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German Pages 288 Year 2014
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur
Edition Kulturwissenschaft | Band 15
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.)
Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, unter Verwendung einer Abbildung von aremac / photocase.com Lektorat: Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1866-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort und Danksagung | 7 Vielschichtige Sehnsucht nach Natur Einleitende Bemerkungen über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti und Annette Voigt | 9
Das Fliegen gelingt nicht mehr Über Motive und Grenzen der Sinnsuche in der Natur Ludwig Trepl | 21
Ästhetische Erfahrung und die Sehnsucht nach Natur Das Mittelrheintal als Kulturlandschaft zwischen Romantik und Moderne Jörg Zimmermann | 33
Die Rolle der Landschaftsästhetik in der aktuellen Freizeitgestaltung Andrea Siegmund | 87
Sehnsucht nach Wildnis Aktuelle Bedeutungen der Wildnistypen Berg, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache vor dem Hintergrund einer Ideengeschichte von Wildnis Anne Hass, Deborah Hoheisel, Gisela Kangler, Thomas Kirchhoff, Simon Putzhammer, Markus Schwarzer, Vera Vicenzotti und Annette Voigt | 107
Freizeit im Wald Eine nachhaltige bürgerliche Praktik auf dem Weg zur Kommodifizierung Marcus Termeer | 143
Auf der Suche nach Herausforderungen Natur als risikosportliches Handlungsfeld Arne Göring | 165
Nature – Culture – Leisure Die Bedeutung von Natur in der amerikanischen Freizeitgestaltung Anke Ortlepp | 185
Naturerfahrungen und Identitätskonstruktionen in Aotearoa Neuseeland Eveline Dürr und Gordon Winder | 203
Outdoor – Freizeit als Eroberung Antonia Dinnebier | 223
Naturaneignung durch Hollywood? Anmerkungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der phantastischen Natur im Spielfilm Avatar – Aufbruch nach Pandora Anton Escher | 237
Gespenstische Diskussionen über Naturerfahrung Ulrich Eisel | 263
Autorinnen und Autoren | 281
Vorwort und Danksagung
Die Geschichte dieses Buches hat mit einer Tagung begonnen. »Objekt der Sehnsucht, Ort der Bewährung oder Schauplatz der Selbstinszenierung? Bedeutungen von Natur und Landschaft in der heutigen Freizeitgestaltung« – diesen etwas sperrigen Titel trug eine von uns zusammen mit der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) konzipierte Tagung, die im Februar 2011 an der Technischen Universität München stattfand und von der ANL durchgeführt worden ist. Insbesondere Ursula Schuster von der ANL danken wir für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Die Tagung stieß auf großes Interesse. An die Vorträge schlossen sich lebhafte Diskussionen an. So haben wir uns entschlossen, einen Sammelband zu konzipieren, der dem Phänomen der Sehnsucht nach Natur in der heutigen Freizeitkultur aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen auf den Grund geht. Einige Beiträge des Sammelbandes sind aus Tagungsbeiträgen hervorgegangen, die dafür vollständig überarbeitet wurden. Die Mehrzahl der Beiträge ist von neu eingeladenen Autorinnen und Autoren verfasst worden. In besonderer Weise danken möchten wir den Gutachterinnen und Gutachtern, die – das können wir wohl im Namen aller Autorinnen und Autoren sagen – wichtige Anregungen für Verbesserungen der Manuskripte gegebenen haben. Frau Aichmalotidou von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. danken wir für die Unterstützung bei der letzten redaktionellen Durchsicht der Manuskripte. Der Druck dieses Buches war nur möglich durch die großzügige finanzielle Förderung, die wir vom Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der Technischen Universität München sowie vom Lehrstuhl für Kunsttheorie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz erhalten haben. Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti und Annette Voigt
Vielschichtige Sehnsucht nach Natur Einleitende Bemerkungen über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti und Annette Voigt1
Freizeit ist ein wesentlicher Lebensinhalt für große Teile der Bevölkerung moderner Gesellschaften. Sie wird von den meisten Menschen als sehr bedeutsam erachtet, um den eigenen Lebensstil und damit sich selbst zu verwirklichen.2 Denn sie bietet die Möglichkeit – frei von Verpflichtungen der Arbeitswelt – zu sein, wie man möchte, und zu tun, was man eigentlich will. Diese zwanglose Selbstverwirklichung wird als lustvoll erlebt; sie macht Spaß. Man kann daher zumindest einige der heutigen Freizeitaktivitäten als Teil der Populären Kultur verstehen, wenn man mit Hügel annimmt, »daß Populäre Kultur irgendwas mit ›Vergnügen‹ zu tun hat«.3 Unter Freizeitkultur, von der wir im Untertitel dieses Buches sprechen, verstehen wir hier entsprechend nicht nur eine Form der Freizeitgestaltung, die sich auf eine »Bandbreite vom anspruchsvollen Kulturangebot bis hin zur Massenkultur im Umfeld von Unterhaltung, Zerstreuung und Erlebniskonsum« bezieht und vor allem »Massenveranstaltungen und Großereignisse (›Events‹) im Kultur- und Unterhaltungsbereich«4 meint. Mit ›Freizeitkultur‹ meinen wir vielmehr in sehr weitem Sinne die Vielzahl und Vielfalt an Freizeitaktivitäten in unserer Kultur inklusive der dazugehörigen Selbstdeutungen.
1 | Alle drei haben gleichermaßen zu dieser Einleitung sowie zur Konzeptionierung und Herausgabe des gesamten Bandes beigetragen. 2 | Siehe z.B. Roberts 2006; Veal 2001; Wynne 1998. Siehe aber Critcher & Bramhan 2004. 3 | Hügel 2003: 1. Dass Populärkultur Spaß mache, sei im Übrigen der kleinste gemeinsame Nenner von Forschung über sie sowie des Selbstverständnisses unter Teilnehmerinnen und Teilnehmern an ihr (ebd.). 4 | Beide Zitate Opaschowski 2003: 36.
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Dieses Buch legt den Schwerpunkt auf naturbezogene Aktivitäten in der heutigen Freizeitkultur. Diese sind in westlichen Kulturen zu einem Massenphänomen geworden. Viele Menschen verbringen einen großen Teil ihrer freien Zeit ›draußen‹, in Natur und Landschaft – sei es in Form eines längeren Urlaubs, einer Wochenendreise, eines Tagesausflugs oder auch nur für eine Stunde nach Feierabend. Man schätzt zum Beispiel, dass ein Fünftel des globalen Tourismus auf wesentlich naturbezogene Aktivitäten zielt.5 Untersuchungen zeigen, dass der Wunsch ›Natur zu erleben‹, in unserer Gesellschaft stark ausgeprägt ist.6 Dem Aufenthalt in der Natur und dem Erleben von Natur wird ein hoher Wert für das individuelle Wohlbefinden zugeschrieben, einige sprechen gar von ›Naturerleben als Grundbedürfnis‹.7 Dabei werden seit einigen Jahren traditionelle und neuartige Natursportarten, die man in der freien Landschaft ausübt, wie Wandern, Klettern, Radfahren, Gleitschirmfliegen, Skifahren und Wildwasserpaddeln, immer beliebter.8 Woher stammt diese Sehnsucht nach Natur? Was motiviert die Menschen zum Aufenthalt in der freien Landschaft? Eine typische Antwort auf diese Fragen lautet, Sehnsucht nach Natur sei eine Reaktion auf die als zunehmend naturfern empfundenen Lebensbedingungen unserer modernen Zivilisation (hoher Verstädterungsgrad, Büroarbeitsplätze etc.).9 Das moderne Leben, das sich für die Mehrzahl der Menschen in urbanen Räumen abspiele, wo sie ihren Tag in vollklimatisierten Büros verbringen, und in dem die einzige Natur, die Kinder kennen würden, die des Tropenparadieses im Spaßbad sei – dieses Leben wecke ein Bedürfnis nach Natur als authentischer Gegenerfahrung. Diese Antwort ist allerdings unbefriedigend. Sie basiert nämlich auf der fragwürdigen ontologischen These, dass es ein natürliches menschliches Grundbedürfnis nach Natur gebe und die moderne naturferne Lebensweise deshalb kompensiert werden müsse. Zudem bleibt unberücksichtigt, dass die Städter, die es nach ›draußen‹ zieht, Natur auf ganz unterschiedliche Weise in ihren Lebensalltag und ihre 5 | Buckley 2011; siehe auch Balmford et al. 2009. Siehe aber Pergams & Zaradic 2006; 2008, die auf der Basis des Rückgangs der Besucherzahlen in Nationalparken in den USA und Japan einen Rückgang der naturbasierten Erholung diagnostizieren. 6 | Siehe z.B. Clements 2004; Deutscher Tourismus Verband e.V. 2005; Cordell & Betz 2008. 7 | Zunehmende Entfremdung von Natur führe z.B. zu Verhaltensstörungen und Krankheiten bei Kindern. Siehe die aktuelle Debatte um nature deficit disorder in populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie GEO Magazin 2010 unter dem Titel »Zurück auf die Bäume! Das Recht der Kinder auf Wildnis, Freiheit und Natur«. Siehe auch Louv 2005; Ward 2008; Weber 2011. 8 | Vgl. Buckley 2006. 9 | Reeh & Ströhlein 2008: 8.
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Freizeit einbeziehen, sich Natur ganz unterschiedlich aneignen und dabei offenbar recht Unterschiedliches, teilweise sogar Gegensätzliches in ›der‹ Natur suchen. Die naturalisierende Deutung einer bestimmten, kulturell konstituierten Sehnsucht nach Natur führt dazu, dass die Pluralität der Gründe dafür, sich nach Natur zu sehnen, aus dem Blick gerät. Diese reichen vom Genuss von Sonne oder frischer Luft über die bewusste Wahrnehmung lebendiger und unbelebter Natur, sportliches Sich-Bewegen, kämpferisches Sich-Bewähren und selbstverliebtes Sich-Inszenieren in Natur bis zum ästhetischen Vergnügen an landschaftlicher Schönheit und Erhabenheit. Vereinfachend kann man zwei Arten von Gründen unterscheiden, aus denen Menschen sich in ihrer Freizeit nach draußen in die Natur begeben: erstens der Wunsch, die physische und psychische Gesundheit zu fördern, und zweitens die Sehnsucht nach Natur, die sich daraus ergibt, dass Natur in unserer Kultur mit positiven Bedeutungen assoziiert ist. Das Anliegen dieses Buches ist es, diese Sehnsucht nach Natur in der heutigen Freizeitkultur in ihrer Vielschichtigkeit zu vergegenwärtigen und zu analysieren. Die zutreffende Feststellung, dass Natur bei verschiedenen Freizeitaktivitäten als Gegenerfahrung zum naturfernen Alltag aufgesucht wird, ist also nicht die Antwort auf die Frage nach dem Grund für die Sehnsucht nach Natur, sondern sie markiert vielmehr den Ausgangspunkt der Beiträge dieses Buches. Eingedenk der Vielschichtigkeit der Sehnsucht nach Natur fragen die Beiträge, welcher Art diese Gegenerfahrungen sind, gegen welche Aspekte des modernen Lebens sie sich richten und welche Art von Natur zu welchem Zweck von wem aufgesucht wird. Die erste leitende Frage ist, wie Natur als Gegenwelt jeweils beschaffen ist bzw. welche Bedeutungen von Natur sich in der heutigen Freizeitkultur offenbaren. Die Vorstellungen, die wir von Natur haben können und haben, sind unterschiedlich. Woran liegt das? Begegnung mit Natur ist niemals bloß abbildende Wahrnehmung einer empirisch gegebenen Realität. Die Wahrnehmung und das Erleben von Natur werden ganz wesentlich durch Ideen und Ideale von Natur bestimmt.10 Diese Ideen und Ideale sind kulturell geprägt. Daher hat Natur in verschiedenen Kulturen und zeitlichen Epochen unterschiedliche Bedeutungen. Aber auch innerhalb einer Kultur gibt es unterschiedliche, zum Teil sogar konkurrierende Ideen und Ideale von Natur. Diese sind zu unterschiedlichen Zeiten und vor dem Hintergrund verschiedener Weltbilder entstanden. Zu einer bestimmten Zeit aufgekommene Bedeutungen von Natur können bis heute Wirkungsmacht haben, wobei die historisch entstandene Idee meist vor dem jeweiligen zeitgenössischen Hintergrund neu interpretiert wird. Es gibt 10 | Vgl. Großklaus & Oldemeyer 1983; Strey 1994; Groh & Groh 1996; Fischer 2004; Trepl, Kirchhoff & Voigt 2005; Kirchhoff & Trepl 2009a; Kangler & Voigt 2010; Kirchhoff 2011; Siegmund 2011; Vicenzotti 2011: 24-26, 99-245; Trepl 2012.
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also eine Kulturgeschichte der Natur, bei der es nicht allein um physische Veränderungen der Natur durch Menschen geht, sondern um den Wandel kultureller Auffassungen von Natur sowie der Art und Weise, wie die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen sich mittels Natur ihrer selbst als Nicht-Natur vergewissern oder auch sich von Kultur distanzieren.11 Damit ist der erste zentrale Fragenkomplex benannt, dem dieses Buch nachgeht. Gewandelt haben sich nicht nur die Ideen und Ideale von Natur. Es sind auch neue Formen entstanden, wie wir uns Natur und Landschaft aneignen: Speedflying, Riverrafting, Helibiking, Bungeespringen, Extremski, Free Solo, Bouldern, um nur einige zu nennen. Es sind aber auch Kontinuitäten und Renaissancen bei den Aneignungsformen zu beobachten: Klassiker wie Spazierengehen, Klettern, Angeln und Schlittenfahren erfreuen sich – immer noch oder wieder – großer Beliebtheit. Diese Beobachtungen bilden den Hintergrund für den zweiten zentralen Fragenkomplex, dem dieses Buch nachgeht: Inwiefern sind moderne Formen der Aneignung von Natur und Landschaft neuartig, inwiefern nur modifizierte Formen traditioneller kultureller Erscheinungen? Daran schließt sich die Frage an, ob man heutzutage die klassischen Naturaktivitäten noch aus dem gleichen Grund ausübt wie früher. Begeben sich zum Beispiel Bergwanderer heute noch auf die gleiche Weise und aus den gleichen Gründen in die Berge wie Anfang des 20. Jahrhunderts? Eignen sie sich Natur noch auf die gleiche Weise an und erleben sie Natur noch auf die gleiche Weise? Die Beiträge dieses Buches gehen diesen beiden Fragekomplexen mit Blick auf aktuelle Trends in der Freizeitkultur nach. Sie nehmen also eine besondere Perspektive auf die Aneignung von Natur ein. Dabei erschließen sie die Vielfalt der Bedeutungen, die Natur und Landschaft in der heutigen Freizeitkultur haben kann, durch systematische und historische Analysen sowie anhand regionaler Studien. Die Kenntnis der vielfältigen Bedeutungen von Natur, die die Sehnsucht nach ihr motivieren, ist nicht nur von kulturwissenschaftlichem und soziologischem Interesse. Sie ist auch unerlässlich bei der Entwicklung zeitgemäßer und gesellschaftlich akzeptierter Nutzungs- und Entwicklungskonzepte für Landschaft und Wildnis. Sie trägt somit zur Beantwortung der Frage bei: Welche Natur wollen wir? Diese Frage ist wichtiger denn je angesichts der derzeit so schnellen und markanten Veränderungen von Natur und Landschaft. Eröffnet wird der Band mit zwei Beiträgen, die das Feld von Formen der Sehnsucht nach Natur in seiner Breite abstecken. Ludwig Trepl geht in seinem Essay Das Fliegen gelingt nicht mehr. Über Motive und Grenzen der Sinnsuche in der Natur der Frage nach, warum Menschen ihre Freizeit in der Natur verbringen. Er entwickelt die These, dass sie dies nicht, wie allgemein behauptet werde, tun, ›um 11 | Kirchhoff & Trepl 2009b: 15.
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sich zu erholen‹, sondern aus vier Gründen, die bereits der Romantiker Jean Paul zu unterscheiden wusste: erstens aus Eitelkeit, zweitens aus gesundheitlichen oder, wie man heute sagen würde, Wellness-Gründen, drittens, um landschaftliche Schönheit zu erfahren, und viertens, um sich Natur als eines Mediums zu bedienen, durch das man sich selbst in eine übernatürliche, göttliche Sphäre erheben kann. Diese vier Gründe seien auch heute noch wirksam, wenn auch in anderer Weise und mit anderen Konsequenzen als in der Romantik, teils vermischt, teils in modernem Gewand. Wie in der Romantik gebe es heutzutage eine große Anzahl an Menschen, die aus Sehnsucht nach überirdischer Erhebung in die Natur geht – aber durch den utilitaristischen Zeitgeist werde die Erhebung oftmals wirksam verhindert. Jörg Zimmermann nimmt in seinem Beitrag Ästhetische Erfahrung und die Sehnsucht nach Natur. Das Mittelrheintal als Kulturlandschaft zwischen Romantik und Moderne eine umfassende und differenzierte Analyse der Struktur und des Geltungsanspruchs ästhetischer Naturerfahrung vor. Dabei geht er von dem Phänomen der Sehnsucht nach Natur als Grundbefindlichkeit romantischer Existenz aus. Der Autor konkretisiert seine Analysen anhand des Mittelrheintals, wobei er in zahlreichen Querbezügen zu aktuellen Diskussionen um das Mittelrheintal – etwa die um den Arten- und Naturschutz, Heimat und Fremde oder die reine Bildhaftigkeit von Landschaft – die Relevanz ästhetischer und kulturhistorischer Überlegungen für die aktuelle Entwicklung von Kulturlandschaften verdeutlicht. Die Ausführungen schließen mit einer »Winterreise«, die – zusammen mit acht korrespondierenden Bildern – zu einem Blick auf das Mittelrheintal abseits romantischer Klischees einlädt. In den folgenden beiden Beiträgen werden jeweils bestimmte Gründe für die Sehnsucht nach Natur vertieft und systematisierend untersucht. Der Pointierung zuliebe kann man vereinfachend sagen: Der dritte Buchbeitrag befasst sich mit Natur als Landschaft und legt dabei besonderes Augenmerk auf die Landschaftsästhetik (also den dritten von Jean Paul genannten Grund, in die Natur zu gehen), während der vierte Beitrag Natur als Wildnis thematisiert. Andrea Siegmund erklärt in ihrem Beitrag Die Rolle der Landschaftsästhetik in der aktuellen Freizeitgestaltung auf der Basis von Theorien von Joachim Ritter, Ruth und Dieter Groh sowie Martin Seel, wie ästhetische Urteile über Landschaft zustande kommen. Vor allem die Naturästhetik Seels, die Kontemplation, Korrespondenz und Imagination als ästhetische Wahrnehmungsformen unterscheidet, bietet einen Ansatzpunkt, um die ästhetische Attraktivität der Natur in ihrer Vielfältigkeit zu verstehen. Denn sie macht sowohl verständlich, warum Menschen angesichts der gleichen Natur ganz unterschiedliche ästhetische Wahrnehmungen haben können, als auch, dass unser ästhetisches Landschaftserlebnis auch von unserer momentanen Situation abhängt, sodass wir je nach Situation angesichts der gleichen Natur ästhetisch vollkommen Verschiedenes erleben können. Mit Seel lässt sich auch der derzeitige Trend erklären, mög-
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lichst unberührte, wilde Gegenden aufzusuchen: Gerade die Fremdheit und Selbstständigkeit der freien, vom Menschen nicht oder nicht erkennbar gestalteten Natur steigert für viele Menschen das ästhetische Vergnügen an ihr. Unter dem Titel Sehnsucht nach Wildnis. Aktuelle Bedeutungen der Wildnistypen Berg, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache vor dem Hintergrund einer Ideengeschichte von Wildnis untersuchen Anne Haß, Deborah Hoheisel, Gisela Kangler, Thomas Kirchhoff, Simon Putzhammer, Markus Schwarzer, Vera Vicenzotti und Annette Voigt den Trend zur Wildnis in der heutigen naturbezogenen Freizeitkultur aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Mit einer ideengeschichtlichen Analyse legen sie zunächst die voraufklärerischen, aufklärerischen und aufklärungskritischen Ursprünge unterschiedlicher heutiger Bedeutungen von ›Wildnis‹ dar. Aufbauend auf diese umfassende systematische Analyse von Wildnisbedeutungen zeigen sie für vier verschiedene Wildnistypen, welches Zusammenspiel von physischen Eigenschaften eines Gebietes und Bedeutungszuschreibungen als Wildnis für diese Typen jeweils charakteristisch ist. Deutlich wird, dass es sowohl in der Ideengeschichte als auch in der heutigen Freizeitkultur verschiedene Formen und vor allem eine Vielzahl unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher Bedeutungen von Wildnis gibt, wobei Wildnis stets, aber nicht immer ausschließlich, als Gegenwelt zu bestimmten kulturellen Ordnungsprinzipien fungiert. Wilde Natur wurde und wird als Ort der Erhabenheit, Ursprünglichkeit, Triebhaftigkeit, der Bewältigung von Grenzsituationen und der Verwilderung interpretiert. Dabei werden zunehmend die von Wildnis ausgehenden Gefahren nicht als Bedrohung, sondern als positiver Reiz erlebt. Es folgen fünf Beiträge, die unterschiedliche Motivationen für die Zuwendung zu Natur und Landschaft in der Freizeit analysieren. Sie fokussieren auf einen bestimmten Typ von Landschaft (Wald), eine bestimmte Praktik der Aneignung von Natur und Landschaft (Risikosport) und auf die Naturaneignung in bestimmten Kulturkreisen (USA und Neuseeland). In ihrer Zusammenschau führen sie die Vielschichtigkeit der Sehnsucht nach Natur eindrücklich vor Augen und machen deutlich, wie wenig aussagekräftig Erklärungsversuche für die Sehnsucht nach Natur sind, die beim Wunsch nach authentischen Gegenerfahrungen zum modernen Leben stehenbleiben (siehe oben). Marcus Termeer widmet sich in seinem Aufsatz Freizeit im Wald. Eine nachhaltige bürgerliche Praktik auf dem Weg zur Kommodifizierung der Bedeutungsgeschichte des Waldes. Er macht deutlich, dass und wie bestimmte Erwartungen den Wald als Ort der Selbstfindung konstruieren. Er zeigt in verschiedenen aktuellen Diskursen bzw. diskursiven Praktiken Kontinuitäten, Transformationen und Brüche der im 19. Jahrhundert entstandenen »bürgerlichen Naturmystik«: In der Debatte über Nachhaltigkeit ist der Wald seit Langem eine »moralische Anstalt«, von der man für eine gerechtere Welt lernen kann; in seiner sportlichen Aneignung ist er Raum »gesunder Selbstmodellierung«; zunehmend wird er in Wert gesetzt, nicht nur im Naturschutz, wo schlagkräftige nutzenorientier-
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te und ökonomische Argumente zum Schutz des Regenwaldes überzeugen sollen, sondern auch aus marktwirtschaftlicher Perspektive, um die Freizeit- und Erholungsnutzung des heimischen Waldes marktfähig zu machen. Im Mittelpunkt des Beitrags Auf der Suche nach Herausforderungen. Natur als risikosportliches Handlungsfeld von Arne Göring stehen die Fragen, welche Faszination Risikosport in der Natur ausübt, welche Motivation seine Protagonisten entwickeln und welche Rolle Natur bei der Realisierung dieser Motive spielt. Der Autor charakterisiert den Risikosport als Handlungs- und Begriffsfeld, stellt anthropologische Erklärungsansätze dafür dar, dass Menschen sich beim Sport in der Natur bestimmten Risiken aussetzen, und ergänzt diese Analyse um psychologische Ansätze aus der Motivationsforschung. In einer zusammenfassenden Interpretation der verschiedenen – von Göring als weitgehend komplementär aufgefassten – Erklärungsansätze gelangt er zu dem Schluss, dass es drei grundsätzliche Perspektiven auf Natur im Risikosport gibt: Natur als Kulisse und Rahmung sportlicher Aktivität, Natur als Fluchtpunkt einer zunehmend abgesicherten und domestizierten Gesellschaft sowie Natur als Gegner, den es zu bezwingen gilt. Um die Ambivalenz der Bedeutung von Natur in den USA geht es in dem Text Nature – Culture – Leisure. Die Bedeutung von Natur in der amerikanischen Freizeitgestaltung von Anke Ortlepp. Die Autorin fragt, welche Formen von Natursuche und -erfahrung es in der Geschichte der USA gab und welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten diesbezüglich in der heutigen Freizeitgestaltung zu erkennen sind. Dazu untersucht sie die Schriften Henry David Thoreaus, der sich als Reaktion auf die von ihm diagnostizierte Sinnentleerung des modernen Lebens einige Monate zur Kontemplation in die Wildnis zurückzog. Anhand der patriotischen Werbung der Kampagne See America First zeigt sie, wie Natur zur Projektionsfläche einer normativen nationalen Identität wurde, insofern die Natur der Nationalparks in ihren ur-amerikanischen Qualitäten angepriesen wurde. An heutigen Angeboten des Natur- und Ökotourismus, Survival-Seminaren sowie an gesundheitsbezogenen Kampagnen macht sie deutlich, dass Naturerfahrung – auch wenn sich im Laufe der Zeit naturbezogene Freizeitangebote ebenso verändert haben wie die Art und Weise, in der sich Menschen in der Natur verorten und ihrer Naturerfahrung bei der Bewältigung des Alltags Bedeutung beimessen – heute noch Relevanz als sinnstiftende Größe auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene besitzt. Zwei Beiträge befassen sich mit der Bedeutung von Natur im Naturtourismus in Neuseeland. Das ist kein Zufall, denn das abgeschiedene Neuseeland ist, wie Eveline Dürr und Gordon Winder in Naturerfahrungen und Identitätskonstruktionen in Aotearoa Neuseeland zeigen, für die Einzigartigkeit und Unberührtheit seiner Natur berühmt. Diese lockt nicht nur Touristen an das ›Ende der Welt‹, sondern dient auch politisch der Festigung der nationalen Identität und der Einheit des multiethnischen Neuseelands. Neuseeländer schreiben sich gern
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eine besonders enge Naturbeziehung zu und sehen diese als bedeutenden Referenzpunkt ihrer Identität – das zeigen die Autoren am Beispiel von Mitgliedern neuseeländischer Wandervereine. Diese sehen im Wandern eine spezifisch neuseeländische Form der Interaktion mit der neuseeländischen Natur, die an die Pionierphase der Siedlungsgeschichte des Landes anknüpft. Beim Wandern in der Natur werden die Ideale der Einfachheit, Freiheit, Hilfsbereitschaft und Gleichberechtigung gelebt. Antonia Dinnebier vermittelt in ihrem Beitrag Outdoor – Freizeit als Eroberung Einblicke in die naturbezogenen Outdoor-Aktivitäten gängiger touristischer Angebote in Neuseeland. Neuseeland bietet Besuchern nicht nur ursprüngliche und wilde Natur, sondern auch Extremerlebnisse. Vor allem diese Angebote, so ihre These, knüpfen nicht an die ideellen Wurzeln des Landschaftserlebnisses in Mitteleuropa, sondern an die neuseeländische Geschichte an, insofern sie in der Tradition der typischen Pioniertugenden der weißen Siedler stehen sollen. Der Tourist kann Wildnis ›erobern‹, sich als ›in der Wildnis lebensfähig‹ erweisen und dabei zugleich ein Stück Vertrautheit mit der fremden Natur schaffen. Dabei ist die Natur, wie sie im neuseeländischen Tourismus dargeboten wird, eine bewegte, sich verändernde und unvorhersehbare – und sie unterscheidet sich damit in den Zuschreibungen von der europäischen Natur, was sie für manche Europäer attraktiv macht. Die beiden abschließenden Beiträge thematisieren die Sehnsucht nach unverbrauchter Natur. Anton Escher befasst sich in seinem Beitrag Naturaneignung durch Hollywood? Anmerkungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der phantastischen Natur im Spielfilm »Avatar – Aufbruch nach Pandora« mit der spielfilmischen Aneignung von Natur, die auch auf die Sehnsucht nach unverbrauchter Natur reagiert. In diesem Film wird eine neue, phantastische Natur erfunden, die jedoch an klassische Naturvorstellungen anknüpft: Der Regenwald auf Pandora ist für die menschliche Hauptfigur des Films zunächst undurchdringlicher Schauplatz des Kampfes ums Überleben, technisch zu bezwingende Hölle und ein Ort, der von der Menschheit benötigte, kostbare Ressourcen in sich birgt. Später ist er dann ein Paradies, harmonische und schöpferische Natur, mit der es in Symbiose zu leben und die es vor der menschlichen Bedrohung zu retten gilt. Die Erfindung dieser phantastischen Filmnatur ist eine Wieder-Erfindung der Natur, die – so argumentiert der Autor – die uns umgebende, naturgegebene Natur nicht zu ersetzen vermag, aber doch eine positive Funktion erfüllt angesichts des Sinnverlustes, den der Mensch durch seine Differenz zur Natur erlebt. Dabei sei Sehnsucht nach Natur auch Sehnsucht nach Erfahrung eines Sinns, der nicht vom Menschen gesetzt wird, sondern über ihn hinausweist. Gespenstische Diskussionen über Naturerfahrung, unter diesem Titel analysiert schließlich Ulrich Eisel in essayistischer Form die in den Diskursen über Naturerfahrung sehr einflussreiche These, dass es keine unberührte Natur mehr auf der Erde gebe. Diese These sei ein »Gedankenspuk«, weil sie vielfältiger Erfah-
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rung widerspreche und sich daraus ergebe, dass in Theorien über Natur – nicht in ihrem realen Erleben – verschiedene Bezugsebenen in unzulässiger Weise kurzgeschlossen werden. Um das zu zeigen, wendet Eisel sich zunächst einer in der ökologischen Ethik flankierend geführten Debatte um Natur als ›Mitwelt‹ zu und zeigt, dass ohne die Existenz der Idee der Natur als ›Gegenwelt‹ die Idee der Natur als ›Mitwelt‹ sinnlos wäre. Ein analoges Scheingefecht führe, wie er anschließend zeigt, die Tourismusindustrie. An die Diskussion eines weiteren Ebenenkurzschlusses – die Konfusion, die erzeugt wird, wenn sozialkonstruktivistischen Perspektiven auf Natur eine realistische Wendung gegeben wird – schließt sich die Diskussion und Zurückweisung der These einer angeblichen neuen »Qualität des Verlustes an Unberührtheit« an, die an der universellen Verfügbarkeit von Zivilisation in jedem Winkel der Erde dingfest gemacht wird. In seinem Ausblick argumentiert Eisel, dass weder das Wissen um die allgegenwärtige kulturelle Prägung dessen, was Natur ist, noch das Wissen um die globale Naturzerstörung das unmittelbare Naturerleben zu beeinträchtigen braucht – und deutet an, wie dieses ganz praktisch möglich ist. Zusammengenommen belegen die Beiträge eindringlich, wie vielschichtig die Sehnsucht nach Natur in der heutigen Freizeitkultur ist und wie facettenreich und teilweise gegensätzlich die Bedeutungen sind, die Natur dabei hat – sei es Natur ferner Länder oder heimischer Gefilde, sei es Natur als Wildnis oder als harmonische (Kultur-)Landschaft, sei es Natur als Ort des Risikosports oder ästhetisch-kontemplativer Spaziergänge, sei es echte, leibhaftig erfahrbare oder medial vermittelte Natur. Zudem machen die Aufsätze deutlich: Es gibt ebenso bemerkenswerte neuartige Aspekte in der gegenwärtigen Zuwendung zu Natur und Landschaft wie so manche Form der Naturaneignung, die – wenngleich sie als neuartig erscheint – doch in direkter Nachfolge traditioneller Formen der Sehnsucht nach und Aneignung von Natur steht.
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Das Fliegen gelingt nicht mehr Über Motive und Grenzen der Sinnsuche in der Natur Ludwig Trepl
Wenn heute in Kreisen, in denen man sich beruflich mit der Erhaltung und Veränderung von Natur als Landschaft befasst, über das gesprochen wird, was die Menschen ganz allgemein in und mit dieser Natur machen, sagen sie gern ›Umgang mit der Natur‹, und falls jemand statt ›Umgang mit‹ ›Nutzung der‹ verwendet, wird das kaum jemandem falsch vorkommen. Wenn wir mit der Natur ›umgehen‹, dann ist das identisch damit, dass wir sie nutzen. Indem wir sie nutzen, eignen wir sie uns an, wie es ja auch im Titel der Tagung steht, aus der dieses Buch hervorgegangen ist. Selbstverständlich ist das nicht. Dem Eremiten, der sich in die Wildnis zurückzog, wäre die Aussage, dass er die Natur nutzt und er sie sich mit seiner besonderen Art zu leben in einer besonderen Weise aneignet, sicher nicht als eine richtige Interpretation seines Tuns vorgekommen. Davon hätten ihn schon seine Vorstellungen über die wahren Eigentumsverhältnisse abgehalten. Die Wildnis gehört niemandem außer Gott, hätte er vielleicht gesagt, und er nutzt keineswegs die Natur, sondern indem er allen Gedanken an Nutzen aufgibt, hofft er, Gott wohlgefällig zu werden. Objekt der Nutzung nicht nur in der Realität, sondern auch in der Vorstellung der Menschen vom richtigen Handeln, ist die Natur vor allem in der Zeit der Aufklärung geworden. Sich die Natur arbeitend anzueignen, sie zu nutzen und so umzuformen, dass sie nutzbringend ist, dass wir also aus ihr Mittel gewinnen zum Überleben und zum immer besseren Leben, darin sah man geradezu das Wesen des Menschen. Diese Einsicht war das Fundament, auf dem die liberalen Theoretiker ihre Denkgebäude vom Wesen der Gesellschaft, des Staates, des Rechts, der Wirtschaft usw. aufbauten. Wenn man sich die Natur aneignet, sie also nutzt, dann wird sie im Allgemeinen vernutzt. Die angeeignete Natur hört damit tendenziell auf, Natur zu sein. Der Urwald wird von den Kolonisten gerodet und an die Stelle der Natur tritt das Feld, ein von den Menschen geschaffenes Gebilde, so beschaffen, wie es erforderlich ist, um ihnen Produkte zu liefern. ›Feldfrüchte‹ erfordern zwar immer noch die Mitwirkung der Natur, aber sie gelten doch kaum mehr als de-
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ren Erzeugnisse, sondern bestenfalls als solche der hier arbeitenden Menschen, wenn nicht sogar nur als Erzeugnisse eines Besitzers, der mit der Bearbeitung der Natur oder des Feldes gar nichts zu tun hat. Anfangs stand der genutzten Natur die ungenutzte, die Wildnis gegenüber. Sie war in der Vorstellung seit der Aufklärung nur noch nicht genutzt. Es war selbstverständlich, dass ihr das bevorstand. Nichts sollte von der Kultivierung ausgeschlossen bleiben. Ob in einem aufklärerisch-liberalen, einem aufklärerisch-demokratischen oder einem gegenaufklärerisch-konservativen Denkzusammenhang: Es ist gut, alle Wildnis restlos zu beseitigen – also von der aufs individuelle Interesse ausgerichteten Klugheit angeraten, von der allgemeinen, aufs Gemeinwohl ausgerichteten Vernunft geboten, oder aber von Gott geboten. Eine Begründung, warum es nicht gut sein sollte, lag weit jenseits des zumindest auf den gängigen Denkwegen Denkbaren. Heute ist man ganz im Gegensatz dazu emsig bemüht, ungenutzte Natur zu erhalten. Sie soll aber keineswegs als ungenutzte erhalten werden: Auch die ungenutzte wird genutzt. Wenn Landschaftsplaner auf einer Karte die ›Nutzungen‹ eintragen, dann bleiben keine weißen Flecken. Die besondere Art der Nutzung, die zugleich Nichtnutzung ist, geschieht so, dass die Natur nicht vernutzt wird. Die Natur muss bei dieser Nutzung erhalten bleiben, das ist hier wesentlich. Diese Art der Nutzung heißt oft Naturschutz, aber wenn die Frage ist, wozu denn die Naturschutzgebiete da sind, dann ist die Antwort, falls die Begründung nicht nur ›ökologisch‹ – was immer dies bedeuten mag – ist, fast immer: ›für die Erholung‹. Wenn es eine Begründung dafür braucht, ein Stück Natur ungenutzt zu lassen oder es doch weniger intensiv zu nutzen, als es möglich wäre, dann lautet sie in aller Regel zumindest auch, dass es so besser nutzbar sei für die Erholung. Wie es dazu kam, ist für die Profession der (westdeutschen) Landschaftsplanung von Stefan Körner herausgearbeitet worden. In der Nachkriegszeit hatten die Landschaftsplaner das Problem, die Daseinsberechtigung ihres Fachs unter den neuen politischen Bedingungen beweisen zu müssen. Sie konnte nicht mehr aus der Blut-und-Boden-Theorie abgeleitet werden, und eine Rückkehr zu den alten, klassisch-konservativen Begründungsweisen, in denen der Landschaftsschutz einfach eine kulturelle Aufgabe war, ein Teil des gebotenen Kampfes für die Kultur und gegen die Zivilisation, war zumindest schwierig geworden. Man musste einen allgemein anzuerkennenden Nutzen der ungenutzten Natur unter industriekapitalistischen Verhältnissen in einem liberal-demokratischen Staatswesen zeigen. Der Nutzen, den die Natur als schöne Landschaft für den Einzelnen und für ›die Wirtschaft‹ hat, liegt in der Erholung, die sie ermöglicht; und Natur als schöne Landschaft ist da, wo Natur nicht genutzt wird oder doch nicht so effektiv, wie es möglich wäre, denn die ›schöne‹ Landschaft ist vor allem die traditionell-bäuerliche.
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Damit ist die schöne Landschaft zu einer Ressource geworden wie die dem physischen Leben dienenden und dabei vernutzten Naturdinge auch. Einem heutigen Landschaftsplaner ist kaum mehr begreiflich zu machen, dass Natur und Landschaft auch eine andere Bedeutung haben könnten als entweder nutzbar zu sein für ökonomische Zwecke oder nutzbar zu sein für Erholungszwecke (und damit indirekt auch für ökonomische). Aber das ist nicht nur in der verzerrten oder verengten Sicht so, die eine berufliche Perspektive so häufig mit sich bringt. Auch der Normalbürger, der etwa durch die Landschaft spaziert, wird auf die Frage, warum er das denn mache, in aller Regel sagen: ›um mich zu erholen‹. Vielleicht wird er auch sagen: ›um mich zu entspannen‹; das wiederum täte er, weil Entspannung für die Erholung gut sei. Tatsächlich geht kaum einer deshalb ›in die Natur‹. Früher wusste man eher, was die wahren Gründe sind. »Ein Mann von Verstand und Logik«, schrieb Jean Paul vor zwei Jahrhunderten, »würde meines Bedünkens alle Spazierer, wie die Ostindier, in vier Kasten zerwerfen«. Die erste Kaste ist die unterste. Da »laufen die jämmerlichsten, die es aus Eitelkeit und Mode tun und entweder ihr Gefühl oder ihre Kleidung oder ihren Gang zeigen wollen«. Darüber, in der zweiten Kaste, »rennen die Gelehrten und Fetten, um sich eine Motion zu machen, und weniger, um zu genießen, als um zu verdauen, was sie schon genossen haben […] oder aus einem tierischen Wohlbehagen am schönen Wetter«. In die dritte Kaste gehören die, »in deren Kopfe die Augen des Landschaftmalers stehen, in deren Herz die großen Umrisse des Weltall dringen, und die der unermeßlichen Schönheitlinie nachblicken, welche mit Efeufasern um alle Wesen fließet«. Eine noch höhere Kaste, eine vierte, »dächte man, könnt’ es nach der dritten gar nicht geben: aber es gibt Menschen, die nicht bloß ein artistisches, sondern ein heiliges Auge auf die Schöpfung fallen lassen – die in diese blühende Welt die zweite verpflanzen und unter die Geschöpfe den Schöpfer – die unter dem Rauschen und Brausen des tausendzweigigen, dicht eingelaubten Lebensbaums niederknien und mit dem darin wehenden Genius reden wollen, da sie selber nur geregte Blätter daran sind – die den tiefen Tempel der Natur nicht als eine Villa voll Gemälde und Statuen, sondern als eine heilige Stätte der Andacht brauchen – kurz, die nicht bloß mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen spazieren gehen«. Von Erholung ist hier nirgends die Rede. Dabei war es keineswegs so, dass die Menschen sie damals nicht nötig gehabt hätten, oder zumindest die nicht, zu deren Gewohnheiten das Spazierengehen gehörte; auch das Leben der bürgerlichen Klasse war damals eher anstrengender als heute. Mir scheint, Jean Paul ist nur der merkwürdige Fehlschluss nicht unterlaufen, dass das, was sich als eine Nebenwirkung des Spazierens oft oder meist ergibt, auch der Grund sein muss, weswegen man spazierengeht. Die Motive, die er nennt, sind im Wesentlichen dieselben wie heute – nicht nur fürs Spazierengehen, sondern für all jene heutigen Naturnutzungen, zu denen man ebenso gut Nichtnutzungen
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sagen könnte, Nutzungen, die voraussetzen, dass die Natur oder die Landschaft dabei nicht vernutzt wird. Natürlich hat sich im Einzelnen einiges verändert. Gehen wir die vier Kasten der Reihe nach durch. Die erste Kaste ist in den 200 Jahren sicher größer geworden. Sie ist aber mit der zweiten – und, wie wir sehen werden, nicht nur mit dieser – heute so verschmolzen, dass man nur noch wenige findet, die nur dieser untersten, der Kaste der Modegecken, angehören. Die zweite Kaste hat an Zahl außerordentlich zugenommen. Während es damals nur die »Gelehrten und Fetten« waren, also die sicher sehr kleine Gruppe derer, die es nötig hatten, sich um ihre physische Gesundheit eigens durch Bewegung zu kümmern, sind es heute Abermillionen, die sich deshalb durch die Natur bewegen, weil sie für ihren Körper ›etwas tun wollen‹. Nicht, dass sie sich etwa erholen wollen, sie haben eher anschließend Erholung nötig. Sondern sie tun es manchmal wie ihre Vorgänger vor 200 Jahren ihrer Gesundheit zuliebe, meist aber wollen sie in irgendeiner Weise ihre körperliche Leistungsfähigkeit steigern oder ihren Körper formen – was sie zugleich in die erste Kaste, die Kaste derer, die »aus Eitelkeit und Mode« spazieren, versetzt. Dabei ist die besondere Form des Spazierengehens allerdings weitgehend verschwunden; wer es doch tut, braucht vor sich und anderen eine Ausrede: Man muss den Hund ausführen. Oft bewegt man sich gar nicht durch die Natur, sondern setzt sich ihr in Gestalt der Sonnenstrahlen stundenlang regungslos aus – etwas, was die Menschen aller früheren Zeiten für völlig abwegig gehalten hätten, was sie vielleicht an eine besondere Art der Folter hätte denken lassen. Oder man läuft, klettert, fährt mit dem Rad. Das darf aber alles nicht mehr so heißen, sondern muss unter besonderen Modenamen gemacht werden, sonst wird es nicht gemacht. Zudem geschieht es kaum jemals ohne modische Kleidung, die man ausschließlich zu diesem Zweck trägt; auch darum sind die Grenzen zur ersten, also der jämmerlichsten Kaste nur noch mit Mühe zu erkennen. – Man fragt sich, ob all diese primär der Körperformung und teilweise auch der Gesundheit dienenden Tätigkeiten wirklich die Natur da draußen brauchen; man kann, und viele machen das ja auch, mehr oder weniger all die notwendigen Übungen auch in geschlossenen Räumen absolvieren. Und doch sind es Heerscharen, die täglich durch die freie Landschaft walken, joggen, biken usw., und die Zahl derer, die sich am Strand braten lassen, ist weit höher als die derer, denen ein Sonnenstudio genügt. Was sie treibt, ist im obigen Zitat bereits benannt: »tierisches Wohlbehagen«. Sie suchen, hätte man damals gesagt, ›Sinnenlust‹, und auch der Blick auf die Landschaft ist auf das reduziert, was diese Art von Lust gewährt. Soll der Blick der »unermeßlichen Schönheitlinie nachblicken«, dann darf man sich nicht zu angestrengt bewegen. Das ist selten geworden, und jene, die sich gar nicht bewegen, blicken im Allgemeinen nicht in die Gegend, sondern haben die Augen geschlossen oder sorgen mittels einer Sonnenbrille dafür, dass
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sie von der landschaftlichen Schönheit nichts mitbekommen. Die dritte Kaste scheint darum verglichen mit der Zeit Jean Pauls gewaltig geschrumpft. Überhaupt ist die Schönheit der Landschaft kein Thema mehr. In der Kunst kommt sie nicht mehr vor, allenfalls in irgendeiner Art von Brechung, etwa ironischer. Die Landschaftsbilder aber, die vor allem über die Werbung die Gesellschaft überschwemmen, sind im Wesentlichen auf die Erzeugung von »Sinnenlust« aus, von »tierischem Wohlbehagen«. Außerordentlich zugenommen hat aber die vierte Kaste. Diese Behauptung wird überraschen und bedarf der Erklärung. Spaziergänger, »die nicht bloß ein artistisches, sondern ein heiliges Auge auf die Schöpfung fallen lassen«, sind die, denen die Natur das Medium ist, sich über eben die Natur in eine nicht mehr nur natürliche Welt zu erheben. Die Sehnsucht nach dieser – so allgemein formuliert – ist geblieben und auch die Vorstellung, dass die Natur dazu das primäre Medium sei. Dass es uns so vorkommen will, als ob Jean Pauls vierte Kaste heute ganz ausgestorben ist, liegt an seiner für die Zeit der Romantik typischen Weise, wie er sich diese Erhebung vorstellt. Die Beseelung der Dinge der Natur durch den künstlerischen Blick auf sie und schließlich die Beseelung des Universums als Ganzes, so dass dieses zum göttlichen Du wird, mit dem wir sprechen können wie mit jedem einzelnen zum Du gewordenen Naturwesen, ist der Kern der romantischen Kunst-Religion. Das Immanente (Natur) und das Transzendente (Göttliches) verschmelzen. Ziel ist nicht mehr die »Auffahrt in ein himmlisches Reich, sondern so etwas wie Erlösung durch Differenzlosigkeit von Himmel und Erde«, es soll keine Spur mehr geben »von der Kluft, die zwischen dem Übernatürlichen und der Natur bestand« (Albrecht Koschorke). Zur Zeit der Romantik war das Sache einer kleinen Minderheit, die große Mehrheit hoffte nach wie vor auf die Auffahrt in ein himmlisches Reich. Aber die Romantik hat, indem sie die Sehnsucht nach dem Himmel auf die Erde holte, eine Bewegung angestoßen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Massencharakter im Bürgertum annahm und im 20. Jahrhundert alle Schichten der Bevölkerung ergriff. Es entstand das Wandern um des Wanderns willen – das »ewig Ziehn in wunderbare Ferne« (Eichendorff) – und schließlich der Ferntourismus. Die Fernsehnsucht der Romantik ist die »in die Horizontale umgekippte Vertikale der Höhensehnsucht« (Heinz Hillmann). Und das ist es nach wie vor, was die Menschen von zuhause wegtreibt: die Hoffnung, es könnte irgendwo, hinter dem Horizont, ganz anders sein als in der öden Welt des Alltags, die sie zurücklassen – so ganz anders, wie sich einst der Himmel vom irdischen Jammertal unterschied. Aber weil man diese Hoffnung immer auf Erden zu erfüllen sucht und hier nur enttäuscht werden kann, hört die Bewegung nie auf, es muss immer noch weitergehen. Zwar muss es, wenn man in die Ferne zieht, nicht immer zugleich in die Natur gehen, aber es geht doch vorzugsweise in sie. Sie ist ja für sich schon Kontrast zur öden Alltagswelt, die wir uns eingerichtet haben; in der Natur ge-
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schehen die Dinge nicht so, wie sie es unserem berechnenden Verstand zufolge tun sollten, sondern einfach von sich aus, und immer ist ihr auch etwas eigen, was diesem nicht mehr zugänglich ist. Der Wald ist im 19. Jahrhundert nicht nur zum Tempel geworden, er ist damals – und zu allen Zeiten – vor allem unheimlich gewesen. Vor der Romantik war das der Hauptgrund, ihn zu meiden. Seit der Romantik aber ist gerade das Unheimliche, Schauerliche in der Natur anziehend geworden, das Unbegreifliche, das all unseren Verstand und unsere Vernunft Übersteigende. Verstand und Vernunft aber sind verantwortlich dafür, dass unser Alltag so öde geworden ist. Im Unbegreiflichen kann die Phantasie schweifen, nichts setzt ihr Grenzen, die Herrschaft des Banalen, im Voraus schon Bekannten ist gebrochen. Diese Natur, d.h. den Kontrast zur idyllischen Natur der ›Gefildelandschaft‹, die exotische und die unheimliche, die unbegreifliche, schauerliche, überhaupt gefahrvolle Natur sucht man in der Romantik und man sucht sie heute noch. Man sucht sie aber heute kaum mehr in der Weise der Romantiker. Was diese vorzugsweise taten, nämlich wandern, ist zumindest verglichen mit all dem anderen, was man draußen unternimmt, selten geworden. Vor allem aber die Beseelung der Natur durch den schöpferischen Künstlerblick, den das romantische Denken von jedem Spaziergänger forderte, und damit ihre und die eigene Erhebung in eine übernatürliche, göttliche Sphäre, scheint alles andere als das, was man heute in der Natur macht – selbst wenn man wandert. Und doch ist der Kern dessen, was diese vierte Kaste ausmacht, eben das Aufsuchen der Natur nicht um eines Genusses willen, sondern wegen der Sehnsucht nach jener Erhebung, nicht verschwunden. Ja, man muss wohl sagen, dass diese Sehnsucht jetzt erst prägend geworden ist, nachdem die vor-romantische Vorstellung – einer Erhebung nicht mittels der und in der Natur, sondern über sie hinaus ins Himmelreich – ihre Kraft nicht allein für eine kleine Gruppe von Künstlern und Denkern verloren hat, sondern für so gut wie alle. Die Wege aber, auf denen man heute dieser Sehnsucht folgt, haben eher andere Traditionen als die der romantischen Naturbeseelung. Sie lassen sich, erstaunlicherweise, zurückverfolgen zu den beiden Denkweisen und Lebenshaltungen, die von der Romantik bekämpft wurden: Aufklärung und gegenaufklärerischen Konservativismus. Beide repräsentierten für die Romantiker die von ihnen verachtete Welt des bürgerlichen Alltags, der geschäftsmäßigen, berechnenden Nüchternheit, der »vernünftig denkenden Vernunft«, deren Gesetze es aufzuheben gilt, um »uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen« (Friedrich Schlegel). Aber in diesen beiden Traditionslinien, Konservativismus und Aufklärung, und weniger in der romantischen stehen zumindest die heute auffälligsten Versuche, jener Sehnsucht zu folgen, in und mit der Natur das Übernatürliche zu finden. Man kann diese Versuche mit ›Einfügung‹ und ›Kampf‹ überschreiben.
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Einfügung in die Natur statt der für so vergeblich wie verderblich gehaltenen Anstrengung, sie zu beherrschen, ist die Quintessenz dessen, was man seit 40 Jahren ökologisches Bewusstsein nennt. Das scheint zunächst nichts mit dem zu tun zu haben, was man beim Spazierengehen sucht. ›Ökologie‹ scheint für nüchterne Berechnungen zu stehen, in denen es ums Überleben der Menschheit geht. In den Technokratenkreisen, in denen der offizielle Diskurs um Umweltschutz, Klimaschutz, Biodiversität usw. stattfindet, mag das überwiegend so sein. Aber die Bewusstseinslage der ökologischen Bewegung ist doch eine andere, eher ein naturalistischer Konservativismus. Man sieht das vor allem in ihren naturethischen Diskussionen, in denen man die Anerkennung des ›Eigenwerts der Natur‹ fordert. Immer geht es gegen den menschlichen Egoismus. Er habe zugunsten der Einsicht aufgegeben zu werden, dass wir nur ein Teil der Natur sind wie alle anderen Wesen auch, und ›die Natur‹, der allumfassende Überorganismus in Gestalt des ›globalen Ökosystems‹, ist es, was die Normen vorgibt, denen wir zu folgen haben. Das war früher, und im Konservativismus noch lange in die Zeit der Moderne hinein, die Rolle Gottes. Das ökologische Bewusstsein ist »materialistische Theologie« (Ulrich Eisel). Im klassisch-konservativen Denken war alles Einzelne Teil von übergreifenden, organischen Ganzheiten – Familie, Staat, Landschaften als Einheiten von »Land und Leuten« (Wilhelm Heinrich Riehl). Diesen Ganzheiten hat der Einzelne auf dem Platz, auf den er sich gestellt sieht, zu dienen. Er bildet, mit anderen zusammen, Organe wie in einem Organismus. Darin erfüllt sich der Lebenssinn jedes Einzelnen. Dass aber in diesem Dienen der Sinn des Lebens liegt, war im klassisch-konservativen Denken deshalb so, weil das der Auftrag des Gottes war, der diese umgreifenden organischen Ganzheiten wie auch jeden Einzelnen erschaffen hat. Im ökologischen Bewusstsein ist typischerweise aber der Schöpfer verschwunden, die Natur ist ihr eigener Schöpfer und von ihr erhalten wir unseren Auftrag. Wer ›in die Natur‹ geht, um dort Kröten zu retten oder etwas anderes für die ›Biodiversität‹ zu tun, der tut das ›für die Natur‹, über der es nichts Größeres gibt und die das von ihm verlangt. Es ist eine Art paradoxer Gottesdienst ohne Gott, ein Dienst an der Natur, die göttlich, aber zugleich doch bloße, berechenbare ökologische Natur ist, und es ist ein Gottesdienst in der Natur wie bei denen, die »mit dem Herzen spazieren gehen«, aber kein romantischer. Wer ›in die Natur‹ geht, um einen Wildwasserfluss oder einen Achttausender zu bezwingen oder um sich mit Skiern eine Felswand hinabzustürzen, tut das auch aus Gründen, die man besser als religiöse auffasst statt als psychologisch zu erklärende Marotten. Auch das ist nicht romantisch, steht aber natürlich ganz und gar nicht in der konservativen Tradition des Sich-Einfügens ins große Ganze. Die Haltung des Siegenwollens über die Natur entstammt, wenn sie auch offensichtlich noch weit ältere Wurzeln hat, der Aufklärung. Alle Wildnis sollte damals besiegt, also beseitigt werden, so sagte ich oben. Das ist aber
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nicht ganz richtig. Gerade die wilde Natur bekam in der Aufklärung – zumindest in deren eher demokratischen als liberalen Variante – eine herausragende Bedeutung, die ihre Beseitigung nicht verlangte, im Gegenteil. Die Zeit der Aufklärung war die Zeit der Entdeckung der erhabenen Natur. Erhaben ist die Natur da, wo sie vorher nur schrecklich, furchteinflößend war. Wo sie übergroß und übermächtig ist, da ruft sie in uns den Gedanken an den wach, der größer und mächtiger ist als alles, was es in der Natur geben kann: Gott. So sah man es zunächst, in der frühen Aufklärung. Bei Kant, in der Kritik der Urteilskraft, wird dann eine Naturerscheinung als erhaben bezeichnet, wenn und weil sie eine »Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft«, so dass wir »das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein« ansehen. Wo der Mensch unausweichlich der Naturgewalt unterliegen müsste, wird ihm bewusst, dass es für ihn als Mensch »eine Selbsterhaltung von ganz andere Art« gibt, die nicht »von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte«. Diese Selbsterhaltung ist die moralische. Angesichts der übermächtigen und übergroßen Natur erhebt sich also der Mensch nicht mehr zu Gott, aber doch unendlich über die Natur, auch über seine eigene Natur, zu seiner eigenen übernatürlichen Bestimmung. Das suchen die Menschen seit der Aufklärung, vor allem deshalb wurden die Alpen und überhaupt die wilde Natur seitdem nicht mehr gemieden, sondern gesucht. Das Erhabenheitserlebnis der Aufklärungszeit war ein ästhetisches Erlebnis, das aber auf die ›übernatürliche‹, die moralische Welt, in der der Mensch gegen alle Drohungen und Verlockungen der Sinnenwelt seiner Pflicht zu folgen hat und dies auch kann, unmittelbar bezogen ist. Dieses Erlebnis will sich aber heute offenbar nicht mehr so recht einstellen. Sätze wie dieser sind heute kaum vorstellbar: dass dem heutigen Menschen die »unfaßbare« und »verderbende« Natur Anlass ist, die »Überlegenheit seiner Ideen über das Höchste, was die Sinnlichkeit leisten kann, desto lebhafter zu empfinden. Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer Höhen, der weite Ozean zu seinen Füßen und der größere Ozean über ihm entreißen seinen Geist der engen Sphäre des Wirklichen und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens« (Schiller). Uns fehlen aber heute, in einer Atmosphäre des alles durchdringenden Utilitarismus, die erhabenen Ideen über uns selbst, die wachgerufen werden könnten. Und es ist schwer, sich die Natur angesichts eines gewaltigen Berghangs als aller menschlichen Kraft unendlich überlegen vorzustellen, wenn man weiß, dass man an ihm eine Seilbahn hochbauen könnte und sich von jedem beliebigen Ort in den Bergen mit dem Hubschrauber retten lassen könnte. Es genügt immer weniger, die erhabenen Naturerscheinungen nur anzusehen, es reicht nicht, dass wir »uns bloß den Fall denken, da wir ihm [dem furchtbaren Naturphänomen] etwa Widerstand tun wollten, und daß alsdann aller
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Widerstand bei weitem vergeblich sein würde« (Kant). Vielmehr haben immer mehr Menschen, wie vor allem die Entwicklung der Bergsteigerei zeigt, offenbar das Gefühl, dass sie jenen Widerstand wirklich leisten müssten, dass sie real ihr Leben aufs Spiel setzen müssten, um aus dem irdischen Leben erhebende Erfahrungen zu machen ähnlich jenen, zu denen man im 18. Jahrhundert den sicheren Standpunkt des distanzierten Betrachters brauchte. Wirklich lebensbedrohliche Situationen werden darum künstlich hergestellt, wo ein Sieg über die bedrohliche Natur sonst ohne weiteres möglich wäre; Reinhold Messner ersteigt ohne Sauerstoffgerät, das er doch jederzeit zu Hilfe nehmen könnte, die Gipfel des Himalaja. Ob so wirklich dem Erhabenheitserlebnis ähnliche Erfahrungen zu machen sind, darf man allerdings bezweifeln; es sind wohl doch nur die Rauschzustände des Abenteurers, die man auf diese Weise erreicht. Auch er erhebt sich ja über sein irdisches Leben, indem er es riskiert. Aber er tut das aus Leichtsinn und um einer größeren Lust willen, während es für das Erhabenheitserlebnis wesentlich war, sich bewusst zu werden, dass der Mensch jeder Naturgewalt im moralischen Sinn widerstehen könnte, dass er sein Leben riskieren könnte, wenn die Pflicht es erforderte. Denn das Erhabenheitserlebnis verlangt, dass es erhabene Ideen sind, die der Anblick der unendlich überlegenen Natur in uns heraufruft; solche Ideen aber sind mit Abenteurertum nicht verbunden. Doch Versuche, sich über die Beschränkungen zu erheben, denen wir als Naturwesen unterliegen, sind die Abenteuersportarten auch. Das Gipfelgefühl – allein unter dem Himmel zu stehen, aber erst nach einer ›übermenschlichen‹ Leistung – resultiert in gewissem Sinne durchaus aus einer Überlegenheit über alle Natur. Der Bergsteiger hat sich sowohl der Natur des Berges als auch seiner eigenen Natur überlegen erwiesen. »Er vollbringt quasi Übernatürliches, aber nicht auf einer geistig-moralischen Ebene, sondern in dem Sinn, dass er sich als Naturwesen aller anderen Natur überlegen zeigt« (Deborah Hoheisel). Der Sinn ist nicht, sich über die Natur in eine ganz andere Sphäre zu erheben, sondern gleichsam mit ihr eins zu werden, selbst Naturwesen zu werden, aber das größte, stärkste Naturwesen unter allen. Das fühlt der Kämpfer auf dem Gipfel. Damit verwischt sich aber der Unterschied zwischen denen, deren Motivation jener von Jean Pauls vierter Kaste entspricht, und denen der zweiten, während früher dazwischen Welten lagen. Denn auch der Körper- und Gesundheitskult ist ein Versuch, sich von der Natur zu lösen. Die Vorstellung der perfekten, also einer in dieser Welt unerreichbaren Gesundheit, die Vorstellung eines Körpers, der aussieht, wie von Natur aus kein Körper aussehen könnte, und der zu Leistungen in der Lage ist, die man nie einem menschlichen Körper zugetraut hätte, entstammen der Sehnsucht, alle Natur zu transzendieren. Aber zugleich ist in der Gesellschaft des allgegenwärtigen Körper- und Naturkults jede Vorstellung davon verschwunden, dass man als Mensch auch etwas anderes ist oder sein könnte oder sein sollte als Natur, und das Gefühl, bis zu dem man gelangt,
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ist darum im Prinzip nur »tierisches Wohlbehagen«. Weil man aber dadurch in dem Gefängnis bleibt, dem man doch mit all den Qualen, die man sich antut, entkommen möchte, bleibt ein Gefühl des Ungenügens, das zur Fortsetzung der Quälerei auf immer neuer Stufe treibt, und von der einzigen sicheren Möglichkeit des Entkommens bekommt man ein Gefühl nur im Riskieren des Todes. Das ist aber, wenn es – und so ist es ja heute – dieses Gefühls wegen geschieht, wegen eines Lustgefühls also, vom »tierischen Wohlbehagen« nicht prinzipiell unterschieden. So trennen sich die heutigen Weisen des ›Naturerlebnisses‹ von den damaligen: Der Aufklärer, der im Anblick der erhabenen Bergwelt die Erhabenheit seiner eigenen Bestimmung als Mensch fühlte, der konservative Gegenaufklärer, der sich in einem gottgegebenen Naturganzen als dienendes und behütetes Glied wusste, und der Romantiker, der mit dem Blick des Künstlers die profane Welt wiederverzauberte, also die verschiedenen Varianten der Spazierer der vierten Kaste, hatten sich jeder auf seine Art aus den Niederungen der beiden unteren Kasten erhoben. Heute aber blockiert der Zeitgeist sich selber. Utilitaristisch, wie er ist, verhindert er sehr wirksam die Erhebung aus der empirischen Welt durch ›erhabene Ideen‹ über die Bestimmung des Menschen wie in der Aufklärung. Modern und aufgeklärt, wie er sein möchte, kann er an einen höheren Sinn der Natur, gewährleistet durch ihren Schöpfer, nicht mehr glauben wie die konservative und die romantische Gegenaufklärung. In der Natur, im Empirischen, Sinnlichen selbst muss das zu finden sein, was über sie hinausführt, einfach weil es etwas anderes nicht mehr gibt. Das war auch bereits das Problem der Romantik: Den aufklärerischen Weg über die Vernunft lehnte sie ab, und die voraufklärerische Sinnordnung schien ihr unwiederbringlich verloren. Aber sie kannte einen Weg – über die Kunst. Auf ihm kam man zwar weder zum erhabenen Bewusstsein seiner selbst noch in den Himmel, aber man war doch immerhin ständig in der Natur unterwegs auf dem – als notwendig scheiternd gewussten – Weg zum Himmel, und man brachte es so fertig, mit seinem eigenen »heiligen Auge« »in diese blühende Welt« die zweite, übernatürliche Welt zu verpflanzen. Offenbar verbietet sich der heutige Zeitgeist auch dies, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er sich schon die künstlerische Erhöhung der Natur verbietet. Der aktuelle Naturkult verlangt, dass die Natur – die des eigenen Körpers und die da draußen – Natur bleibt, etwas rein Physisches; als solches ist sie sowohl nützlich als auch, insofern sie das alles umfassende Ökosystem ist, dessen Gesetzen wir uns fügen müssen, Gottesersatz. Sie mit dem Künstlerblick zu beseelen würde bedeuten, zuzugestehen, dass wir uns in der Natur sehen, und das ist eine Art Gotteslästerung und zugleich ein Angriff gegen das, was man für den Geist der objektiven Wissenschaft hält. So bleiben alle Versuche, sich über die Sinnenwelt zu erheben, an dieser kleben, und das Fliegen, das wohl einst möglich war, gelingt nicht mehr.
D AS F LIEGEN GELINGT NICHT MEHR
L ITER ATUR Eichendorff, Joseph Freiherr von (1841/1962): Sängerleben, Sonett 3. In: Manfred Häckel (Hg.), Gesammelte Werke in drei Bänden, Bd. 1. Berlin: Aufbau. Eisel, Ulrich (1987): »Landschaftskunde als ›Materialistische Theologie‹. Ein Versuch aktualistischer Geschichtsschreibung der Geographie«. In: Gerhard Bahrenberg; Jürgen Deiters; Manfred M. Fischer; Wolf Gaebe; Gerhard Hard & Günter Löffler (Hg.), Geographie des Menschen. Dietrich Bartels zum Gedenken. Bremen: Universität Bremen, S. 89-109. Hillmann, Heinz (1971): Bildlichkeit der deutschen Romantik. Frankfurt a.M.: Athenäum. Hoheisel, Deborah; Trepl, Ludwig & Vicenzotti, Vera (2005): »Berge und Dschungel als Typen von Wildnis«. In: Berichte der ANL 29, S. 42-50. Jean Paul (21822): Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung. Berlin: Reimer. Kant, Immanuel (1790/1996): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe, Bd. X. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Körner, Stefan (2001): Theorie und Methodologie der Landschaftsplanung, Landschaftsarchitektur und Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung vom Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Berlin: Fakultät VII, Architektur Umwelt Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Koschorke, Albrecht (1990): Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kötzle, Markus (1999): Eigenart durch Eigentum. Die Transformation des christlichen Ideals der Individualität in die liberalistische Idee von Eigentum. Berlin, Technische Universität Berlin. Riehl, Wilhelm H. (1854): »Land und Leute«. In: Ders., Kulturgeschichte der Natur als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. I. Stuttgart: Cotta’scher Verlag. Schiller, Friedrich (1801): »Über das Erhabene«. In: Ders., Kleinere prosaische Schriften, Dritter Teil. Leipzig: Crusius, S. 3-43. Schlegel, Friedrich (1800/2000): »Rede über die Mythologie«. In: Herbert Uerlings (Hg.), Theorie der Romantik. Stuttgart: Philipp Reclam jun, S. 82-90. Siegmund, Andrea (2011): Der Landschaftsgarten als Gegenwelt: Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung. Würzburg: Königshausen & Neumann.
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Ästhetische Erfahrung und die Sehnsucht nach Natur Das Mittelrheintal als Kulturlandschaft zwischen Romantik und Moderne Jörg Zimmermann
›S EHNSUCHT NACH N ATUR ‹ AUS PHILOSOPHISCH - ÄSTHE TISCHER P ERSPEK TIVE In welchem Sinne kann ›Sehnsucht nach Natur‹ ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein? Welche Disziplinen sind hier überhaupt zuständig, und was wäre das gemeinsam zu vertretende Ziel? Wer mit Kant der Meinung ist, dass im Falle so komplexer Fragen wie der nach unserem Verhältnis zur Natur allein der kritische Weg noch offen sei, muss sich zunächst über die Vielfalt möglicher Zugänge und der dadurch involvierten Disziplinen Rechenschaft ablegen. Was kommt in einem solchen Diskurs überhaupt als Natur ins Spiel? Soweit sich ›Sehnsucht nach Natur‹ historisch mit der Romantik verbindet, formuliert die Idee einer alle empirischen Grenzen überschreitenden Allnatur den umfassendsten Horizont des Begriffs. Er ruft mit großer Emphase eine bis in die frühe Antike zurückreichende Tradition mit ihren mythologischen, religiösen und philosophischen Vorstellungen zum Verhältnis von Gott, Welt, Mensch und Natur in Erinnerung. Steigen wir von dieser spekulativen Höhe hinab und nähern uns historisch der Schwelle zur Neuzeit, so verbindet sich dieses metaphysische Denken seit der Renaissance im Zuge der neuen Definition des Bildes als »offenem Fenster« zur Welt1 mit der konkreteren Bestimmung von Natur als Landschaft. In den Bildern der Künstler bleibt sie zunächst der den Betrachter imaginativ in die Weite des Raumes führende Hintergrund, kann in der niederländischen 1 | Diese Formel stammt von Leon Battista Alberti, einem der ›Erfinder‹ der mathematisch korrekten Perspektive. Vgl. hierzu Boehm 1969.
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Malerei des 17. Jahrhunderts bildbeherrschend werden, um dann in der Zeit der Romantik bei Caspar David Friedrich in großformatigen Gemälden wie dem Eismeer wider die klassische Ordnung der Bildgenres zu einem Sujet höchsten Ranges aufzusteigen.2 Parallel dazu entwickelt sich ein wissenschaftlicher Diskurs über Landschaft, in den sich Ansichten der von der Philosophie ausgehenden Ästhetik und sogar landschaftsbezogene Werke nebst begleitenden Reflexionen von Bildenden Künstlern, Dichtern und Komponisten einbeziehen lassen. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Disziplinen, die sich mit diesem bunten Konvolut des überlieferten und in sich ziemlich heterogenen Diskurses über Natur als Landschaft auseinandersetzen. Dass hier nahezu überall auch ästhetische Aspekte zu diskutieren sind, ist unbestreitbar, zumal diese von Wissenschaftlern oft gar nicht explizit thematisiert werden, weil sie sich im Rahmen primär empirisch angelegter Forschungsszenarien als zu sperrig, ja sogar lästig erweisen und im Übrigen als irrelevant gelten. Um an dieser Stelle die Beziehung der Ästhetik zur Landschaftsforschung über den immer wieder rekapitulierten philosophie-, kunst- und literaturgeschichtlichen Kontext hinaus zu begründen, bietet sich zunächst die Beziehung zur Geografie und ihrer Vorgeschichte an. Bedeutsam bleibt diese Anknüpfung bis heute wegen ihrer Zwitterstellung zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Forschung. Der entscheidende ›Säulenheilige‹ für eine zugleich umfassende und bezüglich einzelner Teildisziplinen möglichst integrative Propagierung des geografischen Gesamtinteresses ist immer noch Alexander von Humboldt, zumal er sich nicht scheut, immer wieder auf das ›Naturgefühl‹ mit all seinen Modalitäten als Antriebskraft auch für Kenner und nicht nur für Liebhaber zu verweisen.3 In der erweiterten Ausgabe seiner Ansichten von der Natur (1849) und vor allem in seinem letzten vielbändigen Werk Kosmos (1845-1862) versucht Humboldt, die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschung in unterschiedlichen Bereichen in die weiteste Perspektive zu rücken. So plädiert er für die Ausarbeitung einer »Physiognomik der Natur«,4 die wiederum in eine »philosophische Naturkunde«5 münden und damit »die Bedürfnisse einer bloßen Naturbeschreibung«6 übersteigen soll. Dazu gehört auch eine in die lebensweltliche Bildung hineinwirkende ästhetische Komponente. »Dem neugierig regsamen Geiste des Menschen sei es erlaubt, bisweilen aus der Gegenwart in das 2 | Vgl. zum Diskurs über die romantische Landschaftsmalerei ausführlich Zimmermann 1991a. 3 | Unter seinem Einfluss bezeichnet Kriegk ein Teilgebiet der Geografie explizit als »ästhetische Geographie« (1840: 321-370). Vgl. Kirchhoff & Trepl 2009: 20. 4 | Humboldt 1849: 395. 5 | Humboldt 1845-1862, Bd. I: 248. 6 | Ebd., Bd. II: 289.
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Dunkel der Vorzeit hinüberzuschweifen; zu ahnen, was noch nicht klar erkannt werden kann, und sich so an den alten, unter vielerlei Formen wiederkehrenden Mythen der Geognosie zu ergötzen.«7 »Allgemeine Naturgemälde«8 sollen die nüchternen Protokolle der Forschung ergänzen. Als vorbildlich für eine »mehr ästhetische Beschreibung der Naturwissenschaften überhaupt« rühmt Humboldt die »Anmut« der Berichte und Aquarelle, die der jüngere Georg Forster von der Reise mit James Cook in die Südsee mitgebracht und veröffentlicht hatte. Sie seien bestens geeignet, die »Sehnsucht nach erweiterter Weltansicht«9 zu befördern. Als weitere ästhetische Kriterien, die zu berücksichtigen seien, nennt Humboldt: die »Verschiedenartigkeit des Naturgenusses«;10 den »Reflex des durch die äußeren Sinne empfangenen Bildes auf das Gefühl und die dichterisch gestimmte Einbildungskraft«;11 die »Quelle lebendiger Anschauung, als Mittel zur Erhöhung eines reinen Naturgefühls«, das wiederum »die Liebe zum Naturstudium« und »den Hang zu fernen Reisen« befördere; die »ästhetische Behandlung von Naturscenen« als »sehr moderner Zweig der Litteratur«; »Landschaftsmalerei«; die »Erfindung neuer Mittel sinnlicher Wahrnehmung«;12 und schließlich als Synthese die »denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen«.13 Auf den für die ästhetische Erfahrung einer Landschaft besonders wichtigen Bereich der Vegetation, der wiederum die enge Nachbarschaft der Geografie zur Botanik bezeugt, geht vor allem Humboldts Freund Goethe ein: Dem seines Erachtens allzu statischen Systema naturae des Carl von Linné setzt er ein dynamisch-kontextuelles Verständnis »unmittelbarer Anschauung« (also aisthesis) entgegen, wodurch wir mit unseren eigenen Augen in situ erkennen, »wie jede Pflanze ihre Gelegenheit sucht, wie sie eine Lage fordert, wo sie in Fülle und Freiheit erscheinen könne. Bergeshöhe, Talestiefe, Licht, Schatten, Trockenheit, Feuchte, Hitze, Wärme, Kälte, Frost und wie die Bedingungen alle heißen mögen«.14 Mehr als die Typologie, deren Ordnungsprinzip Goethe immerhin zu Spekulationen über die Gestalt einer ›Urpflanze‹ veranlasst hatte, interessiert ihn daher jene Fülle an Varietäten, durch die Pflanzen »wieder durch andere
7 | Ebd., Bd. I: 248f. 8 | Ebd.: 79. 9 | Wortlaut gemäß der Mitschrift eines Unbekannten während Humboldts Vortragsreihe Physische Geographie in der Singakademie Berlin 1828, zitiert nach Humboldt 2011: 147. 10 | Humboldt 1845-1862. Bd. I: XI. 11 | Dieses und die folgenden Zitate ebd., Bd. II: 3f. 12 | Ebd.: 138. 13 | Ebd. Bd. I: 31. 14 | Goethe 1817/1924.
