleichbaren Praktiken im Sport vgl. Alkemeyer, Thomas: »Bewegen und Mitbewegen. Praktisches Wissen und Zeigen im Sport«, in: Karen van der Berg/Hans Gumbrecht/Hans Ulrich (Hg.), Politik des Zeigens. München 2010, S. 91-108. 49 | Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1984, S. 88. Vgl. auch Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam/Dresden 1990 und Schade, Sigrid: »Der Schnappschuß als Familiengrab. Entstellte Erinnerung im Zeitstil der Photographie«, in: Georg Christoph Tholen/Michael Scholl/Martin Heller (Hg.), Zeitreise. Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel, Zürich/Frankfurt a.M. 1993, S. 287-300. 50 | Silverman, Kaja: »Dem Blickregime begegnen«, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick, Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 41-64, hier S. 47. Die ÜbersetzerInnen merken hier an, dass das Englische »die Bewegung des ›Sich-in-Pose-Setzens‹« im Unterschied zum deutschen Begriff der Pose betone, der »an etwas Starres denken lässt«. 51 | R. Barthes: Die helle Kammer, S. 19.
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soziale Positionierungen – Geschlecht, Klasse, Ethnizität – und durch politische Bewegungen wie etwa der Arbeitersportbewegung oder auch durch die Entwicklung spektakulärer Formen der Körperrepräsentation auf Jahrmärkten oder gar ›Völkerschauen‹ von den Individuen unterschiedlich genutzt und geformt wurden, dies zu erforschen würde zweifellos den Einbezug weiterer Quellen erforderlich machen, wobei auch hier sicherlich immer nur partielle Einsichten möglich wären.52 Zugleich bleibt weiter zu rekonstruieren, was die Individuen antreibt, was keineswegs einfach beobachtbar oder aus den tradierten Quellen zu erschließen ist.
R AHMUNGEN Praktiken des Zu-Sehen-Gebens sind immer auch Praktiken des Signifizierens,53 als solche und somit vergellschaftende Praktiken müssen sie intelligibel, wahrnehmbar und interpretierbar sein. Das wiederum ist bestimmt von historisch und sozial herrschenden Codes. Anders formuliert: Wie man sich zu sehen gibt bzw. zu sehen geben möchte, ist immer auch bestimmt vom ›Rahmen‹, in dem man gesehen und (an)erkannt werden will. Rahmungen, denken wir an Gemälde oder Fotografien, markieren und betonen nicht nur das Dargestellte/das Repräsentierte, sondern stellen Zusammenhänge zu anderen Bildern her oder grenzen es auch bzw. schneiden Verbindungen zu anderen Bildern ab. Rahmen (Framing) bedeutet aber auch, folgen wir dem Soziologen Maurice Halbwachs und seinem Konzept des sozialen Gedächtnisrahmens54 (oder auch dem Gedächtnistheoretiker Jan Assmann, der sich auch an Ervin Goffman anlehnt),55 dass bestimmte Regeln eingehalten werden 52 | Zu den eingeschränkten Möglichkeiten einer praxeologischen Analyse im soziologischen Sinn für historische Forschung vgl. auch Reckwitz, Andreas: »Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation«, in: Herbert Kalthoff/ Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188-209. 53 | Auch »Repräsentation« wird in diesem Text im Sinne einer Praxis des Bezeichnens verstanden: Vgl. dazu grundlegend Hall, Stuart: »The Work of Representation«, in: ders., Representation: Cultural Representation and Signifying Practises, London 1997, S. 1564. Siehe auch S. Schade/S. Wenk: Studien zur Visuellen Kultur, S. 105-112. 54 | Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985. 55 | Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/ Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-19 in Anlehnung an Erving Goffman, vgl. Goffman, Erving: Geschlecht und Werbung, Frankfurt a.M. 1981, insbesondere S. 45-94.
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müssen bzw. sozialen Ausschlussmechanismen Rahmungen inhärent sind, oder anders formuliert, dass der jeweilige Rahmen vorgibt, was in welchen Kontext gestellt werden kann bzw. soll und wie es bewertet wird. ›Regeln‹ sind dabei keineswegs immer und notwendig expliziert (wie etwa bei der Fabrikation eines Passfotos). Sie sind zum einen Resultate vorgängiger visueller Praktiken, die sich als selbst-verständlich durchgesetzt haben, in denen bestimmte Posen und Kleidung mit Bedeutungen von Maskulinität, Seriosität, Freundlichkeit etc. verknüpft wurden, »evident« erscheinen56 und gleichsam automatisch realisiert werden. Zum anderen sind sie eingerahmt von exkludierten Bedeutungen und damit codierten Bildern. Anerkannt werden wollen, heißt somit auch, sich in die ›passenden‹ Posen bzw. Positionen setzen zu müssen. Aus einer semiologischen und diskurstheoretischen Perspektive benutzt Judith Butler eine Metapher, die die Problematik des Herausfallens der Individuen verdeutlicht: Dem Sozialen sei ein »Gitter der Lesbarkeit« auferlegt.57 Durch ein Gitter kann man durchfallen und gleichsam verschwinden. Damit geht es um die Problematik der Intelligibilität, die, so will ich hier behaupten, maßgeblich durch das Visuelle mit strukturiert ist. »Intelligibilität« wird von Butler als das verstanden, »was infolge der Anerkennung entsprechend der vorherrschenden sozialen Normen produziert wird.«58 Inwiefern den »vorherrschenden sozialen Normen« zu entsprechen mit spezifischen Dilemmata verbunden ist, konnten Studien zur visuellen Kultur angesichts visueller Politiken, die sich für die Anerkennung minoritärer bzw. minorisierter Gruppen einsetzen, zeigen. »Sichtbarkeit«, die in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Topos sozialer Bewegungen geworden ist, ist kaum ohne Ambivalenz zu denken. Das hat Johanna Schaffer am Beispiel antirassistischer und queerer Bildpolitiken auf exemplarische Weise vorgeführt.59 Forderungen nach Sichtbarkeit von marginalisierten oder alterisierten Subjekten sind »von dem Paradox bestimmt, dass sie sich – um sichtbar werden zu können – in die Bilder einschreiben müssen, die für sie im Feld hegemonialer Repräsentation mit ihren Ausschlusseffekten zur Verfügung stehen. Sowohl ›positiv‹ als ›negativ‹ besetzte Bilder/Darstellungen werden gleichermaßen durch Repräsentationsregime generiert«, 60 56 | Zur Herstellung von »Evidenz« und sie begründende Prozesse der Naturalisierung siehe auch S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 98-104. 57 | Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M. 2009, S. 73. 58 | Ebd., S. 11. 59 | Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008. 60 | S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 105.
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Diese Repräsentationsregime sind auch als hegemoniale ihrerseits immer in Bewegung und von unterschiedlichen Konfliktlinien durchzogen. Das Feld des Sichtbaren ist immer auch von konkurrierenden und konfligierenden Bildern bestimmt, von visuellen Repräsentationen, die in bestimmten Traditionen – in einem »kulturellen Bildrepertoire« – verortet und insofern auch »vor-gesehen«61 sind. Sie enthalten Wertungen und Wertzuschreibungen, die mit je spezifischen Subjektpositionen und Anerkennungsmustern, mithin mit Machtverhältnissen verbunden sind. Verschiebungen in den Codes der Intelligibilität sind nicht jenseits des Vorgesehenen, dessen, was zu sehen gegeben wurde, denkbar. Was Butler in ihren Schriften zu Geschlecht und Sexualität entwickelt hat, berührt mehr als die Geschlechterverhältnisse, oder anders formuliert: Über diese ist die grundlegende Einsicht in die gesellschaftlichen Artikulationen »des Menschen« beziehungsweise die prekären Prozesse der Anerkennung von Individuen als »menschlich«62 mit vorangetrieben worden: »Bestimmte Menschen werden überhaupt nicht als menschlich anerkannt und das führt zu einer weiteren Ordnung nicht lesbaren Lebens. Wenn ein Teil dessen, was das Begehren will, darin besteht, Anerkennung zu erlangen, dann wird Gender, insofern es vom Begehren mit Leben gefüllt wird, ebenfalls Anerkennung wollen. Wenn aber die Schemata der Anerkennung, die uns verfügbar sind, genau die sind, welche die Person ›zerstören‹, indem sie Anerkennung vorenthalten, dann wird die Anerkennung zu einem Ort der Macht, durch die das Menschliche verschiedenartig erzeugt wird. Das bedeutet, dass das Begehren in dem Maß, wie es mit den sozialen Normen impliziert ist, mit der Machtfrage zusammenhängt und mit dem Problem verbunden ist, wer für das anerkennbar Menschliche in Frage kommt und wer nicht.« 63
Das »Erscheinen«, das für jedermann Sichtbar-Sein, ist es, was die Individuen ihrer Existenz versichert, so Hannah Arendt,64 (öffentlich) Sichtbar-Sein bedeute ebenso, den Blicken anderer ausgesetzt zu sein. Und Jacques Lacan formuliert mit Verweis auf Merleau-Ponty, »daß wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind«.65 Lacans Überlegungen zum Verhältnis von Bild, Blick und Be61 | Silverman, Kaja: »Dem Blickregime begegnen«, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 41-64; ferner dies.: The Threshold of the Visual World, NewYork/London 1996, S. 58. Zu dem über K. Silverman eingeführten Begriff des »kulturellen Bildrepertoires« siehe auch J. Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 112f. und S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 140f. 62 | J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 10. 63 | Ebd., S. 11. 64 | Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2002, S. 62f. 65 | Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 1987, S. 81.
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gehren wurden wichtiger Bezugspunkt für feministische Analysen, insbesondere im Feld der Filmtheorie, aber auch in der Kunstwissenschaft, insofern er sich mit der Beziehung zwischen dem Sehen des Subjekts und dem Blick des Anderen, somit dem »Erwartungsanspruch der jeweiligen Gesellschaften oder Gruppen« und den von diesen vor-gesehenen Bildern auseinandersetzte.66 »Lacan entfaltete sein Blick-Konzept als eine optisch-psychische Struktur im Rahmen zentralperspektivischer Raumvorstellungen. So sieht sich das Subjekt als Adressat und Zentrum des Bildes und dessen perspektivischer Räumlichkeit. Das Sehen des Subjekts, der nicht bewusste Blick des Anderen […] und die imaginäre Selbstsituierung des einzelnen Subjekts überblenden sich an der Schnittstelle von Bild und Schirm.« 67
Eine Konstellation, die man auch als ›Feld des Sichtbaren‹ bezeichnen kann. Hieran anknüpfend hat Kaja Silverman das Konzept des »kulturellen Bildrepertoires« entwickelt und zugleich darauf hingewiesen, dass Bilderrepertoires nicht nur dominante ideale Vorbilder oder »Fiktionen« enthalten, sondern auch die verdrängten, abgewerteten und abweichenden Bilder, die wiederum komplementär zu den idealen Vorbildern stehen. Somit lassen sich die Schwierigkeiten und die Potenziale der Umdeutung oder Umwertung und der Aufrichtung anderer Vorbilder erschließen.68 »Eine Analyse visueller Kulturen ist darauf angewiesen, die Machtkonstellationen mitzudenken, die solchen Prozessen immanent sind, und das Wie solcher (Re-)Signifizierungspraktiken und Legitimationskonstruktionen auf die spezifischen, sozialen, historischen und kulturellen Konstellationen zu beziehen, aus denen sie hervorgehen.« 69
Praktiken des Zu-sehen-Gebens als Praktiken der Subjektivierung sind somit nicht nur in ihren Verflechtungen mit Schrift, Text sondern auch in ihren Konflikten, Widersprüchen, Ambivalenzen zu analysieren, die wiederum keineswegs immer einfach sichtbar oder offensichtlich sind. Prozesse des Vergessens und Verdrängens oder auch des Unsichtbarmachens, wie sie Theorien des Gedächtnisses bzw. der Tradierung thematisieren, sind gerade angesichts von immer auch in visuelle Praktiken eingewobenen Kämpfen oder Konflikten um Anerkennung mit in Rechnung zu stellen. Kollektive »Gedächtnisrahmen«, wie sie Maurice Halbwachs analysiert hat,70 setzen den Praktiken der Tradierung
66 | Vgl. S. Schade/S.Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 140. 67 | Ebd. 68 | Vgl. dazu auch J. Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 112f. 69 | S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, S. 141. 70 | Vgl. M. Halbwachs: Das Gedächtnis.
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und ihrer Umschreibung Grenzen. Aber auch im »Körpergedächtnis«,71 das sich spontan und ohne Worte durchsetzt, haben sie ihre Spuren hinterlassen. Praktiken der Verschiebung von Rahmungen visueller Praktiken der Subjektivierung freizulegen, bedarf größerer Sorgfalt, als es manches soziologische, interaktionistische Konzept vorgibt, gerade wenn es darum geht, auch den Anteil visueller Praktiken an der Herstellung von Ungleichheit zu erfassen. Was folgt daraus für eine praxeologische Forschungspraxis? Zum einen bleibt die Arbeit der Rekonstruktion des visuellen Materials und darüber auch der dies bestimmenden Rahmungen, es bleibt aber auch die Anforderung einer selbstkritischen Analyse der Praktiken der Analyse, insofern sie selbst vornehmlich eine »perzeptive, eine Praxis der Wahrnehmung, primär der visuellen« ist.72 Hier bietet Butlers Theorie zweifellos wichtige Hinweise, auch im Blick auf die Bedeutung des Begehrens nach Anerkennung. Ihre theoretischen Überlegungen sind bei aller Kritik an der Psychoanalyse, die in manchen Ausformulierungen auch zur Stabilisierung von Machtverhältnissen (bzw. der Stabilisierung heterosexueller Normen) dienen kann, zweifellos auch von ihr inspiriert. Es gibt, schreibt Butler in Die Macht der Geschlechternormen, »keine bessere Theorie zur Erfassung der Wirkungsweisen der Phantasie, die von der Psychoanalyse nicht als eine Reihe von Projektionen auf einen inneren Bildschirm ausgelegt sind, sondern als Teil der menschlichen Beziehungskonstellation selbst. Auf der Grundlage dieser Einsicht können wir dann auch verstehen, wie wesentlich die Phantasie dafür ist, den eigenen Körper oder den eines anderen als Körper mit einem Gender zu erleben. Und schließlich kann die Psychoanalyse im Dienst einer Vorstellung stehen, die die Menschen in ihren Beziehungen zu anderen und sich selbst von einer unaufhebbaren Demut charakterisiert sieht. Es gibt immer eine Dimension in uns selbst und in unserer Beziehung zu anderen, von der wir nichts wissen können, und dieses Nicht-Wissen bleibt uns als eine Existenzbedingung und tatsächlich sogar als Überlebensfähigkeit hartnäckig erhalten.«73
71 | Vgl. dazu grundlegend Hahn, Alois: »Habitus und Gedächtnis«, in: ders., Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2010, S. 97-129. 72 | A. Reckwitz: Praktiken und Diskurse, S. 196. 73 | J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 30f.
Lebensgestaltung im Netzwerk der Praktiken Überlegungen zu einer praxeologischen Konzeption christlicher Subjektivierung Ulrike Link-Wieczorek
Im Zentrum des Forschungsinteresses unseres Graduiertenkollegs stehen Prozesse von Selbst-Bildungen als Prozesse von vorfindbaren und sich doch dabei stets erneuernden und verändernden sozialen Praktiken. Das Kolleg nimmt sich damit eine Aufgabe vor, die mindestens so schwierig ist, wie die Beschreibung des Funktionierens des Straßenverkehrs in einem mehrspurigen Kreisel während der Rushhour in einer italienischen Großstadt. Man kann es auch mit der berühmt gewordenen Formulierung Pierre Bourdieus sagen, in der er die Erzeugung von Habitusformen zu erklären versucht: Sie sind »strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepaßt sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die, dies alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines ›Dirigenten‹ zu sein.«1
Das Ziel dieses Beitrages ist es, die Selbst-Bildung von Christinnen und Christen, vielleicht gemeinhin eher als ›Glaubensbildung‹ assoziiert, in praxeologischer Perspektive zu erfassen. Es soll also um nichts weniger als um Praktiken christlicher Subjektivierung gehen. Die hier zu entfaltende These lautet: Der Mensch, der die Welt und seine Existenz in christlicher Wirklichkeitsperspektive wahrzunehmen und zu gestalten sucht, findet sich dabei in einem Feld 1 | Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2009 [1979], S. 165.
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von miteinander verbundenen bzw. zu verbindenden verschiedenen Typen von Praktiken vor, deren Vernetzung ihm im Prinzip, aber nicht schon konkret vorgegeben ist, sondern die er bzw. sie vielmehr im Laufe der eigenen Biografie immer wieder selbst-justierend vornimmt.2 Ich werde also das Gegenstandsfeld der christlichen Theologie als eine Struktur von unterschiedlichen Typen von Praktiken beschreiben, die in einer lebendigen ›Verweisung‹ miteinander verbunden sind und in dieser Verbundenheit christlich-religiöse Lebensgestaltung und damit stets auch Subjektivierung von Christen und Christinnen, aber auch von religiösen Institutionen, generieren. Unter anderem wird sich dabei zeigen, dass der Sinn der Gottesmetapher nicht festgelegt gesehen werden muss auf ein mechanistisches Weltbild, in dem G-O-T-T als eine unilaterale Kausalinstanz gedacht wird. Vielmehr kann er gerade mit Hilfe der Terminologie des Graduiertenkollegs für die Erfahrung des Gelingens der schwer erfassbaren Prozesse von Subjektivierung zu stehen kommen: Dass das überhaupt klappt, was wir als Subjektivierung zu erfassen versuchen, dieses letztlich unkalkulierbare und doch nicht unbeeinflussbare ›Dazwischen‹ aus Eigensinn und sozialer Praktik – das nennt die christliche Religion G-O-T-T. Im Zuge des Kollegs habe ich jedenfalls gelernt, die Gottesmetapher so zu verstehen. Sie stellt eine Sprache bereit für das ›Dazwischen‹ inklusive der dafür notwendigen Sensibilität.
I. Z UR E INFÜHLUNG : V ON DER UNMÖGLICHEN M ÖGLICHKEIT DER V ERGEBUNG Als ein Beispiel für den Bezug der Gottesmetapher auf komplexe Erfahrungen des zwischenmenschlichen Lebens sei hier an die Praktik der Vergebung erinnert. Aus unserer lebensweltlichen Erfahrung wissen wir: Vergebung ist ein ausgesprochen komplexes Geschehen. Zuerst kommt uns dabei wohl die zeitliche Komplexität in den Sinn: Vergebung bezieht sich auf ein Vergehen in der Vergangenheit, zielt aber intensiv auf das Leben in der Gegenwart und nicht zuletzt in der Zukunft. Sie muss stattfinden inmitten des Bewusstseins der 2 | An anderer Stelle habe ich das mit dem Begriff ›Bezugsarbeit‹ bezeichnet; vgl. Link-Wieczorek, Ulrike: »Subjekt werden in der Suchgemeinschaft. Ökumene des dritten Weges als Basis christlicher Lebensorientierung zwischen Fundamentalismus und Relativismus«, in: Bernd Jochen Hilberath/Ivana Noble/Johannes Oeldemann/Peter De Mey (Hg.), Ökumene des Lebens als Herausforderung der wissenschaftlichen Theologie, Frankfurt a.M. 2008 (Beiheft zur ÖR 82), S. 257-274, sowie dies.: »Relation statt Bekenntnis? Überlegungen zur Grundlage einer interkonfessionellen Hermeneutik«, in: Johann Ev. Hafner/Martin Hailer (Hg.), Binnendifferenzierung und Verbindlichkeit in den Konfessionen, Frankfurt a.M. 2010 (Beiheft zur ÖR 87), S. 101-118.
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Beteiligten, dass sich die Zeit nicht zurückschrauben lässt, und doch hat sie, wenn man so will, gerade diesen Wunsch der Beteiligten zur Voraussetzung: Am liebsten würden sie das Geschehene ungeschehen machen. Vergebung und aus ihr folgende Versöhnung jedoch wird nur wirklich zustande kommen, wenn das Geschehene eben nicht ungeschehen, sondern zunächst einmal in seiner gesamten Komplexität wahrgenommen, ›erkannt‹, und in eine veränderte Haltung sowohl bei der Täterin als auch beim Opfer ›überführt‹ werden konnte. Dazu kann niemand gezwungen oder genötigt werden. Die Komplexität des Vorgangs erweist sich zudem als noch dichter, wenn man Täter/Täterin und Opfer in ihrem weiteren sozialen Zusammenhang wahrnimmt. Da kommen besonders schwierige Fragen auf: Darf ein Opfer überhaupt einem Täter vergeben, wenn es weiß, dass es noch viele andere Opfer gibt, die nicht vergeben wollen bzw. können?3 Wird ihnen nicht auch durch die Vergebung eines anderen eine Vergebung aufgenötigt und sie damit erneut zum Opfer gemacht? Und wie viel Recht auf Mitbestimmung im Vergebungsvorgang haben die Opfer der Opfer, Kinder von Opfern von Gewalt z.B., deren eigene Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden durch die Tat? Noch komplexer wird es, wenn man bedenkt, dass sich die ereignete Vergebung unter Umständen auf noch künftige weitere Opfer des Täters oder der Täterin auswirken könnte – werden auch diese durch die vergangene Vergebung desselben Täters verstärkt zu Opfern? Deutlich wird so, dass der Vergebungsvorgang, wie er sich im zweipoligen Verhältnis von Täter und Opfer darstellen mag, bereits eine Verkürzung der wirklichen Verhältnisse der Verstrickung in den Zusammenhängen menschlicher Schuld darstellt. Den anglikanischen Theologen John Milbank treibt diese Beobachtung so weit zu sagen, dass man eigentlich nicht erwarten könne, dass Vergebung durch die Vergebung der Opfer zustande käme.4 Allenfalls in ganz kleinen Problembereichen überhaupt sei das möglich; schwerwiegende Schädigungen des Lebens jedoch haben es mit zu vielen Opfern zu tun und zudem in der Regel noch zusätzlich mit vielen toten Opfern, die selbst nicht mehr vergeben können. Der französische Philosoph Jacques Derrida, von dem wir immer wieder angeregt wurden, über im täglichen Leben erfahrbare Aporien nachzudenken, spricht von der »Unmöglichkeit der Vergebung«, die 3 | Ein Problem von Überlebenden der Shoa, vgl. Frettlöh, Magdalene L.: »›Der Mensch heißt Mensch, weil … er vergibt?‹ Philosophisch-politische und anthropologische Vergebungs-Diskurse im Licht der fünften Vaterunserbitte«, in: Jürgen Ebach/Magdalene L. Frettlöh/Hans-Martin Gutmann (Hg.), »Wie? Auch wir vergeben unsern Schuldigern?« Mit Schuld leben, Gütersloh 2004, S. 179-215; Link-Wieczorek, Ulrike: »Die Verantwortung der Nachgeborenen: Überlegungen zur Soteriologie im Umgang mit historischer Schuld«, in: Britta Konz/Ulrike Link-Wieczorek (Hg.), Vision und Verantwortung. Festschrift für Ilse Meseberg-Haubold, Münster 2004, S. 121-138. 4 | Milbank, John: Being Reconciled. Ontology and Pardon, New York 2004, S. 51.
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nicht aufhören dürfe »die Vergebung aufzusuchen«.5 Erfahrene Vergebung hält er für ein Wunder; Derrida spricht vom »Einbruch« einer »Gabe von oben«, die er das Messianische nennt.6 Diese Überlegungen über die Schwierigkeiten der Vergebung sollen als ein Beispiel für Erfahrungen dienen, die sich eher beschreiben als in ihrem Funktionieren erklären lassen, ohne dass sie uns deswegen als irrational, unrealistisch oder rein fiktiv erscheinen. Vielmehr gehen wir trotz der beschriebenen Schwierigkeiten eigentlich selbstverständlich davon aus, dass es Vergebung als erfahrbare Realität gibt, wenn auch eine möglicherweise schwierig herbeizuführende. Die Hegemonie des Subjektes vorauszusetzen scheint bei längerem Nachdenken geradezu absurd, obwohl diese Vorstellung durchaus in der spontanen Assoziation von Vergebung vor unserem inneren Auge auftreten mag. Sie erweist sich aber als eine, vielleicht Kommunikation und Denken erleichternde, Verkürzung, als ein Kürzel, das die gemeinte Sache im alltäglichen Gesprächszusammenhang allenfalls ausreichend repräsentiert. Das aber muss nicht heißen, dass das Kürzel nicht ein implizites Wissen über das Mehr an Komplexität der Sache mit transportiert, das in konkreten Praktiken der Vergebung durchaus zum Zuge kommt. Praktiken der Vergebung wären etwa klärende Gesprächsgänge, Äußerung der Bitte um Vergebung, Schuldbekenntnis, Andeutung von Reue und Bereitschaft zu symbolischer Wiedergutmachung auf der einen, Äußerung von Klage und Vorwurf, Aufdeckung der Reichweite der betroffenen Akteure sowie einer Bereitschaft zum Verzicht auf Rache auf der anderen Seite. Trotz eines Wissens um diese realisierenden Praktiken haben es die Beteiligten an der Praktik der Vergebung jedoch nicht in der Hand, ob sich die Vergebung wirklich einstellt. Möglicherweise haben sie aus ihrer Lebenserfahrung bereits eine Art Habitus des Vertrauens in das Gelingen der unmöglichen Möglichkeit entwickelt, eine engagierte Hoffnung in das Gelingen im Fragmentarischen, die man auch als Risikofreudigkeit bezeichnen kann.
II. C HRISTLICHE D EUTUNG IM R AHMEN DER G-O-T-T-M E TAPHER Das Beispiel von den Schwierigkeiten der Vergebung soll hier einfühlend dazu dienen, die christliche Wirklichkeitssicht im Zeitalter des »practice turn«7 zu 5 | Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, aus dem Franz. v. S. Lüdemann, Berlin 2003, S. 37f. 6 | J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 60. 7 | Schatzki, Theodore R./Knorr-Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001.
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erläutern. Ich nehme also den Ansatz des Graduiertenkollegs zum Anlass, die in den jüngeren Jahrzehnten vorgenommene Neubeschreibung des christlichen Traditionsbestandes im ›linguistic turn‹ als ein in Narrationen vermitteltes Interpretationswissen nun durch die ausdrückliche Bezugnahme auf seine praxeologischen Bezüge zu ergänzen.8 Das Beispiel von der hartnäckigen Zuversicht in ein Gelingen der Praktik der Vergebung im alltäglichen zwischenmenschlichen Leben steht hier für die Erfahrung »von unerforschlichen, kontingenten Ereignissen im Leben« (Großhans), der Jaques Derrida das »Messianische« zuschreibt. Der walisische Religionsphilosoph Dewi Zephania Phillips verbindet mit dieser Erfahrung den Satz, »dass das menschliche Leben in Gottes Händen sei«.9 Die Rede von Gott fällt hier also nicht herein in die Erfahrung als eine zusätzliche Erklärung ihrer Ursache. Hans-Peter Großhans referiert die Position von Phillips so: »Es geht in solchen Lebenslagen nicht um Erklärung, sondern um Ehrfurcht und Staunen über das Geheimnis menschlicher Existenz.«10 Die Erfahrung eines solchen Staunens scheint mir in der Thematik der Praktiken der Subjektivierung eine Rolle zu spielen. Im christlichen Sprachstrom allerdings hat diese Erfahrung des Staunens beispielsweise in der Vergebung die Form einer Erzählung, in der die entscheidenden Verben in der Tat von G-O-T-T als einem hegemonialen VerursacherSubjekt zu sprechen scheinen: Gott ist der, der vergibt. Alle andere Vergebungserfahrung kann nur als davon abgeleitet verstanden werden – wie genau, ist strittig in der theologischen Debatte und unter den verschiedenen konfessionellen Ansätzen. Isoliert von der Gesamtstruktur christlicher Wirklichkeitswahrnehmung mag das ein vormodernes, mindestens ein substanzontologisches Subjektverständnis geradezu unverzichtbar erscheinen lassen. Im ›linguistic turn‹ der Theologie erscheint diese Rede jedoch eher als ein Zitat innerhalb der Erzählebene, nicht als eine metaphysisch-substanzontologische Erklärung. Im hier folgenden Versuch, dies in einen ›practice turn‹ hinein weiter zu entfalten, kann die Gott-Metapher eher als Geschehen denn als (alltagssprachlich gedachte) Person für das Gelingen von nicht-hegemonialer Subjektivierung zu stehen kommen. Dazu nun Genaueres.
8 | Vgl. Ritschl, Dietrich/Jones, Hugh: »Story« als Rohmaterial der Theologie, München 1976. 9 | Vgl. Großhans, Hans-Peter: »Geheimnis des Glaubens. Zum Thema der Theologie«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108 (2011), S. 472-489, S. 484, unter Bezug auf Phillips, Dewi Zephania: From Phantasy to Faith. The Philosophy of Religion and Twentieth Century Literature, Basinstoke u.a. 1991, S. 209. 10 | Ebd.
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III. D IE P UPPE IN DER P UPPE : D IE VERSCHACHTELTEN P R AK TIKEN CHRISTLICHER W IRKLICHKEITSORIENTIERUNG Ich werde also im Folgenden das Gegenstandsfeld der christlichen Theologie als eine Verschachtelung von unterschiedlichen Typen von Praktiken zu beschreiben versuchen, in denen die einzelnen gläubigen Akteure zwar aktuell und konkret in unterschiedlicher Intensität beteiligt sind, faktisch aber doch mit allen Typen zu tun haben, weil diese in einem unverzichtbaren Verweiszusammenhang miteinander verbunden sind. Ich werde hier das Geschehen von christlicher Lebensgestaltung systematisieren als einen Zusammenhang von drei tragenden Praktiken: einer Erzählpraktik, einer Vergewisserungspraktik und einer Ratifizierungspraktik. Jede dieser drei Praktiken darf man sich dabei wiederum bestehend aus einer Fülle von beteiligten Praktiken und -formen vorstellen, denn sie sind ja historisch und kulturell gewachsen und wachsen auch weiter. Sie weisen also jeweils unterschiedliche Gestaltungen in verschiedenen historischen Phasen auf, denn sie haben eine jeweils spezifische Geschichte. Zur Erzählpraktik zum Beispiel müsste man die Entstehung des biblischen Textes zählen, aber ebenso die Ansätze der Texterschließung und die Diskurse, die in der Exegese sowie in der Theologie- und Kirchengeschichte entwickelt, erforscht und reflektiert werden, in denen es um adäquate Interpretation und Deutung für den aktuellen Lebensvollzug der Gläubigen geht. Das Bündel der vergewissernden Praktiken werde ich hier weiterhin vornehmlich am Beispiel sakramentaler Handlungen wie dem Abendmahl erläutern. Es enthält aber ein weit größeres Spektrum, in dem sich zum Beispiel Überlieferung und Lebensgestaltung mit Heiligen(legenden), Gebet, Praktiken der Katechese oder der religiös-theologischen Bildung finden. Ebenso lassen sich zum Bündel von Praktiken der Ratifizierung über die im Folgenden erwähnten sozial-ethischen Aspekte der Welt- und Lebensgestaltung hinaus auch Praktiken der Evangelisation, der Werbung zum Mitmachen oder der nur auf den ersten Blick ganz anders gelagerten Deutung eines Lebens und Sterbens als Martyrium hinzuzählen. Die Unterschiede zwischen diesen Typen von Praktiken sind fließend, weil sie letztlich einen Verweiszusammenhang bilden, in dem eine Lebensgestaltung erfolgt, die von Hoffnungen und Werten getragen ist, die wiederum innerhalb dieses Komplexes von Praktiken Sprache und Ausdruck finden, wenn sie auch nicht ausschließlich nur innerhalb dieses Komplexes verstehbar sein können.11 11 | Die Geschichte der Verbundenheit der christlichen Religion mit der Entstehung der Universitäten im Abendland ist ein wesentliches Zeichen für die hier tragende Überzeugung, dass sich das innerhalb der christlichen Praktiken Gepflegte im Prinzip auch nach außen – etwa via Vernunftdiskurs – vermitteln lässt. Vgl. dazu Dabrock, Peter: Antwortender Glaube und Vernunft. Zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie, Stuttgart u.a. 1999.