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Bedingungen ins Unendliche sich verändern«.15 Nur Humboldts Naturlehre bewältige dieses Problem: »Nachdem Linné ein Alphabet der Pflanzengestalten ausgebildet, und uns ein bequem zu nutzendes Verzeichniß hinterlassen; […] thut hier der Mann, dem die über die Erdfläche vertheilten Pflanzengestalten in lebendigen Gruppen und Massen gegenwärtig sind, schon vorauseilend den letzten Schritt, und deutet an, wie das einzelne Erkannte, Eingesehene, Angeschaute in völliger Pracht und Fülle dem Gemüth zugeeignet, und wie der so lange geschichtete und rauchende Holzstoß, durch einen ästhetischen Hauch, zur lichten Flamme belebt werden könne.«16
In seinen Ideen zu einer Physiognomik der Pflanzen17 geht Humboldt näher auf die Veränderung der Wahrnehmung beim Übergang von der Registrierung einzelner Pflanzen zur Auffassung landschaftstypischer Gruppierungen ein. Hier müsse man nicht mehr »auf die kleinsten Fortpflanzungs-Organe, Blüthenhüllen und Früchte, sondern nur auf das Rücksicht nehmen, was durch Masse den Totaleindruck einer Gegend individualisirt«.18 In die Beschreibung charakteristischer Standorte von tropischen Blütenpflanzen z.B. lässt Humboldt daher wie selbstverständlich auch ästhetische Bewertungen einfließen. So bewundert er bestimmte Ansammlungen von Orchideen, die »den vom Licht verkohlten Stamm der Tropen-Bäume und die ödesten Felsritzen beleben«. Dank der Aktivierung der Einbildungskraft kommt es sogar zu Überschreitungen der geltenden Grenzen zwischen den verschiedenen ›Reichen der Natur‹: »Die Orchideen-Blüthen gleichen bald geflügelten Insecten, bald den Vögeln, welche der Duft der Honiggefäße anlockt. Das Leben eines Malers wäre nicht hinlänglich, um, auch nur einen beschränkten Raum durchmusternd, die prachtvollen Orchideen abzubilden, welche die tief ausgefurchten Gebirgsthäler der peruanischen Andeskette zieren.« Im Rahmen solcher Überlegungen gelangt Humboldt zu der Überzeugung, dass sich in der Landschaftsforschung konkrete Erfahrung und deren Fixierung in Bildern oder Texten nie gänzlich zur Deckung bringen lassen. Die mit allen Sinnen (syn-ästhetisch) wahrzunehmende 15 | Ebd.: 485. 16 | Goethe 1806/1847: 415. Goethe wird Linné mit dieser Beurteilung allerdings nicht ganz gerecht, da es auch bei dem großen schwedischen Botaniker eine ästhetische Dimension der Beschreibung des Pflanzenreichs gibt. Vgl. dazu Zimmermann 2011b. 17 | So der Titel von Humboldt & Bonpland[t] 1815-1832. Der weitreichende Einfluss dieser Art von »denkender Betrachtung der Natur« (Humboldt 1845-1862. Bd. I: 31) auf die Debatte um die junge und hinsichtlich ihrer methodologischen Grundlagen immer noch stark umstrittene Disziplin der Ökologie ist Thema der Habilitationsschrift von Morgenthaler 2000. 18 | Dieses und die folgenden Zitate aus Humboldt 1849: 22f.
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Fülle dessen, was eine Landschaft in der Vielfalt ihrer Ansichten aufzeigt, bleibt sensu stricto ›undarstellbar‹, etwa wenn im Falle der physiognomischen Erfassung spezifischer Pflanzengruppen die »Umrisse und Vertheilung der Blätter, Gestalt der Stämme und Zweige in einander fließen«.19 Auf der anderen Seite rühmt Humboldt die Fähigkeit bedeutender Künstler, denen es gelingt, »das große Zauberbild der Natur in einige wenige einfache Züge aufzulösen«.20 Der Bogen ästhetischer Erfahrung spannt sich hier also von der konkreten Teilhabe am sichtbaren Überfluss der Natur in realer Wahrnehmung (aisthesis in situ) bis zu der durch die geniale Handschrift (maniera) eines Künstlers bewirkte Evokation in absentia mittels literarischer, bildnerischer oder sogar musikalischer Gestaltung – einer Gestaltung, die im Sinne ästhetischer Verdichtung bis zur Grenze der Abstraktion fortschreiten kann. Die Entfaltung einer solchen ›Dialektik des Blicks‹ zwischen den Polen von Kunst und Natur beginnt mit der Freisetzung ästhetischer Erfahrung im Zeitalter der Aufklärung.21 Die »Werke der Natur« erscheinen umso angenehmer, »je mehr sie den Werken der Kunst gleichen«, meinte Addison, hob jedoch das doppelte Vergnügen hervor, das entsteht, wenn wir bestimmte landschaftliche Ansichten im Wechsel mit Vorbildern aus der Kunst »entweder als Kopien, oder als Originale vorstellen« können.22 Die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für die gesamte Landschaftsforschung heben auch Kirchhoff und Trepl23 hervor und versuchen darüber hinaus, eine umfassende Formulierung für verschiedene Varianten des ästhetischen Zugangs zu finden: »Der gemeinsame Kern der unterschiedlichen ästhetischen Landschaftsbegriffe lässt sich, wenn man vor allem der sprachwissenschaftlichen, philosophischen und kunsthistorischen Literatur folgt, idealtypisch so bestimmen: Eine von der Natur allein oder von Natur und Menschenhand geformte Gegend ist eine Landschaft, wenn sie ein empfindender Betrachter ästhetisch als harmonische, individuelle, konkrete Ganzheit sieht, die ihn umgibt.«24
19 | Ebd.: 16. 20 | Humboldt 1845-1862, Bd. II: 93. Wenn es hier einer Referenz bedürfte, so verkörpern Rembrandts späte Pinselzeichnungen, die die Physiognomik holländischer Uferlandschaften in unnachahmlicher Weise als je singuläre Ansichten voller ›Eigenleben‹ einfangen, das Optimum des Erreichbaren. 21 | Zu den ideologischen Komplikationen einer solchen Auffassung von Landschaft im Wechselverhältnis von Kunst und Natur vgl. Eberle 1979. 22 | Unter Anpassung der Orthografie zitiert nach der deutschen Übersetzung in Wimmer 1989: 149. 23 | Kirchhoff & Trepl 2009. 24 | Kirchhoff & Trepl 2009: 21.
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Aber was bedeutet hier wiederum ›Ganzheit‹? Diese bleibt ja angesichts der prinzipiellen Bewegtheit des Betrachters in einem Landschaftsraum mit seinen tendenziell zahllosen Stand- und Blickpunkten eine imaginäre Größe. Alle Versuche, das Wort Landschaft als einen aus verschiedenen möglichen Gebrauchsweisen herausdestillierten Begriff definitorisch verbindlich machen zu wollen, können schon aus hermeneutisch-sprachkritischen Gründen nicht zu einer dauerhaften Lösung führen.25 Sie haben jenseits ihres persuasiven Scheins allenfalls eine pragmatisch-kontextbezogene Funktion, die schon die nächste Konstellation des Diskurses in Frage stellen kann. Was den Wissenschaftler mit seiner Suche nach vermeintlich besseren begrifflichen Bestimmungen, ja nach einer ›wahren‹ Definition, die allen Mitgliedern der scientific community einleuchten könnte, zur Verzweiflung bringen mag, stellt für den Ästhetiker kein entscheidendes Hindernis dar. Die fortdauernde Vieldeutigkeit des Begriffs verlangt eben nach einer anderen Art von Beobachtung, Interpretation und sogar Imagination von Landschaft, die künstlerische und essayistische Ausdrucksmittel ausdrücklich einschließt.26 Eine solche Betrachtungsweise muss gerade die Sphäre der Gefühle in besonderem Maße im Blick haben; denn sie ist für die ästhetische Erfahrung in ihrer über bloße Gefallensäußerungen hinausstrebenden Reflexivität konstitutiv. Dies betrifft insbesondere auch ihre Bezüge zu Natur und Landschaft. Rousseaus 1782 posthum veröffentlichte Träumereien eines einsamen Spaziergängers sind dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Was genießt der Träumer im Angesicht schöner Natur? »Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein, und solange dieser Zustand währt, ist man wie Gott, sich selbst genug.«27 Ästhetische Empfindsamkeit wird zum Gegenbegriff einer dem Geist des Rationalismus verpflichteten Vernünftigkeit. Sentio ergo sum tritt an die Stelle des cartesianischen Cogito ergo sum. Vor allem die Zeitlichkeit des Subjekts wird in Korrespondenz zur ästhetischen Erfahrung der Zeitlichkeit von Natur nicht mehr als Ausdruck eines prinzipiellen Mangels an Sein verstanden, sondern positiv als der dem subjektiven Dasein eigentümliche Wirklichkeitsmodus. 25 | Zu den Grenzen einer ›exakten‹ empirischen und theoretischen Begriffsbildung angesichts eines einzigartigen naturgeschichtlichen Prozesses, wie ihn die Entwicklung der Erde darstellt, vgl. ausführlich Engelhardt & Zimmermann 1988: 1-32 (Kapitel »The structure of communication in Earth science«) und 33-71 (Kapitel »The language of geoscience«). 26 | Hier scheint mir z.B. für den Aufbau einer kulturhistorisch-ästhetisch geprägten Enzyklopädie landschaftsbezogener Erfahrung(en) die Nutzung des so außerordentlich reichhaltigen MERIAN-Archivs, das 1950 von einem Heft über ›Ostfriesland‹ seinen Ausgang nahm, nahezu konkurrenzlos zu sein. 27 | Rousseau 1978, Bd. II: 699.
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Die philosophisch-künstlerische Imagination von Natur findet ihren Höhepunkt im Denken der Romantik und hier wiederum vor allem in dem wesentlich von ›Sehnsucht‹ als Leitbegriff bestimmten Werk von Novalis. »Die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken«,28 bekundet der Held des unvollendet gebliebenen Romans Heinrich von Ofterdingen. Die Suche nach dieser Blume ist für die gesamte romantische Bewegung sprichwörtlich geworden. Um den komplexen Naturbezug solcher Sehnsucht wenigsten andeuten zu können, müssen jedoch weitere Formulierungen herangezogen werden. Als Grundbefindlichkeit romantischer Existenz, die ebenso die Weite dort draußen wie die unermessliche ›innere Welt‹ betrifft, artikuliert sich Sehnsucht vor allem in dem vielschichtigen Diskurs, den Die Lehrlinge von Sais über die Natur führen. Zur Hauptfigur heißt es: »Er wußte nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Thiere, Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Thon in sonderbare Felsenbilder.«29 Sehnsucht ist hier eine Bedingung dafür, dass die Natur im Widerspruch zu ihrer Profanierung durch wissenschaftliche Erklärungen und technische Beherrschung erneut verrätselt wird. Entsprechend ›verrückt‹ erscheint die neue Form eines ästhetisch kreativen Umgangs mit ihr, die ihrerseits alte mythische, religiöse und metaphysische Vorstellungen von Natur in Erinnerung ruft. »In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge zusammen zu bringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Thiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wußte wo und wie er dies und jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in den Saiten nach Tönen und Gängen umher.«
Dass Natur als Gegenstand der Sehnsucht auch gemäß der von Platon im Dialog Symposion überlieferten Rede des Aristophanes auf den Gott der Liebe zu verstehen sei, d.h. als sehnsüchtige Suche nach der ›besseren Hälfte‹ des in mythischen Zeiten noch androgyn vereinigten Kugelwesens Mensch, kleidet Novalis in ein Märchen, in dem Hyacinth davon träumt, im Zustand »unendlicher Sehnsucht«30 in einer »unter Palmen und anderen köstlichen Gewächsen« versteckten »Behausung der ewigen Jahreszeiten« zum »Allerheiligsten« geführt 28 | Novalis 1960: 195. 29 | Diese Zitatfragmente und das folgende Zitat aus Novalis 1960: 80. 30 | Dieses Zitat und die folgenden Zitate Novalis 1960: 94f. Auf verblüffende Analogien zu Freuds psychoanalytischer Dechiffrierung des Unbewussten verweist Kurzke 2001: 52ff.
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zu werden, d.h. zur himmlischen Madonna, die sich jedoch, ihren Schleier lüftend, umgehend in Rosenblüthchen verwandelt. »Eine ferne Musik umgab die Geheimnisse des liebenden Wiedersehns, die Ergießungen der Sehnsucht, und schloß alles Fremde von diesem entzückenden Orte aus.« Die schwarze Gestalt der Sehnsucht, die zugleich für die Nachtseite der Romantik insgesamt steht, benennt die sechste Hymne an die Nacht schon im Titel: Sie ist die Sehnsucht nach dem Tode. Dieses lyrische Plädoyer prägte maßgeblich das Existenzverständnis der Romantikerin Caroline von Günderode, die sich 1806 im Dorf Winkel am Rheinufer das Leben nahm und ihren toten Körper dem Wasser des Stroms überantwortete. Wenige Wochen vor diesem Ereignis hatte sie sich in einem Brief an ihre Freundin Bettina von Arnim auf »die grenzenlose Sehnsucht unserer Zeit« berufen, »zu deren Symbol Novalis die ›Blaue Blume‹ erhob: denn diese Sehnsucht ist nichts anderes als die Todessehnsucht. Sehnsucht nach Entgrenzung, nach dem Abstreifen alles Irdischen und Zeitlichen und statt dessen die Auflösung des ganzen Wesens, der ganzen Seele in einer ewigen und unendlichen Urkraft.«31 Es ist schon verstörend, wenn Novalis, der nach einem naturwissenschaftlichen Zweitstudium als Bergbauingenieur tätig war, seinen als Alter Ego imaginierten Lehrling zu Sais »mit funkelndem Auge« ausrufen lässt: »Wem regt sich nicht das Herz in hüpfender Lust, wenn ihm das innerste Leben der Natur in seiner ganzen Fülle in das Gemüth kommt, wenn dann jenes mächtige Gefühl, wofür die Sprache keine andere Namen als Liebe und Wollust hat, sich in ihm ausdehnt, wie ein gewaltiger, alles auflösender Dunst, und er bebend in süßer Angst in den dunkeln lockenden Schoos der Natur versinkt, die arme Persönlichkeit in den überschlagenden Wogen der Lust sich verzehrt, und nichts als ein Brennpunkt der unermeßlichen Zeugungskraft, ein verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt!« 32
Diese ganz existentiell zu verstehende und schließlich todessüchtig gesteigerte gewaltige »Sehnsucht nach dem Zerfließen« verschränkt sich mit der ästhetischen Faszination im Angesicht »berauschender Flüsse«.33 Natürlich ist hier vor allem an Vater Rhein zu denken. Es bleibt jedoch bemerkenswert, dass Novalis ausdrücklich vom »Wiegenlied dieser mütterlichen Gewässer«34 spricht, wodurch er dem seit der Antike geltenden Vorrang des Männlichen in der Mythisierung von Flüssen und der von ihnen geprägten Landschaften widerspricht. Damit assoziierbar ist wiederum das musikalisch gestaltete Wogen dreier Nixen, der Rheintöchter, mit dem Richard Wagner seine erstmals 1869 aufgeführte 31 | Günderode 1806. 32 | Novalis 1960: 104. 33 | Ebd. 34 | Ebd.
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Oper Rheingold beginnen lässt. Wagner hat sich im Übrigen als Spätromantiker immer wieder zur Sehnsucht als zentraler und der Musik wie keiner anderen Kunstform gemäßer Gefühlssphäre bekannt.35 In diesem Sinne bezeichnete der Philosoph Friedrich Nietzsche Wagners nicht zuletzt von Novalis’ Hymnen an die Nacht beeinflusste Oper Tristan und Isolde als »das eigentliche opus metaphysicum aller Kunst, ein Werk, auf dem der gebrochne Blick eines Sterbenden liegt, mit seiner unersättlichen süßesten Sehnsucht nach den Geheimnissen der Nacht und des Todes«.36 Sehnsucht Rhein. Romantik und Moderne lautete der Titel einer 2007/2008 in Koblenz gezeigten und mit einem Katalogbuch dokumentierten Ausstellung. Andere Ausstellungen trugen den Titel Mythos Rhein und Vom Zauber des Rheins ergriffen. Zur Entdeckung der Rheinlandschaft. All diese Formulierungen gehen auf die Tatsache zurück, dass das Rheintal – genauer gesagt: das tief in das Rheinische Schiefergebirge eingeschnittene Mittelrheintal zwischen Mainz und Bad Godesberg – gegen Ende des 18. Jahrhunderts als romantische Landschaft par excellence entdeckt wurde und noch heute diese Aura besitzt, mit der nach Erhebung des Oberen Mittelrheintals zum UNESCO-Welterbe im Jahre 2002 noch intensiver als zuvor um Touristen geworben wird. Es gibt also keine Landschaft, an der sich eine romantisch inspirierte Sehnsucht nach Natur in ähnlich umfassender Weise exemplifizieren ließe. Im Folgenden werden daher allgemeinere Gesichtspunkte zur Struktur und zum Geltungsanspruch ästhetischer Naturerfahrung kontinuierlich mit konkreten Bezügen auf das Mittelrheintal verwoben. Den Text der abschließenden »Winterreise« ergänzen acht eigene Fotografien vom 3. Dezember 2010, die – als reichlich verspätetes romantisches Echo – in die Leerstellen zwischen den einzelnen Kapiteln eingefügt wurden.37
35 | Vgl. hierzu Wagner 1851/1913: 230ff. 36 | Nietzsche 1966, Bd. I: 408. 37 | Ortsangaben zu den Fotos finden sich im Abbildungsverzeichnis am Ende des Beitrags.
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Ä STHE TISCHE E RFAHRUNG IM S PANNUNGSFELD VON E GOISMUS UND P LUR ALISMUS 38 Als eine speziell der Begründung von Urteilen über das Schöne39 dienende Lehre entstand im Verlauf des 18. Jahrhunderts als neue philosophische Disziplin die Ästhetik.40 Sie entwickelte sich aus dem Widerstreit zweier Ansätze: einer rationalistischen Begründung, die behauptete, dass es sehr wohl objektive Kriterien des Schönen wie ›Einheit in der Mannigfaltigkeit‹, ›Ordnung‹ und ›Harmonie‹ gebe, und einer empiristischen Begründung, die von der Subjektivität aller Kriterien des Schönen ausging, weshalb es zwischen verschiedenartigen ästhetischen Urteilen über denselben Gegenstand gar keinen logischen Widerspruch geben könne. Das meint auch die aus der Antike stammende und bis heute populäre Maxime »Über Geschmack lässt sich nicht streiten«. Andererseits ist es ein Faktum, dass gleichwohl immer wieder über Geschmack gestritten wird, und dass aller Subjektivität zum Trotz Gefallensbekundungen nicht ausreichen und auch mit argumentativen Mitteln Entscheidungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten getroffen werden müssen. Dies gilt in besonderem Maße für die Beurteilung der ästhetischen Qualitäten von Natur und Landschaft. Denn 38 | Den folgenden Kapiteln (mit Ausnahme des Kapitels »Winterreise«) liegen die Aufsätze Zimmermann 2001a und 2001b zugrunde. Sie wurden für den vorliegenden Band gekürzt, stark überarbeitet und um zahlreiche neue Passagen ergänzt. 39 | Vgl. dazu ausführlich Zimmermann 1991b. 40 | Vgl. dazu ausführlich Zimmermann 2002.
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hier handelt es sich im Gegensatz zum rein privaten Konsum des Schönen um einen von vielen konkurrierenden Interessen und Nutzungsperspektiven bestimmten Bereich, der zudem in ständiger Veränderung begriffen ist. Das Problem besteht also darin, den ästhetischen Geltungsanspruch im Kontext anderer Ansprüche geltend zu machen und mit diesen im Sinne eines vernünftigen Kompromisses zu vermitteln. Ästhetik wird damit zwangsläufig zu einem Politikum, das weit über den vorweg als ästhetisch bestimmten Bereich kultureller Institutionen und den ihm zugeordneten Diskurs ästhetischer Experten hinausweist. Dass eine Kulturlandschaft primär ein nicht-ästhetischer Bereich ist, drückt sich drastisch in dem von Repräsentanten der betroffenen Bevölkerung als Protest formulierten Satz aus: »Das Mittelrheintal ist kein Museum.«41 Die klassische Ästhetik war im Wesentlichen museal orientiert, da sie die von allen Zweckbestimmungen freigesetzte Bedeutung großer Kunstwerke zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machte.42 Sofern sie das Naturschöne überhaupt berücksichtigte, fasste sie es primär als Bild, das den Landschaften der Maler, Dichter und Gartenkünstler entsprach, und nicht als einen historisch sich entwickelnden dynamischen Zusammenhang mit dem ihm eigenen Konflikt verschiedenartiger Nutzungsinteressen. Die Entfunktionalisierung als grundsätzliches Merkmal des Ästhetischen hat der Romantiker August Wilhelm Schlegel am Beispiel der Würdigung einer ›schönen Aussicht‹ erläutert, wobei er vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung durchaus einen Blickpunkt im Rheintal gemeint haben könnte: »Der Landmann, der Mineralog, der Geometer, der General, sieht jeder durch die Aussicht hin etwas anderes; für den musikalisch gestimmten Menschen ist sie einzig vorhanden.«43 Dies entspricht der damals verbreiteten Überzeugung, dass die angemessene Beurteilung des Schönen voraussetzt, dass es zweckfrei um seiner selbst willen gewürdigt wird.44 Das Wohlgefallen am Schönen gilt als interesselos, während die schöne Aussicht in allen anderen Beurteilungsperspektiven nur Mittel zum Zweck sein kann: Der Bauer überlegt, was sich auf diesem Areal anbauen lässt, der Mineraloge, welche Bodenschätze es hier gibt, 41 | Diese Aussage wird inzwischen gerne in Projektentwürfe zur Weiterentwicklung des Tals aufgenommen; vgl. Initiative Baukultur für das Welterbe Oberes Mittelrheintal 2009: 2. 42 | Dies gilt insbesondere für die bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkende Ästhetik Hegels und ihre Grundformel vom Schönen als »sinnlich scheinender Idee«. Das Naturschöne wird von vornherein als das ›geistlose‹ Schöne abgewertet, das keiner begrifflichen Bestimmung fähig sei. Vgl. Hegel o.J., Bd. I: 14. 43 | Schlegel 1963: 177. 44 | Diese Auffassung des Schönen wurde vor allem durch Kants kritische Begründung ästhetischer Argumentation in seiner Kritik der Urteilskraft (Kant 1790/1964) populär.
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der Landvermesser, wie er diesen Ausschnitt kartografieren soll, der General, ob sich das Gebiet als Aufmarschplatz für seine Truppen eignet. Die Spezifizierung der ästhetischen Betrachtungsweise als »musikalisch« meint demgegenüber: Wie der Sinn eines musikalischen Werks in der einzigartigen Physiognomie seiner tönenden Erscheinung liegt und sich das Wohlgefallen auf alle Eigentümlichkeiten seiner Struktur im Zusammenklang der Teile zum Ganzen bezieht, so sei auch eine Landschaft in der Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit, Eigenart, Vielfalt ihrer Erscheinung, und das heißt im Ganzen: in ihrer Schönheit zu würdigen. Darüber hinaus betont der Vergleich der ästhetischen Erfahrung von Landschaft mit der musikalischen Erfahrung die starke innere Resonanz der wahrgenommenen Szenerie vermöge der Subjektivität des Betrachters. Dazu zählt der ganze Umkreis von Emotionalität, Stimmung, Atmosphäre, mit all seinen qualitativen Akzentuierungen zwischen enthusiastischem Glücksgefühl und tiefster Melancholie, historischem Eingedenken und antizipatorischer Belebung, die als Sehnsucht, Hoffnung oder gar Verheißung den Horizont der menschlichen Erfahrung zur Zukunft hin zu öffnen vermag. Es dürfte evident sein, dass die ästhetische Erfahrung einer Landschaft in solcher Synthesis weit über die Registrierung faktischer Merkmale hinausweist in das prinzipiell unbegrenzte Reich der Assoziationen, der Imaginationen, ja der Phantasmen. Eine solche integral verstandene Vielfalt, Eigenart und Schönheit lässt sich daher nie aus einem einzigen Blickpunkt und auch nicht aus einer repräsentativen Summe von Blickpunkten ableiten, selbst wenn ein unermüdlicher Wanderer jahrelang die Region durchstreift hätte. Sie bleibt nicht nur wegen der Begrenztheit jeder individuellen Wahrnehmung, sondern auch angesichts der Fülle empirisch zutreffender Daten sowie der Vielzahl assoziierbarer Bezüge unterschiedlichster Art ästhetisch stets überbestimmt. Diese begrifflich nie vollständig einzuholende, in alle Verästelungen der Zeit und des Raumes verweisende qualitative Unerschöpflichkeit scheint der wesentliche Grund für die Wertschätzung von Kulturlandschaften in ihrer Tiefendimension zu sein. In der den durchschnittlichen touristischen Blick leitenden Oberflächendimension sind es demgegenüber Fixierungen von der Art ganz bestimmter Panoramen, ausgezeichneter Orte samt der prominenten Bilder, wie sie in Postkarten, Handbüchern, Reiseprospekten, Videofilmen etc. verbreitet werden und sich in solcher Zirkulation auch weitgehend von der konkreten zeitlich-räumlichen Verankerung ablösen lassen.45 Fatal wird diese Entwicklung dann, wenn die mit der Bebilderung einhergehende Klischeebildung und Trivialisierung irreversibel auf die reale ästhetische Gestaltung einer Kulturlandschaft zurückwirkt. Die weitgehende Zerstörung der mythischen Ausstrahlung des Loreleyfelsens durch seine Zurüstung zum touristischen ›Highlight‹ mit entsprechend aufdringlicher Zeichensetzung und Entwertung der konkreten 45 | Vgl. dazu Strohmeier et al. 1997 und Haberl & Strohmeier 1999.
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Umgebung – vor allem des gegenüberliegenden Ufers und der Hochfläche – ist dafür innerhalb der Landschaft des Mittelrheintals das wohl signifikanteste Beispiel. Wird eine schöne Aussicht nun aber weniger auf subjektive Assoziationen und Imaginationen als auf ihre physisch-objektive Grundlage, also auf einen bestimmten Bereich der realen Topografie bezogen, so zeigt sich, dass es sehr wohl ein allgemeines Interesse an ›interesselosem‹ Wohlgefallen geben kann. Kant hat diese Problematik in seiner 1798 veröffentlichten Anthropologie als Konflikt zwischen ästhetischem Egoismus und ästhetischem Pluralismus näher ausgeführt: »Der ästhetische Egoist ist derjenige, dem sein eigener Geschmack schon genügt.« Der »ästhetische Pluralist« pflegt demgegenüber »die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.«46 Wem sein eigener Geschmack schon genügt, möchte ihn, wenn es in seiner Macht steht, auch exklusiv, d.h. ohne störende Teilnahme anderer, ausüben können. Ist das Begehren des ästhetischen Egoisten z.B. auf ein Grundstück mit schöner Aussicht auf das Mittelrheintal gerichtet, so kann es durchaus zu einem ästhetisch motivierten Nutzungskonflikt kommen. Umzäunungen und Wegsperren sind handfeste Zeichen solcher Ansprüche. Sie demonstrieren zugleich, inwiefern ästhetische Erfahrung Ausdruck einer sozialen Konkurrenz im Sinne des Erwerbs von ›kulturellem Kapital‹ ist. Es geht um ›Distinktionsgewinne‹, die nicht nur durch Bildung sondern auch durch realen Besitz mit oftmals hohem ökonomischen Aufwand getätigt werden.47 Die Durchsetzung eines solchen egoistischen Interesses schränkt das nach den Bestimmungen des Naturschutzgesetzes potentiell von jedem zu beanspruchende Recht auf Erfahrung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit des Mittelrheintals manchmal in einer Weise ein, die einer ›ästhetischen Enteignung‹ gleichkommt. Hinzu kommt, dass der Erwerb ästhetisch exponierter Grundstücke oft mit illegalen Praktiken verbunden ist, wenn z.B. eine außerhalb der für Privatbauten ausgewiesenen Flächen errichtete Luxusvilla offiziell als ›Geschirrhütte‹ firmiert. So sehr die Kritik am ästhetischen Egoismus denjenigen einleuchten mag, die durch seine Auswirkungen gestört oder behindert werden, so schwer ist es auf der anderen Seite, die Alternative eines ästhetischen Pluralismus nicht nur philosophisch zu begründen, sondern als einen Rechtsanspruch sui generis praktisch geltend zu machen und im Konfliktfall auch durchzusetzen. Gegen eine solche idealistische Konstruktion gemeinsamer ästhetischer Teilhabe wird eingewandt, dass es im Bereich des Ästhetischen gar keine allgemeinverbindlichen Kriterien geben könne. Auch scheint der Versuch einer ›demokratischen‹ 46 | Kant 1790/1964: 410f. 47 | Diese soziologische Problematik erörtert in aller Ausführlichkeit Bourdieu 1982.
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Regelung ästhetischer Streitfragen daran zu scheitern, dass sich die Kompetenz zur Fällung ästhetischer Urteile nur relativ zu einem seinerseits autoritativ gesetzten ›legitimen Geschmack‹ behaupten lässt, der wiederum eine bestimmte Art von Wissen, Erfahrung und Expertentum voraussetzt.48 Die philosophische Kritik des Geschmacks seit Kant versuchte diese Kluft zwischen möglicher demokratischer Teilhabe am Geschmack und autoritativer Ausübung ästhetischer Kompetenz durch das Konzept einer ästhetischen Erziehung zu überbrücken, die jene im Prinzip jedem Menschen als Anlage zukommende Fähigkeit auszubilden habe. Vor dem Hintergrund der politisch-soziologischen Kritik an der Funktionalisierung des Ästhetischen im Interesse des ›Willens zur Macht‹ seitens bestimmter privilegierter Gruppen lässt sich dieses Dilemma gerade am Beispiel des Streits über Konsensbildung im Falle konkurrierender Kriterien der Gestaltung des öffentlichen Raums im Sinne einer möglichst kontinuierlichen Partizipation an den notwendigen Entscheidungsprozessen im Rahmen repräsentativer Demokratie zumindest mildern, wenn auch nicht ein für alle Mal aufheben. Ästhetische Urteile bewegen sich in einem Zwischenfeld von Subjektivität und Objektivität, innerer und äußerer Bestimmbarkeit. Ihre konkrete Kraft entfalten sie daher nur in der Intersubjektivität einer Sprache, die gleichermaßen Differenzen bis hin zu ganz persönlichen Idiosynkrasien ohne jeglichen Anspruch auf Allgemeinheit zugesteht, wie andererseits einen Konsens unter denjenigen anstrebt, die sich an einem argumentativ gestützten Entscheidungsprozess über ästhetische Geltungsansprüche beteiligen wollen. Solche Urteile bedürfen einerseits der Beglaubigung durch je eigene Wahrnehmungs-, Imaginations- und Reflexionsleistungen vor Ort, können sich ergänzend aber auch auf Urteile anderer oder die Autorität kultureller Tradition beziehen. Tatsächlich gibt es nicht nur im Falle großer Werke der Kunst, sondern auch bezüglich der ästhetischen Auszeichnung ›klassischer‹ Kulturlandschaften einen relativ stabilen Konsens über die Argumente, die die Behauptung ihrer Vielfalt, Eigenart und Schönheit stützen können. Dazu gehört eine große Anzahl als objektiv geltender Merkmale, wie sie in biologischen, geologischen, geografischen, kulturhistorischen oder architekturgeschichtlichen Beschreibungen enthalten sind, so dass sich ästhetische Urteile durchaus nicht primär oder gar ausschließlich auf subjektive Anmutungen berufen müssen, zumal diese sich nur auf der Basis einer weitgehend geteilten sprachlichen Sozialisation diffe48 | Dies ist der Ansatzpunkt für die rigorose soziologische Kritik von Bourdieu (1982: 756ff.) an der philosophischen Rekonstruktion des Geschmacksbegriffs seit Kant. Indem er jedoch polemisch für das Recht auf die Ausübung auch eines »illegitimen« Geschmacks des Volkes eintritt, verlässt er die Ebene einer empirischen Beschreibung der Diversität des Geschmacks und bestätigt indirekt die Notwendigkeit einer kritischreflexiven Rekonstruktion der inhärenten Normativität ästhetischer Erfahrung.
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renziert zum Ausdruck bringen lassen. Mit Blick auf die Geschichte des Mittelrheintals ist die sukzessive Erweiterung des Bereichs ästhetischer Erfahrung der für den veränderten Umgang mit dieser Kulturlandschaft bedeutsamste Prozess.
V ERBINDUNGEN Z WISCHEN ÄSTHE TISCHER , E THISCHER UND ÖKOLOGISCHER D ISKUSSION Unter dem Eindruck der seit den 70er Jahren sich ausbreitenden ökologischen Bewegung hat sich auch die Diskussion über Natur- und Landschaftsschutz um eine neue philosophische Basis bemüht. Es ging dabei vor allem darum, Gesichtspunkte der Ästhetik, Ethik und Ökologie miteinander zu verknüpfen.49 So wurde der Übergang von der in der modernen technischen Zivilisation vorherrschenden anthropozentrischen Betrachtungsweise zu einer die Natur selbst als ›Mitwelt‹ in ihrem je eigenen Anspruch auf Existenz respektierenden physiozentrischen Betrachtungsweise gefordert.50 Insofern die ästhetische Betrachtungsweise vom Bedürfnis des Menschen bestimmt ist, sich real in der Natur aufzuhalten und zu bewegen, hätte sie also an der Idee eines radikalen Naturschutzes 49 | Schon Immanuel Kant und Friedrich Schiller hatten die Erfahrung des Naturschönen mit dem übergeordneten moralischen Gesichtspunkt einer Kultivierung aller ›Gemütskräfte‹ in Verbindung gebracht. Zur neueren Diskussion vgl. das Kapitel »Die Moral des Naturschönen« in Seel 1991: 288ff. 50 | Vgl. dazu als wichtigste philosophische Schrift Jonas 1979 sowie den Beitrag von Eisel in diesem Band.
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ihre Grenze: Es geht um die Anerkennung von Zonen der Unbetretbarkeit, in denen die Natur ohne Eingriffe des Menschen ›sich selbst‹ überlassen bleibt.51 Eine Ethik, die die Existenz einer Natur als Subjekt eigenen Rechts voraussetzt, lässt sich in solcher Allgemeingültigkeit letztlich nur religiös unter Berufung auf ein göttliches Gesetz begründen, das den Menschen dazu verpflichtet, die in einem ursprünglichen Schöpfungsakt hergestellte Integrität der Natur anzuerkennen und zu bewahren.52 Faktisch kann es allerdings nur um die Erhaltung bestimmter Areale einer inzwischen durch den technologischen Fortschritt weitgehend umgestalteten Natur und Landschaft gehen. Hier genügt eine ethische Begründung, die mit der anthropozentrischen Perspektive in dem Sinne vereinbar ist, dass der Mensch sich zu einer Art Treuhänderschaft gegenüber der Natur verpflichtet, die in der Verbindung von Artenschutz, Biotopschutz und Prozessschutz ausdrücklich auch die Möglichkeit eines Verzichts auf jegliche Nutzung einschließt. Da das Interesse an der Landschaft als Erholungs- und Erlebnisraum unter Bedingungen des Massentourismus mehr oder weniger starke Eingriffe in den Naturraum nach sich zieht, ist an dieser Stelle also ausdrücklich der Vorrang des Ethischen vor dem Ästhetischen zu betonen. Demgegenüber kann ein romantisch-kontemplatives Verhältnis zur Landschaft – etwa im Sinne des einsamen Wanderers – die Anerkennung ethischer Verpflichtungen stärken, da ein solches Verhalten für einen sanften Umgang mit den landschaftlichen Ressourcen sensibilisiert. Dieses komplexe und spannungsreiche Zusammenspiel verschiedenartiger Geltungsansprüche ist in jedem Falle komplizierter, als es eine Philosophie wahrhaben möchte, die den alten platonischen Traum von der Harmonie des Schönen, Guten und Wahren nunmehr unter dem Dach der Ökologie erneuern möchte. Dies gilt auch für Versuche einer direkten Indienstnahme des Ästhetischen. Nicht alles, was unsere Umwelt schädigt, ist hässlich.53 Die Warnfunktion des Ästhetischen ist begrenzt,54 lässt sich jedoch in bestimmten Fällen tatsächlich als Hilfsargument anführen: Der mäandernde Fluss mit biologisch vielfältig belebten Uferzonen wird allgemein als schöner empfunden als der durch Betonmauern disziplinierte Lauf; die ästhetisch reichere Gestalt erscheint hier zugleich als die ökologisch verträglichere. Ähnliches gilt für die Bevorzugung des 51 | Das wohl bekannteste Streitobjekt für eine Diskussion über die Grenzen der Zulassung von Wildnis in Deutschland ist der Bayerische Wald. Vgl. zu dieser ganzen Problematik die Beiträge über »Wildnis« im vorliegenden Band. 52 | Vgl. zu diesem Standpunkt Spaemann 1980: 180ff. 53 | Picht 1974: 710f. 54 | Meyer-Abich meint, »daß das ästhetische Empfinden eine Art Frühwarnsystem für Fehlentwicklungen« (1984: 268) sein und darin sogar der ökologischen Kritik vorangehen könne.
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Mischwaldes gegenüber forstwirtschaftlich bedingter Monokultur. Andererseits kann Monotonie in bestimmten Kontexten von hohem ästhetischem Reiz sein. Es gibt hier also keinen einfachen Parallelismus der Bewertung. Deshalb ist es auch ein Irrweg, die Ästhetik der Natur nunmehr als Teildisziplin der Ökologie verstehen zu wollen.55 Eine solche Kurzschließung verkennt den spezifischen Geltungscharakter und die historische Dynamik ästhetischer Urteile. Die Forderung nach einem wirksamen Natur- und Landschaftsschutz stützt sich einerseits auf utilitaristische Maximen, wie sie in § 1 des Bundesnaturschutzgesetzes durch die Gesichtspunkte der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Ermöglichung von Erholung vertreten werden, andererseits auf ein über alle Zweckdienlichkeit hinausweisendes humanes Interesse an der Erhaltung von Natur und Landschaft. Sich darauf zu verpflichten, ist ein Akt ethischer Selbstbestimmung, für den es gute Gründe geben mag; diese lassen sich jedoch aus keiner eindeutig vorgegebenen ökologischen Ordnung ableiten.56 Im Übrigen kann eine solche Haltung erst durch die Etablierung neuer rechtlicher Normen eine allgemeinverbindliche Wirkung entfalten.57 Zum Kernbestand der Argumentation über den Schutz des Mittelrheintals als Kulturlandschaft gehören Fragen des Artenschutzes. Refugien der Smaragdeidechse in bestimmten Weinbergterrassen sind dafür geradezu zum Symbol geworden. Stellt man diesem nahezu von jedermann als schön eingestuften Reptil die ebenfalls unter Schutz stehende, aber eher unscheinbare und für ungeübte Augen schwer zu entdeckende Ödlandschrecke gegenüber, so wird deutlich, dass sich die Argumentation von Artenschützern zwar auch durch ästhetische Urteile stützen lässt, dass hier das Ästhetische jedoch eher ein für die Rhetorik in der Öffentlichkeit durchaus willkommenes Begleitmoment einer im Prinzip ethisch zu führenden Argumentation darstellt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die 1908 von dem Zoologen Karl August Möbius veröffentlichte Tierästhetik, in der er jedes Naturwesen für schön erklärt, insofern es ein in sich zweckmäßiges Dasein verkörpert, das im Sinne Kants unser aller
55 | So der insgesamt eher plakative und analytisch wenig differenzierte Vorschlag von Gernot Böhme (1989: 46f.), wonach die Aufgabe einer aktuellen Ästhetik darin bestehe »zu klären, welche Rolle Schönheit in ökologischen Gefügen spielt, die gut sind im Sinne von zuträglich und wünschenswert für den Menschen.« 56 | Zu einer solchen anthropozentrischen Begründung heutiger Naturphilosophie unter Berufung auf Kants Pflichtethik vgl. Schäfer 1993. 57 | Vgl. hierzu die juristische Argumentation von Sening (1977: 28ff.), in deren Rahmen ohne ausdrückliche Berufung auf den ästhetischen Diskurs als »landschaftswertbestimmende Faktoren« »Vielfalt, Freiheit von visuell störenden Formelementen, Ruhe, Mindesttiefe« genannt werden.
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»interesseloses Wohlgefallen« verdiene und daher allein schon aus ästhetischen Gründen schützenswert sei.58 Am Beispiel der Problematik des Artenschutzes erweist sich erneut die größere Stimmigkeit einer anthropozentrischen gegenüber einer physiozentrischen Begründung, es sei denn, man unterstellt, dass die Natur als unveränderliches Repertoire der von Gott erschaffenen Arten im Ganzen wie im Detail zu schützen sei. Diese Ansicht ist durch die wissenschaftliche Entwicklung der Biologie im Anschluss an Darwins Evolutionstheorie höchst obsolet geworden. Arten können auch ohne das Zutun des Menschen entstehen und verschwinden. Dass die Probleme andererseits auch nicht rein wissenschaftlich zu lösen sind, zeigt die Diskussion um nützliche und schädliche Pflanzen oder Tiere, um Neozoen und Neophyten, die ein bestimmtes als Ideal angesetztes ökologisches Gleichgewicht im Mittelrheintal bedrohen. Kulturlandschaften mit ihrer spezifischen historisch-sozialen Dynamik lassen sich allerdings in keinem Fall wie Biotope verstehen, obwohl es sicherlich von Vorteil ist, wenn Naturschutz und Kulturschutz zumindest in Teilbereichen zusammenwirken. So wird mit Recht darauf verwiesen, dass der Schutz der seltenen und in Deutschland nur noch im Mittelrheintal verbreiteten Smaragdeidechse nur dann erfolgreich sein kann, wenn zugleich die für die überlieferte Technik des Weinbaus charakteristischen Terrassen und steinernen Stützmauern wiederhergestellt, Hänge offen gehalten und Burgmauern als Refugien abgesichert werden.59
58 | Möbius 1908. Ein vergleichbares Kapitel »Ästhetik der Pflanzenwelt« findet sich in dem Buch des Botanikers Schleiden 1948. Zu diesem naturwissenschaftlich inspirierten Zweig der Ästhetik vgl. ausführlich Kockerbeck 1997. 59 | In diesem Sinne spricht Becker 1998 von einer »Neubewertung« des ganzen Problemzusammenhangs durch Anerkennung seiner ästhetischen Dimension und hofft, dadurch gesellschaftliche Akzeptanz von Planungen zum Naturschutz erhöhen zu können.
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D AS R OMANTISCHE ALS L EITBEGRIFF EINER ÄSTHE TISCHEN B E WERTUNG DES M IT TELRHEINTALS Im Falle des Mittelrheintals wird die Grundrichtung ästhetischer Normativität bis in die Gegenwart hinein in beherrschender Weise mit dem Begriff des Romantischen umschrieben.60 Die leitende Bedeutung eben dieses Begriffs ist in einem doppelten Sinne fragwürdig geworden: Zum einen trägt sie zur Konservierung eines bestimmten historischen Zustands bei, der schon zur Zeit der genuinen Romantik nostalgisch in eine ihrerseits ästhetisch imaginierte Vergangenheit verwies; zum anderen ist das Romantische als touristisches Label inzwischen so sehr zum Klischee geworden, dass es eine Form der ästhetischen Trivialisierung fördert, die dem ursprünglichen Charakter romantischer Landschaftserfahrung zuwiderläuft. Spätestens mit dem Aufkommen moderner Verkehrstechnik – d.h. mit dem Bau der ersten Eisenbahnstrecke Mitte des 19. Jahrhunderts – ist das romantische Ideal einer vollkommenen landschaftlichen Harmonie des Mittelrheintals zur reinen Fiktion geworden. Dieser Prozess der Technisierung hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so stark ausgeweitet und zugleich beschleunigt, dass der romantische Blick nur noch höchst partikular wirksam werden kann und entsprechend rigide Ausblendungen des dominierenden modern-funktional bestimmten Umfeldes verlangt. Mögen die Portale der Eisenbahntunnel, die in ihrer Ornamentik die alte Burgenherrlichkeit zitieren, noch 60 | Vgl. dazu den repräsentativen Bild- und Essayband von Honnef 1992.
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in jene Sichtweise integrierbar sein, so gilt dies sicher nicht mehr für den modernen Straßenbau und seine nahezu jeden Winkel der Landschaft betreffenden Folgen. Dies zeigt sich unter anderem in der weitgehenden Zerstörung jener alten Treidelpfade, deren ästhetische Umfunktionierung zu Wanderwegen heute wiederum eine besonders intensive Erfahrung der Uferzonen des Rheins ermöglichen könnte.61 Die gegenläufige Bewegung von rückwärtsgewandter Ästhetisierung der Kulturlandschaft und ihrer durch die ökonomisch-technische Entwicklung bewirkten zukunftsbezogenen Funktionalisierung erzeugt bezüglich des modernen Tourismus eine geradezu paradoxe Situation: Dieser unterliegt als wichtiger Wirtschaftsfaktor primär den Imperativen der Umsatzsteigerung und der technisch zu befördernden Effektivierung. Eben dadurch beschleunigt er jedoch die Verdrängung oder Marginalisierung eigensinniger ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten. Es dominiert nun eine marktstrategisch kanalisierte, eher flüchtige Berührung mit der Landschaft nach bestimmten vorgeprägten Mustern der Wahrnehmung, die mit der ursprünglichen romantischen Vision des Rheintals kaum noch etwas gemein hat.62 Um ermessen zu können, wie groß tatsächlich der Spielraum alternativer Erfahrungsmöglichkeiten und damit auch der Beschreibungsweisen einer Landschaft wie der des Mittelrheintals ist, könnte man eine vergleichsweise nüchterne wissenschaftliche Beschreibung aus der Sicht des Geografen oder des Historikers einer emphatisch poetischen Darstellungsform gegenüberstellen. Als Beispiel sei auf die Art und Weise verwiesen, in der Jean Paul in seinem 1796/97 erschienenen Roman Das Leben des Armenadvokaten Siebenkäs die Landschaft des Mittelrheintals in Sprache bannt: »Es war schon 3 Uhr vorbei: in 38 Minuten hielt der Frühling, dieser Vor-Himmel der Erde, dieses zweite Paradies, seinen großen Einzug über die mürben Ruinen des ersten; aus dem Himmel waren schon alle Wolken geräumt, Frühlingslüfte hingen kühlend um die im Blauen brennende Sonne; und drüben auf einem Weinhügel des Rheins schlug schon in einem zusammengeschichteten Gebüsche von abgeschnittenen Kirschenzwei61 | Unter dem Leitbild »Die Landschaft ist schön, wie sie ist« hat der Zweckverband Welterbe Oberes Mittelrheintal die Einbeziehung von Treidelpfaden in ein historisches Wegekonzept auf die Agenda gesetzt. Dieses Leitbild ist indessen wenig geeignet, der tatsächlichen Dynamik einer Kulturlandschaft gerecht zu werden. Es geht im Wesentlichen um die Erhaltung von Spuren, die einen neuen ›touristischen Nutzwert‹ erhalten sollen (Zweckverband Welterbe Oberes Mittelrheintal 2008: 12ff.). 62 | Tümmers (1994: 291ff.) benennt im Kapitel »Wandern auf dem ›Rheinhöhenweg‹« die faktischen Hindernisse für ungetrübt romantische Landschaftserlebnisse und kritisiert moderne Wanderführer, die suggerieren, dass unter ihrer Anleitung »die Schönheiten des Mittelrheintales« in lückenloser Folge Revue passieren könnten.
Ä STHETISCHE E RFAHRUNG UND DIE S EHNSUCHT NACH N ATUR gen ein vom Frühling vorausgeschickter Vorsänger, eine Nachtigall, und wir konnten in ihrem durchsichtigen Gitterwerk die Töne in ihrem Kehlengefieder zittern sehen. […] In unsrer Seele war wie außer uns Wehmut und Erhebung sonderbar gemischt: die Musik des Ufers wich und kam – Töne und Sterne stiegen auf und sanken ein, die Wölbung des Himmels stand im zitternden Rhein wie eine geborstene Glocke, und oben über uns ruhte das von der alten Ewigkeit bewohnte Tempel-Gewölbe mit seinen festen Sonnen unerschüttert – der Frühling wehte vom Morgen her, und die Baumgerippe auf dem Totenacker des Winters wurden zum Auferstehen angeregt.« 63
Diesem Überschwang folgt nun die Schilderung einer erhabenen Nacht am Rhein: »Meine Hand hing in den Strom hinaus und seine kalten Wogen hoben sie. Ich dachte: ›Wie brennt doch das kleine Licht in uns mitten im wehenden Sturme der Natur so gerade und unbeweglich auf! Alles um mich stößet mit Riesenkräften zusammen und ringet! Der Strom ergreift die Inseln und die Klippen, der Nachtwind tritt in den Strom und watet herauf und drängt seine Wellen zurück und ringet mit den Wäldern – selber droben im friedlichen Blau arbeiten Welten gegen Welten. […] Und doch ruhet in diesem Sturme der Menschengeist so still und friedlich wie ein stiller Mond über windigen Nächten – in mir ist jetzt alles ruhig und sanft, ich seh’ den kleinen Bach meines Lebens vor mir rinnen und in den Zeitenstrom mit andern tropfen.‹«
Vergeblich wäre die Mühe, hier eine bestimmte Aussicht an einem bestimmten Ort identifizieren zu wollen; vielmehr handelt es sich um eine jedes vernünftige Maß überschreitende Vision, in die metaphorisch die verstörende Erfahrung der Zeitlichkeit menschlicher Existenz einbezogen wird. Die Romantik wird bis heute als überwiegend ›deutsche Affäre‹64 angesehen, die dann auch auf andere Länder ausstrahlte, obwohl sie der früher einsetzenden sentimentalistischen Wende in England und Frankreich vor allem durch Herders Vermittlung im Zeichen von ›Sturm und Drang‹ sehr viel zu verdanken hat. Vor dem Hintergrund restaurativer Tendenzen vor allem der späten Romantik, vor deren Auswirkungen Heinrich Heine in seiner Abhandlung Die romantische Schule von 1836 eindringlich warnte, ist es daher wichtig zu betonen, dass die Romantisierung des Mittelrheintals gerade in ihren Anfängen ›internationalen‹ Charakter hatte und sich erst in der Zeit der napoleonischen Besetzung der Rheinlande nationalistisch verengte, wobei zu bedenken ist, dass bedeutende Romantiker wie E. T. A. Hoffmann oder Caspar David Friedrich durchaus keine Anhänger preußisch-österreichischer Restaurationspolitik wa63 | Dieses und das folgende Zitat Jean Paul 1959-1963, Bd. II: 431f. 64 | Vgl. hierzu als neuere Darstellung mit dem Ziel einer Verteidigung progressiver Züge der deutschen Romantik als primär ästhetischer Bewegung Safranski 2007.
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ren. Zur Ironie dieser Entwicklung gehört der Umstand, dass die Entdeckung des ›malerischen Charakters‹ der lange vor Napoleon im Zuge kriegerischer Fehden zerstörten Burgruinen einer der Hauptgründe für die außerordentliche ästhetische Aufladung des Tales war, was den englischen Pionieren der Rheinromantik sicherlich am wenigsten vorzuwerfen ist. Die prominenteste und zugleich lyrisch hochgespannteste unter den frühen Stimmen war die von Lord Byron, der 1816 das Rheintal bereiste und seine Eindrücke im zweiten Teil seines Epos Childe Harold verarbeitete. Der Fluss wird animistisch zum Mitakteur, ja zum erotischen Konkurrenten erhoben, den der Dichter beim Lebewohl geradezu verklärend preist: »Den wogenden Strom, des tiefen Abgrunds Nacht, Den dichten Wald, Burgtrümmer zwischendrein, Und Felsen, die sich wild gleich Thürmen reihn, Nachäffend Menschenkunst, und bei dem Allen Gesichter, selber glücklich wie ihr Rhein, Den, Glück und Segen spendend, man sieht wallen Durch’s reiche Hügelland, ob Throne rings auch fallen.« 65
Für reisende Franzosen stellte sich die politische Problematik verständlicherweise anders dar. Darauf verweist ironisch Kurt Schwitters in seiner in der Weimarer Zeit verfassten Vater Rhein-Parodie: »Es ist die Lebensaufgabe der Franzosen, die Burgen am Bette des Vaters Rhein zu zerstören. Wer solls auch sonst tun, er ist der nächste.«66 Es war ein von der sentimental journey der Engländer und ihrer Ästhetik des Pittoresken und des Erhabenen sowie von Rousseaus ›Hinwendung zur Natur‹ als Heilmittel wider die Zumutungen des Rationalismus tief beeindruckter Italiener namens Aurelio de’ Giorgi Bertola, der mit seinem in deutscher Übersetzung 1796 in Mannheim erschienenen Buch Malerische Rhein-Reise von Speyer nach Düsseldorf67 den Reigen durchaus auch praktisch orientierter Reiseführer für diese Region eröffnete.68 Besonders wirkungsvoll äußert sich Bertolas ›malerischer‹ Stil in der Schilderung eines Gewitters, das er in St. Goar miterlebt, wobei er sich sogar auf seinen großen Landsmann Leonardo da Vinci beruft, der die Maler dazu aufgefordert habe, unermüdlich die Natur zu studieren und von ihr zu lernen. Er beschreibt das Umschlagen des Wetters vom Heiteren ins 65 | Byron 1868: 90. 66 | Schwitters 1927: 18. 67 | Die Originalausgabe erschien 1795 unter dem Titel Viaggio sul Reno e ne’ suoi contorni in Rimini. 68 | Vgl. hierzu Tümmers 1994: 194ff. sowie zur Entwicklung der Rheinreiseführer seit Baedeker Bock 2010.
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Düstere, so dass dieser singuläre Ort nunmehr »unter keinem anderen Aspekt als dem des pathetischen betrachtet werden möchte.«69 Er bewundert das jäh wechselnde Farbenspiel. Der Fluss, die Wolken, das Licht werden zu Akteuren eigener Art. So tragen z.B. die Nebelschwaden zur Steigerung des Malerischen bei, indem sie im Wechsel der Augenblicke fensterartig ganz bestimmte Fragmente der Landschaft sichtbar machen. »Die Schönheit des Schauspiels kann ich gar nicht beschreiben«: »Jede Minute eine andere Szene«. Dennoch versucht es der Autor unermüdlich. Höhepunkte sind der Auftritt des Donners im Zeichen des Erhabenen und die Aufspannung des Regenbogens, der mit seinen Ausläufern so nahe an den Autor heranzureichen scheint, dass dieser glaubt, direkt in seinen Farbenglanz gehüllt zu werden. Unter den späteren poetischen Reisebüchern ragt das erstmals 1842 und dann erweitert und verändert 1846 erneut erschienene, als Folge von Briefen gestaltete Werk Le Rhin von Victor Hugo heraus, das in seiner Vielschichtigkeit eine Sonderstellung einnimmt. Hugo ist hier einerseits Zeitgenosse, der sich der Veränderungen seit den Anfängen der Rheinromantik wohl bewusst ist und als europäisch denkender Franzose zur Frage ›Wem gehört der Rhein?‹ dezidiert Stellung nimmt; andererseits versucht er, die mythische Vergangenheit in eigener, zumeist ironisch gefärbter Diktion wiederzuerwecken. Seine literarischen Ausführungen ergänzt er durch eine Vielzahl von Federzeichnungen, die in manchmal geradezu abstrakter Manier die düster-erhabene Seite der Erfahrung des Rheintals pointieren. Hugo liebt die Flüsse, weil sie »Ideen genauso gut wie Güter mit sich tragen«: »Wie gigantische Rufer künden die Flüsse von der Schönheit der Erde, von der Kultivierung der Felder, vom Glanz der Städte und vom Ruhm der Menschen.«70 Er nennt den Rhein seinen besonderen Freund, weil er im nachbarlich zwiespältigen Verhältnis von deutscher und französischer Kultur als Fluss der Krieger und Denker die »ganze Geschichte Europas« verkörpere.71 Gerade weil die Reise ins Rheintal inzwischen zu einem »pittoresken Modeausflug der Müßiggänger von Bad Ems, von Baden-Baden und Spa« herabgestimmt worden ist,72 möchte Hugo den europäischen Strom par excellence als »symbolischen Fluß« reanimieren,73 indem er das diffus Romantische mit konkreteren geschichtlichen und politischen Ereignissen verschränkt. Dezidiert romantisch ist seine Haltung darin, dass er behauptet, die ästhetische Faszination des Rheintals erschließe sich nur demjenigen, der bereit ist, 69 | Die Zitate sind dem in Schneider (1981: 258ff.) abgedruckten Auszug aus Bertolas Werk entnommen. 70 | Hugo 1842: 148. 71 | Ebd.: 149. 72 | Ebd.: 160. 73 | Ebd.: 163.
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diese Landschaft auf einsamen Wegen und Pfaden bis in nahezu undurchdringliches Gestrüpp hinein zu erwandern. Was Forster auf seiner Reise als Ausdruck der Rückständigkeit und Armut beklagte, schätzt Hugo als Echtheitssiegel einer eigentlich schon verschwundenen Zeit und erläutert dies am Beispiel von Bacharach: »Fast immer hängen Wolken über seinen Ruinen; jähe Felsen und ein wilder Bach umgeben respektgebietend die ernste alte Stadt, die einst römisch, dann romanisch, schließlich gotisch gewesen ist, und die nicht modern werden will. Merkwürdigerweise verhindert ein Gürtel von Klippen an allen Seiten das Anlegen der Dampfschiffe und hält die Zivilisation fern. Kein Mißklang der Farben, keine weiße Fassade mit grünen Fensterläden stört die düstere Harmonie des Ganzen. Hier wirkt alles zusammen, sogar der Name ›Bacharach‹, der einem alten Bachantenruf gleicht und zum Sabbat paßt.«74
Ohne bei diesem vor dem Hintergrund der Geschichte bedrückenden Stichwort Heines Rabbi von Bacharach zu erwähnen, spricht er von einer »alten Feenstadt, wo es von Sagen und Legenden wimmelt«,75 und gibt sich den merkwürdigsten Projektionen in die Vergangenheit hin: Bacharach sei eine Art »Wunderland am Rhein, vergessen vom guten Geschmack Voltaires«.76 Das Gelass, in dem er wohnt, erinnert ihn an Rembrandt, die Blicke des »malerischen« Menschenschlags sogar an das 13. Jahrhundert. Er rühmt die »unermeßliche Aussicht«, die man von der Burg Stahleck auf andere Ruinen hat, die andere Zeiten wie den dreißigjährigen Krieg in Erinnerung rufen, und erwähnt eine in der Ferne aufscheinende »Gruppe schwarzer Türme«, die mit der Bastille in Paris zu vergleichen sei.77 Entscheidend bleibt jedoch die Verbindung zum mythischen Strom, der Bacharach »prachtvoll umbraust« und in einem für die Schiffer gefährlichen Felsentrichter namens Wildes Gefährt »das Schäumen und Tosen des Ozeans« nachahmt.78 Dennoch kann die Wildnis auch zur Idylle werden, sobald die Sonne es will und das überall blumengeschmückte Städtchen höchst anziehend erscheinen lässt.
74 | Ebd.: 191f. Den Wortlaut dieses Zitats und die folgenden Fragmente entnehme ich folgender Quelle: Stadt Bacharach & Rhein-Nahe Touristik e. V. 2008. 75 | Ebd.: 191. 76 | Ebd.: 190. 77 | Ebd.: 191. 78 | Ebd.: 192.
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B ILDER DER L ANDSCHAF T Z WISCHEN W ILDNIS UND I DYLLE Die Erfahrung der Kulturlandschaft ist seit der Begründung der neuzeitlichen Ästhetik im 18. Jahrhundert wesentlich durch bildliche Darstellungen bestimmt, wenngleich sich der Einfluss älterer ›malerischer‹ Ansichten durch die Allgegenwart der Fotografie sicherlich abgeschwächt hat. Von attraktiven Bildern geprägte Kulturlandschaften changieren seit jeher zumindest in der Wahrnehmung des ›gebildeten‹ Betrachters zwischen den Polen von Kunst und Natur, wobei letztere in ihrer Deutung wiederum ein Spektrum umfasst, das von der Vorstellung eines Gartens oder Parks als Landschaft in nuce bis zur Idee einer sich selbst überlassenen Wildnis reicht, die für die Theoretiker des Naturschönen unter den Rahmenbedingungen der europäischen Zivilisation allerdings nur ein imaginärer Grenzwert sein kann.79 So bezieht sich Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft einmal explizit auf eine Beschreibung der Insel Sumatra, um eine »an Mannigfaltigkeiten bis zur Üppigkeit verschwenderische Natur« als ästhetisches Ideal zu beschwören: Nur eine solche Natur sei »keinem Zwange künstlicher Regeln unterworfen« und könne deshalb dem Geschmack des Betrachters »für beständig Nahrung geben«. Diesem Ideal wird ein im gerodeten Teil der Insel von holländischen Kolonialisten angelegter »Pfeffergarten« gegenübergestellt, »wo die Stangen, an denen sich dieses Gewächs rankt, in Parallellinien Alleen zwischen sich bil79 | Zum gesamten historischen Kontext vgl. Wormbs 1976; Zimmermann 1982; Smuda 1986; Zimmermann, Sänger & Darsow 1996.
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den«. Eine solche für Nutzungszwecke entstellte Natur erzeuge in ästhetischer Einstellung nur »Langeweile«.80 Nun ist Wildnis angesichts der Dominanz zivilisatorisch gezähmter Natur in Deutschland sicherlich keine realistische Alternative zur Kulturlandschaft,81 es sei denn, man würde Brachen, deren es im Zuge schwindender Weinbausteilhänge im Mittelrheintal viele gibt, als ›Wildnis‹ bezeichnen, wie es neuere Strömungen der Naturschutzbewegung in eins mit der Aufwertung von Abenteuerspielplätzen tatsächlich versucht haben. Umso anrührender wirkt als historisches Dokument jenes frühe Bekenntnis zur Brache, das der Philosoph Arthur Schopenhauer im Horizont seiner pessimistischen Auffassung des Menschen als eines naturzerstörenden Raubtiers in einer »vereinzelten Bemerkung über Naturschönheit« abgelegt hat: »Wie ästhetisch ist doch die Natur! Jedes ganz unangebaute und verwilderte, d.h. ihr selber frei überlassene Fleckchen, sei es auch klein, wenn nur die Tatze des Menschen davon bleibt, dekoriert sie alsbald auf die geschmackvollste Weise, bekleidet es mit Pflanzen, Blumen und Gesträuchen, deren ungezwungenes Wesen, natürliche Grazie und anmuthige Gruppierung davon zeugt, daß sie nicht unter der Zuchtruthe des großen Egoisten aufgewachsen sind, sondern hier die Natur frei gewaltet hat. Jedes vernachlässigte Plätzchen wird alsbald schön.« 82
Die nicht mehr agrarisch genutzten und sich deshalb allmählich zur Brache und später zum Wald umwandelnden Partien einer Kulturlandschaft stehen in jedem Falle für einen Prozess, dessen Erfahrung sich selbst durch eine Folge filmisch bewegter Bilder kaum adäquat darstellen lässt. Dies hat vor einer Reihe von Jahren unter Berufung auf die amerikanische wilderness act zur Propagierung des Prozessschutzes als eigentlichem Ziel des Naturschutzes auch in unseren Gegenden geführt. Für die Entwicklung einer lebendigen und nicht museal verstandenen Kulturlandschaft ist indessen der historisch-soziale Prozess von ebenso großer Bedeutung. Wie im Falle des Artenschutzes gibt es hier jedoch keinen direkten Parallelismus, wohl aber Berührungspunkte, deren Diskussion wiederum einer Aufwertung des ästhetischen Umgangs mit Landschaft förderlich sein kann.83
80 | Alle Zitate dieses Absatzes Kant 1790/1964: § 22. 81 | Dass Amerika der realistischere Ort für eine Beschwörung ›wilder‹ Natur ist, verdeutlicht das voluminöse Werk von Schama 1996. 82 | Schopenhauer 1844: 404. 83 | Dies gilt sogar für die inzwischen fast schon selbstverständliche Einbeziehung der Industriekultur in den Landschaftsbegriff. Vgl. den Bericht von Sankowski 2000.
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Durch Kunst und Literatur vielfältig vorgeprägt ist das durch Burke und Kant in den Mittelpunkt der Ästhetik gerückte Konzept erhabener Natur.84 Die traditionell vor allem vom Ideal eines harmonischen Zusammenklangs bestimmte Ästhetik des Schönen wird von der Ästhetik des Erhabenen mit ›privativen‹ Bestimmungen wie Leere, Finsternis, Einsamkeit, Schweigen sowie der Übersteigung jeder wohlproportionierten Ganzheit ins Maßlose des Raumes, der Zeit und der Macht kontrastiert.85 Zwischen dem Erhabenen der Natur und der Kultur vermittelt im Falle des Rheintals die Ästhetik des Ruinösen. Diese Verbindung deutet Friedrich Schlegel während seiner im Jahr 1806 unternommenen Rheinfahrt an: »Für mich sind nur die Gegenden schön, welche man gewöhnlich rauh und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, […] nur diese erregen den Gedanken der Natur«.86 Und zu solchen Gegenden gehören »kühne Burgen auf wilden Felsen«,87 wie sie das Mittelrheintal bevölkern und wie sie im Bereich der Bildenden Künste vor allem William Turner ab 1817 in zahlreichen Aquarellen in Szene gesetzt hat.88 Dabei übersteigert er bewusst die Höhe der Berge und die Steilheit ihrer Abhänge, so dass die Mittelrheinlandschaft wie ein Vorklang der Alpenlandschaft erscheint. Die triviale, in der Tourismuswerbung und in gängigen Reiseführern dominierende Darstellung der ›romantischen‹ Attraktionen des Rheintals spart in der Regel deren Ansicht im Winter ebenso aus wie bei unwirtlichem Wetter. Andererseits werden Extremereignisse bis heute als erhaben bestaunt. Sie erzeugen genau jenen ›angenehmen Schreckens‹ (delightful horror), den Edmund Burke als entscheidende Wirkung im Bewusstsein wie in der Physis des Betrachters beschreibt – Ereignisse, die im Übrigen auch als ästhetische Sublimierung des z.B. im Zorn Gottes sich offenbarenden religiös Erhabenen erscheint. Dabei kann die Schaulust des Touristen allerdings einen moralischen Zwiespalt hervorrufen. Er muss sich eingestehen, dass seine ästhetische Befriedigung zumindest indirekt auch vom Unglück derer zehrt, die von Überschwemmungen, Stürmen, Hangrutschungen, Bränden nach Blitzeinschlägen usw. unmittelbar betroffen sind.89 84 | Vgl. Pries 1989. 85 | Burke 1980: 107ff. 86 | Schlegel 1823: 274. 87 | Ebd.: 275. 88 | Zu Turner vgl. Fath 1995 sowie zum Erhabenen im Wechselspiel von Natur und Kunst Zimmermann 1991a. 89 | Das Spektakuläre und dessen stilistische Pointierung ist als ›ästhetischer Mehrwert‹ fast immer präsent und lässt sich als Unterstützung einer ›guten Sache‹ – und sei es nur der wirkungsvollen Information – in manchen Fällen sogar moralisch rechtfertigen oder zumindest moralisch verzeihen. Ein Kapitel von Hugos Le Rhin ist in deutscher Sprache mit ›Feuer! Feuer!‹ überschrieben (Hugo 1842: 195) Dieser Schrei gellte
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Die Vermutung, dass die Natur sich nicht nur ausnahmsweise, sondern gleichsam ›von Natur aus‹ eher monströs als gutmütig verhält, wird innerhalb der ›schwarzen‹ Romantik in zumeist albtraumartigen Szenen und Bildern durchaus zum Ergötzen eines schon damals auf Horror erpichten Publikums zur Diskussion gestellt und im romantischen ›Nihilismus‹ in Auseinandersetzung mit dem die Macht des menschlichen Geistes über alle Unbill äußerer und innerer Natur betonenden Idealismus philosophisch reflektiert. Im Journal von deutschen Original Romanen erschien im Winter 1804/05 eine inzwischen mehrheitlich dem Braunschweiger Theaterdirektor Ernst August Friedrich Klingemann zugeschriebene anonyme Folge von Nachtwachen des Bonaventura, in deren letzter sich der vor sich hin philosophierende Nachtwächter an einen Wurm als einzig verbliebenen Dialogpartner wendet, der sich soeben neben einem Sarg aus dem Boden gewühlt hat: »Den Idealismus wie vieler Philosophen hast du auf diesen deinen Realismus zurückgeführt? Du bist ein unwiderlegbarer Beleg für die reelle Nützlichkeit der Ideen, da du dich an der Weisheit so mancher Köpfe gemästet hast.« Was von der angeblich so gütigen Natur bleibt, ist eine »gigantische Naturkraft«, die als »schreckliche Gebärerin alles und sich selbst mitgeboren hat«. Sie »hat kein Herz in der eigenen Brust, sondern formt nur kleine zum Zeitvertreib, die sie umher verteilt«. Hinter dieser ›Mutter Natur‹ steht auch kein göttlicher Vater mehr. Im metaphysischen Horizont eines solchen Nihilismus zerfällt schließlich alles zu Staub, und der letzte Widerhall, mit dem der Text schließt, reflektiert kein ›Sein‹ mehr, sondern nur noch: »Nichts!«.90 Als später Romantiker wider Willen hat Friedrich Nietzsche ein solches ›nihilistisches‹ Konzept einer Natur jenseits von Gut und Böse vertreten und ästhetizistisch ausgelegt. Diese nach dem Tod Gottes als einzige seit Urbeginn der Welt tätige Schöpferin Natur nennt er mit unverkennbar misogynem Unterton eine »entsetzliche Sphinx« und »grausame Göttin«, die voller Gegensätze sei, »fruchtbar, öde und ungewiß« zugleich. Wir sollten sie deshalb endlich »in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Großartigkeit« erkennen und anerkennen.91 Verlassen wir nun diesen dramatischen spätmetaphysischen Fluchtpunkt der Naturdebatte und den einsam auf Alpensteigen bei Sils Maria wandelnden Verkünder des Nihilismus, um uns sanfteren Ausdrucksformen einer von der Erfahrung des Mittelrheintals beflügelten Imagination erhabener Natur zuzuwenden, so trägt eine weibliche Stimme wie diejenige der dort immer wieder dem Autor in die Ohren, als er morgens in Bacharach aufwachte und erfuhr, dass am gegenüberlegenden Ufer im Städtchen Lorch zahlreiche Häuser in Brand ständen und schnellstmögliche Hilfe von Nöten sei. 90 | Alle Zitate nach Anonymus 1960: 150-154. 91 | Nietzsche 1966, Bd. II: 646.
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vom ›Drang nach draußen‹ erfassten Romantikerin Bettina von Arnim sicherlich zur Beruhigung des Diskurses bei. In einem Brief vom 26. Juli 1808 an den verehrten Dichter Goethe schildert sie ihren Aufstieg zum Loreley-Felsen mit folgenden Worten: »Hier oben sieht es so feierlich und düster aus: eine Reihe nackter Felsen schieben sich gedrängt hintereinander hervor, mit Weingärten, Wäldern und alten Burgtrümmern gekrönt; und so treten sie keck ins Flußbett dem Lauf des Rheins entgegen, der aus dem tiefen stillen See um den verzauberten Lurelei sich herumschwingt, über Felsschichten hinrauschend, schäumt, bullert, schwillt, gegen den Riff anschießt und den überbrausenden Zorn der schäumenden Fluten wie ein echter Zecher in sich hineintrinkt.« 92
Mit dem Bild des die entzürnten Wogen als eigenen Wein goutierenden Vater Rhein erscheint das Erhabene mit der von den Reisenden in der Zeit der Romantik insgesamt doch bevorzugten Idylle versöhnt. Wie eng das Erhabene und das Idyllische gerade im Mittelrheintal miteinander verschränkt sein können, schildert Heinrich von Kleist zugleich beschreibend und allegorisierend in einem Brief an Karoline von Schlieben vom 18. Juli 1801: »Einige große Naturszenen […] habe ich […] auf meiner Reise kennen gelernt. […] Doch der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheins von Mainz bis Koblenz, die wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz und gradaus, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es ungeduldig auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) tritt ihm in den Weg und beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – und er ehrt die edle Warnung und gibt, der freundlichen Weisung folgend, sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe dankbar seine blumigen Füße ihm küssend – Aber still und breit und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn wohl vollenden würde – und ein Gebirge (der Hundsrück) wirft sich ihm in den Weg, wie die Verleumdung der unbescholtenen Tugend. Er aber durchbricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken mit Bewunderung und Erstaunen auf ihn hinab – doch er eilt verächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken,
92 | Arnim 1959, Bd. II: 131.
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J ÖRG Z IMMERMANN und die einzige Rache, die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwarzes Bild zu zeigen.« 93
In seiner 1804 veröffentlichten Vorschule der Ästhetik versucht Jean Paul, das Idyllische als ästhetische Kategorie unter Berufung auf den Rhein aus seinem eher kleinformatigen Rahmen geradezu herauszubrechen: »Wie könnte nicht der Rhein eine Hippokrene, ein vierarmiger Paradiesesstrom der Idyllen sein, und was noch mehr ist, mit Ufer und Strom zugleich! Auf seinen Wellen trägt er Jugend und Zukunft, auf seinen Ufern hohe Vergangenheit.«94 Dieses Kapitel abschließend sei noch daran erinnert, wie stark der Diskurs über Landschaft in jener Zeit von der seit Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelten Ästhetik des englischen Landschaftsgartens beeinflusst worden ist. Indem sie fordert, der Gärtner solle in seiner Kunst der Gestaltung jede sichtbare Disziplinierung vermeiden, d.h. der ›Gestik‹ einer insgesamt freundlichen Natur folgen, ihr das Ruinöse als Spur des Erhabenen in der Geschichte der Kunst hier und dort ›einpflanzen‹, einige Partien im Zustand relativer bzw. arrangierter Verwilderung belassen und schließlich die Grenzen des Parks so verschleiern, dass sich für den Betrachter der Blick in die Weite der das kunstvolle Arrangement des Parks umgebenden Landschaft öffnet, wird eine Dialektik in Gang gesetzt, die bis heute die Wahrnehmung der gesamten durch jahrhundertelange Bearbeitung geprägten europäischen Kulturlandschaften beeinflusst. Deren Kernbereiche gleichen dann großen Parklandschaften mit fließenden Grenzen. Die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung kann wiederum in besonderem Maße die Wahrnehmung des Mittelrheintals beeinflussen, worauf Kleists weiter oben zitierte Formulierung vom im Rheintal con amore tätigen göttlichen Gärtner direkt anspielt. Die soziologischen Implikationen einer solchen im Prinzip jedem Bürger zu ermöglichenden ästhetischen ›Aneignung‹ von Landschaft hat als Theoretiker Joseph Addison in seinem 1712 veröffentlichten Essay On the Pleasures of Imagination in einer Weise auf den Begriff gebracht, die erstaunlich aktuell geblieben ist. Ausgehend von »schönen Aussichten«, die wie ein Schauspiel »ins Auge fallen«, plädiert er für die Ausbildung einer »verfeinerten Einbildungskraft« im Umgang mit Landschaft. »Sie gibt ihm, in Wahrheit, eine Art von Eigentum an allem, was er sieht, und macht selbst die rohesten, wildesten Teile der Natur seinem Vergnügen dienstbar: so daß er die Welt gleichsam in einem anderen Lichte betrachtet, und unzählige Schönheiten und Reize in ihr entdeckt, welche sich vor den Augen des großen Haufens verstecken.«95 93 | Kleist 1978, Bd. 4: 233. 94 | Jean Paul 1959-1963, Bd. V: 259f. 95 | Zitiert unter Anpassung der Orthografie nach der deutschen Übersetzung in Wimmer 1989: 145.
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Mit diesem Nebensatz markiert Addison den in der damals noch überwiegend aristokratisch geprägten englischen Gesellschaft kaum anstößigen elitären Anspruch ästhetischer Normativität auch in Dingen des Landschaftsgeschmacks. Lässt sich die Berechtigung zur Ausübung solcher Ansprüche angesichts der im Mittelrheintal vorhandenen vielfältigen Nutzungs- und Eigentumskonkurrenzen überhaupt ›demokratisch‹ legitimieren? Wie schwierig dies ist, zeigen die seit der Anerkennung des Mittelrheintals als UNESCO-Welterbe im Jahr 2002 verstärkten Bemühungen, dort den Massentourismus insgesamt zu ›veredeln‹ und in Richtung differenzierterer ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten umzucodieren. Wie inspirierend wirkt auf den je individuell Erfahrenden, Reisenden, Wandernden angesichts solcher Probleme Addisons Rühmung des weiten Horizontes einer Landschaft als »ein Bild der Freiheit, wo das Auge Raum hat, umherzuschwärmen, durch die Unermeßlichkeit seiner Aussichten auf und nieder zu wandern, und sich unter [einer] Mannigfaltigkeit von Gegenständen, die sich seiner Betrachtung darbieten, zu verlieren.«96 Zu den kritischen Strategien einer Ästhetik der Moderne gehört es, die bürgerlich fortdauernde Sehnsucht nach Idylle am Beispiel der Rheinromantik als Ensemble trivial gewordener Stereotype zu entlarven. Dies gelang wohl am besten Kurt Schwitters mit seinem Vater Rhein aus dem Jahr 1927: »Eigentlich ist der Vater Rhein gar kein Vater, sondern ein Fluß. […] Der Vater liegt wie alle Flüsse in seinem Bett. Das Bett besteht teilweise aus flachem Ufer, teilweise aus Bergrücken, die wiederum teilweise mit Wein, teilweise mit Burgen bepflanzt sind. […] Die Weinberge sind am Rhein mit kleinen gardinenförmigen Mauern waagrecht aufgeteilt, ganz anders als an der Ahr, wo sie mehr kubistisch gestaltet sind. So hat jede Gegend ihre Eigenarten. Man besingt alles am Rhein. […] Von der neuen Zeit, die wir auch schon heute haben, merkt man am Rhein so arg viel nicht. Das kommt davon, daß alle Berge mit der Fahrradpumpe jeden Sommer einmal aufgepustet werden. Dann konservieren sich die Sagen gut. Alles ist sagenumwoben. Die einzelnen Spinnwebfäden sind oft meterdick.« 97
96 | Ebd.: 146. 97 | Schwitters 1927: 18.
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J ENSEITS DER B ILDER : E RFAHRUNG DER L ANDSCHAF T ALS B E WEGUNG IN R AUM UND Z EIT Die Fixierung auf Bilder und die dadurch bedingte Vorprägung der Einstellung zur Landschaft ist bei aller Vielfalt der Möglichkeiten zwischen Wildnis und Idylle eine die ästhetische Erfahrung des Gesamtphänomens Kulturlandschaft einschränkende und damit in gewisser Weise auch verfälschende Sicht. Die Überschreitung des Bildbezugs ist in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts allerdings schon angedeutet. So gehört zum Konzept des Erhabenen die Sprengung des Rahmens und der Geschlossenheit des harmonisch Komponierten zugunsten einer Weitung des inneren und ›äußeren‹ Raumes, des qualitativ wie quantitativ zu verstehenden Unendlichen.98 Die Theorie der Gestaltung von Landschaftsgärten wiederum ging vom bewegten Betrachter aus, dem auf seinem Rundweg zwar eine Vielzahl wohlkomponierter Bilder begegnen, dessen Erfahrung sich jedoch als dynamische Einheit eines raumzeitlichen Prozesses nicht in der Betrachtung solcher Bilder erschöpfen sollte. Da sich der Mensch ›leibhaftig‹ in einer Landschaft aufhält, reicht die Fixierung auf Bilder auch deshalb nicht aus, weil diese Art von Erfahrung tendenziell alle Sinne aktiviert, also synästhetisch ist. Auch hier bewegt sich die von der Ebene quasi-physiologischer Reaktionen bis zur Ebene der Reflexion reichende 98 | Kant (1790/1964: §§ 26, 28) unterscheidet in diesem Sinne das alle quantitativen Maße sprengende mathematisch Erhabene und das jedes »menschliche Maß« an Kraft übersteigende dynamisch Erhabene.
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ästhetische Beurteilung in einem normativ grundierten Spannungsfeld. Zu den seit Anerkennung des Mittelrheintals als UNESCO-Welterbe offensiver diskutierten störenden Faktoren gehört die vom Verkehr zu Lande, zu Wasser und zunehmend auch in der Luft nahezu permanent erzeugte Lärmkulisse, die das nach romantischem Vorverständnis vor allem vom Rauschen der Bäume und des Stroms sowie vom Gesang der Vögel bestimmte ›natürliche‹ akustische Profil überlagert. Selbst wenn man den Gesichtssinn als ästhetischen Leitsinn auszeichnet, bleibt die Kluft zwischen den durch permanente Reproduktion in gängigen Reiseführern sowie in der Tourismuswerbung längst zu stereotypen Bildern geronnenen Ansichten und der tatsächlichen Vielfalt charakteristischer Blickpunkte ›in Bewegung‹ offenkundig. Wird die Realität einer Landschaft konsequent an die raumzeitliche Situation des Subjekts gebunden, so potenziert sich die ästhetische Dichte99 des Einzelnen, Singulären, Individuellen bis hin zum Wechsel einzelner Augenblicke, wenn sich z.B. eine Wolke vor die Sonne schiebt und das Flusstal in einem anderen Licht, einer anderen Atmosphäre erscheint und dadurch vielleicht sogar die Anmutung des Südens mit dem Vorausblick der Öffnung des Tals zum Rheingau hin vom melancholischeren Gesamtklang einer nordischen Landschaft überlagert wird.100 Gesteigert wird diese Komplexität also zusätzlich durch die besondere ›innere‹ Resonanz und individuelle Färbung der Wahrnehmungen und Reflexionen dessen, der sich in einer Landschaft bewegt. So verwundert es nicht, wenn Romantiker wie Novalis der Natur eine ihr eigene Subjektivität und Sprachlichkeit zubilligen möchten: »Wird nicht der Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede? Und was bin ich anders, als der Strom, wenn ich wehmüthig in seine Wellen hinabschaue, und die Gedanken in seinem Gleiten verliere?«101 Diese ›Sprache der Natur‹ lässt sich allerdings nicht in eine eindeutige Botschaft übersetzen; sie bleibt rätselhaft, dunkel, vieldeutig und schreibt sich – wie eine nicht zu entziffernde Hieroglyphe beunruhigend und verheißungsvoll zugleich – in die Fraglichkeit der eigenen Existenz ein.102 Hier klingt der Mythos der babylonischen Sprachverwirrung nach. Angesichts der ›Entseelung‹ der Natur im Zuge ihrer Bemächtigung durch Wissenschaft und Technik kann nur 99 | Diesen Begriff übernehme ich von Goodman 1973: 253ff. 100 | Die emotionale Spannung zwischen homerischer Heiterkeit und ossianischer Melancholie hat die literarische und bildnerische Landschaftserfahrung des 18. und 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt; als existentieller Umschwung der Natur-Empfindsamkeit ausgestaltet wurde sie in Goethes erstem Roman Die Leiden des jungen Werthers. 101 | Novalis 1960: 389. 102 | Zur ästhetischen Lesart der Analogie von Natur und Sprache vgl. Zimmermann 1978.
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noch der ästhetisch inspirierte Mensch eine Ahnung dessen haben und vermitteln, was die Natur über ihr empirisches Sosein hinaus verkörpern mag. Es bleibt aufschlussreich, dass ein Theoretiker der ästhetischen Moderne wie Theodor W. Adorno die genuine Romantik gerade im Zeichen des Naturschönen als ein in ihrem Anspruch unabgegoltenes Projekt zu retten versucht und zu diesem Zwecke die Verwandtschaft zwischen der ästhetischen Erfahrung einer Landschaft und dem Verstehen einer nicht in Worte übersetzbaren spezifischen ›Sprachlichkeit‹ von Musik beschwört: »Wie in Musik blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu verschwinden vor dem Versuch, es dingfest zu machen. […] Daß Natur so rede, davon läßt sich nicht urteilen, es sei verbürgt, denn ihre Rede ist kein Urteil; ebensowenig jedoch bloß der trügerische Zuspruch, den Sehnsucht sich zurückspiegelt. In der Ungewißheit erbt sich ans Naturschöne die Zweideutigkeit des Mythos fort.«103
Wie auch immer man zu solchen eher spekulativen Überhöhungen des Naturerlebnisses stehen mag, so bleibt doch festzuhalten, dass die Erfahrung einer Landschaft stets eine existentielle Dimension hat. Ihre geschichtliche Tiefe lässt sich mit der Vergegenwärtigung der Zeitlichkeit des eigenen Lebens verknüpfen. Der Weg des Eingedenkens reicht hier vom Erleben des Kontrasts zur naturhistorisch-geologischen Zeit, für die das Durchbruchstal des Mittelrheins insgesamt ein Symbol ist, bis zum Innewerden der Intensität und irreduziblen Qualität des Hier und Jetzt, transitorisch aufscheinend und wieder entschwindend. Auf welche Weise die ästhetische Epiphanie der Rheinlandschaft die Geschichte eines ganzen Lebens aufrufen kann, dokumentiert eine tagebuchartige Eintragung von Joseph Görres, die er niederschrieb, als er im Alter nach vielen Jahren der Abwesenheit noch einmal seine Heimatstadt Koblenz besucht: »Der Abend war gar zu schön, im Westen stach die Sonne durch ein malerisches Gewölke, um den übrigen Horizont lag ein leichter zerrissener Nebel wie ein hingeworfenes Gewand um die nackten Berge, im grünen Rheine nur von Zeit zu Zeit ein Eisfeld, die Luft mild und warm. Da saß ich nun da auf einem Steine und starrte hinunter in meine Welt. Der bekannte Ton der Uhren und Glocken traf mein Ohr, sogar das Getöse der Menschenstimmen, die zu mir hinaufschallten, schien mir nicht fremd, alle meine Sinne waren rege gemacht, um mich in die Welt meiner Reminiszenzen hineinzuzaubern. Der Strom drang auf mich ein, und ich überließ mich ihm willig. Freudig stieg ich an der Leiter, die dort vor mir lag, hinab bis in die fernsten dunkelsten Tage meiner Kindheit, bis dahin, wo die Dämmerung, die uns beim Eintritt ins Leben umfängt, jeden weiteren Blick in die Tiefe verbietet. Von Szene zu Szene sprang ich hinunter, hielt mich dort auf und da, schuf noch einmal die nämlichen Situationen um mich, fühlte mich noch einmal in die jedes103 | Adorno 1970: 115.
Ä STHETISCHE E RFAHRUNG UND DIE S EHNSUCHT NACH N ATUR maligen Gefühle hinein, sprang dann wieder auf meine gegenwärtigen, verglich und maß die spielenden Freuden des Kindes mit den ernsteren und tieferen des Jünglings und des Mannes, paarte in zwei nebeneinanderliegenden Momenten Empfindungen, zwischen die in der Wirklichkeit sich Jahre geworfen hatten, und mich freute der Kontrast dieser wunderbaren Nebeneinanderstellungen. Und doch war mir nicht wohl bei dem Genusse, meine Gefühle waren bleich und welk, der Geist, der sie beleben sollte, war ja so weit von hier.«104
Görres beschreibt den Eindruck dessen, der in die Stadt und an den Fluss seiner Kindheit zurückkehrt. Dies unterscheidet seine existentielle Situation von derjenigen des fremden Reisenden, der sich eine Landschaft in eher flüchtiger Weise ästhetisch anverwandelt, was nicht ausschließt, dass er in ihr bei längerem und intensiverem Verweilen auf eine sekundäre Weise heimisch wird. Die Würdigung des Regionalen lief in der Vergangenheit häufig Gefahr, fremde Sichtweisen aufgrund der vermeintlichen Sicherheit heimatlicher Maßstäbe fernhalten oder ausgrenzen zu wollen. Wie verhängnisvoll ein solches Verständnis von Heimat sein konnte, ist aus der Geschichte der patriotischen Vereinnahmung des Rheins als Urbild des ›deutschen Stromes‹ nur allzu bekannt. Obwohl heute solche Abgrenzungen keine wesentliche Rolle mehr spielen, ist eine Landschaft wie das Mittelrheintal nicht völlig indifferent gegenüber dem Gegensatz von einheimischem und fremdem Blick geworden. Vielmehr werden wir auch aus der Perspektive ästhetischer Erfahrung aufgefordert, die regionale Charakteristik mit ihrem ganzen geschichtlichen und sozialen Umfeld zu bedenken und die Dialektik einer Grenze zu erkennen, die zwar überschreitbar sein soll, ohne doch die qualitative Differenz in einer Weise aufzuheben, wie es die Kataloge von Reiseveranstaltern suggerieren, wenn sie die verschiedenartigsten Regionen in gleicher Weise als bequeme, schnell und preiswert konsumierbare Urlaubspakete anbieten. Inzwischen hat die fortschreitende Modernisierung der Lebensverhältnisse jene Dialektik längst von ihrem vermeintlich einfachen Ausgangspunkt (›Heimat‹ versus ›Fremde‹) in eine Vielzahl von Facetten aufgelöst, die ein höchst widersprüchliches Szenario umfassen. Die grenzüberschreitende Mobilität und Globalisierung wirkt in die Keimzellen regionaler Strukturen ebenso stark hinein wie die fortschreitende Individualisierung von Verhaltensweisen, die zur Auflösung traditionell vorherrschender Gruppenidentitäten führt, wie sie der alte Begriff der Heimat voraussetzt, und andererseits die Entstehung neuer Gruppenidentitäten z.B. im Zeichen einer auch ästhetische Interessen einbeziehenden ›ökologischen Wende‹ erschwert.105 104 | Görres Andenken aus meiner Jugend zitiert nach Gondorf 1985: 25ff. 105 | Der von mir nur knapp umrissenen Dialektik von Heimat und Fremde widmet sich unter anderem das Heft Neue Kulturlandschaft (2000) der Zeitschrift Wolkenkuckucks-
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Ä STHE TISCHE N ATURERFAHRUNG UND DIE B RUCHLINIEN DER M ODERNE Wie schon eingangs erwähnt ist die Vorstellung des Mittelrheintals von einer Vielzahl historischer Reminiszenzen und Assoziationen geprägt, die den Blick auf Natur und Landschaft auch heute noch als Erwartungsrahmen beeinflussen und die durch einen entsprechenden Vorrat an Bildern wachgehalten werden. Sich nicht nach den Vorgaben solcher Bilder richtende tatsächliche Veränderungen der Kulturlandschaft haben die Möglichkeiten einer ästhetischen Rückprojektion unter Ausblendung aller durch Modernisierung bedingten störenden Faktoren immer weiter eingeschränkt. Darüber hinaus ist das Verhältnis von Kunst und Natur seit Ende des 19. Jahrhunderts so indirekt geworden, dass das Beharren auf den alten, am Prinzip der Nachahmung orientierten Typen der Landschaftsdarstellung als antiquierter Traditionalismus gelten muss,106 dessen Schwundstufe jener massenhaft reproduzierte Kitsch ist, der die Souvenirläden füllt.
heim. Dinnebier (2000) meint in ihrem Beitrag, dass es der Fremde leichter habe, »ein ästhetisches Urteil über eine Gegend zu fällen, denn er blickt aus der Distanz auf sie«. Der Einheimische dagegen verweigere demgegenüber ein ästhetisches Urteil: »Landschaft findet sich somit eher in der Fremde.« 106 | Zu dieser Entwicklung vgl. Zimmermann 1994.
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Die Ungleichzeitigkeit des ästhetischen Bewusstseins in der Wahrnehmung von Landschaft ist als Würdigung der Gegenwärtigkeit des Vergangenen im Prinzip sicherlich ebenso legitim wie im Falle der Betrachtung alter Bilder im Museum. Doch kann die veränderliche Realität einer Kulturlandschaft eben keine rein museale sein, und zwar nicht nur auf Grund ihrer zumeist in ganz andere Richtungen weisenden sozialen und ökonomischen Entwicklung. Es mag zunächst tröstlich anmuten, dass es eine verhältnismäßig stabile, seit dem Modernisierungsschub der 60er Jahre angesichts der Verluste an historischer Substanz eher noch gewachsene Wertschätzung des Erbes an Kulturdenkmalen und historisch geprägten Landschaftsarealen gibt. Die Aufgabe besteht heute jedoch darin, Tradition und Moderne zusammenzusehen und die Frage der zukünftigen Erhaltung und Gestaltung der Kulturlandschaft von der grundsätzlichen Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Ästhetischen her zu bedenken. Dies schließt die Erkenntnis des unvermeidlichen Konflikts mit andersartigen Nutzungsinteressen im öffentlichen Raum ebenso ein wie die Anerkennung der Tatsache, dass es hierüber auf Grund des Mentalitätswandels gerade in den letzten Jahrzehnten inzwischen einen starken Dissens gibt. So stehen die Präferenzen von ›Naturfreunden‹ in erklärtem Gegensatz zu Unternehmungen, wie sie die ›Spaßkultur‹ der sogenannten fun generation favorisiert. Überhaupt dürfte die neuere Jugendkultur mit der Orientierung an romantischen Landschaftsbildern ziemlich wenig zu tun haben. Das in der Praxis nur schwer zu bewältigende Problem besteht heute also vor allem darin, Unverträglichkeiten einer mehr denn je plurifunktionalen Nutzung der Kulturlandschaft zumindest partiell miteinander in Einklang zu bringen. Im Horizont einer genuinen Ästhetik der Moderne lassen sich andererseits Kriterien dafür gewinnen, wie sich rigide traditionalistische Fixierungen vermeiden lassen, ohne das romantische Erbe insgesamt zu diskreditieren. Es geht darum, Bruchlinien, Fragmentierungen, Unvereinbarkeiten und Widersprüche nicht zu verdrängen oder schlicht zu verdammen, sondern kritisch zu reflektieren und unter Umständen sogar als ihrerseits durchaus legitime Merkmale einer lebendigen Kulturlandschaft anzuerkennen. So ist der bis heute genutzte große Steinbruch bei Trechtlingshausen keineswegs nur eine der Landschaft zugefügte ›Wunde‹, insofern sie optisch so auffällig ist. Ästhetisch betrachtet sind Steinbrüche eher Monumente des ›technisch Erhabenen‹, die nach dem Ende ihrer Nutzung Ruinen eigener Art verkörpern, die im Zuge der Rückeroberung durch die Vegetation zur Ausbildung neuer, sogar ökologisch interessanter ›Miniaturlandschaften‹ beitragen können. Die historische und in gewisser Weise auch moralische Bedeutung der überdauernden Sichtbarkeit solcher Steinbrüche besteht darin, dass sie eine andere Geschichte der Arbeit im Mittelrheintal wachrufen als der seit langem – nebst agrarischem Umfeld – ins romantische Bild integrierte Weinbau. Wer die aufwendige physische und konzeptuelle Umgestaltung des Ruhrgebiets zu einer postindustriellen Kulturlandschaft im Blick hat, wird
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z.B. die drei Schornsteine im Hintergrund der Marksburg bei Braubach als besonders charakteristische ›Landmarke‹ würdigen, die als weithin sichtbares, die vertraute Silhouette der Berge verfremdendes Zeichen an die Tradition des dort immerhin bis 1963 betriebenen Blei- und Silber-Bergbaus erinnert. So war es im Zuge der Erweiterung des Landschaftsbegriffs zugunsten von Arealen mit industrieller Prägung nur konsequent, dass diese Anlagen 2002 als spezifisches Monument des UNESCO-Welterbes unter Schutz gestellt wurden. Den systematischen Rahmen für die Diskussion des Ruinösen im Horizont ästhetischer Erfahrung bildet heute die Ästhetik der Verwitterung, die solche Phänomene in allen Bereichen der Natur und Kultur sowie ihrer Wechselwirkung untersucht. Die populäre Einstellung schwankt hier zwischen Abwehr und Akzeptanz. Verrottung steht im Widerspruch zur bürgerlichen Leitvorstellung von Reinheit und Ordnung. Zum ›malerischen‹ Charakter einer Traditionslandschaft gehören nach weitverbreiteter Meinung immerhin moderat vergilbte und dadurch strukturell wie farblich individualisierte Fassaden, grün korrodierte Kupferdächer, bröckelnde Mauern und natürlich offiziell als Denkmäler anerkannte Ruinen. Im Bereich der Bildenden Künste sowie ›antiquarischer‹ Gegenstände aller Art wird ein solcher durch Verwitterung entstandener ästhetischer Mehrwert als Patina geschätzt und deshalb gerne nachgeahmt bzw. zur Täuschung des Publikums gefälscht.107 Schließlich sollte die Ästhetik der Moderne auch in einer Kulturlandschaft wie dem Mittelrheintal als eigene Gestaltungsperspektive Berücksichtigung finden,108 mit Exempeln einer die jeweilige Umgebung ästhetisch pointierenden anspruchsvollen Architektur, mit sensibel platzierten künstlerischen ›Landmarken‹ oder auch mit großräumigeren Gestaltungen im Sinne der land art, die von der Neuakzentuierung eher technisch geprägter Areale bis zur Anlage von Künstlergärten in verlassenen Weinbergen reichen können.109 Die faktische Veränderlichkeit einer Kulturlandschaft bedeutet in jedem Falle, dass selbst das Teilziel der Erhaltung nicht eindeutig zu bestimmen und deshalb auch nicht nach starren Plänen zu verwirklichen ist. Um die prinzipiell of107 | Vgl. hierzu ausführlich: Zimmermann 2008. Ein Berliner Büro für Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung nennt sich Gartenpatina [www.gartenpatina.de], woraus zu schließen ist, dass die Akzeptanz von Patina als ›ästhetischem Mehrwert‹ zu den ausdrücklichen Zielen der Gestaltung gehört, zumal die Duldung von Patina selbst in kontinuierlich ›kontrollierten‹ Außenräumen unausweichlich ist. 108 | Zur Auseinandersetzung der Moderne mit dem gesamten Themenkomplex vgl. Schmidt, Malsch & van de Schnoor (1995) mit Beispielen einer antiromantischen Ästhetik des Wahrnehmungsbruchs wie z.B. Wolf Vostells Collage Neue Rheinische Landschaft aus dem Jahre 1968 (ebd.: 73). 109 | Vgl. hierzu Kunstforum international 1999, mit dem Schwerpunktthema Künstler als Gärtner.
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fene Frage des Vorrangs bestimmter historischer Gegebenheiten im diachronen Durchgang durch die Jahrhunderte zu beantworten, reicht hier die Berufung auf die Rheinromantik ebenso wenig aus, wie eine empirisch präzisere kunsthistorische Rekonstruktion, die vor allem für Maßnahmen der Denkmalpflege leitend ist, jedoch ebenfalls mit Ungleichzeitigkeiten rechnen muss. So zeigt das Plädoyer für die Erhaltung von Kirchen in ihrer späteren unverputzten Gestalt gegenüber Versuchen, eine aufgrund von Dokumenten erschlossene ›ursprüngliche‹ farbige Fassung wiederherzustellen, dass sich angesichts solcher Fragen die Argumentation auch auf eine Art sekundärer Historie stützen lässt: Die chronologisch spätere Gestalt wäre z.B. dann vorzuziehen, wenn sie sich ästhetisch plausibler in die Physiognomie der sie umgebenden, vom Schwarz und Silbergrau des Schiefers geprägten Landschaft einfügt. Den nostalgischen Blick auf die durch fortschreitende Modernisierung einer Kulturlandschaft bewirkten Verluste hat Lucius Burckhardt mit einem Hauch von Ironie folgendermaßen beschrieben: »Kulturlandschaft ist die Landschaft, in die man zu spät kommt, deren Reiz darin besteht, daß man darin gerade noch lesen kann, wie es einmal war. Und wie es einmal war, das ist für uns so, wie es ›eigentlich‹ sein müßte.«110 Derartige – zu einem Gutteil imaginäre – Rekonstrukte könne man jedoch im strengen Sinne gar nicht konservieren. Die Frage, was Kulturlandschaft in ihrer Substanz eigentlich ›ist‹, sei daher »keine faktische oder historische, sondern eine ästhetische. Es ist die Frage, als was wir sie wahrnehmen.« Der Folgerung, dass Kulturlandschaften nur »ein Konstrukt der Wahrnehmung« seien, kann man allerdings mit guten Gründen widersprechen. Die Dialektik von Objektivität (faktisches Gegebensein bestimmter landschaftlicher Verhältnisse), Subjektivität (Wahrnehmung von Landschaft aus einer bestimmten persönlichen Perspektive) und Intersubjektivität (traditionell überkommenes und modern sich veränderndes kollektives Verständnis von Landschaft) lässt sich nicht bruchlos nach der einen oder anderen Seite hin auflösen. Es handelt sich vielmehr um einen höchst komplexen Prozess der Vermittlung, der immer wieder nach neuen – ihrerseits durchaus revidierbaren – Versuchen einer Synthese von zurückblickender Rekonstruktion, präsentischer Wahrnehmung und zukunftsbezogenem Entwurf verlangt.111
110 | Dieses Zitat und die folgenden finden sich bei Burckhardt 1994: 40. 111 | Ursprünglich bezog sich der Schutz von Kulturlandschaften nur auf solche, die traditionell agrarisch genutzt wurden. Spätestens seit Beginn des IBA-Emscher-Projekts zur Umgestaltung der Ruhrgebietslandschaft erweiterte sich der Begriff jedoch in dem Sinne, dass inzwischen auch primär industriell genutzte Landschaften als schutzwürdig gelten. Deren Denkmale und Monumente werden nun ebenfalls ästhetisch interpretiert und überdies noch durch aufwändige land art-Projekte zusätzlich nach Kriterien einer avantgardistischen Moderne akzentuiert. Vgl. Günter 1999: 135ff.
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Landschaftstheoretiker wie Andreas Muhar, die im Zeichen der ›ökologischen Wende‹ ironisch darauf verweisen, dass die traditionelle Fixierung auf einen bestimmten erhaltenswerten Zustand inzwischen von zahlreichen den »Modeströmungen in den Naturschutzverbänden«112 geschuldeten Entwürfen abgelöst worden seien, kommen in ihren Plädoyers schließlich doch wieder auf ältere ästhetische Überlegungen und ihre Kriterien zurück: Auch eine zukunftsorientierte Gesellschaft, für die eine Kulturlandschaft eine »solidarisch« zu bewältigende Aufgabe ist, könne nicht umhin, sich an Begriffen wie »Geborgenheit, Heimat, Harmonie, Orientierung, Schönheit, Geheimnis, Zauberhaftes, Unheimliches« zu orientieren. Es gehe um die »weichen Qualitäten von Landschaft, die für uns eben in den alten Kulturlandschaften so deutlich wahrnehmbar sind«. Das Unheimliche mag hier dem insgesamt dominierenden Idyllischen durch eine Spur von Wildem, Heroischem, Erhabenem eine besondere Würze geben. Gleichwohl soll eine solche zukünftige Gestaltung »keine museale, sondern eine gelebte« sein. Damit werden wir erneut auf den Widerstreit des aktuellen Landschaftsdiskurses mit seinen unterschiedlichen Interessen und Geltungsansprüchen verwiesen. Nostalgische Träume nach rückwärts wie utopische Träume nach vorwärts – also die weiten Räume der Phantasie – gehören ebenso wie nüchterne empirische Analysen zum Horizont nachhaltiger Planung und Gestaltung, wenn diese zugleich kritisch und kreativ sein soll. Dabei könnte sich allerdings herausstellen, dass der Spielraum angesichts der von ästhetisch fragwürdigen Planungen gerade in jüngerer Vergangenheit angerichteten Zerstörungen faktisch sehr eng geworden ist und Erhaltung paradoxerweise zumindest auf absehbare Zeit zum Kernbereich nachhaltiger Entwicklung gehören sollte.
112 | Dieses Zitat und die folgenden finden sich bei Muhar 1994.
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A SSOZIATIVE H ORIZONTE DES M IT TELRHEINTALS ALS K ULTURL ANDSCHAF T Da die ganzheitliche Erfahrung einer Landschaft die Verbindung von Kultur und Natur voraussetzt, seien diese beiden elementaren Bezugsfelder abschließend noch etwas konkreter in ihrem Zusammenspiel gewürdigt. Als synthetisierendes Moment legt sich hier der Begriff der Aura nahe, dessen Assoziationspotential von der religiösen, geschichtlichen und künstlerischen Sphäre bis zur ästhetischen Erscheinung der Natur als materieller Basis jeder Landschaft reicht. Walter Benjamin bestimmt diese Aura als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, um sie sodann an ›natürlichen Gegenständen‹ zu exemplifizieren: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«113 Was umfasst diese Aura im Einzelnen? Sie betrifft zunächst die geschichtliche Tiefe einer Landschaft überhaupt, und zwar über alle historischen Dokumente hinaus auch als imaginative Rückprojektion bis in mythische Anfänge hinein. Schon in der Antike galt der Rhein neben dem feuerspeienden Ätna und dem grenzenlosen Ozean als Musterfall des Erhabenen, das »wir aus einem natürlichen Trieb heraus bewundern«.114
113 | Benjamin 1963: 18. 114 | Longinus 1988: 87.
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Konkreter ist die naturgeschichtliche Imagination, die sich inzwischen durch geologische Erkenntnisse präzisieren oder korrigieren lässt. So kann uns der Strom beim Durchbruch durch das rheinische Schiefergebirge wie ein mächtiger Akteur erscheinen, der sich in einer für menschliche Erfahrungshorizonte unvordenklichen Zeit »wunderbar zwischen den engen Thälern einen Weg gebahnt hat«, wie Forster 1790 bei seiner Rheinreise anmerkte. Auch spekulierte er darüber, ob sich dort einst ein Landsee angestaut habe, »bis jener Damm des Binger Felsenthals überwältigt ward«.115 Diese Aura des Erhabenen hat sich heute angesichts der alltäglich gewordenen Erfahrung ungleich extremerer Naturschauspiele allerdings abgeschwächt, so dass es darauf ankommt, gegenüber dem bloß Spektakulären subtilere ›Zwischentöne‹ zu kultivieren. In diesem Sinne zog August Wilhelm Schlegel als einer der wichtigsten Theoretiker der Romantik den aktiven Tenor des aristotelischen Begriffs der Poiesis dem eher passiv aufgefassten Begriff der Aisthesis vor: »Die unpoetische Ansicht der Dinge ist die, welche mit den Wahrnehmungen der Sinne und den Bestimmungen des Verstandes alles an ihnen für abgetan hält; die poetische, welche sie immerfort deutet und eine figürliche Unerschöpflichkeit in ihnen sieht.«116 Erneut sei hier an die für die Charakteristik des Mittelrheintals so prominente Ästhetik des Ruinösen in ihrem Doppelsinn des Vergehens und der Wiederaneignung nach der Seite der Kultur wie der Seite der Natur erinnert. Wie eine aktuelle ökologische Mahnung klingt heute Georg Simmels Überlegung aus der Zeit kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: »[D]ie Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt; denn jetzt erscheint der Verfall als die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde angetan hat.« 117
Bedeutsam bleibt vor diesem Hintergrund die Erinnerung an eine mit der berühmtesten Kirchenruine des Rheintals verknüpfte Gewalttat, die im Mittelpunkt von Heinrich Heines Erzählung Der Rabbi von Bacharach steht. Sie handelt von einem Judenpogrom, dessen Genese über Jahrhunderte hinweg durch die Lüge vom Ritualmord an einem Christenkind namens Werner verstellt worden war. Der Höhepunkt, auf den die Handlung dieser Erzählung mit ihrem bewusst offen gehaltenen Schluss zuläuft, ist eine Vision der mit ihrem Vater rheinaufwärts fliehenden Sara, die in unruhigem Halbtraum während der Fahrt an Mainz vorbei in dieser ›goldenen Stadt‹ das himmlische Jerusalem zu er115 | Forster 1979: 18. 116 | Schlegel 1963: 81. 117 | Simmel 1919: 125f.
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blicken glaubt.118 Ungefähr zur gleichen Zeit, in der Heine an seiner Erzählung arbeitete, ergriff den Maler Carl Gustav Carus beim Anblick des »mysteriösen, reinen Stils« der zum Gedenken an das angeblich von Juden ermordete Kind oberhalb von Bacharach errichteten Wernerkapelle ein »so sonderbares, neues, und doch so heimatliches Gefühl«, wie er es zuvor noch nie gehabt habe, und sah sich emphatisch in seinem Deutschtum bestätigt.119 Wie unscheinbar wirkt die inzwischen vor Ort angebrachte Mahntafel andererseits im Vergleich zum 1993 wiedererrichteten Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Zusammenfluss von Rhein und Mosel in Koblenz, das zwar keine Zwietracht zwischen Deutschen und Franzosen mehr zu säen vermag, aber doch dokumentiert, in welchem Maße sich die Pflege der Geschichte von einer Sichtweise abwenden kann, die die Vergangenheit kritisch reflektiert und deshalb auch in Fragen der Restaurierung andere Zeichen zu setzen versucht.
W INTERREISE Der bedeutendste unter den Fotografen, von denen Aufnahmen aus dem Mittelrheintal überliefert sind, war zweifellos August Sander. Auf seinem ›Lieblingsberg‹, der Wolkenburg im Siebengebirge, sah er sich einem »Panorama von unglaublicher Schönheit« gegenüber: »In der hier herrschenden Ruhe drang 118 | Heine 1997: 459ff. 119 | Carus Paris und die Rheingegenden. Tagebuch einer Reise im Jahre 1835 zitiert nach Tümmers 1994: 212.
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das ewige Rauschen des Rheinstromes zu mir herauf. Die Stimmung dieses Morgens war zauberhaft und fast unbeschreiblich. An welcher Stelle ich auch stand und umherschaute, entzückte mich immer wieder ein anderes und fesselnderes Bild.«120 Während dieser Aufenthalte auf dem Gipfel der Wolkenburg sind Aufnahmen aus allen Jahreszeiten entstanden, auch im Winter mit dem verschneiten Rheintal im Hintergrund, da Sander dort oben des Öfteren in aller Einsamkeit den Weihnachtsabend oder den Jahreswechsel beging. Die aus der Erfahrung des Wandels der Jahreszeiten resultierende Vorstellung einer der zielgerichteten linearen Zeit widerstreitenden zyklischen Zeit sowie der Überlagerung beider Tendenzen zum Konzept einer spiralig bewegten Zeit, die sich gleichermaßen auf den Verlauf des je individuellen Lebens zwischen Geburt und Tod wie auf das Schicksal der Menschheit und der sie umfassenden Natur insgesamt projizieren lässt, ist nicht nur für die ästhetische Erfahrung von Landschaft, sondern für das gesamte Existenzverständnis mit seinen sozialen, politischen, moralischen und religiösen Implikationen von größter Bedeutung. Sicherlich spielt die Akzeptanz des Winterlichen innerhalb einer Ästhetik des Erhabenen, die es gestattet, ›negative‹ Phänomene der Erfahrung der Einsamkeit, der Monotonie, der Bedrohung durch Unbilden der Natur usw. in ästhetisch ›positive‹ Kriterien zu transformieren, auch im Falle des Mittelrheintals eine gewisse Rolle. Eine konkrete Beschreibung des Mittelrheintals als Winterlandschaft ist jedoch eher eine Seltenheit. Unter den historischen Dokumenten verdient hier zunächst die sehr genaue Beschreibung winterlicher Erscheinungen Beachtung, die Georg Forster während seiner von Mainz ausgehenden Reise durch das Mittelrheintal zu Papier bringt, die er im Jahr 1790 zusammen mit dem jungen Alexander von Humboldt unternommen hat, wobei die Schilderung dieses Talabschnitts bezeichnenderweise nur eine kleine Episode darstellt, da nicht der ›deutsche‹ Rhein, sondern der niederländische Waal mit der Hafenstadt Rotterdam den Höhepunkt der Reise markiert, wie dies im Titel Ansichten vom Niederrhein schon angedeutet wird. Daraus erhellt nebenher, dass Forster alles andere als ein Rheinromantiker gewesen ist. Unter dem Datum des 24. März heißt es zur Ernüchterung all jener, die Rheinlandschaft geradezu automatisch auf Weinlandschaft reimen: »Der Weinbau giebt wegen der krüppelhaften Figur der Reben einer jeden Landschaft etwas Kleinliches; die dürren Stöcke, die jetzt von Laub entblößt, und immer steif in Reih’ und Glied geordnet sind, bilden eine stachlichte Oberfläche, deren nüchterne Regelmäßigkeit dem Auge nicht wohl thut.«121 Die Erhaltung der Rebgärten anstelle einer der Natur in ihrer Vielfalt vor Ort möglicherweise förderlicheren Verwilderung ehemaliger Weinbauterrassen gilt als Merkmal der 120 | Sander zitiert nach Lindner 1999: R7. 121 | Dieses Zitat und die folgenden nach Forster 1979: 17ff.
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Eigenart dieses ›romantischen‹ Flusstals jedoch als unerlässlich, zumal der Flächenanteil seit den 60er Jahre immer stärker zurückgegangen ist. An jenem grauen Tag, an dem Forster auf einem Schiff die steilen Hänge des Engtales passiert, liest er ostentativ in einem Buch über Borneo, um seine Phantasie »an jenen glühenden Farben und jenem gewaltigen Pflanzenwuchse des heißen Erdstrichs« zu wärmen und zu laben, »wovon die winterliche Gegend hier nichts hatte«. Eine Ästhetik der Kargheit interessierte ihn offensichtlich nicht, zumal sich seine Aufmerksamkeit auf historische, soziale und politische Sachverhalte konzentrierte. Immerhin erwähnt er den »romantischen Mäuseturm« als Eingangssignal zur Einfahrt ins Mittelrheintal. Einigermaßen ignorant wirkt demgegenüber sein summarisches Urteil: »Für die Nacktheit des verengten Rheinufers unterhalb Bingen erhält der Landschaftskenner keine Entschädigung.« Die Ästhetik des Erhabenen wird zumindest gestreift: Einige Stellen seien wild genug, »um eine finstere Phantasie mit Orkusbildern zu verwöhnen«. Ob dies ein Lob sein soll, bleibt allerdings fraglich. Die Lage der zwischen Ufer und Steilhängen eingezwängten Städtchen nennt Forster angesichts der Drohung, dass der »furchtbare Fluß« »von geschmolzenem Alpenschnee oder von anhaltenden Regengüssen anschwillt«, »melancholisch und schauderhaft«. Im Übrigen vertröstet sich Forster mit Ausblicken auf die kommende frühlingshafte Idylle, deren schüchterne Anzeichen er im weißen und rötlichen »Blütenschnee« von Mandel-, Pfirsich- und Kirschbäumchen erkennt, die unbequem genug auf den »durch die Rebenstöcke verunzierten Felswänden und Terrassen« Wurzel geschlagen haben. Erst nach der Talöffnung bei Boppard erblickt er »ungeachtet der feuchten Kälte, womit uns der Ostwind die aufsteigenden Nebel entgegenwehte« in Gestalt »schön gewölbter Berggipfel mit reichlicher Waldung« endlich »das Malerische der Gegend«, das sich, »sobald sie mit frischem Laube geschmückt sein wird, um vieles erhöhen muß.« Eine winterliche Naturkatastrophe schildert der ›Romantiker‹ Achim von Arnim in seiner Erzählung Der Eisgang aus der 1809 erschienenen Novellensammlung Der Wintergarten. Schauplatz ist die Umgebung von Schloss Wiepersberg in Brandenburg, in dem Arnim hauptsächlich wohnte und wo er nebenher auch Garten- und Landbau betrieb. »Dem Eisgange am Himmel folgte erst der Eisgang in den Strömen […]. Am Morgen lief alles zum Flusse, der hohe Eistürme an der einen Seite der Brücke aufgebauet hatte, ein wunderliches Gemisch mit ausgerissenen Bäumen, fortgetriebenen Häusern, auf denen ganze Scharen Hausgeflügel ängstlich herumliefen, ihre Ställe zu bewahren und schrien; selbst ausgewühlte Särge lagen halb eröffnet darauf, wie bei der Auferstehung, und der unterirdische Schmuck zeigte sich dem Tage. […] Das Wasser stieg dahinter und suchte sich mit Lustigkeit neue Wege, immer neue Eisschollen schurrten hinzu, endlich hörten wir auf einer kommenden Eisscholle ein Posthorn, da zerkrachten die Ketten, welche
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Als Kontrast zu dem der winterlichen Macht des Elbstroms geschuldeten Faszinosum beschwört Arnim zum Schluss der kurzen Erzählung die Lieblichkeit des von ihm nur ein einziges Mal für kurze Zeit besuchten Rheintals, als ob dort nichts vergleichbar Katastrophisches geschehen könne: »Sei mir gesegnet als friedlich wallender Strom der Ebene, du ferner Rhein, an dem ich sonst Stunden in seliger Gedankenlosigkeit hingeschauet und meine Finger eingetaucht in deine heilige schauerliche Kühle und gesprochen zufällige gefällige Worte.« Und an seinen in jener Ferne lebenden Geistesbruder Clemens von Brentano richtet er die Frage: »Soll ich […] des Rheins noch lange entbehren, nur einmal im Jahre atme erinnernd in meine Brust diese Frische des ersten Eindrucks jener schönen Welt, der wie der kühlende Sternenwind des Abends von den Bergen herab, alles Bezwingende des Sommertages überwältigt.« Der Rhein in Eisfesseln lautet die Überschrift eines Beitrags der Zeitschrift Daheim vom 18. Februar 1891: »Man hat bei Bacharach durchschnittlich eine Dicke des Eises von anderthalb Metern gemessen, an einzelnen Stellen hat man eine Eisdecke von drei, vier, fünf, bis zu sieben Metern gefunden. […] Welch’ ein verändertes Landschaftsbild sich dadurch ergeben hat, mögen unsere Leser aus der nach einer Photographie hergestellten Abbildung ersehen.« Man hoffe, dass »der Winter 1891 den Reben nicht zu kalt gewesen ist. Die Bacharacher werden jedenfalls keine Sehnsucht nach einem solchen Winter haben, trotzdem sie es in diesem bequem hatten an das rechte Rheinufer zu gelangen.«123 Wegen der immer stärkeren Aufheizung des Rheinwassers durch den Betrieb von Kraftwerken und anderen Industrieanlagen ist ein Eisgang mit der Konsequenz des Zufrierens bestimmter Flussabschnitte wie zuletzt im Winter 1962/63 inzwischen höchst unwahrscheinlich geworden. Die Projektionen ästhetischer Landschaftserfahrung können eine sich auf konkrete Beobachtungen stützende Erfahrung also nie gänzlich außer Kraft setzen. Jede komplexere Beschreibung bewegt sich zwischen einem objektiven und einem subjektiven Pol, ohne dass die Anteile immer genau abzugrenzen wären, zumal die Art, wie die Ergebnisse empirischer Beobachtungen in Text, Bild oder auch Ton aufgefasst und interpretiert werden, intersubjektiv differie122 | Dieses Zitat und die folgenden nach Arnim 1963: 428f. 123 | Zitiert nach www.loreleyinfo.de/rhein.php. Neben alten Fotografien gehört der Film Der Rhein in Eisfesseln von Georg Dengel über die Vereisung des Jahres 1929 – allerdings nicht im Mittelrheintal, sondern bei Biebrich aufgenommen – zu den inzwischen kostbaren Dokumenten dieser – ästhetisch betrachtet – besonders eindrucksvollen ›Verfremdung‹ einer Flusslandschaft.
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ren und dadurch wiederum den Diskurs über Landschaft bereichern und zu neuen Einsichten führen können. In der von künstlerisch imaginierten Landschaftsdarstellungen geprägten Rezeptionsgeschichte verbindet sich das Wort Winterreise vor allem mit einem der bedeutendsten Liederzyklen der Romantik, den Franz Schubert nach Gedichten von Wilhelm Müller 1827 kurz vor seinem Tod komponiert hat und eben noch vollenden konnte. Eines der insgesamt 24 Lieder trägt den Titel Auf dem Fluß. Mit dem guten Willen der Phantasie lässt sich dieses Lied durchaus auch auf den winterlichen Rhein beziehen: »Der du so lustig rauschtest, Du heller, wilder Fluß, Wie still bist du geworden, Gibst keinen Scheidegruß. Mit harter, starrer Rinde Hast du dich überdeckt, Liegst kalt und unbeweglich Im Sande ausgestreckt.«124
Erstarrung, Stille und Sehnsucht nach dem Tode prägen Schuberts imaginäre Winterreise und lassen den Fluss auch ohne den Fährmann Charon, den im letzten Lied der Leiermann vertritt, je nach Vorverständnis als Weg in die Unterwelt oder ins Jenseits erscheinen. Das ästhetische Faszinosum besteht darin, dass – unterstützt durch den Wortlaut von Wilhelm Müllers Gedicht – dank Schuberts außerordentlicher künstlerischer Inspiration in unserem Geist tatsächlich so etwas wie ein singuläres ›musikalisch fließendes Bild‹ des erstarrten Flusses ersteht.125 Welche Facetten der Landschaft zeigen sich demgegenüber ›tatsächlich‹ bei einer ausgedehnten winterlichen Wanderung durch das Mittelrheintal? Die ebenso wissenschaftlicher Neugier wie ästhetischem Enthusiasmus zugänglichen Phänomene betreffen hier einerseits die im Winter viel deutlicher erkennbare Morphologie der von vergänglichem Grün befreiten Berge und Böden, die Prozesse fortgeschrittener Verwitterung im Bereich der Vegetation mit der ihr eigenen ›Skelettierung‹, andererseits aber auch die Auffälligkeit eines sonst im Üppigen eher verborgenen Lebens, und schließlich die ästhetisch besonders attraktive atmosphärische Verfremdung der Landschaft durch Nebel, Reif, Schnee und Eis. Ein Höhepunkt wäre dabei ein vollkommener ›Austausch‹ der 124 | Schubert, Franz: Winterreise op. 89 D 911, Lied Nr. 7. Schubert ersetzt das Wort »hingestreckt« in der Textvorlage von Wilhelm Müller durch »ausgestreckt«. 125 | Zur Bedeutung von Schuberts Winterreise für das Selbstverständnis der Moderne vgl. Zimmermann 2011a.
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vom Grün dominierten bunten Vegetationsdecke durch eine das gesamte Landschaftsprofil bis auf das strömende Wasser des Rheins bedeckende Schicht von frisch gefallenem Schnee. »… alles, was zählbar war, spitz, distinkt, fließt ineinander, Dachziegel, Köpfe, behaubt sich, es unterliegt das Schroffe dem Weichen, es weicht der Unterschied, niedrig, hoch, flach, erhaben, böse, gut … … Es verschwindet der Krieg im Frieden, weiß und vollkommen. Alles gleichmäßig wie der Schnee, nur der Schnee nicht. Jeder Kristall für sich, verschieden von jedem Kristall.«126
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Die acht Fotografien dieses Beitrags wurden vom Autor am 3. Dezember 2010 mit einer digitalen Spiegelreflexkamera aufgenommen. Abb. 1 (Seite 42): Blick von einem Weinberg in Bacharach gen Süden Abb. 2 (Seite 47): Containerschiff auf dem Rhein bei Trechtlingshausen Abb. 3 (Seite 51): Burg Pfalzgrafenstein im Rhein vor Kaub Abb. 4 (Seite 57): St. Goarshausen mit Burg Katz Abb. 5 (Seite 64): Feuerwehrboot auf dem Rhein bei Bacharach Abb. 6 (Seite 68): Im Hafenbereich von Oberwesel Abb. 7 (Seite 73): Blick auf Bacharach Abb. 8 (Seite 75): Nebelfeld am Ufer von Niederheimbach
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Die Rolle der Landschaftsästhetik in der aktuellen Freizeitgestaltung Andrea Siegmund
»Brennende Hitze, steile Geröllhänge, lose Steine, 700 Höhenmeter Plagerei bis zum Großen Allosee. Hier aber treffen wir […] auf die[se] […] Szenerie: türkisblaues Wasser, große knorrige Artschas mit saftiggrünen Nadeln, braunrote Felswände und schneebedeckte Gipfelzähne. Sieht es so im Bergsteigerhimmel aus?«1 Mit diesen Worten beschreibt Helmut Schulze den Anstieg zum Großen Allosee im Fangebirge (Tadschikistan). Wird zunächst die Umgebung des Aufstiegs in ihren objektiven Eigenschaften und den durch sie verursachten Mühen beschrieben, ändert sich am Ziel der Tagesetappe die Wahrnehmung und die Schönheit der Berglandschaft tritt vor Augen. Nicht mehr die Temperatur oder die Steilheit der Hänge in ihren direkten Auswirkungen auf den Fortgang der Wanderung interessieren, sondern die Farben und Formen der Landschaftselemente und ihr Zusammenspiel zum ästhetischen Bild. In ähnlicher Weise wird bei vielen Freizeitbeschäftigungen in der freien Natur das ästhetische Landschaftsbild als steigerndes Moment erfahren, sei es als ständiger Begleiter, z.B. beim Radfahren, Kajakfahren oder Wandern,2 sei es als einmaliger Ausnahmemoment, etwa beim Gipfelblick des Bergsteigers.3
1 | Schulze 2011: 121. 2 | Siehe z.B. Rohrbachs (2010: 172) Beschreibung des Abschnitts zwischen München und Freising, wie sie ihn bei ihrer Wanderung entlang der Isar erlebt: »Die Morgensonne taucht das Getreidefeld in goldenes Licht, die Ähren wiegen sich im Wind – ein wogendes Meer aus Halmen. Zwischen ihnen leuchtet blutrot eine einsame Mohnblüte […]. Felder, so weit das Auge reicht. Nördlich von München gilt die Landschaft als eintönig, hier wandert kaum jemand an der Isar entlang. Mich aber erfreut gerade diese Weite, die ringsum den Blick auf den Horizont frei lässt. Ich möchte immer weiter wandern, dorthin wo Himmel und Erde sich treffen.« 3 | Siehe z.B. Pauses (2008: 128) Bemerkung zum Anstieg auf den Daniel (bei Garmisch): »Der ganze Lohn der Plage sind wieder einmal die Aussicht – und was für eine! –
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Im Folgenden wird diese besondere Sichtweise der Natur anhand der Theorien von Joachim Ritter, Ruth und Dieter Groh sowie Martin Seel näher beleuchtet. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Seels Naturästhetik, weil anhand der dort ausgeführten differenzierten Analyse sowohl die Unterschiedlichkeit der Landschaftserfahrungen als auch der Wildnistrend in aktuellen Freizeitbeschäftigungen erklärt werden kann.
D IE L ANDSCHAF TSTHEORIE J OACHIM R IT TERS Wenn man sich mit der Entstehung und den Implikationen des Sehens von Natur als Landschaft beschäftigt, kommt man kaum an Joachim Ritters Aufsatz Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft vorbei. Ritter beschreibt darin den landschaftlichen Blick als eine erst im Zuge der Aufklärung entstandene Fähigkeit, die sich als Folge der Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft verstehen lässt. Ihr Hervortreten habe die Entwicklung des objektivierten Naturverständnisses in der Neuzeit zur Voraussetzung. Der ästhetische Blick auf die Natur als Landschaft ist dabei nach Ritter die Reaktion auf das mit der Zertrümmerung des alten, metaphysischen Weltbildes einhergehende Sinndefizit. So betont er nicht nur die im modernen Naturverhältnis angelegte Befreiung des Menschen zum ›Herrn über die Natur‹, sondern stellt auch heraus, was in der neuen, säkularisierten und partikularisierenden Sichtweise der Natur – wie sie die modernen4 Wissenschaften auszeichnet – verloren geht: die Gegenwart der ›ganzen‹ und als sinnhaft verstandenen Natur.5 Als Vermittlungsinstanz für dieses sonst Unsagbare erhält nun nach Ritter das ästhetische Naturverhältnis eine neue Bedeutung. Natur als Landschaft zu sehen wird zur Erscheinungsform für die sich in der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht mehr zeigenden Aspekte von Natur: »Im Element des Empfindens und der ästhetischen Produktion bezeugen Dichtung und Bild, was ohne ihre Vermittlung entgleitet und entschwindet. Was damit ästhetisch geschieht, hat […] in der Notwendigkeit den Grund, ein sonst nicht mehr Gesagtes und Geund jenes Gefühl von innerer Ruhe und Zufriedenheit, das sich in der Hektik des Alltags niemals einstellt […]. Jetzt möchte man fliegen können.« 4 | Mit ›modern‹ werden hier die Naturwissenschaften bezeichnet, wie sie sich im Zuge der Aufklärung herausgebildet haben. 5 | Ritter 1963/1989: 157. Vgl. auch Ritter 1961/1989: 26f. (mit Zitaten von Hegel): »Indem die Gesellschaft einerseits mit der durch sie ermöglichten rationellen Herrschaft über die Natur die Bedingung der Freiheit für alle schafft, bricht sie andererseits als die ›Macht der Differenz und Entzweiung‹ in die geschichtliche Welt ein […]. Die versachlichte und verdinglichte Welt, die alles ›Göttliche‹ und ›Schöne‹ außer sich hat, wird zu der Wirklichkeit, in welcher der Mensch sein gesellschaftliches Sein erhält.«
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sehenes zum Scheinen zu bringen, es zu vergegenwärtigen.«6 Als Beleg für seine These führt Ritter unter anderem das Gedicht Der Spaziergang von Friedrich Schiller an, also einen Text, der eine heute noch gebräuchliche Form der Freizeitbeschäftigung zum Thema hat. Anhand einiger daraus entnommener Textfragmente verdeutlicht er, wie der Spaziergänger sich – »endlich entflohn des Zimmers Gefängnis«7 – angesichts des individuellen zweckbefreiten Schauens auf die Natur über die Welt des Alltags erheben und im künstlerisch konstituierten Bild der Landschaft den in anderen Lebenssphären verlorenen sinnhaften Naturzusammenhang zum Erscheinen bringen kann.8 In diesem arbeitsentlasteten Bezug auf das Naturganze steht der landschaftliche Blick nach Ritter in der Tradition der antiken und mittelalterlichen Theoria, also der vorneuzeitlichen wissenschaftlichen Betrachtung des Kosmos bzw. der Schöpfung als ganzer und göttlicher Natur.9 Während sich aber die Theoria auf das Allgemeine (als das Göttliche) richtete, ist die Landschaftserfahrung auf doppelte Weise individuell. Dies hat bereits 1913 Simmel in seinem Aufsatz Das Schöne und die Kunst: Philosophie der Landschaft herausgestellt: Die ästhetische Erfahrung der Landschaft ist an den individuellen Betrachter gebunden, denn erst der individuelle ästhetische Blick eines modernen Subjekts bildet ein Konglomerat von einzelnen Elementen zur Einheit der Landschaft um. Landschaft entsteht erst, wenn ein einzelnes Subjekt, das sich als Individuum begreift, die Natur in einer besonderen Art des Sehens zur Landschaft macht, sie als Landschaft in diesem Moment konstituiert.10 Dabei wird in einer speziellen Form des Blicks aus der Gesamtheit der Naturdinge ein begrenzter Ausschnitt als ein besonderer Gegenstand herausgehoben und als »ein Individuelles, Geschlossenes«11 erfasst. Ritter verweist in einer Anmerkung ausführlich auf Simmels Aufsatz und schließt sich dem Gedanken der Individualität der Landschaft an.12 Die Subjek6 | Ritter 1963/1989: 155. 7 | Schiller zitiert nach ebd.: 158. 8 | Siehe ebd.: 162f., 182ff. 9 | Ausführlich wird Ritters ›genetische‹ Herleitung der ›Landschaft‹ aus der Theoria in Dinnebier 1996: 90ff. dargestellt; siehe auch Piepmeier 1980: 13f. 10 | Siehe z.B. Simmel (1913/1957: 150): »Landschaft […] ist […] ein geistiges Gebilde, man kann sie nirgends im bloß Äußeren tasten und betreten, sie lebt nur durch die Vereinheitlichungskraft der Seele, als eine durch kein mechanisches Gleichnis ausdrückbare Verschlingung des Gegebenen mit unserem Schöpfertum.« 11 | Ebd.: 143. 12 | Ritter (1963/1989: 178): »Diese Individualität ist in der Tat nicht nur für das Landschaftsbild, sondern auch für die Landschaften konstitutiv, die jeweils in die gesellschaftliche Lebenswelt hineingenommen werden«. Wenn Ritter also an anderer Stelle feststellt: »Für die ästhetische Konstituierung von Landschaft bleibt […] sowohl ihre
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tivierung der Naturerfahrung bedeutet für Ritter (wie bereits für Simmel) aber nicht, dass die Landschaft die Funktion, »den Zusammenhang des Menschen mit der umruhenden Natur offen zu halten«,13 nur unzureichend erfüllt. Vielmehr werde die verschwundene Einheit »im Element des sinnlichen Empfindens und Fühlens«14 und damit auf einer neuen Ebene wiedergewonnen. Als eine Art subjektiver Neukonstitution des Naturverhältnisses der Theoria könne die Landschaftserfahrung mit ihren »aus der Innerlichkeit entspringenden Bildern«15 Sinngefühl vermitteln16 und »den Reichtum des Menschseins lebendig gegenwärtig halten«.17
D IE K RITIK VON R UTH UND D IE TER G ROH AN R IT TERS L ANDSCHAF TSTHEORIE Ritters Deutung der Entstehung und Funktion der ästhetischen Wahrnehmung von Natur als Landschaft schließen sich verschiedene Autoren mehr oder weniger deutlich an,18 es gibt aber auch kritische Anmerkungen. So stimmen Ruth und Dieter Groh zwar Ritters Ausführungen zur Funktion der Landschaftserfahrung für die Zeit ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu; sie kritisieren aber, dass Ritter die Entstehung der ästhetischen Kategorie Landschaft zu spät ansetze, und bemerken: »Gleichwohl wird die These Ritters, Natur als Landschaft, von einem fühlenden und empfindsamen Menschen mit interesselosem Wohlgefallen betrachtet, könne es nur auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft geben, also erst seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, auf manche Zweifel stoßen.« 19
jeweilige bestimmte Gestalt wie ihre geschichtliche Eigenart durchaus sekundär« (ebd.: 183), so darf das meines Erachtens nicht – wie oft behauptet – in dem Sinne missverstanden werden, dass er jede Individualität der Landschaft leugnet. Es geht ihm vielmehr darum, herauszustellen, dass in jeder individuellen Ansicht gleichermaßen das Naturganze als der Aspekt aufscheint, der die Landschaftserfahrung erst zur sinnstiftenden Erfahrung macht. 13 | Ebd.: 161. 14 | Ebd.: 155. 15 | Ebd.: 153. 16 | Ebd.: 162f. 17 | Ebd.: 163. 18 | Siehe z.B. Piepmeier 1980: 17; Zimmermann 1982: 130; Waldenfels 1986: 30. 19 | Groh & Groh 1996: 105.
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Diese Kritik trifft jedoch nicht den Kern der Ritter-These, weil diese nicht die Entstehung der ästhetischen Landschaftserfahrung genau zu datieren versucht, sondern die Bedingungen und Besonderheiten dieser Erfahrung analysiert.20 Das stellen auch Ruth und Dieter Groh fest21 und nehmen damit die eigene Kritik etwas zurück. Dennoch bleibt in ihren Augen Ritters Theorie letztlich aus zwei Gründen defizitär: Erstens beschreibe sie nur den Endpunkt eines jahrhundertelangen Prozesses und könne so den Wandel zum ästhetischen Naturverhältnis zwar konstatieren, nicht aber erklären. Zweitens könne sie die Frage nach den Voraussetzungen der Zuwendung zu erhabenen neben den schönen Naturszenen nicht beantworten und lasse damit einen entscheidenden historischen Schritt außer Acht.22 Als Gegenthese schlagen sie vor: »Ästhetische Naturerfahrung [im Sinne von Landschaftserfahrung, 23 A. S.] entsteht bereits in der vormodernen Gesellschaft, d.h. auf dem Boden der klassischen Vorstellung von der Einheit des Kosmos, also eines metaphysischen Naturbegriffs, der in pythagoreisch-platonisch-christlicher Tradition die Welt der natürlichen Dinge als harmonisches Ganzes verstand.« 24
Die Wahrnehmung von Natur als Landschaft sei entstanden, weil man sich der »ideelle[n] Gefährdung« der Natur als ganzer »durch die ›Kopernikanischen‹ Naturwissenschaften« gewahr geworden sei und deshalb auf ideelle Weise versucht habe, »die Einheit eines christlich-platonisch verstandenen Kosmos zu 20 | Weil sich nach Ritter das Heraustreten des Menschen aus der Natur – eine wesentliche Voraussetzung für ästhetische Landschaftswahrnehmung – geschichtlich nicht genau datieren lässt, muss die Entstehung der Idee Landschaft parallel zu dem über Jahrhunderte sich vollziehenden Prozess der (gedanklichen) Trennung von Subjekt und Objekt betrachtet werden. Zwar betont Ritter durch die angeführten Beispiele besonders das 18. Jahrhundert. Das bedeutet aber nicht, dass er eine ästhetische Landschaftserfahrung vor dieser Zeit ausschließt, sondern nur, dass er dieses Jahrhundert als einen gewissen Höhepunkt in Bezug auf die Bedeutung dieser Erfahrung sieht. 21 | Siehe ebd.: 106f.: »[G]egen historisch orientierte Fragen ist die philosophiegeschichtlich fundierte Theorie Ritters weitgehend immun, da sie in erster Linie als eine funktionale Theorie und nicht als eine genetische zu verstehen ist, also nicht als eine, die genauere chronologische Aussagen über die Entstehung moderner Natur- und Landschaftserfahrung zu machen erlaubt«. 22 | Ebd.: 107. 23 | Dass hier tatsächlich Landschaftserfahrung und nicht ästhetische Naturerfahrung im Allgemeinen (was z.B. die ästhetische Wahrnehmung einer einzelnen Blume einschließen würde) gemeint ist, zeigen die Beispiele, die Ruth und Dieter Groh im anschließenden Kapitel anführen. 24 | Ebd.: 108.
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retten«25 . Um ihre Theorie zu belegen, stellen sie detailliert die Argumente der Physikotheologie im 17. und 18. Jahrhundert dar,26 die dazu führten, dass die vormals als schrecklich angesehene Wildnis noch im Rahmen einer christlichen Weltsicht ästhetische Wertschätzung als erhabene Landschaft erlangen konnte.27
D IE K RITIK VON M ARTIN S EEL AN R IT TERS THEORIE DER L ANDSCHAF T An fundamentalerer Stelle setzt die Kritik von Martin Seel an. In Eine Ästhetik der Natur zweifelt er an, dass Ritters Deutung das aktuelle Landschaftsverständnis umfassend beschreibt. Er ist der Ansicht, dass es für ein solches keinen »Kult der ›ganzen‹ Natur«,28 d.h. keine ästhetische Rehabilitation der alten Metaphysik brauche, wie sie Ritter für die Landschaftserfahrung als notwendig betrachtet. Diese Auffassung führe zu einem eingeschränkten Landschaftsverständnis, weil sie die Kontingenz der ästhetischen Erfahrung nicht bejahen könne und so den ästhetischen Blick als desinteressiert an der »phänomenale[n] Besonderheit«29 des Gegenstandes beschreiben müsse. Weil die klassischen Antworten auf die Frage nach dem Grund des Gefallens an der äußeren Natur nach Seels Meinung nicht mehr ausreichen, wenn es um die aktuellen Erfahrungen geht,30 versucht er eine neue Antwort. Anders als Ritter entwirft er eine Landschaftstheorie, die auf unterschiedlichen Grundwahrnehmungen aufbaut. Das ästhetische Verhältnis des Menschen zur Natur lässt sich nach Seel differenzieren. Er unterscheidet idealtypisch drei Wahrnehmungsformen, die unterschiedliche »Erklärungen des Gefallens an der Natur«31 implizieren, nämlich eine kontemplative, eine korresponsive und eine imaginative. Jeder dieser Wahrnehmungsformen entfaltet sich nach Seel 25 | Ebd. Die funktionalen Implikationen der Ritter-These werden von Ruth und Dieter Groh also beibehalten, die Argumentation wird aber in gewissem Sinn umgedreht. Was bei Ritter als eine Reaktion darauf geschieht, dass schon etwas verschwunden ist, wird bei Ruth und Dieter Groh auf das Bewusstwerden dessen zurückgeführt, dass die Einheit der Natur durch die modernen Wissenschaften verloren gehen könnte. 26 | Ebd.: 109ff. 27 | In dieser Nachzeichnung eines besonderen historischen Entwicklungsschritts der Landschaftserfahrung kann man die Gegenthese von Ruth und Dieter Groh wohl am ehesten als eine Ergänzung der Grundthese von Ritter beschreiben, die den Prozess der Entstehung des landschaftlichen Blicks genauer analysiert. 28 | Seel 1996: 229. 29 | Ebd.: 228. 30 | Ebd.: 9. 31 | Ebd.: 19.
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zwischen den Polen schön und erhaben sowie zwischen Ding- und Raumbezug. Diese differenzierte Ästhetiktheorie soll im Folgenden dargestellt werden, weil sie dem Verständnis der unterschiedlichen Bedeutungen von Landschaft in der aktuellen Freizeitgestaltung dienen kann.32
N ATUR ALS R AUM DER K ONTEMPL ATION Die erste von Seel vorgestellte ästhetische Dimension ist die Kontemplation. Kontemplativ ist nach Seel eine Wahrnehmung, wenn sie in einer »sinnlichselbstgenügsamen Anschauung«33 bei der bloßen Erscheinung verweilt, »ohne […] auf eine Deutung zu zielen«34 . Das heißt, nur die äußere Erscheinung als »phänomenale Individualität eines Gegenstands«35, nicht aber eine begriffliche Assoziation oder Bedeutung des Gegenstandes ist wichtig; »die Dinge erscheinen als sinnfremd, weil ihnen keinerlei Lebensbedeutung beigemessen oder zugemutet wird«36. Die Welt der kulturellen Bezüge ist so »als Negation zwar unvermeidlich anwesend, gefeiert wird jedoch die Befreiung von ihr«37. Es erscheint gerade das der kontemplativen Betrachtung wert, was in der alltäglichen pragmatischen Sichtweise der Welt nicht beachtenswert ist, wie z.B. das Spiel des Wassers eines Sees, das dem Betrachter je nach Wind- und Lichtverhältnissen unterschiedliche bewegte Muster darbietet. Nach Seel gibt es bei dieser Art von ästhetischem Urteil keine Bewertung als hässlich. Alles kontemplativ Wahrgenommene erscheint in eben dieser Wahrnehmung als schön. Aber das heißt nicht, dass für das kontemplative Urteil alles gleich ist. Es gibt Dinge und Räume, die mehr als andere zu dieser Art der Wahrnehmung verlocken.38 Gerade die Natur biete sich für die kontemplative Wahrnehmung an, weil bei ihr ein Absehen von jedem praktischen Lebensbezug oder jeder theoretischen Deutung leichter ist »als bei Gegenständen, die zur Erfüllung einer ganz bestimmten Funktion in die Welt getreten, d.h. her32 | Dabei werde ich weniger die allgemeine Bedeutung der Seelschen Theorie und ihrer Facetten innerhalb der Ästhetiktheorie des 20. Jahrhunderts thematisieren (vgl. zur Kritik an einzelnen Aspekten der Seelschen Theorie: Trebeß 1999), sondern vielmehr die – vor allem in den ersten vier Kapiteln von Eine Ästhetik der Natur ausgeführten – Aspekte hervorheben, die die Unterschiedlichkeit ästhetischer Erfahrungen in aktuellen Freizeitbeschäftigungen verständlich machen können. 33 | Seel 1996: 78. 34 | Ebd.: 39. 35 | Ebd. 36 | Ebd. 37 | Trebeß 1999: 108. 38 | Seel 1996: 86f.
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gestellt oder zurechtgemacht sind«.39 Als Beispiel nennt Seel den Blick auf den Bodensee und dort auf eine Menge von Kieselsteinen, die man in ihrer individuellen Gestalt wahrnimmt. Gerade in der Ungleichheit und der Flüchtigkeit ihres Erscheinens liege ihr Wert für das kontemplative Bewusstsein: »Auch bei ein und demselben Kieselstein kommt es ihm [dem kontemplativen Bewusstsein] auf das Ungleiche, auf das Einzigartige an, auf das, was nicht von Dauer ist: ob er am Strand liegt oder im Zimmer, und wie er da liegt, ob im Hellen oder Dunklen, mit hervortretender oder verschwimmender Maserung, ob er feucht ist, oder trocken, verstaubt oder sandig …: das sind die augenblicklichen Zustände, an die es sich hält.« 40
Nicht nur einem einzelnen Objekt wie einem Kieselstein, auch dem Raum, der den Betrachter umgibt, kann nach Seel eine derartige kontemplative Aufmerksamkeit zukommen. Wird dieser – erfahren an den großen Naturgegenständen wie Himmel, Meer und Bergen – zum Schauplatz einer Wahrnehmung, die eben diesen Raum von jeder bleibenden (theoretischen oder praktischen) Sinngliederung löst, dann wird die räumliche Umgebung »zum Geschehen, zu einem Ereignis, das nicht eingeordnet werden kann. Der Standort der Wahrnehmung wird zur beliebigen Stelle, zum bodenlosen Ort«.41 Gerade diese »Krise des wahrnehmenden Bewußtseins« angesichts einer »plötzlichen Vakanz der Welt«,42 erzeugt nach Seel das Gefühl des Erhabenen: »Der Bestürzung über die Bedeutungs-Leere entspricht ein Jubel über die Bedeutungs-Freiheit. In der erhabenen Irritation sind wir so frei, die Welt – einmalige Zustände der Welt – außerhalb unserer zweckgerichteten und deutungsgeladenen Sicht der Dinge zu sehen.«43 Im Gegensatz zur Dingkontemplation wird hier die Sinnfreiheit gewissermaßen totalisiert. Während jene innerhalb des sinnhaften lebensweltlichen Raums eine begrenzte Anschauung in sinnfremder Erscheinung wahrnimmt, stellt sich der Raumkontemplation »der lebensweltliche Raum im ganzen als ein sinnfremdes Geschehen dar. Die ästhetische Sensation ist hier nicht etwas Befremdliches in der weitgehend selbstverständlich gegliederten Welt, es ist die Auflösung, der Wegfall einer bedeutsamen Gliederung der erscheinenden Welt.«44
39 | Ebd.: 66. 40 | Ebd.: 40. 41 | Ebd.: 59. 42 | Beide Zitate: ebd. 43 | Ebd. 44 | Ebd.: 60.
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N ATUR ALS KORRESPONDIERENDER O RT Der korresponsive Blick nimmt anders wahr als der kontemplative. Er sieht nicht von jeder sinnhaften Gliederung der Welt ab, sondern bezieht das Wahrgenommene gerade auf die im eigenen Leben verwirklichten oder erträumten Sinnstrukturen. Dabei fühlt sich der Betrachter in die korresponsive Ausstrahlung eines Ortes ein. Seel unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Charakter und Atmosphäre. Während letztere die von individuellen Dispositionen vielfach geprägte, aktuelle Korrespondenzqualität einer Gegend meint, bezeichnet ersterer »diejenige existentiell ausdruckhafte Beschaffenheit […], die sie über eine längere Zeit hin behält; dieser Charakter ist weder an ein bestimmtes Wetter […] noch an individuelle Erlebnisepisoden, wohl aber an die sichtbare Zivilisationsgeschichte des jeweiligen Raums gebunden«.45 Miteinander geben sie einem Ort eine individuelle Ausdrucksqualität, die vom Betrachter auf vier verschiedenen Ebenen – der physiognomischen, der klimatischen, der historischen und der stimmungshaften – in Beziehung zum eigenen Leben gesetzt werden kann.46 Je nach Lebenszusammenhang und aktueller Situation kann für den korresponsiven Blick auf den Bodensee eine andere Korrespondenzebene in den Vordergrund rücken: »Im Sommer labt er sich an der Kühle der Seefläche, im Winter wärmt er sich am Dampf des Nebels, er findet Beruhigung an der mediterranen Sanftheit der Lage, in bedrängter Situation versichert er sich rasch der unwiderleglichen Weite der Welt, er sorgt sich um das Wetter für die abendlichen Unternehmungen, er bleibt in Erinnerung und Vorfreude an bestimmten Orten haften – am jenseitigen Ufer, am Strand […] – er führt die Anschauung der übrigen Sinne in einen aus bedeutsamen Episoden gebildeten Raum.« 47
Ein in dieser Betrachtung als ›schön‹ erfahrener Naturausschnitt bietet sich nicht nur der ästhetischen Wahrnehmung an, sondern kommt darüber hinaus den Lebensinteressen des Betrachters entgegen. Um eine Aussicht in korresponsivem Sinn schön zu finden, muss man sie »als Ausdruck und Teil der durch sie eröffneten Möglichkeiten guten Lebens erfahren«.48 Die in Beziehung zum eigenen Lebensentwurf gesetzte Natur kann aber auch hässlich erscheinen, dann nämlich, wenn eben kein gutes Leben in ihr möglich erscheint, wenn sie abweisend und allgemein oder individuell lebensfeindlich wirkt und sich so jeder positiven Identifikation mit dem eigenen Leben entzieht, so z.B. in einer von Seel zitierten Szene aus Thomas Bernhards Frost: 45 | Ebd.: 100. 46 | Ebd.: 92f. 47 | Ebd.: 89f. 48 | Ebd.: 90.