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Der Verweiszusammenhang der drei Formationen von Praktiken lässt sich nun durchaus mit Hilfe der Differenzierungen beschreiben, die Theodore R. Schatzki schon auf der sehr elementaren Ebene von Praktiken überhaupt ausmacht: Praktiken seien in sich selbst, so sagt er, als ein Verknüpfungs-Zusammenhang (nexus) von verbalen und non-verbalen Handlungen, von »doings and sayings« zu verstehen, der in dreierlei Typen gedacht und erfahren wird: als Zusammenhang durch a) »understanding«, b) »rules« und c) »teleoaffective structures«.12 Die einzelnen, eine Praktik bildenden Handlungen werden also als ein Zusammenhang wirksam werden, a) wenn die Praktik nur aus diesem Zusammenhang heraus überhaupt als solche verstanden wird, b) indem sie in der Bezogenheit eine Regel zum Ausdruck bringen und/oder c) wenn sie Intentionen der Sinngebung gerade in ihrer Verknüpfung realisieren.13 Mir scheint nun, dass sich das auch auf den hier interessierenden Verweiszusammenhang von Bündeln von Praktiken beziehen lässt. Eine Vergewisserungs-Praktik wie das Abendmahl wird kaum als solche verstanden ohne eine Ahnung von der Erzählpraktik sowie ohne das Verstehen um seine Intention der Ratifizierung im Leben außerhalb des Gottesdienstes. Es kann sogar der Fall sein, dass eine konkrete Feier des Abendmahls in ganz besonderem Maße ›signalisiert‹, aus ihrer Verknüpfung mit der sozial-ethischen Ratifizierungspraktik in einer bestimmten Situation verstanden zu werden. So jedenfalls ist es im Beispiel, das im Folgenden herangezogen wird, in dem die Feier des Abendmahls verbunden wurde mit Klage und Protest gegen die Vollstreckung der Todesstrafe an Stanley Tookie Williams.14 Die Praktik des Abendmahles ist also ohne die verstehende Verbindung mit den anderen beiden Praktiken auf jeden Fall nicht als das verstehbar, was sie in diesem Zusammenhang darstellt. Was wie eine Tautologie klingt, erweist sich spätestens dann als Beschreibung eines zum Verständnis notwenigen Zusammenhangs, wenn es zu Missverstehen und Disputen um das adäquate Verständnis einer sich aus diesem Zusammenhang verselbstständigenden Praktik kommt – darum geht es in der Kirchen- und Theologiegeschichte immer wieder in verschiedenen Abendmahlsstreitigkeiten. In ähnlicher Weise ließe sich der Aspekt der Regel-Konstitution in der Verknüpfung der drei Praktiken zeigen. Er ist im Alltags-Verständnis von religiösen Praktiken vielleicht sogar derjenige, der am ehesten spontan abrufbar wäre: werden doch religiöse Selbstverständnisse schnell durch ihren normativen Aspekt generell charakterisiert, etwa wenn ein Element der Erzählpraktik wie der Komplex um die zehn Gebote in seiner Wirkung als ethische Normenbildung in den beiden anderen Praktiken weiterverfolgt werden kann. Gerade das Beispiel 12 | Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 90f. 13 | Vgl. auch den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 14 | S.u. »Praktiken der Ratifizierung«.
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des Abendmahls im Kontext des Protests gegen die Todesstrafe ließe sich auch so beschreiben. Dennoch halte ich den dritten von Schatzki erwähnten Aspekt des Zusammenhangs von Teil-Praktiken für die hier zu entwickelnde Strukturbeschreibung am weiterführendsten: den Hinweis auf das, was Schatzki in eigener Begriffsbildung »teleoaffektive Strukturen« nennt: »[…] I mean that these behaviors express hierarchized orders of ends, purposes, projects, actions, beliefs and emotions that fall within a certain field of possible such orders.«15 Die Bezeichnung »teleoaffectiv« nutzt die Assoziation von Zielorientierung und Affektbezogenheit und versucht so, eine Disposition anzusprechen, in der es um transsituative Lebenszusammenhänge geht, die Schatzki bei Anthony Giddens als »reasons and wants« von Handlungen erwähnt findet.16 Hier geht es nicht nur um die Gestaltung des Augenblicks, obwohl auch die teleoaffektive Struktur nur in einer kontextuell-konkreten Praktik Ereignis wird, also nicht nur als Gedachte relevant wird.17 Auch Wünsche für die Zukunft haben somit ihren praktischen Ort in der Gegenwart von Raum und Zeit, wenn nicht auch schon ihre Erfüllung. Tragische und paradoxe Konstellationen – vom Liebesleid bis zum Martyrium – haben hier ihre praxeologische Verortung. Mir scheint, dass mit diesem Typus von Handlungsverknüpfungen so etwas wie eine lebensgestaltende Intention der Praktik als solcher ausgedrückt werden kann, die von dem Zusammenspiel von Akteuren und Strukturen der Praktik lebt. Insofern kann man die Akteure auch als Individuen beschreiben, die der teleoaffektiven Struktur der Praktik bewusst folgen und sie damit ›perpetuieren‹.18 Die Akteure können aber auch in Krisenzeiten, wenn die Struktur der Praktik zur Disposition gestellt wird, um sie ringen und – zum Erhalt oder zur Veränderung der teleoaffektiven Struktur – sie neu ›justieren‹, indem Teilelemente der Verknüpfung verschoben oder verändert werden.19 Die Liebesbeziehung und ein Leben in religiöser Wirklichkeitsperspektive können diesbezüglich viel gemeinsam haben.20 Die folgende Entfaltung der christlichen Subjektivierung als ein Verweisungszusammenhang von drei Haupt-Praktiken lässt sich also analog zu Schatzkis Beschreibung der Grundstruktur von schon einer Praktik überhaupt verstehen, die sich als ein Zusammenhang von Handlungen erweist. Schatzki 15 | T.R. Schatzki: Social Practices, S. 100. 16 | Ebd., S. 147. 17 | Diesen Aspekt führt Schatzki in seinem Entwurf einer praxeologischen Ontologie weiter aus, auf den für den hier verfolgten Zweck nicht weiter eingegangen werden muss; vgl. Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A philosophical account of the constitution of social life and change, University Park, PA 2002. 18 | T.R. Schatzki: Social Practices, S. 146. 19 | Ebd., S. 101-102. 20 | Vgl. dazu Latour, Bruno: Jubilieren. Über religiöse Rede, Frankfurt a.M. 2011.
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selbst unterscheidet im weiteren Verlauf seiner Überlegungen dann doch noch zwischen Typen von Elementar-Praktiken (U.L.-W), »dispersed practices«, die Basis-Akte der Verständigung und des Verstehens umfassen, und komplexeren Praktiken des sozialen Lebens, die er ›integrative Praktiken‹ nennt:21 »Examples are farming practices, business practices, voting practices, teaching practices, celebration practices, cooking practices, recreational practices, industrial practices, religious practices and banking practices«.22 Während die ersteren – »describing, ordering, following rules, explainig, questioning, reporting, examining, and imagining«23 – vornehmlich mit dem dem rudimentären Verstehen (understanding) dienenden Verknüpfungstypus hinreichend beschrieben seien, werden nur die komplexeren integrativen Praktiken durch die eben genannten Verknüpfungen des Verstehens, der Regeln und der teleoaffektiven Strukturen gekennzeichnet. Im Grunde spricht Schatzki bezüglich der integrativen Praktiken bereits von solchen Bündeln von Praktiken, die in meinen folgenden Überlegungen als Feld von Praktiken der Subjektivierung von Christinnen und Christen im Zentrum stehen werden. Ohne dieser Spur im Detail nachgehen zu können, sehe ich hier mindestens die drei von Schatzki herausgeschälten Verknüpfungstypen auch im Verweisungszusammenhang der christlichen Praktiken, wobei ich vor allem den Gedanken hilfreich finde, dass Verstehen, Verdeutlichung von Regeln und transsituative Intentionalität (teleoaffektive Strukturen) durch die Verknüpfung und somit implizit als intelligibel-praktischer Vollzug der Teilnehmenden in der Formation von Praktiken zuwege gebracht werden. Hilfreich ist Schatzkis Beschreibung auch, weil sie erlaubt, den Praktiken christlicher Subjektivierung eine strukturelle transsituative Intentionalität zuzuschreiben, die gleichwohl von den konkret ›Praktizierenden‹ getragen wird, gerade dadurch, dass sie ihr Selbst als Teil einer über Raum und Zeit hinwegreichenden sozialen Praktik ausbilden. Das genau wäre das Spezifikum des hier zu beschreibenden Typus von Praktiken der Subjektivierung. In der soziologischen Diskussion finde ich diesen Gedanken auch im Nachdenken über ein praxeologisches Konzept von Öffentlichkeit bei Robert Schmidt und Jörg Volbers wieder,24 demzufolge das am konkreten zwischenmenschlichen Agieren Beobachtbare und Sichtbare noch nicht identisch ist mit der Reichweite der Öffentlichkeit der konstituierenden sozialen Praktik. »Öffentlichkeit ist demnach als eine gemeinsam geteilte, in sich plurale Aufmerksamkeit zu verstehen, die nicht auf die unmittelbare Begegnung beschränkt 21 | T.R. Schatzki: Social Practices, S. 91ff. und S. 98ff. 22 | Ebd., S. 98. 23 | Ebd., S. 91. 24 | Schmidt, Robert/Volbers, Jörg: »Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip. Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme«, in: Zeitschrift für Soziologie 40 (2011), S. 3-20. Ich danke Marcus Held für diesen Hinweis.
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bleibt, sondern sich über Symbole, Artefakte und Medien auch über Raum und Zeit hinweg konstituiert.«25 Schmidt und Volbers verstehen Öffentlichkeit als eine Praktik, bei der mehrere Teilnehmende ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Gegenstand, ein gemeinsames Problem etc. richten und dabei »geteilte Aufmerksamkeit« praktizieren. Die Teilnehmer dieser geteilten Aufmerksamkeitspraktik müssen nicht alle konkret anwesend sein, sie sind es in der Regel eher nicht alle. Aber die einzelnen Teilnehmenden der Praktik wissen, dass sie zu einer Gruppe von Aufmerksamen gehören. Diese Bestimmung von Öffentlichkeit als einer sozialen Praktik scheint mir für die Konzeption von religiöser Subjektivierung ungeheuer hilfreich. Die Theologin fühlt sich hier natürlich sofort an ekklesiologische Konzepte erinnert, an Debatten darüber, ob es sinnvoll sei, von ›unsichtbarer Kirche‹ im Unterschied zur sichtbaren zu reden, oder an die Metapher der ›Gemeinschaft der Heiligen‹, die über Raum und Zeit hinaus vorzustellen sei als Generationen-übergreifende Trägerschaft christlichen Zeugnisses. Ob nun im Bewusstsein solcher theologisch-ekklesiologischer Begrifflichkeiten oder nicht – religiöse christliche Subjektivierung muss sich in einer solchen über Raum und Zeit hinwegreichenden Öffentlichkeit verorten, wenn sie als ein je aktualisierter Verknüpfungszusammenhang von Praktiken verstanden werden kann, der sich über die Zeit hin perpetuiert und der nicht nur zufällige einzelne Beteiligte ›im Sinn‹ hat, sondern menschliches Zusammenleben in der Welt überhaupt. Der Vorschlag von Schmidt und Volbers geht aber über diese Skizze der Reichweite der Öffentlichkeit hinaus: Für die Übertragung auf religiöse Phänomene wird sich als besonders hilfreich herausstellen, wie sie die Verbindung innerhalb dieser Gruppe von Anwesenden und Nicht-Anwesenden zu denken vorschlagen: Nicht die solidarischen Gedanken und Gefühle bilden den ›Klebstoff‹ in dieser Öffentlichkeit, sondern Artefakte und Praktiken: »Die geteilte Aufmerksamkeit wird nicht durch die Ko-Präsenz von Teilnehmerinnen gestiftet, sondern mit Hilfe von Artefakten und Praktiken über die Zeit hinweg. Da diese auf den Kontext und die Funktionen hindeuten, für die sie geschaffen wurden, verweisen sie zugleich auch auf die Teilnehmer, die sich ihrer bedienen.«26 Wenn die Öffentlichkeit aus Anwesenden und Abwesenden durch Artefakte und Praktiken als Praktik konstituiert gesehen wird, dann haben wir hier bereits ein Konzept vorliegen, das von einer Struktur von aufeinander verweisenden Praktiken ausgeht und dadurch Öffentlichkeit ›subjektiviert‹. Das lässt sich am Beispiel christlicher Subjektivierung wunderbar zeigen. Ich werde also im Folgenden die christliche Wirklichkeitswahrnehmung als eine Struktur beschreiben, die aus einem Bündel von drei Haupt-Praktiken bestimmt wird: der Elementar-Praktik der Erzählung, dem Bündel der Praktiken 25 | Ebd., S. 8. 26 | Ebd., S. 9.
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der Vergewisserung sowie der Praktiken der Ratifizierung. Dabei ist die Elementar-Praktik durchaus so etwas wie die Grundlage oder der Rahmen des Gesamtbündels, was aber nicht heißt, dass sie empirisch zuerst durchlaufen werden müsste, damit ein Zugang zu den anderen Praktiken erreicht werden kann. Im Erzählen vermitteln sich Christen und Christinnen zwar kommunizierbare Grundverständnisse ihrer Wirklichkeitssicht, aber sie sind eigentlich mit dieser Praktik nie fertig, sondern bewegen sich ihr Leben lang darin. Vergewisserung (z.B. im Gottesdienst) und Ratifizierung (z.B. in der praktischen Lebensgestaltung) hingegen lassen sich eher auch punktuell praktizierend vorstellen, wenn das auch wohl letztlich nur eine gewisse raum-zeitliche Verdichtung und Bewusstwerdung eines im Grunde dauerhaften Agierens darstellt.
1.
Die Elementar-Praktik des Erzählens von Gott
Die Praktik des Erzählens von Gott hat ihren historischen Ursprung in der Entstehung des biblischen Textes. Der kurze Satz ›Gott vergibt‹ hat hier ein weit komplexeres Plot: Er findet sich eingebettet in die Geschichte, die von Gott erzählt wird, von seiner Begleitung des Volkes Israel, von der Sendung des Sohnes, von der Zusage seiner bleibenden Gegenwart im Geist, von der Errichtung seines Reiches, in dem Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Es ist kein Gott der Innerlichkeit, von dem hier erzählt wird. Von einem Gott der Innerlichkeit würde man wahrscheinlich eher schweigen. Die Gott-Erzählung aber schweigt nicht, sondern findet vielfältige Möglichkeiten des Redens von Gott: Erzählung der (stilisierten) Geschichte Israels, Kritik der Propheten, Klage der Psalmbeter. Schließlich ist die Rede von der Sendung des Sohnes, in der Gott fortfährt, seine Gegenwart zu schenken, von Kranken-Heilungen, von Passion und Zusicherung von Auferstehung und Neuanfang. In diesem Plot spiegelt sich in der Rede von Jesus Christus die Erfahrung der Komplexität von Vergebung deutend wieder, von seinem Eintreten für andere im Leben und im Sterben, von der Erfahrung des Verlassenwerdens und der Todesangst. Es gibt die Grundlage der Deutung von Vergebung als ›Hereinbrechen Gottes‹ nur so als Praktik des Erzählens von Gottes Mit-Sein in diesem einen Leben als Mit-Sein mit allen. In der Perpetuierung des Erzählens der biblischen Texte knüpfen die Akteure einen Interpretationsrahmen für ihr Leben und das von anderen, der zeitweilig eine besonders aktuelle Relevanz erhält, aber auch über Zeiten ›ruhen‹ kann. Er kann einen Schatz von je neu zu aktualisierenden Identifikationsangeboten oder aber auch Anlass für Reibung bieten, in der sich dann die eigene Lebensgestaltung vollzieht. ›Erzählen‹ meint also nicht nur den elementaren Akt des Kundgebens, sondern den Komplex des Erschließens der biblischen Texte im Leben von Christinnen und Christen zu verschiedenen Zeiten, historischen Phasen, Orten oder kulturellen Kontexten. Die Erzählpraktik umfasst kirchliche oder familiäre katechetische Sub-Praktiken, organisierte oder sich zu-
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fällig ergebende Gespräche, Bildungspraktiken wie Religionsunterricht, Rezeption von Kunst und Literatur. Sie lebt somit sowohl in stark (kirchlich, familiär, schulisch, universitär) organisierten Sub-Praktiken, aber auch in kontingenten Kommunikationszusammenhängen, wie sie im sozialen Gewebe der eigenen Biografie entstehen. Der amerikanische lutherische Theologe George Lindbeck, der ein Konzept zum Verstehen christlicher Glaubenslehre vorgelegt hat, das sich an der Wittgensteinschen Sprachspieltheorie orientiert, spricht von einer »Intratextualität«, die auf »Glaubwürdigkeit« im Leben der Gläubigen drängt.27 Dafür entwickeln sich in der Geschichte der Exegese bestimmte Hermeneutiken und Interpretationstechniken, durch die ›die Welt der Bibel‹ in das eigene, gegenwärtige Leben hineingezogen werden kann. Die Praktik des Erzählens findet ihre eigentliche Konkretisierung aber vornehmlich in den zwei anderen, stärker situativen christlichen Typen von Praktiken, die ich als Praktiken der Vergewisserung und als Praktiken der Ratifizierung unterscheiden möchte. Beide führen die Erzählpraktik in konkrete Zusammenhänge der Lebensgestaltung und erlauben erst in dieser Kombination, als spezifisch christliche Praktiken der Selbst-Bildung bezeichnet zu werden.
2.
Einüben in das ›Dazwischen‹: Praktiken der Vergewisserung
Eine praxistheoretische Konzeption christlicher Formen der Vergewisserung der Wirklichkeitsdeutung innerhalb des Rahmens der Elementar-Erzählung liegt nahe, denn hier haben wir es mit deutlich erkennbaren sozialen Praktiken zu tun, zu denen nicht nur die teilnehmenden menschlichen Personen gehören, sondern ein ganzes Arsenal von Artefakten, Ritualen, Symbolen, Medien und Räumen. Es variiert zwar durch die Zeiten und Kulturen, jedoch wird es stets im Diskurs einer breiten Öffentlichkeit von Teilnehmenden in einer erkennbaren Kontinuität gehalten, in der die Verbindung von Erzählpraktik und Vergewisserungspraktik gehalten wird. Ich denke hier an religiöse Praktiken wie Taufe, Abendmahl/Eucharistie, an den Gottesdienst, Predigt und Gebet, an Rituale der Zusicherung wie Segnen oder auch an die Erteilung von Absolution im Beichtgespräch. Für praxeologische Forschungen bietet sich hier ein reichhaltiges Feld. Die Sakramente verbinden ausdrücklich sprachliche und materielle Elemente – Wasser, Brot und Wein, Öl bei der Myronsalbung –, Artefakte und räumlich-architektonische Gestaltungen: spezielle Kannen und Kelche, Becken oder – im Fall einer baptistischen Taufe durch Untertauchen – gar ein ganzes Bassin, schließlich den Altar und den Raum für die beteiligte Gemeinde. Die
27 | Vgl. Lindbeck, George A.: Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, aus dem amerikanischen Engl. von Markus Müller, Gütersloh 1994, S. 164ff.
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Praktiken konstituieren sich durch bestimmte Gesten und Körperhaltungen – Knien, Aufstehen, Empfangen eines Kelches, Weiterreichen, Bekreuzigen etc. Es hat nun aber wenig Sinn, diese Praktiken allein in dieser Äußerlichkeit des Ablaufes zu beschreiben. Vielmehr müssen sie aus der mit ihnen verbundenen Funktion verstanden werden, die ich hier als eine vergewissernde Verbindung mit der Erzählpraktik bezeichnen möchte. Auf sie richtet sich, was Schmidt/Volbers die »geteilte Aufmerksamkeit« nennen. Damit ist mehr gemeint als die visuelle Wahrnehmung eines physischen Gegenstandes, etwa des Buches der Bibel. Auch der Terminus ›Aufmerksamkeit‹ erschließt sich, wenn er vom zugrundeliegenden Verb erfasst wird und insofern als eine Praktik des Aufmerkens, aufmerksam-Machens und aufmerksam-Werdens verstanden wird. So wird dem Abendmahl eine anamnetische Funktion zugeschrieben, die – in direkter Weise mit der Erzählebene verbunden – auf eine Aufforderung Jesu zurückgeführt wird.28 Hier ist an den Hinweis Schatzkis zu erinnern, dass das eigentlich Gemeinte sich im Vollzug der Verknüpfung einstellt. Diese Zuschreibung aus der Verknüpfung wird nicht einfach vorausgesetzt und müsste dann ›gewusst‹ und somit auch erlernt werden, sondern sie wird in jedem einzelnen Abendmahl ausdrücklich verbal vorgenommen, indem die sogenannten Einsetzungsworte quasi als ein Zitat der Erzählung gesprochen werden: »Solches tut zu meinem Gedächtnis«. Praxeologisch noch spannender jedoch ist: Die verbale Zuschreibung wird mindestens intensiviert durch die Ritualhandlung der Performance mit den Kern-Artefakten Brot und Wein und der Aktion des Essens und Trinkens. Es klingt geradezu, als hätten Schmidt und Volbers das Abendmahl im Sinn gehabt, als sie schrieben: »Die Artefakte einer Praktik verweisen auf ihre praktischen Gebrauchsgewährleistungen (affordances), auf die Praktik, deren Träger sie sind, sowie darauf, dass auch andere sich auf sie beziehen [können]. […] Dasselbe gilt für Körper: sie sind nicht nur das Ziel sozialer Einschreibungen, sie verweisen auch auf vergangene und gegenwärtige Formen ihres Gebrauchs und fungieren als Displays, die permanent veröffentlichen.«29 Die Zuschreibung geschieht im Abendmahl somit jedes Mal in dieser Praktik neu. Sie aktiviert nicht einfach kognitives Wissen, das als solches sowieso nur einen äußerst geringen Teil der Ermöglichungsbedingungen der Zuschreibung darstellt. Die gesamte Praktik der Performance mit ihren verweisenden Elementen dient jeweils aktuell der Vergewisserung der Erzählung und ihrer wirklichkeitsdeutenden Funktion. Es geht ganz im Sinne Schatzkis um diese 28 | Vgl. Lies, Lothar: Eucharistie in ökumenischer Verantwortung, Graz u.a. 1996. 29 | R. Schmidt/J. Volbers: Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip, S. 10 unter Verweis auf Hirschauer, Stefan: »Der Körper macht Wissen – für eine Somatisierung des Wissensbegriffs«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 974-983 (Herv. i.O.).
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verweisende Vergewisserung, wenn im Laufe der Kirchengeschichte bis in die Gegenwart hinein darum gestritten wird, in welcher Weise das Abendmahl gestaltet und verstanden werden soll: in den Disputen um das Konzept der so genannten Realpräsenz Christi, um die Rolle des Priesters bzw. der Pfarrerin/ des Pfarrers oder um die Frage, wer zu dieser Praktik als Teilnehmende/r überhaupt zugelassen werden dürfe.30 Der vergewissernde Verweis soll deutlich kein rein kognitiver Akt sein. Daher spielen die in der Praktik des Abendmahls eingesetzten materiellen Elemente Brot und Wein und die sinnlichen Akte wie Essen und Trinken eine ebenso aktuell vergewissernde Rolle. Sie ›zitieren‹ jeweils spezifische Fixpunkte in der Erzählung von Gott und Israel (Exodus, Passah) sowie dem Leben und Sterben Jesu und aktivieren sie gleichsam in einer Performance. Die Teilnehmenden an der Praktik des Abendmahls agieren somit konkret im Rahmen der Erzählung und formen diese damit in ihre konkrete Wirklichkeit hinein, so dass sie mindestens einen Moment lang eben nicht nur kognitiv, sondern in elementaren leiblichen Vollzügen in ihr leben können. Es gehört zum besonderen Sinn der Praktik, dass sie sich dabei ›eingeladen‹ fühlen sollen, obwohl es doch auch ihr Entschluss ist, an der Praktik teilzunehmen, der in der Regel schon am viel zu frühen Sonntagmorgen gefällt und umgesetzt werden musste. Auch die Deutung der Mahlfeier als vornehmlich eine zu empfangende oder nicht auch eine darzubringende (Dankes-)Gabe zeigt dieses Oszillieren zwischen Formen und Formen-Lassen, das Bourdieu in der Habitus-Theorie beschreibt. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant zu sehen, dass die Konzepte der verschiedenen kirchlichen Traditionen sich darin unterscheiden, ob die Praktik des Gedächtnismahls hinführt zum Elementar-Erzählen oder ob ein Wissen um die Verbindung von Erzählung und Vergewisserungspraktik nicht doch schon vorausgesetzt werden muss. Darum geht es in unterschiedlichen Konzepten der Zulassung von Säuglingen oder Kindern zum Abendmahl und zur Eucharistie. Aber es geht hier nicht einfach um eine sinnliche Bestätigung frommer Gefühle. Das Verhältnis von Vergewisserungspraktik und Erzählpraktik kann auch eine widerständige, zu Kritik und Selbstkritik führende Reibung mit kulturellen, gesellschaftlichen und kirchlichen Öffentlichkeiten produzieren. Für das Abendmahl kann eine ausdrückliche Inszenierung der Sühneopfer-Metaphorik einerseits als einschüchternde Inszenierung von gesellschaftlichem und kirchlichem Autoritätsgefälle, aber auch als widerständiger Protest gegen Tendenzen von ethischer Vergleichgültigung herauskommen. Das Abendmahl kann aber auch an ganz anderen Elementen der Erzählpraktik andocken: Vor dem Hintergrund einer multiethnischen US-amerikanischen Migrationsgemeinde entwickeln Andrea Bieler und Luise Schottroff ein Konzept von Abendmahlspraktik, 30 | Vgl. Nüssel, Friederike/Sattler, Dorothea: Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt 2008, S. 75-80.
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dass sich nicht an der Rede vom Sühnetod Christi, sondern an der Hoffnung der Auferstehung orientiert: »Im Abendmahl erinnern wir uns an Jesus als ein gefoltertes und getötetes Opfer des römischen Staatsterrors. Und zugleich sagen Christen und Christinnen: In der Eucharistie haben wir Anteil am Körper des auferstandenen Christus, und wir hoffen auf die Erlösung unserer eigenen Körper, der Gemeinschaften, in denen wir leben, und des Planeten Erde. An der verheißenen Auferstehungserfahrung bruchstückhaft zu partizipieren, führt uns nicht jenseits von dieser Welt, in der Körper der Gewalt von systematischem Terror, Unterernährung und Hunger unterworfen sind. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Körperrealitäten und Ernährungspolitik geraten ins Zentrum.« 31
Die Praktik der Vergewisserung führt hier also nicht in die Stimmung einer beruhigten Innerlichkeit. Sie konkretisiert vielmehr die eingangs geschilderten Schwierigkeiten der Vergebung situativ, indem sie zum Beispiel eine Abendmahlsfeier im Dezember 2005 in Kalifornien in einen Trauergottesdienst am Tag der Vollstreckung der Todesstrafe an Stanley Tookie Williams in diesem Bundesstaat stellt.32 Bieler und Schottroff erkären die Umstände folgendermaßen: »Stanley Tookie Williams war ein früherer Anführer der ›Crips‹, einer Straßengang, die 1969 in South Central Los Angeles gegründet worden war. Er wurde am 13. Dezember 2005 im Staatsgefängnis von Kalifornien, in San Quentin, exekutiert, während Tausende von Protestierenden vor dem Gefängnis um einen Gnadenerlass für ihn baten. Er war die zwölfte Person, die vom Staat exekutiert wurde, seitdem Kalifornien die Todesstrafe 1977 wieder eingeführt hatte. Williams wurde für die Morde an Albert Owens, Yen-Yi Yang, Tsai-Shai Lin und Yee-Chen Lin getötet. Seit 1979 saß er im Todestrakt. In den 90er Jahren begann Williams Kinderbücher zu schreiben, in denen er Gewaltlosigkeit und Alternativen zu Gangaktivitäten propagierte; er entschuldigte sich auch für seine Rolle, die er bei der Mitgründung der ›Crips‹ gespielt hatte. Von Beginn seines Urteils an beteuerte er jedoch seine Unschuld an den vier Morden. Williams Geschichte verweist auf den in der US-amerikanischen Gesellschaft vorherrschenden Rassismus insbesondere im Hinblick auf die massenhafte Internierung Schwarzer Männer in den Gefängnissen.« 33
Was kann hier ›Vergebung‹ heißen? Wem muss vergeben werden? Wer kann/ darf vergeben? Immerhin ist das Thema der Vergebung der Sünden durch den Tod Jesu ein traditioneller Kontext für das verknüpfende Verstehen und Vergewis31 | Bieler, Andrea/Schottroff, Luise: Das Abendmahl. Essen, um zu leben, Gütersloh 2007, S. 14. 32 | A. Bieler/L. Schottroff: Abendmahl, S. 12. 33 | Ebd., Anm. 4.
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sern des Abendmahls. Bieler und Schottroff aber vergewissern anders: Sie knüpfen an anderen Erzählelementen an: dem Exodus-Motiv und der Rede von der Gegenwart Gottes in Jesus. Gottesdienst und Abendmahl werden liturgisch als Bezug auf diese Motive gestaltet zur Vergewisserung der Hoffnung auf eschatologische Veränderung. Das Verständnis von Vergebung erfährt eine Veränderung: Es wird prozessual, erlaubt die Wahrnehmung von Komplexität und der Unzulänglichkeit menschlichen Umgangs mit Schuld. Bieler und Schottroff erwarten somit von den Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmern, dass sie über Dispositionen verfügen, um diese eschatologische Vergewisserung zu verstehen. Sie erwarten und ermöglichen durch entsprechende liturgische Elemente, dass eine entsprechende Verschiebung in der Verknüpfungsleistung vorgenommen wird. Dabei setzen sie auf die Verknüpfungskompetenz der Gottesdienstteilnehmerinnen, möglicherweise auch darauf, dass sie die Gottesdienstpraxis kennen. Sie könnten sich auch auf Praktiken religiöser Sozialisation verlassen, seelsorgerische und katechetische. Es kann aber auch gar kein Zweifel sein, dass es eine implizite Voraussetzung christlicher Vergewisserungspraktiken ist, dass sie auch aus sich selbst, aus ihrer performativen Energie heraus wirken. Bieler und Schottroff sehen eine solche Wirkung in der inszenierbaren »sakramentalen Durchlässigkeit« der Abendmahlselemente, der »physischen Dinge und Handlungen wie Essen und Trinken«. In symbolisierender Wirkung erzeugen sie, so muss man Bieler und Schottroff hier verstehen, eine sinnliche Gewissheit der Gegenwart Gottes und transportieren diese in das konkrete gelebte Leben hinein.34 Dabei wird vorausgesetzt, dass diese Akte der Symbolisierung der Gottes-Gegenwart ihre ermutigende Wirkung auch über den Zeitraum der Gottesdienstpraktik hinaus behalten, mindestens, weil sie erinnerbar sind und insofern die Vergewisserung der Praktik der Erzählung im konkreten Lebenszusammenhang verlängern. Eine Untersuchung der in einer Vergewisserungspraktik wirksamen Strategien müsste ihr Augenmerk sicher auch auf die Dialektik von Klage und Hoffnung legen, in der christliche Vergewisserungspraktiken der Gefahr einer trivialisierenden Beschwörung von Erlösungsrhetorik zu entkommen suchen. In dem bei Bieler und Schottroff erwähnten Gottesdienst wird die Liturgie – ein fröhliches Lied, das das Kommen Gottes erwartet – an einer Stelle abrupt unterbrochen, um den Namen des Exekutierten Stanley Tookie Williams in den Raum zu stellen. Mithilfe solcher Inszenierungen begeben sich die Gottesdienstteilnehmer auf den Weg des liturgischen Durchlebens von Erfahrungen der Brüchigkeit des Lebens, in die hinein sie sich die unmögliche Möglichkeit der zugesagten Gegenwart Gottes letztlich gegenseitig zusagen und nicht selbst herbeizu›zaubern‹ meinen.
34 | Vgl. ebd., S. 17.
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3.