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A NDREA S IEGMUND »Diese Landschaft wird, sooft ich sie anschaue, immer häßlicher. Sie ist häßlich und droht und ist voller böser Erinnerungspartikel, eine den Menschen zerzausende Landschaft. Mit ihren Finsternissen, mit ihren Wildrudeln, mit ihrem zusammengerotteten Unheil unten, wo die Arbeiterschaft gehetzt wird. Unablässige bösartige Hohlwege, da Risse, Flecke, zerraufte Gebüsche, zerborstene Baumstämme. Alles feindliche Haltung. Und rücksichtslos.« 49
Neben ›schön‹ und ›hässlich‹ gibt es bei der korresponsiven Wahrnehmung noch eine dritte Variante: »[d]ie erhabene Situation, in der gerade die NichtÜbereinstimmung des Menschen mit der anschaulichen Natur zum Grund ihrer ästhetischen Bejahung [wird]«.50 Die angeschaute Natur erscheint dem Betrachter hier als eine Lebenssphäre, die den eigenen Lebensentwurf irritierend übersteigt, »der die eigene Lebensführung noch nicht und vielleicht niemals zu entsprechen vermag«.51 Bei allen Formen der Korrespondenzwahrnehmung zeichnet sich die Natur vor der Welt des Artifiziellen aus.52 Besonders aber betrifft dies die erhabene Korrespondenz. Weil die Natur in ihrer jeweiligen individuellen Erscheinung nicht gemacht, sondern von sich aus da ist und so als Gegenerfahrung zur kulturellen Sphäre fungiert, vermag sie die korresponsive Erfahrung von der Versicherung und dem ästhetischen Genießen des eigenen Standpunkts zur »Lockung in ein anderes Leben«53 zu erweitern: »An einer Natur, die ihnen [unseren Lebensentwürfen] auf betörende oder überwältigende Weise nicht entspricht, wird manifest, daß es die unseren, daß es revidierbare, daß es mit dem brüchigen Siegel der Freiheit versehene Entwürfe sind. Die erhabene Fremdheit der Natur erscheint im Zeichen der Freiheit, mit diesem Fremden eine neue Übereinstimmung zu suchen oder es als Grenze unserer eigenen Lebensmöglichkeit bestehen zu lassen.«54 Anders als bei der kontemplativen Wahrnehmung, lassen sich bei der korresponsiven – so Seel – Ding- und Raumbezug nicht voneinander trennen, d.h. die korresponsive Wahrnehmung eines isolierten Dinges ist nicht möglich: »Raumkorrespondenz schließt Dingkorrespondenz ein, Dingkorrespondenz kann sich nur als Element von Raumkorrespondenz entfalten«.55 Demnach kann der korresponsive Blick auf einen einzelnen Gegenstand nicht ohne Auswirkungen auf die korresponsive Wirkung des ihn umgebenden Raums bleiben: »Der häßlich49 | Bernhard zitiert nach ebd.: 94. 50 | Ebd.: 108. 51 | Ebd.: 109. 52 | Ebd.: 115f. 53 | Ebd.: 109. 54 | Ebd.: 110. 55 | Ebd.: 104.
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sten Gegend kann eine Pinie oder Pappel widerstehen, im düstersten Büro eine vollblühende Rose leuchten – beider Erscheinen wird den Raum entweder adeln oder in seiner Häßlichkeit hervorspringen lassen«.56
N ATUR ALS S CHAUPL AT Z DER I MAGINATION In der dritten Form ästhetischer Betrachtung wird das Angeschaute – wiederum vorzugsweise die Natur57 – in Korrespondenz58 zur Kunst gesetzt. Die imaginative Wahrnehmung sieht die Natur als Ort von Stilen und Gestalten des künstlerischen Schaffens, sie sieht die Natur so, als hätte diese »die innere Artikuliertheit von Werken der Kunst«.59 In diesem Kontext erscheint die Natur weder als »pures Spiel der Erscheinungen«60 wie in der kontemplativen Wahrnehmung, noch als »Existenzraum«61 wie in der korresponsiven Wahrnehmung, sondern sie erscheint »als unvergleichlicher Bildraum der Welt«.62 Wieder wählt Seel den Blick auf den Bodensee als Beispiel: »Gestern waren es Lorrain und Watteau, heute ist es Turner und dann Hodler, mit denen der See Zwiesprache hält. […] Tag und Nacht ist die Seenlandschaft für dieses kunstbezogene Wahrgenommenwerden empfänglich; es liegt in der Natur ihrer stetig wechselnden Erscheinung, Schauplatz eines projektiven Spiels mit ihren lebendigen Formen zu sein. Aber nicht nur auf erinnerte Seestücke spricht der See vor meinen Augen an; in Schnee, Eis und Nebel mögen es Werke von Piero Manzoni, im abendlichen Sommerdunst mögen es die Farbraumbilder Gotthard Graubners sein, die in der Bewegung des 56 | Ebd. 57 | Zwar kann sich die imaginative Wahrnehmung auch auf nicht natürliche Dinge richten (ebd.: 160), jedoch ist sie nach Seel fast zwangsläufig daran gebunden, dass wir dem Gegenstand der Anschauung »den Charakter eines quasi-naturhaften Ereignisses« (ebd.: 163) beimessen. 58 | Die Tatsache, dass Seel hier wie bei der zweiten ästhetischen Grundwahrnehmung von »Korrespondenz« spricht, könnte für Verwirrung sorgen. Weil der Begriff für die Benennung des zweiten Wahrnehmungstyps herangezogen wird, könnte man Korrespondenz für ein Kriterium allein der korresponsiven Wahrnehmung halten und die imaginative Wahrnehmung darunter subsumieren. Korresponsive und imaginative Wahrnehmung sind nach Seel aber eigenständige und gleichwertige Typen, die die Natur in Korrespondenz zu Unterschiedlichem setzen: im ersten Fall zu den eigenen Lebensentwürfen, im zweiten Fall zur Kunst. 59 | Ebd.: 153. 60 | Ebd.: 136. 61 | Ebd. 62 | Ebd.
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A NDREA S IEGMUND Sees erscheinen. Auch müssen es gar nicht Werke der Malerei sein, deren Kunst die scheinbare Kunst der Seelandschaft zum Vorschein bringt. Erneut kann ich das Fenster öffnen – und diesmal ein aus Naturlauten und (den von den Terrassen der Mensa herklingenden) menschlichen Stimmen komponiertes Hörspiel vernehmen oder aber, bei kühlerem Wetter und anderer Windrichtung, mich in das Außengeräusch versenken, als wäre es meditative Musik.« 63
Um einen Naturausschnitt imaginativ wahrzunehmen, muss man ihn nicht mit einem bereits realisierten künstlerischen Werk in Beziehung setzen, auch ein bis dahin unbekanntes Kunstwerk kann als Korrespondenzobjekt der imaginativen Wahrnehmung fungieren. Als Beispiel führt Seel eine Passage aus Gert Friedrich Jonkes Erzählung die gegenwart der erinnerung an, in der dem Naturgeräusch »eine alles bisherige Musikverständnis übersteigende, noch nie dagewesene Form der Musik […] abgelauscht wird«.64 Der Unterschied zwischen bereits realisierter und noch nie dagewesener Kunst markiert gleichzeitig den Unterschied zwischen schöner und erhabener Imagination: »In einem engeren Sinn schön ist die imaginative Natur, wenn sie unserer Idee der Kunst und ihrer Werke überraschend entspricht, in spezifischer Bedeutung erhaben ist sie, wenn sie dieses Verständnis irritierend übersteigt.«65 Da die Formen der Kunst, die der Natur in einer Art Als-ob-Wahrnehmung als Zeichenstruktur zugewiesen werden, Interpretationen des menschlichen Lebens und seiner Entwürfe darstellen, scheint die imaginative Naturwahrnehmung eine gewisse Nähe zur korresponsiven Naturwahrnehmung aufzuweisen. Beide gehen jedoch nicht ineinander auf, denn der Korrespondenzrahmen ist jeweils ein anderer. Setzt diese die Gestalten der Natur mit unseren Vorstellungen von einem guten Leben in Beziehung, richtet sich das Auge bei jener auf die Korrespondenz der Natur »mit Formen der imaginativen Darstellung menschlichen Lebens. Man kann auch sagen: Im einen Fall gilt unser Interesse der Anschauung des eigenen Lebens, im anderen Fall gilt es der Anschauung und Variation künstlerischer Deutungen des Lebens.«66 Das bringt weitere Unterschiede mit sich: An der korresponsiven Wahrnehmung haben alle Sinne (Auge, Ohr, Nase und taktiles Empfinden) mehr oder weniger gleichberechtigt und oft auch gleichzeitig teil. Diese richten sich auf den Raum als ganzen, der Ferne und Nähe gleichermaßen umfasst und keinen
63 | Ebd.: 135. 64 | Ebd.: 138. 65 | Ebd.: 170. An anderer Stelle (ebd.: 172) heißt es: »Der erhabene Kunstschein ist Schein einer imaginären Kunst.« 66 | Ebd.: 154; Hervorh. A. S.
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Standort vor anderen auszeichnet.67 Die imaginative Naturwahrnehmung dagegen hat – bedingt durch die Art des Kunstwerks, das als Korrespondenzobjekt erscheint – meist nur einen Sinn (in der Regel Auge oder Ohr) als Grundlage. Dieser wendet sich der Natur gewissermaßen distanziert zu.68 Von einem idealen Standpunkt der Betrachtung aus erscheint die Natur als ein Gegenüber des Betrachters, nicht wie in der korresponsiven Wahrnehmung als ein den Betrachter umflutender Raum. Etwas überspitzt kann man deshalb nach Seel sagen, »daß nicht die Raum-, sondern die Dingwahrnehmung die Grundform der kunstbezogenen Naturanschauung ist. Hier ist die Dingwahrnehmung nicht, wie im Fall […] der Korrespondenz, eine Modifikation der Raumwahrnehmung, hier ist alle Raumwahrnehmung eine Modifikation der Wahrnehmung imaginativer Objekte.«69 Ein weiterer Unterschied zeigt sich bei der Bewertung. So kennt das imaginative Urteil keine negative Korrespondenz, es gibt lediglich den Fall, dass das Angeschaute »für kunstästhetische Anmutungen unempfänglich ist«.70 Auch können beide Wahrnehmungsformen in der Beurteilung bestimmter Naturausschnitte stark differieren. So kann z.B. »[e]ine Gegend, die in korresponsiver Bedeutung eindeutig bedrohlich, abweisend oder sogar häßlich erscheint«,71 in der kunstbezogenen imaginativen Anschauung durchaus schön erscheinen, dann nämlich wenn sie wahrgenommen wird, als wäre sie ein Kunstwerk, in dem die Abgründigkeit, Düsternis oder die abweisende Stimmung bereits ins Erhabene verwandelt ist, wie z.B. in einem Gemälde von C. D. Friedrich.72
S EELS L ANDSCHAF TSBEGRIFF Die rein kontemplative, korresponsive oder imaginative Anschauung stellen nach Seel Extrempositionen dar, die sich nur in Abgrenzung voneinander definieren lassen. Jede der drei Anschauungsformen »ist erst im Gegensatz zu den anderen, was sie ist. Jeder der drei Aspekte ästhetischer Natur gewinnt seine volle Leuchtkraft erst in Abhebung von den anderen.«73 Gerade das aber impliziert nach Seel, dass in jeder Form ästhetischer Attraktion die anderen beiden quasi mit enthalten sind, so dass wir uns angesichts der Natur nur selten auf eine der 67 | Auch die kontemplative Naturwahrnehmung kennt keinen idealen Standpunkt der Betrachtung (ebd.: 155). 68 | Ebd. 69 | Ebd.: 156. 70 | Ebd.: 182; Hervorh. i.O. 71 | Ebd.: 171. 72 | Ebd. 73 | Ebd.: 192.
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möglichen Wahrnehmungstypen beschränken. Alle drei Attraktionen werden in der umfassenden ästhetischen Anschauung als eine Art prozessuale Einheit »erfüllter Zeit«74 erlebt. Zwar können die drei ästhetischen Grundformen nicht gleichzeitig in den Vordergrund treten, erst in ihrer Interaktion aber entfaltet sich die ästhetische Anschauung als Ganze. Hier kommt der Begriff Landschaft ins Spiel: In der Landschaft sind für Seel all drei Wahrnehmungsmuster präsent, Landschaftswahrnehmung ist das Zusammenspiel von kontemplativer, korresponsiver und imaginativer Naturwahrnehmung: »Den Bodensee zu kontemplieren, ihn als anmutige Gegend zu genießen, ihn als Spiegelung kunstgegebener Wahrnehmungsweisen zu betrachten – zusammen stellt das die Aufmerksamkeit für die Attraktion der Seenlandschaft dar.« In dieser umfassenden Bedeutung besitzt das Naturschöne für Seel eine ethische Dimension. Die gelingende ästhetische Anschauung stelle »eine[..] überhaupt gute[..] Situation des Lebens«,75 eine »unersetzliche Lebensmöglichkeit des Menschen«76 dar.77
S EELS Ä STHE TIK THEORIE UND DIE V IELFÄLTIGKEIT DER L ANDSCHAF TSERLEBNISSE IN DER AK TUELLEN F REIZEITGESTALTUNG Was bedeutet das nun für die Ästhetik der Landschaft, wie sie bei verschiedenen Formen der Freizeitgestaltung in der Natur erlebt werden kann? In ihrer analytischen Rückführung der ästhetischen Wahrnehmung auf Idealtypen und ihre anschließende Zusammenführung in der Landschaft bietet, so meine These, die Seelsche Theorie einen Ansatzpunkt, um die ästhetische Attraktivität der Natur in ihrer Vielfältigkeit zu verstehen. Denn, wie in der Philosophie Kants vorgezeichnet, bestimmt in der Seelschen Ästhetik nicht die »Eigenmacht der Natur«78 das Urteil, sondern die Einstellung, mit der man der Natur begeg-
74 | Ebd.: 288. 75 | Ebd.: 306. 76 | Ebd.: 288. 77 | Das bedeutet nicht, dass moralische Aspekte dem ästhetischen Urteil zugrunde liegen. Weil die gelingende ästhetische Erfahrung aber für alle »eine positive existentielle Erfahrung« (ebd.: 303) darstellt, kann man, so Seel, den moralischen Imperativ ableiten, sie als eine »[der]jenigen Lebensmöglichkeiten zu respektieren, die für alle wertvoll sind« (ebd.: 342). 78 | Hartmut Böhme zitiert nach Hoffmann 2006: 43.
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net.79 Während aber bei Kant80 das ästhetische Urteil in spezieller Weise mit dem moralischen verbunden ist,81 was dem Urteil einen gewissen Status der Allgemeingültigkeit (»subjektive Allgemeinheit«82) verleiht, betont Seel, dass die Natur jedem die Möglichkeit bietet, individuell und immer wieder von neuem ästhetische Erfüllung zu erfahren, ohne diesen Erfahrungen irgendeinen Status der Allgemeingültigkeit – außer der Tatsache, dass alle Menschen solche gelingenden ästhetischen Wahrnehmungen haben können – zu verleihen.83 In Anlehnung an Seel kann man deshalb die Unterschiedlichkeit ästhetischer Landschafts(be)deutungen auf unterschiedliche Ebenen der Vielfältigkeit innerhalb des ästhetischen Erlebens zurückführen: Eine erste Vielfältigkeit bedingende Ebene ist die Tatsache, dass in der Anschauung jede der drei unterschiedlichen ästhetischen Wahrnehmungsformen vorherrschen kann. Zwar mögen sich bestimmte Gegenden oder Orte in ihrer jeweiligen Erscheinung besonders für eine der drei Grundformen anbieten, grundsätzlich aber eröffnet jeder Naturausschnitt dem in oder vor ihr Verweilenden die Möglichkeit für das gesamte Repertoire ästhetischen Rezipierens. Wie oben schon angedeutet, bietet sich die im umfassenden Sinn schöne Natur – die schöne Landschaft – für alle drei Typen gleichermaßen an,84 sie ist »ein Bereich, in dem gleichzeitig ein Raum der Kontemplation, ein Ort der Korrespondenz und ein Schauplatz der Imagination offenstehen kann.«85 So schreibt Seel über die Ästhetik des Schwimmens: »Auf dem Wasser liegend, kann ich den Klang und Gang der Wellen entweder als beruhigende Schwingung wahrnehmen, deren Teil ich selbst bin, oder aber als musikalische Fortbewegung und Variation anhören, die ich in meiner augenblicklichen Lage vorzüg-
79 | Hoffmann 2006: 42f., siehe auch Seel 1996: 13f. 80 | In seinem Landschaftsaufsatz bezieht sich Ritter direkt auf die Kantsche Ästhetik und zitiert Kants Deutung des Naturerhabenen als »Darstellung der Idee des Übersinnlichen« (Kant zitiert nach Ritter 1963/1989: 157). 81 | Vgl. zur speziellen Verbindung von ästhetischem und moralischem Urteil bei Kant Siegmund 2011, Kapitel 3.3.2. 82 | Kant 1790/2000: 125 (B 18). 83 | Siehe z.B. Seel 1996: 306: »Die leidlich freie Natur hat ein zu großes Herz für verschiedene Arten des Gefallens, als daß ein ganz bestimmtes – subjektives oder auch intersubjektives – Gefallen mit stärkster Allgemeinheit rechnen könnte.« 84 | »Die eigentliche Attraktion der ästhetischen Natur liegt im Zugleichsein ihrer interdependenten und doch inkommensurablen Attraktionen; ihr Wahrzeichen ist Simultaneität ohne Identität« (ebd.: 195). 85 | Ebd.: 194.
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A NDREA S IEGMUND lich wahrnehmen kann. Entweder ich partizipiere am ausdruckhaften Sein der Natur oder ich rezipiere ihren kunstvollen Schein.« 86
Ergänzen könnte man noch die kontemplative Komponente: Auf dem Wasser liegend kann ich mich z.B. auch dem Spiel der Sonne in den Wellen widmen, das mit jeder meiner Bewegungen neue absichtslose Muster zeigt. Es ist also nicht durch die Natur festgelegt, welcher Grundformen ästhetischen Rezipierens der jeweilige Betrachter, Zuhörer etc. sich (unbewusst) in welcher Art des Zusammenwirkens bedient. Ob seine Wahrnehmung – z.B. in einer Tallandschaft – entweder dominiert wird von einer sinnfreien Kontemplation des Musters der Baumverteilung und begleitet von einer Ahnung einer kunstbezogenen Imagination sowie einem Lustgefühl angesichts des lauen Frühlingswindes oder ob die Korrespondenz des Talausschnitts mit einem Gemälde im Vordergrund steht, begleitet von Lust angesichts der Wolkenformationen und des üppigen Grüns der sonnenbeschienenen Wiesen, auf denen er bald das Picknick einnehmen wird, ist offen. Auch kann die ästhetische Aufmerksamkeit sich angesichts des gleichen Naturausschnitts wahlweise auf die visuelle oder die akustische Umgebung (oder beide zugleich) richten, sie kann sich entweder vorzugsweise auf den Gesamtraum oder ein abgeschlossenes Bild konzentrieren (Raum- oder Dingbezug) und sie kann eher das Naturschöne oder eher das Naturerhabene in den Blick nehmen. Und es gibt noch einen weiteren Aspekt, der die Unterschiedlichkeit der ästhetischen Anschauung bedingt: Je nach Bezugsobjekt der Wahrnehmung – d.h. je nach Lebensentwurf oder Kunstwerk, mit dem die Natur in der korresponsiven bzw. imaginativen Wahrnehmung in Beziehung gesetzt wird87 – kann innerhalb des gleichen Wahrnehmungstyps auch der gleiche Naturausschnitt ganz anders erlebt werden. So wird sich der schwitzende Mountainbiker korresponsiv vielleicht am Bild eines klaren Bachs laben, während der gleiche Ort für einen Wanderer an einem Spätherbsttag eher wegen eines in der Sonne dampfenden Laubhaufens korresponsiv anheimelnd wirkt.88 Und ein Kenner abstrakter und moderner Malerei wird eine Moorlandschaft wahr86 | Ebd.: 156. 87 | Die Frage, ob auch die jeweilige Sphäre kultureller und lebensweltlich pragmatischer Bezüge des Individuums, von der es in der ästhetischen Kontemplation absieht, die Wahrnehmung beeinflusst, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geklärt werden. Zumindest erscheint es auf den ersten Blick keine direkte Erklärung für Unterschiede der kontemplativen Wahrnehmung durch die im Augenblick der Wahrnehmung negierten Sinnzusammenhänge zu geben. 88 | Dass sich die ästhetische Wahrnehmung bei verschiedenen Personen derart unterscheiden kann, wird bei Seel im Kapitel »Die Moral des Naturschönen« (ebd.: 306) angedeutet.
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scheinlich mit einem anderen Kunstwerk in Beziehung setzen als ein Liebhaber der Impressionisten oder ein eher musikalisch Interessierter. Damit erklärt Seels Ästhetik zwar nicht, warum der eine lieber in einer Hügellandschaft Mountainbike fährt, während ein anderer lieber im Flachland mit weitem Blick gemächlich dahinwandert. Aber sie macht verständlich, (1) warum unterschiedliche Individuen angesichts der gleichen Natur ganz unterschiedliche ästhetische Wahrnehmungen haben können (wobei das Gesamturteil durchaus das gleiche sein kann), und sie erklärt, (2) wie sehr das ästhetische Landschaftserlebnis von der momentanen Situation abhängt, so dass auch das gleiche Individuum je nach aktuellen Lebensumständen, Erinnerungen und Gedanken, körperlicher Verfasstheit, Bewegungsmuster und -geschwindigkeit angesichts der gleichen Natur ästhetisch völlig Verschiedenes erleben kann.
S EELS Ä STHE TIK THEORIE UND DIE W ILDNIS Die Seelsche Theorie kann noch einen weiteren Aspekt der aktuellen Freizeitgestaltung – zumindest ansatzweise – erklären: den Trend, möglichst unberührte, wilde Gegenden aufzusuchen.89 Wie bereits bei den einzelnen Wahrnehmungstypen erwähnt, kann zwar auch ein künstliches Ding oder ein stark menschlich geprägter Ort die kontemplative, korresponsive oder imaginative Wahrnehmung auslösen, der freien, in der jeweiligen Anschauung scheinbar nicht vom Menschen konzipierten und geformten Natur schreibt Seel in seiner Ästhetiktheorie aber eine besondere Rolle zu. Er konstatiert ein Bedürfnis nach ästhetischen Anschauungsobjekten, »die weder das Ergebnis instrumentaler und funktionaler Ausrichtung noch einer feststehenden Interpretation des Daseins«90 zu sein scheinen. Gerade die Fremdheit – an anderer Stelle spricht Seel auch von Kontingenz – der freien Natur steigere das ästhetische Vergnügen an ihr.91 Insbesondere die durch »ihre[..] Selbständigkeit, ihr[..] Insichruhen, ihr[..] Absehen von aller menschlicher Absicht«92 ausgezeichnete Natur biete sich an, in der Kontemplation als Fülle sinnfremder Erscheinungen, in der korresponsiven Anschauung als »lockende Möglichkeit eigenen Lebens«93 oder in der äs-
89 | Vgl. zum Wildnistrend in der aktuellen Freizeitbeschäftigung den Beitrag von Haß et al. im selben Band. 90 | Seel 1996: 116. 91 | Ebd.: 188. 92 | Ebd.: 187. 93 | Ebd.: 189.
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thetischen Imagination als »eine durch die Wirklichkeit der Natur verfremdete Anschauung der Kunst«94 erlebt zu werden.95 Zwar kann man nach Seel Natur auch in der Form eines Straßenbaumes als freie erleben.96 Damit sie in der ästhetischen Wahrnehmung als eine Art »Gegenerfahrung zur Sphäre des kulturellen Sinns«97 erfahren werden kann, muss Natur lediglich in der jeweiligen Anschauung so erscheinen, als wäre sie frei, d.h. ohne kontinuierlichen menschlichen Einfluss.98 Gerade dieses Erscheinen-Lassen der Natur in ihrer Freiheit und Autonomie aber dürfte vielen Menschen angesichts einer ›wilden‹, menschenleeren Natur ohne sichtbare Bauwerke oder Pflegeeingriffe wohl besser gelingen als angesichts einer angelegten und stark frequentierten Grünfläche in der Stadt.
L ITER ATUR Dinnebier, Antonia (1996): Die Innenwelt der Außenwelt – Die schöne ›Landschaft‹ als gesellschaftstheoretisches Problem. Berlin: Technische Universität Berlin. Groh, Ruth & Groh, Dieter (1996): Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
94 | Ebd.: 188f. 95 | Die gelingende ästhetische Anschauung einer derart autonomen Natur fungiert – so Seel – durch ihre ethische Dimension nicht nur als »ein Korrektiv der Kunst und der sonstigen ästhetischen Praxis«, sondern zugleich als ein »Korrektiv individueller und kollektiver Ideale der Existenz« (ebd.: 288). »Aus der existentiellen Naturanschauung ergeht […] ein Imperativ an die Form existentieller Lebensentwürfe selbst: die Sinngestalten der Welt nicht nur nach dem eigenen Entwurf, ebenso den eigenen Entwurf am Sinngeschehen der Welt zu bemessen.« (Ebd.: 116) 96 | Siehe z.B. ebd.: 105f. 97 | Ebd.: 115. 98 | Seel unterscheidet in diesem Zusammenhang noch weiter zwischen im starken und im schwachen Sinn freier Natur. Erstere bilde »einen unverfügten Lebenszusammenhang […], der ohne die Pflege oder Bearbeitung des Menschen in mehr oder weniger unverändertem Zyklus weiterbestehen würde« (ebd.: 215), letztere dagegen sei »ein vom Menschen verfügter Lebenszusammenhang, der ohne aktive Gestaltung so nicht oder überhaupt nicht weiterbestehen würde« (ebd.), wie z.B. Gärten oder Topfpflanzen. Beide können nach Seel als autonom wahrgenommen werden, denn selbst in Gärten oder an Topfpflanzen können einzelne Teile als »ein Zusammenhang unverfügter Formen« (ebd.) erscheinen.
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Sehnsucht nach Wildnis Aktuelle Bedeutungen der Wildnistypen Berg, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache vor dem Hintergrund einer Ideengeschichte von Wildnis Anne Hass, Deborah Hoheisel, Gisela Kangler, Thomas Kirchhoff, Simon Putzhammer, Markus Schwarzer, Vera Vicenzotti und Annette Voigt1
E INLEITUNG In der heutigen naturbezogenen Freizeitkultur gibt es einen deutlichen Trend hin zu Wildnis: Extrembergsteigen im Karakorum und Schneeschuhwanderungen in den Voralpen, Kajakfahren im Eismeer oder auf mecklenburgischen Seen, Wüstentouren in der Sahara oder Pilgerwanderungen durch die Pyrenäen – extreme und gemäßigte Aktivitäten, bei denen Natur gerade auch als Wildnis thematisiert wird, werden immer beliebter. Diese offenkundige Sehnsucht nach Wildnis analysieren wir aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Dabei nehmen wir an, dass ›Wildnis‹ nicht etwa eine objektive, naturwissenschaftlich beschreibbare Natur bezeichnet, sondern Natur als Symbol mit bestimmten kulturell geprägten Bedeutungen.2 Auch wenn wir die heutige Sehnsucht nach Wildnis analysieren, ist die historische Dimension relevant: Aktuelle Bedeutungen von Wildnis beziehen sich auf im kulturellen Gedächtnis gespeicherte Vorstellungen und ändern sich mit den jeweiligen kulturellen Bezugspunkten.
1 | Alle Autorinnen und Autoren haben gleichermaßen zur Publikation beigetragen. 2 | Vgl. Stremlow & Sidler 2002; Schwarzer 2007; Hofmeister 2008; Kangler 2009; Kirchhoff & Trepl 2009; Spanier 2009; Hoheisel et al. 2010; Trepl 2010; Voigt 2010; Kangler & Voigt 2010; Vicenzotti 2011.
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Im ersten Teil beschreiben wir daher ideengeschichtlich3 grundlegende Bedeutungen von Wildnis, die wir in voraufklärerische, aufklärerische und aufklärungskritische gliedern.4 Im zweiten Teil untersuchen wir verschiedene Wildnistypen, die in der heutigen Freizeitkultur relevant sind.5 Auch wenn wir davon ausgehen, dass Wildnisbedeutungen kulturelle Zuschreibungen sind, lässt sich feststellen, dass sie nicht beliebig erfolgen. Vielmehr werden aus Sehnsucht nach Wildnis vorrangig Gebiete aufgesucht, die sich durch bestimmte physische Merkmale auszeichnen. Mit den vier Wildnistypen Berge, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache beschreiben wir vier Varianten dieses Zusammenspiels von Wahrnehmung physischer Gebietseigenschaften und Bedeutungszuschreibungen als Wildnis. Im Fazit diskutieren wir, wodurch sich die Sehnsucht nach Wildnis in der aktuellen Freizeitkultur auszeichnet und inwiefern sich aktuelle Bedeutungen von Wildnis von früheren unterscheiden.
Z UR I DEENGESCHICHTE DER W ILDNIS Voraufklärerische Wildnisideen Wildnis in archaischen Kulturen: das Schreckliche, das ›Andere‹ und das Heilige In archaischen Gesellschaften stellte Wildnis, folgt man dem Religionshistoriker Eliade, den entscheidenden Gegensatz zum geweihten und bewohnten Kosmos dar. Sie ist »ein fremder, chaotischer Raum, in dem Gespenster, Dämonen und ›Fremde‹«6 hausen, ein diffuser Raum des Schreckens – und für den archaischen Menschen »überhaupt noch keine ›Welt‹.«7 Den Kampf gegen die Angreifer aus 3 | Wir beschreiben also die Entstehung, den Wandel und die Wirkungen der Idee der Wildnis. Der Zweck dieses ideengeschichtlichen Rückgriffs lässt sich als ›genetische Aufklärung‹ charakterisieren (Mittelstraß 2004: 184). Der Rückgriff ist kein Selbstzweck, sondern ein heuristisches Prinzip, um historisch informiert die Vielfalt aktueller Wildnisbedeutungen darstellen zu können. 4 | Die behandelten Bedeutungen von Wildnis sind als systematische (Ideal)typen zu verstehen, die die prinzipiell unendliche Mannigfaltigkeit individueller Wildnisauffassungen verständlich machen sollen, indem sie die Bedeutungen ordnen. Cassirer (1936-37/1999: 162) stellt diese Methode, die auf Max Weber zurückgeht, als eine wesentliche Methode der Kulturwissenschaften dar. 5 | Für eine Darstellung speziell US-amerikanischer Formen der naturbezogenen Freizeitgestaltung sowie zu spezifisch US-amerikanischen Wildnisauffassungen siehe den Beitrag von Ortlepp in diesem Band. 6 | Eliade 1957: 18. 7 | Ebd.: 19.
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der Wildnis, seien es wilde Tiere, Dämonen, Ungeheuer oder Feinde, interpretiert Eliade als rituelles Nachahmen des Kampfes der Götter gegen mythische Widersacher. Da jene für die archaische Gesellschaft bedrohlich waren, hatte der ritualisierte Kampf gegen die schreckliche Wildnis eine stabilisierende Funktion für die bestehende Ordnung.8 Die Grenze zur Wildnis ist jedoch, wie alle mythischen Überlieferungen bezeugen, durchlässig;9 zwischen der menschlichen Alltagswirklichkeit und dem von Dämonen und anderen mythologischen Wesen bevölkerten Weltrand herrscht ein reger Austausch. Eine »Erfahrung des Draußen« ist allerdings nur demjenigen möglich, der »seine Identität zu verlieren bereit ist und die profane Ordnung verläßt, der stirbt und wiedergeboren wird gemäß den Riten der Initiation«.10 Der Ethnologe Duerr schreibt solchen Grenzüberschreitungen die Funktion der Stabilisierung der archaischen Kultur zu: Um ›drinnen‹ mit Bewusstsein zahm zu sein, musste man ›draußen‹ in der Wildnis gewesen sein.11 Die Grenze zu einem ›Draußen‹, die die Stabilität eines ›Drinnen‹ gewährleistet, ist nach der Kulturtheorie Batailles in grundlegenden Tabus angelegt, die er als Verbote bezeichnet. »Durch die Aufstellung der Verbote trennt sich der Mensch vom Tier. Er versucht dem maßlosen Spiel des Todes und der Fortpflanzung (der Gewaltsamkeit), in deren Nacht das Tier sich ganz und gar befindet, zu entrinnen.«12 Der Mensch versucht also, den Trieb, der ihn an diesem maßlosen Spiel teilnehmen lässt, zu zügeln und Gedanken an den Tod aus dem profanen Alltag zu verbannen. So schafft er sich im Gegensatz zur ›eigentlichen‹ Kontinuität der Welt, angesichts derer das individuelle Leben bedeutungslos erscheint, eine Sphäre der Diskontinuität.13 Da aber Tod und Fortpflanzung vom Leben nicht zu trennen sind und alles Verbotene zugleich einen Reiz hat, musste und muss ein ritualisierter Zugang zum Verdrängten möglich bleiben. Wird dieser auf den Raum übertragen, entspricht das der oben beschriebenen Grenzüberschreitung nach Duerr: »Die organisierte Überschreitung bildet mit dem Verbot ein Ganzes, und dieses Ganze bestimmt das soziale Leben.«14 Die dabei erfahrbare, der profanen Welt entgegengesetzte Sphäre nennt Bataille auch das Heilige.15
8 | Ebd.: 29f. Anklänge an solche Kämpfe finden sich auf volkstümlichen Fastnachtsfesten. 9 | Koschorke 1990: 14. 10 | Ebd. 11 | Duerr 1985: 76. 12 | Bataille 1963: 104. 13 | Ebd. 14 | Ebd.: 80. 15 | Ebd.: 103f.
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Wildnis in der christlich-mittelalterlichen Kultur: böse Gegenwelt und Zufluchtsort Im mittelalterlichen Christentum spaltete sich das Göttliche vom Heiligen ab und wurde transzendent. In der nicht kultivierten Natur blieb vom Heiligen allein das Unheilvolle, Dämonische zurück, von dessen Heimsuchung auch die Eremiten nicht verschont blieben (vgl. Abb. 1). Wildnis geriet so zur bösen Gegenwelt, die einem Leben im Glauben an Gott entgegenstand. Sie war nicht mehr, wie in den Naturreligionen, die notwendige ›andere Seite‹ der kulturellen Ordnung, sondern wurde eine innere Gefahr für die christliche Ordnung. Grenzübertritte in die Wildnis, wie sie Hexen praktizierten, wurden deshalb dämonisiert und bekämpft.16 Zugleich galt es, das dämonisch Böse in Gestalt ungezügelter Triebe und Begierden zu zähmen.
Abb. 1: Matthias Grünewald: »Die Peinigungen des heiligen Antonius« (Teil des Isenheimer Altars), um 151517 16 | Duerr 1985: 84; Koschorke 1990: 22; Schwarzer 2007: 35-37. 17 | Quelle: bpk, Fotografie: Jochen Remmer. Original: Musée d’Unterlinden, Colmar.
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Dieser Dualismus von guter Ordnung und böser Wildnis wurde räumlich festgemacht als Gegensatz zwischen dem bebauten, bepflanzten und bewohnten Bereich von Burg, Stadt und Dorf einerseits und unkultivierter Natur wie Wald, Sumpf und Meer andererseits. Obwohl die Wildnis des Waldes als böse Gegenwelt weithin Schrecken auslöste, wurde sie für die am Rand oder jenseits der christlichen Ordnung Lebenden, z.B. Geächtete, ein Zufluchtsort. In diesem suchten zeitweilig auch Ritter nach Abenteuern oder festigten Eremiten ihren Glauben.18
Aufklärerische Wildnisideen Theologisch basierte Frühaufklärung: Wildnis als Ort göttlicher Erhabenheit und guter Ursprünglichkeit Im 17. Jahrhundert änderte sich das christliche Verständnis von Wildnis in grundlegender Weise: Sie erhielt nun auch positive Bedeutungen.19 Generelle Voraussetzung hierfür war die ontologische und erkenntnistheoretische Aufwertung der äußeren, materiellen Natur,20 spezielle Voraussetzung die Formulierung einer Ästhetik des Unendlichen, die darauf basierte, dass man die Prädikate Gottes auf die des Raumes übertrug. Diese Ansicht entwickelte insbesondere Henry More mit seinem spiritualistischen Raumbegriff, den er Descartes’ materialistischem entgegenstellte.21 In christlichen Kosmologien wurde nun gerade die nicht kultivierte Natur als göttlich-erhaben gedeutet. Wir stellen zwei derartige Deutungen vor.22 Die erste Deutung formulierte z.B. Addison. Er versuchte zu erklären, warum die ästhetische Erfahrung von Wüsten, schroffen Bergmassiven, sturmgepeitschten Meeren usw. nicht bloße Furcht, sondern einen »agreeable Horrour«23 hervorruft. Seine Deutung war, dass die Größe und Formkomplexität solcher Naturphänomene, indem sie die Auffassungsfähigkeit der Einbildungskraft übersteigen, im Verstand die Idee von etwas Unendlichem, also von Gott hervorrufen.24 So wurde Wildnis zum Ausdruck göttlicher Erhabenheit und zum Ort der Gottesverehrung. Insbesondere in den Bergen sah man nun »temples of Nature built by the Almighty«.25 18 | Le Goff 1990: 88; Schwarzer 2007: 38-42. 19 | Nicolson 1959; vgl. Groh & Groh 1996. 20 | Kirchhoff & Trepl 2009: 30, 45. 21 | Cassirer 1932: 103-105; Nicolson 1959: 113-143, 271-323; Koschorke 1990: 23-37. 22 | Dabei folgen wir Kirchhoff & Trepl 2009: 45f. 23 | Addison 1712: Nr. 412, 489. 24 | Ebd.: Nr. 412f., 420, 489. 25 | Nicolson 1959: 2; vgl. ebd.: 300-323.
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In der zweiten Deutung, die beispielsweise Shaftesbury vertrat, wurde die Tatsache, dass »wildness pleases«,26 so erklärt: Der Mensch erkennt, wenn er sich der zweckfreien Betrachtung unkultivierter Natur hingibt, in einer »reasonable extasy«27 deren göttliche harmonische Ordnung. Auch diejenige Natur, die aus der Perspektive endlicher menschlicher Verstandes- bzw. Nutzenkalküle ungeordnet bzw. unzweckmäßig erscheint, erweist sich als Teil der perfekten göttlichen Ordnung: »Unable to declare the Use or Service of all things in this Universe, we are yet assur’d of the Perfection of all, and […] Things seemingly deform’d are amiable; Disorder becomes regular; Corruption wholesom«.28 Wildnis gefiel nun zugleich als erhabene, weil göttlich-perfekte, und als schöne, weil vollkommen geordnete Natur. Damit löste Shaftesbury die bis dahin übliche Unterscheidung von erhabener und schöner Natur auf. Zugleich erhielt Wildnis so – ähnlich wie später bei Rousseau und Herder (siehe unten) – die Bedeutung eines Ortes ursprünglicher, nicht durch den Menschen verdorbener Ordnung: »I shall no longer resist the Passion growing in me for Things of a natural kind; where neither Art, nor the Conceit or Caprice of Man has spoil’d their genuine Order«.29 Wildnis ist nun paradiesische Natur, insofern sie – wie der Garten Eden – von Gott auf vollkommene Weise geordnete Natur ist. In Shaftesburys Denken wird nicht nur die wilde äußere Natur aufgewertet, sondern auch die egoistische, triebhaft körperliche Natur des Menschen. Denn Shaftesbury versucht, diese als verbunden mit den altruistischen Neigungen des Menschen zu denken. Das Prinzip moralischer Vollendung gründet bei ihm »in der gleichmäßigen Ausbildung und in dem harmonischen Ineinandergreifen beider Triebsysteme«.30 Mit der aufklärerischen Loslösung von theologischen Weltauffassungen traten wiederum neue Bedeutungen von Wildnis auf. Wir charakterisieren zwei Extreme: die liberalistische und die demokratietheoretische Deutung.
Liberalismus: Wildnis als noch nicht ver wertete Natur Im Liberalismus war (und ist) Wildnis negativ konnotiert, weil sie unkultivierte, nicht verwertete Natur war. Aufgrund seiner Freiheit von äußerer und innerer Natur und der damit einhergehenden Freiheit, sich seines Verstandes zu bedienen, konnte und sollte das freie Subjekt die Natur kultivieren. Wildnis wurde Natur, die noch nicht für menschliche Zwecke erschlossen war und die es wirtschaftlich zu nutzen galt. Sie symbolisierte zudem den vorgesellschaft26 | Shaftesbury 1732/2001: II, 217. 27 | Ebd.: II, 43, 219-228. 28 | Ebd.: II, 217. 29 | Ebd.: II, 220. Zu diesem Absatz vgl. Nicolson 1959: 289-300; Cowan 1998: 130-136. 30 | Windelband 1976: 434.
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lichen menschlichen Naturzustand, in dem – wie es Hobbes beschreibt – der natürliche Selbsterhaltungstrieb zu einem Kriegszustand führte, der mittels eines zweckrationalen Gesellschaftsvertrags in friedliche Koexistenz egoistisch konkurrierender Menschen überführt werden musste.31 Was als kultiviert anzusehen war, oblag den Vorstellungen, die sich im Rahmen der christlichen europäischen Kultur herausgebildet hatten. Ganze Kontinente wurden aus dieser eurozentrischen Sicht heraus als zu kolonisierende Wildnis definiert und auch erobert – ungeachtet der Tatsache, dass sich dort bereits andere Kulturen entwickelt hatten.32
Demokratietheoretische Aufklärung: Wildnis als Medium der Selbsterfahrung des autonomen Vernunftwesens In der demokratietheoretischen Aufklärung,33 für die wir Kant als Repräsentanten heranziehen, wurde (und wird) Wildnis negativ bewertet, insofern sie Triebhaftigkeit symbolisiert, die jeder Mensch beherrschen muss, damit er sich an den Vernunftideen orientieren und frei handeln kann. Positiv bewertet wurde Wildnis, sofern sie als erhabene Natur Medium der Selbsterfahrung des Menschen als Vernunftwesen sein konnte – und zwar auf folgende Weise:34 Übermäßig große oder regellose Naturphänomene überwältigen unser Anschauungsvermögen, dennoch können sie in uns statt Abscheu und Furcht »negative Lust«35 hervorrufen (mathematische Erhabenheit). Ähnlich verhält es sich, wenn wir – von einem sicheren Standpunkt aus – Naturphänomene betrachten, deren physischer Macht wir, als Sinnenwesen, nicht widerstehen könnten (dynamische Erhabenheit). Diese negative Lust stellt sich immer dann ein, wenn die Einsicht in die Begrenztheit als Sinnenwesen »das Gefühl eines übersinnlichen Vermögens in uns«,36 das heißt die Idee der Vernunft, wachruft. »Das Gefühl des Erhabenen in der Natur ist also Achtung vor uns selbst als Ver-
31 | Zu diesen negativen sowie ergänzend zu positiven Wildnisbedeutungen im Liberalismus siehe Kirchhoff & Trepl 2009: 48; Vicenzotti 2011: 106-116; Kirchhoff 2011: 83f. 32 | Vgl. die Beiträge von Dürr & Winder sowie Ortlepp in diesem Band. 33 | Demokratietheoretisch nennen wir, in Abgrenzung zu liberalistisch-nominalistischen Theorien, solche aufklärerischen Gesellschaftstheorien, die sich – rationalistisch oder transzendentalphilosophisch – auf ein überindividuelles, universelles Prinzip beziehen (vgl. Kirchhoff 2005: 66-68; Voigt 2009: 64, 114ff.; Vicenzotti 2011: 175-177). 34 | Kant 1790/1996: §§ 23-30. Zur Interpretation vgl. Eisel 1987: 27-29; Kaulbach 1984: 161-207. 35 | Kant 1790/1996: B 76. 36 | Ebd.: B 85.
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nunftwesen«.37 Wildnis ist demnach nicht selbst erhaben, sondern ausgezeichneter Ort der Selbstbestätigung des Vernunftsubjekts, an dem es sich über seine eigene Triebnatur erheben kann.
Übergang zur Aufklärungskritik: Wildnis als Symbol der Tugendhaftigkeit und Freiheit aus Natur Am Übergang der demokratietheoretischen Aufklärung zur Aufklärungskritik entstand eine weitere Bedeutung von Wildnis, wie sich mit Rousseau zeigen lässt: Wildnis wurde, als paradiesische Wildnis, zum Symbol der Tugendhaftigkeit und Freiheit aus Natur.38 Rousseau etablierte das Ideal eines (in Europa vergangenen) goldenen Zeitalters der Menschheit, in dem Hirtengemeinschaften – er sprach von »barbares«, später war zumeist von »edlen Wilden« die Rede – in harmonischer Einheit mit der Natur und vor allem miteinander leben, weil ihre beiden Grundantriebe, Selbstliebe und Mitleid, in Balance miteinander stehen. Diesem goldenen Zeitalter vorangegangen sei ein Zustand wilder Existenz isoliert lebender Menschen, die sich noch nicht wesentlich von Tieren unterschieden (»sauvages«). Die Hirtengemeinschaften zerfielen, sobald mit Sesshaftwerdung und Ackerbau Arbeitsteilung, Ungleichheit und Eigentum entstehen und sich die Selbstliebe in mitleidlose Selbstsucht wandelt. Es beginne das Zeitalter einer Zivilisation, in der die Menschen in einem Zustand des Krieges aller gegen alle leben, wie ihn Hobbes (allerdings als Anfang der Menschheitsgeschichte) beschrieben hat. Diesen Kriegszustand sollten die Menschen überwinden, indem sie das vernunftgeleitete Analogon zu jenen auf vorreflexivem Mitleid gründenden Hirtengemeinschaften herstellen. Dazu müssten sie sich auf die Idee der Tugendhaftigkeit verpflichten, das heißt, bewusst ihren Partikularwillen dem Gemeinwillen einordnen (nicht unterordnen). Nur so könnten sie unentfremdet und frei leben. In der Folge symbolisiert Wildnis – vor allem in Gestalt arkadischer Hirtenlandschaften – das von zivilisatorischer Deformation freie Naiv-Gute, das als Vorbild für vernünftige Tugendhaftigkeit fungiert. Diese positive Wildnisbedeutung, die auf der Projektion der aufklärerischen Idee der Tugend in den Beginn der Menschheitsgeschichte basiert, ergab sich bei Rousseau als Denknotwendigkeit, weil er eine auf Tugend gegründete Vertragsgesellschaft als natürlich erweisen wollte, um sie einerseits von der Idee eines Gottesstaates abzusetzen und andererseits gegenüber naturrechtlich gestützten liberalistischen Vertragstheorien zu legitimieren.
37 | Ebd.: § 27. 38 | Vgl. zum Folgenden Fetscher 1980: insb. 29-49; Cooper 1999; Siegmund 2002: 64f.; Kirchhoff & Trepl 2009: 35, 49; Vicenzotti 2011: 183f.
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Aufklärungskritische Wildnisideen Frühromantik: Wildnis als Ort der Freiheit von zivilisatorischen Zwängen, der Sehnsucht nach ursprünglicher Einbindung und der Zerrissenheit Die um 1800 einsetzende romantische Bewegung – wir gehen hier nur auf die sich noch klar vom Konservatismus unterscheidende Frühromantik ein – rekurrierte auf die Erfahrung, dass die Einbindung in die christliche Ordnung mit der Aufklärung verloren war. Wildnis wurde für Romantiker der Ort, an dem die Freiheit von den Zwängen einer an Technik und Rationalität orientierten Gesellschaft erfahrbar wurde, und sie war ein Ort, der sich für ein »Vagieren der Empfindung«39 anbot. Wildnis wurde unter diesen Umständen zum Ort der Sehnsucht nach einer Einbindung in die Vorsehung und – weil dies unwiederbringlich verlorenen war – zum Ort, der diese typisch moderne Zerrissenheit symbolisierte.40 Diese Sehnsucht veranlasste Romantiker dazu, nach einer neuen Mythologie zu suchen. Den Kern ihrer religiösen Einstellung bildete der Glaube an das Unendliche: Religion sollte darin bestehen, »alles Einzelne nicht für sich, sondern als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte nicht in seinem Gegensa[t]z gegen Anderes, sondern als eine Darstellung des Unendlichen in unser Leben auf[zu]nehmen«.41 Mit dem Glauben an die Begründung des Endlichen im Unendlichen wurden nicht nur die Grenzen zwischen Kunst und Religion verwischt – insofern das Unendliche zur Darstellung zu bringen als Aufgabe der Kunst angesehen wurde –, es öffnete sich auch der sehnsuchtsvolle Blick für alles unerreichbar Ferne: für andere Kulturen, für die Kindheit und für das Abgründige, Schaurige und Irrationale.42 Wildnis war für die Frühromantiker zum einen die unerreichbar ferne Natur, die am Horizont aufschien. Der Blick in die Ferne befreite aus der versachlichten, ›entzauberten‹ Welt der Aufklärung und ermöglichte den imaginierten Übergang ins Jenseits.43 Zum anderen war Wildnis bedrohliche nahe Natur, die einen Schauer hervorrief:44 Das ambivalente Gefühl angesichts von Schluchten, Abhängen und Wasserfällen wurde nicht, wie von Kant, als Beleg für die Vernunftüberlegenheit des Menschen über Natur gedeutet, sondern als Ausdruck der ›dunklen‹, sich der Vernunft entziehenden Seite der Natur. Diese Schauerlichkeit und Bedrohlichkeit gründete letztlich darin – und viele Romantiker 39 | Koschorke 1990: 183. 40 | Vgl. Siegmund 2002: 83-109; Schwarzer 2007: 54-59; Vicenzotti 2011: 220-231. 41 | Schleiermacher 1799/1834: 57; vgl. Safranski 2009: 151; Uerlings 2000: 25f. 42 | Praz 1970; Safranski 2009; Siegmund 2011: 265-273; Vicenzotti 2011: 220-224. 43 | Siegmund 2002: 114. 44 | Ebd.: 114, 118-122.
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waren sich dessen bewusst –, dass die seelischen Abgründe des romantischen Menschen, der sich wegen des Verlustes göttlicher Ordnung ängstigte und innerlich ins Bodenlose stürzte, in die Natur projiziert wurden. Diese beiden Formen frühromantischer Wildnis – die unerreichbar ferne und die bedrohliche nahe – kommen in dem Gemälde »Der Wanderer über dem Nebelmeer«, wenngleich es nicht in der Frühphase entstand, prägnant zum Ausdruck (vgl. Abb. 2).45
Abb. 2: Caspar David Friedrich: »Der Wanderer über dem Nebelmeer«, um 181846
Englischer Konser vatismus: Wildnis als Ort der Förderung des Selbsterhaltungstriebs Im frühen englischen Konservatismus wurde der sinnlichen Erfahrung von Natur auf neuartige Weise positive Bedeutung beigemessen. Nach Burkes47 45 | Vgl. Schwarzer 2007: 58f. 46 | Quelle: bpk, Fotografie: Elke Walford. Original: Hamburger Kunsthalle, Hamburg. 47 | Siehe zum Folgenden Burke 1757: insb. I.6 f, I.10, II.1ff., IV.1-9.
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Theorie erhabener Natur ruft die sinnliche Wahrnehmung von Eigenschaften wie obscurity, power und vastness, sofern die Situation nicht lebensbedrohlich ist, Ideen von Furcht und Schmerz hervor. Zugleich delightful sei diese Erfahrung, weil sie eine strengthening quality für den Körper habe, was die Funktionsfähigkeit des Körpers und den Trieb zur Selbsterhaltung begünstige. Damit war Wildnis als Ort der Förderung des Selbsterhaltungstriebs durch Naturbetrachtung bestimmt.48 Diesen Trieb stellt Burke in den Zusammenhang mit der moralischen Aufgabe, dass der Einzelne die übergreifende, gottgegebene Ordnung bzw. das organische Ganze der natürlichen Gemeinschaft stützen soll. Dazu seien die auf Selbsterhaltung ausgerichteten Leidenschaften in Einklang zu bringen mit den sozialen Leidenschaften, die ihrerseits durch sinnliche Erfahrung schöner Natur gestärkt würden.49
Aufklärungskritik und ›klassischer‹ Konser vatismus in Deutschland: Wildnis als guter Ursprungszustand und Jungbrunnen In der frühen deutschen Kritik an der Aufklärung – insbesondere in Herders Geschichtsphilosophie50 – wurde Wildnis als von Gott geschaffene, gute Ausgangssituation kultureller Selbstvervollkommnung angesehen. Herder meinte, im Ursprungszustand von Natur und Menschheit sei bereits eine harmonische Ordnung vorhanden gewesen, die die Menschheit allerdings noch zur vollen Entfaltung bringen müsse: »Das Chaos der Natur sah niemand; absolut genommen ists ein Unbegriff: denn Chaos und Natur heben einander auf. […] Alle Wesenheiten und Eigenschaften der Dinge waren in ihm schon vorhanden; ungeregelt äußerte jede schon ihren Trieb, und bestrebte sich ihren Platz einzunehmen«.51 Diese Vorherbestimmtheit erfüllt sich beim Menschen – so Herders sensualistische Auffassung – in der Auseinandersetzung mit den Sinneseindrücken, die von der Natur hervorgerufen werden. Entsprechend sah man im deutschen Konservatismus in unkultivierter Natur und wenig zivilisiert lebenden – oder zu solchen stilisierten – Menschen den guten, naiv-instinkthaften Ursprung kultureller Vervollkommnung, den es als notwendigen Bestandteil einer entwickelten Kultur bzw. Kulturlandschaft zu erhalten gelte.52
48 | Ryan 2001; Kirchhoff & Trepl 2009: 47. 49 | Windelband 1976: 437. 50 | Zu deren Deutung und Zuordnung zur Aufklärungskritik siehe Eisel 1992; Kirchhoff 2005. 51 | Herder 1800/1880: XXII, 245; vgl. Kirchhoff 2011: 86f. 52 | Vicenzotti 2011: 145-147.
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H ASS /H OHEISEL /K ANGLER /K IRCHHOFF /P UTZHAMMER /S CHWARZER /V ICENZOTTI /V OIGT »In unsern Walddörfern […] sind unserm Volksleben noch die Reste uranfänglicher Gesittung bewahrt […]. Nicht bloß das Waldland, […] alle Wildniß und Wüstenei ist eine nothwendige Ergänzung zu dem cultivierten Feldland. […] Ein Volk muß absterben, wenn es nicht mehr zurückgreifen kann zu den Hintersassen in den Wäldern, um sich bei ihnen neue Kraft des natürlichen, rohen Volksthums zu holen.« 53
So wurde die heimatliche Wildnis mit einer Quelle schöpferischer Kraft gleichgesetzt; sie wurde als Jungbrunnen des Volkes dem verstandeslastigen, degenerierten Leben in der Stadt, dem Ort böser Verwilderung, entgegengestellt.54
T YPEN VON W ILDNIS Die ideengeschichtliche Analyse zeigt die Ursprünge der sehr unterschiedlichen Bedeutungen von ›Wildnis‹. Wie lässt sich die Sehnsucht nach Wildnis in der aktuellen Freizeitkultur vor diesem Hintergrund verstehen? Die Komplexität der Frage erhöht sich durch das weite Spektrum realer Gegenden, die in unterschiedlichen Bedeutungsfacetten als Wildnis faszinieren. Um sie beantworten zu können, behandeln wir bestimmte Wildnistypen, mit denen sich das Feld der Bedeutungen und der damit korrespondierenden Charakteristika der realen Gegenden ordnen lässt. Die Typisierung stützt sich auf zwei Beobachtungen: Einerseits führen bestimmte physische Eigenschaften von Gebieten bzw. Naturformen dazu, dass diese als Wildnis mit einer bestimmten Bedeutung aufgefasst werden. Andererseits sind diese Beurteilungen – davon gehen wir aus – durch kulturelle Deutungsmuster vorstrukturiert, sodass sie intersubjektiven Charakter haben, wenngleich sie immer auch individuell ausgeprägt sind. Dieses Zusammenspiel von physischen Eigenschaften und intersubjektiven symbolischen Bedeutungen findet sich bei den vier dargestellten Wildnistypen Berge, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache.55
Berge Bergsteigen, Klettern und Trekking sowie Tourenski- und Schneeschuhwandern haben seit einigen Jahren an Beliebtheit gewonnen. Im Kontext dieser Tätigkeiten werden Berge zwar nicht immer, aber häufig als Wildnis thematisiert.56 Während die Täler und Almen heute in der Regel als Kulturlandschaften 53 | Riehl 1854: 31f. 54 | Vicenzotti 2011: 161-172. Zur Umdeutung dieser konservativen Denkfigur im Nationalsozialismus siehe Körner & Eisel 2003: 27f.; Zechner 2006. 55 | Auf weitere Typen wie z.B. Wüste, Wald, Meer und Sumpf gehen wir nicht ein. 56 | Vgl. z.B. Flüeler, Volken & Diemer 2004.
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gelten,57 werden die Hochlagen häufig als eine der letzten verbliebenen Wildnisse betrachtet.58 Worin liegt der Reiz, Berge als Wildnis aufzusuchen und dort bestimmte Freizeitaktivitäten auszuüben? Die Bergwildnis fasziniert in der Regel als eine karge, lebensfeindliche und weitgehend unberührte oder als solche stilisierte Landschaft, die zugleich gefährlich ist. Es klaffen Abgründe auf, die einen romantischen Schauer auslösen können, aber auch einen verheerenden Absturz. Gewitter, Sturm oder Schneefall sind dort selbst für gut Ausgerüstete eine ernste Gefahr. Bedrohlich sind außerdem Gletscher, Lawinen und der kaum berechenbare Stein- und Eisschlag. Alle diese Gefahren zeichnen die besonderen Seiten der Natur der Bergwelt aus, die für ihre Thematisierung als Wildnis entscheidend sind.59 Warum setzen sich Menschen in ihrer Freizeit den Gefahren der Berge aus? Das lässt sich in zugespitzter Weise am Beispiel des Extrembergsteigens zeigen: Am Berg muss man den Gefahren trotzen und gegen ihn, als einen würdigen Gegner, kämpfen. Als glorreicher Sieg über die lebensfeindliche und gefährliche Natur der Berge wurde die alpinistische Eroberung der Alpengipfel in der Mitte des 19. Jahrhunderts enthusiastisch gefeiert.60 Dieses Pathos, mit dem auch die technische Kolonisierung der Gebirgsnatur belegt wurde, mischte sich mit nationalem Eifer beim Wettkampf um die Gipfel der Welt. Als kleine Bergsteigerteams im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts den zeit- und materialintensiven Großexpeditionen den Rang abliefen, trat der nationale Eifer zugunsten eines individuellen in den Hintergrund. Es kam die Deutung auf, die es in ähnlicher Form vermutlich schon vor und neben der nationalen Vereinnahmung der Gipfelstürmerei gab, nämlich dass es sich um eine moderne Variante eines individuellen Kampfes handelt: der Bergsteiger oder die Seilschaft gegen den personifizierten Berg.61 Obwohl die höchsten Gipfel längst erreicht und viele schwierige Routen durchstiegen sind, geht es beim Kampf extremer Kletterer in großen Höhen nach wie vor um Erstbegehungen neuer Routen (vgl. Abb. 3). Das verweist darauf, dass sich Bergwildnis neben der gefährlichen Herausforderung, die in ihr gesucht wird, immer noch durch eine Vorstellung von Unberührtheit auszeichnet, die 57 | Für einige verlassene Alpentäler wird in den letzten Jahren allerdings auch der Prozess der Verwilderung ehemaliger Kulturlandschaften thematisiert (vgl. z.B. Höchtl, Lehringer & Konold 2005). Zur Verwilderung vgl. den Abschnitt zum Wildnistyp Stadtbrache. 58 | Der Gegensatz zwischen den ›furchterregend-majestätischen‹ Fels- und Eisbergen und den ›idyllisch-liebreizenden‹ Tälern, der im Kontext der vorne beschriebenen Umdeutung von Wildnis als positiv, vor allem in der Aufklärung und Romantik, geprägt wurde, war und ist leitend für den Blick vieler Touristen (Woźniakowski 1974/1987: 265ff.; Stremlow 1998: 72ff.; Schwarzer 2008: 332-335). 59 | Vgl. zum Hochgebirge als Idealtyp von Wildnis: Schwarzer 2007: 107-127. 60 | Vgl. Stremlow 1998: 134ff.; Grupp 2008; Schwarzer 2011: 26. 61 | Aufmuth 1988: 167.
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jenen Wettkampf mitbestimmt, bei dem diese schwindet. Der Kampf am Berg bekommt so eine weitere Bedeutung: man muss die männliche Seite des Berges bekämpfen, um in den Genuss seiner Jungfräulichkeit zu kommen.
Abb. 3: Erstbegehung der Tengkampoche-Nordwand am Khumbu im Jahr 2008, die als »Rekordjagd in der Todeszone« tituliert wurde (Foto: S. Anthamatten)62 Durch die zunehmende Technisierung ist es auch eine Frage des Einsatzes der Mittel geworden, ob ein Berg zum bedrohlichen und würdigen Gegner stilisiert werden und damit die Möglichkeit zur Aneignung oder kämpferischen 62 | Quelle: Fotostrecke »Extrembergsteiger Steck: Rekordjagd in der Todeszone«. www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-33477.html (aufgerufen am 24.06.2011).
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Bewährung bieten kann.63 Dazu scheint der Verzicht auf bestimmte technische Mittel von großer Bedeutung zu sein. Trotz der massenhaften Zunahme und ständigen Verbesserung der Ausrüstung (Kleidung, GPS etc.) ist nämlich die Haltung des Verzichts auf technische Mittel, die Sicherheit oder Komfort bieten, geradezu konstitutiv für solche Herausforderungen, die im Extremfall ohne zusätzlichen Sauerstoff auf den Everest führen. Aber es ist nicht nur die Bergnatur, gegen die gekämpft wird, wie Reinhold Messner erklärt, der (auch wenn er umstritten ist) als populäres Idol das Bergsteigen verkörpert: »Mir ging es beim Unterwegssein in der Wildnis nicht um die Welt draußen, sondern um die Welt in mir drinnen. Ich war Eroberer meiner eigenen Seele.«64 Messners Kampf richtet sich demnach vorrangig gegen sich selbst.65 Er kämpft einerseits mit seinem Willen gegen seinen Körper. Andererseits ist es aber, weil Gefahren, die Angst auslösen, auch körperlich bewältigt werden, gewissermaßen ein Kampf des zuvor geistig und körperlich konditionierten Körpers gegen den Geist, der sich in bestimmten Situationen ängstigt.66 Diese paradoxe Spannung scheint sich für kurze Momente zu lösen, in denen keine Gefahren drohen – besonders am Gipfel. Der Kampf kulminiert dann in einem Gefühl, das sowohl der romantischen Sehnsucht als auch der kantischen Erhabenheit ähneln kann. Um sich erhaben zu fühlen, muss Messner allerdings anscheinend die Widerstände der Bergnatur überwunden haben, d.h., sich seiner selbst nicht nur als geistiges Wesen wie nach Kants Deutung des Erhabenheitsgefühls, sondern auch als körperliches vergewissern. Auf dem Gipfel fühlt sich Messner nicht nur erhaben, sondern auch aufgenommen »in die Geborgenheit des Weltalls«.67 Dort überwältigt ihn das Gefühl, eins mit der Welt zu sein, und er möchte sich »für immer in diesem Zwielicht überm Horizont verlieren«.68 Dieses Gefühl ähnelt der romantischen Sehnsucht nach der Ferne, die für die Wahrnehmungsmuster von Alpenreisenden generell von großer Bedeutung waren und sind. Auch beim weit weniger gefährlichen Wandern erscheint das Gebirge aufgrund der ästhetischen Ferne als Wildnis (vgl. Abb. 4). Der Horizont mag dabei noch so faszinierend sein, er bleibt unerreichbar und manifestiert zusammen mit dem Abgrund nach wie vor bestehende Grenzen, deren subjektives Erleben reizt. Die romantische Sehnsucht, die von Enzensberger als wesentliches Motiv des Tourismus beschrieben wurde,69 lässt sich
63 | Schwarzer 2011: 29. 64 | Messner 1979: 14. 65 | Hoheisel, Trepl & Vicenzotti 2005: 45. 66 | Vgl. dazu auch die psychologische Interpretation von Haubl 1999. 67 | Messner 1979: 200. 68 | Ebd. 69 | Enzensberger 1964.
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aber niemals erfüllen. Deshalb verweist sie auf die Zerrissenheit des modernen Abenteurers.
Abb. 4: Der Blick des Wanderers: Bergwildnis als ästhetische Ferne (Foto: S. Ulrich) Anders als beim Extrembergsteigen sind beim Trekking oder Schneeschuhwandern die Gefahren weniger drastisch. Allerdings können auch hier Abgründe aufklaffen und Steinschlag oder Lawinen bedrohlich werden. Grundsätzlich muss sich also auch der gemäßigte Abenteurer im Gebirge darauf einlassen, dass er möglicherweise seine Angst überwinden muss, um eine Grenzsituation nicht nur psychisch, sondern auch körperlich zu bewältigen. In diesem Sinne ist Bergwildnis aufgrund ihrer physischen Natur – insbesondere der Abgründe, der Lebensfeindlichkeit und der faktischen oder empfundenen Unberührtheit –, die besondere mentale und körperliche Herausforderungen bietet, ein Ort der Selbsterfahrung als geistiges und körperliches Wesen.
Dschungel Der Dschungel ist weniger häufig als die Berge Ziel moderner Freizeitaktivitäten. Dennoch geht auch von ihm offensichtlich eine Faszination aus, was nicht zuletzt der Erfolg von Fernsehshows wie dem ›Dschungelcamp‹ oder die Bekanntheit von Abenteurern und Überlebenskünstlern wie Rüdiger Nehberg zeigt. Was bewegt Individualtouristen oder Teilnehmer von Dschungelsafaris
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dazu, (sub-)tropische Regenwälder, mit denen Dschungel üblicherweise assoziiert wird,70 aufzusuchen? Während das Hochgebirge als weitgehend unbelebt wahrgenommen wird, steht der Dschungel für eine in hohem Maß lebendige, wuchernde Natur. Hier lauert eine Vielzahl unterschiedlicher Feinde. Der Kampf im Dschungel ist typischerweise nicht heroisch, wie am Berg, sondern schmutzig. Der Dschungel ist kein würdiger, sondern ein feiger Gegner, hinterlistig, unberechenbar und unsichtbar.71 Trotz der Bedrohlichkeit des Dschungels scheinen vor allem in den letzten Jahrzehnten Vorstellungen einer ursprünglichen Komplexität und Fülle des Lebens wieder eine idealisierte Wahrnehmung ähnlich wie bei Rousseau oder in der konservativen Kulturkritik zu bewirken. Diese rückt den Dschungel in die Nähe eines Paradieses, das durch die Zivilisation, bzw. durch deren Begleiterscheinungen wie z.B. rücksichtslose Holzfällerfirmen, gefährdet ist. »Aus dem bedrohlichen ist der nun selbst bedrohte Regenwald geworden«.72 Die Vorstellung vom Dschungel als wuchernde, bedrohliche Natur ist jedoch weiterhin von Bedeutung – nicht nur in fiktionalen Darstellungen wie z.B. Kinofilmen, sondern auch bei einem Aufenthalt in dschungelartiger Natur. So kann bei einer Wanderung durch tropischen Regenwald die Natur aufgrund der im üppigen Grün versteckten giftigen Tiere als bedrohliche, angesichts der Fülle des Lebens aber auch als paradiesische faszinieren (vgl. Abb. 5). Zugespitzt stellt man sich die Konfrontation mit dem Dschungel so vor, dass man hier nur überleben kann, wenn man zum instinktgeleiteten Naturwesen und damit selbst zu einem Teil der Wildnis wird. Deutlich wird dies in den Berichten Nehbergs.73 Ihm zufolge gelten im Dschungel die Gesetze der »intakten Wildnis«74 , in der nur der Stärkere überlebt. Es heißt: »Fressen oder gefressen werden«.75 Er schreibt: »Weder Einsamkeit noch Schwüle, Hitze, Insekten, Krankheiten oder Verletzungen dürfen mich kleinkriegen. Auch nicht der Jaguar, die Pekaris, Schlangen, Skorpione, und Giftspinnen. […] Ich sehne mich nach ihnen, um ihnen zu beweisen, dass ich noch ein ausreichend intaktes Lebewesen bin, das gegen sie oder mit ihnen bestehen kann.«76 Für Nehberg ist damit etwas, das als ›obskure Dunkelheit‹ im Sinne Burkes abschreckt und 70 | Auch andere wuchernde Vegetation, z.B. der mitteleuropäischen Auwälder, kann als dschungelartig wahrgenommen werden. 71 | Zu diesem Absatz siehe Hoheisel, Trepl & Vicenzotti 2005: 46. 72 | Hupke 2009: 259. 73 | Ausführlich zur Faszination des Dschungels am Beispiel Nehbergs siehe Hoheisel, Trepl & Vicenzotti 2005: 47ff. 74 | Nehberg 1998: 115. 75 | Ebd. 76 | Nehberg 2004: 15.
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zugleich fasziniert, eindeutig reizvoll. Verbunden mit einer solch intensiven sinnlichen Erfahrung ist eine positive Erfahrung des eigenen Selbst und speziell des Körpers möglich. Ähnlich wie in der konservativen Deutung Burkes wird Wildnis so im Zuge der Teilhabe an der natürlichen Gemeinschaft der Lebewesen, die eine ständige Alarmbereitschaft des Körpers erfordert, zum Ort der Förderung des Selbsterhaltungstriebs, allerdings nicht durch bloße Naturbetrachtung, sondern durch unmittelbares Erleben.77
Abb. 5: Wanderung durch den tropischen Regenwald Ecuadors (Foto: T. Wiersberg) Sofern man den Dschungel nicht nur aus der Distanz betrachten, sondern im Sinn eines Ganges in die Wildnis erleben will, wird man ein gewisses Maß an bedrohlicher Natur akzeptieren bzw. gerade suchen. Dennoch kann das Leben im Dschungel auch als geordnete Einheit im Sinne eines Naturideals erscheinen. Wenn man alles Leben als Teil eines Kreislaufs aus Leben und Tod begreift, fügt sich der ständige Kampf ums Überleben letztlich doch zu einer harmonischen Einheit. Es ist von der Perspektive des Betrachters und den für ihn mit der Natur verbundenen Bedeutungen abhängig, ob die wahrgenommene Wild-
77 | Neben solchen aufklärungskritischen Bedeutungen von Wildnis finden sich im Zusammenhang mit dem Kampf im Dschungel bzw. gegen ihn jedoch auch Bezüge zur liberalistischen Wildnisidee. Diese zeigen sich z.B., wenn die wuchernde Vegetation mit Hilfe einer Machete bekämpft und der Dschungel somit erschlossen wird.
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nis eine bedrohliche oder eine paradiesische ist.78 Im unmittelbaren Erleben kann sich diese Perspektive situationsgebunden wandeln. Das Wilde im Dschungel kann, so sehr es im Erlebnis als Eigenschaft äußerer Natur erscheinen mag, dennoch eine reine Projektion innerer Natur – also von Trieben – in die äußere Natur sein: Tiger sind tatsächlich gefährlich, bei wuchernden Pflanzen liegt dagegen eine emotional wirksame Zuschreibung aufgrund von Analogien zur inneren Natur des Menschen vor. So ist der Urwald in manchen Darstellungen »der Ort, an dem wir nichts anderem als der Versuchung, der Sünde, der Allgegenwärtigkeit der Sexualität begegnen«.79 In Romanen wie Homo Faber oder Herz der Finsternis steckt im Dschungel stets das Verderben: »In den verführerischen Wäldern des Südens kann sich der männlich-europäische Körper nicht bewähren. Zwischen Zerstörung und tödlicher Verstrickung scheint kaum ein Drittes lesbar.«80 Es ist wohl die Schwüle und exaltierte Lebendigkeit der Tropen, die die Konnotation von Sexualität und Weiblichkeit erzeugen kann.81 Man begibt sich jedenfalls aufgrund dieser Eigenschaften im Dschungel, wie beim Sex, in einen psychischen Grenzbereich, in dem Kontrollverlust droht – sei es nur über den in unserer Zivilisation im Allgemeinen zu vermeidenden eigenen Körpergeruch oder durch eine Verletzung der symbolischen Grenze der Körperoberfläche, etwa durch Parasitenbefall. Intensive sinnliche Erfahrungen können auch im Dschungel besonders lustvoll sein; die Lust kann aber in Ekel umschlagen.82 Dieser ist grundsätzlich ein notwendiger affektiver Mechanismus zur Wahrung der Diskontinuität des Subjekts im Sinne von Bataille, denn er markiert eine individuelle emotionale Grenze. Diese Schwelle, ab der Ekel empfunden wird, wird jedoch bei Überschreitungen des Verbotes zu einem gewissen Grad dehnbar. So kann im Dschungel die Erfahrung z.B. fremder Essgewohnheiten einerseits gerade deswegen mit Lust verbunden sein, weil sie Genüsse einschließt, die eigentlich ›verboten‹ sind. Andererseits kann die Angst bestehen, mit der Überschreitung zu weit zu gehen bzw. durch Gewöhnung an ›verbotene Früchte‹ zum unzivilisierten Wesen zu werden. Es kann jedoch auch, durch die Veränderung von Assoziationen, zum völligen Verschwinden des Ekels vor bestimmten Gegenständen kommen. Dies ist etwas anderes als die Überwindung des Ekels durch Willenskraft, durch die auch ein – vorübergehendes – Verschwinden des Ekels möglich ist. Im Dschungel kann es im Extremfall überlebensnotwendig sein, Ekel zu überwinden. Hier zeigt sich ein weiteres Spezifikum dieses Wildnistyps, das ihn von anderen, wie den Bergen unterscheidet: Wenn jemand wie Nehberg den kulturell bedingten 78 | Vgl. Hupke 2009: 259f. 79 | Seeßlen 2000: 98. 80 | Langlo 2000: 192. 81 | Mann 2011: 39. 82 | Ausführlich zur Bedeutung von Ekel in der Wildnis siehe Putzhammer 2011.
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Ekel vor Würmern als Nahrung überwindet, kämpft er nicht wie Messner gegen seinen Körper, sondern gegen sich selbst als Kulturmenschen. Der Dschungel fasziniert, weil ein Ausleben von Trieben und Instinkten, das in der zivilisierten Gesellschaft kaum mehr notwendig und häufig unerwünscht ist, hier noch möglich und manchmal sogar (lebens)notwendig ist. Ein Aufenthalt im Dschungel ermöglicht es, sich seiner Triebnatur und Instinkte zu versichern, sich durch die Teilhabe am Kampf ums Dasein als Naturwesen und als Teil der Wildnis zu fühlen83 und dadurch die eigene ›Lebendigkeit‹ zu bestätigen.
Wildfluss Flüsse werden vielfältig in der Freizeit genutzt, nicht nur beim Wassersport, sondern auch als Orte der Naturbeobachtung und des Landschaftsgenusses. Von Wildfluss ist vor allem dann die Rede, wenn ein Fluss frei von Regulierungen und Verbauungen ist oder zumindest erscheint, sein Wasserstand stark schwankt und sich dadurch sein Lauf und seine Uferstrukturen immer wieder verändern. Diese Dynamik kann faszinieren, aber auch bedrohlich wirken, weil Menschen fortgerissen oder Bauwerke zerstört werden können. Man könnte meinen, dass man die Bedeutungen, die mit dem Wildfluss des Gebirges verbunden werden, allein durch den Wildnistyp Bergwildnis versteht. Der Wildfluss der Ebene mit seinen ausgedehnten fruchtbaren Auwäldern scheint mit dem Typ des Dschungels fassbar zu sein. Beides ist jedoch nicht zutreffend. Wir zeigen, dass an Wildflüssen bestimmte idealtypische Eigenschaften von Wildnis besonders deutlich werden, die in der aktuellen Freizeitkultur wesentliche Bedeutung haben und in den bisher dargestellten Wildnistypen kaum relevant waren: Der Typ Wildfluss zeigt den dynamisch-unbeherrschbaren Aspekt an Wildnis, ihre Unkontrollierbarkeit und Unberechenbarkeit. Den Wildfluss denkt man sich oft, ähnlich wie Berge, als ein personifiziertes, beseeltes Gegenüber, das einen eigenen gefährlichen, mächtigen, manchmal sogar zerstörerischen Willen hat. Während man aber den Berg, trotz der drohenden Gefahr plötzlicher Veränderungen (Wetterwechsel, Bergstürze, Lawinen etc.) weithin als zeitlos ewig gleich oder sich nur langsam verändernd ansieht, wird der Wildfluss als seinem Wesen nach dynamisch wechselvoll aufgefasst: Er selbst, sein Wasser und Bett, ist in Bewegung, und er verändert seine Umgebung sowie das Erscheinungsbild der Landschaft. Die mythische Personifizierung der Wildflüsse hat eine lange Tradition: Sie wurden wegen ihrer Bedeutung für das menschliche Überleben und Wohlerge-
83 | Hoheisel, Trepl & Vicenzotti 2005: 46.
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hen verehrt und wegen ihrer Naturgewalt gefürchtet.84 In verschiedenen Traditionen gelten Wildflüsse als beseelt von mythischen Geschöpfen wie Naturgeistern, Wassernymphen und Nixen. Ein berühmtes Beispiel ist die Sage von der Loreley, in der eine früher im noch wilden Rhein bestehende Gefahrenstelle mythisch erklärt wird.85 Mythische Aspekte spielen abgeschwächt auch in der heutigen Freizeitkultur eine Rolle, insofern Wildflüsse als spirituelle Orte zur Meditation, zur Regeneration und zum ›Kraft tanken‹ aufgesucht werden. Dieses Bedürfnis (und das Ideal des Indianers als ›edler Wilder‹) zeigt künstlerisch zugespitzt Willy Michl, wenn er sich mit Federschmuck ausgestattet als ›Isarindianer‹ inszeniert und Orten an der Isar die Bedeutung von geomantischen ›Kraftplätzen‹ zuschreibt.86 Solche aktuellen Rekurse auf mythische Auffassungen des Wildflusses lassen Anklänge an die konservative Idee eines Jungbrunnens im Sinne Riehls erkennen. Die künstlerische Lesart dieses Rekurses kann auch, wenn sie als individuelle Sehnsucht nach der ursprünglichen Einbindung in die Natur formuliert wird, in die Tradition frühromantischer Wildnisbedeutungen gestellt werden. Bei der sportlichen Aneignung des Wildflusses – z.B. durch Kajakfahren, Body-Rafting, Canyoning – wird ihm ein anderer Sinngehalt zugeschrieben: »Beim Body Rafting stürzen Sie sich eiskalt in die Fluten und spüren die geballte Kraft des Wassers am eigenen Körper. Schritt für Schritt lernen Sie, wie Sie die Strömung für sich nutzen können!«87 Hier wird betont, dass man den Fluss in seiner wilden, dynamischen Kraft und seinen wechselnden Eigenschaften ›verstehen‹ und entsprechende Fertigkeiten erlernen muss, um die Energie des Wassers zu nutzen und Gefahrenstellen, z.B. Stromschnellen, Kehrwasser und Walzen, zu bewältigen. Nur die Wildheit des Flusses ermöglicht jedoch sowohl das Erlebnis der ursprünglichen, bedrohlichen Naturgewalt als auch die Bestätigung des eigenen Könnens, wenn die potentiell zerstörerische Kraft des Flusses durch körperliche Fähigkeit bezwungen wird. Der Kajaksportler in Abbildung 6 scheint eine Balance zwischen Wagemut und Sicherheit zu suchen. Den Wildfluss nicht ästhetisch, aus sicherer Distanz zu betrachten, sondern ihn zu befahren oder in ihm zu schwimmen, zeigt, dass eine unmittelbare physische Erfahrung der Wildnis intendiert ist. Die Kraft des Flusses kann, wie Burke zeigt, positiv gedeutet werden, weil sie physische Fähigkeiten und psychischen 84 | Zum Beispiel wird in einer Allgäuer Sage der Lech als Quelle des Reichtums der Anwohner beschrieben; als diese seinen Zorn auf sich ziehen, verschlingt er alle ihre Besitztümer (Endrös & Weitnauer 1954: 54ff.). 85 | Ein weiteres Beispiel ist die Sage von der sirenenhaften Isarnixe, die Flößern zum tödlichen Verhängnis wurde (Schinzel-Penth 2010: 219f.). 86 | Rösl 2010. 87 | So wirbt die ›Jochen Schweizer GmbH‹ (2011) für Body-Rafting (Wildwasserschwimmen).
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Ausdauerwillen stärkt. Sich in den Wildfluss zu begeben, kann auch hinsichtlich des rituellen, die Kultur stabilisierenden Gangs in das ›Draußen‹ im archaischen Denken interpretiert werden. Dass der Grad der Gefahr weitgehend durch den Grad des Könnens und die Wahl der technischen Ausrüstung gesteuert wird, macht diese Wildniserfahrung aber zu einer spezifisch modernen.
Abb. 6: Kajaksport auf dem Wildfluss Soča (Foto: M. Lampert) Wildflüsse haben einen großen Stellenwert als Verbindung von wilden und kultivierten Gegenden.88 Sie entspringen idealtypisch im wilden Gebirge und durchfließen Kulturlandschaften und Siedlungen, bis sie ins Meer münden. Aufgrund dieser verzahnenden Eigenschaft sind Wildflüsse in der Freizeitgestaltung besonders relevant als Naturelemente, die Wildnis gerade auch in die Stadt bringen: Menschen suchen das Naturerlebnis beim Baden, Entspannen, Feste feiern oder auch Natur beobachten am naturnahen Fluss in der Stadt. Im Kontrast zur Bebauung kann ein natürlich anmutendes, frei fließendes Gewässer besonders eindrücklich als unkontrollierte, unreglementierte Natur, als Wildnis, wahrgenommen werden. Zum Beispiel wird die Isar in München, die – obwohl ›redynamisiert‹ – wasserbaulich hochgradig gesteuert ist, mit Vorstellungen von Wildnis belegt, wie der Slogan »Ungezwungen und frei – das ist das Leben an der Isar«89 zur Abbildung 7 zeigt. Offenbar sind bereits kleine Erosionen und Anlandungen starke Symbole für eigenständige ›Dynamik‹, und 88 | Vgl. Schama 1996: 26f. 89 | Matzke 2008.
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angeschwemmtes Treibholz wird als Zeichen für die Verbindung zur siedlungsfernen Natur interpretiert.90 Sehnsucht nach Freiheit analog zur oben genannten Rousseauischen bzw. frühromantischen Denkweise kann vorzugsweise an den dynamischen91 Flussabschnitten erlebt werden. Denn diese symbolisieren die Freiheit und Individualität der Wildnis als Gegenwelt zur Kultur mehr, als die für jeden erkennbar korrigierten und verbauten Abschnitte. Gesucht wird diese Wildnis im unmittelbaren Erleben wie beim Schwimmen und Bootfahren. Die Wahrnehmung kann sich aber auch distanziert aus der Perspektive eines Spaziergängers vollziehen: Der wilde Flusslauf mit seinen sich wandelnden Uferformationen ist – besonders bei Hochwasser – Ort der ästhetischen Empfindung dynamischer Erhabenheit oder er wird als schauerlich empfunden.
Abb. 7: Wildfluss in der Stadt (Foto: H. Matzke) 90 | Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung des Kontrastes von Stadt und Wildfluss ist die große Beliebtheit des Nationalparks Donauauen bei Wien. 91 | Dass es vor allem in den Städten dynamische Flussabschnitte nur noch gibt, wenn redynamisiert wurde, es sich also nicht um natürliche (›primäre‹) Wildflüsse handelt, ist für unsere Analyse der Sehnsucht nach Wildnis nicht relevant. Denn für diese kommt es nur darauf an, dass Dynamik erlebt und als Wildnis gedeutet wird, nicht wie sie entstanden ist.
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Der Wildnistyp Wildfluss zeichnet sich aufgrund des fließenden Wassers durch eigenständige Veränderlichkeit aus, die ambivalent als willkommen frei und unreglementiert oder aber bedrohlich unkontrollierbar und unvorhersehbar aufgefasst werden kann. In der heutigen Freizeitkultur tritt sowohl im unmittelbaren sportlichen Erleben als auch im ästhetischen Betrachten meist die positive Bedeutung in den Vordergrund, auch wenn der gefahrvolle Nervenkitzel am Wildfluss gesucht wird.
Stadtbrachen Zwischen Wildnis und Stadt gibt es vielerlei Bedeutungsbeziehungen: bestimmte Wälder, z.B. der Sihlwald im Ballungsraum Zürich, oder auch Ruderalvegetation und Wildtiere in der Stadt werden als Stadtwildnis thematisiert. Stadt kann auch selbst als Wildnis – als Asphaltdschungel oder Betonwüste – aufgefasst werden.92 In der Freizeitkultur ist Stadtwildnis vor allem in Form von Brachen interessant. Stadtbrachen sind temporäre Inseln im städtischen Raum, die zwischen einer ehemaligen und einer zukünftigen Nutzung liegen, Niemandsland ohne erkennbare Widmung. Sie sind ein eigener Wildnistyp, bei dem nicht – wie bei Berg, Dschungel und Wildfluss – vorrangig Ursprünglichkeit wesentlich ist, sondern positiv oder negativ bewertete Verwilderung, der Zerfall von Ordnung bzw. Kultur mitten in der Stadt. Stadtbrachen werden sowohl durch ungehinderte Vegetationsentwicklung als auch durch bestimmte Nutzungen zu Wildnis. Ein Unterschied zu anderen Wildnistypen besteht darin, dass hier Stadt die Voraussetzung dieser Natur ist. Die Natur auf der Brache kann deshalb gering geschätzt werden, was sowohl ihre Ablehnung als auch ihre bedenkenlose Aneignung begründen kann, oder sie ist als »Spiegel ehemaliger und gegenwärtiger Nutzungen«93 positives Symbol für die Geschichte und Vielgestaltigkeit der Stadt. In beiden Fällen jedoch ist Wildnis Teil der Stadt. Wesentlicher Bestandteil ihrer Bedeutungen als Wildnis ist auch, dass ihre Nutzungen – so stellen wir es uns zumindest gerne vor – regelwidriger, anrüchiger und geheimer Art sind. Vor allem bevölkern Kinder und Jugendliche als ›Wilde‹ unsere Vorstellung von Stadtwildnis. Sie klettern über Zäune, um alleine zu sein oder um sich mit anderen zu treffen: zum Herumstreunen, Hüttenbauen, Rauchen, Knutschen etc. Sie nutzen Stadtbrachen als »Spielräume, Rückzugsgebiete und Räume des Sich-Erprobens«.94 Auch Erwachsene nutzen die Stadtbrache zum Hunde ausführen, Grillen und Spazierengehen (siehe Abb. 8) oder begeben sich auf Entdeckungsreise entlang der Spuren vergangener Kultur und aktueller Aneignung. Die Formen der Aneig92 | Siehe hierzu Vicenzotti 2011. 93 | Dinnebier 1991: 94. 94 | Diemer, Held & Hofmeister 2004: 268.
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nung sind unterschiedlich; gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie sich mitten in der Stadt, aber abseits der dem Aufenthalt gewidmeten öffentlichen Räume abspielen.
Abb. 8: Spaziergang auf der Stadtbrache (Foto: A. Voigt) Ob die Stadtbrache willkommen oder zu bekämpfen ist, ist von der Perspektive des Betrachters und den für ihn mit Verwilderung verbundenen Bedeutungen abhängig. Stadtbrachen werden negativ mit Unkultiviertheit, Unkraut, Abfall und Gefahr oder auch mit wirtschaftlichem und sozialem Abstieg, Peripherisierung und Bedeutungsverlust der eigenen Heimat assoziiert.95 Diese Deutungen stimmen mit den Bedeutungen von Wildnis im Liberalismus als Symbol für Mangel an Vernunft überein, wobei die Stadtbrache allerdings nicht die noch nicht verwertete, sondern die nicht mehr verwertete Natur bzw. Fläche ist. Solche negativen Bewertungen spielen bei ihrer Nutzung in der Freizeit jedoch kaum eine Rolle. Beim Diskurs über diese Nutzung finden sich fast ausschließlich positive, jedoch unterschiedliche Bedeutungen von Wildnis. In der Bedeutung von Wildnis als das von zivilisatorischer Deformation freie Naiv-Gute, wie Rousseau sie formuliert hat und wie sie transformiert in diversen Alternativbewegungen zu finden ist, sind Stadtbrachen »Freiräume, für natürliche Prozesse ebenso wie für die subversive Aneignung«.96 Sie 95 | Vgl. Ungeheuer 1996: 857; Rink 2006: 500. 96 | Diemer, Held & Hofmeister 2004: 268.
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können – ähnlich wie die Abenteuerspielplätze der 1970/80er Jahre – als für Kinder geeignete Orte der Freiheit von Regeln und Kontrolle interpretiert werden, die wildes Spiel, emanzipatorisches Lernen und freie Entfaltung der Kreativität ermöglichen. Im Gegensatz zu konventionellen Spielplätzen ermöglichen sie – folgt man den entsprechenden pädagogischen Konzepten – auch besondere Abenteuer: »Denn das ist nicht das gleiche: Spielen im vorbereiteten und gefilterten Erfahrungsausschnitt – oder Spielen in der kalten, rauhen, reichen, leidenschaftlichen, unfaßbaren Umwelt«.97 Die Stadtbrache symbolisiert hier, wie bei Rousseau die ursprüngliche Wildnis, positiv das natürliche Gute und Vernünftige im Menschen. Gerade dort können die Kinder – so die pädagogische Idee – sich durch möglichst freie Aneignung zu mündigen Bürgern entwickeln. Erwachsene erfreuen sich an Stadtbrachen als Orten der Freiheit von Zwängen der Zivilisation. »Wo niemand mehr ›Ordnung schafft‹ fühlt man sich entlastet und frei.«98 Spätestens hier mischt sich Rousseaus Ideal der ›Freiheit aus Natur‹ mit der konservativen Fortschrittskritik – oder auch mit einer antikapitalistischen Haltung. »Die Abwesenheit jeglicher Nutzungen, das ›dräuende Nichts‹ bevor Investoren und Stadtgestalter zuschlagen, macht den Charme solcher ›unaufgeräumter Orte‹ aus«.99 Das Fehlen von Ordnung, Funktion und Verwertung führe zur Entwicklung von Kreativität: »Diese zerrütteten Räume markieren Bruchstellen im Gesellschaftsgefüge – sie bilden die notwendigen Lücken, um individuelle und gesellschaftliche Verengungen und rigide Kategorisierungen zu durchqueren, indem freies, experimentelles Denken möglich wird.«100 Die Sichtweise der Stadtbrache als das ›Andere‹ der Stadt, als ruhige, selbstvergessene »Oase in der tosenden Metropole«101 lässt sich romantisch interpretieren: Die Stadtbrache ist ein Ort, der dem modernen Stadtmenschen für kurze Zeit das ›Vagieren der Empfindungen‹ und die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die eigene Kindheit ermöglicht. Auf der Stadtbrache erobert sich Natur ihr Terrain zurück und überwuchert die zerfallenden Ruinen des technischen Fortschritts. Diese Rückeroberung mahnt zur Demut vor der Natur und gibt zugleich Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft. In dieser konservativ-zivilisationskritischen Deutung steht die höhere Ordnung des Natürlichen gegen die Partikularität menschlicher Interessen, für die Vergänglichkeit jeglicher Kultur und damit insgesamt gegen menschliche Ordnung.102
97 | Schulz-Dornburg et al. 1972: 14. 98 | Klinger 2008: o.S. 99 | Ebd. 100 | Schaub 2008: o.S. 101 | Dinnebier 1991: 90. 102 | Eisel, Bernard & Trepl 1998.
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Auf der Brache mischt sich Natur mit verfallender, entwerteter Kultur. Relikte verschiedener früherer Nutzungen und Spuren von Besuchern (Abfall, Graffitis, Feuerstellen etc.) unterliegen dem Zerfall und der Überwucherung. Daher erzählt die Brache nicht eine, sondern viele verschiedene, fragmentarische und ephemere Geschichten, was größtmögliche Freiheit für phantasievolle Aneignung bedeutet.103 In dieser Sicht ermöglicht Stadtwildnis Freiheit der Deutung und damit auch die Möglichkeit, Orte neu zu definieren.
Abb. 9: Schöneberger Südgelände (Foto: H. Janssen)
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Stadtbrachen werden meist illegal und im Verborgenen genutzt. Es gibt jedoch durchaus Trends zur legalen Aneignung, z.B. als ›offizielle‹ Naturerfahrungsräume für Kinder.104 Zudem werden Stadtbrachen aufgrund ihres Wertes für Naturschutz und Erholung in die städtische Planung integriert. Vor allem in Berlin wurde nach dem Fall der Mauer vermehrt der Schutz städtischer Wildnisbereiche gefordert, da viele Brachen infolge der neuen städtischen Anforderungen bebaut wurden. Mit der Umwandlung des ›Schöneberger Südgeländes‹, eines ehemaligen Bahngeländes, das seit 50 Jahren nicht genutzt worden war, in einen ›Natur-Park‹ Ende der 1990er Jahre, wurde die Brachflächennatur einer zuvor verborgenen und nur für Abenteuerlustige erreichbaren Stadtwildnis vor baulicher Nutzung gesichert und zugleich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (siehe Abb. 9).105 Sie ist nun mit Kunst, Wegeleitsystem und vielerlei umweltpädagogischen Belehrungen ausgestattet und kann zu den Öffnungszeiten für 1 € Eintrittspreis besucht werden. Bei diesen Formen der Umwidmung und -gestaltung von Stadtbrachen stellt sich die Frage, ob sie einen Wildnischarakter zu erhalten vermögen – wie es sich die Bürgerinitiative und Planer erhofften – oder ob sie ihn gerade zerstören. Die Antwort hängt davon ab, welche Bedeutung von Wildnis man in den Blick nimmt.
F A ZIT Unser Ausgangspunkt war die offenkundige Sehnsucht nach Wildnis, die sich im Trend zur Wildnis in der heutigen naturbezogenen Freizeitkultur zeigt. Wir haben dargelegt, dass es die Wildnis nicht gab und nicht gibt, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher Bedeutungen und verschiedener Formen von Wildnis. Welche Bedeutung Wildnis jeweils hat, hängt wesentlich vom zugrundeliegenden Weltbild ab und lässt sich nicht unabhängig von einem Rückblick auf die Ideengeschichte der Wildnis verstehen. Wildnis fungiert in den jeweiligen Auffassungen stets, aber nicht immer ausschließlich, als Gegenwelt zu je einem bestimmten kulturellen Ordnungsprinzip: So wurde sie im archaischen Naturverhältnis als ambivalente Gegenwelt zum profanen Leben und im Mittelalter weitgehend als böse Gegenwelt zur christlichen Ordnung verstanden. Mit der Aufklärung wurde sie zunächst – außerordentlich wirkmächtig – positiv umgedeutet und als Gegenwelt zum Absolutismus idealisiert. In der demokratietheoretischen Aufklärung avancierte sie zur ästhetischen Gegenwelt, die im Erhabenheitsgefühl der individuellen 104 | Siehe zum Beispiel das Projekt Wildnis für Kinder auf innerstädtischen Brachflächen im Ruhrgebiet (Heuser 2007). 105 | Grün Berlin GmbH 2011.
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Bestätigung des Subjektes dient, während sie im Liberalismus als etwas galt und gilt, was einer materiellen Nutzung durch Erobern und Kolonisieren zuzuführen sei. Aufklärungskritisch wird Wildnis als Gegenwelt zur Zivilisation aufgefasst und zumindest vordergründig positiv gedeutet, wenngleich in der romantischen Auffassung eine nie erfüllbare Sehnsucht nach Wildnis besteht, die ambivalente Züge aufweist. Unser kulturelles Gedächtnis ist augenscheinlich von solch unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Wildnisideen geprägt. Denn wie wir an den Wildnistypen Berg, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache gezeigt haben, hat in der aktuellen Freizeitkultur, je nach Situation und Kontext, Wildnis Bedeutungen, die oftmals denen ähneln, die wir im Kapitel zur Ideengeschichte beschrieben haben. So erscheint Wildnis auch gegenwärtig z.B. als Ort der Erfahrung von Erhabenheit, von Ursprünglichkeit, von Zerrissenheit oder als Ort der Symbolisierung von Triebhaftigkeit. Der Wildnistyp Berg bietet, neben dem ästhetischen Erlebnis der Ferne, die Herausforderung, Grenzsituationen sowohl geistig als auch körperlich zu bewältigen. Der Dschungel ermöglicht es, sich seiner Triebe und Instinkte zu versichern. Der Wildfluss steht für eine sich selbst dynamisch verändernde Wildnis, deren bedrohliche Naturgewalt ›durchschaut‹ und körperlich bezwungen wird oder zum distanzierten Erlebnis von dynamischer Erhabenheit veranlasst. Die Stadtbrache ist eine Wildnis, die Freiheit zu verschiedenen Deutungen bietet – vor allem jedoch als Ort der Verwilderung erscheint. Unsere Untersuchungen lassen erkennen, dass sich die aktuelle Sehnsucht nach Wildnis wesentlich aus dem Wunsch nach einer Gegenwelt zu einer zunehmend als reglementiert erlebten gesellschaftlichen Realität speist. Deutlich geworden ist zudem, dass in der aktuellen Freizeitkultur das unmittelbare körperliche Erleben wilder Natur hohe Bedeutung erlangt hat und dabei die von Wildnis ausgehenden Gefahren oftmals nicht als Bedrohung, sondern als positiver Reiz angesehen werden. Das sinnliche Erleben von Wildnis, das mit aufklärungskritischen Ideen bedeutsam wurde, scheint heutzutage gegenüber distanziert-visuellen Wildniserfahrungen weiter an Bedeutung zu gewinnen. Dabei ist als neuartige Komponente auszumachen, dass nicht nur die körperliche Distanz zu wilder Natur bewusst immer weiter aufgegeben wird, sondern immer häufiger auch der gefahrlose Standpunkt. Allerdings wird oftmals, sei es in der Vermarktung von Wildnis für die Freizeitkultur, sei es durch den ›Wildnissuchenden‹ selbst, von einem kalkulierbaren Risiko ausgegangen, das gemeistert werden kann. Durch diese vermeintliche Sicherheit wird eine erneute Distanz aufgebaut, wobei offen bleibt, wie weit diese beim Erleben einer bedrohlichen Gegenwelt trägt.
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So fassen Ulrich Ammer und Ulrike Pröbstl 1991 in ihrem Buch Freizeit und Natur die »besondere Rolle des Waldes«2 innerhalb der (Freizeit-)Landschaft zusammen. Dass solche Zuschreibungen eines semantischen Überschusses nach wie vor aktuell sind – wenn auch Transformationen unterworfen –, wird sich später zeigen. Die Leitmotive für den Besuch des Waldes, so Ammer und Pröbstl, seien »gut untersucht«.3 Zuordnen ließen sie sich zum einen dem »physischen Feld«. Gesucht würden Ruhe, saubere Luft und ein wohltuendes Binnenklima sowie die Möglichkeit von Aktivitäten wie Spazierengehen und Wandern. Zum anderen gehörten sie zum »psychischen Feld«. Dazu zähle vor allem der Naturgenuss. Dieser sei besonders abhängig davon, ob bestimmte, seit gut 200 Jahren tradierte Waldbilder angetroffen würden. Weitere psychische Motive seien die Selbstreflexion und die Suche nach einem »Gefühl persönlicher Freiheit« bzw. das »Bedürfnis, der Zivilisation zu entfliehen«. So ist dann auch die Verbindung von Authentizität und Natürlichkeit mit Wald wesentlicher Bestandteil des an ihm wahrgenommenen Bedeutungsüber1 | Ammer & Pröbstl 1991: 36. 2 | Ebd.: 34. 3 | Alle Zitate dieses Absatzes: ebd.: 34f.
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schusses. Diese Motive und Assoziationen sind im deutschen Sprachraum und Skandinavien feste Bestandteile der gesellschaftlichen Naturverhältnisse.4 Im übrigen (nördlichen) Europa – wie auch in Nordamerika – stellt sich das häufig anders dar.5 Allerdings kommt 2005 die European Sector Outlook Study der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis, dass Wälder als hochwertige Freizeit-, Erlebnis- und Erholungsräume zunehmend in ganz Europa gefragt seien.6 Erwartungen von Selbstreflexion und dem Erleben von Freiheit markieren den Wald als Ort der Selbstfindung. Nach wie vor ist hier offenbar etwas wirksam, das Orvar Löfgren als im 19. Jahrhundert entstehende bürgerliche »Naturmystik«7 bezeichnet hat. Ich möchte diese zu Beginn nachzeichnen, um anschließend ihre Kontinuitäten und Transformationen, aber auch Brüche zu behandeln. Dabei konzentriere ich mich auf drei aktuell dominante Diskurse bzw. diskursive Praktiken und beschäftige mich mit der Bedeutung des Waldes als Raum ›erlebter Nachhaltigkeit‹. Das folgende Kapitel durchmisst den Wald als Raum ›gesunder Selbstmodellierung‹ durch Aktivitäten wie Jogging und Mountainbiking. Abschließend wird es um Formen der Inwertsetzung dieser Freizeitlandschaft gehen, sei es im heimischen Stadtwald, beim standardisierten Urlaubsabenteuer im tropischen Dschungel oder im simulierten Dschungel künstlicher Biosphären mitten in Europa. Zunächst aber kurz etwas zur theoretischen Fundierung meines Begriffes von (Natur-)Räumen. Naturräume sind stets gesellschaftliche Konstruktionen: durch Handlung oder Wahrnehmung. Und sie wirken – gemäß der Dualität von Raumstrukturen nach Martina Löw – auf Wahrnehmungen und Handlungen zurück.8 Man kann diese Räume mit Christoph Görg, der sich auf Adornos Negative Dialektik stützt, als etwas ›Drittes‹ zwischen Natur und Gesellschaft bezeichnen, als etwas dialektisch vermitteltes Zusammengesetztes, als Ergebnis historischer Prozesse, das auf seinen Herrschaftsgehalt analysiert werden muss.9 4 | Der Wald als deutscher Mythos ist häufiger untersucht worden. Zuletzt hat AnnKatrin Thomm die Facetten dieses Mythos nachgezeichnet: seine Entstehung in der Malerei und Literatur der Romantik (Thomm 2009: 11f.), seine nationalen Aufladungen seit dem 19. Jahrhundert und Politisierung und Ethnisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (ebd.: 20f.), seine touristische Konstruktion besonders seit den 1950er, seine Rolle in den Umweltdebatten seit den 1980er Jahren (ebd.: 23f.). Zu Skandinavien vgl. Löfgren 1986. 5 | Zur traditionellen mediterranen Waldfeindlichkeit (die allerdings längst Änderungen unterliege) vgl. Johler 2000. Zu Nordamerika vgl. Schama 1996 und Kaufmann 2005. 6 | United Nations Economic Commission for Europe 2005 zitiert nach Holthausen & Roschewitz 2007: 26. 7 | Löfgren 1986: 126. 8 | Löw 2001. 9 | Görg 2003: 52f.
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Räume, so kann man Löws Ansatz ergänzen, sind immer auch Bilder. Sie bilden die Rahmen für Erfahrungen, für den leiblichen Nachvollzug diskursiv und medial vermittelter gesellschaftlicher Normen und Kategorien.10 Räume als Bilder haben aber desgleichen Vor-Bilder, die die Wahrnehmungen vorstrukturieren und an denen sich die aufgesuchten Räume messen lassen müssen. Für Wälder sind solche Vor-Bilder aktuell Reiseliteratur, Literatur zu Naturschutzgebieten und Biotoptypen, Fernsehsendungen, Werbung usw. und nicht zuletzt die Landschaftsgemälde der Romantik. Wie lassen sich Vor-Bilder näher beschreiben? Antje Schlottmann spricht in diesem Kontext von einem Zusammenspiel von Semantik und Somatik, von »[k]inästhetische[n] Effekte[n]«, von einem direkten körperlichen Erfahren der Inhalte etwa von Werbefotos durch die Betrachter/-innen; alles Sichtbare, schreibt sie mit Bezug auf Maurice Merleau-Ponty, ließe sich leiblich »einkörpern« und so sinnlich erleben.11 Dieses Erleben lässt sich wiederum – etwa im Wald – reproduzieren.12 Das Erleben des Raums hat aber eine weitere wesentliche Dimension, die des »kollektiven Gedächtnisses«13 . Historische Wahrnehmungen bzw. Konstruktionen von unterschiedlichen Wald- oder Forstformationen, fixiert in Gemälden, Erzählungen etc., werden zu Bestandteilen dieses Gedächtnisses. Nach Maurice Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis immer auch ein räumlich eingebettetes. Es schließe alle Sinne ein,14 betrifft also auch Geräusche, Gerüche, Taktiles usw. Halbwachs analysiert das kollektive Gedächtnis als veränderliche soziale Konstruktion, die abhängig ist von historisch veränderten sozialen Rahmenbedingungen und jeweils gegenwärtigen Bedürfnissen einzelner Gruppen.15 Es existiert also eigentlich im Plural. Zugleich aber gibt es dominante Perspektiven; im vorliegenden Fall die bürgerliche. So verweist Albrecht Lehmann auf das »bis heute vorherrschende romantische Landschaftsbewußtsein«.16
10 | Vgl. Termeer 2005. 11 | Schlottmann 2010: 76ff. 12 | Vgl. dazu Kapitel »Das ›präventive Selbst‹ ganz bei sich: Wald als Raum ›gesunder Selbstmodellierung‹«. 13 | Halbwachs 1925/1985: 199. 14 | Halbwachs 1939/1967: 140. 15 | Halbwachs 1925/1985: 231. 16 | Lehmann 2003: 156.
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D AS S UBJEK T GANZ BEI SICH SELBST : W ALD IN DER › BÜRGERLICHEN N ATURMYSTIK‹ »Das bürgerliche Ideal der Natürlichkeit meint nicht die amorphe Natur, sondern die Tugend der Mitte. Promiskuität und Askese, Überfluß und Hunger sind trotz der Gegensätzlichkeit unmittelbar identisch als Mächte der Auflösung.« 17
Was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung als bürgerliches Ideal bezeichnet haben, grundiert offenbar auch die wesentlichen Assoziationen zum Begriff Wald, wie sie nach Ammer und Pröbstl in Umfragen der 1970er und 80er Jahre deutlich werden: Betont würden Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, was aber ausdrücklich nicht das Amorphe eines Urwaldes meine. Abgelehnt würde ebenso die Askese des Holzackers: »Unnatürlich wirkt [...] ein monoton aufgebauter Bestand in Reihen, aus einer Baumart und mit linearen Bestandsgrenzen. Trotzdem ist der ideale Erholungswald kein Urwald! Im Gegenteil, Naturwaldreservate mit hohem Totholzanteil werden als unordentlich und unästhetisch empfunden. Eine intensive Waldpflege wird also von den Waldbesuchern ausdrücklich begrüßt; sie sollte aber so erfolgen, daß sie nicht auffällt«.18 Das Gesagte entspricht dann auch der bürgerlichen »Genußlandschaft«19 , wie sie nach Löfgren im Laufe des 19. Jahrhunderts als Ort einer neuen, bürgerlichen »Naturmystik« entsteht, einer »Freizeitlandschaft«, die keine »Produktionslandschaft« sein darf; zumindest keine sichtbare.20 Löfgren verweist auf den mehrdimensionalen und in sich selbst widersprüchlichen Naturbegriff der Industriegesellschaft. Auf Basis dieses Begriffs komme es zu einer paradoxen Aufspaltung der Landschaft in eine Produktionslandschaft und eine Genusslandschaft. Merkmale der urbanisierten und industrialisierten Produktionslandschaft seien Kalkül, Profit, Rationalität. Hier sei die Natur eine auszubeutende. In der Freizeit- bzw. Genusslandschaft dagegen fungiere die Natur als vorgeblich freie, als »kompensatorische Sphäre«21 menschlicher ›Ganzheit‹, als harmonisches, rekreatives Reservat des Auslebens der Gefühle. Hier werde die äußere Natur zu etwas widersprüchlich Heimischem in einer »kulturellen Spannung« zwischen der Abscheu vor einer unkontrollierten Natur und der Faszination einer »Verkörperung des Ungekünstelten«.22 Basis dieses Heimischen ist eine vollständig geordnete Natur mit einer taxonomierten und decodierten Flora und Fauna. Damit einher geht eine Dezimierung unerwünschter, 17 | Horkheimer & Adorno 1998: 37f. 18 | Ammer & Pröbstl 1991: 37. 19 | Löfgren 1986: 135. 20 | Ebd.: 126f. 21 | Ebd.: 130f. 22 | Ebd.: 143f.
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als räuberisch definierter Arten. Die verbliebenen erwünschten Arten, wie Rehe oder Singvögel, werden vermenschlicht zwischen romantischer und sentimentaler Überhöhung und moralischer Berufungsinstanz.23 Die domestizierte Natur werde damit auf eine Weise ›natürlich‹, dass sich der Bürger in ihr ganz bei sich selbst fühle: »Das Bürgertum betrachtet sein Gefühl für die Natur als das natürliche Gefühl.«24 Im deutschen Sprachraum kommt es seit dem 18. Jahrhundert zu einer spezifischen wechselseitigen Durchdringung von Ökonomisierung und Ästhetisierung, von ›Nachhaltigkeit‹25 und Forstästhetik. Das Prinzip der ›Nachhaltigkeit‹, nur so viel zu ernten, wie nachwächst, führt im absolutistischen Staat aber nicht nur zu großflächigen Wiederaufforstungen. Ebenso werden ›unordentliche‹ und ›unproduktive‹ Wälder – ›Wildnisse‹ wie auch traditionelle Wirtschaftswälder, etwa Plenter- oder Niederwälder, die aus heutiger Sicht eine gute Ökobilanz haben, systematisch in einer rationalisierten Landschaft beseitigt. Der nun ›nachhaltige‹ Wald ist geregelter Forst, taxierbar, klassifizierbar, kalkulierbar, auf Gleichmaß gebracht: Altersklassenwald (gleich alte, große, dicke Bäume), Normalwald (genetisch homogen, artenarm), Hochwald.26 Zeitgleich beginnt die Entdeckung einer neuen Erhabenheit: Gotische Dome werden als ›Wälder‹ wahrgenommen, Hochwälder, vor allem Buchenbestände, als ›Dome‹. Das korrespondiert noch mit dem Schlusswald-Konzept des forstökologischen Mainstreams des 20. Jahrhunderts. Als naturnah und artenreich erscheint hier nur der alte, ausgereifte (Hoch-)Wald, ein Gleichgewichtszustand, den das Ökosystem in der Sukzession schnellstmöglich erreichen soll. Jede Abweichung in dieser zielgerichteten Entwicklung gilt als waldbaulich zu überbrückende Katastrophe.27 Mit der Einführung des geregelten Forstes einher geht die Forstästhetik, denn auch ›Waldbilder‹ sind eine Basis forstlichen Denkens. So werden gefällige Waldwege oder Laubholzkulissen für Nadelholzmonokulturen gefordert, teils Prinzipien nach dem Vor-Bild des Landschaftsgartens angewandt. Und schon im 19. Jahrhundert erhalten die neuen Kunstwälder dann auch Wohlfahrts- und Kulturfunktionen als ›moralische Anstalten‹, ähnlich Theatern oder Museen zugesprochen.28 Der heutige Nachhaltigkeits-Diskurs führt dies in gewisser Weise fort. Das soll im nächsten Kapitel thematisiert werden. Im Freizeitraum Wald findet sich heute eine ganze Reihe von übereinander geschichteten Bedeutungsebenen. Der Wald ist noch immer vor allem ein alltäg23 | Vgl. ebd.: 143. 24 | Ebd.: 131. 25 | Der Begriff wurde erstmals 1713 von Hans von Carlowitz erwähnt. 26 | Vgl. Termeer 2005: 369 ff; vgl. Kaufmann 2004: 174f. 27 | Vgl. Termeer 2005: 516ff. 28 | Vgl. ebd.: 363f., 594f.
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licher Ort des Spazierengehens und Wanderns – und damit der selbstverständlichen Fortführung einer »bürgerlichen Praktik«29 der Naturaneignung seit Ende des 18. Jahrhunderts. Hierzu gehören auch verschiedene Formen der Naturbeobachtung, der Suche nach (vermeintlicher) Authentizität, die ja auch ein neues und gesteigertes Interesse an dieser Natur befördert hat – insbesondere im Kontext eines heute verbreiteten ökologischen Bewusstseins. Und gemäß diesem veränderten Bewusstsein bleibt das bürgerliche Subjekt inzwischen auch häufig ganz bei sich selbst, wenn Wälder nicht mehr so aufgeräumt sind, wie das noch 1991 bei Ammer und Pröbstl als erwünscht erschien. Vielmehr werden heute Nationalparks wie im Harz oder im Bayerischen Wald gerade wegen ihrer vermeintlichen Urwaldähnlichkeit touristisch aufgesucht.30
N ACHHALTIGKEIT ERLEBEN : W ALD ALS MOR ALISCHE A NSTALT UND B ILDUNGSL ANDSCHAF T »Mensch und Natur – im Wald gehen sie eine symbiotische Beziehung ein. Der Wald ist ein Erlebnisraum, in dem eine nachhaltige Entwicklung mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann.« 31
So lautet das Credo des von Markus Hirschmann und Elisabeth Marie Mars herausgegeben Buches Der Wald in uns. Entwickelt werden darin verschiedene Formen einer kreativen Vermittlung von ›Nachhaltigkeit‹. In solchen Darstellungen entsteht das emphatische Bild einer Natur, von der ›wir‹ lernen können. Dass der Wald, der heimische zumal, eine umfassende – also materielle wie diskursive – gesellschaftliche Konstruktion ist, wird hier offenbar nicht reflektiert. Dabei hat das Forstwesen selbst stets betont, dass es sich bei seinem Wald, seiner ›Holzzucht‹, wie es im 19. Jahrhundert hieß, um Kultur und nicht um Natur im Sinn einer freien Entfaltung handelt.32 Zu lernen wäre hier also nicht von der Natur, sondern gemäß der gesellschaftlichen Naturverhältnisse von bestimmten Präsentationen von Natur. In Zeiten globaler Klimaveränderungen und Umweltzerstörungen erscheint ein Umdenken ebenso vernünftig wie moralisch geboten. Die ihm schon im 19. Jahrhundert zugesprochene Rolle einer moralischen Anstalt hat der Wald noch immer – zum Teil in den alten, aber auch in neuen Begründungszusammen29 | König 1996: im Untertitel. 30 | Zum Nationalpark Harz vgl. Lehmann 1999: 59f. Vgl. auch Kapitel »Inwertsetzung, standardisiertes Abenteuer, Hyperrealität: Wald als gemanagte Bühne« zum Tourismus im tropischen Wald. 31 | Hirschmann & Mars 2008. 32 | Termeer 2005: 308.
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hängen: etwa der Zukunft des Planeten als eine Welt oder der ›Generationengerechtigkeit‹ usw. Er wird so zum Medium, das einen Idealzustand vermitteln soll, den es in weiten Teilen der Gesellschaft noch zu erreichen gelte. Der ›nachhaltig‹ bewirtschaftete Wald wird so selbst zum Vor-Bild, soll er doch sichtbar machen, was ein stabiles Ökosystem (auch stellvertretend für den ganzen Planeten) ist und wie auf diese Weise die Ressourcen auch noch kommenden Generationen zur Verfügung stehen. In diesem Kontext wird der Wald buchstäblich zum Raum ›erlebbarer Nachhaltigkeit‹ bzw. im Negativfall auch von deren Abwesenheit. Freizeit, Erholung und Pädagogik gehen hier ineinander über. So gibt es inzwischen eine Vielzahl von Programmen und Publikationen, die »Nachhaltigkeitsstrategien als didaktische Orientierung am Beispiel des Umgangs mit dem Wald«33 thematisieren und praktisch umsetzen, so z.B. in Waldkindergärten. Auch Lehr- und Erlebnispfade oder Schautafeln zur vorhandenen Flora und Fauna gehören in diesen Zusammenhang. Rainer Brämer zufolge erscheinen solche pädagogischen Bemühungen als dringend notwendig.34 Seinem Jugendnaturreport 2006 hat er den Titel Natur obskur gegeben, da er unter den von ihm befragten Schüler/-innen der sechsten und neunten Klasse eine zunehmende Naturentfremdung durch Hinwendung zu Computer(-spielen) und Fernsehen festgestellt habe.35 Zudem könnten fast 90 Prozent der Befragten nicht oder kaum sagen, was ›Nachhaltigkeit‹ bedeute.36 Es fällt allerdings auf, dass der Begriff der Nachhaltigkeit bei Brämer offenbar als fraglos selbstverständlich vorausgesetzt wird. Das ist aber, wie ich nun zeigen möchte, nicht der Fall. »Es besteht unhintergehbar eine Pluralität gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die jedoch – insbesondere unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen – von Dominanzverhältnissen geprägt ist«,37 schreiben Ulrich Brand und Christoph Görg. Das Gesagte schließt auch unterschiedlich Begriffe der ›Nachhaltigkeit‹ ein. Das Leitbild der kameralistischen deutschen Forstwirtschaft kehrt Ende des 20. Jahrhunderts modernisiert als Sustainable Development zurück und wird zum Leitbild der Ökobewegung. Im Gegensatz zur klassischen Nachhaltigkeit wird nun mit den drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales der Anspruch der Artenvielfalt und der sozialen Entwicklung betont. Zugleich zeigen sich die hier dominierenden Konzepte allerdings meist als technokratisch-hierarchisches Eingreifen der Industrienationen in die Sozialstrukturen
33 | Stoltenberg 2009: 164. 34 | Vgl. Brämer 2006: 18. 35 | Ebd.: 8f. 36 | Ebd.: 13. 37 | Brand & Görg 2003: 18.
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und Lebensweisen der ›Dritten Welt‹, die gemäß eines »ökologisch modernisierten westlichen Modells« transformiert werden sollen.38 Die Widersprüche zwischen dem Drei-Säulen-Anspruch und einem technokratischen Management entsprechen der Widersprüchlichkeit der ›Nachhaltigkeits‹-Diskurse. Es lassen sich idealtypisch zwei jeweils in sich heterogene ›Nachhaltigkeits‹-Diskurse unterscheiden: hegemoniale und nicht-hegemoniale. Letztere – zu ihnen zählen auch dezidiert linke und ökofeministische Positionen mit ihrer »radikale[n] Kritik am kapitalistischen Modell«39 – entstammen postmaterialistischen Diskursen. Erstere – Brundtland Report 1987, WeltbankAnsatz, Rio-Konferenz 1992, Agenda 21 – reproduzieren die herrschenden »Strukturen des industrialisierten Gesellschaftsmodells, wenngleich ökologisch reformiert«.40 Entstanden sind beide Positionen seit dem Ende der 1970er Jahre mit der Krise der fordistischen Produktionsweise – Massenproduktion und Massenkonsum auf Basis eines ungebremsten Ressourcenverbrauchs –, die sie mit der ökologischen Krise identifizierten. Der Nachhaltigkeitsbegriff dient, begünstigt vom Changieren zwischen hegemonialen und nicht-hegemonialen Positionen, neuen Legitimationen des Kapitalismus. Dessen »neue[r] Geist«, so Luc Boltanski und Eve Chiapello speise sich aus absorbierter postmaterialistischer Kritik.41 Und so, wie nun ›flache Hierarchien‹, ›Vernetzungen‹, ›Selbstorganisation‹, ›Authentizität‹, ›projektbasiertes‹ Arbeiten, ›Selbstverwirklichung‹ propagiert werden,42 wandelt sich die Systemkritik am ›Wachstumsfetischismus‹ zur ›grünen Marktwirtschaft‹. Wechselseitig verbunden ist das mit aktuellen Lebensstil-Postulaten. »Der [vor knapp 30 Jahren] noch oppositionelle und gegenkulturelle Diskurs um neue Lebensstile« habe nun »hoch offiziellen Charakter«, so Karl-Werner Brand. Im Fokus stünden so nicht mehr Systemkritik, sondern »[s]chmerzlose Anschlussmöglichkeiten, win-win-Optionen«.43 ›Nachhaltigkeit‹ als Lebensstil dient längst überwiegend einer gehobenen Mittelschicht als »kulturelles Kapital«44 , wobei ›guter Geschmack‹ und Moral eine habituelle Einheit bilden. Dem Distinktionsgewinn der Mittelschichten dienen dann auch etwa der Ökotourismus im tropischen Regenwald oder ihre Wissensbestände um ökologische Zusammenhänge in der heimischen Land38 | Kaufmann 2004: 176f. 39 | Dingler 2003: 382. 40 | Ebd.: 314. 41 | Boltanski & Chiapello 2003. 42 | Vgl. ebd. 43 | Brand 2002: 201. 44 | Bourdieu 1994. Als »kulturelles Kapital« bezeichnet Pierre Bourdieu klassen- bzw. schichtenspezifische Wissens- und Erfahrungsbestände, die sich im Habitus reproduzieren und als sozial nützlich erweisen.
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schaft. Die Mittelschichtsfixierung lässt sich auch der Sinus-Milieu-Studie von 2007 zu Waldeinstellungen in Deutschland entnehmen. Danach haben circa 40 Prozent der Erwachsenen eine enge Bindung an den Wald. Neben den Konservativen sind das vor allem die modernen, postmaterialistischen Mittelschichten – also mutmaßlich jene Gruppen, deren Kinder auch häufiger Waldkindergärten besuchen dürften. Postmoderne Milieus hingegen sehen den Wald als Kulisse individualisierter Freizeitaktivitäten.45 Unter anderem darum wird es im nächsten Kapitel gehen.
D AS › PR ÄVENTIVE S ELBST‹ GANZ BEI SICH : WALD ALS R AUM › GESUNDER S ELBSTMODELLIERUNG ‹ »Waldläufe sind durch nichts zu ersetzen«. 46
Zu den bürgerlichen Praktiken des Wanderns und Spazierengehens sind in den letzten Jahrzehnten eine Reihe spezifischer Erweiterungen hinzugekommen, die sich beispielhaft an der heutigen Infrastruktur des 52 Quadratkilometer großen Stadtwaldes von Freiburg i.Br. zeigen lassen. So unterhält das Forstamt »Wanderwege (380 km [...]), Rundwege (57 km), Reitwege (78 km), Waldlaufstrecken und Waldsportpfade (68 km), Mountainbikestrecken (118 km), Radwanderwege (38 km), Grillplätze (11), Waldspielplätze (10), Hütten (11 vermietete und 14 frei zugängliche), Aussichtstürme (3) sowie mehrere Lehr- und Erlebnispfade«.47 Die Nordic-Walking-Strecken sind hier zwar nicht eigens erwähnt, im Wald selbst aber sind sie ausgeschildert. Erschien es Anfang der 1970er Jahren noch nötig, in Deutschland eine Trimm-dich-Kampagne im Fernsehen zu inszenieren und Trimm-dich-Pfade vor allem im Wald anzulegen, unterliegen Wege für sportliche Betätigungen inzwischen einer hohen Nachfrage. Im Folgenden beschäftige ich mich mit Jogging und Mountainbiking und den Bedeutungsschichten, die sie dem Freizeit-Raum Wald hinzufügen. Zwar sind Steigungen und Gefälle die Basis des Erlebnis-Raums beim Mountainbiking; Wald oder Forst braucht es dazu nicht unbedingt. Allerdings werden sie in Handbüchern regelmäßig als Highlights präsentiert – exemplarisch bei Andreas Haas: Demnach bieten in den Alpen »endlose Kilometer an Forststraßen [...] ein optimales Betätigungsfeld«, locken kanarische Inseln mit »Singletrails durch urtümliche Waldgebiete« oder »[e]insame Wälder« in West Virginia.48 45 | Zitiert nach Stoltenberg 2009: 76. 46 | Reschke & Schack 1998: 41. 47 | Waldhaus Freiburg 2008: 3. 48 | Haas 1996: 103, 116, 123.
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Vor allem das Jogging gehört zur »neue[n] ›Sorge um sich‹«,49 wie Tobias Dietrich mit Bezug auf Michel Foucault schreibt. Nun ist Dauerlaufen bekanntlich kulturhistorisch nichts Neues. Seit Mitte der 1970er Jahre aber gehört es innerhalb dessen, was Foucault als Verhältnis von Macht und Subjektivität, Biopolitik und Selbsttechniken mit dem Begriff der »Gouvernementalität« bezeichnet, zum festen Programm des »präventive[n] Selbst«.50 Läufer/-innen erscheinen »als Vordenker« einer Dynamisierung der tradierten Vorstellung vom Körper als Maschine hin zu Fitness und Flexibilität.51 Postfordistisch kommt es – »im Kontext einer zunehmenden Kommodifizierung von Gesundheit und einer Ausweitung des Gesundheitsbegriffs«52 – zu einer Renaissance des selbstverantwortlichen Subjekts, das im vorliegenden Fall hauptsächlich den »soziale[n] Mittelklassen«53 angehört. Popularisiert werde, schreibt Regina Brunnett, »ein Leitbild der ›gesunden Selbstmodellierung‹ unter maßgeblichem Einfluss alternativer Gesundheitspraktiken und psychosomatischer Konzepte«.54 Gelaufen wird heute bekanntlich ebenso auf Waldwegen, wie in Parks, auf Tartanbahnen und auf Straßen. Allerdings erhält das Laufen gerade im Wald in gängigen Handbüchern55 einen besonderen Rang zugesprochen:56 »Waldläufe sind durch nichts zu ersetzen. Der Boden ist weich und schont unsere Gelenke. Wurzeln und Steine auf dem Wege, teils unter Laub verborgen, trainieren unsere Reflexe und halten die Füße in Form. [...] Der Wald riecht zu jeder Jahreszeit anders – und immer gut. Selbst in der Dämmerung und im Dunkeln macht es Spaß, durch den Wald zu laufen. Man sollte nur die Strecke genau kennen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Augen an das wenige Licht in einer Winternacht im Wald gewöhnen. Wir brauchen dazu noch nicht einmal den Vollmond. Im Gegenteil: Bei klarem Himmel wirft der Mond so starke Schatten, daß man unsicherer läuft. Müssen wir die Füße wegen einer Wurzel heben, oder hat uns der Schatten eines Astes das Hindernis nur vorgespielt? Bei Vollmond könnte man im Wald ohne Lampe Zeitung lesen!« 57
Deutlich wird hier die wechselseitige Durchdringung eines postmodernen Konzepts des Körpers als permanentem work-out – als durch Bearbeitung zu 49 | Dietrich 2010: 297. 50 | Lengwiler & Madarász 2010: 17. 51 | Dietrich 2010: 283. 52 | Brunnett 2009: 81. 53 | Ebd. 54 | Ebd.: 80. 55 | Exemplarisch im Folgenden Reschke & Schack 1998. 56 | So zählen ja Waldläufe auch zum Trainingsstandard bei Mannschaftssportarten, wie z.B. im Fußball. 57 | Reschke & Schack 1998: 41.
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Formenden bzw. zu Formierenden – mit Romantizismen aus dem Fundus der eingangs geschilderten bürgerlichen Naturmystik. Aus der Perspektive der neueren Kritischen Theorie lässt sich zugleich feststellen: Amüsement ist im Postfordismus selbst Arbeit und Wettbewerb geworden58 und nicht mehr länger bloße Reproduktion der Arbeitskraft und verschleierte »Verlängerung der Arbeit«, wie im Fordismus.59 Die »gesunde Selbstmodellierung«, so Brunnett, gleiche »dem Leitbild des ›unternehmerischen Selbst‹« und seiner Ausrichtung auf »flexible[..] Selbstnormalisierung«, permanente »Selbstoptimierung« und »individuelles Wachstum«.60 Gesundheit erhält »im Postfordismus eine symbolische Bedeutung« und produziert »als symbolische Gesundheit Mehrwert«, der »als Kapital wirksam« werde.61 Mit Pierre Bourdieu verweist Brunnett darauf, dass sich die »Akkumulationsfähigkeit symbolischer Gesundheit [...] primär auf kulturelles, physisches und symbolisches Kapital« stütze. Körper und Selbst würden zum Objekt und Medium, das soziale (Macht-)Strukturen produziere und reproduziere.62 Und nicht zuletzt sind Körper und Selbst auch mittels ihrer Performanzen – als Jogger/-in, ebenso als Mountainbiker/-in – Bestandteile einer Wertschöpfungskette. Allein für Nahrungsergänzungsmittel etc. werden bis zum Jahr 2020 in Deutschland Umsätze von knapp 30 Milliarden Euro erwartet.63 Und seit den 1980er Jahren werden unzählige, modeabhängige Jogging- und Trainingsanzüge sowie Laufschuhe angeboten, wobei die Aufteilung nach Geschlechtern nicht zuletzt eine »Verdopplung der Vermarktungsmöglichkeiten« bedeutet.64 Beim Mountainbiking liegt der Fokus auf den Rädern. Schon Mitte der 1990er Jahre sollen nur in Deutschland circa sechs Millionen Mountainbikes verkauft worden sein.65 Imageträchtig sind hier vor allem die Rahmen. So sei der Erfolg von Alu-Rahmen auch durch das »wuchtige Erscheinungsbild der ›oversized‹Rohre« mit ihrem Signal von »Sicherheit und Unzerstörbarkeit« zu erklären. Leichte und nicht rostende Titan-Rahmen werden zum »Kult pur [...] mit dem Image eines Ferrari« erklärt.66 Hier wird also einerseits die paradoxe Aufspaltung in Genuss- und Konsumlandschaft aufgehoben: die Genusslandschaft wird zur Konsumlandschaft. Andererseits bleibt das Paradox bestehen, wird der Wald doch noch immer als 58 | Vgl. Steinert 2002. 59 | Horkheimer & Adorno 1998: 145. 60 | Brunnett 2009: 107f. 61 | Ebd.: 80. 62 | Ebd.: 99f. 63 | Ebd.: 95f. 64 | Dietrich 2010: 297. 65 | Haas 1996: 139. 66 | Ebd.: 38.
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›Gegenwelt‹ zur Stadt wahrgenommen. So bei der »Konstruktion des Draußen«,67 wie etwa beim Mountainbiking. Inszeniert wird ein »körperlich erlebbarer (Natur-)Raum mit außeralltäglichen Qualitäten«,68 der zugleich ein kommodifizierter Erlebnis-Raum ist, vorstrukturiert durch Handbücher und Werbebilder oder die Wahl der richtigen Räder usw. Das alles gilt nicht nur für den Wald. Dieser aber wird besonders zum Raum symbolischer Gesundheit (mit sauberer Luft und typischem ›Schonklima‹), wechselseitig verbunden mit einem Erlebnis der ›Ganzheitlichkeit‹, die alle Sinne aktiviert und erfreut. Im Laufhandbuch von Reschke und Schack (siehe oben) werden dem Walderlebnis in diesem Sinn synästhetische Qualitäten zugesprochen. Real aber und im Widerspruch dazu dürfte die oft obligatorische Verwendung von MP3-Playern beim Dauerlaufen dann doch eher für eine ›Kabinensituation‹ sorgen. Für das »Sich-Fühlen-als-«69 -Jogger/-in wird der Erlebnis-Raum Wald dann zur austauschbaren Kulisse. Antje Schlottmann schildert eine solche Transformation des »Erlebnisraum[s] zum Raumerlebnis« aus einer anderen Perspektive, in deren Zentrum eine durch Werbebilder erzeugte Wirkung von Outdoorbekleidung steht, die das Raum-Erlebnis konstituiert: »Die bzw. eine bestimmte Bedeutung des Draußen wird auf die erwerbbaren Bekleidungsstücke übertragen und lässt sich durch Konsum, sprich durch das Erwerben und Tragen am Körper, aneignen. Semantik und Somatik gehen so ineinander über. Das mag erklären, warum so mancher Käufer zu Kollektionen greift, die für eine Besteigung des Mount Everest taugen, auch wenn er nur den heimischen Stadtwald bewandern will. Es geht um das Sich-Fühlen-als- … (Abenteurer, Extrembergsteiger, Eroberer etc.). Auch Naturgefühl und Naturerlebnis werden so raumunabhängig. Der Raum wird schließlich im Erleben der Bekleidung am Körper oder auch auf der Haut verdichtet, wird konsumierbar und damit kommodifiziert.«70
Dieses sinnliche Erleben, so Schlottmann, konstituiere »sich über das leibliche ›Einkörpern‹ in die [...] Körper«, die in Werbebildern für Outdoorprodukte dargestellt werden.71 Diese »kinästhetische Spiegelung«72 des in Bildern visuell Wahrgenommenen, also die Übertragung von Bedeutungen auf Kleidungsstücke und mittels dieser auf den eigenen Körper, funktioniert desgleichen via Mountainbike. So heißt es im Handbuch von Andreas Haas: »Das MTB – per67 | Schlottmann 2010: 80. 68 | Ebd. 69 | Ebd.: 81. 70 | Ebd.: 80f. 71 | Ebd.: 78. 72 | Ebd.: 77f.
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fekte Kombination von Technik und Natur.«73 Der Erlebnis-Raum des Outdoorsports Mountainbiking konstituiert sich demnach über die Technik, das Rad und seine Beherrschung74 – was gleichbedeutend ist mit der Beherrschung des Raums. Der Körper als selbstmodellierter und -kontrollierter steht im Wettbewerb gegen sich selbst und gegen die Natur. Erlebt und inszeniert wird das als »Duell mit der Natur«, in dem eine vermeintliche »Authentizität hergestellt« wird, »die ohne die Inszenierung als Sportereignis nicht erfahrbar wäre«,75 geht es doch darum, die Natur zu bezwingen. Der Erlebnisraum Natur ist hier ein Parcours zur Einübung von Fahrtechniken wie etwa dem Wheelie (Fahren auf dem Hinterrad) oder Bunny Hop zur Überquerung umgestürzter Bäume.76 Die Natur dient somit den Fahrer/-innen auch zur Selbstversicherung der Naturbeherrschung und damit der Beherrschung des eigenen Körpers. Der »Thrill«77, das »Duell«, stellt sich vor allem beim Downhill- bzw. Speed-Downhill-Fahren (also dem möglichst schnellen Abwährtsfahren) ein. Die Aneignung des Waldes durch das »präventive Selbst« führt wie gezeigt zu einer neuen Durchdringung von Genuss- und Konsumlandschaft. Die geschilderte Kommodifizierung des Raums lässt sich weiterdenken, hin zu seiner Inwertsetzung.
I NWERTSE T ZUNG , STANDARDISIERTES A BENTEUER , H YPERRE ALITÄT : W ALD ALS GEMANAGTE B ÜHNE »Schutz der Natur [...] findet nicht mehr im Kontrast zu Formen, ihrer kapitalistischen Nutzung statt, sondern als ein inhärentes Element ihrer Inwertsetzung. Nicht die Rettung eines Restes unzerstörter Natur vor dem Vordringen der industriellen Zivilisation ist dabei das vordringliche Ziel, sondern der Schutz von bestimmten Naturstücken als ein Element ihrer Nutzung ist die Losung.«78
Diese Transformation des Naturschutzes, so Christoph Görg, erfasse noch stärker das genetische Reservoir des Südens – vor allem des tropischen Waldes –, als die Naturressourcen des industrialisierten Nordens, »wo vielfach unmittel-
73 | Haas 1996: 22. 74 | Zwar besteht auch hier ein großer Markt für spezielle Bekleidung und Schuhe, das Rad selbst scheint aber zentral zu sein. 75 | Lutz 2001: 179. 76 | Haas 1996: 137f. 77 | Lutz 2001: 167. 78 | Görg 2003: 286; Hervorh. i.O.
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bare Nutzungsinteressen (Erholung, ›Naturerbe‹, saubere Luft, ästhetische Bedürfnisse etc.) dominieren«.79 Der Schutz der Natur mittels ihrer Inwertsetzung ist ein Phänomen postfordistischer Naturverhältnisse. Infolge der eng mit der fordistischen Massenproduktion verbundenen ökologischen Krise kam es seit Ende der 1970er Jahre zu einer verstärkten Wahrnehmung (sozial-)ökologischer Aspekte. Das sei, so Ulrich Brand und Christoph Görg, aber nicht als gesamtgesellschaftlicher Lernprozess zu verstehen, sondern als »konflikthafte[r] Prozess, bei dem unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Interessen an der Erhaltung und Nutzung der Natur aufeinander treffen«.80 Dabei kommt es inzwischen zu neuen Aushandlungsformen – einer tendenziell weltweiten Biosphere Governance81 –, an denen neben staatlichen und überstaatlichen Akteuren und Unternehmen auch schwächere Akteure wie NGOs beteiligt sind. Allerdings ist hier eine machtpolitische Asymmetrie zu konstatieren. Ein sich derart »herausbildende[r] ›ökologische[r] Kapitalismus‹«82 zeigt sich dann in den verbreiteten Begründungen für eine Schutznotwendigkeit vor allem des tropischen Regenwalds: »Im Grunde ist auch die Ausweisung von Schutzgebieten nur ein Untertyp eines anderen, umfassenderen Vorgangs, der die kapitalistische Nutzung der biologischen Vielfalt insgesamt betrifft: Die Einrichtung eines globalen Systems von Verfügungsrechten«.83 Gemeint sind Verfügungsrechte über ein »globales Naturerbe« und »Naturkapital«, ein »Biopotenzial für die Zukunft« und über eine »unverzichtbare ökologische Regelungsfunktion«.84 Zugleich lassen sich inzwischen im industrialisierten Norden auch für Wald- und Forstgebiete Tendenzen ausmachen, in denen diese – ähnlich zu den Transformationen des öffentlichen Raums in der postfordistischen Stadt – zur gemanagten Bühne für die Konsumbedürfnisse zahlungskräftiger Kundinnen und Kunden werden sollen. Städte definieren sich heute als Unternehmen, die sich national wie international im Wettbewerb um wohlhabende Privathaushalte, Dienstleistungsunternehmen, Touristinnen und Touristen und Investorinnen und Investoren befinden. So werden Städte zu Erlebnis-Räumen aufgebaut gemäß der urbanen Ökonomie der Symbole. Sie übernehmen tendenziell In-
79 | Ebd. Allerdings sei die Ausweisung von Schutzgebieten meist abhängig davon, »ob sie der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit im Wege stehen« (ebd.), etwa beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. 80 | Brand & Görg 2003: 45. 81 | Görg 2003: 286. 82 | Brand & Görg 2003: 45. 83 | Görg 2003: 287f. 84 | Ebd.: 288.
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klusions- und Exklusions-Strukturen von Shoppingmalls. Kurz: Sie werden zur gemanagten Bühne für Konsum und Kultur, privatisiert und kommodifiziert.85 Nun sind Wälder und Forste zwar immer in – privatem, aber oft auch öffentlichem – Besitz. Sie müssen aber nach geltendem Recht meist der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Bislang, so heißt es in einer Situationsanalyse im Auftrag des Schweizer Umweltbundesamtes von 2007, würden Waldbesucher/-innen »oftmals eher als Verursacher von Kosten oder Mindererträgen bei der Holzproduktion wahrgenommen«.86 Und: »Als Netto-Einnahmequelle spielt die Walderholung bisher nur in wenigen Ausnahmen eine nennenswerte Rolle. In Zukunft könnten die Einnahmen aus der Erholungsnutzung zunehmen, da für Europa von einer zunehmenden Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Walderholungs-Angeboten, wie z.B. organisierten Erholungsaktivitäten und Erholungsinfrastruktur ausgegangen wird.« 87
Nach wie vor aber würden Forstbetriebsverantwortliche selbst meist »die Erholungsleistungen des Waldes [...] als gesellschaftliche Verpflichtung und marktunfähiges« Produkt ansehen. Ökonomisch betrachtet gehe es hier um »Nebenwirkungen« der Forstwirtschaft zugunsten unbeteiligter Dritter, die dafür nichts zahlen.88 Und derartiges, betont die amtliche Situationsanalyse, führe »in Marktwirtschaften üblicherweise zu ineffizienter Zuteilung von Ressourcen«.89 Daher wird seit einigen Jahren auf höchster Ebene in Europa daran gearbeitet, die Freizeit- und Erholungsnutzung des Waldes marktfähig zu machen, obwohl seine freie Zugänglichkeit ein öffentliches Gut ist. Im Jahr 2000 wurden im Auftrag der Europäischen Kommission ein Projekt unter dem Titel RES – Niche Markets for Recreational and Environmental Goods and Services from multiple Forest Production Systems abgeschlossen.90 Von der Schweizer Eidgenossenschaft wurde das Programm VAFOR (Valorisation des Forêts) schon 1994 initiiert, woraus auch konkrete Vorschläge zur Inwertsetzung der Walderholung hervorgingen: z.B. eine »GPS-Fuchsjagd« und ein »Bikerwaldpass«.91 Grundsätzlich bestehen divergierende Auffassungen darüber, »welche Waldleistungen marktfähig sind«. Diskutiert werden einerseits die Kommerzialisierung herkömmlicher Infrastrukturen wie Rast-, Picknick- und Grillplätze, Lehrpfade und Sportstrecken, themen- oder eventorientierte Führungen oder 85 | Vgl. Termeer 2010. 86 | Holthausen & Roschewitz 2007: 8. 87 | Ebd.: 26. 88 | Ebd.: 12f. 89 | Ebd. 90 | Ebd.: 10. 91 | Ebd.: 9.
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die Schaffung zusätzlicher Event-Locations wie Seilgärten und Bike-Parcours. Diskutiert wird andererseits aber auch eine Transformation des Erholungswaldes in einen komplett marktförmigen.92 Udo Mantau, einer der Leiter des EU-Projekts, etwa »vertritt die Auffassung, dass die Marktfähigkeit im Wesentlichen von der Nachfrage nach dem Gut abhängt. Dabei sei unerheblich, ob dieses Gut durch das aktive Zutun des Bewirtschafters produziert wird, oder ob es eine ›Wirkung des Waldes‹ darstellt, deren Nutzung auch ohne eine Bewirtschaftung verfügbar wäre«.93 Marktfähig wären demnach auch öffentliche Güter wie frische Luft, Naturgenuss, ästhetisches Wohlgefallen, Einsamkeit, Ruhe usw. Und so, wie die Einwohner/-innen postfordistischer Städte sich zunehmend als Touristinnen und Touristen in der eigenen Stadt inszenieren – an Stadtstränden, in der Altstadtgastronomie, bei Großevents usw. –, könnten Besucher/-innen demnächst zu Touristinnen und Touristen im eigenen Stadtwald werden, der dann zur Destination kommodifiziert wäre. Während solche Formen der Waldvermarktung in der mitteleuropäischen Naherholung noch in den Anfängen stecken, erschließt sich der exotische Wald als gemanagte Bühne dem »touristischen Produktionsprozess«, der »Räume in Destinationen ›übersetzt‹«,94 schon länger: als »Erlebniswelt«.95 Mit Bezug auf Henri Lefèbvre betont Anja Saretzki, dass diese Destinationen über »ihr Image [...] zu räumlichen Repräsentationen« werden. Dies sei ein »sozialer, in hohem Maße selbst-reflexiver Konstruktionsprozess, der im Hinblick auf sein Marktpotential einem ästhetischen Management unterliegt«.96 Vorstrukturiert ist das durch Reiseführer etc., die bestimmte Merkmale zu Charakteristika verdichten. So entsteht mit den Touristinnen und Touristen »quasi eine Übereinkunft darüber, wie eine Destination zu sehen bzw. zu erleben ist«.97 Wie der tropische Dschungel aktuell zur Destination ›Tourismus und Naturschutz‹ wird, lässt sich beispielhaft an einer Sonderbeilage der Frankfurter Rundschau zeigen. Beworben wird der »Urlaub auf der Öko-Lodge«98 im Regenwald von Costa Rica. Die Konstruktion des Erlebnis-Raums besteht aus mehreren Ebenen, die sich wechselseitig bedingen sollen: Der Regenwald wird zunächst als eine totale Gegenwelt beschworen; dies mit Worten, die Ursprünglichkeit, Echtheit, Unendlichkeit, Geheimnis und Aufregung assoziieren sollen:
92 | Ebd.: 12f. 93 | Ebd.: 13. 94 | Saretzki 2005: 131. 95 | Ebd. 96 | Ebd. 97 | Ebd. 98 | Traumreisen 2011: 6.
F REIZEIT IM W ALD »Ein echtes ›Wow-Erlebnis‹! Mit Rucksack, Hängematte und Moskitonetz im Regenwald zu übernachten, ist so spannend wie der erste Tauchgang, Fallschirmsprung und Besuch bei den Schwiegereltern am selben Tag. Die Geräusche des Dschungels ließen mich in der ersten Nacht kein Auge zu tun. Brüllaffenweibchen zetern, Tapire stöbern im Laub unter der Hängematte nach Nahrung, es flattert und knattert, krächzt und kräht pausenlos und überall. [...] In der dritten Nacht fühlt man sich schon wie Tarzan.« 99
Zugleich gehorcht die »Kulisse« des »Naturparadies[es]« mit »[m]alerischen Landschaften« und »üppige[r] Vegetation« einer romantischen Ästhetik.100 Der Tourismus ist hiermit den höchsten Weihen der ›Nachhaltigkeit‹ gesegnet, dem Certificate for Sustainable Tourism Level 5 Costa Ricas, das von einer nationalen Kommission unter Beteiligung des Umweltministeriums vergeben wird. Tourismus wird gar zur Voraussetzung der Naturerhaltung. Der Deutsche Besitzer des Areals bezeichnet den Bau der Lodge als moralische Entscheidung, da die Ausbeutung der Holzressourcen eigentlich ökonomisch lukrativer sei. Die Bungalows sind komplett aus Restholz gebaut. Gleichzeitig wird der Komfort betont. Es gibt sogar Sonnenkollektoren, »weil einige Gäste nicht auf Strom zum Betrieb ihrer Laptops verzichten wollten«.101 Beschworen wird ein mächtiger Trend, den man nicht verpassen sollte, sei doch »gerade dieser Ansatz, die Natur zu schützen und dabei Aktiv- und sogar Abenteuerurlaub zu verleben [sic!], der große Renner der letzten Jahre geworden. Dazu zählen Aktivitäten wie Birdwatching, Strandurlaub, Regenwaldwanderungen und Tree Climbing in den Baumriesen. [...] Sicher angeseilt klettern Sie beim ›Ascender’s Climb‹ in eine lange Zeit unentdeckte Welt des Waldes«.102 Der Besuch eines solchen Ortes setzt neben einem gewissen ökonomischen auch kulturelles Kapital – Wissens- und Erfahrungsbestände sowie den Habitus (gehobener) Mittelschichten – voraus. Gleichzeitig verleiht er soziales und kulturelles Kapital: gelebte ›Nachhaltigkeit‹ gepaart mit ›Authentizität‹ gepaart mit dem exklusiven Komfort der Bungalows gepaart mit körperlicher Aktivität gepaart mit Abenteuer in einer fast noch unentdeckten Landschaft. Und selbstverständlich ist dieses Abenteuer risikolos, weil es als betreutes und gesichertes gebucht wird. Der Dschungel ist zum Ort des Abenteuers als »Bestandteil des Normprogramms einer bürgerlichen Lebenspraxis«103 geworden. Das heißt auch, so Christoph Köck, dass es, bereitgestellt von einer Erlebnisindustrie, »für jede natürliche ›Ungezähmtheit‹ ein Mittel gibt, um sie auf die Sicherheits- und 99 | Ebd.: 7. 100 | Ebd.: 6. 101 | Ebd.: 6f. 102 | Ebd.: 7. 103 | Köck 1990: 160.