Praktiken der Ratifizierung
Der typische Habitus in den Praktiken der Vergewisserung ist wohl der des Innehaltens oder der Unterbrechung des Alltags – daher auch die ausgeprägte Fest-Terminologie in Bezug auf den Gottesdienst. Sie zeigt auch, dass man sich das Innehalten auch nicht nur meditativ still und ruhig vorstellen darf, sondern durchaus überschwänglich, kräftig, laut und fröhlich. Vergewisserung geschieht, wie oben erläutert, nicht in erster Linie kognitiv, sondern in hohem Maße sinnlich und unter Einsatz des Körpers als Performanz-Medium, dem nicht nur darstellender Ausdruck, sondern (Vergewisserung) mitteilende energetische Kraft zuzubilligen ist. Das meinen Bieler und Schottroff mit »sakramentaler Durchlässigkeit«. Ganz anders geht es zu in den Praktiken der Ratifizierung. Man könnte ihnen glatt einen konträren Habitus zuschreiben: Nicht Unterbrechung des Alltags, sondern seine bewusste Formung steht hier im Zentrum. Soziales Engagement, politisches Handeln, lebensgestaltendes Zeugnis werden hier ausgeübt in der Intention der Ratifizierung des in der Praktik der Erzählung Thematisierten und in den Praktiken der Vergewisserung konkret Vertieften. Wo im Bereich der Vergewisserung die ›Institution‹ des Gottesdienstes entsteht, entstehen hier die für das praktizierte Christentum so typischen sichtbaren Institutionen und Organisationen: die Diakonie, die Bildung und – vornehmlich im späten 20. Jahrhundert entstehend – die Friedensarbeit. Um die konkreten Formen und Richtungen der Institutionalisierung der Praktiken der Ratifizierung ist in der Geschichte des Christentums durchaus gerungen worden. Viele Entwicklungen sind später als irrtümlich, fehlerhaft bis zur Verblendung und als Macht missbrauchend kritisiert worden und werden es weiter werden: Natürlich ist hier an Inquisition, Kreuzzüge und gewaltsame Mission zu denken, an die trotz anderer ideologischer Möglichkeiten spröde Öffnung für die Menschenrechte, an die bis in die Gegenwart immer wieder als Praktik der Ratifizierung verstandene verhängnisvolle Verbindung von Thron und Altar, an rassistische und sexistische Verzerrungen von Praktiken der Ratifizierung inklusive heute als inhuman erachteter pädagogischer Praxis. Es wäre vor allem in Hinblick auf diese dunklen Seiten der Praktiken der Subjektivierung im Christentum schmerzlich, innerhalb einer Theorie der Subjektivierung auf jegliche Kriteriologie zu verzichten, die Hilfestellung gäbe bei der Unterscheidung von Gelingen und Scheitern einer ganzen Praktik – nicht nur eines in ihr agierenden Individuums. Die ambivalente Geschichte der Praktiken der Ratifizierung im Christentum fordert zu der Überlegung heraus, ob nicht die Zuschreibung von Eigensinn auch überindividuell in Hinsicht auf eine ganze Praktik gelten müsse. In der Konsequenz dieser Überlegung wäre dann zu fragen, ob nicht auch eine ganze Praktik missbraucht werden und darum scheitern
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kann. Dies von undifferenziertem, ideologisierendem Moralismus abzugrenzen, wäre die besondere Herausforderung für die Theoriebildung.35 Für eine praxeologische Beschreibung christlicher Wirklichkeitswahrnehmung scheinen mir solche Bemühungen auch wichtig, damit christliche Wirklichkeitswahrnehmung nicht ausschließlich spirituell in den Praktiken der Vergewisserung verankert gesehen wird. Denn das hieße, ihm die lebensgestaltende Erdung zu nehmen. Mir scheint, dass der Angelpunkt einer Kriteriologie in der Entdeckung eines bestimmten Habitus liegt, der sich in der Bezugnahme der drei Praktiken, ihrem, um mit Schatzki zu reden, ›teleoaffektiven‹ Eigensinn, und der damit verbundenen spezifischen Subjektform entwickelt. In der christlichen Sprachtradition wird gern (und missverständlich) zwischen heteronomem und autonomem Subjekt unterschieden, wobei das heteronome in der Regel ›den Strauß gewinnt‹, weil es sich aus der Gottesbeziehung heraus definiert.36 In der protestantischen Tradition geht das bis in die These hinein, der Mensch habe, um sein Heil zu erlangen, keine Möglichkeit, auf seinen (Eigen-)Willen zu setzen, sondern sei diesbezüglich ganz und gar von Gottes Gnade abhängig. Diese schon an Augustin anknüpfende These ist im Kampf der zeitgenössischen Auseinandersetzungen vornehmlich negativ als Lehre vom unfreien Willen zugespitzt worden. Man müsste sie nun aus dieser Kampfsituation herausnehmen und ›vom Kopf auf die Füße stellen‹: Dann würde sich ihr Sinn – auch ökumenisch vermittelbarer – als Hinweis auf die Fragmenthaftigkeit der Möglichkeiten der Steuerung heilsamer menschlicher Lebensgestaltung, wie oben beispielhaft in der Skizze der Schwierigkeiten der Vergebung angedeutet, zeigen.37 Ich habe mit dem Beispiel auch die entlastende Intention des ›Gott allein vergibt‹ zeigen wollen. Sie kann aber dann, wenn die G-O-T-T-Metapher in der Form des alltagssprachlichen Personenbegriffs zum Ausdruck kommt, schnell zum autoritären, das menschliche Individuum entwertenden Paradigma werden, mit dem auch in den Praktiken der Ratifizierung dann Exklusivismen entschuldigt, ›vergöttlicht‹ 35 | Dieses Problem betrifft aber eigentlich nicht nur die Praktiken der Ratifizierung. Im Ergebnis ihrer Untersuchung von liturgischen Konzepten im Judentum und Christentum des 19. Jahrhunderts in Deutschland stellt Andrea Bieler fest, dass die konservativere jüdische Neoorthodoxie mit ihrem »zelebrierte[n] Weltabstandsgestus, der sich der Moderne nicht verschloss, […] ein [in sich] gewichtiges gesellschaftskritisches Potential [barg]«. Bieler, Andrea: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel. Jüdische und christliche Reflexionen zu Gottesdienstreform und Predigtkultur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 199. Sie habe letztlich den heraufziehenden wachsenden Antisemitismus »und die zerstörerische Seite der Moderne« eher wahrnehmen können. 36 | Vgl. Höver, Gehard: »Art. Autonomie II. Theologisch-ethisch«, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg 2006, Bd. 1, Sp. 1296f. 37 | Vgl. Huber, Wolfgang: Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, hg. v. Helga Kuhlmann und Thomas Reitmeier, München 2012.
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oder gar gebildet werden können. Das praxeologische Modell hingegen ermöglicht eine Alternative zu der Priorität der Personenmetaphorik in der Gottesrede. G-O-T-T ist dann eher ein Geschehen als eine Person, nämlich das Gelingen von nicht-hegemonialer Subjektivierung. Die Elementar-Erzählung bietet viele Anhaltspunkte dafür, die auch in der Theologiegeschichte durchaus genutzt worden sind und die vielleicht eine implizite Steuerung christlicher Subjektivierungs-Disposition darstellen. Die Rede ist von Motiven wie Kenosis, Selbstzurücknahme, Ohnmacht am Kreuz oder auch das Bittgebet als Abgeben der Bitte an den, der gebeten wird (Röm 8). In Vergewisserungspraktiken und Ratifizierunspraktiken bekommen diese Motive einen erfahrungsbezogenen konkreten Inhalt, der aber immer auch Thema eines Diskurses werden, sich überleben kann und in neuen Subjektivierungsgeschehnissen in der Verschränkung der Praktiken verändert, erneuert, gewandelt wird. Außerdem ist er ständig in der Gefahr, missbraucht oder verzerrt zu werden. Nichts fällt hier vom Himmel, allenfalls sehnt es ihn herbei.
IV. K ONSEQUENZEN FÜR EINE PR A XEOLOGISCHE THEORIE DER S UBJEK TIVIERUNG Diese Überlegungen führen zur Herausforderung an das praxeologische Konzept des Graduiertenkollegs, sich mit der Frage nach dem (teleoaffektiven) Eigensinn von komplexen sozialen Praktiken zu beschäftigen. Gerade in der hier versuchten praxeologischen Beschreibung der Struktur christlicher Wirklichkeitsperspektive, in der Menschen ihr Selbst lebensgestaltend formen, wird das immer wieder deutlich. Auch wird noch genauer über die Rolle von Kirchen und theologischer Wissenschaft innerhalb der Vernetzung der Praktiken nachzudenken sein. Denn spätestens mit dem Gedanken, dass Praktiken auch scheitern können, kommt die Frage nach Organisations-Strukturen auf, in denen dies zu verhindern versucht werden könnte. Somit eröffnet eine praxeologische Sicht auf die Strukturen christlicher Subjektivierung auch die Sicht auf die Rolle ihrer tragenden sozialen Institutionen. Kirche und theologische Wissenschaft können als Räume spezifischer Praktiken verstanden werden, die sich mit der Vernetzung der drei Haupt-Praktiken christlicher Subjektivierung befassen: Die Kirche, indem sie die Transituativität der Praktiken repräsentiert und bewusst hält als globale Gemeinschaft von Akteuren in den christlichen Subjektivierungspraktiken, und die theologische Wissenschaft in ihrer spezifischen Organisation als Raum des Diskurses über die adäquate Aktualisierung der Vernetzung. Beide sind in ihrer Organisationsform durch Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Ansprechbarkeit gekennzeichnet. Öffentlichkeits-soziologisch mit Schmidt und Volbers gesagt: Sie halten durch Akte und Strukturen der Repräsentation und des Disputes das Bewusstsein lebendig, dass es in der christlichen Subjektivierung um einen Prozess geteilter Aufmerksamkeit der Lebensgestaltung geht.
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Teil IV
Autonome Subjekte und der Vorrang des Objekts Überlegungen zu einer Implikation von Praxistheorien Maxi Berger »Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet sowohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch. Sie ist so wenig zu verabsolutieren wie vom Gedanken fortzuschaffen.«1 THEODOR W. A DORNO
In den Praxistheorien changiert das Verhältnis von Theorie und Praxis. Obwohl sie die Bezeichnung einer Theorie im Namen tragen, verstehen sich Praxistheorien nicht als solche. Vielmehr sind sie als in empirischen Kontexten entwickeltes Instrumentarium der materialen Analyse zu verstehen, die eine verfremdende Perspektive auf empirische Phänomene eröffnen soll, durch die Neues zu Tage gefördert wird. Die Intention der Verfremdung empirischer Phänomene gründet aber ihrerseits auf einer Kritik an bestimmten theoretischen Ansätzen, so dass die Praxistheorien einerseits mit einem begrifflichen Apparat umgehen, gegen den sie sich abgrenzen. Andererseits soll dieser begriffliche Apparat nicht unbedingt auch zu ihren konstitutiven Bedingungen gezählt werden. Als Theorien empirischer Analyse praktischer Vorgänge bleiben sie jenseitig der Empirie, während sich eine pure, unbegriffene Empirie gar nicht analysieren oder beschreiben ließe, weil die materiale Analyse schon aufgrund ihres Mediums eine Abstraktion vom Material darstellt. Z.B. erforschen Historiker keine unmittelbare Erfahrung, sondern Quellen, in denen Erfahrung immer schon dargestellt wird und auch ein Ethnograf ist vor das Problem gestellt, seine Beobachtungen in Sprache transformieren zu müssen. Es ist für Menschen unmöglich, die unmittelbare Gewissheit einer Erfahrung in ihrer Unmittelbarkeit zu beschreiben. 1 | Adorno, Theodor W.: »Zu Subjekt und Objekt«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 10.2.: Kulturkritik und Gesellschaft II, Darmstadt 1998, S. 742-758, hier S. 755.
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M AXI B ERGER
Als Beschreibung ist sie durch Wahrnehmung, Sprache und Wissen bereits vermittelt, in der Wissenschaft zumal. Dieses in den Praxistheorien changierende Verhältnis von Theorie und Praxis zeigt sich an einigen Grundannahmen, die im Folgenden auf ihre Implikationen hin untersucht werden sollen, insbesondere die des Verhältnisses der Begriffe Subjekt und Objekt. Die Konzeption der Praxistheorien als Instrumentarium der materialen Analyse beruht unter anderem auf der Kritik an der dichotomen Verwendung der Begriffe Subjekt und Objekt, wie sie in anderen Theorien gesehen wird. Andreas Reckwitz nennt vier Modelle, gegen die sich die Praxistheorien abgrenzen: das des homo oeconomicus, des homo sociologicus, den kognitivistischen Mentalismus und den semiotischen Textualismus.2 Diese Theorien bewegten sich in den ontologischen Dichotomien von Subjekt und Objekt, wobei dem Subjekt meist der Primat zugesprochen werde, was tendenziell zu einer Intellektualisierung von Empirie und Praxis führe. Durch die Verlagerung der transzendentallogischen Subjekteigenschaften auf die empirischen Träger dieser Eigenschaften soll die Dichotomie überwunden werden. Soziale Praktiken werden deshalb nicht handlungstheoretisch aufgefasst, sondern als Körperbewegungen, in denen jemand empirisch in Erscheinung tritt und als Subjekt erst konstituiert wird. Die kognitiven, normativen und sozialen Fähigkeiten werden so aufgefasst, dass sie den Praktiken aufsitzen und erst in deren Vollzug Gestalt annehmen. Subjekte werden so als offene und historischen Veränderungen unterliegende Positionen verstanden, so dass sie den Prozessen nicht als autonome Instanzen vorausgesetzt sind, sondern nach Reckwitz als ein »lose gekoppeltes Bündel von Wissensformen«3 erscheinen. Umgekehrt wird das Objekt als Artefakt aufgefasst, also als etwas, das nur durch die kulturellen Praktiken erklärbar wird. Trotz dieser Neubeschreibung der Relate Subjekt und Objekt scheint es aber ein Problem darzustellen, Selbst-Bildungen und Praktiken zu beschreiben, ohne zu bezeichnen, dass die Momente subjektiven Agierens aus den Praktiken resultieren, und diese Momente auch näher zu bestimmen, also aufzuzeigen, 2 | Reckwitz stellt in seinem Essay »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken« einige Grundannahmen praxistheoretischer Konzeptionen zusammen und betont damit gegen die eingangs formulierte Intention der Praxistheorien deren Status als Theorie. Obwohl dadurch die Gefahr einer Polarisierung besteht, die einzelnen praxistheoretischen Konzeptionen nicht gerecht wird, weil diese differenzierter ausformuliert sind, eignet sich der Text von Reckwitz gut, um einige Tendenzen von Praxistheorien zu verdeutlichen. Die Entscheidung, sich im Rahmen dieses Aufsatzes an dem Reckwitz’schen Text abzuarbeiten, beruht seinerseits auf der Intention, über eben diese Grundannahmen eine größere Klarheit zu schaffen. Vgl. Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301. 3 | Ebd., S. 295.
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was aus den Praktiken jeweils resultiert. Darin bleibt die praxistheoretische Intention, Aspekte des Subjektiven in den Praktiken und Artefakten zu verorten, auf die Begriffe des Subjekts und des Objekts in ihren traditionellen Bestimmungen verwiesen. Zudem sei nach Reckwitz die Abgrenzung gegen dichotome Praxisbegriffe für die Bestimmung des »konzeptuellen Idealtypus« der Praxistheorie konstitutiv: »Getreu dem semiotischen Gemeinplatz, dass Identität sich immer erst indirekt über die Differenzen zu anderen Elementen eines Zeichensystems ergibt, lässt sich der konzeptuelle ›Witz‹ der Praxistheorie darüber hinaus allein im vergleichenden Rückgriff auf die – in unserem Rahmen in konzeptuellen Idealtypen zu behandelnden – alternativen Paradigmata des sozialtheoretischen Feldes klären: Inwiefern geht die Praxistheorie in ihrem Verständnis des Sozialen und des Handelns auf Distanz zu anderen sozialtheoretischen Optionen?« 4
Auch in diesen historisch-kritischen Bezügen auf andere Theorien erhalten sich die Dichotomien – zwar nicht affirmativ, aber darin, dass sie in der Kritik bestimmt negiert werden. Das bedeutet, dass die Begriffe zwar in ihrer Erscheinung negiert werden, dass sie aber in dieser Negation zugleich erhalten bleiben – als dasjenige, was negiert wird. Praxistheorien sind also nicht subjektlos, sowenig wie sie objektlos sind. Vielmehr ist die Frage nach der besonderen Weise der Bestimmung der in den Praxistheorien agierenden Subjekte zu stellen. Reckwitz beschreibt den Status der Agenten als einen, der aus der Praxis erst zu erschließen ist. Wissen erscheint nicht als Eigenschaft einer Person, sondern »in Zuordnung zu einer Praktik.«5 Ähnlich verhält es sich mit anderen traditionell geistesgeschichtlichen Termini: Wissen und Reflexivität erscheinen in der Routine einer Praxis. Sozialität erscheint als situativer Kontext einer bestimmten Lebenssituation. Schließlich wird die Varianz von Abläufen und auch die Fähigkeit zu wissenschaftlichen Innovationen und Neuformulierungen durch die Unabgeschlossenheit möglicher Praxiskonstellationen erklärt, in der die Kontexte nicht determiniert, sondern vielmehr unberechenbar sind, so dass auch nie Dagewesenes in Erscheinung treten kann. Damit handelt es sich bei den praxeologischen Subjekten nicht um Erkenntnissubjekte oder Subjekte, denen Reflexivität und Autonomie aufgrund eines Vermögens zukäme, sondern es sind empirische Subjekte, die innerhalb der jeweiligen Praktik beschrieben werden. Die den Praktiken unterstellten Objekte sind ebenfalls aus dem Kontext bestimmt. Objekte sind Artefakte, die in ihrer bestimmten Funktionalität Resultate vorangegangener Praktiken sind und denen dasjenige Wissen inkorporiert ist, das die empirischen Agenten zu 4 | Ebd., S. 284. 5 | Ebd., S. 292.
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ihren jeweiligen Reaktionen motiviert und so deren Selbst-Bildungen provoziert. Praktiken und Artefakte werden damit zu äquivoken Bestimmungen: Sie sind geschichtlich und ontologisch, kritisch und positivistisch, innovativ und routinisiert. Bei Reckwitz zeigt sich das auch sprachlich. Er kommt nicht ohne die traditionelle Terminologie aus, die er eigentlich kritisieren will: »Auch in bezug auf die individuellen Zwecke und ›Interessen‹ des Homo oeconomicus und die ›Normsysteme‹ des Homo sociologicus wird nun eine praxeologische ›Einbettung‹ und damit Relativierung der fraglichen Phänomene betrieben: Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹ ›anleitet‹; dies schließt teleologische Elemente nicht aus, die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete ›Zwecke‹ oder ›Interessen‹, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/EmotionsKomplexe, die einer Praktik inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ und die sie dann möglicherweise als ›individuelle Interessen‹ umdefinieren. Auch die ›Normativität‹ des Handelns kann praxeologisch nicht als ›handlungsanleitende Sollens-Regel‹ verstanden werden.« 6
Insgesamt liegt in der Intention der Rekonstruktion aller Momente der SelbstBildung aus den Praktiken die Gefahr, dass der Begriff sozialer Praktiken überlastet und unspezifisch wird. Indem die Agenten aus der Sicht der Empirie beschrieben werden sollen und vor allem im Hinblick auf ihre Konstitution durch Praktiken, wird die Praxis als Ursache der Konstitution von Subjekten eingesetzt. Offen bleibt dabei die Frage, was diese Agenten befähigt, Erfahrungen zu machen, zu ordnen und in bestimmter Weise an- und auf die Praxis zurückzuwenden. Wenn diese Fähigkeiten allein einer Praxis, einer Struktur, einem Habitus oder einem Umgangsleib zugeschrieben werden,7 dann wird es schwierig, die menschlichen Prakti6 | Ebd., S. 293. 7 | Z.B. ersetzt der Habitusbegriff bei Bourdieu das autonome Subjekt. Habitusformen werden »als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen [erzeugt, M.B.], als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein.« Der Habitus sei Ausdruck einer Konditionierung des Verhaltens, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen einhergehe. Diese Konditionierung ist weder deterministisch gedacht, weil sie ein kulturelles und geschichtliches Produkt ist,
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ken von tierischen zu unterscheiden, da praxistheoretisch diese Differenz nicht mehr spezifisch aufgefasst werden kann, z.B. als Differenz von Gattungen: Traditionell sind Pflanzen als Lebewesen bestimmt worden, Tiere als sinnenbegabte Lebewesen, Menschen als vernunftbegabte Sinnenwesen. Darüber hinaus ist noch die Frage zu stellen, welches Bewusstsein die Hypothese formuliert, dass Subjekte praxistheoretisch und nicht handlungstheoretisch zu beschreiben seien? Übersetzt in die praxistheoretische Terminologie heißt das: Wie ist eigentlich die Beobachterposition im praxistheoretischen Kontext bestimmt? Wer formuliert das praxistheoretische Programm, und ist dieser jemand in der Selbst-Bildungskonzeption zu beschreiben oder bedarf es dazu einer Terminologie oder eines Modells, das dem praxistheoretischen ergänzend zur Seite gestellt wird? Zum einen ist Beobachtung Praxis: Geschichtlich und sozial situiert, wird sie durch einen Agenten initiiert und durchgeführt, der mit der bestimmten Ausrichtung seines Forschungsprogramms gleichzeitig historisch-kritisch agiert, also sich auf Vorangegangenes bezieht oder sich gezielt abgrenzt. Die Kenntnis der Probleme soziologischer oder allgemeiner geisteswissenschaftlicher Begriffsentwicklung ist seinen Aktivitäten also vorausgesetzt. Zugleich bezieht er sein Wissen reflektierend auf die Forschungspraktik zurück. Weil es aber nicht um die bloße Aufsummierung einer Problemgeschichte geht, sondern ebenso um die Interpretation dieser Probleme, und weil es einer spekulativen Idee bedarf, wie diese Probleme anders angegangen und gelöst werden können als in den kritisierten Modellen, bedarf es auch eines Moments der Antizipation und der Reflexion. Die Praxistheorien gehen davon aus, dass diese Reflexivität und
noch wird der Habitus als Ausdruck einer freien Willensbestimmung verstanden, sondern als eine verinnerlichte Struktur oder als »gemeinsame Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata.« Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1993, S. 98f. Theodore R. Schatzki spricht hingegen von teleoaffektiven Strukturen: »Linking the doings and sayings of a practice is, third, a teleoaffective structure. A ›teleoaffective structure‹ is a range of normativized and hierarchically ordered ends, projects, and tasks, to varying degrees allied with normativized emotions and even moods. […] A practice always exhibits a set of ends that participants should or may pursue, a range of projects that they should or may carry out for the sake of these ends, and a selection of tasks that they should or may perform for the sake of those projects. Participants, moreover, typically carry out end-project-task combinations that are contained in the practice’s teleoaffective structure; that is to say, normativized ends, projects, and tasks determine what is signified to them to do.« Schatzki, Theodore R.: The Site of The Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002, S. 86. Thomas Alkemeyer verwendet den Ausdruck des Umgangsleibs. Vgl. den Aufsatz in diesem Band.
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Antizipation der Beobachterposition aus der Praxis heraus vollständig zu beschreiben ist. Tatsächlich stellt aber die Antizipation die Struktur der Praxis auf den Kopf, was sich an den jeweiligen Zeitordnungen skizzieren lässt: Praktiken sind an das zeitliche Nacheinander von Prozessen gebunden, so dass auch das aus der Praxis resultierende Subjekt als Resultat dieses Prozesses erscheint, nicht aber als Voraussetzung. Die Antizipation hebt hingegen das zeitliche Nacheinander auf, indem sie, bevor die praktische Struktur überhaupt greifen kann, das mögliche Ergebnis vorwegnimmt. In der Spekulation bzw. der Antizipation wird das Nacheinander des zeitlichen Ablaufs einer Praxis konterkariert, weil in der Antizipation Zukünftiges ausformuliert wird, mit dem Ziel, es erst in der Folge unter den gegebenen Bedingungen zu realisieren. Sie steht damit außerhalb der Formen der Anschauung Raum und Zeit, weil sie logisch bestimmt ist. Gleichzeitig ist die Antizipation aber weder unabhängig von diesen Bedingungen in Raum und Zeit, noch ist sie unabhängig von der Praxis ihrer Realisierung. Sie ist nicht in den Praktiken aufzulösen, weil sie zeitlich strukturiert ist, während die logischen Gehalte diesen Strukturen nicht genügen. Kulturelle Praktiken sind notwendige aber keine hinreichenden Bedingungen für die Erklärung der Beobachterposition. Wenn z.B. Bourdieu betont, dass ein Werk (z.B. ein Kunstwerk) seinen Sinn nicht durch die originelle Eingebung eines Dirigenten erhält, sondern dieser Sinn ihm in der »Dialektik von Objektivierungsabsicht und objektivierter Absicht ständig definiert und umdefiniert« wird,8 dann ist damit das Wechselverhältnis von Absicht und Objektivierung beschrieben, es ist aber nicht gesagt, wer hier qua welcher Eigenschaften definiert und umdefiniert. Damit soll nicht gesagt sein, dass in der Beobachterposition ein ahistorischer und festgelegter Sinn manifest ist, der sich der Welt mitteilt. Sie ist aber der logische Ort der Reflexion historisch-kritischer Gehalte und dieser Ort ist an seinen empirischen Träger gebunden. Um dieses spekulative Moment erklären zu können, bedarf es einer kritischen Anleihe an das transzendentale Subjekt, an das ›Ich denke, also bin ich‹ des Descartes oder das kantische ›Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss‹. Dieses Bewusstsein ist originell und unterscheidet das menschliche Denkvermögen von anderen Lebewesen. Es geht in den sozialen Praktiken nicht auf, was aber umgekehrt ebenso wenig bedeutet, dass es sich um eine Instanz handelt, die beziehungslos zu den Praktiken und unantastbar bleibt. Ein Indiz dafür ist, dass sich im Gegenteil die Bestimmung der Beobachterperspektive aus der Auseinandersetzung mit den Problemen der praktischen Selbst-Bildung erst ergeben hatte. Sie scheint also vielmehr in einer Wechselbeziehung zu den Praktiken und den Artefakten zu stehen.
8 | Ebd., S. 103f.
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Das Nachdenken ist also einerseits durch Praktiken bedingt. Es ist selbst auch eine Praxis, aber als Praxis werden seine Inhalte nicht hinreichend beschrieben. Zudem wechselt eine Praxis in dem Moment, in dem sie zum Gegenstand des Nachdenkens wird, ihren Status: Sie ist dann nicht mehr die Praxis selbst, sondern vielmehr der Begriff einer Praxis. Sie wird selbst zum Inhalt des Nachdenkens.9 Andererseits bleibt der Begriff, der Inhalt des Denkens nicht geschichtslos, sondern unterliegt selbst einer historischen Kritik. So ist der Subjektbegriff selbst ein Resultat historisch-kritischer Prozesse und damit modern. Aristoteles hatte keinen Subjektbegriff. Erst mit der Rezeption der Aristotelischen und Platonischen Philosophie von verschiedenen Autoren wie Augustinus oder Thomas von Aquin entsteht ein Problembewusstsein, das schließlich in der Neuzeit auf den Begriff gebracht wird. Im Bewusstsein der historisch-kritischen Auseinandersetzung nennt auch Kant seine Arbeiten Kritiken, und bei Hegel wird die Auseinandersetzung mit kanonischen Texten zum Gegenstand des philosophischen Wissenschaftsbegriffs schlechthin. Umgekehrt steht aber dieser Gegenstandsbereich in einer spezifischen Relation zu kulturellen Praktiken, z.B. könnte man sagen, dass gesellschaftliche Zustände Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion sein können und umgekehrt die gesellschaftlichen Zustände auch Bedingungen dieser wissenschaftlichen Reflexion darstellen. Wissenschaftliche Arbeit ist historisch und gesellschaftlich situiert und insofern auch kulturelle Praxis. Nicht zuletzt ist das Nachdenken die Tätigkeit eines historischen Individuums, das damit auf einen sozialen Kontext verwiesen ist, über den es nachdenkt und der die gesellschaftlichen Bedingungen vorgibt, unter denen nachgedacht wird.10 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wäre das Problem wie folgt zusammenzufassen: Die Praxistheorie moniert mit Grund die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt. Diese führt dazu, dass die Betrachtung von Praxis unter dem Primat des Subjekts vorgenommen und damit die Praxis intellektualisiert wird. Die darin liegende Hierarchisierung von Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt ist zu kritisieren. Der Versuch, dieses Problem praxistheoretisch zu lösen, führt seinerseits auf die Paradoxie, dass der Praxis wie den Objekten Eigenschaften zugesprochen werden müssen, für die weder die Praxis noch die Objekte die Ursache sein können: Ursache für die Gegenständlichkeit der Artefakte ist ihre Mate9 | Luc Boltanski unterscheidet entsprechend zwischen einem »pragmatischen« und einem »metapragmatischen Register«. Vgl. den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band. 10 | Elitarismus wäre dann auch nicht dem Wissen vorzuwerfen, das zu erarbeiten bestimmte ökonomische und bildungsinstitutionelle Voraussetzungen erfordert, sondern umgekehrt: Elitarismus wäre Ausdruck eines Bildungssystems, dass nicht für alle gleichermaßen zugänglich ist.
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rialität. Ursache der bestimmten Form dieses Materials, durch welche das Artefakt funktional ist, kann nicht nur die Materialität sein. Es hat diese Funktion, weil es das Resultat einer Praxis ist, diese selbst ist also ebenso als Begründung heranzuziehen. Was aber ist der Grund für die Praxis? Ein Agent, der als Initiator einer Praxis nicht nur deren Resultat sein kann, sondern dieser ebenso als Subjekt vorausgesetzt ist, und zwar nicht nur zeitlich, sondern vor allem logisch und eben dieser logische Gehalt kann in den Praktiken nicht aufgelöst werden. Offensichtlich bleibt also der intendierten praxistheoretischen Überwindung der Dichotomie von Subjekt und Objekt dieses Begriffspaar zumindest logisch unterstellt. Sie sind unterschieden. Statt von Dichotomie könnte deshalb von Differenzierung gesprochen werden. Entscheidend ist, dass die Begriffe nicht ohne ihre Vermittlung mit dem jeweils anderen gedacht werden können. Sie stehen sich nicht in zwei Welten verbindungslos gegenüber, sondern sind nur in ihrer wechselseitigen Vermittlung denkbar. Adorno formuliert dieses Wechselverhältnis wie folgt aus: »Strenggenommen hieße Vorrang des Objekts, daß es Objekt als ein dem Subjekt abstrakt Gegenüberstehendes nicht gibt, daß es aber als solches notwendig erscheint; die Notwendigkeit dieses Scheins wäre zu beseitigen.« 11
Ein Vorschlag, diese Vermittlung zu beschreiben, ohne die Einsichten der Praxistheorie zu hintergehen, wäre, die Momente Subjekt und Objekt sowie ihre Differenz als analytische Differenzierungen zu betrachten, wobei diesen analytischen Differenzen Gegenstandsbereiche korrespondieren. Obwohl damit Form und Materie, analytische Begriffe und substantielle Bestimmungen aufeinander verwiesen werden, wird die Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht einfach reproduziert, weil innerhalb dieser Gegenstandsbereiche Subjekt und Objekt spezifisch vermittelt werden. Die Differenzierung nach Gegenstandsbereichen meint nicht, dass der Gegenstandsbereich des Subjekts auf der einen und der Gegenstandsbereich des Objekts auf der anderen Seite festgezurrt werden. Vielmehr sind die Bereiche hinsichtlich ihrer Gegenstände unterschieden, und innerhalb der jeweiligen Bereiche sind Subjekt und Objekt spezifisch und wechselseitig miteinander vermittelt. Der logische Ort dieser Vermittlung aber ist das Subjekt. Der Gegenstandsbereich der Philosophie ist somit ein anderer als der Gegenstandsbereich der Soziologie oder der Geschichte oder der Kunst usw. Mit dem Unterschied in diesen Gegenstandsbereichen geht einher, dass auch die jeweiligen Praktiken in ihrer spezifischen Anpassung an ihren Gegenstand dennoch unterschiedliche Gegenstandsbereiche bezeichnen, die nicht alle identisch sind, sondern mit je bestimmten Objekten zu tun haben, durch die die jeweiligen 11 | T.W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, S. 754.