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Kontrollbedürfnisse des bürgerlichen Menschen abzustimmen«.104 Mithin: »Sowohl der Warencharakter als auch die Funktion beim Aufbau kulturellen Kapitals stellen das Abenteuer in einen ökonomischen Zusammenhang. [...] In dieser Hinsicht ist der befristete Grenzübertritt – weil er kulturelles Kapital schafft – ein Wert, in den es sich lohnt, zu investieren«.105 Auch Norman Backhaus beschreibt den Distinktionsgewinn, den ein Besuch etwa in einem Nationalpark in Malaysia für Ökotouristen innerhalb ihrer Community bedeuten kann. Ebenso signalisiere man, »sich eine Reise leisten zu können«. Gerade der (vorgeblich) intakte Dschungel gelte als authentisch, wobei den wenigsten Reisenden die soziale Konstruiertheit von Authentizität bewusst sei.106 Am »Ziel, im Dschungel selbst [...], suchen sie nach Zeichen, an denen sie ihre Erwartungen messen können«.107 Diese Erwartungen werden vor allem durch Medien vorstrukturiert, in denen meist spektakuläre Bilder mit gängigen Diskursen und Kommentaren verschaltet werden. »Im Dschungel hingegen fehlen diese Kommentare weitgehend und die Dichte von Spektakulärem [...] ist geringer.« Kurz: Das »Original wird als weniger authentisch wahrgenommen als sein Bild«.108 Die gesuchte Authentizität könne sich, so Backhaus, paradoxerweise gerade durch Elemente von Nicht-Orten einstellen. Nicht-Orte im Sinn Marc Augés sind gerade die Transiträume, in denen sich Reisende massenhaft aufhalten, wie Flughäfen und Hotels. Diese Orte sind standardisiert und distanziert; es fehlt ihnen letztlich an Einzigartigkeit. Zugleich sind sie gut lesbar. Dies gerade wegen ihrer Standardisierung, die sich nicht zuletzt ausdrückt in Hausordnungen, Verboten oder Hinweistafeln. Kurz: man kann sie »wiedererkennen«, ohne sie »aus der Erfahrung der körperlichen Anwesenheit« zu kennen.109 Das soll sich gewissermaßen auf Nationalparks und damit eben auch auf Wälder übertragen lassen, dürfe aber keineswegs nach Themenpark aussehen. Vielmehr sollen »gut platzierte Zeichen und Texte im Wald die Reisenden bei ihren Vorstellungen abholen und diese gegebenenfalls relativieren und ergänzen«110 und nicht zuletzt lenken. Eine andere aktuelle Variante, den tropischen Regenwald auch ohne vorhergehende körperliche Erfahrung lesbar zu machen, besteht in Öko-Displays wie etwa Burgers’ Bush in Arnheim oder anderen ›Dschungelwelten‹ in künstlichen Biosphären. Öko-Display bezieht sich auf die künstlich geschaffene Entfaltung 104 | Ebd.: 144. 105 | Ebd.: 158. 106 | Backhaus 2005: 108f. 107 | Ebd.: 116. 108 | Ebd. 109 | Ebd.: 110. 110 | Ebd.: 118.
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eines Ökosystems. Dem Begriff kommt aber eine weitere Bedeutung zu. ÖkoDisplay heißt diese Präsentationsform durchaus zutreffend, weil der Tropenwald zum begehbaren Bildschirm wird.111 Auch die Besucher/-innen dürften als Vor-Bilder meist nicht echten Tropenwald haben, sondern durch andere Bildschirme transportierte Bilder: Fernsehsendungen oder auch Computerspiele, wie etwa Biosys (1998), in dem ein tropischer Regenwald als komplett animiertes Ökosystem unter einer riesigen Kuppel nach Maßgaben hegemonialer ›Nachhaltigkeit‹ technokratisch-ökologisch gemanagt und geschützt werden muss.112 Burgers’ Bush präsentiert auf mehreren Hektar tropischen Dschungel mit Tieren unter einer riesigen Kuppel, in denen das Leben, das Klima und das Wetter von Computern gesteuert werden. Die »totale Kolonisierung von Natur«113, wie Verena Winiwarter das nennt, in europäischen Glashäusern schon seit dem 16. Jahrhundert praktiziert, wird hier zur postmodernen Hyperrealität. Sollten früher Maschinen zur Erhaltung der Vegetation möglichst unsichtbar sein, ist ihre Sichtbarkeit nun Teil des Konzepts. Das Konzept Öko-Display ist offenbar im Kontext der Artificial-Life-Forschung und ihrer biokybernetischen Logik entstanden, die einerseits Fähigkeiten biologischer Systeme bzw. von Organismen zur Evolution, Reproduktion und Emergenz auf Maschinen übertragen will und andererseits Leben nicht mehr als »Leben ›an sich‹« betrachtet, sondern als informationsbasierte »Ordnungsfunktion«,114 als letztlich ›programmierbar‹ also. Und so wird im Öko-Display Evolution simuliert, mit ›richtigen‹ Nahrungsketten und Fortpflanzung in einem adaptiv gesteuerten, nichtlinearen System.115 Die ›Wildnis‹ ist hier ihre bloße Möglichkeit. Sie ist stets gefahrlos konsumierbar. Und Tiere und Pflanzen werden gemäß ihrer Ordnungsfunktionen gruppiert und ›entfaltet‹. Sie existieren als Module, Schnittstellen einer Technik, die als Schöpfende bzw. Erhaltende sichtbar ist. Leben, Klima, sogar ›Turbulenzen‹ wie plötzlich übertretende Bäche, sind maschinenabhängig und ›programmierbar‹. Die Hyperrealität des Öko-Displays manifestiert sich aber nicht zuletzt auch darin, dass sie den Urlaub im Tropenwald inklusive der notwendigen Infrastruktur als mitteleuropäische Alltäglichkeit gegen Eintritt inszeniert.
111 | Allerdings ist dies nicht auf Tropenwald begrenzt. In Arnheim gibt es zudem noch zwei weitere Öko-Displays: Burgers’ Desert und Burgers’ Ocean; vgl. Termeer 2007: 1. 112 | Vgl. ebd. 113 | Winiwarter 2006: 211. 114 | Weber 2003: 226. 115 | Termeer 2007: 175ff.
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Auf der Suche nach Herausforderungen Natur als risikosportliches Handlungsfeld Arne Göring
E INLEITUNG Spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem von der Grand Tour1 inspirierten Genese des modernen Alpinismus gehört die Natur zum festen Rauminventar des Sports.2 Die Karriere der unter der Kategorie des Natursports – oder umgangssprachlich Outdoorsports – zusammengefassten Sportarten ist seither mehr als eindrucksvoll. Neben dem alpinistischen Klettern und Bergsteigen hat sich, insbesondere in den letzten 20 Jahren, eine schier unüberschaubare Palette an Aktivitäten entfaltet, die mittlerweile alle naturräumlichen Elemente als sportliche Handlungsräume erschlossen hat. Mehr als 20 Millionen Menschen gehen nach Schätzungen des Instituts für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule Köln allein in Deutschland regelmäßig Wandern, Klettern, Kanufahren, Mountainbiken oder Tourenskifahren.3 Und die Zahl der im Kontext des Natursports zu differenzierenden Aktivitäten steigt kontinuierlich weiter an. Ohne Zweifel: Sportliche Aktivitäten in der Natur liegen im Trend der Zeit. Dabei ist die Frage, was denn eigentlich unter Natursport zu verstehen sei, in den Sportwissenschaften bis dato noch ungelöst. Dies liegt zum einen an den unterschiedlichen und kaum vergleichbaren Handlungsstrukturen und Anforderungen, die die unterschiedlichen Aktivitäten kategorisieren. Zum anderen ist es der Sportwissenschaft noch nicht gelungen, einen angemessenen Naturbegriff zu charakterisieren, der über die Dichotomie drinnen-draußen hinausgeht. Betrachtet man die unterschiedlichen Erlebnisdimensionen, die in der Natur betriebenen Sportaktivitäten offerieren, so zeigt sich für die sportlichen Aktivi1 | Als Grand Tour definiert Hackl (2004: 31) die Kavalierstouren sowie andere Reisetypen des englischen und europäischen Adels im 17. Jahrhundert. 2 | Vgl. Amstädter 1996. 3 | Vgl. Roth 2006.
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täten in der Natur eine breite Palette an möglichen Motivstrukturen.4 Ein Kategorisierungsversuch offenbart diesbezüglich zwei grundsätzlich unterschiedliche Einordnungen des Natursports entlang der Pole Spannung – Entspannung. Sport in der Natur kann demnach ebenso der Erholung dienen sowie basale Gesundheitsmotive erfüllen. Gleichzeitig erscheint der Wunsch, den Kräften der Natur sportlich zu begegnen und diese mit den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu bewältigen, ein dominantes Motiv natursportlicher Aktivitäten zu sein. Wenngleich auch Bergsteigern, Kletterern oder Kanusportlern unterstellt werden kann, ihre Sportarten auf Grund von regenerativen Bedürfnissen auszuüben, stehen bei diesen Aktivitäten doch eher Momente des Abenteuerund Risikohaften im Mittelpunkt. Gerade die Natur als Handlungsraum bietet für derartige Aktivitäten scheinbar herausragende Rahmenbedingungen. Fast alle so genannten Risikosportarten, die sich durch einen schwer zu kalkulierbaren Handlungsvollzug und einen grundsätzlich prekären Handlungsausgang charakterisieren, finden ihren Ursprung in der Natur.5 Es ist angesichts der großen Nachfrage, die risikosportliche Aktivitäten in der Natur gegenwärtig erfahren, erstaunlich, dass sich insbesondere die sozialwissenschaftliche Forschung kaum mit Risikosport als Kategorie oder risikosportlichen Handlungen beschäftigt. Eine systematische Erforschung der Handlungsbedingungen und gesellschaftlichen Bezüge des Risikosports ist jenseits des wagnispädagogischen Diskurses6 in der Sport- und Erlebnispädagogik kaum erkennbar. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass risikosportliche Handlungen ein Erkenntnisinteresse sui generis besitzt. Denn angesichts der schmerzhaften Folgen, die ein Scheitern in natursportlichen Risikosituationen mit sich bringen kann, fällt es intuitiv schwer, für derartige Aktivitäten plausible Sinnzuschreibungen, im Sinne klassischer Motivationstheorien, vorzunehmen. Was bringt Menschen dazu, sich unter großem Einsatz zeitlicher, finanzieller und physischer Ressourcen in naturräumliche Handlungssituationen zu begeben, die als gefährlich und bedrohlich angesehen werden? Oder anders ausgedrückt: Was motiviert Menschen zur Auseinandersetzung mit den Elementen? Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags steht die Frage, welche Faszination diese Aktivitäten ausüben, welche Motivation die Protagonisten der genannten Sportarten entwickeln und welche Bedeutung die Natur als Handlungsfeld für die Realisierung dieser Motive spielt. Dabei wird, auf motivationspsychologische Ansätze rekurrierend, versucht, einen heuristischen Rahmen für das risikosportliche Handeln in der Natur zu entwerfen, der nicht nur einen handlungstheoretischen Erkenntnisgewinn verspricht sondern auch eine erste Verhältnisbestimmung von Risikosport und Natur vornimmt. 4 | Vgl. Liedtke 2005. 5 | Zur genauen Einordnung und Klassifizierung vgl. Göring 2006. 6 | Zusammenfassend bei Neumann 1999; Warwitz 2001.
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Der folgende Beitrag gliedert sich in vier Teilbereiche: Nach einer Charakterisierung des Risikosports als Handlungs- und Begriffsfeld wird der Mensch in seinen anthropologischen Grundzügen analysiert und so sein Verhältnis zum Risiko bestimmt. Darauf aufbauend werden spezifische Erklärungsansätze der Motivationsforschung herangezogen und der derzeitige Forschungsstand vorgestellt. Abschließend wird eine Verhältnisbestimmung von Risikosport und Natur vorgenommen. Da bis dato kein expliziter Ansatz zur Erklärung der Motivation im Risikosport vorliegt, wird im weiteren Verlauf dieses Beitrages auf unterschiedliche Motivationstheorien zurückgegriffen, die – obwohl sie aus unterschiedlichen Kontexten der Motivationspsychologie entstammen – als einander ergänzende Ansätze verstanden werden. Die sich diesbezüglich ergebende methodologische Schwäche einer multidisziplinären Motivationspsychologie wird dabei bewusst in Kauf genommen, um ein möglichst umfassendes Bild des natursportlichen Risikohandelns zu entwerfen.
R ISIKOSPORT ALS H ANDLUNGSFELD Obgleich risikosportliche Aktivitäten in naturnahen Handlungsfeldern eine große, auch mediale Aufmerksamkeit erfahren, ist eine inhaltliche Charakterisierung und trennscharfe Abgrenzung des Begriffsfeldes bis dato nur in Ansätzen erfolgt.7 Zwar finden sich innerhalb der Sportwissenschaft zahlreiche deskriptive Zuordnungen von Aktivitäten, die unter dem Etikett des Risikosports zusammengefasst werden. Was diese Kategorie von anderen Begriffssystemen wie Extremsport, Funsport oder Trendsport abgrenzt, wird allerdings nicht erläutert. Die zentrale Schwierigkeit, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Risikosport als Forschungsgegenstand existiert, besteht in der unterschiedlichen Verwendung und inhaltlichen Konzeptionierung des Begriffs Risiko. Während in technischen Zusammenhängen und den sie untersuchenden Wissenschaften ein rein quantitatives Risikoverständnis vorherrscht, dominiert in sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen ein eher qualitatives Begriffsverständnis. Lässt sich das Risiko quantitativ als mathematische Formel aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe eines Vorgangs rational berechnen, orientiert sich die sozialwissenschaftliche Forschung in qualitativen Risikokonzepten an Subjekten und sozialen Aggregaten und dessen Umgang mit bestimmten Formen gesellschaftlicher Unsicherheit. Insbesondere Luhmann hat im Rahmen seiner Soziologie des Risikos maßgeblich zur Etablie-
7 | Zum Beispiel bei Schleske 1977; Aufmuth 1983; Allmer 1998; Neumann 1999; Egner & Kleinhans 2000.
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rung einer sozialwissenschaftlich fundierten Risikoforschung beigetragen.8 Dabei vollzieht Luhmann bei seinen systemtheoretischen Überlegungen zur Risikothematik nur einen kleinen wissenschaftlichen Umweg, indem er das Risiko als eine handlungs- und entscheidungsabhängige Form des Unsicherheitshandlings konstitutiv in Opposition zum Gefahrenbegriff setzt.9 Und doch verändert dieser Zugang die Risikoforschung grundlegend. Bis dahin war man auch in sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen vom Gegensatzpaar Risiko versus Sicherheit ausgegangen. Dort wo Sicherheit ist, kann kein Risiko sein, lautete die Grundannahme dieser traditionellen Risikoforschung. Risiko und Sicherheit wurden überindividuell gedacht und behandelt. Erst in der Luhmann’schen Risikosoziologie wird das handelnde Subjekt systematisch in die Überlegungen integriert: Denn erst der handelnde Mensch, so Luhmann, kann Unsicherheit überhaupt zu Risiken umdefinieren. Oder anders formuliert: Jenseits des Subjektes existiert auch kein Risiko. Im Vergleich zur Gefahr besitzt das Risiko demnach einen immanenten und dynamischen Aspekt von antizipierenden Entscheidungen: »Von Risiken spricht man dann, wenn etwaige zukünftige Schäden auf die eigene Entscheidung zurückgeführt werden. […] Bei Gefahren handelt es sich dagegen um von außen kommende Schäden«.10 Risiko, so muss mit Bezug auf Luhmann geschlussfolgert werden, ist ohne Rückbindung an das Individuum also nicht existent. »Die Außenwelt selbst kennt keine Risiken, denn sie kennt weder Unterscheidungen, noch Erwartungen, noch Einschätzungen noch Wahrscheinlichkeiten«.11 Damit gilt es auch für die Bestimmung des Risikohaften im Sport zunächst die Perspektive des handelnden Individuums einzunehmen. Risikosport impliziert demnach, dass das handelnde Subjekt eine Handlungssituation als prinzipiell unsicher im Bezug auf den erfolgreichen Ausgang sowie die möglichen Folgen wahrnimmt, diese als ernsthafte Auseinandersetzung akzeptiert und durch Einsatz einer sportbezogenen Handlungskompetenz freiwillig bewältigt. Risikosport wird unter dieser Perspektive zum subjektiven Risiko-Sport, denn nur die Handlungsintention des Subjekts entscheidet über eine als RisikoSituation gekennzeichnete Handlungssituation. Damit lässt sich prinzipiell jede sportliche Handlung als Risiko-Sport bestimmen, und zwar immer dann, wenn unter Einsatz der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten eine als unsicher wahrgenommene Handlungssituation im Sport als Herausforderung angenommen wird und durch Bewegungshandeln aufgelöst wird. Gleichzeitig lassen sich damit aber Handlungen ausgrenzen, die zwar eine vermeintlich unsichere Situation darstellen aber keine Handlungskompetenz zur erfolgreichen Bewälti8 | Luhmann 1988; 1990; 1991. 9 | Vgl. Luhmann 1988: 86. 10 | Ebd. 11 | Vgl. Luhmann 1991: 15.
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gung erfordern. Und auch Sporthandlungen, die zwar gefährlich anmuten, der Sportler aber kein Bewusstsein für diese Gefahren entwickelt, können nicht als Risiko-Sport (auch nicht als Risikosport) bezeichnet werden. Das Kernelement des hier fokussierten Risikosports ist also die Bewältigung von subjektiven ›Bewährungssituationen‹, die den Einsatz der ganzen Person erfordern und darüber hinaus spezifisch erlernte Fähigkeiten und Fertigkeiten zur erfolgreichen Bewältigung verlangen. Dieses Sich-Einlassen im Risikosport beinhaltet damit einen expliziten Entscheidungsprozess, der zwischen Handlungsanforderungen und subjektiven Fähigkeiten abgleicht und den Faktor Zufall möglichst zu minimieren versucht. Der Handlungssituation tritt der Sportler reflexiv gegenüber mit dem Ziel eines Sich-Bewährens. Auch wenn das Spannungsgefüge von Leben und Tod nicht in seiner Urform auf den Risikosport anzuwenden ist, so impliziert ein Scheitern in risikosportlichen Handlungssituationen doch ein durchaus schmerzhaftes oder unangenehmes Handlungsergebnis. Risikosport als Handlungsfeld wird sich demnach in einzelnen oder mehreren Situationen vollziehen, die durch eine gewisse Unsicherheit bezüglich des Handlungsausganges gekennzeichnet sind und spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung erfordern. Gewiss lassen sich derartige Situationsmerkmale in unterschiedlichen Handlungskontexten ausmachen. Insbesondere die vielfältigen, unter der Kategorie des Kampfsports zusammengefassten Aktivitäten besitzen konstitutive Unsicherheitsmomente, die eine Verwandtschaft zum Risikosport nahelegen. Und auch der Motorsport, der sich durch Geschwindigkeitserfahrungen kennzeichnen lässt, besitzt explizite Risikomomente. Es sind aber vor allem Aktivitäten in natürlichen oder zumindest naturnahen Räumen, die eine präzise Charakterisierung als Risikosport erlauben. Dies liegt zum Einen an der Unbestimmtheit, die Naturräume grundsätzlich bieten. Naturelementen wie Wasser und Luft stehen dem anthropogenen Handlungsräumen klassischer Sportarten konträr gegenüber und bietet damit quasi ›auf natürliche Weise‹ ein grundlegendes Unsicherheitspotential. Gleichzeitig bietet die Natur – im Vergleich zum Motor- oder Kampfsport – einen Gegenpol zum abgesicherten und verregelten Alltag. Das Wilde und Ursprüngliche der Natur, wie es in den Wildflüssen Norwegens ebenso zum Ausdruck kommt, wie in den Gipfeln und Graten der Alpen, stellt immer auch einen Fluchtpunkt dar, der vor allem für junge Menschen eine hohe Attraktivität besitzt. Es kommt hinzu, dass insbesondere diese ›wilden Naturräume‹ im Gegensatz zu den traditionellen Räumlichkeiten des Sports auch auf Grund der hohen Komplexität und Variabilität ein Risikomoment per se besitzen. Allein die Unbeeinflussbarkeit von Wetterbedingungen birgt z.B. in den alpinistischen Aktivitäten ein nicht zu imitierendes Unsicherheitspotenzial, welches die Handlungssituation maßgeblich beeinflusst. Im Gegensatz zu künstlich geschaffenen Risikosituationen, wie es sie in Freizeitparks oder auch in Kletter-
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hallen mittlerweile zu Genüge gibt, bieten Naturräume Handlungssituationen, die nie völlig kontrollierbar sind. Naturräume lassen sich nicht vollständig abmessen oder auch nur annähernd berechnen. Im naturbezogenen Risikosport findet sich demnach wie in keiner anderen Raumkonstellation authentische Unsicherheitsmomente, die grundsätzlich offen hinsichtlich des Handlungsausganges und der möglichen Folgen sind. Es kommt hinzu, dass die Natur als Handlungsraum einen grundsätzlich egalitären Charakter besitzt: Im Vergleich zu anderen gesellschaftlich legitimierten Risikobereichen ist die Natur prinzipiell offen und weist keine sozialen oder materiellen Barrieren auf. Wenngleich sich im Zuge des Konflikts zwischen Sport und Naturschutz auch Schutzzonen und Kontingentierungskonzepte durchgesetzt haben, kennt die Natur keine sozialen Differenzierungen. Zugespitzt ließe sich formulieren: Naturräume bedingen Unausweichlichkeiten, die ein Sich-Einlassen und ein Sich-Bewähren unter Einsatz der ganzen Person nicht nur ermöglichen, sondern explizit erfordern. Das Kernelement des Risikosports, die bewegungsvermittelte Bewältigung von Unsicherheitsmomenten, wird damit nirgends so offensichtlich wie in den risikoaffinen Aktivitäten, die in ihrer konstitutiven Handlungsstruktur auf Natur ausgerichtet sind. Auch in der historischen Entwicklung des Risikosports wird die Bedeutung, die die Natur für risikosportliche Aktivitäten einnimmt, deutlich. Ziak12 und Amstädter13 haben in ihren kulturhistorischen Arbeiten zum Alpinismus detailliert herausgearbeitet, dass die Suche nach neuen sportlichen Herausforderungen jenseits der Turn- und Spielbewegung eng mit der naturästhetischen Entdeckung der Alpen z.B. in der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts verknüpft ist. Als Kompensation zu einer zunehmend industrialisierten Lebenswelt werden die Alpen zu einem ersten Rückzugsraum, der mit seinen Naturgewalten und mit seiner Unberührtheit insbesondere jungen Männern als kompensatorischer Fluchtpunkt diente. Risikosport, so postuliert es Amstädter, stellt in seiner Grundfigur demnach ein prägnantes, spezifisches und kompensierendes Produkt der zunehmenden Zivilisation europäischer Gesellschaften dar. Das vitale Risiko der Natur, welches nirgendwo sonst so eindeutig und intensiv zu erleben ist, wie in den Naturräumen der Alpen, wird zu einem historischen Kompensationspunkt für eine mit Industrialisierung und Zivilisierung verbundene Moderne. Insbesondere Bertrand Russel hat in zahlreichen Abhandlungen eine Argumentation entwickelt, die den im Alpinismus aufkommenden Risikosport als Folge der zunehmenden Technisierung des Alltags beschreibt. Er schreibt: »Mit dem Alpensport lassen sich Breschen in die Monotonie schlagen«.14 Anscheinend, so legen es die Befunde der historischer Ansätze nahe, stecken in 12 | Ziak 1965. 13 | Amstädter 1996. 14 | Russel 1930: 102
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den neu entdeckten Naturräumen Erfahrungsdimensionen von besonders kräftigem, leidenschaftlichem und authentischem Erleben, die einer zunehmenden Domestizierung des Alltags entgegenstehen. Insbesondere auf junge Männer scheint der frühe Alpinismus dabei eine besondere Anziehungskraft zu besitzen, denn, so schreibt der alpinistische Pionier Albert Mummery 1895, hier ist der junge Mann gezwungen, »seine körperliche und geistige Kraft ganz einzusetzen, um einem grausen Abgrund zu trotzen […]. Dies ist eine Arbeit, die eines Mannes würdig ist. Dem Tod ins Angesicht sehend, entwickelt [er] Charakterstärke«.15 Der naturbezogene Risikosport weist damit aus seiner historischen Entwicklung heraus auf eine eigene Kulturkritik, wie sie sich ansatzweise bei Adorno16 und Plessner17 für den modernen Sport findet.
D ER M ENSCH UND DAS R ISIKO – A NTHROPOLOGISCHE A NNAHMEN Charakterisiert man das sportliche Risiko im naturräumlichen Risikosport als ein spezifisches Gefahrenrisiko sensu Klebelsberg,18 bei dem ein Scheitern in sportlichen Risikosituationen mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit verbunden sein kann, so fällt es in einer ersten Annäherung zunächst überaus schwer für derartige Aktivitäten vernünftige Sinnzuschreibungen – im Sinne klassischer Motivationen – vorzunehmen. Es ist schlichtweg nur schwer nachvollziehbar, warum ein Bergsteiger den beschwerlichen Weg zum Gipfel über gefährliche Grate oder Rinnen sucht, wo ihn doch auch die Gondelbahn zum Ziel bringen könnte. Im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte steht daher die Frage, welche Faszination diese vermeintlich gefährlichen Aktivitäten ausüben und welche Motivation die Aktiven im Bezug auf risikosportliche Aktivitäten entwickeln – oder zweckrational formuliert:19 Für welchen erhofften Gewinn nehmen Sportler diese scheinbar unnötigen Risiken eigentlich auf sich?
15 | Mummery 1895: 213. 16 | Vgl. Adorno 1969. 17 | Vgl. Plessner 1956. 18 | Klebelsberg 1969. 19 | Die klassische Motivationspsychologie der Rational-Choice-Theorie geht davon aus, dass den handelnden Subjekten (den Akteuren) rationales Verhalten zugeschrieben wird, wobei diese Subjekte aufgrund gewisser Präferenzen ein nutzenmaximierendes bzw. kostenreduzierendes Verhalten zeigen (vgl. Rheinberg 2002). Zur Diskussion um Rational-Choice-Theorien vgl. auch Kunz 2004.
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Erste Erkenntnisse zu dieser Fragestellung gibt die Anthropologie Schelers bzw. die darauf aufbauende Theorie von Gehlen.20 Beide charakterisieren den Menschen als Mängelwesen, das vor allem durch seine grundlegende Instinktreduktion charakterisiert werden kann. Der Mensch nimmt demnach eine Sonderstellung unter den Lebewesen ein, die dadurch gekennzeichnet ist, sich seine Umwelt mühsam erschließen zu müssen. Da der Mensch im Gegensatz zum Tier »nicht auf bestimmte Umweltreize hin spezialisiert ist, erscheint ihm die Welt als ein ungeordnetes Chaos«,21 dem er nicht lebensfähig ausgeliefert ist. Der Mensch wird dieser Interpretation folgend zu einem riskierten und gefährdeten Lebewesen. Er ist durch das Fehlen handlungsregulierender Instinkte darauf angewiesen, sich seinen Lebensraum selbstständig anzueignen.22 Der Mensch ist demnach auch in seinen Handlungen als »umfassend unsicher«23 zu charakterisieren. Denn durch das Fehlen zielgerichteter und erfolgssicherer Instinkthandlungen ist der Mensch gezwungen, eigene Handlungsmuster reflexiv aufzubauen. Als weltoffenes Wesen, das in der Reflexion auf sich selbst immer wieder mit den begrenzten Möglichkeiten seiner Existenz konfrontiert wird, bleibt der Mensch daher in ständiger Sorge um seine Geborgenheit und Sicherheit. Er muss Sicherheit also aktiv herstellen, indem Unsicherheit bewältigt wird. Sicherheit und Unsicherheit bestimmen dieser Theorie folgend die genuine Handlungsorientierung des Menschen. Für die Fragestellung nach den Motivstrukturen des Risikosports ist darüber hinaus aber ein weiterer Aspekt erkenntnisreich: Neben der äußeren Unsicherheit über die Erreichung des eigentlichen Handlungszieles, kommt es beim Menschen auch zu einer inneren Unsicherheit – einer Art Entscheidungsnot bezüglich der zu erreichenden Zielpräferenzen: »Auch diese gründet in der Weltoffenheit des Menschen, der zwar eine kaum erschöpfbare Zahl von Zielen und Wünschen haben kann, aber von den wenigen biologisch fundierten Bedürfnissen einmal abgesehen, keine bestimmten haben muss und deshalb immer vor der Frage steht, was seine wahren Bedürfnisse und Ziele sind«.24 Aus dieser Unsicherheit seiner existenziellen Handlungen resultiert das den Menschen kennzeichnende Sicherheitsstreben, das sich als Wunsch nach der Reduktion von Unsicherheiten darstellt. Doch neben diesem existenziellen Bedürfnis nach Sicherheit, sieht Tenbruck im Sicherheitsstreben des Menschen auch einen entscheidenden Lastcharakter. Denn zugleich »sucht und wünscht sich der Mensch gerade auch Unsicherheit, ja er ist sogar auf Unsicherheit an-
20 | Vgl. Scheler 1928; Gehlen 1950. 21 | Neuman 1999: 58. 22 | Vgl. Gehlen 1950: 33. 23 | Tenbruck 1978: 90. 24 | Ebd.: 95.
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gewiesen«.25 Wie erklärt sich nun dieses ambivalente Verhältnis zur Sicherheit? Unsicherheit bedeutet nach den oben angeführten Ausführungen auch Risiko oder Überraschung, die in einem hohen Maße Aufmerksamkeit und Antrieb mobilisieren. Wird eine Handlung relativ sicher und habitualisiert, so verliert sie an Konzentrationsbedarf und Anreiz. Eine unsichere Handlung hingegen erfordert die volle Aufmerksamkeit und Kontrolle, die wie die Risikosituation eine zukunftorientierte Gelingensspannung aufrechterhält: »Unter Berücksichtigung der jeweiligen Ziele reguliert sich die Aufmerksamkeitsspannung also nach der Unsicherheit […]. Die Ausführung entbehrt des Reizes, mehr noch, der Ertrag der Handlung wird subjektiv im Maße der Sicherheit entwertet. […] Risiken und Überraschungsmomente haben also in doppelter Hinsicht einen Reiz, nämlich was die Handlungsführung selbst, und was ihren Ertrag angeht«. 26
Die ›Prämie‹ der Handlung im Sinne einer Handlungsbelohung ist also vom Gehalt an Unsicherheit abhängig. Dies gilt in gleichem Maße für verschiedene Handlungen, als auch für ein und dasselbe Handlungsmuster. Um die Gratifikation einer Handlung zu verstärken, ist also eine gleichzeitige Erhöhung der Unsicherheit erforderlich. Der Mensch als Wesen strebt somit nicht nur nach Sicherheit, er ist damit gleichzeitig auch unsicherheitsbedürftig bzw. in gewissem Umfang risikobedürftig.27 Bei Haller drückt sich diese Ambivalenz menschlichen Handels in einer dynamischen Sicherheitsbilanz aus, in deren Soll Entwicklungs- und Veränderungsgrößen, im Haben Stabilisierungs- und Zustandsgrößen eingetragen sind.28 Risiko als positives Merkmal äußert sich darin, dass Unsicherheit als Chance stets auch den Reiz des Unbekannten und die Möglichkeit neuer Erfahrungen einschließt. Negativ wirkt sich Unsicherheit aus, weil die sich im Risiko eröffnende Chance meist die Möglichkeit von negativen Konsequenzen beinhaltet und damit einen allgemeinen Verlust impliziert. Im Sinne eines Fließgleichgewichts »zwischen Entwicklung und Stabilisierung«29 finde ein ständiger Wechsel statt, wobei immer neue Arten der Sicherheit und Unsicherheit empfunden und durchlebt werden. »Ein allzu langes Verharren in einem statischen sicheren Zustand fördert das Bedürfnis nach Veränderung; stetige
25 | Ebd. 26 | Ebd.: 111. 27 | Vgl. aus motivationspsychologischer Perspektive auch Atkinsons (1957) »Risiko-Wahl-Modell«. 28 | Haller (1998) argumentiert aus einer psychologisch-soziologischen Perspektive. Seine Ausführungen lassen sich allerdings durchaus anthropologisch interpretieren. 29 | Haller 1998: 226.
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Veränderung und Herausforderungen bewirken den Wunsch nach Ruhe, Geborgenheit und statischer Sicherheit«.30 Der Mensch erscheint in dieser Perspektive also als gleichermaßen risikosuchend wie sicherheitsbedürftig. Mehr noch: Durch die Bewältigung von Unsicherheiten gewinnt das instinktreduzierte Wesen Mensch grundlegende Sicherheit, die es ihm erlaubt, seinen Handlungsraum und seine Handlungsoptionen zu erweitern. Risikosport würde in dieser Perspektive also eine Art kompensatorisches Handeln ermöglichen, indem grundlegende Erfahrungen der Unsicherheit gemacht werden können. Ähnlich liest sich auch die Argumentation der modernen Neugierforschung, wie sie beispielsweise von Schneider,31 aber auch von Oerter und Montada32 vertreten wird. Das Aufsuchen risikoreicher Situationen wird demnach als fähigkeitsabhängiges Neugierverhalten eingeordnet, welches gleichermaßen der Stimulation als auch als der Erweiterung subjektiver Handlungsspielräume dient. Insbesondere bei Kindern ist die Form der Neugierbefriedigung besonders stark ausgeprägt und kann bei Jugendlichen z.B. bei delinquenten Mutproben auch im Kontext anderer risikoreicher Aktivitäten (z.B. U-BahnSurfen) beobachtet werden. Das vitale Risiko, welches sich dem Risikosportler insbesondere in der Natur offeriert, manifestiert sich in dieser Annäherung als eine Art anthropologische Grundfigur. Sicherheit und Risiko stehen hierbei in einem scheinbar ambivalenten Verhältnis: Nur im Rahmen einer ausgeglichenen Balance – so die Schlussfolgerung der anthropologischen Überlegungen – kann der Mensch folglich ganz Mensch sein und seine Existenz grundlegend behaupten. Die Auseinandersetzung mit den Elementen und der Wildheit naturnaher Handlungsräume wird damit zu einer Lust bringenden Bedürfnisbefriedigung.
W AS MOTIVIERT M ENSCHEN ZUM R ISIKOSPORT ? P SYCHOLOGISCHE E RKENNTNISSE Vor dem Hintergrund der anthropologischen Annahmen zum Verhältnis des menschlichen Wesens zum Risiko erklärt sich das grundlegende Bedürfnis des Menschen nach Unsicherheitsmomenten. Es stellt sich aber weiterhin die Frage, warum z.B. nur einige wenige Menschen die risikoreiche Auseinandersetzung mit den Naturgewalten suchen, andere solchen Situationen aber weiträumig ausweichen. Und auch Erkenntnisse über Form, Struktur und Inhalt dieser Unsicherheitssuche lassen sich aus den Theorieangeboten der Anthropologie 30 | Ebd. 31 | Vgl. Schneider 1996. 32 | Vgl. Oerter & Montada 1995.
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nicht gewinnen. Die Untersuchung psychologischer Beiträge zur Erklärung risikosuchenden Verhaltens in der Natur setzt an diesem Punkt an, ohne die anthropologischen Ansätze in Frage zu stellen. Die folgende Zusammenfassung stellt einen diesbezüglich erkenntnisorientierten Überblick über den psychologischen Forschungsstand dar. Einen weitumfassenden, psychoanalytischen Erklärungsversuch liefern Balint33 und Aufmuth,34 die das Aufsuchen von Risikosportarten als eine Art pathologisches Bedürfnis deuten, sich mit grundlegenden Traumata auseinander zu setzen. Insbesondere Aufmuth macht dabei deutlich, dass die zu bewältigende Situation eine enge Verbindung zum aufsuchenden Individuum und dessen seelischen Verwundungen aufweist. So ließe sich das Bergsteigen als kompensatorische Handlung interpretieren, die als intuitive Auseinandersetzung mit der eigenen »Angst fallen gelassen zu werden«,35 verstanden werden kann. Anders argumentiert der französische Sozialpsychologe Le Breton, der Risikosportlern eine untrügliche Existenzsuche unterstellt.36 Der von ihm entwickelten Ordaltheorie folgend, unterziehen sich Risikosportler in der Handlungssituation einer Art existenzieller Sinnprüfung, um sich des eigenen Lebens zu vergewissern. Im Sinne einer exemplarischen Probe versucht der Risikosportler sich seines Daseins durch die existenzielle Konfrontation mit dem Tod bewusst zu werden.37 Er schreibt: »Das Risikoverhalten ist ein Liebäugeln mit dem Tod: Sprünge in die Tiefe, Besteigungen von Steilhängen […] in allen Fällen wird metaphorisch dem Tod getrotzt, geht es darum, mit tödlicher Bedrohung auf Tuchfühlung zu kommen, ihr aber durch geeignete Vorkehrungen zu entgehen. […] Das Identitätsgefühl wird durch die erfolgreich bestandene Prüfung gestärkt«.38 Die aus der Kognitionsforschung und Handlungstheorie stammenden Ansätze distanzieren sich von derartigen Annahmen. Hier wird das Aufsuchen risikoreicher Situationen vielmehr als Bedürfnis nach Erregung und Reizverarbeitung beschrieben.39 Die Natur als Handlungsraum stellt demnach einen Kontext zur Verfügung, in dem eine intensive Reizsetzung und damit eine gezielte Aktivierung des zentralen Nervensystems erfolgt, die von den Protagonisten als angenehm und befriedigend wahrgenommen wird. Auch interindividuelle Unterschiede werden hier erkennbar: Zum einen können unterschiedliche Handlungen identifiziert werden, die zur Erregungsstimulation genutzt wer-
33 | Balint 1994. 34 | Aufmuth 1988. 35 | Aufmuth 1989: 134. 36 | Le Breton 1995. 37 | Vgl. ebd. 38 | Ebd.: 16. 39 | Vgl. Zuckermann 1978; Berlyne 1974.
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den können, zum Anderen können unterschiedliche physiologische Erregungsniveaus identifiziert werden.40 Ebenfalls kognitionspsychologisch begründen Allmer sowie Rheinberg und Schneider risikosportliches Handeln.41 Die Konfrontation bzw. die Bewältigung von durch die Natur vorgegebenen Grenzsituationen führt demnach zu einem intensiven Gefühl der Selbstbestätigung und der Selbstvergewisserung. Als identitätsbildende Erfahrung ermöglicht die Bewältigung natürlicher sowie individueller Grenzen ein Kompetenzerleben, welches in vergleichbarer Qualität kaum in anderen Situationen gefunden werden kann. Rheinberg und Schneider konstatieren diesbezüglich: »Nicht das vitale Risiko an sich, sondern die Risikokontrolle durch die eigene Tüchtigkeit werden als Anreiz erlebt«.42 Andere Autoren wie Lazarus et al. oder auch Semmler orientieren sich bei der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Risikohandlungen an emotionspsychologischen Ansätzen und postulieren, dass das Erleben von Angst in Unsicherheitssituationen und deren Überwindung zu einem subjektiven Lustgewinn führen kann.43 Die Ausübung von Risikosportarten stellt demnach eine der wenigen Möglichkeiten dar, sich selbst als emotional und angstvoll zu erfahren. »Sich in seiner Angst zu erleben, bedeutet, sich sehr nahe zu sein, sich zu spüren. Während wir normalerweise in jedem Augenblick damit beschäftigt sind, uns mit den Augen anderer zu sehen, um herauszufinden, welche Erwartungen an uns gerichtet sind, […] ist der Zustand der Angst […] einer der wenigen Momente der völligen Authentizität«.44 Dabei vollzieht sich mit der Angstkonfrontation immer auch ein Stück psychische und geistige Entwicklung. Die für diese Theorie grundlegende Voraussetzung, dass nämlich der Alltag bzw. nicht natürliche Lebensräume wenige oder keine Angstmomente offerieren, wird in diesem Kontext allerdings nur unzureichend begründet. Gleichzeitig bleibt das Angsterleben in den emotionspsychologischen Beiträgen vage. Warum einige Menschen einen solchen Erregungszustand als anregend, andere aber als abstoßend wahrnehmen, wird nicht thematisiert. Zudem wird eine konkrete Abgrenzung von anderen Erregungszuständen nicht vollzogen, so dass die angsttheoretische Theorieentwicklung insgesamt noch unvollständig erscheint. Ebenfalls emotionspsychologisch argumentiert Csikszentmihalyi mit seiner Theorie des »Flow-Erlebens«.45 Das als Flow bezeichnete ›Aufgehen im Tun‹ ist, bedingt durch die starke Konzentration auf ein bestimmtes Stimulusfeld, gekennzeichnet durch die Vereinigung von Außen- und Innenwelt. Alltägliche 40 | Vgl. Rheinberg 2002. 41 | Vgl. Allmer 1998; Rheinberg & Schneider 1996. 42 | Ebd.: 422. 43 | Vgl. Lazarus et al. 1977; Semmler 1994. 44 | Semmler 1994: 166. 45 | Vgl. Csikszentmihalyi 1993.
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Sorgen oder Selbstzweifel werden im Tätigkeitsvollzug beim Flow-Erleben vergessen und zeitliche Strukturen zum Teil vollkommen anders wahrgenommen: »Oft erscheinen Stunden in Minuten zu vergehen«46 oder Sekunden werden zu scheinbar endlosen Momenten. In der Gegenwartszentrierung auf den »schönen und spannenden Augenblick«47 entstehen dabei Authentizitätsgefühle, die vom Handelnden als außergewöhnlich intensiv und positiv empfunden werden. »Man erlebt sich selbst nicht mehr als abgehoben von der Tätigkeit, man ist mit ihr verschmolzen«.48 Risikosportarten scheinen für das Flow-Erleben geradezu prädestiniert zu sein. So berichtet Csikszentmihalyi beispielsweise von einer empirischen Untersuchung an Sportkletterern, bei denen sich besondere intensive Flow-Erlebnisse (deep flow) nachweisen lassen.49 Sozialpsychologische Beiträge zur Thematik gehen indessen von sozialen Distinktionsgewinnen als Teilmotiv des Risikosports aus. Rheinberg argumentiert beispielsweise mit der positiven Attribution von Risikosportarten.50 Wagemut, so die Argumentation, wird in der modernen Gesellschaft als sozial positiv bewertet, wodurch sich Risikosportler als außergewöhnlich und ›heldenhaft‹ präsentieren können.51 Dieser als ›Gladiator-Komponente‹ bezeichnete Anreiz drückt sich auch in der Lebensweise vieler Risikosportler aus.52 Durch die positive Attribution des Risikoverhaltens kann das Betreiben von Risikosportarten auch als soziale Identitätsfindung verstanden werden, die auf eine soziale Anerkennung ausgerichtet ist.53 Nicht selten werden Symbole der Natur dabei zu Stil- und Inszenierungselementen, die zur sozialen Abgrenzung gegenüber den urbanen Alltagssymbolen dienen. Gebauer und Alkemeyer54 weisen beispielsweise im Rahmen ihrer Studie zu Stilisierungsprozessen im Sport darauf hin, dass informelle Sportarten wie Triathlon oder Inline-Hockey unter anderem zu so genannten neuen Stilgemeinschaften führen können, die postmoderne Formen der Vergemeinschaftung darstellen. Obwohl die Autoren ihre Studie nicht explizit im Umfeld des Risikosports durchgeführt haben, ist anzunehmen, dass auch informelle risikosportliche Engagements zu Wahlgemeinschaften führen. Jenseits des Vereins wird im Risikosport demnach soziale Zugehörigkeit gefunden und Gemeinschaft auf der Basis gemeinsamer Erlebnisse zelebriert.55 46 | Ebd.: 29. 47 | Becker 1995: 328. 48 | Rheinberg 1996: 105. 49 | Vgl. ebd. 50 | Vgl. ebd. 51 | Vgl. ebd. 52 | Vgl. Gebauer & Alkemeyer 2004. 53 | Vgl. Amesberger 1992: 26; vgl. auch Hecker 1989: 329. 54 | Vgl. Gebauer & Alkemeyer 2004. 55 | Vgl. ebd.: 45ff.
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Zusammenfassend lässt sich aus den motivationspsychologischen Beiträgen zur Frage nach dem subjektiven Sinn bzw. der Motivstruktur des Risikosports Folgendes festhalten: Risikosportler suchen bewusst Situationen auf, in denen der Handlungsausgang der eingegangenen Risikosituation vom Einsatz der eigenen Fähigkeiten und der ganzen Person abhängt. Im Mittelpunkt steht dabei, sich in absoluter Selbstverantwortung und Selbstinszenierung Handlungssituationen zu gestalten, die unter den Bedingungen des Risikos die eigene Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Das Bewusstsein der realen Gefährlichkeit bewirkt dabei, auch unter abgeschwächten Bedingungen im risikosportlichen Breitensport, eine Intensivierung des Erlebens. Die mit der Risikosituation verbundenen Aktivierungen und Angstreize werden aber nur deshalb als positiv empfunden, weil der Risikosportler der Überzeugung ist, die Kontrolle über die signalisierten Risiken zu haben. Entscheidend bleibt die Feststellung, dass das Ziel des Risikosports mit seinen selbstinszenierten Erlebnis- und Erregungsmöglichkeiten eng mit dem Risikocharakter der Situation verbunden ist. Letztlich ist es die vitale, als Herausforderung wahrgenommene Risikosituation, in der die beschriebenen Anreize und Motivelemente etabliert sind. Die bewegungsorientierte Bewältigung von Risikosituationen in natürlichen oder naturnahen Raumkonstellationen erscheint in dieser Perspektivierung als stimulierende, sinnliche und gleichsam identitätsbildende Handlung, in der die Protagonisten intensive Erlebnisse von Authentizität machen können und sich darüber hinaus als handlungsfähig und kompetent wahrnehmen können.56 Zugegeben: Die aus anthropologisch-motivationstheoretischer Perspektive postulierten Zusammenhänge relativieren sich beim Blick in die Praxis des Risikosports. Denn entgegen der anthropologisch-motivationspsychologischen Theoriebildung, die eine grundsätzlich genuine Anreizstruktur des Risikos nahe legt, zeigt sich in der Praxis, dass das natursportliche Risiko nicht von allen Menschen gleichermaßen wahrgenommen wird. Es besteht derzeit kein Zweifel daran, dass der Risikosport ein vorrangig männlich dominiertes Handlungsfeld darstellt. Der Risikosport repräsentiert scheinbar – so legt es die Genderforschung57 nahe – eine performative Domäne, in der sich Formen traditioneller Männlichkeit besonders intensiv erfahren und darstellen lassen. Das natursportliche Risiko ermöglicht diesbezüglich, an traditionelle identitätsstabilisierende Rollenvorgaben der männlichen Geschlechtsrolle anzuknüpfen und diese nach außen darzustellen – eine in Zeiten geschlechtlicher Verun56 | In der Praxis des Risikosports ist dabei von einer komplexen Motiv- und Anreizstruktur auszugehen. Es ist zu vermuten, dass risikosportliche Aktivitäten durch mehrere zum Teil miteinander verknüpfte Motivdispositionen und situative Anreize bestimmt wird (vgl. Allmer 1998: 89). 57 | Vgl. Butler 1991.
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sicherung58 offenbar erfolgversprechende Strategie geschlechtlicher Identitätssicherung.
D IE N ATUR ALS R ISIKOERFAHRUNG : A BSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN ÜBER DAS V ERHÄLTNIS Z WISCHEN R ISIKOSPORT UND N ATUR Die Motivationsforschung ist sich einig: Risikosportler suchen in der Natur nach Situationen, die es ihnen ermöglichen, authentische und gleichsam stimulierende Erfahrungen der Selbstbestätigung und des Kompetenzerlebens zu machen. In der Natur finden die Sportler Gelegenheiten ihre diesbezüglichen Motive und Bedürfnisse zu befriedigen. Was aber sagt die psychologische Annährung an die Motivstruktur des Risikosports über das Verhältnis des Risikosports, oder genauer, des Risikosportlers zur Natur aus? Eine abschließende Interpretation der vorliegenden Erkenntnisse erlaubt drei grundsätzliche Perspektiven: Auf der einen Seite dient die Natur im Kontext risikosportlicher Handlungen zunächst als grundlegende Kulisse und Rahmung der sportlichen Aktivität. Nur die scheinbar unberührte und wilde Natur offeriert dem Risikosportler Situationen, die als grundlegend unsicher hinsichtlich der Folgen und der Bewältigungsmöglichkeiten eingestuft werden können. Die Natur erscheint unter dieser zweckrationalen Perspektive zunächst als Partner, welcher für die Bedürfnisbefriedigung und Motiverfüllung geeignete Situationen vorhält. Wenngleich ein solches Verhältnis auf die konkrete Handlungssituation beschränkt bleibt und nicht von einer umfassenden und nachhaltigen Partnerschaft ausgegangen werden kann, ist die konkrete Bedürfnisbefriedigung doch an grundlegende Charakteristika der Natur gebunden. Dabei sind insbesondere die Unbestimmtheit und Offenheit der Situation notwendige Rahmenbedingungen für die Ausübung des Risikosports. Der Sportler begegnet diesen Situationen mit Aufmerksamkeit und Konzentration, gleichzeitig aber auch mit Respekt und Demut. Denn die Handlungssituationen müssen vor dem Hintergrund der Risikoabschätzung genau analysiert und reflektiert, mögliche Veränderungen der Gesamtsituation möglichst genau antizipiert werden. Der Sportler weiß dabei um die prinzipielle Abhängigkeit von der Natur und deren situativen Charakteristika und setzt sich bisweilen, dies zeigen zahlreiche Beispiele aus der Praxis, für deren Erhalt ein.59
58 | Vgl. Hertling 2008: 109ff. 59 | So kommt es immer wieder zu thematischen Protestbewegungen und -aktionen von Risikosportler. Beispiele hierfür sind der Protest von Kayakfahrern gegen den Bau von Wasserkraftwerken und Staudämmen z.B. im österreichischen Ötztal sowie die
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Gleichzeitig wird die Natur im Risikosport aber auch zum Fluchtpunkt einer zunehmend abgesicherten und domestizierten Gesellschaft. In Opposition zum Alltag, der scheinbar nur noch wenige ganzheitliche Risikoerfahrungen offeriert, wird der Natur ein eigenständiger Erlebniswert zugesprochen, der sich über die Unbestimmtheit und Offenheit der Unsicherheitssituation bestimmt. Begreift man den Menschen im Verständnis der anthropologischen Handlungstheorie als gleichermaßen sicherheits- wie unsicherheitsbedürftig, so wird das risikosportliche Handeln in der Natur zu einem genuinen Kompensationsversuch. Die Natur steht demzufolge als Gegenpol zu einer gesellschaftlichen Sicherheitskonstruktion, die Unsicherheiten und Offenheiten von Handlungssituationen weitestgehend zu minimieren versucht. Dieser Argumentation folgend, dient die Natur als spezifische kompensatorische Form der Risikoerfahrung, die dem gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit grundsätzlich widerspricht, gleichzeitig aber auf diesen verweist. Als Fluchtpunkt besitzt die Natur im Risikosport damit einen antinomischen Charakter, denn obgleich das Wilde und Unbestimmte der Natur im Zentrum des Risikosports steht, generiert sich ihr Erlebniswert erst aus der Existenz des abgesicherten Alltags. Oder anders ausgedrückt: Das Risikoerlebnis in den Räumen der Natur wird erst durch das Sicherheitsbestreben im urbanisierten Raum überhaupt möglich. Nur wo Sicherheit grundlegend erlebt wird, kann das Bedürfnis nach Unsicherheit und Risiko entstehen. Darüber hinaus wird die Natur im Risikosport aber auch zum Gegner, den es zu bezwingen gilt. Der Sprachduktus des Risikosports lässt wenig Zweifel: Gipfel werden bezwungen, gegen unvorhersehbare Ereignisse gekämpft und mit Wettereskapaden gerungen. Der Ernstfallcharakter, der natursportlichen Risikosituation grundsätzlich innewohnt, erhöht dabei die Gratifikation der Handlung und damit die Option, sich selbst als handlungsfähig wahrzunehmen. Im Gegensatz zum traditionellen Sportspiel, bei dem es neben der symbolischen Niederlage keine weiteren Konsequenzen gibt, ist ein Scheitern in natursportlichen Risikosituationen ein grundsätzlich existenzielles Unterfangen. Auch wenn es im Risikosport nur recht selten um das sprichwörtliche Überleben geht, wird die konkrete Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Rahmenbedingungen doch oft als Überlebenskampf inszeniert. Gerade dort, wo sich Handlungssituationen nur mit Hilfe spezifischer Sportartkompetenzen bewältigen lassen, wird die Natur zum Widersacher, den es zu bezwingen gilt. Es gilt die Natur zu besiegen, um die eigene Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und damit die eigene Existenz zu erhöhen. Zusammenfassend bleibt zu konstatieren: Die Natur wird im Risikosport zu einem einzigartigen Ort der Bewährung, der Selbstbestätigung und ExisProtesthaltung von Klettern und Bergsteigern gegen das Einrichten von weitreichenden Schutzzonen, die die Ausübung von Bergsportarten verbieten.
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tenzvergewisserung. Mit ihren Situationsmerkmalen der Offenheit und Unbestimmtheit offeriert die Natur außerordentliche Handlungssituationen, die eine kompetenzorientierte Bewältigung von Risikosituationen ermöglicht und damit Erlebnisdimensionen bietet, die das genuine Bedürfnis des Menschen nach Unsicherheit grundsätzlich befriedigen können. Obgleich die Natur als Ort der Bewährung damit einen eigenständigen Erlebniswert besitzt, bleibt sie semantisch doch an die dominierende Alltagskultur geknüpft. Erst durch die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit wird die Suche nach Risiken und deren Bewältigung in Räumen der Natur ermöglicht. Ihren Wert als Handlungsraum zur Befriedigung von Selbstbestätigungsmotiven und Identitätskonstruktionen erhält die Natur damit erst als Fluchtpunkt einer zunehmend abgesicherten Gesellschaft. Sie verweist damit auf die bipolare Grundstruktur des Menschen, der neben Sicherheitsbedürfnissen auch grundlegende Bedürfnisse nach bewältigbaren Unsicherheitssituationen aufweist und reflektiert damit das oft diskutierte Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur auf eine andere Weise.
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Nature – Culture – Leisure Die Bedeutung von Natur in der amerikanischen Freizeitgestaltung Anke Ortlepp »I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived.«1 »Hiking our nation’s trails offers Americans boundless opportunities to enjoy nature, renew themselves and establish a lifetime of fitness.« 2
Amerikanern und Amerikanerinnen kann man dieser Tage ein paradoxes Verhältnis zur Natur attestieren. Ein Haus im Grünen, möglichst fernab vom innerstädtischen Trubel, gilt seit Jahrhunderten als Traum amerikanischer Familien. Menschen leben in den Höhenlagen der Rocky Mountains wie in den Sümpfen Floridas. Die Architektur und Ausstattung vieler Häuser aber macht deutlich, dass ihre Bewohner nur in begrenztem Maß bereit sind, die ungezähmte Natur wirklich nah an sich herankommen zu lassen. Gepflegte Rasenflächen umgeben Häuser und Anwesen auch in tropischen und ariden Klimazonen wie Demarkationsgebiete. Fliegengitter markieren die räumliche Grenze zwischen drinnen und draußen. Klimaanlagen schaffen überregional standardisierte Temperaturen, die ein Leben auch in Umgebungen erträglich machen, die als Siedlungsorte ansonsten kaum attraktiv wären. Eine ähnlich ambivalente Bedeutung hat Natur in der zeitgenössischen Freizeitgestaltung. Während sich viele Amerikaner als outdoorsy bezeichnen würden, als Menschen, die gern und viel an der frischen Luft sind und die Naturerfahrung auch in ihrer extremen Variante suchen, gibt es eine wesentlich größere Gruppe, die es bevorzugt, Natur als bequem erreichbares und schön 1 | Thoreau 1856/1973: 90f. 2 | Miller 2011.
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dargebrachtes Produkt zu konsumieren. Anstelle von wilden Schlauchbootfahrten auf dem Colorado River oder Klettertouren in den Rocky Mountains bevorzugen diese Naturfreunde ein Naturerlebnis, das überschaubar und beherrschbar ist, so wie es in vielen Nationalparks geboten wird. Gute Straßen führen dort von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt. Wenig interessiert am Umherklettern auf Wanderwegen, sehen viele Besucher der Parks die Landschaft zwischen den Aussichtspunkten lediglich durch die Windschutzscheibe: Ihre Naturerfahrung wird vermittelt und gebrochen durch eine Glasscheibe und die Geschwindigkeit des Autos. Andere wenden sich gleich artifiziellen Naturlandschaften zu. Auch fünf Jahrzehnte nach der Eröffnung Disneylands erfreut sich das Bobfahren am Matterhorn ebenso großer Beliebtheit wie das simulierte Drachenfliegen über die Naturwunder Kaliforniens.3 Angeregt durch diese Beobachtungen setzt sich der vorliegende Beitrag mit der Bedeutung von Natur in der amerikanischen Freizeitgestaltung auseinander. Er fragt danach, welche Formen von Natursuche und Naturerfahrung es in der Vergangenheit gab und welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten ein Blick auf gegenwärtige Freizeitangebote und deren Nutzung erkennbar macht. Welche Aneignungen von Natur und Landschaft entpuppen sich als jeweils neu, welche Praktiken des Naturerlebens hingegen haben lange Tradition? Der Betrachtung des Umgangs mit und dem Erleben von Natur liegt dabei die Auffassung zugrunde, dass es sich bei dem jeweiligen Verständnis von Natur um das Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses um die Bedeutung der Konzepte Natur und Kultur sowie Wildnis und Zivilisation handelt. Diese Konzepte existieren zu keiner Zeit als gegebene Größen, sondern verändern ihre Bedeutung als Teil symbolischer Ordnungen, in die sich Amerikaner und Amerikanerinnen als Landschaftsgestalter und Naturfreunde einschreiben und daraus zugleich Handlungsanleitungen beziehen. In der Folge geht es daher zunächst um eine Herleitung des Begriffs Natur im amerikanischen Bedeutungszusammenhang. Der Historiker William Cronon und andere haben sich mit Naturverständnissen im Wandel der Zeit auseinandergesetzt. Diese Arbeiten werden kurz zusammengefasst. Im Anschluss geht der Beitrag auf unterschiedliche Formen der Naturerfahrung ein. Er beleuchtet das einsiedlerische Projekt Henry David Thoreaus, der Monate der Abgeschiedenheit am Walden See verbrachte; er verfolgt die Aktivitäten der Kampagne See America First, einer Tourismusinitiative, die Amerikaner dazu aufrief, ihre Freizeit in den heimischen Nationalparks zu verbringen. Außerdem werden die Aktivitäten des Sierra Club und der American Hiking Society, die Angebote von Extremsport- und Naturtourismusanbietern sowie das Konzept des Ökotourismus betrachtet. Letzteres dient als aktuelles Beispiel für eine Freizeitnutzung der Natur, die vom Gedanken der Nachhaltigkeit inspiriert ist. Geleitet werden die Überlegungen 3 | Disney 2011.
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von der These, dass sich die konkreten Formen von Naturerfahrung im Laufe der Zeit ändern, der Wandel aber vor allem darin zu verzeichnen ist, wie sich Menschen in der Natur verorten und welche Bedeutung sie ihrer Naturerfahrung bei der Bewältigung des Alltags beimessen.
N ATUR VERSUS K ULTUR ? Natur und Naturerfahrung nach der poststrukturalistischen Wende zu betrachten heißt, Natur als kulturelles Konstrukt zu verstehen und ontologische Verständnisse in Frage zu stellen. Im amerikanischen Kontext hat sich insbesondere William Cronon mit der Konstruiertheit des Naturbegriffs befasst und den Bedeutungswandel dargelegt, den Begriffe wie Natur und Wildnis im Verlauf der letzten vier Jahrhunderte erfahren haben. »Far from being the one place on earth that stands apart from humanity«, schreibt Cronon in The Trouble with Wilderness, einem der zentralen Beiträge zur Debatte, »it is quite profoundly a human creation – indeed a creation of very particular human cultures at very particular moments in human history«.4 Damit unterstreicht er die Bedeutung von Wandel für jede Untersuchung, die sich der Interaktion zwischen Mensch und Natur annimmt. Gleichzeitig bricht er die Dichotomie von Wildnis und Zivilisation auf, die ein Entweder – Oder postuliert, und ersetzt sie durch die Annahme, dass es ein Spektrum von Zuständen gibt, die zwischen beiden liegen, und ein Begriff nicht ohne den anderen verstanden werden kann. Damit verabschiedet er sich auch von dem Glauben an eine transzendente Natur, die weit abseits der Zivilisation pur und unverstellt erfahrbar ist (auch wenn sie materiell existiert). Amerikaner erfuhren und erfahren nach dieser Auffassung Wildnis stets als das Produkt ihrer kulturell kodierten Imagination. Wie sich Vorstellungen und Deutungen von Natur ändern, erläutern Cronon und andere Autoren und Autorinnen am kompaktesten greifbar im Sammelband Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature, der auch seinen oben genannten Essay enthält.5 So war, erläutert Cronon, das puritanische Verständnis von Wildnis von Angst und Entfremdung geprägt. Die Wildnis war ein Ort am Rande der Zivilisation, an dem sich Menschen in moralischer Verwirrung und Zweifel an ihrem Glauben verlieren konnten. Niemand, so Cronon, begab sich freiwillig dorthin, es sei denn es galt, dieses Land für Menschen nutzbar zu machen – als city upon a hill. »In its raw state, it had little or nothing to offer civilized men and women.«6 Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein Deutungswandel, in dessen Verlauf Wildnis ihre Bedrohlichkeit 4 | Cronon 1996: 69. 5 | Ebd. Wegbereiter der Debatte ist Nash 1967. 6 | Cronon 1996: 70f.
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verlor und eine positive Umdeutung erfuhr.7 Hatten sich zuvor dort vor allem böse Mächte offenbart, galt Natur nun als Umgebung, in der Menschen einer übernatürlichen Schöpfungskraft (the sublime) teilhaftig werden konnten. »In the theory of Edmund Burke, Immanuel Kant, William Gilpin, and others, sublime landscapes were those rare places on earth where one had more chance than elsewhere to glimpse the face of God.«8 Etwa gleichzeitig, dies zeigt Carolyn Merchant, nahm eine Lesart Konturen an, die vor allem die westlichen Gebiete der jungen Nation – die frontier – als Orte der Erneuerung und Belebung interpretierte. Hier konnten Amerikaner sich ihres Nationalcharakters bewusst werden und aus dem Vollen (Land, Ressourcen usw.) schöpfen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war, so Merchant, diese Umdeutung der Natur/Wildnis vom wasteland zum Garten Eden weitgehend abgeschlossen, auch wenn Versatzstücke älterer Lesarten nicht völlig aus dem Interpretationskanon verschwanden.9 Diese Umdeutung, darauf verweist wiederum Cronon, führte zu neuen Einstellungs- und Nutzungsmustern. Die neue Wertschätzung der Natur führte zum Wunsch, sie zu schützen und für zukünftige Generationen zu erhalten. Hier, so zeigt er, hat die frühe Umweltbewegung ihre Wurzeln. Sie führt aber auch dazu, die Natur als Ort der verschwundenen frontier und deren Wildheit zu verherrlichen und sie als idealen Rückzugsort für von der Zivilisation gestresste Zeitgenossen zu konstruieren und sie mit einer touristischen Infrastruktur zu überziehen. Deren Nutzer brachten jedoch ihre städtischen Ideen von Wildnis mit. Zu denen gehört die Überzeugung, Natur nicht als einen Produktionsort zu sehen, sondern sie als Konsumraum zu interpretieren. Damit werde die Natur zum Spiegel der Zivilisation, der die Besucher zu entkommen suchen. Und die Naturerfahrung wird, so Cronon, zum kulturellen Konstrukt.10
N ATUR UND I NDIVIDUUM : R ÜCKBESINNUNG AUF DAS S ELBST War bis zur Industrialisierung der Aufenthalt im Freien vor allem durch Tätigkeiten in der Landwirtschaft motiviert gewesen – nur Vertreter der Oberschicht hatten es sich leisten können, z.B. auf der Jagd Zerstreuung in der Natur zu finden –, so führten auch in den Vereinigten Staaten sich verändernde Produktionsverhältnisse zu neuen Verhaltensmustern auf der einen und neuen Verständnissen von produktiv nutzbarer Zeit auf der anderen Seite. Freizeit, ein Konzept, mit dem Amerikaner und Amerikanerinnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch wenig anzufangen wussten, entwickelte sich zum zentralen 7 | Vgl. Haß et al. in diesem Band. 8 | Cronon 1996: 73. 9 | Merchant 1996; vgl. auch Merchant 2003. 10 | Cronon 1996: 84-86.
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Gegenpol der am Arbeitsplatz verbrachten Zeit.11 Mit fortschreitender Industrialisierung vergrößerte sich die Zahl der Menschen, deren Arbeitstage durch klar definierte Arbeitsstunden strukturiert waren. Während Industriearbeiter vor einer Reduzierung der wöchentlichen Arbeitsstunden gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum über Freizeit verfügten, waren es vor allem die Vertreter der sich zur Mitte des Jahrhunderts ausdifferenzierenden Mittelschicht – die vor allem in Handel und Unternehmertum aktiv waren –, die vermehrt über Freizeit verfügten und neue Formen der Naturerfahrung entwickelten bzw. adaptierten.12 Hierzu zählt vor allem die Praxis des Spazierengehens und des Wanderns. Ähnlich wie Gudrun König für den deutschen Kontext gezeigt hat, war dies auch in den USA eine neue, von romantischen Naturverständnissen inspirierte Art und Weise, Natur zu erleben und zugleich durch Kleidung, Habitus und angesteuerte Ziele Klassenzugehörigkeit zur Schau zu stellen.13 Angeregt durch die Gemälde der Hudson River School erkundete eine zunehmende Zahl von Amerikanern Reiseziele wie die Catskill, Adirondack und White Mountains in den Bundesstaaten New York und New Hampshire. Dort bewegten sie sich vornehmlich zu Fuß in einer als Wildnis interpretierten Umgebung, um sich im Erleben von Natur selbst zu transzendieren und einer höheren, göttlichen Macht gewahr zu werden.14 Zur gleichen Zeit wuchs angesichts der schnell voranschreitenden Industrialisierung, zu der auch die Entwicklung neuer Transporttechnologien wie die Eisenbahn gehörte, die Sorge, dass Wachstum und Fortschritt langfristig auf Kosten natürlicher Räume gehen würden. Die Wildnis, so erkannten sowohl kritische Beobachter als auch Befürworter der industriellen Revolution, würde immer schneller städtischen Strukturen und Industrielandschaften weichen müssen.15 Aus dieser ambivalenten Gefühlslage, die den Fortschritt kritisch, wenn auch nicht völlig ablehnend beobachtete, speiste sich Henry David Thoreaus Projekt, zwischen 1845 und 1847 Monate der relativen Abgeschiedenheit am Walden Pond, einem See in den Wäldern nahe Concord, Massachusetts, zu verbringen. Nach Abschluss seines Aufenthaltes schrieb Thoreau seine Naturerfahrungen in dem Buch Walden, or Life in the Woods nieder, das sich seither zu einem der zentralen Texte des amerikanischen Literaturkanons entwickelt hat.16 Dort erklärte er, vor allem das unermüdliche, fremdbestimmte Schuften seiner 11 | Vgl. Daniels 1996; Howe 2002; Larkin 1988; Whitey 1997. 12 | Vgl. Chambers 2002; Rosenzweig 1985; Sterngass 2001. 13 | König 1996; vgl. Solnit 2000. 14 | Vgl. Gassan 2008; siehe auch Sears 1989. 15 | Vgl. Schivelbusch 1976; siehe auch Foster 1999. 16 | Vgl. Thoreau 1856/1973. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel: Walden oder Leben in den Wäldern. Die erste deutschsprachige Übersetzung von Emma Emmerich erschien 1897 im Concord Verlag München.
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Nachbarn im Ort – Landwirte und Kaufleute – habe ihn zum kontemplativen Rückzug in die Natur bewogen. »Most men«, schrieb er, »even in this comparatively free country, through mere ignorance and mistake, are so occupied with the factitious cares and superfluously coarse labors of life that its finer fruits cannot be plucked by them.« Der arbeitende Mann, so führte er weiter aus, habe keine Muße zur Selbstreflektion: »He has no time to be anything but a machine.«17 Thoreau führte dies auf den zunehmend materialistischen Lebensstil seiner Zeitgenossen zurück. Wenn im Süden der Vereinigten Staaten Sklaven von ihren Aufsehern zu übermenschlichen Leistungen angetrieben würden, sei dies verachtenswert. Sich selbst sklavisch neuen Leistungsanforderungen zu unterwerfen, sei kaum besser.18 Dieser von ihm diagnostizierten Sinnentleerung des Lebens begegnete Thoreau mit der Rückkehr zu einer am Eigenbedarf orientierten Lebensweise. Im März 1845 bezog er seine Holzhütte am Ufer des Sees. Die Ausstattung seiner Behausung zeigt, dass auch Thoreau sich nicht ganz von der Zivilisation freimachen konnte oder wollte. Neben selbstgefertigten Möbeln waren es vor allem Kleidung, Bücher und Schreibutensilien, die er im Ort kaufte. Zudem empfing er zahlreichen Besuch. Die Geräusche der in einiger Entfernung vorbeiziehenden Eisenbahnen, dieses Symbols der Industrialisierung, begrüßte er als willkommene Abwechslung von den Hörerlebnissen, die ihm die Natur bot.19 Jenseits dessen jedoch bietet Walden ein eindrucksvolles Zeugnis vom Leben in der Natur. Thoreau legt die Veränderungen dar, die der Wechsel der Jahreszeiten mit sich bringt, er studiert Flora und Fauna, vermisst und beobachtet den See, analysiert Geräusche und Farben und stellt Überlegungen zur Subsistenzwirtschaft der indianischen Ureinwohner und dem Leben früherer Generationen von anglo-amerikanischen Landbewohnern an. Neben dem Versuch, im Einklang mit der Natur zu leben, wird in diesen Aktivitäten auch Thoreaus Verwurzelung in intellektuellen Praktiken der Naturbeherrschung sichtbar, die er nicht kritisch reflektiert. Hingegen denkt er vor allem über sich und seine Existenz nach. Immer wieder beschreibt er den Genuss, den ihm Einsamkeit und Einfachheit bereiten, da ihm das Vorkommen und die Beschaffenheit natürlicher Objekte zum einen Vertrautheit und Geborgenheit vermitteln und ihn zum anderen an der Gegenwart einer höheren, göttlichen Macht teilhaben lassen. Im Kapitel »What I Lived for« subsumiert er seine Erfahrung wie folgt: »I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived. I did not wish to live what was not life, living is so dear; nor 17 | Thoreau 1856/1973: 6. 18 | Ebd.: 7. 19 | Vgl. ebd.: 111-128.
N ATURE – C ULTURE – L EISURE did I wish to practice resignation, unless it was quite necessary. I wanted to live deep and suck out the marrow of life, to live so sturdily and Spartanlike as to put to rout all that was not life, to cut a broad swath and shave close, to drive life into a corner, and reduce it to its lowest term, and, if it proved to be mean, why then to get the whole and genuine meanness of it, and publish its meanness to the world, or if it were sublime, to know it by experience, and be able to give a true account of it in my next excursion.« 20
Damit verortete er seine Naturerfahrung in einer romantischen Tradition, die er als Mitbegründer des Transzendentalismus, einer literarisch-philosophischen Bewegung, in ihrer spezifisch amerikanischen Variante zu definieren half.21 Zugleich reetablierte er die Natur als Ort, an den sich der Mann als Individuum zurückziehen konnte. Unter künstlich erzeugten frontier-Bedingungen konnte dieser sich angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Veränderungen seiner Männlichkeit rückversichern und selbstbewusst in die sogenannte Zivilisation zurückkehren. Ähnliches bieten zeitgenössische Selbsterfahrungsseminare, auf die an anderer Stelle zurückzukommen sein wird.
N ATUR UND N ATION : TOURISMUS ALS KOLLEK TIVE I DENTITÄT Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Freizeitgestaltung und Naturerfahrung zunehmend in einen nationalen Zusammenhang gestellt. Dabei wurde die Aufmerksamkeit amerikanischer Touristen zunehmend auf amerikanische Reiseziele gelenkt. Hatten Reisende zuvor zum Beispiel im Rahmen der Grand Tour eher europäische Ziele angesteuert, versuchten Reiseanbieter, ihnen nun ihr eigenes Land schmackhaft zu machen.22 Marguerite Shaffer interpretiert dies als die Entstehung von Tourismus »as a form of geographical consumption that centered on the sights and scenes of the American nation«.23 Sie sieht in Tourismusinitiativen wie der Kampagne See America First den Versuch, Reisen als ritualisierte Ausübung amerikanischer Staatsbürgerschaft zu etablieren. Reisen wurde damit quasi zur patriotischen Pflicht. Das Abklappern eines neu entstehenden Kanons von Reisezielen wurde zur Möglichkeit für Amerikaner und Amerikanerinnen, mit dem Aufsuchen von Orten und deren Geschichte an gemeinsame Wurzeln anzuknüpfen und damit einer nationalen Identität Ausdruck zu verleihen.24 20 | Ebd.: 90f. 21 | Zu Thoreau und zum Transzendentalismus vgl. Buell 1996; 2006; Schulz 2010. Als Standardwerk zum Thema gilt noch immer Matthiessen 1941. 22 | Vgl. Kilbride 2000; Whitey 1997. 23 | Shaffer 2001: 3. 24 | Ebd.: 4.