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Praktiken sich voneinander unterscheiden. Praxistheorien als Instrumentarien materialer Analyse haben es mit Bestimmtem zu tun, ohne diese Bestimmungen allein aus der Beschreibung praktischer Strukturen hervorbringen zu können. Die Bestimmungen der Praktiken sind die Zutat der historischen Subjekte. Wenn in den Praxistheorien betont wird, dass Praktiken in Reaktion auf vorgefundene Strukturen zu verstehen sind, dann gilt das auch für diese Theorie selbst: In der Praxistheorie werden die Objekte als Ausdruck des historisch situierten, gegenwärtigen wissenschaftlichen Bewusstseins vorgefunden. Das praxistheoretische Forschungsprogramm konstituiert sich selbst erst durch die kritische Abgrenzung von bestimmten wissenschaftlichen Theoremen. Damit wäre der Vorwurf, dass in der Dichotomie von Subjekt und Objekt eine Hierarchisierung zugunsten des Subjekts impliziert sei, aufgehoben. Wenn es um das Wechselverhältnis von Gegenstandsbereichen geht, dann ist keiner wichtiger als der andere, sondern sie erklären Unterschiedliches. Umgekehrt ist es aber sinnvoll, die Resultate kritisch aufeinander zu beziehen, so dass es ebenso denkbar ist, dass bestimmte Ergebnisse sich ausschließen. In dieser Weise wäre dann auch eine erkenntnistheoretische Reflexion auf das Subjekt erstens eine spezifische Reflexion: Das Subjekt, auf das reflektiert wird, wird in dieser Reflexion zugleich zum Objekt in dem Sinne, dass es Gegenstand seiner eigenen Reflexion wird. Diese erste Reflexion ist erkenntnistheoretisch. Zweitens wäre zu fragen, wie Agenten in sozialen Kontexten agieren und wie sie durch diese Kontexte produziert, beeinflusst, motiviert und verändert werden. Diese zweite Reflexion wäre praxistheoretisch und Gegenstand materialer Analyse. Drittens wäre zu überlegen, wie die praxistheoretische Analyse auf die kulturelle und historische Bedingtheit der Subjekte und Agenten und auf die erkenntnistheoretische Reflexion bezogen werden kann, ohne die Differenz und Spezifität der Begriffe zu relativieren oder die Hierarchisierung von Subjekt und Objekt zu reproduzieren. Wie diese Relation zwischen erkenntnistheoretischer und praxistheoretischer Perspektive wiederum aussehen könnte, sei an zwei Modellen skizziert, in denen das Verhältnis von Subjekt und sozialer Objektivität thematisch wird: Das eine stellt den Begriff des Subjekts in seiner Relation zur geschichtlichen Praxis dar und zwar aus der Perspektive des Subjekts (Hegel). Das andere greift kritisch auf dieses erste Modell zurück und begreift den expliziten Geschichts- und Praxisbezug der Philosophie aus der Perspektive eines Vorrangs des Objekts (Adorno). »Das Subjekt als produktive Einbildungskraft, reine Apperzeption, schließlich freie Tathandlung, verschlüsselt jene Tätigkeit, in der real das Leben der Menschen sich reproduziert, und antizipiert in ihr, mit Grund, die Freiheit. Darum verschwindet so wenig Subjekt einfach in Objekt, oder irgendeinem vorgeblich Höheren, dem Sein wie es hypostasiert werden darf. Subjekt ist in seiner Selbstsetzung Schein und zugleich ein
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Indem die Grenze idealistischer Reflexion aufgezeigt wird, wird der Verweis auf die geschichtliche und soziale Situation von Subjekten und Objekten möglich und damit auch die Anknüpfung an die praxistheoretische Analyse aufgezeigt.
D IE E RFAHRUNG DES S ELBSTBE WUSSTSEINS BEI H EGEL »Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes seyn, als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seyenden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auffassen das Begreifen abzuhalten.«13
Gegenstand der Phänomenologie des Geistes ist die Erfahrung, die das Selbstbewusstsein machen muss, um einen Begriff von sich formulieren zu können. Hegel setzt diese Erfahrungen aber nicht als gegen die denkende Tätigkeit verselbständigte, sondern sieht in der Reflexion selbst diejenige Instanz, die die zu reflektierenden Erfahrungen macht. Das Machen von Erfahrungen ist dabei aber umgekehrt kein passives Erleiden, sondern bezieht das Ordnen der Erfahrungsinhalte ein. Es geht um Erfahrung als intellektuellen Prozess. Diese Erfahrung bliebe aber in sich leer, wenn sie nicht zugleich praktisch würde, und das in zwei Richtungen: indem sie einerseits Erfahrung mit praktischen Gehalten ist und andererseits sich als Erfahrung auch in Praxis zurückübersetzt. Hegel zeigt in der Phänomenologie des Geistes deshalb ebenso auf, welche praktischen, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen diese Erfahrung hat. Damit stellt die Phänomenologie ein Modell dar, wie die Vermittlung der Form des logischen Subjekts mit der zeitlichen Erfahrung einerseits und der Praxis andererseits im Bewusstsein ihrer Differenz gedacht werden kann. Auf die Probleme der Subjektbildung in der Praxistheorie übertragen könnte man auch sagen, dass in der Phänomenologie von Hegel die Frage thematisiert wird, wie sich Subjekte im Bewusstsein ihrer historischen Situation selbst bilden, wobei Selbst-Bildung hier in einer Hinsicht als spezifisch philosophische Praxis verstanden wird: Es geht zunächst um die theoretische Praxis der Begriffsentwicklung, nicht um körperliche Praktiken. Aber die theoretische Praxis 12 | T.W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, S. 755. 13 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Hauptwerke. Bd. 2: Phänomenologie des Geistes, Darmstadt 1999, S. 63 (Herv. i.O.).
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der Begriffsentwicklung wird von Hegel dahingehend reflektiert, dass sie durch körperlich ausgestattete und situierte Individuen bedingt ist und dass diese Bedingtheit der denkenden Individuen ihre Erfahrungen ökonomisch, sozial, geschichtlich und kulturell beeinflusst. Hegel reflektiert in der Einleitung zur Phänomenologie darauf, dass das Subjekt nicht naiv ist, sondern eines, das in einer bestimmten historischen Situation Vorstellungen vorfindet, die ihrerseits in einer historischen Abfolge stehen. Das Subjekt erscheint also in zwei voneinander unterschiedenen Hinsichten. Die eine Hinsicht meint das Subjekt, insofern es sich im Prozess der Phänomenologie und in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Vorstellungen seiner bewusst wird. Die andere Hinsicht meint das Subjekt, insofern es diesem Prozess auch logisch vorausgesetzt ist, indem es den Ort darstellt, in dem die voneinander unterschiedenen Erfahrungen ihre Einheit haben. Gleichwohl ist es selbst historisch situiert, weil es bereits einen Fundus von geistesgeschichtlichen Vorstellungen vorfindet, die es ordnet und mit denen es sich in seinen Erfahrungen konfrontiert sieht. Das Subjekt ist einerseits logisch als eine Form vorausgesetzt, andererseits entwickelt es sich in der Erfahrung des Selbstbewusstseins der Phänomenologie zur konkreten Gestalt. Es ist Resultat. Beide Momente fallen in der Einheit eines Subjektes zusammen, in einer Einheit, die die Einheit von Einheit und Unterschied ist. Die Relation und Einheit zwischen dem Subjekt und dem Objekt stellt sich in der Erfahrung des Selbstbewusstseins erst her und wird dialektisch als Negationsverhältnis gedacht: Das Selbstbewusstsein ist das Vermögen, Erfahrungen zu machen, und es ist damit jeder bestimmten Erfahrung vorausgesetzt. Bevor es eine bestimmte Erfahrung gemacht hat, ist es unbestimmte reine Form und damit so gut wie nichts. Es will sich in seinen Erfahrungen aber erkennen und diese Selbsterkenntnis ist sein Zweck. In der bestimmten Auseinandersetzung mit dem, was es wissen will, gelangt es zugleich zu einer konkreten Vorstellung seiner selbst. Dieses Wollen ist der Ausdruck eines Willens, mit dem sich die Endlichkeit und Körperlichkeit der Subjekte geltend macht. Die Vorstellung des Selbstbewusstseins von sich verändert sich also und ist damit selbst in der Zeit und von den Gegenständen der Erkenntnis abhängig. Es geht aber auch nicht in den Erfahrungen auf, sondern ist zugleich dasjenige, was die Erfahrungen ordnet, erinnert, und in Beziehung zueinander stellt. Die Vermittlung hat so die Form der Negation der Negation: 1. Das Selbstbewusstsein ist Selbstbestimmung und damit abstrakt gegen das Objekt gesetzt. 2. Es ist dadurch unbestimmt. Etwas, das unbestimmt ist, ist aber so gut wie nichts (1. Negation). 3. Indem es trotzdem existiert, hat es mindestens eine Bestimmung, nämlich nicht das Objekt zu sein (Negation der Negation).
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4. Hegel formuliert also eine Dichotomie von Subjekt und Objekt, die aber zugleich negiert wird. Andererseits ist dasjenige, was vom Selbstbewusstsein unterschieden wird, ein Moment seiner Bestimmung und damit auch Bestandteil dieses Selbstbewusstseins – die negative Relation zum Objekt ist affirmativer Bestandteil der Selbstbestimmung des Selbstbewusstseins. Darin liegt bei Hegel aber nicht nur die Lösung, sondern zugleich auch das Problem, denn das Verhältnis von Subjekt und Objekt wird aus der Perspektive des Subjekts gedacht. Indem er das Andere des Selbstbewusstseins schlechthin zum Bestimmungsmoment des Ichs macht, tendiert sein Erfahrungsbegriff dazu, empirische und historische Tatsachen zu intellektualisieren.14 Diese Tendenz zur Intellektualisierung wird durch die Praxistheorien kritisiert. Aber andererseits wird auch bei Hegel das Verhältnis von Subjekt und Objekt nicht naiv dichotom bestimmt in dem Sinne, dass das Subjekt als Subjekt nur eine transzendentale Hülle bliebe, die mit der Wirklichkeit nicht mehr in Verbindung zu bringen sei. Im Gegenteil zeigt er, dass die Bestimmungen Objektivität und Wirklichkeit erst durch die Reflexion und Erfahrungen des Selbstbewusstseins hindurch generiert werden. In Abgrenzung von Hegel wäre aber zu unterscheiden zwischen der Existenz von Objekten, die der Erfahrung vorausgesetzt bleibt, und ihrer Bestimmung, die in der Erfahrung begründet wird. In der Erfahrung des Subjekts der Phänomenologie des Geistes wird nicht nur das Subjekt bestimmt, sondern auch die Gehalte, gegen die es sich abgrenzt. Auch hier bleibt es ein je zu bestimmendes Wechselverhältnis, in dem Subjekt und Objekt miteinander vermittelt werden. Daran wäre festzuhalten. Dennoch entsteht sogar noch das Problem der Intellektualisierung von Objektivität bei Hegel aus der Überlegung heraus, wie die Dichotomie von Subjekt und Objekt zu überwinden ist. Er beantwortet dieses Problem in zwei unterschiedlichen Weisen. Erstens benutzt er das Argument, dass das Bewusstsein des Unterschiedes von Subjekt und Objekt in das Subjekt fällt, nicht in das Objekt. Zweitens, wenn Subjekt und Objekt nicht dichotom sind, dann deshalb, weil beide bereits Bestimmungsmomente des jeweils anderen an sich tragen, so dass diese Bestimmungsmomente begründet aufeinander bezogen werden können, um sie zu vermitteln. Es ist für die Menschen deshalb möglich, ihre Zwecke in der Natur oder der Welt zu verwirklichen, weil diese Welt nicht im Rohzustand vorliegt, sondern in der Geschichte schon bearbeitet worden ist. Die Menschen finden Artefakte vor und damit eine Objektivität, an die sie mit ihren Zwecken anknüpfen können. Dieses Argument ließe sich auf die Praxis-
14 | Ausführlich zu dieser These vgl. Berger, Maxi: Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel. Zum Wechselverhältnis von Theorie und Praxis, Berlin 2012.
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theorie beziehen, weil darin die Geschichtlichkeit der jeweiligen Praktiken und der Artefaktcharakter der Objekte ausformuliert wird. Die weitere Ausführung von Zwecken fasst Hegel im Begriff der zweckgerichteten Tätigkeit, mit der er sowohl Arbeit im ökonomischen Sinne meint, als auch die Arbeit philosophischer Selbstbestimmung. Die den Artefakten durch die zweckgerichtete Tätigkeit eingebildete Funktionalität macht sie für bestimmte Absichten nützlich, für andere hingegen nicht. Insofern provozieren sie bestimmte Arten des Umgangs mit ihnen, andere schließen sie hingegen aus. Umgekehrt determinieren sie aber die Zwecksetzung der Handelnden nicht, denn diese haben in einer vorangegangenen Praxis die Funktionalität einem bestimmten Objekt eingearbeitet, das seinerseits wiederum Artefakt ist. Diese Reihe regrediert, ohne dass ein erstes Artefakt benannt werden könnte. Auch resultiert aus dem Artefakt nicht die Absicht, die mit einer bestimmten Praxis realisiert werden soll, sondern umgekehrt wählt der Praktiker aus verschiedenen Möglichkeiten etwas aus und erst aufgrund dieser Entscheidung erweisen sich bestimmte Artefakte als zweckmäßig oder eben nicht. Im Unterschied zur Praxistheorie belässt es Hegel aber nicht dabei, sondern verknüpft das erste mit dem zweiten Argument: Die Differenz zwischen Subjekt und Objekt, Menschen und Welt ist nur auf dem historisch erreichten technischen Stand für bestimmte Praktiken und Artefakte vermittelt worden; Hegel will aber darüber hinaus zeigen, dass mit dem historischen Stand des reflektierenden Bewusstseins die Differenz auch grundsätzlich vermittelt, die Dichotomie aufgehoben worden ist. Damit argumentiert Hegel teleologisch: Um zweckgerichtete Tätigkeit zu beschreiben (z.B. einen Tisch aus Holz zu bauen), unterscheidet man den Zweck der Tätigkeit (also den Tisch zu bauen) vom Material (hier dem Holz), in dem der Zweck des Tisches verwirklicht werden soll, schließlich den Prozess der Bearbeitung als Prozess zweckgerichteter Tätigkeit und das arbeitende Subjekt als initiierend. Diese Art der Beschreibung zweckgerichteter Tätigkeit überträgt Hegel auf das Verhältnis von Mensch und Welt schlechthin: Der Zweck der philosophischen Tätigkeit ist die grundsätzliche Vermittlung von Mensch und Welt und zwar sowohl denkend als auch praktisch in einer bestimmten historischen Situation. Ein Indiz für die Intellektualisierung des geistesgeschichtlichen Prozesses ist z.B., dass die Erfahrungen des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie nicht chronologisch geordnet sind, sondern so, dass sie auf das Argumentationsziel hin ausgerichtet sind. Dieses Argumentationsziel ist der Begriff des »absoluten Wissens«, also ein Begriff, in dem das Programm der Vermittlung der Vorstellungen mit der Objektivität in der Subjektivität eingeholt sein soll. Interessant ist dann noch die Frage, wer das Subjekt dieser Tätigkeit ist, wer das Subjekt der Subjektivität und des »absoluten Wissens« ist, denn die Individuen überschauen als Individuen weder den geschichtlichen Prozess in seiner Gesamtheit, noch sind sie als Individuen dem Anspruch an ihre Bestimmung als
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Gattungswesen adäquat. Deshalb ist das Subjekt der Vermittlung von Mensch und Welt bei Hegel der »Geist«, der zwar von den Individuen getragen und ausgeführt wird, der aber zugleich mehr ist, als die Einzelnen. Auf diese Weise werden bei Hegel sowohl die Objektivität als auch die geschichtlichen Individuen tendenziell zu Funktionen, um die Dichotomie von Subjekt und Objekt zugunsten eines Begriffs von Subjektivität zu vermitteln, der die Individuen in gewisser Hinsicht auch transzendiert. Diese Tendenz Hegelscher Philosophie bereitet den Weg zur Intellektualisierung empirischer und historischer Zustände.
A DORNOS V ORR ANG DES O BJEK TS UND EIN A USBLICK AUF DEN B EGRIFF GESELLSCHAF TLICHER P R A XIS »Daß noch der Mensch als Konstituens ein von Menschen Gemachtes ist, entzaubert das Schöpfertum des Geistes. Weil aber der Vorrang des Objekts der Reflexion aufs Subjekt und der subjektiven Reflexion bedarf, wird Subjektivität, anders als im primitiven Materialismus, der Dialektik eigentlich nicht zuläßt, zum festgehaltenen Moment.« 15
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt kehrt Adorno – unter anderem kritisch gegen Hegel gewendet – um. Er betrachtet es nicht aus der Perspektive der Subjektivität, sondern aus der Perspektive der Objektivität; während er den Kern dieses Verhältnisses, die Reziprozität von Subjekt und Objekt, kommentiert, verweist er zugleich darauf, dass die jeweilige Gewichtung dieses Verhältnisses selbst nicht unabhängig vom geschichtlichen Kontext zu verstehen ist. Die Frage, welches Moment des Wechselverhältnisses von Subjekt und Objekt betont und welchem der Primat zugesprochen wird, sei selbst aus der besonderen gesellschaftlichen Situation heraus zu begreifen. Das bedeutet aber nicht, dass sich das Verhältnis geschichtlich relativiere. Die wissenschaftliche Interpretation des Verhältnisses von Subjekt und Objekt reagiert auf einen historischen Kontext und in dieser Reaktion stellt diese Interpretation ein wahres Verhältnis dar. Das ist damit gemeint, wenn vom Zeitkern der Wahrheit gesprochen wird. »Objektivität ist auszumachen einzig dadurch, daß auf jeder geschichtlichen Stufe und jeder der Erkenntnis reflektiert wird sowohl auf das, was jeweils als Subjekt und Objekt sich darstellt, wie auf die Vermittlungen.« 16
Diese Objektivität wird dann auch nicht als ontologisches Abstraktum gedacht, sondern betrifft immer zugleich einen bestimmten Gegenstandsbereich, des15 | T.W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, S. 749. 16 | Ebd., S. 751.
A UTONOME S UBJEK TE UND DER V ORRANG DES O BJEK TS
sen Interpretation seinerseits nicht auf die Herstellung der Identität von Subjekt und Objekt abzielt. Objekt wäre durch die Kritik des Identitätsanspruches des Denkens hindurch kritisch zu denken, also nicht subjektlos, sondern durch das Subjekt hindurch in seiner Eigenständigkeit zu erfassen, so dass zugleich dessen Tendenzen gegen die Identität des Subjekts erscheinen. Objekt ist nach Adorno das Nichtidentische, das durch den Identitätszwang des Subjekts hindurch in seiner Nichtidentität zu erfassen wäre. Die zentrale Instanz der Subjekt-Objekt-Dialektik ist daher für Adorno das leibliche Subjekt, das zwar auf sich als Subjekt reflektieren kann, das diese Reflexivität aber erschleicht, wenn es sie nicht auf die eigene Leiblichkeit und Leidensfähigkeit bezieht, die nicht durch die Reflexivität hervorgebracht wird, sondern umgekehrt in die konkrete Ausbildung einfließt. Das, was vom Subjekt nicht vorab reflexiv identifiziert werden kann, erweist sich so gerade durch konsequente Reflexion als ein Vorrangiges. Damit denkt Adorno Subjektivität und Objektivität in ihrer Differenz. Aber zugleich bestimmen sie sich in dieser Differenz wechselseitig, ohne dass Objektivität zum Moment von Subjektivität würde. Vielmehr weist sie eine immanente und zugleich kulturell, gesellschaftlich und geschichtlich geprägte Eigenständigkeit auf, deren Relevanz am Gegenstand jeweils nachgewiesen wird. Diese Eigenständigkeit zeigt sich deshalb an Kunstwerken in anderer Weise als an gesellschaftlichen Phänomenen. Oder anders gesagt: Praktiken sind nicht gleich Praktiken. Praktiken wären dann in den jeweiligen Kontext einzuordnen und in bestimmter Negation zum erkennenden Subjekt zu bestimmen. Zugleich müsste man mit Adorno sagen, dass Praxistheorie selbst einen Zeitkern hat.17 In ihr wird nicht nur die geschichtliche Situierung von Praktiken reflektiert, Artefakte als gemachte Objekte, sondern mehr noch: Praxistheorie ist Ausdruck einer besonderen geschichtlichen Situation – so wie Praktiken als vereinzelte Akte von der Gesellschaft beeinflusst sind, in der sie stattfinden. Beides wäre aufzuzeigen.
17 | Vgl. dazu auch Bourdieu: »Die aufmerksame Beobachtung des Laufs der Welt müßte eigentlich zu mehr Bescheidenheit Anlaß geben, zeigt sie doch klar, daß intellektuelle Macht nie wirksamer ausgeübt wird als dann, wenn sie der von den Tendenzen der Sozialordnung gewiesenen Richtung folgt und damit deren Auswirkungen, die auch im Denken selbst am Werk sind, durch ihr Schweigen oder ihre Kompromisse unweigerlich verstärkt.« Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, S. 9. Daraus muss nicht eine konstante Herrschaftsstellung von Denken als solchem geschlossen werden, sondern zunächst die Gefahr der strategischen Teilnahme akademischer Deutung an historisch bestimmten Herrschaftsformen.
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M AXI B ERGER »Die Anstrengung von Erkenntnis ist überwiegend die Destruktion ihrer üblichen Anstrengung, der Gewalt gegen das Objekt. Seiner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut. An den Stellen, wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeit wittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch; das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt; das hat auch fürs Verhältnis von Theorie und Praxis seine Konsequenz.«18
Das Verhältnis von Theorie und Praxis stellt sich für Adorno dann dialektisch dar, selbst als ein Negationsverhältnis, in dem Theorie und Praxis sowohl eigenständige und voneinander unterschiedene Gegenstandsbereiche bezeichnen als auch aufeinander kritisch bezogen sind. »Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.«19
18 | Theodor W. Adorno: Zu Subjekt und Objekt, S. 753. 19 | Ebd., S. 748.
Verkörperter Geist Vicos Neue Wissenschaft und die Frage nach einer Ästhetik der Kultur Johann Kreuzer
I. E INLEITUNG Zeiten ändern sich. In der Epochenschwelle 1800 und erneut in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bildete – nicht zuletzt unter dem Eindruck der katastrophischen Daten, die die Geschichte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts geliefert hatte – die Semantik dessen, was die Rede von Subjekt und Subjektivität thematisiert, einen zentralen Fokus soziokultureller Selbstverständigung. Was hier mit der Frage nach dem oder einem Prinzip Subjektivität zur Diskussion stand und zweifellos im Hinblick auf das Regulativ Selbstbestimmung gestärkt werden sollte, dokumentiert etwa der 1976 erschienene Sammelband Subjektivität und Selbsterhaltung.1 Zeitlich parallel hatte ›das Subjekt‹ den ihm seit seiner Emanzipation aus ständischen Vorgaben und absolutistischen Hierarchiesystemen angestammten Platz freilich verloren. Mit dem Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, als den Kant Aufklärung begriffen und gefordert hatte, fand es sich auf den Sandbänken geschichtlicher Praxis verlaufen. Die Archäologie seines Tuns, die Grabungen in den Substrukturen seiner Bildung sollten ohne es auskommen. Zusammen mit der Loslösung des Informationstransports von körperlichen Bedingtheiten und verstärkt durch sie – im Datenfluss kommt es auf kein Subjekt mehr an, was es braucht, sind ›User‹ – scheint eine Art Verschwundstufung der Subjektivität kennzeichnenden Leistungen der Status quo zu sein. Ein unbeklagter Verlust – die Wiederkehr der
1 | Ebeling, Hans (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a.M. 1976, der u.a. auch den Aufsatz »Vernunft und Selbsterhaltung« enthielt, den Max Horkheimer im Winter 1941/42 für die Fest-/Gedenkschrift für Walter Benjamin geschrieben hatte.
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Lust des Aufgehens in Funktionen – gepaart mit der Phobie des schlechten Gewissens ist von der Überfrachtung des Prinzips Subjektivität geblieben. Zwei Protagonisten in dem erwähnten Band Subjektivität und Selbsterhaltung – Hans Blumenberg und Dieter Henrich – haben die Frage, ob Subjekt- wie Subjektivitätsphobie den Schlussstrich ziehen unter eine Entwicklung, mit der sich das singularisch verstandene Subjekt in die Untiefen seiner Selbstdiagnose versenkt hat, kurz vor Beginn des 21. Jahrhunderts aufgegriffen und in verschiedener Weise beantwortet. Dieter Henrich wiederholte 1997 die These, dass die Frage nach dem Subjekt die Frage nach wissender Selbstbeziehung sei: Eine erste These, »[…] derzufolge die Beherrschung des Prädikates, kraft dessen Selbstbezüglichkeit artikuliert wird, die wissende Selbstbeziehung ausmacht , impliziert also, daß das, wovon in dieser Beziehung gewußt wird, überhaupt nur in einem damit besteht, daß von ihm gewußt wird.«
Aus dieser logischen Implikation lasse sich als zweite These »verstehen, daß die Rede von einem Subjekt unabweisbar ist, zugleich aber auch, warum sie immer wieder unter den Verdacht gerät, einen Geist oder einen Spuk in die Philosophie einzuführen. Subjekte entstehen spontan und in einem mit dem Wissen von sich und sind deshalb nicht wie irgendwelche Gehalte oder Gegenstände zu thematisieren.« 2
Macht These 1 plausibel, dass auch die Beobachtung von Praktiken – sofern sie solche sind, die die Beobachtenden sich zuschreiben – Selbstverhältnisse bedeuten und insofern in originärer Weise zeigen, was die Rede vom Subjekt reflektiert, so scheint mit These 2 in einer Art Münchhausentrick das von ›irgendwelchen Gehalten oder Gegenständen‹ unterschiedene Subjekt allein selbstherrlich gesetzt. Hier mag jene idealistische (besser: cartesianische) Hybris durchdringen, deren Stranden Foucault diagnostiziert hat. Denn durch bloße Beziehung auf sich gewinnt kein Subjekt ein Selbstverhältnis. Als bloß mentale Selbstbezüge bringen die Subjekte sich vielmehr zum Verschwinden. Wir brauchen, um auch nur ein Wissen von uns selbst zu bekommen, den Bezug auf etwas, was der ›Geist‹ nicht aus sich heraus vermag. »Subjekte können also füreinander nur über irgendeine Art der Verkörperung erschlossen werden […]«, folgert deshalb Henrich und fügt dieser Notwendigkeit der Verkörperung die Notwendigkeit der Sprache hinzu, die darin besteht, »daß ein verkörpertes Subjekt einem anderen sein eigenes Für-sich-Sein gegenwärtig lassen werden kann, ohne es 2 | Vgl. Henrich, Dieter: »Subjektivität als Prinzip«, zit.n. ders.: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, S. 58-59 (Herv. i.O.).
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doch in sich hineinzuziehen.«3 Verkörperung und Sprache vermag ein Subjekt nicht selbst zu bilden bzw. zu machen. Es bildet sich in ihnen. Aber vielleicht ist das immer noch zu sehr aus einer cartesianischen Perspektive heraus formuliert, in der ›Verkörperung‹ wie ›Sprache‹ vom Selbstverhältnis und der Selbsterfahrung eines fiktionalen Ich her gedacht werden? Macht man ernst mit der Einsicht, dass das Selbstverhältnis (wissender Selbstbeziehung) nicht ausreicht, soll das, was Selbst heißt, ein Verständnis von sich bekommen, dann wird man es mit der Instantaneität des auf sich gestellten Cogito nicht mehr voraussetzen können. Darauf weisen (aus dem Nachlass herausgegebene) Überlegungen von Hans Blumenberg hin. »Der seit dem Vorrang der cartesischen Evidenzfrage gegebene Primat der Selbsterfahrung des Cogito sum hat seinen Glanz verloren, seit es um die immanente Identität des Cogito […] ebenso fraglich bestellt ist wie um die des Sum in seiner zeitlich-lebensweltlichen ›Geschichte‹. […] Die absolute Selbstgewißheit, die Descartes im Cogito sum gefunden und für die Epoche zum Maßstab philosophischer Wahrheit erhoben hatte, brachte die […] Entscheidung für die ›Zeitlosigkeit‹ der Wahrheit zum vermeintlichen Abschluß, aber auch zur Krise ihrer Haltbarkeit.« 4
Es genügt nicht, ›Verkörperung‹ wie Intersubjektivität und Sprache von einem (nur) scheinbar evidenten Ego her zu thematisieren. Vielmehr kommt es darauf an, das Selbst, das mit diesem Ego gemeint war, von den Formen seiner Verkörperung her und aus der Geschichte der Intersubjektivität, in der es sich einzig bilden kann, zu begreifen. Indem es sich in der Geschichte seiner Verkörperungen und Äußerungsformen erkennt, wird das Selbstverhältnis des Subjekts – wird sein als ›Geist‹ zu verstehendes Tätigsein – zu einem Selbstverständnis. Zu diesem Zweck gilt es, eine folgenreiche Reinigung des Geistes, die Descartes vorgenommen hatte, zurückzunehmen: »Der Evidenzmoment des ›Ich denke‹ […] hatte die Memoria zum dubiosen Organ der um ihren Absolutismus verlegenen Subjektivität entwertet […].« Ist das Haltbarkeitsdatum einer solchen absolutistischen »Gewißheit von eigenen Gnaden« überschritten, wird »[…] ›Erinnerung‹ in einem sich vertiefenden Verstande zum Medium aller möglichen Selbstverständnisse.«5 Die Reduktion, die die Frage(n), was ein Subjekt macht, mit der Autarkie eines reinen Selbstverhältnisses beantworten zu können meint, bedeutet einen willentlichen Eingang in selbstverschuldete Erinnerungs3 | D. Henrich: Subjektivität als Prinzip, ebd., S. 70/71 (Herv. i.O.). 4 | Blumenberg, Hans: »Der Befehl des Delphischen Gottes und die Ironie seiner Spätfolgen«, in: ders., Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1997, S. 115-125, hier S. 121-122 (Herv. i.O.). 5 | Alle Zitate: ebd. u. S. 124.
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losigkeit. Die lebensgeschichtlichen Fäden, die Erinnern bilden, sollen um der Selbstgewissheit des Subjekts und seiner Wissenspräsenz willen abgeschnitten werden (können). Weil dieses absolutistische Abschneiden das Selbst seiner Geschichte beraubt und isoliert, führt es zu der eingangs skizzierten Subjekt- wie Subjektivitätsphobie. Mit sich allein gelassen, erfährt sich das Ich überfordert.6 Umgekehrt sind damit aber auch die Türöffner benannt, die aus dieser Überforderung heraus- und von bloßen Selbstverhältnissen zu Selbstverständnissen führen: Es braucht Geschichte und Erinnerung, Verkörperung und Sprache, will man verstehen, was einen selbst wie ein Selbst bildet.