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Schaut man auf die beworbenen Reiseziele, wird deutlich, dass Tourismusveranstalter die USA vor allem als Naturschauspiel vermarkteten. In seinen großartigen Naturlandschaften lag die Differenz, die das Land von anderen unterschied. Das machten Werbekampagnen deutlich. Amerika wurde in diesem Diskurs konstruiert als »nature’s nation«.25 In der Natur wurde demnach nicht allein individuelle, sondern auch kollektive Identität unmittelbar erfahrbar. Zugleich bot sie eine Projektionsfläche, auf die eine normative nationale Identität eingeschrieben werden konnte – Mt. Rushmore mit seinen in Stein gehauenen Präsidentenportraits ist sicherlich ein Beispiel dafür.26 Amerikaner wurden aufgefordert, in den Westen des Landes zu reisen, um dort unberührte Landschaften zu erleben. Neu eingerichtete Nationalparks versprachen Naturschauspiele und eine Infrastruktur (Wege und Übernachtungsmöglichkeiten), die diese konsumierbar machte.27 1864 wurde auf Initiative des Naturforschers und Umweltschützers John Muir der Yosemite Park in Kalifornien als erster Nationalpark gegründet, um ein gegen wirtschaftliche Interessen geschütztes Naturreservat anzulegen und Besuchern ein Refugium zur Erholung zu bieten.28 Die Nutzung des Parks durch seine Zeitgenossen begrüßte er als gesunden Einstellungswandel. So schrieb Muir in Our National Parks: »The tendency nowadays to wander in wildernesses is delightful to see. Thousands of tired, nerve-shaken, over-civilized people are beginning to find out that going to the mountains is going home; that wildness is a necessity; and that mountain parks and reservations are useful not only as fountains of timber and irrigating rivers, but as fountains of life.« 29
Die Gründung anderer Nationalparks wie des Yellowstone und des Grand Canyon folgte. 1916 wurde der National Park Service als Bundesbehörde gegründet, die für die Pflege und Verwaltung der Naturareale verantwortlich zeichnete.30 Nicht immer standen bei der Einrichtung von Parks allein konservatorische Interes25 | Zum Konzept der nature’s nation vgl. Miller 1967: 197-207; siehe auch Bak & Hölbing 2003. 26 | Vgl. National Park Service 2011a. 27 | Vgl. Überblickswerke zur Geschichte der Nationalparks wie Runte 2010; Gruse 2004; Kaufman 2006. Daneben gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Geschichte und der Entwicklung einzelner Parks auseinander setzen. 28 | Zur Geschichte des Yosemite Park vgl. Cohen 1986. Zu John Muir und seiner Bedeutung als Naturforscher und Leitfigur der frühen Umweltschutzbewegung vgl. Worster 2005; 2008. 29 | Muir 1901: 1. 30 | Die Webseite des National Park Service (NPS) gibt eine exzellente Einführung in die Aufgaben, Geschichte und Arbeit des Parkservice. Zudem finden sich Beschreibun-
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sen im Vordergrund. Häufig waren es auch wirtschaftliche Überlegungen. So war es der Betreiber der Great Northern Railroad, Louis W. Hill, zugleich einer der Initiatoren der See America First-Kampagne, der sich für die Einrichtung des Glacier National Park im Bundesstaat Montana stark machte, um mit Reise- und Übernachtungsangeboten seine Geschäfte als Transportunternehmer auszubauen. Der Glacier National Park wurde nach seiner Einrichtung im Sinne einer Marke als Reiseziel angeboten und seine ur-amerikanischen Qualitäten bei der Vermarktung in den Vordergrund gestellt.31 Amerikaner sprachen auf diese neuen Reiseziele an. Insbesondere die Einführung des Automobils führte zur größeren Beweglichkeit der Menschen und zu zunehmendem Individualtourismus. Ausflügler konnten sich nun auch spontan ins Auto setzen, Reisende individuell Routen, Ziele und Reisedauer festlegen.32 Insbesondere Parks wie der Yosemite Park, der etwa vier Autostunden von San Francisco entfernt liegt, verzeichneten einen enormen Anstieg der Besucherzahlen. Amerikaner strömten aber auch in andere Nationalparke, deren Zahl immer größer wurde. Und sie tun dies noch immer. Allein die Besucherzahlen der mittlerweile 58 Nationalparks belegen den Stellenwert, den Amerikaner dem rekreativen Aufenthalt in der Natur beimessen.33 Die Besucherzahlen des Yosemite National Park sind von 5414 im Jahr 1906 (für das die ersten Zahlen vorliegen) auf über 3,9 Millionen Besucher 2010 gestiegen. Den Yellowstone National Park besuchten im gleichen Jahr 3,64 Millionen, den Grand Canyon 4,4 Millionen Menschen. Auch im Jahr 2010 war der meistbesuchte Nationalpark der Great Smoky Mountains National Park, der in den Bundesstaaten Tennessee und North Carolina liegt, mit 9,46 Millionen Besuchern.34
N ATUR UND I NDIVIDUUM : W OHLBEFINDEN UND E X TREMERFAHRUNG Die Organisation und Durchführung rekreativer Aufenthalte in der Natur in und jenseits der Nationalparks stehen im Zentrum der Aktivitäten des Sierra gen aller vom NPS verwalteten Parks, und Gebäude, siehe National Park Service 2009. Zur Gründung des NPS vgl. Albright & Schenck 1999. 31 | Zur Einrichtung und Vermarktung des Glacier National Park vgl. Shaffer 2001: 40-92. 32 | Zur Bedeutung des Autos für den Individualtourismus vgl. Belasco 1979; Lewis & Goldstein 1983; Foster 2003. 33 | Nicht alle vom NPS unterhaltenen Areale tragen die Bezeichnung National Park. Es gibt eine Reihe anderer Kennzeichnungen wie National Monument, National Seashore, National River usw. Insgesamt unterhält der NPS fast 400 Einrichtungen. 34 | Für alle Zahlenangaben siehe National Park Service 2011b.
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Clubs und der American Hiking Society. Das Ziel, eine Erholung und Erneuerung des Individuums durch Naturerfahrung anzustreben, wird bei beiden Organisationen durch eine ökologische Agenda ergänzt. Beide propagieren Naturschutz und den nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen als Teil ihrer Mission und bieten ihren Mitgliedern eine Palette von Angeboten, sich an Umweltschutzprojekten zu beteiligen oder solche zu organisieren. Insbesondere der Sierra Club versteht sich dabei auch als Grassroots Organisation, die Umweltpolitik betreibt und durch Kampagnen und Aktionen auf Umweltprobleme aufmerksam macht. Seine Gründung in San Francisco im Jahr 1892 geht auf den bereits erwähnten Umweltschützer und Naturforscher John Muir zurück. Der Sierra Club bot Mitgliedern und Interessierten schon früh Wanderungen und Exkursionen an.35 Von San Francisco aus fasste die Organisation allmählich im ganzen Land Fuß und ist heute in allen Bundesstaaten der USA mit lokalen Ablegern vertreten. Der Club bietet auch über diese Ableger ein breites Spektrum an rekreativen Aktivitäten und umweltpolitischen Partizipationsmöglichkeiten. Das Angebot an Exkursionen reicht von Wanderungen durch den Shenandoah National Park in Virginia bis zu Reisen nach Indien und Nepal.36 Aktuell ruft der Sierra Club seine Mitglieder zudem zur Beteiligung an mehreren Kampagnen auf. Eine dieser Initiativen trägt den Titel Let’s Declare Freedom from Oil.37 Um eine Herabsetzung des Benzinverbrauchswertes für PKW auf 60 Meilen pro Gallone zu erreichen, sind Mitglieder aufgefordert, ein Foto von sich in einer verbrauchskritischen Pose an Präsident Obama zu senden.38 Derzeit hat der Sierra Club 1,4 Millionen Mitglieder.39 Die American Hiking Society ist eine wesentlich jüngere Organisation. Sie wurde 1976 als Sammelbecken und Lobbyorganisation für Wanderer gegründet. In den ersten Jahren ihres Bestehens ging es der Gesellschaft vor allem um die vollständige Umsetzung des 1968 vom Amerikanischen Kongress verabschiedeten National Trails System Act und seiner Zusätze.40 Dazu gehörte die 35 | Zur Geschichte des Sierra Club vgl. Cohen 1988. Zu Muir vgl. Fußnote 28 in diesem Beitrag. Hingewiesen sei auch auf Muirs umfangreiche Schriften, in denen er seine Naturphilosophie und seine Umweltschutzagenda darlegt. Siehe z.B. Our National Parks (1901), My First Summer in the Sierra (1911) und The Yosemite (1912). 36 | Für das jeweils aktuelle Angebot siehe Sierra Club National Outings 2011. Die auf der Webseite veröffentlichten Testimonials von Exkursionsteilnehmern sind durchgehend positiv. Es ist allerdings anzunehmen, dass kritische Stimmen dort nicht publiziert werden. 37 | Siehe Sierra Club Go 60 2011. 38 | Beispiele siehe ebd. 60 Meilen pro Gallone entsprechen einem Verbrauch von vier Litern auf 100 Kilometer. 39 | Für Angaben zur Mitgliederzahl und Mitgliedschaft siehe Sierra Club 2011. 40 | United States Codes, Volume 16, Sections 1241-1251.
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Einrichtung und Pflege von Wanderwegen, die auch weiterhin zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen. Seit den 1990er Jahren konzentriert sich die American Hiking Society verstärkt darauf, neben der Qualität der Wanderwege auch die Qualität der Wandererfahrung zu verbessern und das Augenmerk verstärkt auf Umwelt- und Artenschutz zu richten.41 Inspiriert wird die Arbeit der Gesellschaft von der Überzeugung, dass ein an Fitness orientierter Freizeitaufenthalt in der Natur wesentlich zur Steigerung des persönlichen Wohlbefindens beiträgt. »Hiking our nation’s trails offers Americans boundless opportunities to enjoy nature, renew themselves and establish a lifetime of fitness«, so formuliert es der Vorsitzende Gregory A. Miller.42 Neben dem Betreiben von Aufklärungskampagnen und Lobbyarbeit versucht die Hiking Society, Amerikaner für das Wandern zu begeistern, das in den USA als Freizeitpraxis keine ähnlich lange Tradition hat wie in Deutschland.43 Dabei stehen vor allem Familien im Fokus. An sie richtet sich z.B. das Programm Families on Foot. Es bietet neben Informationen zu Ausrüstung und Sicherheit vor allem Wanderangebote. Dabei geht es mit dem Blick auf die Zielgruppe der Jugendlichen darum, Freizeitaktivitäten in einer natürlichen Umgebung, die in den letzten Jahren stark zugunsten von elektronischer Unterhaltung abgenommen haben, populär zu machen – und damit auch Lifestyleveränderungen anzuregen. Denn die Hiking Society strebt an, »[to] help families on the path to healthier living by increasing the amount of physical, outdoor activity through hiking.«44 Körperliche Fitness und gesunde Ernährung für Jugendliche sind dabei Anliegen, die vor allem durch die von First Lady Michelle Obama im Jahr 2010 gestartete Kampagne Let’s Move ins nationale Bewusstsein gerückt sind.45 Gesundheit und Wohlbefinden werden hier klar an Naturerfahrung, natürliche Produkte und sinnvolle Freizeitaktivitäten im Freien gekoppelt. Damit wird zugleich an ältere Traditionen wie Thoreaus Antimaterialismus und neue Trends aus der Ökobewegung wie Konsum von Lebensmitteln aus regionalem Bioanbau, slow food statt fast food, Entschleunigung des Alltags durch Ausgleichssport usw. angeknüpft. Neben dem Wandern und dem Fahrradfahren, das auch als breitentaugliche Form der Freizeitaktivität gilt, sind es vor allem Extremsportarten, mit denen eine zunehmende Zahl von Amerikanern und Amerikanerinnen ihre Freizeit 41 | Montorfano 2006: 2. 42 | Miller 2011. 43 | Vgl. Solnit 2000; Williams 2007. 44 | American Hiking Society 2011. 45 | Vgl. Obama 2011. Diese Kampagne nimmt sich vor allem des zunehmenden Problems der Fettleibigkeit unter amerikanischen Kindern und Jugendlichen an. Besonders betroffen sind dabei Heranwachsende, die in armen Verhältnissen groß werden. Let’s Move bietet ein umfangreiches, lokal abrufbares Angebot, das von gesunden Kochrezepten bis zu Mitmachprogrammen für Eltern und Kinder reicht.
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verbringt. Dazu gehören unter anderem Surfen, Wind- und Kitesurfen, Paragliden, Snowboarden in extremen Alpinlagen, hochalpines Bergsteigen, freestyle Bergsteigen, Solofahrten auf maritimen Gewässern, Wildwasser-Kanu- oder Schlauchbootfahrten, Mountainbiking und Triathlons wie der Iron-Man-Wettkampf auf Hawaii.46 Diese Liste ließe sich um zahlreiche Sportarten verlängern. Die Lektüre einschlägiger Fachmagazine macht deutlich, dass es Profis wie Freizeitextremsportlern vor allem um das Austesten körperlicher Grenzen geht, den sogenannten Kick. Welche Rolle aber spielt äußere Naturerfahrung in diesem Zusammenhang? Geht es hier in romantischer Tradition um das Eintauchen des Menschen in die Natur, um dort einer höheren Schöpfungskraft teilhaftig zu werden? Vielleicht. Mehr als die Suche nach dem Leben im Einklang mit der Natur scheint jedoch ein Kräftemessen mit den Gewalten der Natur im Vordergrund zu stehen.47 Dabei geht es um den Einzelnen, der seine jeweils individuelle Identität als Mitglied einer Leistungsgesellschaft neu verhandelt. Ob Partizipation an Extremsportarten als affirmativ oder in Opposition zur Norm zu werten ist, wäre an anderer Stelle durch den Blick auf einzelne Sportarten zu klären.48 Eine stärkere Nähe zum Walden-Projekt Henry David Thoreaus lässt sich hingegen bei den Wilderness-Survival-Seminaren erkennen, die in den Vereinigten Staaten in einer unüberschaubaren Vielfalt angeboten werden. Die Angebote reichen von Seminaren, die in ein- bis zweiwöchigen Crashkursen in Überlebenstechniken einführen. Andere dauern bis zu einem Jahr und umfassen neben dem Einüben von survival skills die Vermittlung von botanischem, ornithologischem, zoologischem und meteorologischem Wissen, ohne das ein Überleben in ›freier Wildbahn‹ nicht möglich wäre.49 Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen lernen, Gegenstände mit primitiven Werkzeugen aus natürlichen Materialien zu fertigen, Feuer zu machen, Wild zu erlegen, essbare Pflanzen zu erkennen usw. In der Regel liegt ihrem Interesse an diesen Kursformaten eine bewusste Abkehr von der zeitgenössischen Konsumgesellschaft und deren Ma46 | Vgl. die Vielzahl der Webseiten und Publikationen, die Profi-, Amateur- und Freizeitorganisationen betreiben und herausgeben. Die Sportgeschichte und die Kulturwissenschaften haben diese Sportarten erst in jüngster Zeit als Untersuchungsobjekte entdeckt. 47 | Vgl. Göring in diesem Band. 48 | Arbeiten, die in den letzten Jahren zum Surfen oder Snowboarden entstanden sind, argumentieren, dass solche Sportarten sich zunächst als Nischensportarten formieren und einem alternativen Lebensstil Ausdruck verleihen, bevor sie vom Mainstream vereinnahmt werden. Vgl. Langer 2010. 49 | Siehe zum Beispiel die Wilderness Awareness School (WAS), eine 1983 gegründete non-profit Organisation in Duvall, Washington (Wilderness Awareness School 2009), oder die Survival Training School of California (California Survival Training 2011).
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terialismus zugrunde. Gesucht werden Formen identitätsstiftenden Handels, die jenseits der oberflächlichen Angebote liegen, die diese Gesellschaft macht. Dabei hat die vorübergehende Rückkehr zu einer primitivistischen Lebensweise in der Natur sinnstiftende Funktion. So schreibt Absolvent Brett Schull über sein Jahr an der Ananke Outdoor School in Duvall, Washington: »The most valuable gift I have taken from this program is a deep and powerful sense of my own belonging and worth in this world. During the program I experienced numerous ritesof-passage that my soul was aching for […] I remain truly grateful.«50
N ATUR , TOURISMUS UND Ö KOLOGIE Wilderness-Seminare lassen sich auch als eine Form des relativ jungen Ökotourismus betrachten. Dabei geht es um nachhaltige Formen von Tourismus, die Ressourcen schonen und eine Ausbeutung der lokalen Bevölkerung zu vermeiden suchen. Hal Rothman hat für den amerikanischen Kontext auf die Folgen für lokale Gemeinden hingewiesen, die sich zu Tourismuszielen machten und dann von den Folgeentwicklungen überrascht wurden oder mit der Abwicklung des Besucheraufkommens überfordert waren.51 Im zeitgenössischen Gebrauch steht der Begriff Ökotourismus in seiner breitesten Auslegung für »nature based travel«, also Formen des Reisens, bei denen ein Aufenthalt in der Natur im Vordergrund steht. Die Internet-Plattform ecotourisminamerica.com bietet unter diesem Label Reisen in ländliche Gebiete (rural tourism), Agrotourismus und Abenteuerreisen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in den gesamten Amerikas an.52 Viele Verfechter des Konzeptes aber setzen sich für ein wesentlich engeres Verständnis des Begriffes ein und betonen neben den wirtschaftlichen die politischen und sozialen Komponenten eines nachhaltigen (Natur-)Tourismus. Ökotourismus, so Martha Honey, ist mehr als allein der umsichtige Freizeitaufenthalt im Freien. Vielmehr definiert sie »ecotourism« als »travel to fragile, pristine, and usually protected areas that strives to be low impact and (usually) small scale. It helps educate the traveler; provides funds for conservation; directly benefits the economic development and political empowerment of local communities; and fosters respect for different cultures and for human rights«.53 Reiseziele, so zeigt neben der einschlägigen Literatur auch der Angebotskatalog von The International Ecotourism Society (TIES), liegen häufig 50 | Wilderness Awareness School 2011. Die Ananke Outdoor School ist ein Programmbereich der WAS. 51 | Rothman 1998. 52 | Ecotourisminamerica 2011. 53 | Honey 1999: 25. Auf weitere umfangreiche Literatur zum Thema kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden.
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in Entwicklungs- und Schwellenländern des globalen Südens.54 Initiativen wie Travel Green Wisconsin aber machen deutlich, dass sich auch der US-amerikanische Reisemarkt verändert. Dieses vom Tourismusministerium des Bundesstaates Wisconsin im Jahr 2006 ins Leben gerufene Programm bietet als erstes seiner Art Tourismusanbietern eine Ökozertifizierung an. Sie ist an die Einhaltung eines Maßnahmenkatalogs geknüpft, der sich am Erreichen der oben genannten Ziele orientiert.55 Das Interesse am ›grünen‹ Reisen hat deutlich zugenommen, wie nicht allein die Zahlen von Anbietern belegen, sondern auch die Aufmerksamkeit, die der Ökotourismus in Reisemagazinen und den Reiseteilen großer Tageszeitungen wie der New York Times erfährt. Hier wurde in den letzten Jahren über Schnorcheltouren zu den Galapagos Inseln, Wildlife-Safaris in Guyana sowie Erkundungstouren durch Waldreservate in Costa Rica berichtet.56 Naturerfahrung auf eine neue, verantwortungsvolle, sich der Ressourcenknappheit bewussten Art und Weise steht hier im Vordergrund. Dass diese mit einem nicht unproblematischen Vorstoß in immer entlegenere, vermeintlich unberührte Gebiete einhergeht, reflektieren viele Naturfreunde nicht. Diese und andere Reiseberichte zeigen jedoch, dass es Amerikaner und Amerikanerinnen in ihrer Freizeit noch immer in die Natur zieht. Natur wird dabei in zunehmendem Maße als schützenswertes Gut verstanden, vor allem im eigenen Land, aber auch im Ausland, das im Laufe des 20. Jahrhunderts als Aufenthaltsort für Freizeitreisende an Attraktivität zugenommen hat. Zugleich genießt Naturerfahrung noch immer Bedeutung als sinnstiftende Größe auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene. Sie tut dies – dies hat dieser Beitrag zu zeigen versucht – auch wenn sich Freizeitangebote und deren Nutzung im Laufe der Zeit ebenso verändert haben wie die Art und Weise, in der sich Menschen in der Natur verorten und ihrer Naturerfahrung bei der Bewältigung des Alltags Bedeutung beimessen.
54 | Vgl. The International Ecotourism Society (TIES) 2010a. TIES versteht sich vor allem als Organisation, die Aufklärungsarbeit betreibt und für einen eng gefassten Ökotourismus eintritt. Dazu gehört auch die Tagung Ecotourism and Sustainable Tourism die die Society alle ein bis zwei Jahre veranstaltet. Vgl. The International Ecotourism Society 2010b. 55 | Vgl. Wisconsin Department of Tourism 2011. 56 | Blake 2010; Mulholland 2010; Todras-Whitehill 2009.
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Naturerfahrungen und Identitätskonstruktionen in Aotearoa Neuseeland Eveline Dürr und Gordon Winder
E INLEITUNG Die Schönheit und Vielfältigkeit der neuseeländischen Inseln mit kilometerlangen Sandstränden, schneebedeckten Vulkangipfeln, sprudelnden Thermalquellen, üppigen Farnwäldern und stillen Bergseen machen das Land weltweit als einzigartiges Naturparadies berühmt. Tatsächlich zeichnet sich Neuseeland durch eine außergewöhnliche Tier- und Pflanzenwelt aus. Vor ungefähr 80 Millionen Jahren spalteten sich die heutigen Inseln von Gondwana ab und entwickelten, aufgrund der langen Isolation, eine spezifische Flora und Fauna. Dazu zählen endemische Pflanzenarten ebenso wie Insekten, Reptilien und flugunfähige Vögel, die sich aufgrund der Abwesenheit von Säugetieren und Schlangen in besonderer Weise entwickeln konnten. Die weltberühmte Naturlandschaft, die hohe Biodiversität sowie die spezifische Pflanzen- und Tierwelt sind jedoch weitaus mehr als nur Ikonen der internationalen Repräsentation des Landes. Sie sind vielmehr als herausragende Distinktionsmerkmale untrennbar mit der nationalen Identität des Landes verwoben und stellen wichtige Faktoren im Prozess des staatlich gelenkten nation-building dar.1 Der Stolz auf die Naturschönheiten soll die unterschiedlichen Kulturen des Landes vereinen und zugleich ein Gefühl von nationaler Zugehörigkeit und Bindung schaffen. Die Pflege der endemischen Flora und Fauna – und die Bekämpfung invasiver Arten – werden zur nationalen Aufgabe und dienen als harmonisierendes politisches Projekt, das unterschiedliche Meinungen und Interessen zusammenführt. Ungeachtet der staatlichen Maßnahmen werden Naturnähe und Naturbeziehungen auch auf der persönlichen Ebene als bedeutende Referenzpunkte für Identitätskonst-
1 | Clark 2004; Ginn 2008.
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ruktionen empfunden und durchdringen die Lebenswelten von Individuen auf vielfältige Weise.2 Die Selbstdeutung als naturbezogen ist kulturspezifisch zu differenzieren und ambivalent – sie einigt und trennt die Einwohner der Inseln zugleich. Die Māori, die indigene Bevölkerung von Aotearoa3 Neuseeland, verquicken ihre Deszendenz und Genealogie (whakapapa) mit der Erschaffung des Landes und dessen topografischen Merkmalen. Individuelle Abstammungslinien sind mit spezifischen Bergen, Wasserläufen, Seen oder Felsen verbunden, die eine eigene Spiritualität besitzen und deren Bedeutung in Mythen tradiert wird.4 Das daraus resultierende Wissen über die Beschaffenheit und Sinnhaftigkeit von Natur wird als essentieller Bestandteil der Māori-Kultur betrachtet. Auch die europäischstämmige Bevölkerung Neuseelands, Pākehā5 genannt, besitzt eine enge Beziehung zur Natur, die sich jedoch stärker aus der Besiedlungsgeschichte und Urbarmachung der Inseln speist. Wie in anderen ehemaligen Siedlerkolonien resultiert ihre Wahrnehmung von Natur aus einem komplexen Zusammenspiel von Kolonialismus und strittigen Landnutzungsrechten sowie aus dem Streben nach sozialer Anerkennung durch Naturbeherrschung, Genderkonstruktionen und in neuerer Zeit aus globalisierten Diskursen über Umwelt- und Ressourcenschutz. Auch wenn für Pākehā und Māori die Naturvorstellungen eng mit Subsistenzwirtschaft und Sinngebung verknüpft sind, bedeutet dies jedoch nicht, dass in Neuseeland ein besonders schonender Umgang mit der Natur herrschen würde. Vielmehr werden auch hier ökonomische Interessen häufig über umweltfreundliches Agieren gestellt. Dennoch äußern sich die vielfältigen Dimensionen, die der natürlichen Umwelt sowohl von Pākehā als auch von Māori zugeschrieben werden, in unterschiedlichen Diskursen und Interaktionsformen mit der Natur. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die Naturwahrnehmungen im Kontext des Wanderns, in Neuseeland tramping genannt. Wandern, das von Wandervereinen organisiert und gepflegt wird, ist eine kulturspezifische Praxis, die vorrangig von Pākehā ausgeübt wird. Māori hingegen, die 14 Prozent der Bevölkerung stellen, sind so gut wie gar nicht in Wandervereinen anzutreffen, ebenso wenig Neuseeländer asiatischer Herkunft. Das Augenmerk dieser Studie richtet sich auf Personen, die sich selbst als Pākehā bezeichnen, in ihrer Eigenwahrnehmung einen besonders affektiven Umgang mit der Natur pflegen und Mitglieder in mindestens einem Wanderverein sind. Sie nehmen regelmäßig an 2 | Brown 2008; Cosgriff, Little & Wilson 2010. 3 | Aotearoa ist die Māori-Bezeichnung für Neuseeland. 4 | Matunga 1995; Smith 1998; Cosgriff, Little & Wilson 2010. 5 | Pākehā ist ein Begriff aus der Māori-Sprache, der sich auf europäischstämmige Neuseeländer bezieht (Belich 2001). Aufgrund der kolonialen Konnotation ist dieser Begriff jedoch umstritten und wird uneinheitlich verwendet.
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geführten Touren teil bzw. führen diese selbst und wandern auch ohne Begleitung. Aus ihrer Sicht ist Wandern nicht nur eine Form der Freizeitgestaltung und physischen Ertüchtigung, sondern ein umfassendes Naturerleben, das vielschichtige Bedeutungsebenen besitzt. Wie im Folgenden näher dargelegt wird, erzeugt Wandern für diese Personen eine sinnhafte Naturerfahrung, die sie in ihr Alltagsleben transferieren. Dies findet auch in ihrer häuslichen Umgebung Ausdruck, die mit entsprechenden Bildern und Souvenirs von Wanderungen ausgestaltet wird. Darüber hinaus konstruiert dieser Personenkreis das Naturerlebnis beim Wandern als typisch neuseeländisch und deutet es als Teil eines nationalen Gutes. Wandern als spezifische Interaktionsform mit der Natur eröffnet somit Erfahrungshorizonte, die sich sowohl mit den Lebenswelten der Individuen verbinden als auch einen Referenzrahmen für die Artikulation von nationaler Identität generieren. Die Ergebnisse dieser Studie basieren auf einer ethnografisch orientierten, qualitativen Forschung, die 2010 in mehreren Wandervereinen in Auckland, der größten Stadt Neuseelands, durchgeführt wurde. Tendenziell sind eher ältere Personen und mehr Frauen als Männer in den Vereinen vertreten. Die große Mehrzahl ist der gebildeten Mittelklasse zuzurechnen. 15 Männer und Frauen im Alter von 45-69 Jahren sowie zwei Frauen im Alter von 17 bzw. 35 Jahren beteiligten sich an narrativen Interviews. Um ihre subjektiven Interpretationen des Wanderns und der Naturerfahrung umfassend zu ermitteln, wurden Fotos und Kartenmaterial von ihren jeweiligen Wandererlebnissen in die Interviews einbezogen. Teilnehmende Beobachtung bei Vereinsveranstaltungen und Wanderungen ergänzten diese qualitativen Daten und ermöglichten das intensive Miterleben von sinnlichen Eindrücken und Emotionen in der Natur, die sich der konkreten verbalen Artikulation entziehen.6 ›Natur‹ wird in diesem Beitrag als relationales Phänomen konzeptualisiert und nicht als eindeutig vorgegeben. Damit folgt diese Studie Ansätzen, die auf die Konstruiertheit von Natur verweisen und aufzeigen, wie diese vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen erschaffen und in Abhängigkeit von zeitlichen und räumlichen Kontexten modifiziert und dynamisiert wird.7 Ebenso wie die Kategorie Raum wird ›Natur‹ nicht nur durch physische Merkmale bestimmt, sondern insbesondere durch symbolische Bedeutungszuschreibungen und Emotionen.8 Diese Prozesse werden mit verschiedenen theoretischen Ansätzen fass-
6 | Sämtliche Namen der Forschungsteilnehmenden wurden geändert. Die Zitate aus den Interviews wurden von den Autoren dieser Studie ins Deutsche übersetzt. Diese qualitative Studie hat exemplarischen Charakter. Die Ergebnisse beziehen sich auf einen spezifischen Personenkreis und sind nur bedingt auf andere Gruppen übertragbar. 7 | Cosgrove & Daniels 1988; Bender & Winer 2001; Cosgrove 2008. 8 | Milton 2002; Chhetri, Arrowsmith & Jackson 2004; Brown 2008.
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bar gemacht, wie etwa mit der Konzeption von Umwelt als emotional territory9 oder als symbolic environment10 . Diese Ansätze gehen davon aus, dass Natur eine Wahrnehmungsweise darstellt, die sich permanent neu ausrichtet und in Abhängigkeit von sich wandelnden Lebenskontexten von Individuen neu konfiguriert wird. Somit ist Natur kein neutrales Terrain, sondern vielmehr ein Ort, der zur gelebten Erfahrung wird und gleichzeitig Sinn und Zugehörigkeit (belonging) vermittelt.11 Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die Ideen und Praktiken der Wanderer, die Natur als dynamischen Interaktionsraum kreieren. Damit weist diese Studie über Fragen nach Perzeption und Repräsentation hinaus und zeigt auf, wie durch Praxis und Performanz ›Natur‹ in Interaktionen hergestellt wird.12 Bevor nun die subjektiven Erfahrungen der Wanderer in und mit der Natur im Einzelnen dargelegt werden, folgt eine Betrachtung des historischen und sozio-kulturellen Kontexts Neuseelands. Denn die Naturwahrnehmung ist ebenso wie die Praxis des Wanderns Produkt von gesellschaftlichen Prozessen und strukturellen Bedingtheiten.
N ATURBE ZOGENHEIT UND NATIONALE I DENTITÄT IN DIACHRONER P ERSPEK TIVE Das zentrale Anliegen der europäischen Siedler im 19. Jahrhundert war die Unterwerfung und Urbarmachung des Landes. Aus dieser Sicht stellten die Berge eher Hindernisse als majestätische Naturerscheinungen dar.13 Die ›Säuberung‹ des bewaldeten Landes galt als Voraussetzung, um eine funktionierende Landwirtschaft und damit ein ökonomisches Fundament für den Wohlstand zu etablieren. Das Land diente in diesem Sinne nicht zur Freizeitgestaltung oder sportlichen Ertüchtigung, sondern sollte vielmehr in produktives Grasund Weideland für europäische Tierpopulationen verwandelt werden. Im Zuge dieser kolonialen Aneignung und Transformation veränderte sich die Landschaft massiv.14 Einheimische Pflanzen und Tiere wurden durch europäische verdrängt, Wälder wichen Grasland und europäische Orts- und Landschaftsbezeichnungen ersetzen weitgehend die ursprünglichen Māori-Namen. Die Euro-
9 | Ittelson, Franck & O’Hanlon 1976. 10 | Marwijk, Elands & Lengkeek 2007. 11 | Brown 2008: 11. 12 | Siehe dazu auch Abram & Lien 2011. 13 | Pawson 2002: 139. 14 | Devlin 1995: 7; Dunlap 1999; Pawson & Brooking 2002; Winder 2009.
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päisierung des Landes verlief allerdings nicht ohne massiven Widerstand seitens der indigenen Bevölkerung und wurde in blutigen Kriegen ausgetragen.15 Dennoch wurde der ästhetische Wert des Landes schon früh erkannt und sowohl für den Tourismus als auch für die Anwerbung von neuen Siedlern aus dem Mutterland eingesetzt, um die Kolonisierung voranzutreiben. Bilder von überwältigenden Naturschönheiten, die auf ein romantisches Naturverständnis Bezug nahmen, konstruierten Natur als Gegenbild zur aufkeimenden Industriegesellschaft und boten eine Alternative zu den Urbanisierungsprozessen in Europa. Natur sollte erlebt werden können und wurde mit intrinsischen und ästhetischen Werten besetzt. Bereits 1901 vermarktete das neuseeländische Department of Tourist and Health Resorts, das zu den ältesten Tourismusagenturen der Welt zählt, die Naturschönheiten der Inseln im britischen Mutterland professionell.16 In dieser Zeit lockte Neuseeland weniger mit ausgiebigen Wanderungen als vielmehr mit der Jagd und mit Sport, insbesondere Rugby und Kricket, sowie mit Kuraufenthalten in luxuriösen Dampfbädern und natürlichen Thermalquellen. Es gab jedoch auch damals bereits Touristen – Männer wie Frauen – die die Natur zu bezwingen suchten und sich zum Ziel setzten, die neuseeländischen Alpen zu erklimmen.17 Diese Mischung aus Eroberung, Zähmung, Ästhetisierung und Kommodifizierung des Landes, einhergehend mit der Kolonisierung der Māori, ist noch heute in der oralen Tradition vieler neuseeländischer Familien präsent und wird zudem durch filmische Repräsentationen wirkmächtig und gewinnbringend inszeniert.18 Die Prozesse der spezifischen Naturproduktion und -repräsentation im 19. und frühen 20. Jahrhundert standen im Zeichen der Suche nach einer nationalen Identität und Distinktion. Im Gegensatz zu anderen damaligen touristischen Destinationen besaß Neuseeland keine herausragenden architektonischen oder künstlerischen Attraktionen, die das Land einzigartig machten. Neuseeland kämpfte vielmehr um ein attraktives Image, das es von anderen britischen Kolonien differenzierbar und besonders wertvoll machte.19 In diesem Kontext wurde die eigenwillige Flora und Fauna der Inseln zum Symbol nationaler Partikularität. Dies legte den Grundstein zum heutigen national aufgeladenen Protektionismus der endemischen Pflanzen- und Tierwelt, der sich in der aggressiven Bekämpfung von nicht-einheimischen Säugetieren und Ge15 | Die Vorstellung einer friedlichen Koexistenz von europäischen Siedler und indigener Bevölkerung in Neuseeland ist ein Mythos. Noch heute ist das Verhältnis der beiden Bevölkerungsgruppen durch soziale Ungleichheit gekennzeichnet. 16 | Dürr 2007. 17 | Irwin 2000. 18 | Jutel 2004; Le Heron 2004. Als Filmbeispiel siehe The Piano (Jane Campion, 1993). 19 | Bell & Lyall 2002: 15.
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wächsen manifestiert. Die Perzeption der einheimischen Flora und Fauna als außergewöhnliches, schützenswertes Kulturgut wird in neuerer Zeit durch das verstärkte wissenschaftliche Interesse an den endemischen Arten in Neuseeland genährt und erhält durch die weltweit wachsende Bedeutung von Biodiversität zusätzliches Gewicht. Heute ist die neuseeländische Natur Teil des nationalen Stolzes und dient als Gegenentwurf zu verstädterten und verschmutzten Kontinenten. Neuseeland wird als pur und unberührt, als ein pittoreskes Arkadien in den Antipoden konstruiert. In diesen Repräsentationen dominieren menschenleere, üppige Landschaften, die Ursprünglichkeit und Naturbelassenheit vermitteln (vgl. Abb. 1). Diese stereotypen Bilder bringen im Zeitalter der Globalisierung einen besonderen Effekt zum Tragen. Der insulare Charakter und die damit assoziierte vermeintliche Isolation durch die geografische Insellage am ›Ende der Welt‹, die im kolonialen Kontext Marginalität und Unbedeutsamkeit signalisierten, verkehrt sich nun ins Idyllische und stellt für touristische, naturbezogene Szenarien einen Standortvorteil dar.20 Denn geopolitisch als Rand und ›weit weg‹ empfundene Weltgegenden werden stärker mit Natur assoziiert als politisch und ökonomisch mächtige Staaten.21 Neuseeland, exotisiert durch die indigene Māori-Bevölkerung, definiert sich als europäisches Kleinod im südlichen Pazifik, das gerade durch seine Abgeschiedenheit einen besonderen Reiz ausübt. Damit knüpft es an die Idealisierung und Erotisierung der pazifischen Inselwelt an, die insbesondere auf Europa eine ungebrochene Faszination ausübt und somit eine ideale Projektionsfläche für unzählige Sehnsüchte und alternative Lebenswelten bietet. Diese Repräsentationen entfalten ihre Wirkkraft jedoch nicht nur im touristischen und globalen Feld, sondern auch auf den Inseln selbst. Vorstellungen von Reinheit im Sinne von Bewahrung und Ursprünglichkeit durch Abgeschiedenheit und Isolation markieren Differenzen zum ›Rest der Welt‹, der, wie es scheint, mit Reizüberflutung und Schnelllebigkeit zu kämpfen hat. Diese Imaginationen stehen in Wechselwirkung mit dem neuseeländischen Selbstbild und tragen wesentlich dazu bei, eine spezifische nationale Identität als naturverbunden und naturnah zu kreieren.22 Gleichzeitig finden sie Eingang in die Lebenswelten der Individuen und werden zur gelebten Erfahrung und sinnstiftenden Realität, die sich in der Praxis des Wanderns spiegelt.
20 | Der Tourismus zählt zu den wichtigsten und stetig wachsenden Wirtschaftsfaktoren des Landes. Neuseeland zählte 2010/11 (Jahreszählung endete im Juni 2011) mehr als 2,5 Millionen Besucher bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 4 Millionen (Ministry of Economic Development 2011). 21 | Abram & Lien 2011. 22 | Ateljevic & Doorne 2002; Dürr 2008.
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Abb. 1: Neuseeländische Küstenlandschaft (Abel TasmanWanderweg) (Foto: G. Winder, 2007)
W ANDERN ALS NATIONALE UND INDIVIDUELLE N ATURERFAHRUNG IN N EUSEEL AND Das Verschmelzen von individueller Naturerfahrung mit Vorstellungen eines spezifischen nationalen Gutes oder gar einer Nationalkultur im Kontext des Wanderns ist in Neuseeland kein neues Phänomen, sondern schon seit der Gründung der ersten Wandervereine (tramping clubs) zu beobachten, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Während dieser Zeit wurde das Wandern in Gruppen zur sozialen Praxis, die in den Vereinen institutionalisiert und gepflegt wurde.23 Dies hing mit der zunehmenden Urbanisierung zusammen, aber auch mit der vermehrten Freizeit, die aufgrund des ansteigenden 23 | Ross 2008: 12.
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Wohlstandes zur Verfügung stand und sinnvoll genutzt werden sollte. Wandern wurde als eine moderne, gesunde Aktivität verstanden, die die negativen Effekte des urbanisierten Lebens kompensieren konnte. Allerdings unterschied sich das von Vereinen organisierte gemeinschaftliche Wandern von anderen beliebten Unternehmungen im Freien, wie etwa ausgedehnten Spaziergängen und Picknicks. Die Landschaft diente nun nicht mehr nur als Kulisse, sondern als Medium zur mentalen und physischen Erfrischung der Wanderer.24 Damit distanzierten sich die Wanderer auch von den großbürgerlichen Touristen, die aus ihrer Sicht wesentlich weniger mit der Natur interagierten – gerade dies jedoch wurde zum zentralen Anliegen der Wandervereine und entsprechend propagiert. In der Zeit zwischen den Weltkriegen entstanden weitere tramping clubs auf der Süd- und Nordinsel, so dass am Vorabend des Zweiten Weltkrieges ungefähr ein Dutzend Wandervereine in Neuseeland existierte. Die Wanderungen boten damals auch sozial gebilligte Gelegenheiten für Männer und Frauen, ohne Vorbehalte gemeinsam Zeit in der Natur zu verbringen und konventionelle Rollenzuschreibungen aufzubrechen. Frauen konnten sich, ebenso wie Männer, in der Natur beweisen, als ›männlich‹ konnotierte Praktiken ausüben und ihr Wissen über den ›richtigen‹ Umgang mit der Natur erweitern. Bis heute existiert kein zentrales Register, das verlässliche Auskunft über die aktuelle Anzahl der Wandervereine in Neuseeland und über deren Mitgliederzahlen geben könnte. Aus den erhältlichen Informationen geht jedoch hervor, dass die Mitgliederzahl erheblich differiert. Einer der größten Wandervereine, der Auckland Tramping Club auf der Nordinsel, zählt etwa 600 Mitglieder, der Canterbury Tramping Club auf der Südinsel hingegen etwas über 30 Mitglieder.25 Wie unsere Forschung zeigt, ist das Vereinsleben der Clubs heute wie damals von zahlreichen Aktivitäten geprägt. Neben geführten Wanderungen organisieren die Vereine regelmäßige Treffen, veröffentlichen Broschüren mit Tipps, Fotos und Rätseln rund um das Thema Wandern und kommunizieren den ›richtigen‹ Umgang mit der Natur. Dieser wird auch während der Wanderungen diskursiv hergestellt und bestätigt. So legen die erfahrenen Wanderführer besonderen Wert auf Umwelterziehung (environmental education) vor Ort und erklären die Besonderheiten von Pflanzen und Tieren. Sie etablieren ein Regelwerk für das richtige Verhalten in der Natur, sensibilisieren unerfahrene Wanderer für spezifische Normen, wie die, möglichst keine Spuren in der Natur zu hinterlassen, privaten Grund und Boden zu respektieren und sich mit entsprechender Ausrüstung zu wappnen, um gut vorbereitet auf mögliche Verletzungen oder Gefahren reagieren zu können. Dadurch entstehen soziale Hierarchien und Verantwortlichkeiten in den Vereinen, die vornehmlich über Er24 | Ebd.: 51. 25 | Lobb 2004.
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fahrung, Naturkenntnis und physische Konstitution strukturiert werden. Durch die Ausübung einer Leitungsfunktion mit entsprechender Kompetenz stellt sich nicht selten ein Gefühl der moralischen Überlegenheit ein, das durch die Deutung des Wanderns als charakterbildend und als eine Art Essenz eines gesunden und moralisch guten Lebensstils verstärkt wird. Häufig verbindet sich damit auch das Bestreben, in der Rekrutierung weiterer Wanderer und Clubmitglieder aktiv zu werden und andere Landsleute vom Wandern als positive Lebenshaltung zu überzeugen. Obwohl das Wandern als gesunde und für die Fitness förderliche Aktivität an Beliebtheit gewinnt und Wanderwege weiter ausgebaut werden, berichten die Vereine von Problemen bei der Rekrutierung jüngerer Mitglieder. Die an dieser Studie beteiligten Wanderer partizipieren intensiv am Vereinsleben und verfügen über umfassende Wandererfahrungen in unterschiedlichen Ländern. Sie sind sich darin einig, dass Neuseeland das beste Land zum Wandern sei. Wie im Folgenden näher dargelegt wird, identifizieren sie im Vergleich zu Europa, insbesondere mit Blick auf Deutschland, Österreich und Großbritannien, spezifische Merkmale, die Wander- und Naturerfahrungen in Neuseeland aus ihrer Sicht einzigartig und unübertrefflich machen. Dabei werden diverse Aspekte thematisiert, die jedoch nicht als unverbundene Aufzählungen nebeneinander stehen, sondern gerade in ihrer Verwobenheit und Summe eine spezifisch neuseeländische Erfahrung generieren. Diese wird durch die Rückbindung zur Besiedlungsgeschichte des Landes sowie zu den familiären Kontexten der Wanderer vertieft und mit persönlichen Assoziationen und Bedeutungsebenen des In-der-Natur-Seins verknüpft.
N ATURERLEBEN IM K ONTE X T DES W ANDERNS Die Abgeschiedenheit Neuseelands und die positiv konnotierten menschenleeren Landschaften ermöglichen, nach Ansicht der Wanderer, ein Sich-Spürenin-der-Natur, das sie anderswo nicht mit gleicher Intensität erleben konnten. In Europa seien »Hunderte oder Tausende« unterwegs, die die Berge »überfluten« würden, was die Naturerfahrung ruiniere. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte sei dies in Neuseeland völlig anders. Lydia, die ausgiebige Wandererfahrung in Europa besitzt, verleiht ihren Erfahrungen mit folgenden Worten Ausdruck: »Neuseeland ist ein wundervoller Ort und nicht mit Leuten überfüllt. Es ist ursprünglich und unverdorben hier, es gibt keinen Müll und kein Toilettenpapier hinter jedem Busch, wie etwa auf den überfüllten Wegen in Europa. Auf diesen bin ich auch gewandert und es war grässlich, wirklich grässlich, schmutzig und überfüllt. In Neuseeland hingegen haben wir diese wundervolle, unberührte Natur. Beim Wandern hat man das Gefühl, dass
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Auch wenn sich Lydia darüber im Klaren ist, dass es auch in Europa abgelegene Wandergebiete gibt, so bezieht sie sich doch auf die Abwesenheit von Spuren menschlicher Existenz in Neuseeland als herausragendes Differenzmerkmal zu anderen Ländern. Auch Mark, der selbst Wandertouren organisiert und führt, betont die Abgeschiedenheit und Unberührtheit beim Vergleich seiner Wandererfahrungen in Österreich und in Neuseeland: »Es ist ein ganz anderes Erlebnis, wenn man selbst auf einen Berg steigt oder wenn man mit dem Bus oder der Bahn rauffährt. Dann ist es so, als ob man ein Foto anschaut und sagt, wie schön das ist. In Österreich geht es immer steil rauf und dann wieder runter, das ist alles. Und wenn man auf dem Berg oben steht, dann blickt man ins Tal und sieht die Dörfer, Brückenpfeiler und Hochspannungsmasten sowie Autos, Leute und Kühe mit Glocken dran. In Neuseeland hingegen sieht man nur die Natur und Berge, das ist der Unterschied. In Österreich ist auch alles so leicht und gut erreichbar, auch wenn die Berge gar nicht so einfach zu erklimmen sind. Dennoch sieht man dann auf den Bergen Leute, die eigentlich in die Stadt gehören und sich auf den Hütten, die mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet sind, einen Cappuccino bestellen. Das verdirbt doch alles und zieht eine bestimmte Art von Wanderern an, die auch mehr Wert auf ihre Ausrüstung und Kleidung legen als wir hier es tun.«
Die neuseeländischen Wanderer sind sich auch darin einig, dass Berghütten nur rudimentär ausgestattet sein sollten und Mobiliar, warme Duschen oder andere Bequemlichkeiten überflüssig und für eine tiefe Wandererfahrung eher hinderlich seien. In Europa seien selbst abgelegene Berghütten noch zu nah an der Zivilisation und viel zu komfortabel eingerichtet. Auch in Neuseeland gäbe es zwar Wanderangebote der Luxusklasse, bei denen die Wanderer auf gesicherten Wegen ohne Gepäck durch die Natur laufen würden und in komfortablen Lodgen nächtigten. Mit diesen, aus ihrer Sicht elitären Wanderern, wollen sie jedoch keinesfalls in Verbindung gebracht werden und betonen, dass sie hingegen Orte in der Natur aufsuchten, die nicht im Lonely Planet oder anderen Reiseführern zu finden seien. Mit diesen Differenzierungen situieren sich die neuseeländischen Wanderer als Experten und ›richtige‹ Wanderer, die über die nötigen Fähigkeiten zum Überleben in der Natur verfügen und sich aufgrund ihrer spezifischen Wissensbestände ohne Probleme in der Natur orientieren können. Sie bestehen darauf, dass nur mit einfacher Ausstattung eine tiefe Naturerfahrung erzielt werden könne, jede Art von Luxus eine tiefe Naturerfahrung förmlich ausschließe oder
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vernichte. Diese Auffassung vertreten sie auch mit Blick auf moderne Kommunikationsmittel wie Internet oder Telefon – allerdings gibt es hinsichtlich der modernen Technik hier durchaus Differenzierungen. Nach Ansicht der Wanderführer fördert ein GPS das Naturerleben, indem es für die Standortbestimmung sehr nützlich sein kann. Ansonsten jedoch könne Natur nur dann »wirklich« erlebt werden, wenn das städtische Leben mitsamt seiner materiellen Objektwelt weitgehend ausgeblendet werde und keine Verbindung zur »Zivilisation« das profunde Naturerleben störe. Nur im Gefühl des off the beaten track böte sich die Chance, sich selbst durch die Naturerfahrung zu finden und neu zu bestimmen. Darüber hinaus könne durch das Gefühl des back to basics das Alltagsleben wieder »zurechtgerückt werden«. Es gehe eben nicht um Äußeres, sondern um das bloße Menschsein, das Nicht-Materielle und Nicht-Konsumorientierte – und damit im Grunde um die Essenz des Lebens selbst (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Küstenwanderung (Foto: E. Dürr, 2010) Die Wanderer korrelieren die Einfachheit der Ausstattung, aus ihrer Sicht die Reduktion auf das Wesentliche, mit der Tiefe der Naturerfahrung und sehen darin auch einen Protest gegen urbanen Konsum – darüber hinaus jedoch stellen sie immer wieder Bezüge zu eigenen familiären Kontexten und Erfahrungshorizonten her. Mark bringt seine Wandererfahrungen explizit mit der Zeit der Siedler in Verbindung und bemerkt, dass beim Verlassen der comfort zone das Leben der Pioniere zumindest ansatzweise imaginiert werden könne, als diese
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ohne bequemes Bett mit den Widrigkeiten der Natur fertig werden mussten. Die einzige Kraft, die den Pionieren zur Verfügung stand, sei in ihnen selbst begründet gewesen. In diesem Sinne erlebt Mark seine Wandererfahrungen als eine Fortsetzung der Pionierzeit. Dies spiegelt sich auch in seiner Auffassung wider, dass die Einfachheit im Naturerleben charakterbildend und »gesund« sei und einen erzieherischen Wert darstelle. Das »Unbequeme« wecke den Geist der Pioniere, und dieses Gefühl verstärke seine Bindung an das Land und mache seine Naturerfahrung einzigartig. Dies zu sichern und weiterzugeben betrachtet Mark als seine Aufgabe, was sich darin äußert, dass er sich für den bush verantwortlich fühlt. Er engagiert sich für das Instandhalten der Wege und Hütten und sieht auch darin ein Echo auf die ›Säuberung‹ und ›Zähmung‹ des Landes im Sinne der ersten Siedler, die das Land domestizieren. Mark berichtet mit großer emotionaler Beteiligung von Vogelbeobachtungen und tiefer Zufriedenheit nach anstrengenden Wanderungen in der Natur. Für ihn spielt dabei auch ein kompetitiver Aspekt eine Rolle und er sucht die Herausforderung, testet seine Ausdauer und physischen Grenzen – sowohl bei Wanderungen in der Gruppe als auch alleine. Außerdem sammelt er Trophäen, die von seinen Errungenschaften zeugen, wie etwa Souvenirs von abgelegenen Hütten. Besonders stolz zeigte er uns eine Kartierung von 30 Hütten, die er an 30 aufeinander folgenden Tagen aufgesucht hatte. Auch Shirley führt ihre Vorliebe für die Einfachheit beim Wandern auf ihre Familie und ihre Vorfahren zurück. Sie erzählt, dass sie von einem hardy stock aus England stamme und ihren Sinn für das Abenteuer von ihren Vorfahren geerbt haben müsse, als diese die Entscheidung getroffen hätten, in Neuseeland ein neues Leben aufzubauen. Nur ohne den urbanen Komfort könne sie ihre Grenzen spüren und die Lebensumstände ihrer Vorfahren imaginieren. Eva hingegen verweist im Gespräch über die Einfachheit und das Naturerleben weniger auf die Besiedlungsgeschichte des Landes als vielmehr auf ihre Kindheitserinnerungen und Familiengeschichte. Sie wuchs auf einer Farm auf, spielte als Kind stets »draußen« und sprach von einer basic connection, die sie als Neuseeländerin zur Natur verspüre. Auf dem Land habe sie ein sehr einfaches Leben geführt und zur Schule einen Fußmarsch zurücklegen müssen. Ihr Elternhaus beschreibt sie als schmucklos, »ohne Tapete an der Wand« und nur mit dem nötigsten ausgestattet. Ihr Großvater, der das Haus selbst gebaut habe, sei als gumdigger26 nach Neuseeland gekommen und habe während seiner Arbeit buchstäblich bis zum Hals im Schlamm gestanden. Diese Familiengeschichte, die sie mit anderen älteren Clubmitgliedern teile, habe ihr eigenes Leben entscheidend geprägt. Sie laufe beim Wandern am liebsten direkt im Fluss 26 | Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das fossile Harz der einheimischen Kauri-Bäume in Neuseeland exportiert. Die gumdigger gruben in mühsamer Schwerarbeit nach Harzklumpen in den Kauriwäldern und Sümpfen (Hayward 1982).
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und Matsch und eben nicht über gesicherte Treppenstufen und Brücken – eine Neigung, die sie mit dem Beruf ihres Großvaters assoziiert. Ebenso wie Mark lehnt Eva »zu moderne« Wanderwege ab, die vermutlich »nur für die Touristen« angelegt worden seien. Darüber hinaus nennt Eva noch einen weiteren Aspekt mit Blick auf die Einfachheit und verweist auf die Vorstellung einer egalitären und klassenlosen Gesellschaft in Neuseeland, die lange Zeit als Kontrast zum englischen Mutterland konstruiert wurde: »Wir nennen das roughing it, wirklich einfach zu leben, draußen, ohne jeden Komfort. Außerdem gehen wir Neuseeländer gern barfuß, da wir die Verbindung zum Land lieben und spüren wollen. Die Europäer meinen dann, dass wir arm seien, aber es kann gut passieren, dass jemand barfuß und mit einer alten, kurzen Hose bekleidet aus einem Mercedes aussteigt. Er ist nicht arm, selbst wenn er so aussieht. Das ist vielmehr unsere Kultur und die bringt die Verbindung zum Land zum Ausdruck, vielleicht auch zum Meer. […] Ich komme von einer Farm und du weißt ja, dass die Männer in Neuseeland eine shed 27 haben. Ich habe mich schon als Kind dort sehr wohl gefühlt und war glücklich im Schuppen meines Vaters, mit den Schaufeln und Spaten. Manchmal spüre ich dieses Gefühl noch im Museum, wenn ich diese Gegenstände sehe. Das sind meine persönlichen Erinnerungen und unser Lebensstil hier in Neuseeland.«
Eva betont auch, dass die Einfachheit und der unverstellte Kontakt mit der Natur eine tiefe sensorische Erfahrung vermittelt, die sie mit ihrem ganzen Körper erlebt und mit all ihren Sinnen spürt. Diesen Aspekt hebt auch Lydia besonders hervor und sieht darin ein idiosynkratisches neuseeländisches Merkmal, das sie wiederum mit Europa kontrastiert. Das feuchte Klima der Inseln wäre immer frisch und wohltuend, Wassermangel unbekannt, und die vielen Flüsse und Seen würden die spezifische Landschaft Neuseelands ausmachen. Lydia verweist immer wieder auf den direkten, körperlich erlebten Kontakt mit der Natur, den sie durch den Regen auf der Haut, den Wind und, wie sie es ausdrückt, »nasse Füße« erfahre – dies gehöre zur spezifischen Wandererfahrung, da in Neuseeland viele Flüsse durchquert oder sogar in Flüssen gelaufen werden müsse. Auch könnten nur hier die immergrünen, üppigen Pflanzen gedeihen, während in Europa durch die großen jahreszeitlichen Klimaschwankungen Bäume Blätter abwerfen und die Natur »traurig«, kahl und fahl aussähe. Geborgenheit, Entspanntheit und Vertrautheit empfindet Lydia in Neuseeland auch deshalb, weil keine ernsthaften Gefahren im bush lauern. Weder vor gifti27 | Shed bezieht sich hier auf einen Schuppen, eine Garage oder einen Verschlag, in dem Reparaturarbeiten vorgenommen und Werkzeuge aufbewahrt werden. In Neuseeland ist shed ein Ort, der mit spezifischen Männlichkeitskonstruktionen in Verbindung steht (Hopkins 1998).
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gen Schlagen noch vor wilden Tieren müsse man sich fürchten, lediglich Sandfliegen könnten lästig werden. Diese Erfahrung in der Natur, die sie als spezifisch neuseeländisch wahrnimmt, setzt Lydia zu ihrem Alltagsleben in Beziehung. Sie empfindet die Natur als einen Raum, in dem sie sich selbst verwirklichen und im wahrsten Sinne des Wortes ungeschminkt und schmucklos bestehen kann. Dies bedeutet für sie eine Form von Freiheit, die sie weder in ihrer Arbeitswelt noch in der urbanen Umgebung in gleicher Weise erfahren kann. Zum Gefühl von Freiheit gehört für sie auch, alles was sie braucht, auf ihrem Rücken zu tragen und an nichts weiter gebunden zu sein. Ein weiterer Aspekt, den sämtliche Wanderer für bedeutsam halten und mit einer spezifisch neuseeländischen Einfachheit begründen, bezieht sich auf die Formung der sozialen Beziehungen während des Wanderns. Die in der Natur entstehenden Kontakte werden als enger, ehrlicher und tiefergehend gedeutet als diejenigen im urbanen Umfeld. Nach Ansicht der Wanderer mache es gerade die Einfachheit und Abwesenheit von Hilfsmitteln in der Natur erforderlich, dass man sich unbedingt aufeinander verlassen könne. Während des Wanderns über mehrere Tage hinweg, unter einfachen Bedingungen, trete der »wirkliche« Charakter eines Menschen zum Vorschein, der ansonsten von den Annehmlichkeiten des städtischen Lebens verdeckt bliebe. Auch die Gespräche während der Wanderungen werden als gehaltvoller und wertvoller als die bei anderen Gelegenheiten beschrieben. Schlussendlich zeige sich die außergewöhnliche Tiefe der Verbundenheit in der Natur auch darin, dass einige Wanderer ihre Partner in den Vereinen kennen gelernt hätten und die gemeinsame Naturerfahrung positiv auf die Beziehungen einwirke. Gleichzeitig intensiviere das soziale Wandern in Gemeinschaft das Naturerlebnis, da man sich über seine Eindrücke und Empfindungen austauschen könne (vgl. Abb. 3). Die Kontakte zwischen Männern und Frauen während des Wanderns werden als »ungezwungen«, »frei von Konventionen« und auch als »gleich« charakterisiert und durchweg als sehr positiv erlebt. Camilla, die als ein sehr erfahrenes Vereinsmitglied gilt und süffisant als »Guru des Wanderns« betitelt wird, berichtet mit großer Begeisterung von mehrtägigen Touren, die sie in Begleitung zweier Männer unternommen hat. Als die Person mit dem größten Erfahrungsschatz bestimmte sie die Route und Länge der Wegstrecken pro Tag, glänzte mit ihrem Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt sowie mit ihrer Befähigung, das Wetter vorher zu sagen. Ihre soziale Position in diesem männlichen Kontext bestimmte sie weitgehend über ihre Versiertheit und physische Konstitution, was sie sehr genoss: »Ich hatte recht schweres Gepäck, mein Rucksack wog ungefähr 18 Kilo auf der Tour. Aber es ging alles sehr gut, ich trainiere ja auch fast jeden Tag, damit ich fit bleibe und viel tragen kann. Ich fühlte mich total akzeptiert von meinen Begleitern, sie wussten,
N ATURERFAHRUNGEN UND I DENTITÄTSKONSTRUK TIONEN IN A OTEAROA N EUSEEL AND dass sie sich auf mich verlassen können und nahmen meine Einschätzungen von Situationen ernst. Wir schlugen dort unser Lager auf, wo ich es für richtig hielt und sie [die beiden Männer] folgten meinen Anweisungen – denn sie wussten ja, dass ich die Tour am besten kannte.«
Camilla bekleidet im Vereinsleben eine Schlüsselrolle, koordiniert Aktivitäten und hält Lichtbildervorträge über ihre Touren. Sie hat ihren Partner im Club kennengelernt und bemerkt stolz, dass sie anstrengende Touren auch deshalb schätze, weil dabei ihre Kompetenzen am besten zu Tage treten würden. Auch andere Wanderer begründen ihren Eintritt in den Wanderverein mit »wahren und aufrichtigen« Charakteren, die sie dort auf der Suche nach einem Partner zu treffen hofften.
Abb. 3: Mittagspause beim sozialen Wandern am Wochenende (Foto: E. Dürr, 2010) Der soziale Aspekt im Vereinsleben der Wanderer ist auf einer weiteren Ebene relevant und reicht tief in die persönlichen Lebensumstände der Individuen hinein. So berichten einige Personen, dass sie mit dem Wandern in einer spezifischen Lebensphase begonnen hätten, wie etwa nach einer Beziehungskrise oder Scheidung, und Wandern für sie zu einer Form der Therapie und Gesundung geworden ist. Dies verweist auf eine weitere Dimension des Wanderns, die sich stärker auf die individuellen Bedeutungshorizonte bezieht und sich
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schließlich mit persönlichen Formen von Lebensbewältigung und Selbstverwirklichung mischt. Naturerfahrungen, die als sinnerzeugend für das eigene Leben beschrieben werden und eine kraft- und strukturgebende Dimension für den Alltag besitzen, finden sich in den Erzählungen von Nancy, die erst mit 50 Jahren mit dem Wandern begonnen hat. Für sie stellt Wandern eine Form der Lebensbewältigung dar, die ihr hilft, persönliche Krisen zu überwinden und neue Erkenntnishorizonte für ihren Alltag zu entdecken. Sie begann mit dem Wandern in einer kritischen Lebensphase nach ihrer Ehescheidung, die sie als traumatische Erfahrung beschreibt. Auf der Suche nach Orientierung und neuen sozialen Bindungen trat sie zunächst in einen Wanderverein ein und wurde nach kurzer Zeit Mitglied in mehreren Vereinen. Sie befasste sich intensiv mit den Techniken des Wanderns, übte die physische Ausdauer und erlangte auf diese Weise in verhältnismäßig kurzer Zeit große Kompetenz auf einem neuen Gebiet. Die Naturerfahrung verlieh ihr neue Lebensfreude und Energie, machte sie stark und half ihr, »durch die Woche zu kommen«. Für Nancy besitzt das Wandern noch heute, neben ästhetischen und physischen Aspekten, eine therapeutische Kraft und tiefe Spiritualität, die ihr neue Formen der Sinnerfahrung und Selbstverwirklichung ermöglichen. Sie bezeichnet ›Natur‹ als Teil ihrer Selbst, als etwas, das nicht getrennt von ihr existiert, sondern als etwas, das zu ihr gehört bzw. zu dem sie gehört. Indem sie sich selbst als Teil der Natur erlebt, verstärkt sich das Gefühl von Geborgenheit und emotionaler Verbindung mit ›draußen‹. Gleichzeitig intensiviert sich dadurch ihr Zugehörigkeitsgefühl (belonging) zu Neuseeland als ›ihrem‹ Ort der Selbstfindung. Sie bezeichnet dieses Erleben als »unsichtbar, aber real« und in höchstem Maße bedeutsam für ihre Lebenswelt. Dies zeigt sich auch darin, dass Nancy sich um eine Teilzeitarbeit bemühte, um mehr Zeit zum Wandern zu haben. Sie betrachtet das Wandern als integrierten Bestandteil ihrer Lebensgestaltung und fühlt sich nach dem Wandern über mehrere Tage hinweg belebt und gekräftigt. Natur zeigt sich hier als ein komplexes und mit allen Sinnen erlebbares Phänomen, das sämtliche Lebensbereiche durchdringt und ein Gefühl der tiefen persönlichen Verbundenheit produziert. Nancy fasst dies in folgende Worte: »In dieser stressigen Zeit konnte ich mich nur durch Wandern aufrecht halten und gesund bleiben. Heute denke ich, dass ich nur in der Natur wirklich lebe, nur dort kann ich mich und auch andere Personen tief erfahren. Es ist wie Musikhören, dieses Gefühl, ich fühle mich zentriert, geerdet (grounded) und entspannt.«
Für Nancy vermischen sich emotionale Komponenten, sensorische Erfahrungen und persönliche Bindungen zu einem holistischen Naturerleben, das sich statischen Definitionen von Mensch-Natur-Beziehungen entzieht. Ihre Naturerfahrung weist auch über eine naturromantische Prägung hinaus und be-
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schränkt sich nicht nur auf Ästhetik und Erbauung, sondern schließt identitätsund sinnstiftende Dimensionen ein. Natur gehört zur Definition ihres Selbst. Wandern bzw. going bush bedeutet für Nancy wesentlich mehr als Freizeitgestaltung – es ist vielmehr eine bedeutungs- und kraftgebende Komponente ihrer Lebenswelt und Identität.
Z USAMMENFASSUNG In Neuseeland besitzt Naturbezogenheit eine besondere Relevanz und ist mit nationaler Distinktion und Identität konnotiert. Die Besonderheiten der neuseeländischen Flora und Fauna sowie die geografische Distanz und gleichzeitige soziale Nähe zu Europa als ehemalige Kolonie von Großbritannien spielen für die Entstehung von spezifischen Naturimaginationen eine bedeutende Rolle. Die in diesem Beitrag vorgestellten Naturwahrnehmungen sind vor dem Hintergrund spezifischer historischer, kultureller und struktureller Bedingtheiten entstanden und bilden ein soziales Produkt, das im Kontext der Gesamtgesellschaft zu interpretieren ist. Gleiches gilt für das Wandern als spezifische, nach kulturellen Bedeutungen zu differenzierende Interaktionsform mit der Natur. Die als idiosynkratisch konstruierten Wandererfahrungen orientieren sich sowohl an historischen Bezügen als auch an individuellen Bedeutungsebenen von Natur, die mit den jeweiligen Biografien und persönlichen Erfahrungen der Wanderer verknüpft sind. Die Verwebung von nationaler Geschichte mit den eigenen Familienkontexten schafft ein tiefes Gefühl von Zugehörigkeit und macht die jeweiligen Naturerfahrungen einzigartig. Sensorische Eindrücke verstärken und perpetuieren die sich überlappenden individuellen und nationalen Bedeutungsebenen. Dadurch wird die Naturwahrnehmung im Kontext des Wanderns zu einem kulturellen Prozess und gleichzeitig zur intensiv gelebten Erfahrung, die weit in die Lebenswelten der Individuen hineinreicht.
L ITER ATUR Abram, Simone & Lien, Marianne E. (2011): »Performing Nature at World’s Ends«. In: Ethnos 76 (1), S. 3-18. Ateljevic, Irena & Doorne, Stephen (2002): »Representing New Zealand. Tourism Imagery and Ideology«. In: Annals of Tourism Research 29 (3), S. 648667. Belich, James (2001): Paradise Reforged: A History of New Zealanders from the 1880s to the Year 2000. Auckland: Allen Lane and Penguin. Bell, Claudia & Lyall, John (2002): The Accelerated Sublime. Landscape, Tourism and Identity. Westport, Conn: Praeger.
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Outdoor – Freizeit als Eroberung Antonia Dinnebier
Der folgende Text gibt einen Einblick in Freizeitaktivitäten am anderen Ende der Welt. Ausgehend von Beobachtungen während einer Neuseelandreise gehe ich Massenphänomenen der Beschäftigung in der Landschaft nach. Dabei geht es nicht um außerordentliche Figuren, Abenteurer oder Hochleistungsrekordler. Mein Interesse liegt bei der (hyper-)aktiven Naturbenutzung, für die Neuseeland im Tourismus steht und die so wenig zu unseren ideellen Wurzeln des Landschaftserlebnisses passt. Schließlich knüpft das Landschaftserlebnis in Mitteleuropa an die Tradition der Kontemplation an und wird als Ausdruck moderner Suche nach Ganzheit gedeutet. Körperliche Aktivität wie Spazierengehen und Wandern sind durchaus Praktiken dieser ›besinnlichen‹ Naturrezeption. Phänomene wie der Alpinismus rücken die körperliche Anstrengung weiter in den Mittelpunkt. Zu ihrer Deutung zieht der Landschaftsdiskurs meist den Kant’schen Begriff des Erhabenen heran, der auf eine Selbstbehauptung des vernünftigen Subjekts zielt. Im neuseeländischen Tourismus nimmt nun die rastlose Aktivität in der Natur einen Stellenwert ein, der aufhorchen lässt. Statt mich selbst von Brücken zu stürzen, Gletscher zu besteigen oder neuartige Offroad-Geräte zu erproben, beobachtete ich andere Touristen und besuchte Buchläden. Meine These ist, dass die Outdoor-Begeisterung eine Tradition anzapft, die in Good old Europe kaum noch präsent ist. Im Freizeitverhalten und in der Präsentation der Landschaft in Neuseeland spiegeln sich nämlich offensichtlich Pionierverhalten und -tugenden der weißen Siedler. Neuseeland mag stolz auf seine Leistungen sein, doch was interessieren den Touristen Pionierqualitäten? Deutet sich hier Neues im Mensch-Natur-Verhältnis an oder sind das Cowboy- und Indianerspiele? Das im Detail zu untersuchen, wäre ein spannendes Forschungsprogramm, an dieser Stelle werden ein paar Ideen dazu angedacht. Der vorliegende Text stellt also einige Outdoor-Aktivitäten gängiger neuseeländischer Tourismusprogramme und mögliche Deutungshorizonte vor. Dazu recherchierte ich im Prospektmaterial und auf Homepages neuseeländischer Anbieter und in deutschsprachiger Reiseliteratur.
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O UTDOOR – BE WEGTER U RL AUB Betrachten wir zunächst eine Reihe von Outdoor-Aktivitäten, für die das Reiseland Neuseeland berühmt ist.1 Ein Klassiker ist das Wandern, das Gehen und Laufen, von der Tagestour bis zu den Great Walks. Das Wandern kann ins Klettern übergehen und erreicht mit dem Bergsteigen eine Extremform. Eine Besonderheit bildet das Gletscher-Wandern. Immer geht es darum, mehr oder weniger allein in der Natur zu sein und mit möglichst wenigen Hilfsmitteln auszukommen. Der Rucksack ist das kleine Überlebenspack des Wanderers, in dem Verpflegung und wetterfeste Kleidung Platz finden. Gegebenenfalls gehören noch Schlafsack, Zelt und Kochgeschirr zur Ausrüstung. Der Wanderer ist auf gebahnten Wegen unterwegs. Meist ist die Route im Gelände markiert, in jedem Fall ist Kartenmaterial vorhanden. Hinweise auf Sehenswürdigkeiten am Weg gehören oft zur komfortablen touristischen Erschließung. Mit Gerät bewegt sich der Fahrradfahrer durch die Landschaft. Natürlich benutzt der Neuseeland-Tourist kein Hollandrad, sondern das geländegängige Mountainbike. Bei der motorisierten Variante, dem Motorrad, ist nicht das Erleben der eigenen Kraft, sondern ein Erlebnis von Geschwindigkeit in unterschiedlich anspruchsvollem Terrain ein wesentliches Ziel. Motorisierte Fortbewegung jenseits der asphaltierten Straßen erlaubt auch das Quad Biking (siehe Abb. 1). Ganz abgehoben ist Sightseeing aus der Luft. Der Scenic Flight bietet die Landschaft aus der Vogelperspektive dar und erlaubt eine visuelle Annäherung an kaum betretbare Gebiete. »The scenic flights from these locations offer exceptional alpine experiences, enabling guests to interact and enjoy some of the most spectacular wonders of the natural world«, so preist ein Anbieter2 die Erlebnisse aus der Luft an. Fliegen dient außerdem zur Abkürzung, wenn es darum geht, Wildnis-Gebiete zu erreichen. Eilige Gletscherwanderer etwa fliegen ins ewige Eis. Aber auch als Ergänzung erfreut sich die Erhebung in die Lüfte großer Beliebtheit. Vielfältige Kombinationen werden angeboten, in denen Motorunterstützung häufig eine Rolle spielt. So ist für den Rücktransport des fernab der Besiedlung Reisenden gesorgt. Die Eroberung entlegener Regionen zu Fuß, mit Kajak oder Mountainbike steht daher auch Reisenden mit geringem Zeitbudget offen. Helibiking kombiniert Fahrradfahren und Helikopterflug zum Offroad-Erlebnis. Der besondere Kick besteht in der Verbindung von extremem Einsatz eigener Kraft und extremem Motoreinsatz.
1 | Sie werden auch von den Neuseeländern selbst ausgeübt, auf der Südinsel ist Outdoor Education sogar ein Schulfach. 2 | Glacier Helicopters 2006/2011: o.S.
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Abb. 1: Quad Biking (Foto: P. Dinnebier) Zuhilfenahme von Gerät, das der Tourist aus eigener Kraft bewegt, gibt es auch im Wasser. Beim Kajak sind es Boot und Paddel, beim Rafting ist es das noch ambulanter wirkende Schlauchboot. Beim Segeln ersetzt die geschickte Einbindung der Naturkraft Wind den eigenen Krafteinsatz. Das Hilfsmittel Boot findet auf Seen und Flüssen, vorzugsweise jedoch auf dem Meer und in Wildbächen Verwendung. Fortbewegung kann auch zum Selbstzweck und als reines Erlebnis inszeniert werden. Das spielerische Element der Tätigkeiten, die selten von tagesfüllender Dauer sind, überwiegt. Zorb nennt sich etwa eine große Plastikkugel, in die man hineinschlüpft, um einen präparierten Hang hinunterzurollen (siehe Abb. 2). Der Witz ist das komplette Bewegt-Werden, bei dem es darum geht, sich der Bewegung der Kugel zu überlassen. Man setzt sich in einem Spielball der Rollbewegung aus, die einen im Inneren der Kugel umherpurzeln lässt. Wasser im Ball verringert die Verletzungsgefahr und erhöht das Erlebnis. Es
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handelt sich zwar nicht um eine motorisierte Bewegung, aber der Ball wurde zuvor vom Personal mit dem Auto bergauf befördert.
Abb. 2: Zorb (Foto: P. Dinnebier) Beim Bungee-Jumping stürzt man am Gummiband aus großer Höhe hinab in die Tiefe (siehe Abb. 3), um anschließend an den Füßen baumelnd auf und ab zu federn. Dabei ist nur zu Beginn ein aktives Moment, nämlich der Sprung, erforderlich. Dann liefert man sich passiv den Wirkungen der Schwerkraft im freien Fall aus. Beim Canyon Swing sind Springen und Fallen um die Schwingungsbewegung ergänzt, wenn das Seil den in Gurten Hängenden weit über das Tal schaukeln lässt. Biscuiting ist als Wassererlebnis ein Abkömmling des Wasserskis (siehe Abb. 4). Während man von Motorkraft mit hoher Geschwindigkeit rasant über das Wasser gezogen wird, gilt es, sich auf dem Biscuit zu halten. Das Zurücklegen der Strecke dient dem Geschwindigkeitsrausch, dem die Geschicklichkeit des Festhaltens gegenübersteht. Ein eigenes Thema ist die Begegnung und Beobachtung von freilebenden Tieren z.B. Robben, Pinguinen, Walen, Glühwürmchen oder Papageien. Meist begegnet der Reisende diesen selten gewordenen Tieren ganz absichtlich und arrangiert. Doch spielt der Wildnischarakter der Umgebung, in der die Tiere angetroffen werden, eine entscheidende Rolle für die Präsentation. Es ist in der Regel kein Zoo oder Tierpark, sondern die freie Wildbahn. Zwar handelt es sich meist um Reservate, die aber großräumig sind. Oft sind es Führungen bzw.
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Bootstouren, die den Urlauber ungewöhnlich nah an die Tiere heranbringen. Beim Schwimmen mit Delphinen ist sogar haptischer Kontakt angesagt. Auf eine sportliche Variante der Begegnung mit Tieren trifft man beim Jagen. Fischen ist eine Form davon, Hochseeangeln oder das beliebte TroutFishing. Bei der Urform der Beschaffung von Nahrung in der Wildnis, gehört das Töten dazu, auch wenn es als Freizeitbeschäftigung und Sport praktiziert wird.