II. V ICOS A NSAT Z Geschichte und Erinnerung, Verkörperung und Sprache sind nun zentrale Bestandteile des Programms jener Scienza Nuova, die Giambattista Vico zu Beginn des 18. Jahrhunderts formuliert hat. Dieses Programm enthält zugleich eine entschiedene Kritik am cartesianischen Cogito-Paradigma wie der damit verbundenen Subjektauffassung. Insofern lohnt ein Blick auf diesen neapolitanischen Kulturphilosophen aus dem Barock – gerade um der Frage nach dem Selbst und dem, was es bildet, willen. Dafür stehen die in der Überschrift dieser Überlegungen angesprochenen Stichworte: ›Verkörperter Geist‹ wie ›Ästhetik der Kultur‹. Vicos Neue Wissenschaft zielt darauf – so könnte man summarisch sagen –, dass die Tätigkeit des Geistes in den Praxen der Subjekte sich zeigt und in diesen Praxen auch gleichsam abzuholen bzw. zu entdecken ist, was Geist als Selbstverständnis der Subjekte heißt.7
6 | Vgl. dazu jetzt – wenn auch in anderer Perspektive: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010. 7 | Zu Vicos Programmatik vgl. Horkheimer, Max: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1971; Fellmann, Ferdinand: Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg i.Br./München 1976; Löwith, Karl: Vicos Grundsatz verum et factum convertun tur, Heidelberg 1968; Viechtbauer, Helmut: Transzendentale Einsicht und Theorie der Geschichte, München 1977; Otto, Stephan: Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie, Stuttgart u.a. 1989; Hösle, Vittorio: »Einleitung. Vico und die Idee der Kulturwissenschaft«, in: Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissen schaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann, Hamburg 1990, XXXI-CCLXXVII; Trabant, Jürgen: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie, Frankfurt a.M. 1994; Kreuzer, Johann: »Art. Vico«, in: Julian Nida-Rümelin/Monika Betzler (Hg.), Ästhetik und Kunstphilosophie von der
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Signifikant ist hier Abschnitt 331 von Vicos Scienza Nuova.8 Er beginnt mit der Feststellung, dass in »solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, dieses ewige Licht erscheint, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.« 9
Vicos Neue Wissenschaft geht von den Praxen aus, die diese Welt (den ›mondo civile‹) als von Menschen gemacht erscheinen lassen, und er begreift diese Praxen nicht als bloß sekundär-akzidentelle Außenwelt einer mental-vorgängigen Innenwelt. Diese ›Innenwelt‹ erscheint vielmehr als die Art und Weise, in der das Tun der gemeinschaftlich-politischen Außenwelt bewusst bzw. zur Sprache gebracht wird: die »modificazioni della nostra […] mente umana« sind die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Weil Geschichte von Menschen produziert ist und produziert wird, ist die Selbstreflexion des ›mondo civile‹ und der ihn durchwirkenden Praxen möglich wie notwendig. Sie ist möglich: Auf Grund der ›Wahrheit‹, dass der ›mondo civile‹ Resultat wie Erscheinungsweise menschlicher Praxen ist, lassen sich die Prinzipien dieser Welt geschichtlicher Objektivationen »innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes« finden. Und sie ist notwendig: Es genügt nicht, diese Modifikationen handlungstheoretisch allein zu sortieren. Praxen sind keine sekundären Erscheinungsweisen gleichsam dingfest zu machender Absichten.10 Praxen sind vielmehr der primäre Ort, an dem sich zeigt (und selbst modifiziert), was subjektive Absichten sein mögen. Erst in ›objektiver‹ (somatischer, materieller, Antike bis zur Gegenwart in Ein zeldarstellungen, Stuttgart 1998; SCHWERPUNKT Vico, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2010), Nr. 2. 8 | Zitiert wird die Scienza Nuova (im Folgenden: SN) nach der von Fausto Nicolini – vgl. Giambattista Vico: La scienza nuova seconda [1744], hg. v. Fausto Nicoli ni, 2 Bde., Bari 1953 u.ö. – eingeführten Abschnittszählung. Ergänzt findet sich jeweils der Nachweis in der Übersetzung: G.B. Vico: Prinzipien einer neuen Wissen schaft über die gemeinsame Natur der Völker (im Folgenden: Prinzipien). 9 | SN 331 (Herv. i.O.); »Ma, in tel densa notte di tenebre ond’ è coverta la prima da noi lontanissima antichitá, apparisce questo lumo eterno, che non tramonta, di questa veritá, la quale non si può a patto alcuno chiamar in dubbio: che questo mondo civile egli certamente è stato fatto dagli uomini, onde se non possono, perché se ne debbono, ritruovare i princípi dentro le modificazioni della nostra medisima mente umana« – Übersetzung vgl. Prinzipien, S. 142. 10 | Zum praxistheoretischen Kontext vgl. den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Band.
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dinglich beobachtbarer) Gestalt werden und sind Handlungen wirklich – erst in den dingliche Gestalt (und auch materielle Gewalt) habenden Handlungspraxen lassen sich die kulturkonstitutiven Prinzipien des ›mondo civile‹ erschließen. Das zu tun, ist die programmatische Absicht der Scienza Nuova. Ihre Durchführung geht aus von dem, was Vico »Poetische Metaphysik« nennt. Sie setzt sich fort in die »Poetische Logik« – den Überlegungen zur Praxis der Sprache, die als Vicos Sprachphilosophie zugleich das methodologische Zentrum der ganzen Scienza Nuova bilden. Und sie reicht über »Poetische Moral«, die »Poetische Ordnung der Familien« mit der Rekonstruktion ursprünglicher Gewalt, »Poetische Politik« (unter Einschluss der Diskussion der Staatsformen), »Poetische Geschichte« weiter bis hin zur »Poetischen Physik«, »Poetischen Kosmographie«, »Poetischen Astronomie« wie schließlich zu »Poetischer Chronologie« und »Poetischer Geographie«. Das Adjektiv ›poetisch‹ macht die besondere Bedeutung kenntlich, die der Scienza Nuova das schöpferische Tun der Sprache wie Sprache als schöpferisches (hervorbringendes: ›poietisches‹) Tun hat.11 Dazu später mehr. In der Gestalt ›objektiver‹ (materiell bzw. dinglich beobachtbarer) Handlungspraxen lassen sich die kulturkonstitutiven Prinzipien des ›mondo civile‹ erschließen. Weil Geschichte Produkt menschlichen Tuns ist, ist sie der rationalen Rekonstruktion zugänglich. Diese Grundthese formuliert das ›Vico-Axiom‹: »Verum et factum convertuntur«. Als kulturelle Praxis bedeutet Geschichte keine zweite Natur im Vergleich zu einer ersten, die ihr ursprünglich vorausging. Von einer ›Natur der Dinge‹ unter Absehung vom gesellschaftlichen Zusammenhang des ›mondo civile‹ zu sprechen, ist für Vico eine Fiktion. »Die Natur der Dinge [natura di cose] ist nichts anderes als ihre Entstehung zu bestimmten Zeiten und auf bestimmte Weise [nascimento di esse in certi tempi e con certe guise]; immer dann, wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht anders.«12 11 | Zur Auffassung der Sprache bei Vico vgl. Apel, Karl Otto: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, 3. Aufl., Bonn 1980; Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein, Frankfurt a.M. 1964, 1. Bd.; Coseriu, Eugenio: »Giambattista Vico«, in: ders., Geschichte der Sprachphilosophie, neu bearb. u. erw. v. Jörn Albrecht, mit einer Vor-Bemerkung v. Jürgen Trabant, Tübingen u.a. 2003, S. 273316; Wohlfart, Günter: »Vico – Der poetische Charakter der Sprache«, in: ders., Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel, Freiburg i.Br./München 1984, S. 52-118; Kreuzer, Johann: »Die Sinnlichkeit der Sprache«, in: SCHWERPUNKT Vico, S. 285-303. 12 | SN 147; vgl. Prinzipien, S. 94; vgl. auch SN 346. – Marx’ klassische Definition »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte
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Eine ›Natur der Dinge‹ unabhängig von und entgegengesetzt der Praxis geschichtlicher Zeichenproduktionen zu behaupten, ist eine bloße Phantasmagorie. Das gilt sowohl für Spielart eines reduktionistischen Naturalismus wie für die eines reduktiven Mentalismus. Gerade hier wird deutlich, dass Vicos Ansatz, den menschlichen Geist von seinen geschichtlichen Objektivationensformen her zu begreifen, gegen Descartes’ Trennung der »res extensae« der Natur vom denkenden Ding einer »res cogitans« gerichtet ist.13 Oder positiv formuliert: Vicos Ansatz geht von der Zusammengehörigkeit von Natur und Geschichte aus. Geist ist ihm nicht das Andere der Natur, sondern sich zu sich selbst verhaltende Natur. Der Inbegriff dieser Einheit von Geist und Natur ist der in seiner Erscheinungsweise als Geschichte zu verstehende ›mondo civile‹. Das Tun – die Praxis – endlicher Wesen wirkt auf ›die‹ Natur nicht nur ein: Dass wir auf sie einwirken, ist vielmehr selbst Teil der Natur. ›Praxis‹ – das Hervorbringen von Zeichen und Äußerungsformen – ist, anders gesagt, die Art und Weise, in der sich Natur (zumindest für endliche Wesen) zeigt. ›Die Natur der Dinge ist nichts anderes als ihre Entstehung zu bestimmten Zeiten und auf bestimmte Weise‹. Hier gewinnt auch die Frage einer sich auf Vico berufenden ›Ästhetik der Kultur‹ ihren Sinn und ihre diagnostische Trennschärfe. Das Programm einer Neuen Wissenschaft gilt der Analyse der Bedingungen und der Art sowie der inneren Form dieses Prozesses geschichtlich erscheinender Wirklichkeit als der Zusammengehörigkeit von »Ideen, Sitten und Taten des Menschengeschlechts«.14 Da diese Praxen mit sinnlichen, d.h. sich zeigenden und beobachtbaren Zeichen verbunden sind, erfordert die storia dell’ idee, costumi e fatti del gener umano eine Ästhetik der Kultur. Dabei ist ›Ästhetik‹ nicht im eingegrenzten (neuzeitlichen) Sinn einer Regionaldisziplin zu verstehen.15 Die geforderte Ästhetik gilt vielmehr der sinnlichen Erscheinungsweise und den sinnlichen Bedingungen des Universums sich in Zeichen zeigender Praxen insgesamt – angefangen, wie oben erwähnt, der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen […]« (Deutsche Ideologie, zit.n.: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, 4. Aufl., Berlin 1969, 3. Bd., S. 18) tradiert Vicos Programmatik. 13 | Vgl. Strassberg, Daniel: »Die paranoische Konstruktion moderner Subjektivität. Zu Vicos Kritik am cartesianischen Ego«, in: SCHWERPUNKT Vico, S. 263-284. 14 | »Auf diese Weise gelangt diese Wissenschaft dazu, in einem Zug eine Geschichte der Ideen, Sitten und Taten des Menschengeschlechts [storia dell’ idee, costumi e fatti del gener umano] zu sein […]. Und aus allen dreien wird man die Anfänge der Geschichte der menschlichen Natur hervorgehen sehen; und diese sind die Anfänge der Universalgeschichte, die, was ihre Anfänge betrifft, noch mangelhaft zu sein scheint« (SN 368 [Herv. i.O.]) – vgl. Prinzipien, S. 164/165. 15 | Vgl. Art. Ritter, Joachim: »Ästhetik, ästhetisch«, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie, hg. v. dems. u.a., völlig neu bearb. Aufl., Basel/Stuttgart 1971, Bd. 1, Sp. 555-564.
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von den unmittelbaren Gestalten in Ökonomie über Jurisprudenz und Moral bis hin zu den kulturellen Selbstverständigungsformen in Religion, Philosophie und Dichtung.
III. D IE M IT TE Z WISCHEN K ÖRPER UND G EIST Die Einsicht, die uns vom Stand der Selbstreflexion gesellschaftlicher Erfahrung und der Befindlichkeit wie des Status von Subjektivität in ihr zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu Vico brachte, war die, dass das Selbstverhältnis des Subjekts zu einem Selbstverständnis wird oder dadurch zu werden vermag, dass es sich in der Geschichte seiner Verkörperungen und Äußerungsformen erkennt. ›Sich in seinen Äußerungsformen zu erkennen‹: damit rückt ins Zentrum von Vicos Scienza Nuova der Begriff von Sprache bzw. das Begreifen der Wirklichkeit der Sprache. Besteht geschichtliches Tun in der Praxis von Zeichen und Äußerungsformen, so gilt die Frage nach der Wirklichkeit der Sprache der inneren Form dieser Praxis – und im Kern damit der Frage, wie sich in den Modifikationen des menschlichen Geistes die Prinzipien dieser geschichtlichen Welt finden lassen. Das setzt freilich voraus, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass Sprache die bloße Verlautbarung eines mental (vor)gegebenen Gehalts, den ein Ego durch Introspektion clare et distincte gemacht hätte, oder die allein sekundäre Wiedergabe einer Praxis wäre. Statt dessen ist Sprache als Äußerung der Modifikationen unseres Geistes selbst eine Praxis, ja sie wird im Hinblick auf die kulturelle Selbstreflexion des ›mondo civile‹ als Inbegriff einer Welt der Zeichen zu einer Art Schlüsselpraxis – macht man in der Auffassung von Sprache jene Wendung mit, die sie Vico als ›verkörperten Geist‹ verstehen lässt. Praxen begegnen uns in den Formen, in denen sie sich zeigen und in beobachtbarer Weise ›äußern‹. Dieses Sich-Zeigen in verkörperten Äußerungsformen kommt einer stummen Schrift gleich – wir verstehen sie dann, wenn sie uns bedeutend werden, das heißt, wenn wir sie als Zeichen eines Tätigseins oder Tätiggewesenseins lesen. Was dergestalt in stummen Zeichen sich als Tätigsein zeigt, wird am poetischen Sinn der Sprache nur eigens bewusst.16 Weil sie die Modifikationen des menschlichen Geistes und seines Tätigseins in sich enthält – und nicht nur enthält, sondern produktiv tradierbar macht –, bezeichnet Vico Sprache als das »geistige Wörterbuch der Geschichte«. Ehe darauf genauer eingegangen werden kann, braucht es aber den Hinweis auf die schon erwähnte Erklärung, die Vico für sein Verständnis von Sprache gibt
16 | Vgl. die Hinweise auf Vico, die sich in Derridas »Grammatologie« eingestreut finden, und zusammenfassend: J. Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen.
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– eine Erklärung, der sich zugleich die Überschrift dieser Überlegungen (Verkörperter Geist) verdankt. Diese Erklärung bezüglich des ›Wesens‹ der Sprache findet sich am Ende des vierten Buchs der Scienza Nuova. Vico stellt hier resümierend fest, dass »der Mensch eigentlich nichts anderes ist als Geist, Körper und Sprache und (dass) die Sprache gleichsam in die Mitte gesetzt ist zwischen den Geist und den Körper […]«.17 Wenn sie »in mezzo« zwischen Körper und Geist ihren Sitz hat, dann heißt das, dass sie sich nicht in der bloßen Verlautbarung eines mental vorgegebenen und indexikalisch zu fixierenden Gehaltes erschöpft. Darauf, auf die ›Informationseinheit‹, wird Sprache gewöhnlich reduziert – aus der Position eines Subjektes heraus, bei dem man schon weiß, was es ›dann noch‹ sagt (so dass es darauf, was gesagt wird, auch eigentlich nicht mehr ankommt). Zugleich wird für das Wissen eines Subjektes die Perspektive eines Wissens jenseits aller Subjekte beansprucht. In dem, was dergestalt als ›Geist‹ erscheint, kommen die Subjekte und ihr Sprechen nicht mehr vor. Soll es hier auf Subjekte oder zumindest Subjektivität als Struktur weiter ankommen – zumindest der Spur nach, die die Rede von einem Selbst erinnert –, so wird sich die Auffassung von Sprache in die Richtung ändern müssen, die Vico anzeigt. Wir bedienen uns nicht der Sprache, um eine vorgängige (vorsprachliche) Praxis des Geistes mitzuteilen. Sprache – die Übersetzung in Zeichen – ist vielmehr die Praxis des sich mitteilenden Geistes selbst. Sie ist, Wilhelm v. Humboldts berühmtem Diktum gemäß, »kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)«.18 Das vermag (zumindest für uns) nicht anders denn in endlicher, körperlicher Form zu geschehen: Denn es müssen wahrnehmbare (hörbare, sichtbare, fühlbare …) Zeichen sein, in denen diese Energie sich als Praxis des Geistes zeigt. Sprache ist in die Mitte gesetzt zwischen den mit einem Zeitindex versehenen körperlichen Zeichen und der Tätigkeit des Geistes, die sie mit diesem Zeitindex versieht. Das lässt die Wirklichkeit der Sprache zum verkörperten Geist werden und als das »geistige Wörterbuch« erscheinen, in dem sich die »ewige ideale Geschichte« zivilisatorischer Praxen dokumentiert.19 Wer (oder was) aber ist das ›Subjekt‹ dieser sich als Sprache verkörpernden Tätigkeit des Geistes? Denn die ›storia ideal eterna‹ führt nicht in einen intel17 | »non essendo altro l’uomo, propriamente, che mente, corpo e favella, e favella come posta in mezzo alla mente ed al corpo […]« (SN 1045) – vgl. Prinzipien, S. 566. 18 | Vgl. von Humboldt, Wilhelm: »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts« [1830-1835], in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, 5. Aufl., Darmstadt 1979, III. Bd., S. 418. »Man muss die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen[…]« (ebd., 416), d.h. als Tätigkeit. 19 | Zur Sprache als »dizionario mentale« und »storia ideal eterna« vgl. SN 145.
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legiblen Bereich jenseits geschichtlicher Praxis. Der ›dizionario mentale‹ der Sprache ist vielmehr nichts anderes als die an und in ihren Zeichen abzulesende innere Form geschichtlicher Praxen wie Äußerungsformen.
IV. S PR ACH (GE) SCHICHTEN : E T YMOLOGICA Ehe die Frage nach dem ›Subjekt‹, das sich in der Praxis der Sprache zeigt, diskutiert wird, seien zunächst einige Beispiele zitiert, die verdeutlichen, wie Vico die Sprache als jenes Medium auffasst, in der die Modifikationen unseres Geistes im wörtlichen Sinn ›zur Sprache kommen‹. Das erste ist seine Erklärung des Begriffs ›Mythos‹ wie des lat. Adjektivs ›mutus‹, die zugleich darauf führt, was er unter sprachschöpferischem Tun versteht. Danach folgt seine Etymologie der Wörter ›famiglie‹ und ›liberi‹ (Freie, Kinder). Der ȝȣșRȢ ist keine Vorstufe der Sprache des ȜȩȖRȢ, sondern dessen erste Erscheinung. Diese originäre Station der Entwicklung der Sprache ist auf stumme Weise in der Sprache aufgehoben. Das ist nicht nur für das Verständnis der non-propositionalen Gehalte der Sprache von Bedeutung – jede Wendung der Sprache gibt als Handlung mehr zu verstehen, als sie (indexikalisch) sagt. Dass stummes Bedeuten in der Sprache aufgehoben ist, erscheint gerade auch für das Verständnis kultureller Praxen – wie ihrer ›stummen‹ Objektivität – signifikant. Dieses stumme – ›mythische‹ – Bedeuten zeigt sich in der Etymologie des lateinischen Adjektivs ›mutus‹: »›Logik‹ kommt von dem Wort ȜȩȖRȢ, das zunächst und ei gentlich ›favola‹ bedeutet, was auf Italienisch ›favella‹ heißt – und die Fabel hieß bei den Griechen auch ȝȣșRȢ, woher den Lateinern ›mutus‹ kommt; denn in den stummen Zei ten entstand die Sprache als geistige, wie denn an ei ner klassischen Stelle Strabon sagt, eine solche sei vor der mündlichen oder artiku lierten dagewesen: weswegen ȜȩȖRȢ sowohl ›Idee‹ als auch ›Wort‹ bedeutet. […] Auch wird uns ȝȣșRȢ als ›vera narratio‹ defi niert, das heißt als wahre Rede; dies ist das ›natürliche Sprechen‹, von dem zunächst Platon und später Jamb lich sagten, es sei einmal in der Welt gesprochen worden; […] dies erste Sprechen – das der Theologendichter – war kein Sprechen nach der Natur […], sondern ein phantastisches Sprechen mittels beseelter Substanzen, die größtenteils als gött lich vorgestellt wurden.« 20
Um verständlich werden zu lassen, was es mit dem ursprünglich-sprachschöpferischen Tun auf sich hat, das ›phantastisches‹ – das heißt: durch Fantasie erzeugtes – Sprechen meint, differenziert Vico drei Arten von Sprachen. Die göttliche ist die erste: die stumme Sprache der Natur, die sich in Gebärden, Win20 | SN 401; vgl. Prinzipien, S. 188-189 (Herv. i.O.).
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ken und somatischen Zeichen artikuliert und eine natürliche Beziehung zu den bezeichneten Ideen hat. Die zweite ist die heroische: Mit ihr wird der poetische Akt der Hervorbringung von Zeichen gedacht. Sie spricht in Sinnbildern, das heißt in Gleichnissen, Vergleichen, Bildern und Metaphern. Die dritte Sprache ist die menschliche, jene Prosa, auf die sich zum gewöhnlichen Gebrauch die Völker durch Konvention einigten: Das ist ›unsere‹ Sprache – das ›volgare‹ des Informationsaustauschs. Die »erste Sprache sei hieroglyphisch gewe sen, das heißt heilig oder göttlich; die zweite symbolisch, das heißt in Zeichen oder heroischen Wappen; die dritte epi stolär, damit Entfernte sich wechselseitig die gegenwärtigen Be dürfnisse ihres Lebens mitteilen können. […] [Die erste Sprache ist die göttliche stummen Bedeutens, J.K.] Von der zweiten Sprache, die dem Zeit alter der Heroen entspricht, sagten die Ägypter, sie sei in Symbolen gesprochen worden; auf diese sind die heroischen Sinnbilder zurückzuführen, die die stummen Gleichnisse sein mußten, die von Homer ıȒȘĮIJĮ genannt wurden (die Zeichen, in denen die Heroen schrieben); und folg lich mußten sie Metaphern oder Bilder oder Gleichnisse oder Vergleiche sein, die später, in der artikulierten Sprache, den ganzen Vorrat der poetischen Sprache bilden. […] Wie nun die heroische oder poeti sche Sprache von den Heroen begründet wurde, so wurden die gewöhnlichen Sprachen vom gemeinen Volk eingeführt, das […] die Plebs der heroischen Völker war […]«. 21
Die drei Arten von Sprachen sind drei Schichten der Sprache, in der drei Arten geschichtlicher Praxen aufgehoben sind. Vico denkt sie als sich kontinuierenden Zyklus dreier Zeitalter: des dunklen, das das Zeitalter der Götter, des mythischen, das das der Heroen, und des historischen, das das der Menschen ist. Das ›dunkle Zeitalter der Götter‹ findet seinen Ausdruck a) in der hieroglyphischen Sprache, die heilig und geheim ist und im Verstehen stummer Gebärden sich zeigt – das ›mythische der Heroen‹ b) in der symbolischen Sprache, die den heroischen Akt der Sprachfindung bedeutet, in dem die stumme Sprache der Natur bzw. ihr stillschweigender Anspruch in Zeichen übertragen wird – und das historische c) in der epistolären Sprache, die den gewöhnlichen Bedürfnissen des Lebens dient. Diese drei Zeitalter denkt Vico nicht alleine als eine chronologisch-diachrone Abfolge, in der sich sprachliche Zeugnisse auf geschichtliche Daten beziehen – eine solche Abfolge mag für die uns nur über Mythologien zugängliche ›Vorzeit‹ gelten. Mit der Abfolge ›stummer Anspruch – heroische Benennung – alltäglicher Gebrauch‹ macht Vico vielmehr zugleich die logisch-synchronen Sinnschichten zugänglich, die sich in dem als Tätigsein zu verstehenden Sprachgeschehen selbst zeigen. Auf Grund dieser inneren Schichtung gibt jede sprachliche Wendung mehr zu verstehen, als sie indexikalisch – auf den alltäglichen Gebrauch zurechtgestutzt – bedeutet. Dieser ›stumme‹ Rest wird über 21 | Vgl. SN 432, 438, 443; vgl. Prinzipien, S. 208, S. 215, S. 219 (Herv. i.O.).
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die ›wahre Rede‹ der Etymologie zugänglich.22 In ihr erbt sich der Eigensinn des ›geistigen Wörterbuchs‹, das Sprache ist, über subjektive bzw. willkürliche Intentionen des Umgangs mit den dabei gebrauchten Zeichen fort. Es ist diese Subschicht des Bedeutens, in der und mit der sich gewissermaßen co-propositional tradiert, was in der Unmittelbarkeit seines Widerfahrens stumm bleibt. Wie Vico diese These belegt, soll nun anhand der Etymologie der Wörter »famiglie« und »liberi« vorgeführt – und zugleich deutlich werden, wie sich geschichtliche Erfahrungen in den Zeichen der Sprache gleichsam sedimentieren. »Famiglie«. Das Wort ›Familie‹ repräsentiert die phylogenetische Not, mit der Schutzlose sich der Herrschaft von ›Heroen‹ unterwarfen: »Man hat allgemein angenommen […], daß die Familien im sogenannten ›Natur‹zustand aus niemand anderem denn aus Nachkommen bestanden, während sie doch Familien waren, die aus Knechten bestanden (und die ›Familien‹ hießen vornehmlich nach ihnen so […]«,
stellt Vico fest und fährt dann fort, dass jene schutzlosen Tagelöhner sich »nach dem ›Ruf‹ dieser Heroen […] und nach ihrer Berühmtheit in der Welt […], die […] der ›Ruhm‹ der Griechen ist, der bei den Lateinern ›fama‹ genannt wird, […] die Flüchtlinge ›Knechte‹ (nannten); und die ›Familien‹ hießen vornehmlich nach ihnen so […].« 23
Weit entfernt also, so etwas wie eine friedvolle Natur zu bezeichnen, dokumentiert sich im Wort ›Familie‹ die Erfahrung des Widerstands gegenüber der Not ursprünglicher Natur. Im Wort ist die Erfahrung der entsprechenden geschichtlichen Praxen zugleich verkörpert – sie zittern in ihm sozusagen nach. »Liberi«. Die Erfahrung, die sich in der Semantik des Substantivs ›Familie‹ zeigt, setzt sich in der Etymologie des Wortes ›Liberi‹ fort: »Da nun in derartigen Familien, die den Städten vorausgingen, die Knechte im Verhältnis von Sklaven lebten […], wurden die Söhne der Heroen, damit sie sich von denen der Knechte unterschieden ›liberi‹ < Freie Kinder > genannt, während sie sich tatsächlich von ihnen gar nicht unterschieden […], [insofern, J.K.] […] bei den alten Römern die Familienväter eine souveräne Gewalt über Leben und Tod ihrer Söhne und eine despotische Herrschaft über deren Erwerbungen hatten […], weswegen bis zur Zeit der römischen Kaiser die Söhne sich in nichts von den Sklaven unterschieden, was das Pekulium be22 | »Und es kam auch die Definition dieses Wortes ›Etymologie‹ auf uns, das dasselbe bedeutet wie ›veri loquium‹ […], wie uns auch Sprache definiert wurde als ›vera narratio‹ […]« (SN 403; Prinzi pien, S. 190 [Herv. i.O.]). 23 | Vgl. SN 553, 555, vgl. Prinzipien, S. 294-297 (Herv. i.O.).
V ERKÖRPERTER G EIST trifft […]. Doch dieses Wort ›liberi‹ bezeichnete anfangs auch die ›Adligen‹; daher sind ›artes liberales‹ die ›edlen Künste‹ […], und ›liberalis‹ bedeutete bei den Lateinern ›edel‹ und ›liberalitas‹ ›Edelmut‹ […]«. 24
Auch dieses Beispiel zeigt, wie sich in der Sprache über den mentalen Gehalt hinaus, den wir Wörtern – jeweils und zeitgebunden – zuschreiben, geschichtliche Erfahrung sedimentiert und insofern sich in den Zeichen der Sprache ›Geist verkörpert‹. An den Beispielen – was Vico in den Buchfassungen der Scienza Nuova dargestellt hat, ist eine überquellende Fundgrube vergleichbarer – mag deutlich geworden sein, dass die ›wahre Sprache‹ der Etymologie das stumme Gedächtnis geschichtlicher Erfahrung und ursprünglicher geschichtlicher Not enthält. Dieses Gedächtnis reicht so weit, so weit geschichtliche Zeichen etwas bedeuten, so dass wir sie verwenden und gebrauchen. Das stumme Gedächtnis der Zeichen der Sprache erlaubt uns umgekehrt den Zugang zu Praxen, die sonst unwiederbringlich entrückt wären. Gerade mythologische Artefakte gelte es, als Ausdruck geschichtlicher Erfahrung zu lesen. Die Entdeckung, »[…] daß die ersten Völker des Heidentums nach der aufgezeigten Notwendigkeit der Natur Dichter waren, die in poetischen Charakteren sprachen«, sei der »Hauptschlüssel zu dieser Wissenschaft«, schreibt Vico und bemerkt, dass ihn diese Entdeckung »die hartnäckige Forscherarbeit fast unseres ganzen Gelehrtenlebens gekostet« habe.25 Nun sind die Namen der Götter und Heroen – das, was Vico als göttliche oder heroische Schicht der Praxis der Sprache denkt – selbst Bezeichnungen geschichtlicher Erfahrung. Von der ›zweiten‹ Sprache (der »Heroen«) hatte Vico berichtet, dass sie in Symbolen gesprochen worden sei und in heroischen Sinnbildern sich ausgedrückt habe, in ›stummen Gleichnissen‹, die von Homer »Semata« genannt worden seien: ›Zeichen‹, in denen die Heroen geschrieben haben und die jene Metaphern, Bilder, Gleichnisse oder Vergleiche hergaben, die in der artikulierten Sprache später den Vorrat der poetischen Sprache bildeten. »Diese Charaktere waren offen bar gewisse phantastische Gattungs begriffe [generi fantastici] (das heißt Bil der, größten teils von belebten Substanzen, sei es von Göt tern, sei es von Hero en, die von ihrer Phantasie gebil det wurden) […]. Daher erweisen sich 24 | Vgl. SN 556, vgl. Prinzipien, S. 297/298. 25 | »Principio […] si truova […] ch’ i primi popoli della gentilitá, per una dimostrata neces sitá di natura, furon p o e t i , i quali parlarono per c a r r a t e r i p o e t i c i ; la qual discoverta, ch’ è la chiave maestra di questa scienza, ci ha costo la ricerca ostinata di quasi tutta la nostra vita letteraria […]« (SN 34, vgl. Prin zipien, S. 32 [Herv. i.O.]).
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J OHANN K REUZER derartige göttliche oder heroi sche Charak tere als Mythen [favole], das heißt wahre Erzählungen [favelle vere] […].« 26
Was hier bezüglich der Erfahrung von Sprache ihre ›heroische‹ oder göttliche Dimension genannt wird, bezeichnet den sinnschöpferischen Aspekt im Tun der Sprache selbst. An den »generi fantastici« bzw. »carrateri poetici« wird jene Schicht der Sprache bewusst, in der sie sinnbildend, d.h. vor jeden abstrakten Begriffsbildung poetisch ist. Man könnte auch sagen, dass am Erzeugen (dem Finden und Erfinden) poetischer Charaktere bewusst wird, was das Subjekt der Tätigkeit ist, die Sprache meint.
V. D AS S UBJEK T DES E RINNERNS Was Vico als Aufeinanderfolge – der stummen Sprache der Gebärde oder des Winks, der heroischen der Zeichen, die weder stumm noch durchartikuliert, sondern bedeutend sind, schließlich der durchartikulierten gewöhnlichen Sprache – denkt, sind drei Aspekte des in die Mitte zwischen Geist und Körper gesetzten Tätigkeitseins der Sprache. Auf Grund der strukturellen Affinität zwischen dem, was als Geschichte historisches Faktum ist, und dem, was als Geschichte erzählt wird, kann Vico folgern: »Aus diesen drei Sprachen setzt sich das geistige Wörterbuch [vocabolario mentale] zusammen, das allen verschiedenen artikulierten Sprachen [lingue articolate] die eigentümlichen Bedeutungen [le proprie significazioni] gibt […].«27 In den ›fantasieerzeugten Allgemeinbegriffen‹ wird dieser poetische Charakter der Sprache einsichtig.28 Mit Vico hatten wir gesehen, dass an ihnen jene Schicht der Sprache bewusst wird, in der sie sinnbildend, d.h. vor jeden abstrakten Begriffsbildung poetisch ist. Das aber heißt: Aus der Praxis der – und einer als Praxis zu verstehenden – Sprache ist die Bildung der Begriffe abgeleitet, und nicht umgekehrt ›Sprache‹ die bloße Verlautbarung gegebener Begriffe. Die Frage nach dem Subjekt – und wenn nicht ›Subjekt‹, so doch dem Agens – dieser Sinnbildung, weist zugleich auf jenes Vermögen zurück, das unmittel26 | SN 34; vgl. Prinzipien, S. 32. Vgl. auch Anm. 20. 27 | Vgl. SN 35; Prinzipien, S. 33. 28 | Das andere exemplarische Beispiel ist die Metapher, »die dann am meisten gerühmt wird, wenn sie […] den empfindungslosen Dingen Sinn und Leidenschaft verleiht: denn die ersten Dichter gaben den Körpern das Sein beseelter Substanzen […] und schufen aus ihnen die Mythen; so wird jede derartige Metapher zu einem kleinen Mythos.« (SN 404; vgl. Prinzipien, S. 191) Darauf, dass sich an den Metaphern »die Reflexion des Tuns der Sprache innerhalb der Sprache (zeigt)« (vgl. B. Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, S. 482), kann hier nur hingewiesen werden.
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bar, weil in körperlicher Einheit, die Zeichen produzierenden Subjekte mit der Materialität der ihnen sich zeigenden geschichtlichen Praxis verbindet: Das ist die Erinnerung, sofern man sie nicht allein als reproduktive Verinnerlichung, sondern zugleich als produktives Vermögen versteht. Damit kommen wir zu dem der Sprache nächsten ›Organ‹, das Descartes um der Absolutheit eines gereinigten Geistes aus dem ›cogito‹ ausgeschlossen hatte – der, wie er sie nennt: »mendax memoria«.29 Die Zeichen der Sprache sind verkörpertes Erinnern. Hesiods Satz, dass Mnemosyne die Mutter der Musen ist, deutet Vico in dem Sinn, dass die Erinnerung sich damit als Matrix der Künste der Humanität erweise. Sie wird dies, indem sie sich sprachlich materialisiert – bzw. allgemeiner in Zeichen verkörpert erscheint. Die Geschichte der Sprache – das »dizionario mentale commune« – ist der Schlüssel zu diesen Verkörperungen des Zeichen produzierenden und in Zeichen sich tradierenden Sinns der Erinnerung. Von der Selbstreflexion der Natur des Menschen, die durch die »theologischen Dichter unter dem Gesichtspunkt einer äußerst rohen Physik« geschah, heißt es, dass sie »alle inneren Funktionen des Gemütes« auf Körperfunktionen zurückführten: »Dem Haupt schrieben sie alle Erkenntnisse zu; und weil diese alle phan tastisch waren, so legten sie in das Haupt die Erinnerung, welcher Ausdruck bei den Lateinern für ›Phanta sie‹ ge braucht wurde. Und in den wie der gekehrten barbarischen Zei ten wurde ›Phantasie‹ für ›Genie‹ gesagt […]. Doch die Phan tasie ist nichts ande res als ein Wiederhervor springen von Erinnerun gen, und das Ingenium ist nichts anderes als ein Arbeiten an den Dingen, deren man sich erinnert.« 30
Die Trias von ›memoria-fantasia-ingenio‹ liefert die Erklärung für Vicos Annahme, dass sich innerhalb der Modifikationen des menschlichen Geistes die Prinzipien des ›mondo civile‹ finden lassen, sofern wir ihn als Produkt unseres Tuns begreifen. Durch die Trias von Erinnerung, Einbildungskraft und Erfindungsgabe werden faktische Handlungen zu jener Praxis, die wir uns als die zuschreiben, die wir kennen und zu berichten vermögen. Ohne diese Trias gäbe es keine Geschichte. Umgekehrt bedarf das Ineinander von »memoria«, 29 | Vgl. René Descartes’ Meditatio de Prima Philo sophia II.2: »Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, daß nichts jemals exi stiert hat, was das trüge ri sche Gedächtnis mir dar stellt, ich habe überhaupt keine Sinne […]: Suppono igitur omnia, quae vi deo falsa esse, credo nihil umquam exstitisse eorum quae men dax memoria repraesen tat, nullos plane habeo sensus […]« (zit. n: Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Lat.-Dt., hg. v. Lüder Gäbe u.a., 3. Aufl., Ham burg 1992, S. 42). 30 | Vgl. SN 699; vgl. Prinzipien, S. 397/398.
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»fantasia« und »ingenio« jener Verkörperung, die Vico als Sprache und in allgemeinerem Sinn am Universum kultureller Zeichen diskutiert. Was Erinnerung-Einbildungskraft-Erfindungsgabe leisten, erschöpft sich weder in der bloßen Beziehung eines Subjektes auf sich noch ist es in der materialen Präsenz körperlicher Objekte schon gegeben. Worin – um es vereinfacht zu sagen – der Sinn der Erinnerung besteht, muss vielmehr in die Mitte zwischen Geist und Körper gesetzt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn Subjekte zum Verständnis ihrer selbst wie ihres Tuns – wie des Selbstes, das Subjekte sind – gelangen sollen oder wollen. Um zu solchen Selbstverständnissen zu gelangen, ist die Erinnerung als ›Mutter der Musen‹ sehr mächtig in der Erzeugung sprachlicher Objektivationen. Davon ist an einer zentralen Stelle der Scienza Nuova (in Buch III: »Von der Entdeckung des wahren Homer«) die Rede. Dort heißt es – Vico beginnt mit der Exposition der Stärke ursprünglicher Erinnerungskraft –, dass »[…] die Volksgemeinden solche Geschichten natürlicher weise in Erinnerung behalten […] und über ein erstaun lich gutes Gedächtnis verfügen mußten. Und dies nicht ohne göttliche Vorkehrung: […] in solcher Bedürftigkeit der Menschen waren die Völker, die fast durch und durch Körper und fast ohne jede Reflexion waren, ganz und gar lebendiger Sinn [vivido senso] im Wahrnehmen der Besonderheiten, mächtige Phan tasie [forte fantasia] im Aufnehmen und Ver größern derselben, scharfe Gei steskraft [acuto ingegno] im Beziehen der Beson derheiten auf ihre phanta stischen Gat tungsbegriffe und starke Erinnerung [robusta memoria] im Behalten.« 31
Dieses ›robust‹ genannte ursprüngliche Erinnern unterscheidet nun Vico strikt von der Vorstellung, die es zu einem Instrument mentaler Speicherleistungen macht. »Diese Ver mögen gehören, das ist wahr, dem Geiste zu, aber sie haben ihre Wurzeln im Körper und be ziehen ihre Kraft aus dem Körper. Daher ist die Erinne rung dasselbe wie Phantasie, die deshalb bei den Latei nern ›me moria‹ […] heißt (wie bei Terenz ›memorabile‹ in der Be deutung von ›etwas Vorstellbares‹ und gewöhnlich ›com mi nis ci‹ für ›erfinden‹ steht, was der Phantasie eigentüm lich ist, woher ›commentum‹ kommt, was eine dichterische Erfindung ist); und ebenso wird ›Phantasie‹ zur Bezeich nung von Genie gebraucht […]. Und der Geist nimmt diese drei unterschiedlichen Formen an: er ist Erinnerung, wenn er die Dinge erinnert [ch’ è memoria, mentre rimembra le cose]; Phantasie, wenn er sie ver ändert und nachschafft [fantasia, mentre l’altera e contrafá]; Ingeni um, wenn er sie ausschmückt und in eine pas sende und gediegene Form bringt
31 | Vgl. SN 819; vgl. Prinzipien, S. 462-463.
V ERKÖRPERTER G EIST [ingegno, mentre le contorna e pone in acconcezza ed assettamento]. Aus diesen Gründen nannten die Theo lo gendichter die Er innerung ›Mutter der Musen‹.« 32
Erinnerung enthält das Objekte erinnernde Gedächtnis (das »rimembrare«), sie ist die die erinnerten Gegenstände verändernde und nachschaffende Fantasie (ein »alterare e contraffare«), sie beweist sich als produktives Ingenium. Diese Leistungen sind nicht naturgegeben. Sie bedeuten ein Verhalten zu Natur, eine Praxis, deren semantische Natur der Erinnerung damit auf die Seite des Geistes weist. Was hier Geist (»mente«) heißt, kommt aber dem Körper nicht (gleichsam ›von außen‹) hinzu, sondern ist ein im Körper ›wurzelndes‹ Vermögen. Es ist, anders gesagt, im ursprünglichen Sinn eine körperliche Praxis selbst, die nicht auf körperliche Materialität zu reduzieren ist und als Erinnern wie im Erinnern sozusagen nur eigens bewusst wird. Auf Grund dieser Natur und Kraft des Sinns der Erinnerung ist Fantasie ein Wiederhervorspringen von Erinnertem und das ingeniöse Tun eine Tätigkeit an den Dingen, derer man sich entsinnt. Es ist eine Tätigkeit, die sich a) auf die im ursprünglichen Sinn körperliche Praxis selbst, aber b) ebenso sehr darauf richtet, dass diese Praxis nicht auf körperliche Materialität zu reduzieren ist, wie c) schließlich darauf, dass Erinnern dergestalt ein Sich-Entsinnen meint, das sich zur Lebhaftigkeit dessen potenziert, was der Ausdruck ›Sinn der Erinnerung‹ in der Gegenläufigkeit seiner Doppelbedeutung enthält. Sie umfasst insofern d) sowohl den ›Sinn‹, der Erinnern ist und dessen Kraft ›im Körper wurzelt‹, wie den Sinn, den es abgelöst von körperhafter Präsenz und irreduzibel auf physische Daten hat. Weil Erinnern eine Kraft bedeutet, die weder auf die materiellen Objekte, auf die es sich richtet, noch auf ein von diesen Objekten getrenntes Subjekt – Descartes’ ›res cogitans‹, die als ›Subjektding‹ sich selbst zu einem Objekt macht – zu reduzieren ist, bedarf es der Übersetzung in eine gemäße Form. Diese – dem Sinn wie der Semantik des Erinnerns entsprechende – Form ist Sprache. Aus den Sprachdokumenten, die »die ersten Menschen der heidnischen Völker, gleichsam als Kinder des werdenden Menschengeschlechts« hinterlassen haben, kann Vico deshalb schließen, dass sie »kraft einer ganz körperlichen Phantasie […], und weil diese ganz körperlich war, […] mit wunderbarer Erhabenheit (die bestaunten Dinge beseelten), und zwar einer solchen und einer so starken, daß sie sie selbst im Überschwang erschütterte, die sich durch ihre Einbildung jene Dinge schufen […]; daher wurden sie ›Dichter‹ genannt, was auf Griechisch dasselbe bedeutet wie ›Schöpfer‹. […] Und von dieser Natur der menschlichen Dinge blieb eine ewige Eigentümlichkeit, die von Tacitus mit dem edlen Ausdruck bezeichnet wird, daß zu Unrecht die erschrockenen Menschen ›fingunt simul creduntque‹ . […] 379. Auf diese Weise erdach32 | Vgl. SN 819; vgl. Prinzipien, S. 463 (Herv. i.O.).
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Ins Auge springt an dieser Analyse die mythologiekritische Wendung: der Verweis auf die Bedürfnisse wie den numinosen Schrecken, der in den göttlichen Namen nachzittert. Diese mythologiekritische Wendung dient nicht zuletzt dazu, vor dem Rückfall in die Gewalt bloßer Natur und den »Fanatismus des Aberglaubens« zu bewahren, der ihr Pendant ist.34 Aber: Im göttlichen Mythos zeigt sich exakt auch das Vermögen, das den Verhältnissen unmittelbarer Naturgewalt und ihrer abergläubischen Repetition entragen lässt: Das ist die in körperliche Fantasie sich umsetzende Erinnerungsfähigkeit. Indem sie sich materialisiert, entsteht jenes symbolische Universum von Zeichen, auf Grund dessen und in dem die materielle Geschichte deutbar wird. Deutung zu stiften ist der Sinn der Erinnerung. Das gelingt nicht inwendig: nicht dadurch, dass sich Erinnernde allein auf sich beziehen. Dazu bedarf es vielmehr der Zeichen, in denen Erinnern selbst sich mitteilt und mitteilbar wird. Es müsste deutlich geworden sein, dass dieser Sinn der Erinnerung das ›Subjekt‹ der Sprache ist – nicht die einzelnen Subjekte, kein auf sich gestelltes ›cogito‹. Es ist das ›Subjekt‹ Erinnern, das den Akteuren materieller Praxen Selbstverständnisse ermöglicht. Die ›Ästhetik der Kultur‹, die Vico fordert, ist der Sinn für die Beziehung zwischen dinghafter Materialität und jener Erinnerungsfähigkeit, ohne die es das Selbst nicht gibt, das die Gründe kennt, die sein Handeln bestimmen, und das insofern der Selbstbestimmung fähig wird.
VI. Z URÜCK ZUR G EGENWART Was haben die Hinweise auf Vicos Neue Wissenschaft für die Frage nach dem Selbst und danach, was es bildet, erbracht? Gibt es Anschlussmöglichkeiten an jene Fragestellungen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Tagesordnung zu stehen scheinen und eingangs dieser Überlegungen skizziert wurden? Erbracht haben sollte der Ausflug zu Vico eine gerade um ihre Praxisdimension vertiefte Sicht von Sprache. Sprache kommt dem, was Praxis ist, nicht noch hinzu. Es ist ein reduktives Sprachverständnis, das diese zum sekundären ›Lautsprecher‹ vorgegebener Sachverhalte macht – mögen diese ›Sachverhalte‹ nun mentale oder auch praxisinduzierte ›Daten‹ sein. Versteht man Sprache im Sinne Vicos als Universum verkörperter Zeichen, dann erscheint sie vielmehr 33 | Vgl. SN 376, 379; vgl. Prinzipien, S. 171-172, S. 174. 34 | Vgl. SN 517, 518. – Vgl. Anm. 40.
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als primäre Form praktischer wie praktizierter Selbstwerdung. Darin besteht umgekehrt die Sprachförmigkeit des Subjektivierungsprozesses, den Selbstwerdung meint: Was ein Selbst macht schließt das Gewahren des stummen Bedeutens der materiellen Zeichen, in denen Praxen sowohl gegeben sind wie mit ihnen agieren, ausdrücklich ein.35 Hier kann man vom Programm, das Vico mit seiner Scienza Nuova formuliert hat, lernen. Dass man von Vico lernen kann, belegt das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Hier stieß – nach der Katastrophe des ›bürgerlichen‹ 19. Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg – Vicos Neue Wissenschaft auf Resonanz. Ernst Cassirer hat mit seiner Theorie der symbolischen Formen in der Sache direkt an das vichianische Programm angeknüpft und es weiterentwickelt.36 Gegenstand philosophischer Reflexion sind alle Symbolisierungsformen des (um mit Vico zu reden) ›mondo civile‹. Ihr Ziel ist es, die Tätigkeit des Geistes in der Gesamtheit seiner Ausdrucksformen wiederzuerkennen, denn geschichtlich-real vollzieht sich diese Tätigkeit »[…] nicht in der Form der freien Reflexion und bleibt somit sich selbst verborgen. Der Geist erzeugt die […] [Gestalten der äußeren Welt, J.K.], ohne daß er in ihnen sich selbst als schöpferisches Prinzip wiedererkennt.«37 Man mag hier Intentionen am Werk sehen, die die materielle Praxis, »welche die Tatsachen erzeugt und strukturiert«, zu einem »geistigen Prozeß« uminterpretieren.38 Einmal dahingestellt, ob bei Cassirer gleichsam mit einem Schritt hinter Hegel zurück ›der Geist‹ als ›innere Form freier Reflexion‹ und als deren Inneres ein den ›Gestalten der Welt‹ bloß vorausgesetztes ›Subjekt‹ angenommen wird, so kann Vico als methodisches Korrektiv gelten, einem solchen ›idealistischen‹ Quid pro quo nicht zu folgen. Was er mit seiner Neuen Wissenschaft fordert, ist jene ›neue‹ Geschichte der menschlichen Ideen, auf deren Grundlage »die Metaphysik des menschlichen Geistes in der strengen Analyse der menschlichen Gedanken bezüglich der menschlichen Bedürfnisse oder Vortei-
35 | ›Gewahren‹ soll verdeutlichen, dass es hier nicht allein um ein intentional gesteuertes Wahrnehmen geht. 36 | Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. 1. Teil: Die Sprache, 10. Aufl., Darmstadt 1994 [1953], S. 91ff. 37 | Vgl. Cassierer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken, 9. Aufl., Darmstadt 1994, S. 259. 38 | Beide Zitate: Vgl. Horkheimer, Max: Der neueste Angriff auf die Metaphysik, zit.n.: ders.: Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1968, Bd. II, S. 108. Zur Affinität zwischen dem Theorieprogramm Horkheimers in der Frühphase der ›Kritischen Theorie‹ und Cassirers kulturphilosophischer Erweiterung des Neukantianismus vgl. Westerkamp, Dirk: »Wahrheit und kulturelle Tatsachen«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Das Leben denken – Die Kultur denken, Freiburg i.Br./München 2007, 2. Bd., S. 82-88.
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le« besteht.39 Aufgelistet werden dabei zugleich die Gestehungskosten, die dem vergesellschafteten Dasein, in dem geschichtliche Praxen erfolgen, zugrunde liegen. Vorgeführt wird so etwas wie die Urgeschichte menschlicher Kultur, die den Status quo sittlicher Konventionen als labiles (und der Aufklärung bedürftiges) ›Gleichgewicht‹ domestizierter Gewalt erklärt.40 Worin sich Subjekte als ›Kultur‹ vorfinden, ist nicht die Abschaffung von Gewalt, sondern die Art und Weise, wie diese erscheint, ausgetragen und im günstigeren Fall in Schranken gehalten wird.41 Vico macht – vergleichbar nur Hobbes – in den Subschichten der Subjektivierungsprozesse »die Geschichte des Denkens als eines Organs der Herrschaft« transparent. Die Geschichte des Denkens als eines Organs der Herrschaft ist der zentrale Gegenstand von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung.42 Deren Programm ist Vicos Scienza Nuova wesentlich mehr verpflichtet, als es der versteckte Hinweis im Kapitel »Begriff der Aufklärung« belegt.43 Die Doppelthese – »schon der Mythos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie 39 | Um die »Natur der menschlichen Dinge aufzufinden, verfährt diese Wissenschaft nach einer strengen Analyse der menschlichen Gedanken bezüglich der menschlichen Bedürfnisse oder Vorteile im geselligen Leben; dies sind die beiden nie versiegenden Quellen des natürlichen Rechts der Völker […]. Daher ist diese Wissenschaft […] eine Geschichte der menschlichen Ideen, auf deren Grundlage die Metaphysik des menschlichen Geistes vorgehen zu müssen scheint […]« (SN 347; vgl. Prinzipien, S. 153 [Herv. i.O.]). 40 | Vgl. z.B. SN 369ff., 502, 518ff., 584ff., 666ff. u.ö.; vgl. Prinzipien, S. 65, S. 267ff., S. 317, S. 380ff. – Allen Formen romantisierender Verklärungen ›ursprünglicher Natur‹ wird Vico entgegengehalten: »Aus all dem ist zu schließen, wie unhaltbar die bisherige Anmaßung der Gelehrten über die Unschuld des gol denen Zeitalters gewesen ist, die bei den ersten heidnischen Völkern bestanden haben soll; in Wirklich keit war es ein Fanatismus des Aberglaubens, der die wilden, stolzen und äußerst grausamen ersten Men schen des Heiden tums durch einen starken Schrecken vor einer Gottheit, die sie sich selbst eingebil det hatten, in einer gewissen Pflichtmäßigkeit hielt« (SN 518; vgl. Prinzipien, S. 268 [Herv. i.O.]). 41 | Vgl. SN 523, 524 (vgl. Prinzipien, S. 270-274) und zu beispielsweise den ›drakonischen Gesetzen‹ als dem Erzähldokument phylogenetischer Erfahrung SN 679 (Prinzipien, S. 387/88). 42 | Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 126. 43 | Vico habe gezeigt, dass die »philosophischen Begriffe, mit denen Platon und Aristoteles die Welt darstellten, […] vom Marktplatz von Athen [stammten]« (M. Horkheimer/T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 28). Bezug ist dabei die auerbachsche Übersetzung, vgl. G. Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers. v. Erich Auerbach, Berlin 1965 [München 1924], S. 397 (= SN 1041-1043).
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zurück«44 – vollzieht im Horizont der Katastrophen des 20. Jahrhunderts die neuzeitliche Probe auf Vicos Prognose, dass menschliche Vernunft, wird die Naturbedürftigkeit, aus der sie erwächst, vergessen oder verdrängt, in die Barbarei bloßer Gewalt umschlägt. Im Hinblick auf die Selbstzerstörungspotenziale kultureller Rationalität hat Vico von der zyklischen Wiederkehr des Rückfalls in die »Barbarei der Reflexion« gesprochen.45 Ihm ist dieser Rückfall kein apokalyptisches Szenario – wie es die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts den Autoren der Dialektik der Aufklärung nahelegen. Gleichwohl ist die Instanz, die er diesem Rückfall in die Barbarei entgegensetzt, dieselbe. »Eingedenken der Natur im Subjekt« ist die Formel dafür. Der Rekurs auf Vico mag zugleich mögliche Missverständnisse dieser Formel vermeiden helfen. Eingedenken heißt nicht, das eine (z.B. das Subjekt) auf das andere (dann die Natur) zurückzuführen oder umgekehrt. Eingedenken meint vielmehr ein Begreifen des Verhältnisses, das über diesen trostlosen Gegensatz hinausführt. Das ›Subjekt‹ dieses Eingedenkens ist weder eine den Subjekten vorgegebene ›Natur‹ noch das Selbstverhältnis eines geschichtlichem Tun übergestülpten Prinzips Subjektivität. Was hier Subjekt heißt, bildet sich vielmehr erst durch den Prozess des Eingedenkens. An die Stelle tautologischer Selbstverhältnisse tritt ein Sich-Einsichtigwerden von Selbstverständnissen: genau dies dürfte Subjektivierung meinen. ›Eingedenken‹ steht für den sich in seiner Bedürftigkeit erinnernden und gerade darin sich erkennenden »Gedanken«, der »aus dem Banne der Natur heraustritt, indem er als deren eigenes Erzittern vor ihr selbst sich bekennt […].«46 Vicos Scienza Nuova liest sich wie ein Bilderbuch dieses Erzitterns, ohne das die Subjekte nicht wären, was sie (geworden) sind. Mit dem Ineinander von »memoria«, »ingegno« und »fantasia« formuliert Vico so etwas wie die Matrix und zugleich Bedingung der Möglichkeit humaner Kultur. Es ist die Matrix einer Kultur, die sich ihres Naturherkommens bewusst bleibt.
VII. E PILOG Was für die Kultur (im Singular) gilt, gilt für die Pluralität der Subjekte in ihr – das Selbst – nicht weniger. Seine Bildung fängt (für Vico) damit an, dass die Menschen sich in der ›Maske‹ der Namen auf den Marktplatz begeben und
44 | Vgl. M. Horkheimer/T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 6. 45 | Vgl. z.B. SN 1106; Prinzipien, S. 604. 46 | Vgl. M. Horkheimer/T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 47. Zum anamnetischen ›Erzittern‹, das aus der »Verstrickung von Urzeit, Barbarei und Kultur« herausführen soll, vgl. auch ebd., S. 87.
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als rechtsfähige Subjekte erscheinen.47 Diese ›Maskensubjekte‹ sind Positionierungen in der durch unser Tun gewirkten symbolischen Ordnung auf dem Spielfeld des ›mondo civile‹ – Setzungen, die sich von anderen Rechtssub- oder Rechtsobjekten aber nicht unterscheiden und mit ›uns selbst‹, sofern wir von juristischen Sachverhalten differieren, eigentlich nichts zu tun haben. Auch nicht dadurch unterscheiden wir uns von anderen Rechtsobjekten, dass wir ›Personen‹, d.h. Masken sind, durch die mentale Gehalte tönen. Vico greift diese übliche Standardetymologie auf und widerlegt sie – oder genauer: Er lässt sie in einer ursprünglicheren, mimetischen Schicht begründet sein.48 Dadurch, dass es sich der mimetischen Tätigkeit erinnert, die ihm in der Vielfalt von Zeichen begegnet, unterscheidet sich ein ›Selbst‹ von anderen ›Dingen‹. Es unterscheidet sich, indem es in der Praxis des Hervorbringens von Zeichen durch andere sich selbst (wieder)erkennt und in der Materialität des dadurch erzeugten Universums von Zeichenobjektivationen zu seinem Selbstverständnis gelangt. »Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. […] Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt. […] Auch als selbständig objektiviertes […] ist es nur, was ihm die Objektwelt ist. […] Wenn die(se) Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich.« 49
Vicos Neue Wissenschaft sollte helfen, das Selbstverständnis, das ein Ich braucht, um selbst zu werden, vor dem Rückfall in solche Erstarrung zu bewahren. Die Praxis wie ästhetische Basis dieses Bewahrens wird als Sprache wirklich, sofern man sie – und mit ihr Kultur – als verkörperten Geist versteht.
47 | Vgl. SN 1033, 1036; Prinzipien, S. 569, 561. 48 | Vgl. SN 1034: »[…] ›persona‹ kann nicht nach ›personare‹, was ›überall widerhallen‹ bedeutet, so heißen, da es in den recht kleinen Theatern der ersten Städte […] nicht nötig war, die Masken zu verwenden […]; vielmehr muß es von ›personari‹ gekommen sein, welches Verb nach unserer Vermutung ›sich in Tierfelle kleiden‹ bedeutet hatte […]. Und von diesem Ursprung des Verbes ›personari‹ her, in seiner ersten Bedeutung, die wir ihm zurückgegeben haben, vermuten wir, daß die Italiener ›personaggi‹ nennen Menschen von hohem Stand und bedeutender Erscheinung« (vgl. Prinzipien, S. 560/561 [Herv. i.O.]). 49 | M. Horkheimer/T.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 198.
Der Wahrnehmungsglaube und Probleme der Sichtbarmachung von Praktiken im Anschluss an Merleau-Ponty Reinhard Schulz
»Die Wissenschaft ist grobschlächtig, das Leben ist subtil: um den Unterschied auszugleichen, bedürfen wir der Literatur.«1 ROLAND B ARTHES »Die Philosophie ist nicht Wissenschaft, denn die Wissenschaft glaubt ihr Objekt überschauen zu können und hält die Wechselbeziehung zwischen Wissen und Sein für gesichert, während die Philosophie der Inbegriff jener Fragen ist, bei denen der Fragende durch sein Fragen selbst in Frage gestellt wird.« 2 M AURICE M ERLEAU -P ONT Y
I. W AHRNEHMUNGSGL AUBE In kritischer Auseinandersetzung mit den überlieferten Begriffen der »Reflexionsphilosophie«3 wie »›Subjekt‹, ›Bewusstsein‹, ›Selbstbewußtsein‹, ›Geist‹«4 im Allgemeinen oder dem cartesianischen5 und Sartre’schen Dualismus6 im Besonderen soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass die Position Merleau1 | Barthes, Roland: Antrittsvorlesung am Collège de France, 7. Januar 1977. 2 | Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994, S. 47. 3 | Ebd., S. 21, S. 53-54, S. 61, S. 66. 4 | Ebd., S. 104. 5 | Ebd., S. 56ff. 6 | Ebd., S. 78-82.
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Pontys von denen von Bourdieu, Wittgenstein (Kap. 2) und Luhmann (Kap. 3 u. 4) gar nicht so weit entfernt ist, als das zunächst erscheinen mag. Eine solche Perspektive setzt allerdings die Bereitschaft voraus, Merleau-Pontys These der »Verflechtung – der Chiasmus«7 von Leib, Praxis und Sprache als diskutierbare Voraussetzung praxeologischer Forschung im Rahmen einer »Phänomenologie der Offenheit«8 in Erwägung zu ziehen und sich auf sein fragendes Denken einzulassen. Merleau-Ponty betont, dass »die traditionelle Philosophie keinen Namen«9 für sein phänomenologisches Projekt bereitstelle und wir treffen bei ihm in Durchführung dieses Programms auf einen weit reichenden metaphorischen Schreibstil, der immer wieder auf Anleihen aus der Literatur, der Kunst oder der Musik zurückgreift, um das vielschichtige Wahrnehmungsproblem besser verdeutlichen zu können. Merleau-Pontys philosophisches Interesse richtet sich deshalb auf jene Phänomene, wie sie sich vor ihrer wissenschaftlichen Zurichtung und Aufbereitung für uns zeigen. Denn bereits hier und nicht erst in der Wissenschaft haben wir es mit einer Ordnung, allerdings einer anderen vorwissenschaftlich geglaubten »Ordnung«10 zu tun, die sich der Genealogie unserer Erfahrung verdankt und zu dem führt, was Merleau-Ponty den Wahrnehmungsglauben nennt. Damit besteht das Erste der Erfahrung in einer »primordialen Natur« diesseits objektivierbarer Ereignisse und Strukturen in einem »präobjektiven Sinnesfeld«. Diese gegen die neuzeitliche cartesianisch geprägte Tradition der Naturwissenschaften rehabilitierte Naturidee hatte Merleau-Ponty von Husserl
7 | Ebd., S. 172ff. 8 | Um das Zugleich von Offenheit und Grenze innerhalb seiner Phänomenologie anschaulich werden zu lassen, hat Merleau-Ponty zu dem Beispiel des Zoologischen Gartens gegriffen: »Selbst ohne meine motorischen Fähigkeiten anzuführen, bin ich also nicht eingeschlossen in einen Ausschnitt der Welt. Aber ich bin trotzdem einer Grenze unterworfen wie die Tiere in den zoologischen Gärten, die weder in Käfigen noch hinter Gittern sind, deren Freiheit ganz sanft aufhört mit irgendeinem Graben, der ein bißchen zu breit ist, als daß sie ihn mit einem Sprung überqueren könnten. Die Offenheit für die Welt setzt voraus, daß die Welt Horizont ist und bleibt, und zwar nicht weil mein Sehen sie in ein Jenseits ihrer selbst entrückt, sondern weil der Sehende in gewisser Weise von der Welt und in ihr ist« (ebd., S. 135f.). 9 | Ebd., S. 183. 10 | »[…] denn weil ich zuerst an die Welt und an die Dinge glaube, glaube ich an eine Ordnung und an einen Zusammenhang meiner Gedanken. Wir sehen uns deshalb veranlaßt, unterhalb der Reflexion und sozusagen vor den Augen des reflektierenden Philosophen die Glaubensgründe zu suchen, die er in sich selbst, in seinen Gedanken und diesseits der Welt sucht« (ebd., S. 76 [Herv. i.O.]).
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übernommen11 und für »alle kommunizierenden Subjekte« als einen »Bereich gemeinsamer Urpräsenz«, als »raum-zeitlich-materielle Natur«12 bestimmt. »Bevor wir uns einen Begriff von unserer Geschichte überhaupt machen und uns demzufolge als ›natürlich‹ entstandene, vorzeitliche Lebewesen verstehen lernen, sind wir bereits instituiert in einer erfahrenen Natur, die noch keine ›Idee‹ ist und uns doch nicht auf das Niveau bloßer Ereignisse in der Welt reduziert.« 13
Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung braucht keine transzendentalen Konstruktionen, um die Welt zu erreichen. Das leistet vielmehr die primordiale Sphäre der Natur in der Gestalt einer leiblichen Situiertheit. »Diese Ordnung ist eine kulturelle, d.h. ›eine vom Menschen erfundene […] Manier, die Wahrnehmungswelt vor sich hin zu projizieren, und nicht etwa das getreue Abbild dieser Welt‹.«14 Diese Einsicht hat unmittelbare Konsequenzen für unsere Erfahrung der Anderen, wie sie sich u.a. in der Untersuchung von Praktiken der Subjektivierung manifestieren könnte, denn eine solche Erfahrung lässt sich nicht auf eine Objektivierung des Anderen durch mich gründen,15 weil sein Leib und sein Sprechen sich auf etwas beziehen, was mir prinzipiell nicht in der gleichen Weise gegenwärtig werden kann.16 Damit also durch das Auseinanderfallen ganz verschiedener individueller Perspektiven auf ein und dieselbe Welt »Zusammenhang« und »Sinn«, die »es gibt«,17 nicht verloren gehen können, muss
11 | »Durch diese Idee der Verknüpfung mit einer gemeinsamen Wahrheit, die wir Subjekte fortschreiben können, ohne deren Initiatoren zu sein, hat Husserl die Naturidee rehabilitiert. […]. Die Natur ist das, zu dem ich eine ursprüngliche und primordiale Beziehung habe, es ist die Sphäre der Wahrnehmungsgegenstände, […]« (Merleau-Ponty, Maurice: Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956-1960, München 2000, S. 119). 12 | Alle Zitate: ebd., S. 119. 13 | Liebsch, Burkhard: Spuren einer anderen Natur. Piaget, Merleau-Ponty und die ontogenetischen Prozesse, München 1992, S. 291f. 14 | Ebd., S. 370. 15 | M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 112. 16 | »Es ist notwendig und hinreichend, daß der Leib des Anderen, den ich sehe, und sein Sprechen, das ich höre, das also, was mir in meinem Gesichtsfeld als unmittelbar gegenwärtig entgegentritt, mir auf seine Weise all das gegenwärtigt, was ich mir niemals gegenwärtigen werde, was mir immer unsichtbar bleiben wird, dessen direkter Zeuge ich niemals sein kann – […]« (ebd., S. 114f. [Herv. i.O.]). 17 | Ebd., S. 121.
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R EINHARD S CHULZ »die Wahrnehmung […] als dieses fragende Denken begriffen werden, das die Wahrnehmungswelt eher sein läßt, als daß es sie setzen würde, und vor dem die Dinge werden und entwerden in einer Art gleitender Übergänge diesseits von Bejahung und Verneinung.«18
Hiermit ist eine vorprädikative Dimension angesprochen, die in jeder empirischen Beobachtungspraxis mitspielt, ohne dass man jedoch dieser Dimension begrifflich verobjektivierend habhaft werden könnte. Denn diese Dimension verweist zuallererst auf ein Leib, Sprache und Wahrnehmung umgreifendes Ausdrucksgeschehen19 und viel weniger auf eine schon bestehende Sprache feststehender und erworbener Bedeutungen, die den Phänomenen übergestülpt wird, wie sie zumindest unterschwellig auch in Wittgensteins Gleichnis eines »Werkzeugkastens der Sprache« anklingt. Die im Anschluss daran von Gebauer entwickelten Überlegungen zu »Körper-Denken«, »Körperpraktiken«, »Umgangsqualitäten« und »Umgangskörper«,20 die immer auch als eine Kritik an der Phänomenologie aufgefasst werden sollen,21 laufen Gefahr, zu kurz zu greifen und dichotomisch missverstanden zu werden, wenn sie das Zustandekommen »funktionaler Äquivalenzen« zwischen Subjekt und Welt im Rahmen einer Gebrauchstheorie der Sprache allein dem Subjekt aufbürden und das Zusammentreffen der »Anforderungen der Dinge und unsere Fähigkeiten zu antworten« dann wie ein Wunder erscheinen lassen. Merleau-Ponty hatte unter Bezugnahme auf den Fußball versucht, dieser Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen, indem er von einer »Dialektik von Umwelt und Handlung« spricht: »Je18 | Ebd., S. 138. 19 | »Nicht indem ich mein ganzes Denken in Worten deponiere, aus denen die Anderen es dann entnehmen, verständige ich mich mit ihnen, sondern mit meiner Kehle, meiner Stimme, meiner Betonung und natürlich auch mir den Worten, den bevorzugten Satzkonstruktionen und mit dem eigenen Zeitmaß, die ich jedem Satzteil zugestehe, komponiere ich ein Rätsel von der Art, daß es nur eine einzige Lösung zuläßt, bis der Andere, der diese mit Schlüsseländerungen, mit Punktierungen und Kadenzen gespickte Melodie stillschweigend begleitet, sie auf seine Rechnung nimmt und mit mir aufsagt, was dann Verstehen heißt« (Merleau-Ponty, Maurice: »Die Wissenschaft und die Erfahrung des Ausdrucks«, in: ders., Die Prosa der Welt, München 1984, S. 52 [Herv. i.O.]). 20 | Alle Zitate: Gebauer, Gunter: Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009, S. 71. 21 | »Es sind nicht unsere Sinne selbst, die die Dinge in der Welt erfassen; mit diesem Gedanken unterscheidet sich Wittgenstein von der Phänomenologie. Funktionelle Äquivalenzen werden nicht von der Welt direkt hervorgerufen, sondern werden vom Subjekt gebildet, mit Hilfe seines Handelns und Denkens organisiert, körperlich gespeichert und abrufbar angeordnet. Wir antworten auf die Welt durch unseren Gebrauch der Sprache, in dem die Anforderungen der Dinge und unsere Fähigkeiten zu antworten zusammentreffen« (ebd.).
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des Manöver, das der Spieler vollführt, verändert den Aspekt des Spielfeldes und zeichnet darin neue Kraftlinien ein, wo dann ihrerseits die Handlung verläuft und sich realisiert, indem sie das phänomenale Feld erneut verändert.«22 Wie bei anderen Ballspielen auch, schafft der Ball im Fußball immer wieder neue Situationen zwischen Umwelt und Aktion, Zufall und Regel, Kontingenz und Kontrolle, »freiem« und »engen Raum«, »tödlichem Pass« und »Tiefe des Raumes«, Raffinesse und Trivialität, Kontingenz und Risiko.23 Merleau-Ponty hat sich in Das Sichtbare und das Unsichtbare der Umgangsproblematik ausführlich gestellt und dabei die Rolle des Anderen und die Gewissheit einer gemeinsam von uns bewohnten sinnlichen Welt besonders hervorgehoben.24 Auf der Grundlage der dort angesprochenen Gemeinsamkeiten von Sprache und »fleischlichen Erfahrungen« sollten Wittgensteins Gebrauchstheorie der Sprache und Merleau-Pontys Leibphilosophie weniger als gegenläufige, denn als komplementäre Entwürfe aufgefasst werden, indem jene »Familienähnlichkeiten«25 zwischen ihnen deutlich werden,26 die einerseits beide 22 | Merleau-Ponty, Maurice: Die Struktur des Verhaltens, Berlin/New York 1976, S. 194. 23 | Alle Zitate: Prange, Klaus: »Fangen, werfen, treten: Über den Ball in der Erziehung«, in: Wolfgang Schlicht u.a. (Hg.), Über Fußball. Ein Lesebuch zur wichtigsten Nebensache der Welt, Schöndorf 2000, S. 120ff. Zu »Kontingenz und Risiko« im Fußball siehe auch Alkemeyer, Thomas: »Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel«, in: Robert Gugutzer (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 265-297. 24 | »Wir sprechen und verstehen die Sprache schon lange, bevor Descartes uns lehrt […], daß unsere Realität das Denken ist. Lange noch, bevor wir durch die Linguistik die intelligiblen Prinzipien kennenlernen, […] Das Kind versteht weit mehr als das, was es sagen kann, seine Antworten gehen weit über das hinaus, was es definieren könnte, und dem Erwachsenen geht es im übrigen gar nicht anders. Ein wirkliches Gespräch verschafft mir Zugang zu Gedanken, zu denen ich mich nicht fähig wusste und zu denen ich nicht fähig war, und manchmal fühle ich, wie man mir folgt auf einem Weg, der mir selbst unbekannt ist und den meine Rede, angefeuert durch Andere, gerade erst für mich bahnt« (M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 28f. [Herv. i.O.]). 25 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen § 67, Frankfurt a.M. 1971, S. 57f. 26 | »Die Philosophie ist der Wissenschaftsglaube, der sich selbst befragt […] Wir haben kein Bewußtsein, das die Dinge konstituiert, wie der Idealismus glaubt, aber die Dinge sind dem Bewußtsein auch nicht vorgeordnet, wie der Realismus glaubt […] – mit unserem Leib, unseren Sinnen, unserem Blick und unserer Fähigkeit, die Sprache zu verstehen und zu benutzen, verfügen wir über Maßstäbe für das Sein, über Dimensionen, auf die wir es beziehen können, aber über keine Beziehung der Adäquation oder der Immanenz« (M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 139 [Herv. i.O.]). Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit § 94, Frankfurt a.M. 1970: »Aber mein Weltbild habe ich nicht,
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Ansätze vom naiven objektivistischen Wahrnehmungsglauben der Wissenschaft absetzen,27 aber andererseits die bestehen bleibenden Unterschiede nicht außer Acht lassen. So machte Merleau-Ponty im Unterschied zu Wittgenstein zwischen den Naturwissenschaften und den Künsten keinen wesentlichen, sondern nur einen graduellen Unterschied28 und hebt an vielen Stellen von Das Sichtbare und das Unsichtbare vor allem das literarische Werk von Marcel Proust29 für die Verdeutlichung seines phänomenologischen Denkens immer wieder hervor: »Keiner ist weiter gekommen als Proust in der Bestimmung der Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, in der Beschreibung einer Idee, die nicht das Gegenteil des Sinnlichen ist, sondern sein Futter oder seine Tiefe.«30
II. V ERKÖRPERUNGEN Merleau-Ponty und Wittgenstein ist gemeinsam, dass sie ausgiebig von Metaphern Gebrauch machen, ohne jedoch selbständige Metapherntheorien vorgelegt zu haben. Fabian Goppelsröder hat »Wittgensteins Gang in die Dichtung«, wie er von Manfred Frank beschrieben worden ist,31 in einer bemerkenswerten Studie32 aufgegriffen und weitergeführt. Der Wert der Untersuchung für diesen Beitrag bemisst sich daran, dass ein Zusammenbringen der praxistheoretischen Studien von Bourdieu und des Sprachspielkonzepts von Wittgenstein weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide« (S. 33). 27 | »[…] das System der objektiven Beziehungen und die erworbenen Ideen führen selbst so etwas wie ein zweites Leben oder verfügen über eine zweite Wirklichkeit, was bewirkt, daß der Mathematiker direkt auf die Entitäten zugeht, die noch niemand gesehen hat, daß die fungierende Sprache und der operative mathematische Algorithmus sich einer sekundären Sichtbarkeit bedienen und daß die Ideen die andere Seite von Sprache und Kalkül bilden« (M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 200f. [Herv. i.O.]). 28 | »Die Literatur, die Musik, die Leidenschaften, aber auch die Erfahrung der sichtbaren Welt stellen genauso wie die Wissenschaften von Lavoisier und Ampère die Erforschung eines Unsichtbaren dar. Nur lassen sich diese unsichtbaren Wesen und Ideen nicht wie jene der Wissenschaft von den sinnlichen Erscheinungen loslösen und zu einer zweiten Positivität umformen« (ebd., S. 196). 29 | Ebd., S. 195-200, S. 221, S. 230, S. 307-308. 30 | Ebd., S. 195. 31 | Frank, Manfred: »Wittgensteins Gang in die Dichtung«, in: Manfred Frank/Gianfranco Soldati, Wittgenstein. Literat und Philosoph, Pfullingen 1989. 32 | Goppelsröder, Fabian: Zwischen Sagen und Zeigen. Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie, Bielefeld 2007.
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mit der Leibphilosophie Merleau-Pontys nachvollziehbar wird. Goppelsröder beschreibt, wie sich Bourdieus Ersetzung eines globalen Gesellschaftsbegriffs zugunsten von empirischen Feldstudien mit Wittgensteins Sprachspiel- und Lebensformkonzepten »parallelisieren« lasse, insofern die Akteure in beiden Fällen »weder vollkommen selbstbestimmt noch völlig determiniert«33 seien. Im Sprachspiel sei die Welt vielmehr aus ihrer Mitte heraus in einer Verflechtung von Tun und Sprechen als veränderliche Praxis geordnet.34 Das darüber freigesetzte Wechselspiel im Ergreifen unterschiedlicher Handlungsoptionen in dynamischen Feldstrukturen überwinde »das ›Vorurteil der objektiven Welt‹«35 zugunsten eines relationalen Denkens und erlaube darüber hinaus gesellschaftlichen Wandel besser denken zu können. Eine Problematik dieser im Gefolge von Wittgenstein weitgehend auf Regelfolgen, Gepflogenheiten, Abrichtung, Einübung und Verlässlichkeit abgestimmten konventionellen Sprachspielpraxis könne nun aber darin bestehen, dass eine »radikale Form von Kreativität«, wie sie in einem von Ricoeur herrührenden »Paradigma der ›lebendigen Metapher‹ gefasst werden soll«, mit Wittgenstein »am schwersten zu denken«36 sei. Goppelsröder geht deshalb der Frage nach, wie ein radikaler Metapherngebrauch, der – wie wir noch sehen werden – für Merleau-Ponty typisch ist, auch bei Wittgenstein aufgefunden werden könne. Eine Schlüsselrolle spielt auch dabei wiederum die Wahrnehmung und für den Metapherngebrauch im zweiten Teil von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen die Doppelverwendung des Wortes ›sehen‹ in den Gestalten von klassifizierender Alltagswahrnehmung und dynamischem Aspektsehen. Dadurch, dass das Aspektsehen, das Wittgenstein nicht zur eigentlichen Wahrnehmung zählt, durch Unsicherheit, Wechsel und mangelnde Ordnung gekennzeichnet sei, eröffne es gerade Dimensionen für das Außeralltägliche, für »blinde Flecke«, für das Unsichtbare, für das Unaussprechliche, für die »Erfahrung des dynamischen Zwischen der Aspekte«37 Goppelsröder stellt daher zusammenfassend fest: »Wittgenstein gibt somit die Unterscheidung von Sagen und Zeigen auf dem Weg von der Früh- zur Spätphilosophie keineswegs auf; er transformiert sie vielmehr in die der Differenzierung zwischen gerahmter und ungerahmter Wahrnehmung: Im Scheitern der 33 | Beide Zitate: ebd., S. 143. 34 | Ein Ordnungszusammenhang, den Merleau-Ponty demgegenüber als »primordiale Natur« (siehe Kap. 1) aufgefasst wissen wollte. 35 | Ebd., S. 125: Mit dieser Formulierung bezieht sich Goppelsröder in zwei Fußnoten auf Merleau-Ponty: »Merleau-Ponty spricht von der Verabsolutierung einer ›attitude de pure théorie‹ (Merleau-Ponty, Maurice: Le philosophe et son ombre, in: ders., Signes, Paris 1960, S. 259-295, S. 265)«. 36 | Alle Zitate: ebd., S. 77. 37 | Ebd., S. 81.
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R EINHARD S CHULZ Sprache bricht das Aisthetische in die gerahmte Wahrnehmung ein. […] Er bannt das Höhere, die Tiefe der Sprache, in seine Rede, weil er die dichtende Philosophie nicht nur postuliert, vielmehr sie selbst praktiziert. Er zeigt die Kontingenz jeder Erklärung des Ganzen der Welt, indem er Allgemeinplätze aufgreift und ihren Fokus, den sie organisierenden Aspekt ständig aufs Neue verändert, das Gewohnte durch im Wortsinne unglaubliche Denkexperimente irritiert.« 38
Es lässt sich kaum eine bessere Beschreibung finden, mit der sich nicht auch Merleau-Pontys »Theorie des Fleisches«39 als einer der Welt, des Seins, des Sichtbaren und des Sehens, der Zeit, der Idee, der Sprache, der Gestalt, des Leibes, des Geistes, des Unbewußten, der Natur und der Einschreibung der Wahrheit charakterisieren ließe. »Sagen und Zeigen«, »gerahmte und ungerahmte Wahrnehmung«, »Scheitern« und »Tiefe der Sprache«, »dichtende Philosophie«, »unglaubliche Denkexperimente«, alle diese für Wittgenstein aufgespürten Attribute können ohne weiteres auch auf den Aspektreichtum Anwendung finden, mit dem Merleau-Ponty vor allem in Das Sichtbare und das Unsichtbare das Zur-Welt-Sein des Menschen und das »Wissen, das ich selbst verkörpere«40 mit der Metapher des »Fleisches« umkreist. Die paradoxe Grundsituation, dass der Leib immer zugleich zur und in der Welt fungiert, stimuliert den »dichtenden Philosophen« zu immer weiteren metaphorischen Anspielungen, die in letzter Konsequenz unerschöpflich bleiben müssen. Stellt man so wie Wittgenstein und Merleau-Ponty im Hinblick auf die Probleme der Wahrnehmung und der Sichtbarmachung nicht mehr den Begriff, das Sein, das Bewusstsein, die Erkenntnis oder das Verstehen in den Mittelpunkt der philosophischen Untersuchung, dann müssen die indirekten »Verkörperungen«41 dort einspringen, 38 | Ebd., S. 81 u. S. 86 (Herv. i.O.). 39 | »Wesentlich hier: Theorie des Fleisches, des Leibes als Empfindbarkeit und als der Dinge als in ihm impliziert. Das hat nichts mit einem Bewußtsein zu tun, das in einen Objekt-Körper hinabsteigen würde. […] Denn das Fleisch ist Urpräsentierbarkeit des Nichturpräsentierten als solchem, Sichtbarkeit des Unsichtbaren – die Ästhesiologie, das Studium dieses Wunders, das ein Sinnesorgan ist: Es ist die bildliche Darstellung der unsichtbaren ›Bewußtwerdung‹ im Sichtbaren« (M. Merleau-Ponty: Natur, S. 286 [Herv. i.O.]). 40 | M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 52. 41 | Krois, John Michael: »Kunst und Wissenschaft in Edgar Winds Philosophie der Verkörperungen«, in: Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John Michael Krois (Hg.), Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, S. 181. Schulz, Reinhard: »Das Experiment zwischen Theorie und Kultur – Ludwik Fleck im Vergleich mit Karl Popper und Edgar Wind«, in: Bozena Choluj/Jan C. Joerden (Hg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für Wissenschaft und Praxis, Frankfurt a.M. 2007, darin das Kap. »Verkörperung«, S. 103-109.
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wo das begriffliche Denken an eine unüberwindliche Grenze stößt. Eine der damit verbundenen Möglichkeiten ist der metaphorische Wortgebrauch. Nun kann man natürlich die Frage aufwerfen, warum das metaphorische Denken ausgerechnet mit einem empirisch orientierten praxistheoretischen Forschungszusammenhang in Verbindung gebracht werden sollte. Spricht nicht gerade die uneindeutige Tendenz des metaphorischen Sprachgebrauchs gegen die auf größere Zuverlässigkeit und Überprüfbarkeit hin angelegte empirische Erforschung und Beobachtbarkeit des Sozialen? Aber worin manifestiert sich dieses Soziale denn am ehesten? Sind es – um bei denen in diesem Beitrag diskutierten Autoren zu bleiben – eher die Praxis (Bourdieu), die Sprache (Wittgenstein), der Leib (Merleau-Ponty), Horizont und Geschichte (Husserl) oder das System (Luhmann)? Da für die Thematisierung einer universalen Wechselbeziehung vor dem Hintergrund der völlig unterschiedlichen theoretischen Zugänge kein eigenständiges Vokabular zur Verfügung steht, das für sich allein in der Lage wäre, den Aspektreichtum aller in den Blick genommenen Perspektiven »festzuhalten«, dürfte die »stattdessen« einen Zusammenhang, einen Sinn oder eine Ordnung verkörpernde metaphorische Rede kein schlechter Ersatz und der Metaphernreichtum in weit voneinander entfernten philosophischen Konzepten (wie Wittgensteins und Merleau-Pontys) kein Zufall sein. Merleau-Pontys »Phänomenologie der Offenheit«, die eine diesbezügliche Offenheit für die empirische Forschung seiner Zeit mit einschließt, ist daher ein Paradebeispiel für ein Denken, das versucht, alle jene oben genannten Gesichtspunkte (Praxis, Sprache, Leib, Horizont, Geschichte, System) gleichermaßen zu berücksichtigen und in der »absoluten Metapher«42 des »Fleisches« (le chair) einen Überkreuzungspunkt (Chiasmus) dieser Gesichtspunkte zur Sprache gebracht hat, der
42 | »Daß diese Metaphern absolut genannt werden, bedeutet nur, daß sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können, nicht aber, daß nicht eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann. Auch absolute Metaphern haben eine Geschichte. Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren. […] die Metaphorologie sucht an die Substrukturen des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch fassbar machen, mit welchem ›Mut‹ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft« (Blumenberg, Hans: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 84-105; wiederabgedruckt in Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 289f. [Herv. i.O.]).
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jedoch aufgrund seines transzendenten43 Charakters einen imaginären Anteil enthält, der prinzipiell »nicht beobachtbar«44 sein kann. Wir treffen daher in Das Sichtbare und das Unsichtbare mit immer wieder neuen metaphorischen Annäherungen an die Verkörperungen des »Fleisches«45 auf jenes Wahrnehmungsfeld, welches 43 | »[Des Menschen] Verhaltensweisen schaffen Bedeutungen, die seine anatomische Anlage transzendieren, gleichwohl aber dem Verhalten als solchem immanent bleiben – ist doch dieses erlernbar und verstehbar. Von diesem irrationalen Vermögen der Bedeutungsschöpfung und Bedeutungskommunikation abzusehen, ist schlechterdings unmöglich. Die Sprache ist nur ein Sonderfall der Entfaltung dieses Vermögens« (Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 224). 44 | »Das Imaginäre hat keinen Bestand, es ist nicht beobachtbar, es verflüchtigt sich, sobald man zum Sehen übergeht. Auf diese Weise zerteilt sich das An-sich-für-sich im Blick des philosophischen Bewußtseins, um Platz zu machen für das Sein, das ist, und für das Nichts, das nicht ist, […]« (M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 117). 45 | Ebd.: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien an dieser Stelle unter Angabe der jeweiligen Seitenzahlen nur einige der metaphorischen Verwendungsweisen des »Fleisches« (F.) aufgezählt: »daß ich F. werde« (S. 88), »ob jede Beziehung von mir zum Sein bis hin zum Sehen und Sprechen, nicht ein eingefleischter Bezug ist, ein Bezug zum F. der Welt« (S. 116), »Raum- und Zeitstrahlen, die aus der geheimen Tiefe meines F. dringen« (S. 153), »ebenso wie die sichtbaren Dinge die geheimen Falten unseres F. sind, obwohl doch unser Leib ein sichtbares Ding unter anderen ist« (S. 158), »unser F. überzieht und umfaßt sogar alle sichtbaren und tastbaren Dinge, von denen es doch umgeben ist; deshalb sind die Welt und ich ineinander« (S. 163 f.), »Die jeweilige Landschaft meines Lebens ist nicht ein umherirrender Trupp von Empfindungen oder ein System ephemerer Urteile, sondern ist Segment des dauerhaften F. der Welt; deshalb ist sie auch anderer Sichtweisen trächtig als meiner eigenen« (S. 164), »Daß die Gegenwart der Welt eben Gegenwart ihres F. für mein F. ist, daß ich ›von ihr bin‹ [en sois] und doch nicht diese selbst bin, das ist alsbald gesagt und schon vergessen: die Metaphysik bleibt Koinzidenz.« (S. 168), »Wenn wir vom F. des Sichtbaren sprechen, so haben wir damit keine Anthropologie im Auge, […]: das fleischliche Sein […] ist ein Prototyp des Seins, […] dessen konstitutives Paradox jedoch schon in allem sichtbaren zu finden ist: […] wie mein Leib aufs Mal phänomenaler Leib und objektiver Körper ist, […]« (S. 179), »weil also der Leib [corps] zur Ordnung der Dinge gehört, so wie die Welt universelles F. [chair] ist« (S. 181), »dieses mir selbst eingeborene Anonyme haben wir vorhin F. [chair] genannt, und bekanntlich gibt es in der traditionellen Philosophie keinen Namen dafür« (S. 183), »Nun, dieses sichtbare und berührbare F. macht nicht das ganze F. aus, ebensowenig wie die massive Körperlichkeit den ganzen Körper ausmacht. Die Reversibilität, die das F. definiert, wirkt ebenso in anderen Feldern« (S. 189), »Sublimierung des F., die zu Geist und Denken führt« (S. 190), »weil es unbestritten evident ist, daß man nicht denken kann, ohne auf irgendeine Weise zu sehen oder zu empfinden, und daß alles uns bekannte Denken einem F. zukommt« (S. 191), »Das F. (das der Welt oder mein
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Husserl als »Horizont« bezeichnet und in einen Innen- und Außenhorizont unterschieden hatte,46 womit sowohl der Möglichkeitsspielraum eines Dinges, wie auch der Verweisungszusammenhang zu anderen Dingen angesprochen sein soll. Wesentlich ist dabei eine antizipative Komponente, die in vorwissenschaftlicher lebensweltlicher Einstellung zu einer zur Selbstverständlichkeit geronnenen typischen Vertrautheit mit der Welt führt. Husserl hatte diese lebensweltliche Einstellung vor allem mit der idealisierten Welt der Wissenschaft kontrastiert,47 Merleau-Ponty hat diesen Kontrast dann auf eine umgreifende Verhältnisbestimmung von Sichtbarem und Unsichtbarem unter Einschluss von »Fleisch« und Idee ausgeweitet. »Husserls Rede vom Horizont der Dinge – ihrem Außenhorizont, den ein jeder kennt, und ihrem ›Innenhorizont‹, jenem Dunkel, vollgestopft mit Sichtbarkeit, wo die Oberfläche nur eine Grenze darstellt – muß ernst genommen werden; […] Hier stoßen wir auf den schwierigsten Punkt, nämlich auf das Band zwischen Fleisch und Idee, zwischen Sichtbaren und der inneren Armatur, die es enthüllt und verhüllt.« 48
III. K OE XISTENZ Vergleichbar zentral wie der Begriff des »Habitus« bei Bourdieu, der des »Sprachspiels« bei Wittgenstein oder auch der des »Horizonts« bei Husserl ist der Begriff der »Koexistenz« bei Merleau-Ponty. Mit ihm erfährt die Dualismuskritik ihren stärksten terminologischen Ausdruck und hier hat jener »schwierigste Punkt« der Beziehung zwischen dem metaphorischen Sinn des »Fleisches« und dem geheimen Sinn von Ideen49 seinen Anhaltspunkt. Während im vorhergehenden Kapitel im Rahmen von Merleau-Pontys »Phänomenologie eigenes) ist nicht Kontingenz oder Chaos, sondern Textur, die zu sich kommt und mit sich selbst übereinkommt« (S. 192), »Man darf sich das F. nicht von den Substanzen Körper und Geist aus denken, denn dann wäre es eine Einheit von Gegensätzen, sondern man muß es, wie gesagt, als Element und als konkretes Emblem einer allgemeinen Seinsart denken« (S. 193). 46 | Marx, Werner: Die Phänomenologie Edmund Husserls, München 1987, S. 48ff. 47 | Husserl, Edmund: »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie«, in: ders., Ges. Schriften, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1992, 8. Bd. 48 | M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 195. 49 | »Wir sehen die Ideen nicht, wir hören sie nicht, nicht einmal mit dem Auge des Geistes oder mit dem dritten Ohr: und doch sind sie da, hinter den Tönen oder zwischen ihnen, hinter den Lichtern oder zwischen ihnen, sie sind erkennbar an ihrer stets besonderen, stets einzigartigen Weise, sich hinter dem Sichtbaren und dem Hörbaren einzugraben ›perfekt‹ voneinander unterschieden, ungleich an Wert und Bedeutung« (ebd., S. 197f.).
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der Offenheit« mit der aufgezeigten Dispersion eines metaphorischen Sinns des »Fleisches« einige Parallelen zu jener von Wittgenstein her entwickelten Dimension einer dynamischen Erfahrung des Aspektsehens das Thema waren, vollzieht sich »Koexistenz mit dem Phänomen in dem Augenblick, in dem es in jeglicher Beziehung zum Maximum seiner Artikulation gelangt.«50 MerleauPonty stellt sich das so vor, dass sich identifizier- und artikulierbarer Sinn (wie unter einem »Mikroskop«51) aus einem bis dahin diffusen Gesamtzusammenhang herausschält. Die beiden prominentesten Bereiche sind dafür eine immer schon historisch verstandene soziale Praxis und die als »Körperfunktion« verstandene Sprache, »die sich am nächsten mit dem Miteinandersein, der Koexistenz, wie wir sagen würden, verknüpft.«52 Im Rahmen seiner Geschichtsauffassung möchte Merleau-Ponty in Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus »die Kausalität des Ökonomischen« überwinden und die »Weisen der Existenz und der Koexistenz«53 an jene Stelle setzen.54 Zu einem »Drama der Koexistenz« könne es innerhalb des Sozialen immer dann kommen, wenn konkurrierende Artikulationen historischen Sinns gleichzeitig in Frage kämen und sich aneinander reiben würden. Dies betrifft dann viele in diesem Zusammenhang vorstellbare Modalitäten des Sozialen, wie z.B. »Nation und Klasse«,55 aber man kann sich hierbei durchaus auch kleinere zeitlich und/oder räumlich gegeneinander abgrenzbare und damit praxistheoretisch erforschbare Einheiten, wie z.B. bestimmte Subjekt- oder Praxisformen vorstellen, wenn sich etwa im historischen und/oder internationalen Vergleich von bestimmten 50 | M. Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 368. 51 | Wie Merleau-Ponty greift auch Michael Hampe zu einem Vergleich mit dem Mikroskop, um den Unterschied zwischen einer »übersichtlichen Darstellung« (Wittgenstein) und einer Erklärung zu verdeutlichen: »Wir sind geneigt, nur Erklärungen und Schlüsse als Erkenntnis fördernd zu betrachten. Doch das Beschriebene ist vor der Beschreibung nicht in derselben Genauigkeit und Prägnanz gegeben, wie es in und nach der guten Beschreibung erscheint. Die gute Beschreibung präpariert an dem Beschriebenen Merkmale und Strukturen heraus und macht dadurch etwas sichtbar, so wie ein Mikroskop oder Teleskop etwas sichtbar macht. […] So eine übersichtliche Darstellung führt zu einer eigenen Prägnanz der Erfahrung, die anders als die Erklärung nicht das eine auf das andere zurückführt und so die Komplexität der Wirklichkeit immer weiter vereinfacht« (Hampe, Michael: Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück, München 2009, S. 259 [Herv. i.O.]). 52 | Ebd., S. 192. 53 | Ebd., S. 205. 54 | Habermas hatte in einer vergleichbaren Diktion den Begriff der »Arbeit« durch den der »Interaktion« ersetzt. Siehe das Kapitel »Arbeit und Interaktion« in: Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a.M. 2000, S. 9-47. 55 | Ebd., S. 415.
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Unternehmer-, Wissenschaftler-, Künstler- oder Sportlerkarrieren solche »Dramen« konkurrierenden Sinns aufzeigen ließen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Merleau-Ponty Geschichte nur als erlebte Geschichte gelten lässt und Subjekte daher nur als geschichtlich situierte gedacht werden können. Für ein praxistheoretisches Forschungsprogramm, das einen globalen Gesellschaftsbegriff aufgibt, ist Merleau-Pontys Auffassung deshalb besonders interessant, weil das Soziale nicht als objektivierbarer Gegenstand, sondern als Koexistenz gedacht werden soll, denn »unser Bezug zum Sozialen [sei] tiefer als jede ausdrückliche Wahrnehmung und jedes Urteil. […] Individualistische oder soziologistische Philosophien systematisieren oder explizieren nur eine gewisse Wahrnehmung der Koexistenz. Vor allem Bewußtwerden existiert das Soziale auf dumpfe Weise als stumme Forderung.« 56
Diese gefühlte Forderung verträgt sich durchaus mit der zuvor für Koexistenz erhobenen Anforderung der maximalen Artikulation, denn »wir koexistieren in derselben Situation und wir fühlen uns einander gleich, und zwar nicht auf Grund irgendeines Vergleichs unserer Zustände, als ob ein jeder zunächst für sich selber lebte, sondern auf Grund unserer gemeinsamen Aufgaben und Gesten.«57 – Wobei vor allem über die Wahrnehmung des »Kulturobjekt(s)« der Sprache »der Andere zu einem Zentrum menschlichen Handelns sich präzisiert.«58 Diese Präzisierungen sind für Merleau-Ponty nicht anders als im Rahmen bestimmter historisch imprägnierter Modalitäten des Sozialen möglich, in denen ich in »prämordialer Gewissheit […] vor aller willentlichen Stellungnahme mich je schon situiert in einer intersubjektiven Welt«59 vorfinde. Eine derart beschriebene tiefe Verwurzelung des Sozialen in einer gemeinsamen Welt von Erleben, Umgang, Handeln, Sprechen, Kultur und Geschichte befindet sich in guter Übereinstimmung mit praxistheoretischen Konzepten, die den »Umgangskörper« der »nur diejenigen seiner Möglichkeiten anwendet, die vom jeweiligen Sprachspiel verlangt werden«60 zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen. Diese Vorstellungen Merleau-Pontys kommen weiterhin einer von phänomenologischen Motiven inspirierten Auseinandersetzung von Niklas Luhmann mit Edmund Husserl sehr nahe, die auf die Denkfigur der »doppelten Kon-
56 | Ebd., S. 414. 57 | Ebd., S. 504. 58 | Beide Zitate: ebd., S. 406. 59 | Ebd., S. 407 (Herv. i.O.). 60 | G. Gebauer: Wittgenstein, S. 98.
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tingenz«61 hinaus läuft, von der immer dann die Rede sein soll, wenn mindestens zwei als selbstreflexiv angenommene Systeme sich operativ aufeinander abstimmen müssen, ohne auf eine vorgegebene Konsensbasis (z.B. Gott, Metaphysik, Transzendentales) zurückgreifen zu können.62 Ähnlich MerleauPontys Sprechweise von einem »präobjektiven Sinnesfeld« geht Luhmann angeregt durch Husserl von einem prä-semiotischen Sinnbegriff aus, der gegen den eigenen Anspruch einer Trennung von psychischen und sozialen Systemen eine gemeinsamen Sinn generierende »Co-evolution«63 beider unterstellt. Der für diesen Beitrag wichtige Zusammenhang ist dabei abermals derjenige von Wahrnehmung und Sprache. Husserl hatte in Erfahrung und Urteil64 einen von Luhmann behaupteten Vorrang der Kommunikation bestritten, weil eine umfassende und tief greifende Wahrnehmungsstruktur die alle lebensweltliche Erfahrung fundierende Erfahrung sei, bei der »im Vollzug der Wahrnehmung eines Sinnesdinges Welt erscheint.«65 Kann Luhmann diesem starken phänomenologischen Anspruch eines Vorrangs der Wahrnehmung als »primordialer« Natur, Ordnung, Gewissheit oder Sinn begegnen, ohne selber ein solches vorkommunikatives Fundament annehmen zu müssen? Er schreibt: »Wahrnehmung ist zunächst psychische Informationsgewinnung. Sie wird jedoch zu einem sozialen Phänomen, das heißt, zu einer Artikulation doppelter Kontingenz, wenn wahrgenommen werden kann, daß wahrgenommen wird. In sozialen Situationen kann Ego sehen, daß Alter sieht; und kann in etwa auch sehen, was Alter sieht. Die explizite Kommunikation kann an diese reflexive Wahrnehmung anknüpfen, kann sie ergänzen, sie klären und abgrenzen; und sie baut sich, da sie selbst natürlich auch auf Wahrnehmung und Wahrnehmung der Wahrnehmung angewiesen ist, zugleich in diesen reflexiven Wahrnehmungszusammenhang ein.« 66
61 | Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, Kap. 3, S. 148-190. 62 | Vgl. auch den Beitrag von Gesa Lindemann in diesem Band. 63 | »Psychische und soziale Systeme sind im Wege der Co-evolution entstanden. Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der anderen. […] Die Co-evolution hat zu einer gemeinsamen Errungenschaft geführt, die sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen benutzt wird. Beide Systemarten sind auf sie angewiesen, und für beide ist sie bindend als unerläßliche, unabweisbare Form der Komplexität und ihrer Selbstreferenz. Wir nennen diese evolutionäre Errungenschaft ›Sinn‹« (ebd., S. 92). 64 | Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1975. 65 | W. Marx: Husserl, S. 104. 66 | N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 560.
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Luhmann zeigt sich hier bei allen Unterschieden im Hinblick auf die Struktur der Wahrnehmung genau wie Wittgenstein und Merleau-Ponty an der spezifischen kommunikativen Struktur einer »sozialen Situation« interessiert, die selbstreferentiell aufeinander bezogene (doppelt kontingente) Subjekte in ihrer Begegnung entfalten. Dabei habe »das Subjekt […] keinen Grund, dem anderen die an sich selbst wahrgenommenen Qualitäten abzusprechen, aber auch keinen, sie ihm zuzusprechen. […] Aber die Philosophie hat nach Luhmann diese Problemfassung verspielt, indem sie die thematisierte Unsicherheitsstruktur einerseits als Frage der Erkenntnis als solcher und andererseits als anthropologisches Phänomen weiterbehandelte.« 67
Bei Luhmanns Kritik an der die Kontingenz dieser sozialen Situation angeblich unterschätzenden Philosophie kann sich im Hinblick auf die »Erkenntnis« die transzendentale Tradition von Kant bis Husserl angesprochen fühlen und bei den »anthropologische[n] Phänomenen« könnten auch Merleau-Ponty und Wittgenstein gemeint sein. Damit stellt sich die Frage, ob Luhmann mit seiner Ablehnung von unhintergehbaren Voraussetzungen, wie z.B. der der »primordialen Natur« bei Husserl oder jener des »Wahrnehmungsglaubens« bei Merleau-Ponty, ein aussichtsreicheres Modell anbieten kann, mit dem der auf dieser »Natur« beruhende »Wahrnehmungsglaube« möglicherweise suspendiert werden könnte. Der im vorherigen Zitat angesprochene Umstand, dass in der sozialen Welt alles auch anders sein könnte (»Drama der Koexistenz« bei Merleau-Ponty) und sich dennoch kaum etwas ändert, hatte bei Luhmann zu einer Forderung von »sinnstiftenden Generalisierungen«68 auf der Sachebene geführt, damit auf der Sozialebene von Ego und Alter die doppelte Kontingenz (gefahrlos) freigesetzt werden könne. Ego und Alter vertrauen daher auch bei Luhmann (siehe Kap. 4)69 auf ein Reservoir von gemeinsamen Wahrnehmungen und Bedeutungen (»sinnstiftenden Generalisierungen«) vorsozialer 67 | Ellrich, Lutz: »Die Konstitution des Sozialen. Phänomenologische Motive in N. Luhmanns Systemtheorie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), S. 29. 68 | »Sinnsysteme in der Umwelt sind ein Sonderfall, und für diesen Sonderfall gilt, daß nicht nur strukturierte Komplexität im allgemeinen, sondern sinnspezifische Generalisierungen die Voraussetzungen herstellen, unter denen die Umwelt für selbstreferentiell-geschlossen operierende Sinnsysteme beobachtbar, verständlich, analysierbar ist« (N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 147 [Herv. i.O.]). 69 | »Luhmann scheint Husserl mit hobbesianischen Augen zu lesen […] Die phänomenologische Reduktion, die die Soziologen ausdrücklich üben sollen, hat nicht von einer objektivistisch verstellten zur ursprünglichen Lebenswelt und von dort zum transzendentalen Ur-Ich zu führen, sondern zu einer ebenso empirischen wie transzendentalen Pluralität von Subjekten, in deren wechselseitigen Unberechenbarkeit ein Problem zu
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(»prämordialer«) Art, weil sonst die durch »doppelte Kontingenz« noch einmal zusätzlich gesteigerte Komplexität durch den Anderen Überhand nehmen könnte.70 Im Hinblick auf die Sozialdimension pluraler Subjektivität von Ego und Alter, die durch die je spezifischen Bezugnahmen auf den Anderen als ein weiteres originäres Zentrum des Wahrnehmens, Erlebens und Handelns gekennzeichnet werden kann, tut sich damit ein Hiatus zwischen »selbst erzeugten Unbestimmtheiten« und den Anforderungen an eine gemeinsam erzeugte soziale ›Welt‹ auf, die sich der kommunikativ strukturierten Vermittlungsleistung an einem umgreifenden Ausdrucksgeschehen (Gesten, Sprache, Symbole, Normen)71 von Ego und Alter verdanken würde. Für Merleau-Ponty hatte sich demgegenüber aufgrund der ordnungsstiftenden Funktion des primordialen »Wahrnehmungsglaubens« das Problem von Ego und Alter gar nicht erst gestellt: »Hier gibt es kein Problem des alter ego, weil nicht ich sehe und nicht er sieht, sondern weil uns beiden eine anonyme Sichtbarkeit und ein Sehen im allgemeinen innewohnt, und zwar dank dieser ursprünglichen Eigenschaft, die dem Fleisch eigen ist, das zwar hier und jetzt ist, und doch in alle Räume und Zeiten ausstrahlt, das zwar Individuum ist, aber auch Dimension und Universelles.«72
sehen ist, das die Funktion bestimmter Ordnungsleistungen erklärt« (L. Ellrich: Konstitution des Sozialen, S. 37). 70 | »Es wäre eine Theorie selbstreferentieller, nicht-trivialer, also unzuverlässiger, unberechenbarer Systeme, die sich von einer Umwelt abgrenzen müssen, um Eigenzeit und Eigenwerte zu gewinnen, die ihre Möglichkeiten einschränken. Es wäre eine Theorie, die der Kybernetik die Aufgabe stellte, die im System selbst erzeugten Unbestimmbarkeiten zu kontrollieren« (Luhmann, Niklas: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien 1997, S. 52). 71 | »Woher weiß ich um meinen Körper? Das zu Erklärende ist bereits in Anspruch genommen, wenn die cartesianische Erklärung den Akt der Selbsterkenntnis im Spiegel als Wir-Erkennen interpretiert. Merleau-Pontys Cartesianer müsste dieses Problem um ein ›ursprüngliches Wissen um sich‹ für ein Scheinproblem halten, während Merleau-Ponty selber unter dem Titel ›ikonische Macht‹ darauf besteht, dass ein Wissen um sich nicht auf einem Vergleich zwischen zwei Instanzen beruhen kann, und insofern im Moment der intuitio Ich und mein Spiegelbild eben eine Instanz sind, die mir aus sich heraus gleichsam zuflüstert, dass Ich Ich sei. […] Ein, wenn nicht der zentrale Ausdruck, am Problem der intuitio festzuhalten, ist die Grund legende Rolle der Kategorie des Ausdrucks« (Schürmann, Volker: Die Unergründlichkeit des Lebens. Lebens-Politik zwischen Biomacht und Kulturkritik, Bielefeld 2011, S. 57f. [Herv. i.O.]). 72 | M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare, S. 187.
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Als Zwischenbilanz bliebe an dieser Stelle festzuhalten, dass die Unterschiede zwischen Systemtheorie und Phänomenologie unter Bezugnahme auf diese »sinnstiftenden Generalisierungen« doch nicht so groß zu sein scheinen, wie sie auf den ersten Blick wirken. Denn entgegen der Annahme, dass die Systemtheorie im Unterschied zur Phänomenologie absolut ohne solche stillschweigenden Voraussetzungen auskäme, zeigen sich doch nur graduelle Unterschiede zwischen einem »Vertrauen« bei Luhmann und einem »Wahrnehmungsglauben« bei Merleau-Ponty. Wenn beide Perspektiven dabei allerdings viel eher auf einen Glaubens- denn auf einen Wissensgrund zurückgreifen (wollen), entstehen neue Schwierigkeiten, weil die Systemtheorie unter Negierung einer »selbstkritischen« Philosophie73 kein Vokabular für solche philosophischen Glaubensfragen bereit hält.74 Luhmann argumentiert daher vor dem Hintergrund eines einheitlichen systemtheoretischen, den Unterschied von Philosophie und Wissenschaft aufhebenden »Bruch[s] mit der Tradition«,75 Merleau-Ponty dagegen vor dem eines für die Phänomenologie konstitutiven Unterschiedes von Philosophie und Wissenschaft.76 Damit schließt sich insofern der Kreis der in diesem Kapitel angestellten Ko-Überlegungen, indem scheinbar weit auseinander liegende Positionen, wie 73 | »Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft. Sie ist die Vernunft der »Zigeuner, die dauernd in Europa herumvagabundieren« (N. Luhmann: Neuzeitliche Wissenschaften, S. 46). 74 | Auch nicht über den Nachlassband (Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000), der sich auf die Beschreibung der Religion als ein autonomes Kommunikationssystem der modernen Gesellschaft beschränkt und die »Weltwissenschaft« Soziologie von der »vielleicht korrupte[n], vielleicht missraten[en], jedenfalls säkularisierte[n] Abweichung […] [der] kantische[n] Transzendentalphilosophie« wie folgt absetzt: »Was diese Philosophie mit der Religion und ebenso mit der Kunst teilt, ist das Vorhaben, die Welt in eine Realität und etwas anderes zu zerlegen (so wie es dann in Wittgensteins Tractatus die Sprache der Weltbeschreibung geben wird und die Sprache, in der man nur schweigen kann). Diese Struktur mag Philosophen, Logiker oder auch Mathematiker wie George Spencer Brown beschäftigen; eine Weltwissenschaft wie die Soziologie hat es angeblich nur mit Realitäten zu tun« (S. 105f. [Herv. i.O.]). 75 | Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 90. 76 | »Die Trennung von Philosophie und Wissenschaft – und zwar kraft der philosophischen Idee der Wissenschaft – war der Übergang zur Technisierung in jenem zu aller vorherigen Technik des Menschen heterogenen neuzeitlichen Sinne. Aber diese Trennung war notwendig und legitim. Hierin formiert sich die Kritik an Husserls Position. Der Sinnverlust, von dem Husserl gesprochen hat, ist in Wahrheit ein in der Konsequenz des theoretischen Anspruches selbst auferlegter Sinnverzicht« (Blumenberg, Hans: »Lebenswelt und Technisierung«, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 42 [Herv. i.O.]).
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die philosophische Position von Merleau-Ponty und die systemtheoretische Position von Luhmann aufgrund ihres gemeinsamen theoretischen Ausgangspunktes bei Edmund Husserl doch einige Schnittpunkte aufweisen. Wenn für Luhmann die »reflexive Wahrnehmung« als »soziales Phänomen« zur Artikulation der doppelten Kontingenz führt und für Merleau-Ponty das Maximum der Artikulation der »Koexistenz« im Sozialen und in der Sprache zu finden sind, wenn Luhmann von der »Koevolution« von psychischem und sozialen Systemen ausgeht und Merleau-Ponty in der »Koexistenz« vor allem eine metaphysische Dimension im Menschen aufspürt, die er dem vergegenständlichenden Denken der Wissenschaft entgegensetzt, dann beziehen sich damit beide auf einen »dunklen Sinn«, der dem über Sprache artikulierbaren Sinn oder dem über Wissenschaft objektivierbaren Sinn voraus liegt. Bei Luhmann ist das die Evolution und bei Merleau-Ponty die Philosophie, deren »Art zu fragen […] nicht die der Erkenntnis«77 und auch nicht die des »Bewußtwerden(s)«78 sein dürfe, sondern: »Das Erwachen des philosophischen Bewußtseins macht das wissenschaftliche Bemühen um Vergegenständlichung nicht nutzlos: es setzt dieses Bemühen auf der Ebene des Menschen fort, da jedes Denken notwendigerweise Vergegenständlichung bedeutet; es weiß lediglich darum, daß die Vergegenständlichung hier nicht das letzte Wort hat und daß sie uns den grundlegenderen Bezug der Koexistenz nahebringt. […] Eine Wissenschaft ohne Philosophie wüßte buchstäblich nicht, wovon sie spräche. Eine Philosophie ohne methodische Erforschung der Phänomene würde nur zu formellen Wahrheiten, daß heißt, zu Irrtümern gelangen.«79
IV. V ERTR AUEN Probleme der Sichtbarmachung von sozialen Praktiken bestehen weiterhin auf einer Vertrauensebene, die bisher noch gar nicht eigens zur Sprache gebracht worden ist und die das Beziehungsgeflecht der in den sozialen Praktiken verstrickten Akteure zu ihrem Beobachter betreffen. Ich möchte dieses Verhältnis in Analogie zu dem von Autor und Leser in den Blick nehmen, wie Sartre es
77 | Ebd., S. 136. 78 | Ebd., S. 137 (Herv. i.O.). 79 | Merleau-Ponty, Maurice: »Metaphysik im Menschen«, in: Willi Oelmüller/Ruth Dölle-Oelmüller/Carl-Friedrich Geyer (Hg.), Diskurs: Metaphysik, 2. Aufl., Paderborn u.a. 1995 [1983], S. 290. Aus: Sens et non-sens, Paris 1948, S. 145-146, S. 162-172, ins Deutsche übertragen von Bernhard Waldenfels.
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in seinem Essay Was ist Literatur? beschrieben hat,80 wobei der forschende Beobachter die Rolle des Lesers und die Akteure die der Autoren innehätten. Das damit verbundene Gedankenexperiment soll verdeutlichen, dass auch bei nicht präparierten Untersuchungsgegenständen der wissenschaftliche Blick nichts so lässt wie es ist. Selbstbezügliches Agieren von Akteuren bliebe daher solange stumm, wie es nicht an schon bestehendes praktisches Wissen anschlussfähig wäre. Literatur und Dichtung bilden einen idealen Referenzrahmen für derartige Überlegungen, weil Sagbares und Unsagbares, Faktum und Fiktion, Denken und Fühlen, Wort und Bild, Träumen und Erwachen jenseits von verschiedenen theoretischen Ansprüchen noch ungeschieden im Spiel bleiben dürfen. Sartre schreibt: »Beim Lesen sieht man voraus, man erwartet. Man sieht das Ende des Satzes voraus, den folgenden Satz, die nächste Seite, man erwartet, daß diese Vermutungen bestätigt oder entkräftet werden; das Lesen setzt sich aus vielen Hypothesen zusammen, aus Träumen, denen ein Erwachen folgt, aus Hoffnungen und Enttäuschungen […]«. 81
Ohne von einem intentionalen Subjekt sprechen zu müssen, verdeutlicht die hier angesprochene Analogie des Lesens den Sog, in den der Beobachter zwangsläufig gerät, wenn er sich seinem Forschungsgegenstand nähern will. Andererseits würde sich das Tun der Akteure auf atomisiertes bewusstes Leben reduzieren, wenn dabei kein Interpret oder ein für Interpretationen offener Zusammenhang (z.B. Geschichte, Kultur, Gesellschaft) hinzugedacht werden könnten. Um über die verobjektivierenden Beobachtungspraktiken zum Subjekt und damit zu einem Bestandteil der Welt werden zu können, bedarf es der Beachtung durch eine/n andere/n. Den Akteuren (Autoren) kann es also nicht egal sein, ob sie beobachtet werden oder nicht (»Kunst gibt es nur für und durch den anderen«82). und da sie nicht ihre eigenen Leser (Beobachter) sein können, benötigen sie offensichtlich eine soziale Welt. Im Hinblick auf die zentrale Rolle der Scham, die Sartre der Subjektkonstitution beimisst,83 könnte dieser Gedanke sogar noch dahingehend radikalisiert werden, dass das Ich, um es selbst werden zu können, dem anderen notwendigerweise Macht über sich selbst zuschreiben müsse. Luhmann zog daraus die allgemeine systemtheoretische Konsequenz:
80 | Diesen Denkanstoß verdanke ich dem Praktikumsbericht von Denise Müller: Wann ist ein Buch gut? Reflexionen zum Praktikum im Lektorat der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, unveröffentlicht, Oldenburg 2011. 81 | Sartre, Jean Paul: Was ist Literatur? Ein Essay, Reinbek 1973, S. 26f. 82 | Ebd., S. 28. 83 | Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts, Reinbek 1962, S. 299f.
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R EINHARD S CHULZ »Das Ich gewinnt, […] seine transfinite Selbstheit nur in der Kontrastierung zu einem anderen Ich (Du) gleicher Art, das ihm jede ontologische Selbstfixierung verwehrt, dadurch daß es sie beobachtet.« 84
Auch vor dem Hintergrund einer von Wittgenstein inspirierten Gebrauchstheorie der Sprache kann Sartre zugestimmt werden, wenn er schreibt, Lesen sei »gelenktes Schaffen«.85 Denn so wie der Leser die Wörter zum Anlass nimmt, literarische Objekte eigens zu entwerfen, nimmt der Beobachter sozialer Praktiken das Beobachtete zum Anlass, soziale Gegebenheiten isoliert zu interpretieren. Aber obwohl diese Objekte und Gegebenheiten »durch die Sprache hindurch verwirklicht [werden, sind sie] nie in der Sprache gegeben […].«86 Hierauf beruht der besondere Charakter des im Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen« praktizierten relationalen Forschungsdesigns, bei der die Modi der Objektivierung und die Modi der Subjektivierung nicht nur nicht unabhängig von einander gedacht werden können, sondern auch auf einen solchen gegenseitigen Vertrauensvorschuss angewiesen sind. Denn: »Der andere Mensch hat originären Zugang zur Welt, könnte alles anders erleben als ich und kann mich daher radikal verunsichern. Über die Fülle sachlich verschiedenartiger Gegenstände und über die Potenzierung dieser Vielfalt durch ihren zeitlichen Wechsel hinaus wird die Komplexität der Welt durch die Sozialdimension, die den anderen Menschen nicht nur als Ding, sondern als anderes Ich ins Bewusstsein bringt, nochmals erweitert.« 87
Mit diesem Gesichtspunkt der doppelten Kontingenz ist nun aber auch verbunden, dass Beobachter und Akteure aneinander Ansprüche stellen müssen. Die Akteure erwarten vom Beobachter, dass dieser ihre Praktiken nicht zu oberflächlich interpretiert und die Beobachter erwarten von den Akteuren, dass diese sie ernst nehmen und ihnen die Interpretation ihres Tuns zutrauen. »Die ganze Kunst des Autors besteht also darin, mich [den Leser, R.S.] dazu zu verpflichten, das, was er enthüllt, zu erschaffen […].«88 Man erkennt, dass eine solche Verbindung von Enthüllung und Erschaffung erst recht auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut sein muss, da dafür keinerlei transzendentale Hintergrundgarantien in Anspruch genommen werden können. Sicherlich kann es aus Sicht des Autors (der Akteure) wünschenswert sein, dass der Leser (der Beobachter) das mit dem 84 | N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 129. 85 | J.P. Sartre: Literatur, S. 29. 86 | Ebd. (Herv. i.O.). 87 | Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 2. erw. Aufl., Stuttgart 1973, S. 5. 88 | J.P. Sartre: Literatur, S. 39 (Herv. i.O.).
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Geschriebenen (Getanen) Beabsichtigte erkennt, doch alle Wege zu einem dahinter liegenden vermeintlichen Sinn sind empirisch nicht zugänglich und bleiben damit reine Spekulation. Bei einer Erweiterung der reinen Beobachterperspektive, die einer Erkenntnis des Menschen nicht gerecht würde, experimentiert Merleau-Ponty mit einem vielschichtigen, definitorisch nicht fassbaren Strukturbegriff, an den, wie mit dem folgenden Musikbeispiel deutlich wird, nur eine wie im zweiten Kapitel gezeigte metaphorische Annäherung möglich erscheint. »Doch die Humanwissenschaften (um nur diese zu erwähnen) haben gezeigt, daß jede Erkenntnis des Menschen durch den Menschen unbedingt etwas anderes ist als reine Betrachtung. Hier greift nämlich jeder einzelne, so gut er kann, auf Akte der Anderen zurück, gestützt auf vieldeutige Zeichen, vollzieht der einzelne eine Erfahrung nach, die nicht seine eigene ist, und er eignet sich eine Struktur an – ein artspezifisches Apriori – ein sublinguistisches Schema oder den Geist einer Kultur –, von der er sich keinen deutlichen Begriff macht; er stellt sie wieder her, wie ein geübter Pianist ein unbekanntes Musikstück entziffert, ohne nämlich selber die Motive seiner einzelnen Gesten und Verrichtungen zu erfassen, und außerstande, all das sedimentierte Wissen wiederaufleben zu lassen, dessen er sich im gleichen Augenblick bedient.« 89
Geschult durch die Linguistik Saussures vertritt Merleau-Ponty die Auffassung, dass Wörter und Zeichen für sich genommen keine Bedeutung haben.90 Denn die Sprache bestehe aus Unterschieden, »die selbst des zugehörigen sprachlichen Ausdrucks ermangeln, oder genauer, ihre sprachlichen Bedeutungen werden erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede hervorgebracht.«91 Die Aktualität Merleau-Pontys für ein praxeologisches Forschungsdesign bestünde demnach in einem sich in unserem Weltbezug manifestierenden Ausdrucksgeschehen (siehe Fußnote 19), das »sublinguistische« (z.B. leibliche), historische und kulturelle Aspekte einbezieht, die einer empirischen Überprüfung zugänglich sein können. Denn unsere historisch gewachsene Verständigungspraxis enthält zugleich einen Zufalls- wie auch einen Vernunftaspekt, denn die Sprechenden sind frei in der Auswahl der verwendeten Worte, aber auch eingebunden in eine Sprachgemeinschaft. Ebenso ist der wissenschaftliche Beobachter frei in der Auswahl seiner Untersuchungsgegenstände, zugleich aber auch eingebunden in bestimmte Theorietraditionen. Dass die praxeologische Erkenntnisweise sich nicht nur auf sinnliche Eindrücke stützen kann, son89 | M. Merleau-Ponty: Metaphysik, S. 285 (Herv. i.O.). 90 | Schulz, Reinhard: Naturwissenschaftshermeneutik. Eine Philosophie der Endlichkeit in historischer, systematischer und angewandter Hinsicht, Würzburg 2004, S. 8589 und S. 159-166. 91 | Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, erw. Neuausgabe, Hamburg 1984, S. 69.
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dern auch nach schöpferischen Ausdrücken suchen muss, ist Bestandteil eines umgreifenden an den Leib gebundenen Ausdrucksgeschehens. »Das heißt, es gäbe keine Anderen für mich und auch keine anderen Geister, hätte ich nicht einen Leib und hätten sie nicht einen Leib, durch den sie in mein Gesichtsfeld gleiten, es von innen vervielfältigen und mir als Beute für dieselbe Welt als Zugriff auf dieselbe Welt erscheinen können wie ich selbst.« 92
Dieses Wechselspiel mit den Anderen kann bei Merleau-Ponty als Kritiker des Substanzdenkens nicht in einem Gesamtsinn sondern nur in einem Stil aufgesucht werden. Denn jener Stil existiert nicht bereits vor einer Praktik, einer Handlung oder einem Werk, sondern der Stil verleiht sich in diesen seinen Ausdruck.93 Für die Sichtbarmachung von Praktiken der Subjektivierung bedeutet dies, dass sich das Interesse des Beobachters von den Ereignissen in der Welt hin zu dem schöpferischen Ausdruck über diese Ereignisse verlagern sollte. Die vorherrschenden Felder eines solchen Ausdrucksgeschehens sind die Sprache, der Leib und die Geschichte. »Doch wenn es um Sprache, den Leib oder die Geschichte geht, so kann man – will man nicht zerstören, was man zu verstehen sucht, indem man zum Beispiel die Sprache auf das Denken oder das Denken auf die Sprache hin verflacht – nur das Paradox des Ausdrucks sichtbar werden lassen.« 94
Merleau-Ponty macht auf die Verarmungen aufmerksam, die mit der Versprachlichung von Praktiken einhergehen können, da z.B. das Ausdrucksgeschehen bestimmter Körperpraktiken (etwa in Sport, Kunst, Handwerk und Labor) stets mehr enthält als das darüber Dokumentierte. Jedem Ausdrucksgeschehen wohnt somit die Paradoxie inne, dass es einerseits eines Hintergrundes geronnener verwandter anderer Ausdrücke bedarf, sich aber andererseits von diesem Hintergrund abheben können muss, um überhaupt aufgrund seiner Neuartigkeit Aufmerksamkeit für sich erlangen bzw. Befriedigung verschaffen zu können.95 Die schöpferische Dimension dieses Ausdrucksgeschehens lässt uns darauf aufmerksam werden, dass der Sinn und mit ihm das Sinnverstehen 92 | Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, München 1984, S. 153. 93 | Ebd. 94 | Ebd., S. 130f. 95 | »Ein Gedankenexperiment kann dies klären helfen: Wenn sich alles in dieser Welt in immer gleicher Weise wiederholte, gäbe es keine Veränderung und auch keine Überraschung – weder in der Liebe noch in der Politik, noch in der Wirtschaft oder in der Dichtung. Gähnende Leere und Langeweile breiteten sich aus. Wenn dagegen alles nur neu oder innovativ wäre, fiele die Menschheit von einem Tag auf den anderen in ein
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einem beständigen Wandel unterworfen sind. Unter Betonung dieses Gesichtspunktes ist Merleau-Ponty ein Denker der Ambiguität. Im dritten Teil seines Hauptwerkes Phänomenologie der Wahrnehmung wird Subjektivität als ein Geflecht von wahrnehmendem Leib, wahrnehmendem Bewusstsein und Welt vorgestellt. In der Formel vom »Für-sich-sein« und »zur Welt-sein«96 zeigt sich diese Ambiguität darin, dass diese beiden Aspekte der Subjektivität weder aufeinander zurückgeführt noch in einer gemeinsamen Einheit aufgehoben werden können. Zur natürlichen Welt haben wir laut MerleauPonty notwendigerweise über alle Diskontinuitäten des eigenen Lebens hinweg einen einheitlichen Bezugspunkt, der sich in der vorpersönlichen Funktion der Sinne unseres Leibes manifestiert.97 Noch bevor Menschen sich sehend denken, blicken sie im naiven Gerichtetsein auf das Sichtbare, allein deshalb vermögen sie den Blick der Anderen und die Welt wahrzunehmen. Das die Erkenntnis tragende Werkzeug ist der Leib, in dessen Organen sich ein voraus liegendes »Denken« sedimentiert hat.98 In dem vorpersönlichen Zur-Welt-Sein des Leibes zeigt sich einmal mehr die konstitutive Ambiguität des Menschen, da einerseits die Welt als Horizont aller Horizonte, das heißt, als eine vollendete Synthesis erscheint, aber andererseits deren Vollzug gerade aufgrund des perspektivischen zur-Welt-seins der konkreten Subjektivität in Gestalt des Leibes scheitern muss. Aus dieser Kombination von Perspektivität und Synthesis entsteht jener Wahrnehmungsglaube, der im ersten Kapitel dieses Beitrages ausführlich dargestellt wurde und der in Philosophie und Wissenschaft auf komplementäre Weise zum Tragen kommt. Denn: »Metaphysik treiben bedeutet, daß wir uns der Erfahrung überlassen mit all ihren Paradoxien, die sich in den Formeln ankündigen, daß wir stets aufs Neue das Geschehen der menschlichen Intersubjektivität in all seiner Unstimmigkeit uns vor Augen führen, es bedeutet, daß wir dieselben Phänomene, mit denen die Wissenschaft sich abgibt, zu Ende denken, indem wir ihnen lediglich ihre ursprüngliche Transzendenz und Fremdheit zurückgeben.« 99 schwarzes Loch, hilflos und bar jeder Orientierung« (Koselleck; Reinhart: »Was sich wiederholt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juli 2005, S. 6). 96 | M. Merleau-Ponty: Phänomenologie, S. 500-509. 97 | »Die natürliche Welt ist der Horizont aller Horizonte, der Stil aller Stile, meiner Erfahrungen im Untergrunde aller Brüche meines persönlichen und geschichtlichen Lebens eine gegebene und nicht gewollte Einheit gewährleistend, deren Korrelat in mir selbst die gegebene, allgemeine und vorpersönliche Existenz meiner Sinnesfunktionen ist, in der wir die Wesensbestimmung des Leibes gefunden haben« (ebd., S. 381). 98 | Es ist »[…] ein Denken bereits am Werk, das älter ist als ich selbst und dessen bloße Spuren die Organe sind« (ebd., S. 403). 99 | M. Merleau-Ponty: Metaphysik, S. 290.
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Autorenverzeichnis
Alkemeyer, Thomas, Dr. phil.; Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Soziologische Praxistheorien; Soziologie des Körpers und des Sports; Subjektivierungsforschung; Kulturanalysen der Moderne. Berger, Maxi, Dr. phil.; Postdoktorandin am DFG-Graduiertenkolleg »SelbstBildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Subjektbildungen in Kunst und Ästhetischer Theorie, Praxistheorien in der philosophiehistorischen Perspektive des Deutschen Idealismus und der Kritischen Theorie. Budde, Gunilla, Dr. phil.; Professorin für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; stellvertretende Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Europäisches Bürgertum; DDR; Theorie von Vergleich, Verflechtung und Gender; Bildungsgeschichte. Buschmann, Nikolaus, Dr. phil.; Postdoktorand am DFG-Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gehorsamsproduktion und Subjektbildung in der Moderne, Erfahrungsgeschichte des Krieges, Nationalismus und Nationsbildung, praxeologische Geschichtstheorie. Etzemüller, Thomas, Dr. phil.; außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Europäische Kulturgeschichte der Moderne, Wissenschaftsgeschichte, Theorie und Geschichte der Geschichtswissenschaft.
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S ELBST -B ILDUNGEN
Freist, Dagmar, Dr. phil.; Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; stellvertr. Sprecherin des DFGGraduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Nordwesteuropäische Geschichte; Öffentlichkeit und politische Kultur, Religiöse Pluralisierung, Diaspora Netzwerke. Holbach, Rudolf, Dr. phil.; Professor für Geschichte des Mittelalters an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, speziell Geschichte von gewerblicher Produktion und Handel, Hansegeschichte, Geschichte geistlicher Herrschaftsträger und Institutionen, Geschichte von Festen und freier Zeit, Mittelalter in der Geschichtskultur. Kreuzer, Johann, Dr. phil.; Professor für Geschichte der Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschichte und Kritik der Metaphysik, Sprach-, Kunst- und Religionsphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Kyora, Sabine, Dr. phil.; Professorin für Deutsche Literatur der Neuzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Subjektkonzepte in der Literatur der Moderne; Gender Studies; kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft; Gegenwartsliteratur. Lindemann, Gesa, Dr. phil.; Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Sozialtheorie, Gesellschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikforschung, Medizinsoziologie, Reflexive Anthropologie. Link-Wieczorek, Ulrike, Dr. theol.; Professorin für Systematische Theologie und Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Ökumene, Theorie der Gabe, Theologie der Versöhnung, Theologie und Enttraditionalisierung. Ricken, Norbert, Dr. phil.; Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung an der Universität Bremen; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Grundfragen erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft; Erziehungsphilosophie und Subjektivitäts-, Intersubjektivitätstheorie sowie Subjektivationsforschung; Pädagogische Anthropologie.
A UTORENVERZEICHNIS
Schulz, Reinhard, Dr. rer. nat.; Professor für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Hermeneutik, Naturphilosophie, Subjektivierungsforschung, Fachdidaktik, Studium fundamentale und die Jaspers-Forschung. Wenk, Silke, Dr. phil.; Professorin für Kunstwissenschaft und kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Kunstgeschichte der Moderne und Gender; Repräsentationen des Politischen; Theorien und methodische Konzepte der Visuellen Kultur; Visuelle Politiken im Kontext von Globalisierungsprozessen.
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