Abb. 3: Bungee-Jumping (Foto: P. Dinnebier)
P IONIERE – S ICH AUF W ILDNIS EINSTELLEN Urlaub in Neuseeland ist also kein Beach-Erlebnis mit garantierter Sonne, keine bequeme Wohnwagentour, weder gemütliches Radeln auf alten Bahnstrecken noch beschaulicher Spaziergang. Ursprünglichkeit und Wildheit sind die Pfunde, mit denen das Land wuchert. Es werden zum Teil Extremerlebnisse angeboten und gesucht. Landschaft wird dabei kaum als vertrauter Lebensraum erfahren, als wenig wohnlich erlebt. Es geht darum, sich in der Wildnis als lebensfähig zu erweisen und dabei ein Stück Vertrautheit zu schaffen. Das Er-
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dulden von Feindlichkeit mag ein Aspekt sein, interessant jedoch ist die innere Vertrautheit, die in wilden Landschaften erlebt wird. Der Aspekt von Eroberung richtet sich auf die äußere Natur wie darauf, den eigenen Körper zu überwinden, wenn sich etwa der Mountainbiker die Seele aus dem Leib strampelt. Die Lust am Körpereinsatz lässt sich vielleicht als Annäherung an Natur verstehen. Er bedeutet auch, sich als der Natur verwandt, selbst als Natur zu erleben. Darüber hinaus fällt die Nähe zur Pionierzeit auf, die in Neuseeland zum Teil noch aktuell ist. Pioniere sind zunächst keine Abenteurer oder Helden. Ihr Ziel ist die Etablierung von Zivilisation, sie bereiten der Besiedlung den Boden. Pioniere gehen ein hohes Risiko ein, aber nicht fahrlässig. Die Bedeutung von Ausrüstung und Erfahrung spiegelt sich in Reiseführer-Empfehlungen: »Es kann dann zu Waldbruch und Nebel kommen, was die Orientierung erschwert. Daher sind bei Wanderungen in der Tararua Range Grundkenntnisse im Wandern mit Karte und Kompass zu empfehlen.«3 »Wanderer mit wenig Outdoorerfahrung sollten diesen Weg nicht ungeführt laufen.«4 »Unbedingt sollte in der Tararua Range warme, wind- und regenfeste Kleidung mitgeführt werden, Karte und Kompass sowie, falls vorhanden, ein GPS-Gerät.«5 Insektenschutzmittel gilt vielerorts als unentbehrlich.6 Zum Cave Stream Scenic Reserve heißt es: »Die Höhlendurchquerung macht viel Spaß, darf aber nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Ein absolutes Muss sind eine – am besten wasserdichte – Taschenlampe plus Reservebatterien, warme Kleidung und stabile Schuhe«.7 Ernstnehmen der Gefahren ist wichtig und doch keine Selbstverständlichkeit. Für die Besteigung des Mount Aspiring wird ausdrücklich gewarnt: »Vorsicht: Die Schnee- und Eisflanke ist ein gefährlicher Auf- und Abstiegsabschnitt. Man sollte rechtzeitig, konzentriert und gut abgesichert absteigen, da die Eisflanke am späten Nachmittag zu rutschig wird. Das leicht angetaute Eis beginnt wieder zu frieren, sobald die Sonne weg ist. Hier sind viele Bergsteiger tödlich verunglückt, weil der Abstieg nicht mehr ernst genommen und unterschätzt wurde.«8 Sicherheit ist nicht selbstverständlich, sie ist ein Gut, das es zu erringen gilt. Die Gegenden, die der Outdoor-Fan sucht, nötigen ihm Beobachtung z.B. des Wetters und Anpassung an wechselnde Bedingungen ab. »Man sollte sich der Tatsache bewusst sein, dass der Weg zur nächsten Unterkunft bei plötzlich einsetzendem schlechtem Wetter sehr weit sein kann.«9 »Das Wetter hier ist 3 4 5 6 7 8 9
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Albert & Albert 2009: 145. Ebd.: 103. Ebd.: 146. Ebd.: 258. Ebd.: 198. Ebd.: 231. Ebd.: 113.
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extrem wechselhaft und durch die exponierte Lage des Berges kann es bei Wetterumschwüngen lebensgefährlich werden.«10
Abb. 4: Biscuiting (Foto: P. Dinnebier) Anstrengung geht der Tourist gerade nicht aus dem Weg, sondern sucht sie. Für die Raukumara Ranges etwa wird empfohlen, dass man sehr gute Fitness benötige, »um mindestens fünf Stunden Bergwanderung bewältigen zu können.«11 »Generell sollte man für Wanderungen in der Tararua Range körperlich fit sein. Neben der Steilheit kommen Matsch und starke Winde hinzu, die das Wandern erschweren und viel Kraft kosten können.«12 Unwirtlichkeit macht Neuseeland nicht unattraktiv, sondern wird als Erfahrung genommen: »Starke Winde und eine erhöhte Erdbebengefahr lassen einen spüren, dass der Mensch im Vergleich zu den Kräften der Natur doch recht klein ist.«13
10 | Ebd.: 137. 11 | Ebd.: 103. 12 | Ebd.: 144. 13 | Ebd.: 139.
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TOURISTEN – W ILDNIS ERLEBEN Beim Outdoor-Aufenthalt werden typische Pioniertugenden praktiziert. Meist handelt es sich um ambulantes Leben, Unterwegs-Sein ist das Ziel und der Lebensstil spartanisch. Entbehrung und Improvisation werden groß geschrieben. Viele Abstufungen werden praktiziert, Zelten, Wohnmobil, Backpackers. Der Reiseführer erläutert einen Routenvorschlag im Doubtful Sound: »Es handelt sich um eine Paddeltour in der Wildnis, daher wird gezeltet (es gibt keine Hütten), das Essen muss selbst zubereitet werden und für den Gang zur Toilette braucht man eine Schaufel. Wem das zu wenig Komfort ist, der sollte eine Tagestour vorziehen.«14
Abb. 5 und 6: Canyoning am Lake Wanaka (links)15 und Mountainbiking im Abel Tasman Nationalpark16 (rechts) Ein Multi-Erlebnis bietet das Canyoning (siehe Abb. 5), für das ein Reiseanbieter besondere Befriedigung verspricht: »this is ultimate satisfaction adventure in a sensational wilderness situation.«17 »Heli in, jetboat out«, so das Werbemotto, weist darauf hin, dass das Wildnisgefühl hier mit Motorkraft vermittelt wird. Bei der rasanten Fahrt mit dem Jetboot spielt Geschwindigkeit die entschei14 | Ebd.: 246. 15 | Quelle: Deep Canyon o.J.: o.S. 16 | Quelle: Abel Tasman Mountain Biking o.J.: o.S. 17 | Ebd.
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dende Rolle. Das motorisierte Fortbewegungsmittel mindert das Natur-Feeling offenbar nicht. Der Hubschrauber rekurriert auf einen modernisierten Pionierhorizont. Das Jetboot erinnert an Vergnügungsparks, doch verspricht die Fahrt zugleich eine Elementarerfahrung: »get wet … get real wet«18. Der Kult der nässeren Nassheit ist offenbar nicht weniger real als die Realität, und so lässt sich Nasswerden durch wirkliches Nasswerden toppen, gelebte Tautologie. Dabei wird gesucht, was im Alltag eher vermieden wird, z.B. Schmutz. Die Firma Abel Tasman Mountain Biking wirbt gar mit dem Slogan »the full dirt«19 (siehe Abb. 6) Es wird weder Verwahrlosung noch eine spezielle Substanzerfahrung oder ›kultiges Earthfeeling‹ beschworen, es geht nicht um bösen oder guten Schmutz, hier geht es um ›Dreck‹, von dem bespritzt zu werden, von zivilisatorischen Fesseln reinigt und Wildnis körperlich erfahrbar macht. »Eine Nacht in der Mueller Hut ist ein alpines Erlebnis der besonderen Art. Sonnenaufgang und -untergang, die Geräusche abgehender Lawinen und knackendes Eis sowie der atemberaubende Blick auf den Mount Cook und den Mount Sefton bringen einem die neuseeländischen Südalpen näher.«20 Zivilisationsferne ermöglicht dem Touristen die Annäherung an Schönheiten und Gefahren der Natur. Die Einsamkeit des Whanganui National Park gilt als wertvoll, doch Reiseführer sehen sich wegen ihr auch zu vielfältiger Warnung genötigt. Außerhalb der Hochsaison erscheint »die sowieso schon unbesiedelte Region noch unberührter – auf jeden Fall ein besonderes Erlebnis«21, doch der nächste Supermarkt ist weit: »Für die Tour muss der gesamte Proviant mitgenommen werden. Es gibt weder unterwegs ein Lebensmittelgeschäft noch Einkehrmöglichkeiten.«22 Und es gibt keinen Handyempfang.23 Sich auf solche Verhältnisse einzulassen, heißt oft genug, den eigenen Ängsten gegenüberzustehen. Das wird regelrecht trainiert beim Bungee-Jumping, dem überall im Land präsenten Angebot für den ultimativen Kick. Ob Brücke, ob Turm – man kann sich vielerorts hinunter stürzen. Natürlich am stabilen Gummiband, festgeschnallt im TÜV-geprüften Sicherheitsgeschirr. Manchmal taucht man am Grund einer Schlucht sogar in das Wasser eines Flusses. Am Ende zieht ein Team den Mutigen wieder hinauf auf die Plattform. Mut wird hier auf die Probe gestellt und zum Erfolg geführt, denn am Ende überlebt man den Sprung recht unbeschadet. Der Springer steht wieder oben und darf sich gestärkt fühlen. Wie kalkulierbar das Risiko ist, macht schon der 18 | Ebd. 19 | Abel Tasman Mountain Biking o.J.: o.S. 20 | Albert & Albert 2009: 215. 21 | Ebd.: 135. 22 | Ebd.: 135. 23 | Ebd.: 104.
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Preis klar, denn das Springen kostet viel Geld. Doch das tut dem Erlebnis, sich ins Ungewisse zu stürzen, keinen Abbruch. Das Leben wird also nicht wirklich riskiert und trotzdem kostet der freie Fall, die suggerierte Bodenlosigkeit, Überwindung.
N ATUR – V ER ÄNDERUNG STAT T E WIGKEIT Die freiwillige Rastlosigkeit des Touristen und die notgedrungene Beweglichkeit des Pioniers finden interessanterweise eine Fortsetzung in der Natur, wie sie im neuseeländischen Tourismus dargeboten und erklärt wird. Mehr als anderswo erscheint die Natur in Bewegung, in Bildung und Veränderung. Schon beim Fischen gelten die Flüsse und Seen als Subjekt: »Our lakes and rivers offer some of the best Rainbow and Brown Trout fishing in New Zealand.«24 Aber die Eigentätigkeit der Natur bringt auch tiefgreifende Veränderungen mit sich. So etwa beim Buller River, den der Outdoor-Reiseführer als den ultimativen Wildwasserfluss Neuseelands vorstellt: »Im vergangenen Jahrhundert gab es jedoch zahlreiche Erdbeben in der Region, wodurch der Flusslauf markant verändert wurde. Die Erdplattenbewegung führte zu Erhebungen des Flussbetts, die den Flussverlauf sehr unruhig werden ließen. Die entstandenen Stromschnellen machen den Buller River heute für Rafting und Wildwasserkajaken so attraktiv. Durch die ständige Plattenbewegung unterliegt der Fluss immer wieder größeren geografischen Veränderungen.« 25
Diese sind beileibe keine erdhistorischen, sondern ganz zeitgeschichtliche Phänomene. Selbst Berge sind von Veränderungen nicht ausgenommen. »Der Mount Cook ist mit 3754 m der höchste Berg Neuseelands. 1991 verlor er zehn Meter an Höhe, da es mitten in einer Dezembernacht zu einem enormen Steinschlag kam. 40 Mio. m³ Stein und Eis fielen über den Tasman Glacier hinab ins Tal.«26 Und doch liegt es nicht in erster Linie an der Natur der neuseeländischen Inselgruppe, dass Veränderung als Aspekt der Natur in der Vermarktung und Vermittlung des Landes so wichtig ist. In Neuseeland wird vielmehr, grob gesagt, die unvorhersehbare und ruppige Seite der Natur betont. Das ist nicht die Natur, die dem deutschen Naturfreund vorschwebt, jene Natur, die uns mehr oder weniger sanft, auf jeden Fall aber berechenbar und verlässlich, leben lässt, wenn wir uns ihren Regeln fügen. Neuseeland blickt gewissermaßen ohne mo24 | Wanaka Fishing Safari o.J.: o.S. 25 | Albert & Albert 2009: 180. 26 | Ebd.: 218.
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ralische Bewertung auf die Naturtätigkeit, stellt sich ihr und ihren Ergebnissen. Schließlich müssen wir ja mit ihr leben und, sieh an, einiges ist von Vorteil und manches macht sogar Spaß. Diese Einstellung wird in vielen touristischen Angeboten mit der Natur zusammen vermarktet. Auch das ewige Eis ist in Bewegung: Gletschereis bildet sich und schmilzt. Der Gletscher bewegt sich vorwärts und auch seine Ausdehnung ändert sich. Veränderungen, die bei uns häufig mit Bedenken und Ängsten verfolgt werden, finden sich in der touristischen Darbietung Neuseelands nüchtern präsentiert. Dabei steht weniger der Aspekt des ›Funktionierens‹ im Vordergrund als der der Zerstörung und Neubildung. Permanenter Veränderung unterliegen auch die Pancake Rocks, eine geologische Formation an der Westküste der Südinsel. Ihre bizarren Formen wurden durch die Bewegung des Meeres gebildet. Doch das Meer frisst die Felsen langsam auf und zerstört sie auf Dauer. Die Erläuterungstafeln vor Ort dividieren Entstehung und Zerstörung nicht auseinander, sondern betonen ihren Zusammenhang. Nichts ist schließlich ewig, Landschaft hat Geschichte, ist geworden. Eiszeitliche Gletscher etwa haben die Landschaft verändert. Dafür sind Fjorde wie der Milford Sound ein Beispiel. Zu den gern vorgezeigten Phänomenen gehören die Schleifspuren, die der Gletscher an den fast senkrecht abfallenden Felswänden hinterlassen hat. Eine neuseeländische Attraktion sind die geothermischen Aktivitäten auf der Nordinsel, die viele Touristen anziehen. Es handelt sich um dauerhafte Prozesse, die in der Maori-Kultur einen großen Stellenwert haben, etwa wenn in Erdöfen Essen zubereitet oder in sogenannten Hotpools gebadet wird. Auch die geothermischen Landschaften gehören zum touristischen Pflichtprogramm. Am Champagne Pool in Waiotapu perlt Teichwasser, Dämpfe steigen auf, Nebelschwaden ziehen durch die Luft. Wasser in ungesund anmutenden Farben, farbenprächtige Quellen und See-Verfärbung ohne chemische Zusatzstoffe sind zu sehen. In Waimangu brechen Geysire aus, ein ›Naturschauspiel‹, dem man früher mit Seife nachhalf. Die in den Jahren 1900 bis 1904 erreichten Höhen von 380 bis 500 m blieben freilich eine temporäre Erscheinung. Legendär sind auch die Pink und White Terraces, Sinterterrassen, die stolz als das achte Weltwunder bezeichnet wurden und Scharen von Besuchern anzogen.27 Es handelte sich um gigantische Kieselformationen, die durch die gleichen Sinterprozesse entstanden waren, die im Thermal Wonderland noch heute zu besichtigen sind. Die legendären Terrassen waren 250 m hoch, bevor sie 1886 ein Ausbruch des Vulkans Tarawera zerstörte. Die Landschaft veränderte sich dabei so grundlegend, dass heute nicht einmal mehr Reste der Terrassen zu erkennen sind. Die außergewöhnliche Naturerscheinung ist also verschwun27 | Conly 2006.
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den, weil sie durch eine andere Naturaktivität zerstört wurde. Doch die Terrassen leben als Mythos fort und werden auf diese Weise in Abwesenheit ebenso mitvermarktet wie der 130 Jahre zurückliegende Vulkanausbruch. Ausgrabungen in einem der drei von Asche verschütteten Dörfer werden als Buried Village präsentiert und als Kiwi Pompeii in den klassischen Kontext der europäischen Antike gestellt.
S IEDLER – N ATUR VER ÄNDERN Da sich Neuseeland als Land in Bewegung präsentiert, wundert es nicht, dass auch der Mensch als verändernde Kraft präsentiert wird. Dem Pionier kommt dabei besondere Bedeutung zu. Pioniere sind die ersten Siedler, also ist das Ergebnis ihres erfolgreichen Wirkens keinesfalls mehr Wildnis. Sie verändern die Landschaft. Durch die Schafhaltung entstanden Weidelandschaften, es wurden Städte, Industrie etc. geschaffen. Wenn auch kaum ein Reisegrund, gehört der Pionier doch zur Darstellung typischer Besuchsstätten in gängigen Reiseprogrammen. Im Goldgräberstädtchen Ross etwa werden die Spuren dieser anthropogenen Prägung aufgezeigt.28 Auf den Spuren der Goldgräber wird der Besucher zu Häusern, Gräben und Gräbern geschickt. Zum Goldrausch gehörte nicht allein das Sieb, mit dem der Goldgräber das Flusssediment durchsiebte, sondern auch ein aufwendiges Wassermanagement mit Umleitungen, Sammlung und Verteilung von Wasser, um den Boden quasi zu verflüssigen. Die Spuren der Wassernutzung findet der Besucher im Gelände aufwendig sichtbar gemacht und erläutert. Als eine der jüngeren Pionierleistungen gilt die Milford Road, die Straße, die von Te Anau zum Milford Sound führt.29 In den 1930er Jahren wurde der 54 km lange Abschnitt des State Highway 94 als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme begonnen. 1952 war die Straße fertiggestellt, im Winter jedoch erst seit den 1970ern geöffnet. Die Arbeiten erforderten großen Anstrengungen, wobei vor allem der Homer Tunnel als besondere Leistung hervorgehoben wird. Der Bau der Straße wird als Pioniertat gefeiert, obwohl sie auch als große Landschaftszerstörung wahrgenommen wird und genau deshalb die einzige Straße zu einem Fjord in Fjordland ist.
28 | Ross Goldfield Information & Heritage o.J.: o.S. 29 | Hall-Jones 2000.
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Z UGEREISTE – AUF ZU NEUEN U FERN Neuseeland ist ein Land, das für Unberührtheit und Wildnis steht. In Europa sind solche Landschaften sehr geschätzt und ziehen viele Besucher an. In Neuseeland verhält es sich nicht grundsätzlich anders, doch die Neuseeländer vermarkten ihre Landschaften mit einer etwas anderen Konnotation, als wir sie im deutschen Kontext gewohnt sind. Natur steht hier nicht für Ewigkeit, Ursprung oder Höherentwicklung, Ehrfurcht gebietendes ›War schon immer so‹ und ›Muss unbedingt so erhalten werden‹. Natur, wie sie der neuseeländische Tourismus vermittelt, ist vielmehr Werden und Vergehen, Bildung und Veränderung, scharfe Brüche und unvorhersehbare Neuanfänge. Eingeborene, Ureinwohner gibt es in Neuseeland nicht. Die Maori kamen um 1150 auf der Insel an. Statt eines Schöpfungsmythos steht am Anfang der Kultur auf den neuseeländischen Inseln die Ankunft mit dem Kanu, ein ›Mythos der Ankunft‹. 1642 entdeckte Abel Tasman das Inselreich für Europa, ohne jedoch von seinem Schiff an Land zu gehen. 1769 schließlich nahm Captain Cook Neuseeland für Großbritannien in Besitz.30 Erst 1840 setzte die Kolonisierung ein. Sämtliche Bewohner Neuseelands sind also Zugereiste. Trotz aller Kämpfe sowohl zwischen den Maori-Stämmen als auch zwischen den Europäern und Maori hat Neuseeland keine Eroberungsgeschichte. Die Helden sind hier nicht Krieger, sondern die, die sich einzurichten verstanden. Pioniere sind die, die sich auf solche Verhältnisse einzustellen vermochten, die auch flexibel genug sind, gegebenenfalls ihre Zelte wieder abzubrechen und an andere Orte zu ziehen. Sie etablieren Heimat, nicht der Ort. Im mitteleuropäischen Verständnis dagegen steht der Eingeborene im Vordergrund, der sozusagen dem Ort entsprungen ist und im konservativen Denken als an ihn angepasst verstanden wird. Den modernen Mitteleuropäer reizt mehr als eine Befriedigung seines zivilisatorischen Überdrusses. In dem ganz westlich orientierten Land lassen sich Erfahrungen machen, die eine gesellschaftliche Veränderung erahnen lassen. Deutet sich hier ein Abschied von der Idee der totalen Beherrschung der Natur an? Der Outdoor-Reisende lässt sich ein Stück weit auf die Stärke der Natur ein, setzt sich der Wildnis aus und hält sie aus. Nach klassischem Muster wird im Bezwingen elementarer Widrigkeiten eigene Stärke erfahren. Doch der Akzent des neuseeländischen Tourismus verlässt gewohnte Bahnen, wenn es gilt, sich Veränderungen der Natur zu stellen und sich flexibel einzurichten. Urlaubswei30 | Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH; Kunsthistorisches Museum mit Museum für Völkerkunde und Theatermuseum Wien & Historisches Museum Berg 2009; Horwitz 2009. Neuseeland wurde 1947 von Großbritannien unabhängig.
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se wird hier geübt, mit Unberechenbarkeit umzugehen und sich gerade nicht auf einen Kampf einzulassen. Zweifellos bleibt diese Selbsterfahrung ein Fenster in einer Lebensweise, die so abgesichert ist, wie selten zuvor. Auch handelt es sich bei den Outdoor-Erlebnissen in Neuseeland in der Regel um gut vorbereitete Programme, die vielfach inszeniert anmuten. Dennoch bleiben es Erlebnisse wirklicher Menschen, ihrer Körper und Ängste, an denen der tendenziell andere Umgang mit dem Risiko erkennbar ist. Vielleicht darf man dies als Einüben in ein verändertes Mensch-Natur-Verhältnis interpretieren, eines, in dem der Mensch die Wildnis nicht ausrottet und zivilisiert, sondern in ihrer Fremdheit heimisch wird. Der Körper scheint das Instrument dazu zu sein, der Geist dürfte sich mit dem Abschied vom Unterschied zur Natur weitaus schwerer tun. Und die Moral von der Geschichte: Immer schön flexibel bleiben.
L ITER ATUR Abel Tasman Mountain Biking (o.J.): Guided trips Flyer (gesehen in Motueka, Neuseeland, November 2009). Albert, Alexandra & Albert, Peter (2009): Neuseeland Outdoor-Handbuch. Bielefeld: Rumpp. Conly, Geoff (2006): Tarawara. The Destruction of the Pink and White Terraces. Wellington: Grantham House Publishing. Deep Canyon (o.J.): »Canyoning lake wanaka«. www.deepcanyon.co.nz/Deep_ Canyon_info_2011.pdf (aufgerufen am 20.09.2011). Glacier Helicopters (2006/2011): »Scenic helicopter flights on West Coast glaciers«. www.glacierhelicopters.co.nz (aufgerufen am 20.09.2011). Hall-Jones, John (Hg.) (2000): Milford Sound. An Illustrated History of the Sound, the Track and the Road. New Brighton: Craig Printing Company. Horwitz, Tony (2009): Cook. Die Entdeckung eines Entdeckers. München: Piper. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH; Kunsthistorisches Museum mit Museum für Völkerkunde und Theatermuseum Wien & Historisches Museum Berg (Hg.) (2009): James Cook und die Entdeckung der Südsee. München: Hirmer. Ross Goldfield Information & Heritage (Hg.) (o.J.): Gold Rush to Ross. A short history of the Ross/Totara Goldfields. Ross: Selbstverlag. Wanaka Fishing Safaris (o.J.): www.trout.net.nz (aufgerufen am 20.09.2011).
Naturaneignung durch Hollywood? Anmerkungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der phantastischen Natur im Spielfilm Avatar – Aufbruch nach Pandora Anton Escher
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint Natur als das vollkommen Andere von Kultur, als das auf der Erde Leben Gebende und sinnstiftende Gegenüber durch menschliche Aktivität endgültig verloren zu gehen. Insbesondere dadurch wird das Bedürfnis der Menschen nach unverbrauchter Natur immer größer. Die Aneignung von Natur hat inzwischen anscheinend kuriose Formen angenommen, wie Spielfilme aus Hollywood zeigen. Die spiel-filmische Aneignung von Natur erzeugt heute oftmals intensivere Auswirkungen auf die irdische Natur, die menschliche Kultur und unsere Naturauffassungen bzw. -vorstellungen als andere Formen der Auseinandersetzung mit Natur.1
D ISTANZ ZUR N ATUR , V ERSTÄNDNIS VON N ATUR UND N ATUR IM S PIELFILM Die Aneignung von Natur setzt immer bestimmte theoretische Vorstellungen, eine Positionierung des Menschen zur Natur, ein bezeichnetes Verständnis von Natur und eine zumindest implizite Strategie der Auseinandersetzung mit Natur voraus.
1 | Für Anregungen zum Vortrag, der diesem Aufsatz zu Grunde liegt, bedanke ich mich bei Tina Kennedy, Stefan Zimmermann und Torsten Wißmann. Ein herzlicher Dank geht an Elisabeth Sommerlad für Hilfen bei Literatur- und Internetrecherchen sowie bei der Gestaltung des vorliegenden Beitrages.
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Distanz zur Natur macht den Menschen zum Menschen. Im Gegensatz zu Tieren, die bei Gefahr angreifen oder fliehen, zieht der Mensch bei nahender Gefahr ›die Gewinnung der Distanz‹ vor. Die Haltung zwischen abwendender Flucht und hinwendendem Angriff bei drohender Gefahr lässt dem Menschen sich »die Wirklichkeit im wörtlichen Sinne vom Leibe«2 halten. Die »actio per distans«3, wie Hans Blumenberg das Verhalten des werdenden Menschen charakterisiert, positioniert den Menschen in der Welt zur Natur und zu sich selbst, d.h. zur naturgegebenen Dimension seiner selbst. Die wichtigste Strategie des werdenden Menschen ist die Ausschaltung der Körperlichkeit, denn »Körperausschaltung bedeutet Körperbefreiung«4 . Letztlich ist sie die Überwindung der körperlichen Defizite und damit die partielle Ausschaltung der Natur des Menschen. Diese gelingt zuerst mit dem Werkzeug, denn »das Werkzeug ist nicht, wie die landläufige Meinung geht, ein Mittel zur Verstärkung des Körpers, sondern umgekehrt ein Mittel zu seiner Ausschaltung«5 . Paul Alsberg sieht darin das Entwicklungsprinzip des Menschen. Der Mensch erreicht über die Technik6 seine Unabhängigkeit von Natur. Ein weiterer grundlegender Aspekt menschlichen Seins ist die Fähigkeit der Erinnerung. Damit ist nicht das bloße Wiedererkennen von Formen und Zuständen gemeint, sondern die Fähigkeit zur Erzeugung von komplexerem Wissen, denn »Erinnerung ist eine der Formen der actio per distans«.7 Hinzu kommt die Begabung der Benennung und Abbildung der einzelnen Phänomene der Natur. Von der ersten Höhlenzeichnung über die religiösen Bilder des Mittelalters und die Konstruktionszeichnungen der Renaissance bis zu den wissenschaftlichen Modellskizzen der Physik, dienen die Abbildungen der Bannung und Beherrschung von Natur. »Kultur ist Menschsein, ist Befreiung vom Körper und die Kulturmittel sind die künstlichen Werkzeuge, die sich der Mensch in den Bereichen der Technik, Sprache und Vernunft geschaffen hat«.8 »Simulation [ist] die reinste Form der actio per distans: in ihr ist die Abwesenheit der Sache selbst absolut, ihre Entbehrlichkeit positiv geworden«.9 Das Spiel zeigt sich als stärkste menschliche Aktivität der ›actio per distans‹. Es ist ein ›so tun als ob‹, ein Simulieren von Wirklichkeit. Allerdings hat der Mensch im Spiel des Lichtes im Kino, in der Simulation von Natur eine ›Spielart‹ der Distanzierung von Natur gefunden, die ihm die Aneignung 2 | Blumenberg 2006: 578. 3 | Ebd. 4 | Alsberg 1922/2010: 31. 5 | Ebd.: 59. 6 | Blumenberg (1953/1970) beschreibt die Wahrheit des Menschen als technisch und sieht damit den Menschen sich noch im Prozess der Menschwerdung befindlich. 7 | Blumenberg 2006: 583. 8 | Alsberg 1922/2010: 118. 9 | Blumenberg 2006: 600.
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von Natur ermöglicht, ohne in irgendeiner Weise durch seine Körperlichkeit gefangen zu sein. Er kann die Regeln der Natur gänzlich außer Kraft setzen, denn die gegebene Natur ist in ihrer (medialen/filmischen) Aneignung nicht notwendig als gegebene gegenwärtig, weil die Aneignung keinen bloß abbildenden Charakter hat. Die (wahre) Naturaneignung ist heute für den Menschen als Menschen insbesondere medial geboten und damit sind der Neuerfindung der Natur keine Grenzen gesetzt. Das Verständnis von Natur steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Distanz des Menschen zur Natur und damit seiner Macht über Natur. Heute trifft man auf zahlreiche unterschiedliche lebensweltliche Verständnisweisen von Natur, die in der antiken europäischen Geistesgeschichte begründet sind. Nachfolgend soll, ohne philosophische Begründung10 und historische Einordnung, die Spannweite der Verständnispositionen des Menschen zur Natur mit Hilfe plakativer Statements aufgezeigt werden: Die Aussage ›Die Natur ist voll von Göttern‹ repräsentiert das magisch-mystische Verständnis von Natur. Der Mensch ist Natur und unterwirft sich den ihm meist unbekannten Regeln der Natur. Die Gewalten der Natur werden als göttlich identifiziert; die Götter haben das Schicksal der Menschen in ihren Händen. Der Mensch versucht durch Glauben, Magie und Esoterik, die Natur bzw. die dahinterstehenden Götter positiv zu stimmen, um gut mit und in der Natur leben zu können. Die Gegenposition dazu, die heute das überwiegende Verständnis der Natur prägt, kann mit folgendem Satz auf den Punkt gebracht werden: ›Der Mensch und die Natur‹. Der Mensch ist als kulturelles Wesen nicht Natur und steht der Natur gegenüber. Die Natur wird als Gesamtkunstwerk interpretiert und kann damit technisch beeinflusst und manipuliert werden. Ein partieller Nachbau und eine maßvolle Modifikation der Natur sind möglich, ja in bestimmten Fällen sogar geboten; die Natur ist für diese Menschen weiterhin die überlegene und referentielle Autorität. Die vom Menschen kreierten Gegensätze zur Natur, die sein Menschsein definieren, wie Moral, Technik, Kunst und damit Kultur,11 heben sich auf, da gerade diese Phänomene die Natur bestimmen und reproduzieren. ›Der Mensch macht Natur‹, lautet nun der bezeichnende Satz für dieses Naturverständnis. Natur bleibt »das aus sich selbst heraus Existierende«12 und damit eine schaffende und erhaltende Kraft, auch wenn es dem Menschen gelingt, diese Kraft in hohem Maße zu bestimmen, zu nutzen und zu bändigen. Die Natur ist reproduzierbar und der Mensch hat sich vollkommen von der Natur emanzipiert. Schließlich ist es nur konsequent, dass 10 | Karen Gloy (1995) führt sehr differenziert die philosophisch-historische Entwicklung des Naturverständnisses von der Antike bis zur Moderne aus. 11 | Vgl. Schäfer 1987. 12 | Sieferle 1998: 167.
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der Mensch Natur als Gut gestaltet. ›Der Mensch handelt mit Natur‹. Natur wird als ökonomisches Gut bewertet und danach ihre Verwendung bestimmt. Damit bekommt Natur einen monetären Wert. Allerdings darf beim Verbrauch und Gebrauch der Natur die natürliche Existenzbasis des Menschen nicht gefährdet werden. Das letzte und ultimative Credo lautet: ›Der Mensch erfindet Natur‹. Natur wird als kulturelles Konstrukt mit genauer Benennungspraxis zum sinnhaften Umgang und zur zweckorientierten Nutzung verstanden. Damit kann (fast) jedes Kulturprodukt zur Natur erklärt werden. Natur im Spielfilm dargestellt, bedeutet die größtmögliche Distanz des Menschen zur Natur, da Natur im Spielfilm neu erfunden wird. Die bildliche Darstellung und die dadurch erzielte Aneignung von Natur hat eine lange Tradition und begleitet den Menschen seit seiner Menschwerdung. »Nach der industriellen Unterwerfung der Natur sei inzwischen nur die Kunst noch in der Lage, eine Vorstellung von der Qualität der Natur als dem ›Anderen‹ der gesellschaftlich verfassten Wirklichkeit zu wecken«.13 Dazu hat Niklas Luhmann bereits vor 20 Jahren festgestellt: »Naturerleben wird zum Derivat von Kunst«.14 Natur im Spielfilm ist als Kunst eine weitere zweite Natur15 und ermöglicht ästhetische Erfahrung und theoretische Reflexion sowie die Erfindung der Natur.16 Die Distanz zur Natur wird bereits bei der »visuellen Naturaneignung im frühen Gletschertourismus«17 bemerkbar, wie sie von Monika Wagner historisch nachgezeichnet wird. ›Gelenkter Blick‹ und ›einhergehende Standardisierung‹ reduzieren die touristische Wahrnehmung der Natur bereits draußen in der Natur.18 Kontinuierlich geht die in Bildern im Laufe der Jahrhunderte verfügbar gemachte Natur in die filmischen Darstellungen über. Dokumentarfilm und Spielfilm übernehmen ab Beginn des 20. Jahrhunderts in großen Schritten die dominante und die eindringlichste Form der Erzählung von unbekannten, vergangenen und zukünftigen Naturwelten. »›Natur‹ erscheint dabei in metaphorischer oder metonymischer Relation zu psychisch-emotionalen Prozessen. In dieser Konzeption hat ›Natur‹ einerseits die Funktion einer nicht hintergehbaren Instanz der Legitimation und Sanktionierung menschlichen Verhaltens, andererseits illustriert sie es«.19 Die medialen Darstellungen von Natur zeigen das Gefährliche, Gefährdete, Wahre und Schöne. Natur wird in Spielfilmen immer wieder als Landschaft dargestellt. Sie dient als Handlungsrahmen, steht für 13 | Dickel 2006: 32. 14 | Luhmann 1995: 16. 15 | Dickel 2006: 11. 16 | Vgl. ebd.: 11ff. 17 | Wagner 1983. 18 | Vgl. ebd. 19 | Keitz 1994: 120.
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Authentizität und Glaubwürdigkeit, agiert als Metapher, Symbol, Mythos und Schauspiel(er).20 »Die Natur kommt […] stets als Spiegelung sozialer, hierarchischer Dramen und Folie für Konflikte der Zivilisierung vor; die Natur zerfällt in das Ewige und Unantastbare, aus dem man Postkarten macht und in das gefälligst zu Ordnende und zu Bewirtschaftende«.21 Damit hat Natur im Spielfilm immer kulturellen Charakter. Nicht nur deshalb, sondern weil die Medien für den Menschen zunehmend seinen Zugang zur Welt definieren, formuliert der Guru der Medienwissenschaft Herbert Marshall McLuhan bereits im Jahr 1969: »The new media are not bridges between man and nature; they are nature«.22
A VATAR – D IE W ELT VON P ANDOR A Der Spielfilm Avatar fällt unter die Genres Science-Fiction, Action, Abenteuer und Fantasy. Dennoch ist die Welt von Pandora durch den produktionstechnischen Kontext und den weltweiten Erfolg des Spielfilms mit unserer Alltagswelt in vielfältiger Art und Weise verknüpft. Die Darstellungen, Strategien, Absichten und Effekte des Spielfilms sind für ungezählte Menschen und für die meisten Gesellschaften als Referenzen verfügbar und diskursiv wirksam. Die Welt von Pandora besteht aus der Erzählung des Spielfilms und der im Film dargestellten Natur des Planeten Pandora mit ihrem Regenwald, schwebenden Bergen und blauen Hominiden. Schließlich bietet der Film pandorische Perspektiven zur möglichen Zukunft von Natur und Mensch nicht nur auf Pandora.
P RODUK TIONSTECHNISCHER K ONTE X T UND GESELLSCHAF TLICHER E RFOLG VON A VATAR Ein abendfüllender Spielfilm wird in der Regel, wenn man von Filmfreaks, Filmwissenschaftlern und Filmkritikern absieht, am technischen Innovationspotential, an der Zahl der Kinogänger, an der repräsentativen Verbreitung und vor allem am ökonomischen Erfolg gemessen. Vor dem Start war der Spielfilm aufgrund seiner hohen Produktionskosten umstritten. Der Film soll nicht nur über ein Budget von 237 Millionen verfügt,23 sondern nahezu 500 Millionen US-Dollar gekostet haben.24 Der Regisseur James Cameron versuchte in mehrfacher Hinsicht neue Wege bei der filmtechnischen Umsetzung der Erzählung 20 | Escher & Zimmermann 2001. 21 | Seeßlen 1990: 351. 22 | McLuhan 1997: 272. 23 | Innreiter 2009: o.S. 24 | Noack 2010: 3.
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zu gehen. Insbesondere die von ihm selbst weiterentwickelte Motion-CaptureTechnologie, bei der die Schauspieler in der nackten Kulisse spielen. Die Schauspieler werden mit Sensoren ausgestattet und ihre Schauspielkunst wird auf eine computergenerierte Figur übertragen (siehe Abb. 1). Man kann das Verfahren als die moderne Variante der Maske25 bezeichnen (siehe Abb. 2).
Abb. 1: Die Produktion der Bilder des Spielfilms: Gespielte Szene und gemachtes Filmprodukt26
25 | Duncan & Fitzpatrick 2010: 17. 26 | Quelle: ebd.: 91.
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Abb. 2: Schauspielerin und Filmprodukt27 Der Spielfilm erzielte ein Einspielergebnis in den ersten zehn Tagen von 468 Millionen US-Dollar und einen Umsatz von 2,8 Milliarden US-Dollar weltweit.28 Die Anzahl der Kinogänger belief sich bis Juni 2010 auf 143,3 Millionen, und schließlich wurden in den ersten vier Tagen nach Ausgabe in den USA 6,7 Millionen DVDs und Blu-Ray-Discs verkauft.29 Hinzu kommen drei Oscars für Szenenbild, Kamera und visuelle Effekte sowie sieben Oscar-Nominierungen und weltweit zahlreiche weitere Preise und Anerkennungen. Zur Information über die Welt von Avatar stehen im Internet die offizielle Homepage des Filmes, ein ebenfalls offizieller ›Field Guide‹ zum Planeten Pandora, das Avatar-Wiki und eine Wikipedia-Seite zur Verfügung. Der Film wird in zahlreichen sozialen Netzwerken diskutiert und hat eine eigene Seite auf Facebook. Eine unüberschaubare Fülle an Filmderivaten steht inzwischen für die Filmfans zum Konsum zur Verfügung. Die Merchandise-Produkte30 umfassen das Computerspiel James Cameron’s Avatar: Das Spiel, von dem es unterschiedliche Versionen gibt. Hinzu kommen Memory-Spiele, Schachspiele, Avatar 3D 27 | Quelle: ebd.: Ausschnitt des Titelbildes. 28 | Hamburger Abendblatt 2009: o.S. 29 | Zweifel 2010: o.S. 30 | Die Welt des strategischen Merchandise kann als eine Erfindung von George Lucas gelten, der mit dem sog. ›Zweiten Universum‹, allen Star Wars-Derivaten, mehr als ein Vermögen machte und immer noch macht (vgl. Escher, Riempp & Wüst 2008).
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Labyrinth-Spiele, verschiedene Puzzle, Kleidung aller Art, Na’vi-Schmuck, AudioCDs mit Filmmusik und vom Film inspirierter Musik, Na’vi Kostüme, Make-up Utensilien sowie die gesamte Bewaffnung der Na’vi. Nicht zu vergessen sind Bettwäsche, Handtücher, Kissen, Tassen, Poster, Kalender, Spielfiguren und Mousepads sowie Schlüsselanhänger. Avatar ist ein guter Werbeträger für MacDonalds und Coca-Cola. Klar, dass die didaktische Ausstellung zum Spielfilm nicht lange auf sich warten ließ: Im Museum der US-amerikanischen Stadt Seattle wurde sie verwirklicht. Mit all diesen Daten kann der Spielfilm Avatar derzeit als der erfolgreichste Film aller Zeiten gelten.31
D IE E RZ ÄHLUNG DES S PIELFILMS A VATAR Der Spielfilm erzählt eine universelle Geschichte von Sinn, Eroberung, Macht, Liebe und Gemeinschaft, eingebettet in den Kampf um Natur und Umwelt. Er zeigt eine fremde virtuelle Welt, in der sich ein Akteur mit Hilfe seines Avatars unter fremden idealisierten Menschen bewegt. Der Held ist als Hauptcharakter des Films Wegweiser und Beschützer der einheimischen Hominiden bei ihrem Kampf um ihre natürliche Heimstätte gegen die imperialistischen Menschen. Die Chronik des Films spielt im Jahr 2154. Resources Development Administration (RDA), ein kommerzieller auf der Erde ansässiger Konzern, baut unter Absicherung der Armee auf dem Mond Pandora das gefragte Supraleitermineral Unobtanium ab. Der Mond Pandora ist die Heimat der Na’vi, einer menschenähnlichen Urbevölkerung. Sie sind erheblich größer als Menschen, haben eine blaue Haut, verfügen über Schwänze und tragen lange Haarzöpfe. Sie leben in Clans im Wald und sind integraler Bestandteil dessen, was wir als Natur bezeichnen. Die Menschen können sich in der für sie lebensfeindlichen Atmosphäre von Pandora nur mit Hilfe von Sauerstoffmasken oder in Körpern bewegen, die als Avatar bezeichnet werden. Ein Avatar, ein mit menschlicher und pandorischer DNA künstlich hergestellter Na’vi-Körper, hat exakt das Aussehen und die Funktionsweise der einheimischen Na’vi-Bevölkerung und ist mit dem menschlichen DNA-Stifter mittels einer Verbindungskammer neuronal durch Gedankenübertragung verbunden. Der von der Hüfte abwärts gelähmte USMarine Jake Sully wird auf die über fünfjährige Lichtreise nach Pandora geschickt, um anstelle seines verstorbenen Zwillingsbruders, der für diese Mission ausgebildet und für den der Avatar gezüchtet bzw. auf den die Verbindungskammer abgestimmt wurde, als Avatar die Welt der Na’vi zu erforschen.32 31 | Müller 2010: o.S. 32 | Die Heldengeschichte des Films entspricht in vielen Aspekten der des Heros in tausend Gestalten (Campell 1978). »One of the many aspects of the Hero’s Journey is that of rebirth« (Mahoney 2010: 11).
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Während das zuständige Wissenschaftlerteam um Dr. Grace Augustine vor allem akademische Ziele verfolgt und eine friedliche Vermittlung anstrebt, wollen der technische Leiter des Unternehmens und der Sicherheitschef Colonel Miles Quaritch den ökonomischen Erfolg des Unternehmens sicherstellen. Beim ersten Erkundungsflug muss die Besatzung Jack Sully aufgrund einbrechender Dunkelheit als Avatar allein im Wald zurücklassen. Dort lernt er nach vielen Gefahren die Häuptlingstochter Neytiri kennen, die ihn aufgrund von Zeichen der Saat des heiligen Baumes nicht tötet, sondern Vertrauen zu ihm fasst und ihn mit zum Lager des Stammes nimmt. Nach anfänglichen Problemen, vor allem mit ihrem Bruder Tsu’tey, dem zukünftigen Stammeschef, durchläuft Sully die Ausbildung zum Krieger und wird in den Stamm aufgenommen. Neytiri und Sully werden ein Paar33 (siehe Abb. 3).
Abb. 3: Das Na’vi Paar: Jake und Neytiri (Filmplakat/Ausschnitt)34 Sully erkennt, dass die Na’vi ihre Heimstätte niemals aufgeben werden, da ihre Existenz mit dem Mutterbaum im Wald verbunden bzw. identisch ist. Die militärische Führung des Unternehmens begreift die Problematik, setzt die Wissenschaftler fest und beginnt, den Mutterbaum der Na’vi mit Waffengewalt aus der Luft zu zerstören. Mit Hilfe der Pilotin Trudy Chacon, die auf der Seite der 33 | Die ›harmonische Eroberung‹ einer fremden Kultur wird oftmals mit dem Pocahontas-Mythos beschrieben: Ein Mann der Invasoren wird mit der Tochter des einheimischen Häuptlings ein Paar und übernimmt die Führung des Stammes der Natives. 34 | Quelle: http://cf1.imgobject.com/posters/1a5/4c6b23605e73d65f7e0001a5/ avatar-original.jpg (aufgerufen am 22.09.2011).
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Wissenschaftler arbeitet und kämpft, können die Wissenschaftler ausbrechen. Jack Sully und Dr. Grace Augustine, die beim Ausbruch lebensgefährlich verletzt wird, denken sich mit Hilfe der Technik in ihre Avatare. Es gelingt den Na’vi nicht mehr, das Leben der Wissenschaftlerin durch eine Transformation in ihren Avatar mit Hilfe ihres Gottes zu retten. Jack Sully kann, nachdem er bereits als Spion von den Na’vi und Neytiri verstoßen worden war, mit der Bändigung des mächtigsten Drachenvogels Toruk ihr Vertrauen wiedergewinnen. Mit Hilfe der symbolischen Wirkung dieser Tat bewegt er alle Stämme der Na’vi, ihm in den Krieg gegen die sky people35 zu folgen. Trotz aufopferndem Kampf stehen die Na’vi unmittelbar vor der totalen Niederlage, können jedoch letztlich die Menschen mit Hilfe der Tiere von Pandora besiegen. In einem Showdown nach bewährter Hollywood-Machart bezwingen Jack Sully und Neytiri gemeinsam mit Hilfe von Pfeil und Bogen den technisch hochgerüsteten Colonel Miles Quaritch. Die Menschen müssen Pandora verlassen; Marine Jack Sully wird mit Hilfe von Eywa von seinem menschlichen Körper endgültig befreit und definitiv in seinen Avatar überführt. Damit wird er zum Na’vi.
N ATUR AUF P ANDOR A : TROPISCHER R EGENWALD , SCHWEBENDE B ERGE UND BL AUE H OMINIDEN »Pandora. A world of wonder and mystery, incredible danger and strange beauty«.36 Die Welt von Pandora wird dem Kinogänger über zwei grundlegende Konzepte vermittelt: Pandora, die Natur, die echte, wahre Natur, ist weit, unvorstellbar weit, über fünf Lichtjahre weit von der Erde entfernt. Und die Natur von Pandora ist etwas, das wir als Menschen so gut wie nur mit Hilfe unserer Augen sehen, beobachten und wahrnehmen können; klar wir sind im dunklen Kino außerhalb von Raum und Zeit, weit weg und können dort nur das lichtgespielte Pandora sehen.37 Die Natur auf Pandora ist das aus sich selbst heraus existierend Vorhandene und besitzt die kreierende Kraft einer ›Mutter Natur‹; die unberührte Natur, die wir auf Erden bereits zerstört haben, finden wir als Filmrezipienten auf Pandora. »In a dream-like landscape, reminiscent of a Magritte painting, vast magnetic fields coupled with the exotic properties of Unobtanium allow the 35 | Gemäß der offiziellen Version sehen sich die Na’vi als people; deshalb bezeichnen sie die Menschen als sky people, da diese vom Himmel zu ihnen gekommen sind. 36 | Twentieth Century Fox Home Entertainment LLC 2010. 37 | Die Analyse des gesprochenen Textes des Spielfilmes (Drehbuch) mit MAXQDA ergab zwei hoch signifikante Zuordnungen: ›Natur auf Pandora‹ ist unendlich weit von der Erde entfernt und ein Phänomen zum Sehen und Beobachten, d.h. ein visuelles Phänomen.
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Halleluiah Mountains to float in flux, constantly moving«.38 Die faszinierenden Berge werden von den menschlichen Betrachtern wie touristische Highlights bestaunt; sie dienen den einheimischen Bewohnern als Ort der Kommunikation mit ihren Fluglebewesen. Die natürliche Welt von Pandora ist für die einheimischen Bewohner als Paradies gezeichnet. Die Menschen deuten die Welt von Pandora als bedrohlich, mörderisch, verletzend und deshalb erfahren die Menschen sie entsprechend: »[T]hat every creature on Pandora wants to kill and eat them, and that Na’vi employ a neurotoxin in their weaponry that will stop the human heart in a minute«.39 Die Natur von Pandora zeigt sich phantastisch, exotisch und erotisierend. »Avatar’s main selling points: it’s highly realistic representation of a totally imaginary world.«40 Und dennoch kommen uns alle Funktionsweisen der einzelnen Elemente und alle Perspektiven auf die Landschaften bekannt vor. Nicht nur die Tiere und Pflanzen sind gestaltet als modifizierte Entwicklungen der Tiere und Pflanzen auf Erden. »[T]he world of Avatar isn’t quite so alien after all«.41 Damit ist die Anschlussfähigkeit der Darstellung und der Erzählung für den Zuschauer gewährleistet. Natur ist ›Gemeinschaft‹, denn sie integriert Pflanze, Tier, Mensch und Gott. »Pandoran ecology works and communicates like a nervous system, suggesting a symbiotic relationship between all things Pandoran«.42 Die gesamte Konzeption des Waldes geht auf eine bestimmte Vorstellung vom Regenwald des Amazonas zurück. Die Darstellung ist jedoch in jeder Hinsicht ausgeweitet und größer. »Tropical rainforest covers a large part of each of the continents [of Pandora]. These rainforests are similar to those that once covered the Amazon basin, but on the scale several times assize of anything on earth«.43 Der Spielfilm behandelt und zeigt den Regenwald Pandoras so, wie der irdische tropische Regenwald im 19. und 20. Jahrhundert literarisch und medial vermittelt sowie politisch und ökonomisch behandelt wurde. Klaus-Dieter Hupke44 beschreibt den europäischen Umgang mit dem Regenwald mustergültig: Aufgrund der dichten Vegetation gelten tropische Regenwälder als undurchdringlich und unberührt, wie der phantastische Regenwald auf Pandora es ist. Und die Wälder bergen den Mythos von Eldorado: »Der tropische Regenwald roch sozusagen nach Reichtum«.45 Zwischenzeitlich steht die »ästhetisierende 38 | Twentieth Century Fox Home Entertainment LLC 2010. 39 | Mahoney 2010: 19. 40 | Ebd.: 23f. 41 | Ebd.: 8. 42 | Twentieth Century Fox Home Entertainment LLC 2010. 43 | Ebd. 44 | Hupke 2009. 45 | Ebd.: 255.
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Wahrnehmung des tropischen Waldes«46 im Mittelpunkt, die der Spielfilm in phantastischen Bildern exzellent bedient. Der ›darwinistische Regenwald‹ wird im Film virulent, als unser Held alleine im Wald den Wald als Gefahr interpretiert und die Auseinandersetzung mit den geheimnisvollen Tieren provoziert. Im Laufe der filmischen Erzählung wird aus dem bedrohlichen der bedrohte Regenwald, denn die Spezies Mensch hat den ›ökonomischen Nutzen‹ des Waldes entdeckt. Der Angriff auf den Regenwald mit dem Ziel der Zerstörung des Mutterbaumes, der natürlichen Heimstätte der Naturbevölkerung, zeigt das wahre Gesicht der Menschen. Zur Dynamik mit dem Umgang des Regenwaldes auf der Erde vermerkt Hupke: »Selbst wenn, eventuell eines nicht allzu fernen Tages, der letzte große Regenwaldrest der Motorsäge zum Opfer gefallen sein sollte, lebt doch das Schema des Regenwaldes fort«.47 Regenwälder »bilden sich als virtuelle Regenwälder in Spielfilmen und als Computeranimation«.48 Der Spielfilm Avatar ist einer der besten Belege für die Richtigkeit dieser Vorhersage. Die Fiktion des Spielfilmes zeigt uns die Ureinwohner Pandoras als naturnahe Menschen, die von der Natur, in der Natur und mit der Natur als Natur leben. Die blauen Wesen gehen vielfältige Symbiosen mit Pflanzen und Tieren ein, leben instinktiv im Gleichgewicht mit ihrer Umwelt und repräsentieren das Ideal bzw. die Idee eines wirklichen Menschen.49 Die Figur des Noble Savage, des ›edlen Wilden‹, wie sie von Jean-Jacques Rousseau50 konzipiert wurde, steht wieder vor uns. Die Darstellung geht jedoch weiter: »Manche tierische Züge – etwa katzenähnliche Ohren und Nasen – funktionierten gut, das Publikum kann den emotionalen Ausdruck dieser Tiere gut deuten und sympathisiert daher mit ihnen«.51 Dabei ist der Schwanz nicht zu vergessen, denn dieser Körperteil soll unmittelbar auf die gemeinsame tierische Abstammung von Lemuren hinweisen, wie das Skript von Cameron belegt.52 Na’vi sind physiologisch der Natur so nahe, dass sie sich mit manchen Tieren körperlich mit Hilfe ihres Haarzopfes organisch verbinden können. Die Na’vi sind Tier und Mensch. Die Na’vi haben zwar Moral, Kunst, Technik und Kultur, aber auch wieder nicht, denn sie sind Natur. Sogar ihre Waffen sind (so gut wie) keine (menschlichen) Werkzeuge und töten umweltfreundlich. Jedes getötete Tier wird rituell innerhalb der Natur durch ›Gebet‹ lediglich im ›Sein‹ versetzt. Sie können nicht lügen und auch nicht schuldig werden. Im Gegensatz zu den Menschen, die sich schuldig ma46 | Ebd.: 256. 47 | Ebd.: 261. 48 | Ebd. 49 | Vgl. Duncan & Fitzpatrick 2010: 15, 80. 50 | Rousseau 1775. 51 | Duncan & Fitzpatrick 2010: 39. 52 | Mahoney 2010: 20.
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chen, wenn sie die Natur nutzen und sie sich unterwerfen, denn der Mensch steht außerhalb der Natur. »[T]he corrupt and greedy humans on Pandora are still tained by the Original Sin, and […] the Na’vi are still in a state of innocence, since they have never been expelled from Paradise«.53 Die Natur von Pandora lässt zwei Perspektiven zu: Die Kolonie der Menschen bezeichnet ihr militärisches Basislager als Hell’s Gate. Pandora ist für die Menschen die Hölle, die nur militärtechnisch bezwungen werden kann. Andererseits steht der Hölle – die Menschen machen durch ihr Unverständnis für die Natur diese Natur für sich selbst zur Hölle – die Perspektive des Paradieses gegenüber: »Yet, the forest vista of Pandora, to the unbiased eye, is more akin to the heavenly Garden of Eden«.54
A USGE WÄHLTE A SPEK TE GESELLSCHAF TLICHER W IRKUNGEN DES S PIELFILMS A VATAR Die filmische Erzählung und der Reigen an Bildern des fiktiven Himmelssterns Pandora haben sich millionenfach vervielfältigt, und die Rezeption, die Ausdehnung und die Wirkung des Spielfilmes sind noch lange nicht zu Ende. Bei dieser massiven gesellschaftlichen Durchdringung ist es nicht verwunderlich, dass die Botschaften des Filmes entsprechende Auswirkungen haben, denn der »Regisseur James Cameron wirbt darin mit einem unermesslichen technischen Aufwand für die Erhaltung der Natur«.55 Dieses Vorhaben wird von manchem Kritiker als »Absurdität«56 verspottet, die Auswirkungen des Spielfilms sind jedoch nicht von der Hand zu weisen, von der intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Spielfilm ganz zu schweigen.57
D ER S PIELFILM A VATAR VERHERRLICHT EINE GÖT TLICHE N ATUR Die philosophische Konstruktion des Bildes vom Menschen, die der Spielfilm produziert, entspricht in hohem Maß einer vorantiken und voraufklärerischen Haltung. Die gezeichnete Natur (vor allem der heilige Baum) ist Gott. Die Idee der Identifizierung von Gott und Natur muss die katholische Kirche herausfordern, da ja in ihrer Vorstellung Gott die Natur geschaffen hat. 53 | Ebd.: 22. 54 | Ebd.: 14. 55 | Silbermayr 2010: 271. 56 | Ebd. 57 | Siehe z.B. Fitzpatrick 2010; Gomes 2010; Jünger 2010; Mardell 2010; Sagan 2010; Žižek 2010.
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»Das kritisiert die Sprecherin der katholischen Kirche in Schweden, […] unter Berufung auf den Papst, der sich mehrfach für einen Schutz der Natur vor dem Menschen ausgesprochen habe: ›Aber die Kirche hat sich immer dagegen verwehrt, die Natur als aus sich selbst heraus göttlich zu betrachten‹. Dies wird als Bedrohung des Werts des Menschen angesehen; wenn die Natur und die Tiere den gleichen Wert wie die Menschen haben, besteht die Gefahr, dass der Wert des Menschen relativiert wird«.58 »›Der Film fährt sich in einem Spiritualismus fest, der auf die völlige Anbetung der Natur abzielt‹, heißt es bei Radio Vatikan sowie in der Zeitung L’Osservatore Romano. ›Das Ganze ist schlau gemacht und geht in die Richtung einer Pseudo-Doktrin, die den Umweltschutz zur neuen Religion des Jahrtausends erhebt‹. Die Natur ist demnach keine Schöpfung mehr, die man verteidigen, sondern eher anbeten muss«. 59
Dieses sind Geisteshaltungen, die in Konkurrenz zur Katholischen Kirche stehen, weshalb aus ihrer Sicht vom Besuch des Films abzuraten ist.
D ER S PIELFILM A VATAR ERINNERT AN DIE POLITISCHEN A USEINANDERSE T ZUNGEN AUF UNSERER E RDE 60 Die Geschichte von Avatar eignet sich außerordentlich für einen Vergleich mit den politischen Verhältnisse auf der Erde. Die Metapher ist eindeutig: Eine militärisch überlegene Macht versucht, unschuldige Eingeborene, Natives, Ureinwohner, jedenfalls Menschen, die schon immer an diesem Ort leben, bevor das schriftliche Dokumentationswesen eingesetzt hat, wegen ökonomischer Interessen zu vertreiben. Die Parteinahme ist sofort eindeutig. Man fühlt sich mit den armen ›Wilden‹ verbunden und argumentiert mit den Einheimischen gegen die imperiale Okkupationsmacht. »Naturally, an old-time Religious Left icon like James Wall would joyfully discern political metaphors in a film whose audience cheers for resisting natives against invading Americans. The native aliens could be Vietnamese, or Iraqis, or virtually any favored Third
58 | Eurotopics 2010: o.S. 59 | Jacob 2010: o.S. 60 | Die Auswirkungen von Spielfilmen auf die US-amerikanische Politik sind gut bekannt. Der Spielfilm The Day After Tomorrow von Roland Emmerich aus dem Jahre 2004 führte zu entsprechenden Anfragen im Kongress und hatte erhebliche Auswirkungen auf die Umweltpolitik und das gesellschaftliche Bewusstsein über ›Global Warming‹ in den Vereinigten Staaten.
N ATURANEIGNUNG DURCH H OLLYWOOD ? World victim group of American imperialism. But Wall preferred to imagine that ›Avatar‹ illustrates the Israeli-Palestinian conflict, as well as Afghanistan and Pakistan«. 61
PAL ÄSTINENSER PROTESTIEREN ALS N A’ VI GEGEN ISR AELISCHE S PERR ANL AGEN Die österreichische Zeitung derStandard berichtet am 12. Februar 2010 über eine sehr kreative Form des politischen Protestes: »Jerusalem – Bei ihren wöchentlichen Protesten gegen den israelischen Sperrzaun zum Westjordanland haben sich palästinensische Demonstranten am Freitag etwas Originelles einfallen lassen: Sie posierten als Angehörige vom Volk der Na’vi aus dem Film Avatar«.62 Der Protest wurde filmisch dokumentiert und mit Sequenzen des Spielfilms verschnitten in das Internet gestellt.63 Die Protestmarschierer von Bilin beziehen sich nicht nur auf die visuelle Darstellung des Spielfilms (siehe Abb. 4), sondern auch auf seine Sprache und Ausdrucksweise. Sie reklamieren ihr Land und versuchen das Unrecht der israelischen Okkupation mit Ähnlichkeiten der Okkupation von Pandora durch die sky people zu imaginieren. Für einen Augenblick hatten sie die Aufmerksamkeit der Weltpresse. Inwieweit die folgende Reaktion der israelischen Behörden der Inszenierung als Na’vi geschuldet war, mag dahingestellt sein. Die Zeitung derStandard beendet seinen Bericht mit folgender Meldung: »Am Donnerstag begann Israel mit ersten Schritten zum Abriss eines Zaunsegments um Bilin. Der Oberste Gerichtshof in Jerusalem hatte schon vor zweieinhalb Jahren eine Änderung des Verlaufs angeordnet.«64
61 | Tooley 2010: o.S. 62 | Austria Presse Agentur zitiert nach derStandard.at 2010: o.S. 63 | Walter 2010: o.S. 64 | Austria Presse Agentur zitiert nach derStandard.at 2010: o.S.
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Abb. 4: Palästinensische Na’vi protestieren gegen den Grenzzaun im Westjordanland65
D IE WAHREN G ESCHICHTEN DES S PIELFILMS A VATAR : U REINWOHNER K ÄMPFEN FÜR IHREN W ALD 66 Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass auch alle filmischen Erzählungen, die ›funktionieren‹, d.h. von einem Publikum weiter nachgefragt werden, starke Ähnlichkeiten mit und (wie bereits ausgeführt) verständliche Anschlussmöglichkeiten zu alltäglich erlebbaren Geschichten und Problemen haben. Das Statement »Art imitates life« weist darauf hin. »Avatar is fantasy […] and real«.67 Diese Erkenntnis bestätigt sich darin, dass die im Film erzählten Ereignisse an zahlreichen Orten des tropischen Regenwaldes, der auf der Erde für viele Interessengruppen ein Ort von Reichtum und damit Ziel der Ausbeutung ist, stattfinden. Die strategische, illegale und legale Ausbeutung sowie die Zerstörung des tropischen Regenwaldes der Erde ist ein von jedermann zugegebener Topos. Sie ist aus Lateinamerika, Afrika und Asien
65 | Quelle: REUTERS/Darren Whiteside, Bildunterschrift: »Protesters dressed as characters from the movie ›Avatar‹ to draw attention to their campaign against the controversial Israeli barrier during a protest by Palestinians, Israelis and foreign activists in the West Bank village of Bilin near Ramallah February 12, 2010.« 66 | Vgl. Hance 2009; Hopkins 2010. 67 | Hopkins 2010: o.S.
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wohl bekannt. Dabei stehen in der Regel ein Großunternehmen und/oder die Staatsmacht selbst als übermächtige Akteure gegen die einheimischen Bewohner des Waldes. Nur ein Beispiel sei hier erwähnt: »Vedanta plans to construct an open-cast mine on Niyamgiri mountain in Orissa state which activists believe will destroy the area’s ecosystem and threaten the future of the 8.000-strong Dongria Kondh tribe, who depend on the hills for their crops and water and who believe the mountain and surrounding forest to be a sacred place.« 68
»The Dongria Kondh tribe from eastern India today appealed to film director James Cameron to help them stop controversial mining company Vedanta from opening a bauxite mine on their sacred land as they believe that he will understand their plight better than most«.69 Und der Regisseur trat mit Stammesmitgliedern zum Protest gegen Invasoren des Regenwaldes auf (siehe Abb. 5).
Abb. 5: Eine wahre Geschichte von ›Avatar‹ und NativePeople: der Regisseur James Cameron mit Bewohnern des Regenwaldes70
F ÖRDERUNG WISSENSCHAF TLICHER I NSPIR ATION DURCH DEN S PIELFILM A VATAR Die aus lebensweltlicher Perspektive gesehen unrealistischen Spielfilme und die märchenhaften Geschichten von Hollywood erfinden immer wieder Gegenstände, Strategien und Zustände, die später lebensweltliche Wirklichkeit wer-
68 | Ebd. 69 | Ebd. 70 | Quelle: www.nytimes.com/2010/04/11/world/americas/11brazil.html (aufgerufen am 22.09.2011).
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den.71 Deshalb benutzen Wissenschaftler und Zukunftsforscher sowie Politiker Hollywoodfilme als Referenz und Ausgangspunkt für Anregungen zum kreativen Arbeiten. So wird Avatar zum Gegenstand der kreativen Diskussion und intellektuellen Auseinandersetzung. »Does seeing the unusual flora and fauna in the movie ›Avatar‹ inspire a sense of wonder at the natural world? How might the film awaken interest in plant and animal life on Earth?«72 Die Kreationen des Films dienen geradezu als Lehrbuch, um über das Andere zu reflektieren: »In this lesson, students reflect on their experiences with nature, compare it to their impressions of the fictional Pandora and then use their observation and research skills to investigate awe-inspiring living things here on Earth. They then construct fantastical beings using features of the organisms they studied«.73
Der Spielfilm wird zum wissenschaftlichen und didaktischen Gegenstand; damit schreibt sich die Erzählung in die wichtigste Sparte des 21. Jahrhunderts ein.
C HINESISCHE P ROVINZBEHÖRDEN BENENNEN B ERGE IHRER R EGION NACH DEM S PIELFILM A VATAR Der Spielfilm hat auch kuriose Auswirkungen. Die chinesischen Behörden von Zhangjiajie ließen sich von ihm inspirieren und verlegten schlicht und einfach Pandora nach China. Die phantastischen schwebenden Berge des Films hatten es den Behörden angetan. Sie erkannten die dargestellten Berge als Berge ihrer Umgebung wieder und behaupteten, dass diese Berge das Vorbild für die Berge auf Pandora seien (siehe Abb. 6).
71 | »Captain James T. Kirk (›Star Trek‹, 1966ff.) war der Erste mit einem Handy, Dave Bowman (›2001 – Odyssee im Weltraum‹ von 1968) der Erste mit einem Tablet-Computer. In der Science-Fiction wurde erfunden, was erst Jahrzehnte später entwickelt wurde: drahtlose Kommunikationsgeräte« (Schulz 2011: 27). Seit Beginn der Produktion von Spielfilmen werden von diesem Medium Zukunftsphantasien dargestellt, die später oftmals eintreffen. Der Hollywoodstreifen Ausnahmezustand (The Siege) von Edward Zwick aus dem Jahre 1998 hatte eine ähnliche Situation in Manhattan wie die, die nach 9/11 entstand, vorweggenommen. 72 | Hutchings & Epstein Ojalvo 2010: o.S. 73 | Ebd.
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Abb. 6: »Südliche Himmelssäule« oder »Avatar-Halleluja-Berg«74 »Viele Jahre hießen sie schlicht und einfach ›Südliche Himmelssäule‹ – die Gebirgskette rund um die Zhangjiajie im Nordwesten der chinesischen Provinz Hunan. In einer feierlichen Zeremonie wurden sie am 25. Januar von der lokalen Regierung nun in ›Avatar-Halleluja-Berge‹ umbenannt«.75 Die Aktion ist nicht einem authentischen Anspruch geschuldet, sondern man will hier nationale und internationale Touristen in diese chinesische Region locken, die ›Pandora‹ besuchen wollen. »Der China International Travel Service bietet für Touristen künftig verschiedene Touren an, unter anderem ›nach Avatar-Pando-
74 | Quelle: http://german.china.org.cn/china/2010-01/27/content_19316296.htm (aufgerufen am 22.09.2011). 75 | Sander o.J.
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ra‹ und ›zu den schwebenden Bergen Avatars‹«.76 Es ist müßig, die Bedeutung des Spielfilms in China zu erwähnen: »Avatar is the most popular film in Chinese history«.77
S TART DES S PIELFILMS A VATAR WIRD ZUM A NL ASS EINE M ILLION B ÄUME ZU PFL ANZEN Das Unternehmen Twentieth Century Fox verkündete, der Earth Day78 sei nicht nur ein werbewirksames Zugpferd für den Spielfilm Avatar, sondern die Produzenten des Films und Regisseur Cameron wollten damit etwas in unserer Welt bewirken. Sie trügen in Partnerschaft mit dem Earth Day Network dazu bei, dass eine Million Bäume zu Ehren des Filmes bis Ende 2010 gepflanzt werden. Das Bekenntnis des Earth Day Network zu Aktionen, die die Gesundheit und Nachhaltigkeit unserer Erde fördern, geht Hand in Hand mit den Themen des Spielfilms Avatar, formuliert der Regisseur.79 Die Präsidentin des Earth Day Networks deutet den Spielfilm wie folgt: »AVATAR sends a universal message about the danger of exploiting our natural resources and brings to the forefront of the global consciousness the need to protect our planet and humanity«.80 Dieses Statement bringt die Botschaft des Spielfilmes als Imperativ auf den Punkt: Schützt die Natur der Erde und erhaltet die Menschlichkeit! Und darüber hinaus wirkt die Pressekonferenz wie eine Predigt: »We hope this commitment from Twentieth Century Fox Home Entertainment to plant one million trees, will inspire others to stand up against climate change for Earth Day«.81
Z URÜCK ZUR N ATUR , E RFINDUNG DER N ATUR ODER KULTURELLE G ESTALTUNG DER N ATUR ? Die Differenz des Menschen zur Natur und das Verlassen der Natur erzeugen beim Menschen einen Sinnverlust, und dies führt dazu, dass der Mensch die Frage nach der Natur erst stellt, wenn er Natur und die Identität mit der Natur verloren hat. So ist die Sehnsucht nach Natur auch immer die Suche nach der 76 | Ebd. 77 | Mahoney 2010: 49; BBC 2010: o.S. 78 | »The first Earth Day, on April 22, 1970, activated 20 million Americans […]. More than 1 billion people now participate in Earth Day activities each year« (Earth Day Network 2011: o.S.). 79 | D’Estries 2010: o.S. 80 | Ebd. 81 | Ebd.
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Erfahrung von Sinn, von Sinn einer solchen Qualität, dass er nicht willkürlich vom Menschen gesetzt werden kann, sondern über die menschliche Immanenz hinausweist und die Endlichkeit des Menschen aufhebt. Der Spielfilm Avatar und seine gesellschaftliche Akzeptanz sind Zeichen dafür. »Es mag sein, dass, wer aus der Natur heraustritt, am Ende nicht mehr anders kann, als zu vernichten, was er verlassen hat«.82 Diese Schlussfolgerung aus dem Prozess des Menschwerdens bei der Distanzierung zur Natur zeichnet eine radikale Position. Sie trifft zu, wenn Vernichtung von Natur die Veränderung von Natur bedeutet. Eine Rückkehr des Menschen zur Natur mit allen Konsequenzen würde, da hier ›Natur‹ als Gegensatz zu ›Kultur‹ verstanden werden soll, nichts anderes bedeuten als ein »Zurück zum Tier«.83 Die fiktionale filmische Darstellung geht partiell zurück zum Tier, indem sie Geschöpfe als ›Menschen‹ thematisiert, die aus unserer Perspektive eindeutig Merkmale von Tieren haben. Ein Avatar macht die Transformation des Menschen zum besseren Menschen möglich; sie ist aber langfristig für die Menschen nur im Kinosaal84 eine Alternative. »[T]he psychic message delivered by the story is about leaving the world. Our bodies and our planet are too broken«.85 Der Mensch muss, so die Erkenntnis des Spielfilms, seinen Körper verlassen, seinen Körper ausschalten, um weiter als Mensch existieren zu können bzw. um sich weiter zu entwickeln und um die Sterne des Weltalls erschließen zu können. Die Frage ist, ob die Entwicklung und der Weg, den Körper zu verlassen, über eine Amplified Mobility PlatformSuite (AMP-S) zum Cyborg oder über DNA-transformierte Gene zum Avatar führen. Beide Strategien werden intensiv in den Laboren dieser Welt verfolgt. Die Neu-Erfindung oder die Wieder-Erfindung der Natur als Medien, als durch Licht gespielte Fiktion kann die lebende naturgegebene Natur nicht bzw. nur für ihre intellektuelle Aneignung ersetzen. Wir können auf unserer Erde allen radikalkonstruktivistischen Überlegungen zum Trotz nur mit Hilfe technischer Täuschungen wahrnehmungsartistisch und fiktional zum Paradies nach Pandora reisen. Der Psychologe und Filmkritiker Slavoj Žižek schreibt über die Moral von Avatar: »The film teaches us that the only choice the aborigines have is to be saved by the human beings or to be destroyed by them. In other words, 82 | Blumenberg 2006: 588. 83 | Alsberg 1922/2010: 129. 84 | Das Ende der »offiziellen« Beschreibung der Natur Pandoras mit Hilfe eines Videoclips im Internet lautet: »Amidst the savage terrain and fierce creatures, we must assume this strange bewitching place might hold something inside itself for us all – hope for our race, for our planet, and for the future of all living things« (Twentieth Century Fox Home Entertainment LLC 2010. 2010). Mit »strange bewitching place« ist doch wohl das Kino gemeint? 85 | Lertzman 2010: 42.
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they can choose either to be the victim of imperialist reality or to play their allotted role in the white man’s fantasy«.86 Und, es ist anzufügen: Da der Na’vi eine Repräsentation des Menschen ist, wird sich der Mensch mit der Natur selbst retten oder gegen die Natur selbst zerstören, unabhängig von der Farbe des Menschen. Natur als Prinzip des Seins, als Veränderung und Geschehen (ohne und mit Einfluss des Menschen) wird auf Erden immer vorhanden sein, aber wie sich Natur verändert und reproduziert, wird in zunehmendem Maße der Mensch beherrschen. Deshalb kann am Ende der angestellten Überlegungen für den Menschen im Verhältnis zur Natur nur ein Imperativ stehen: Gestalte die gegebene Natur! Damit werden die Menschen nicht ins Paradies zurückkehren, »aber vielleicht doch wenigstens in einen Garten, in dem unsere Kultur mit einer anderen Art Natur zu einem Ausgleich finden kann«.87 Dieser Garten besteht dann aus kulturell bestimmter Natur, wenngleich dann die naturgegebene Natur möglicherweise ›vernichtet‹ oder künstlich ›rekonstruiert‹ ist.
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Gespenstische Diskussionen über Naturerfahrung Ulrich Eisel
G EISTERSTUNDE Ein Gespenst geht um in der Diskussion über Natur. Es verbreitet keine Furcht; eher stiftet es Verwirrung. Auch ist es nicht unbeliebt oder gar geächtet. Im Gegenteil, es erfreut sich allseitiger Beliebtheit und hat viele Fürsprecher. Das Gespenst geistert als These durch die Gehirne, die Gespräche, durch Texte und Projekte.1 Man kann nicht gut unterscheiden, ob dieser Geist mehr eine Art gedankenlose Redeweise ist oder aber ein wohlüberlegter Gedanke. Vermutlich spukt er mal so und mal so. Das Gespenst lässt die Leute sagen: ›Es gibt keine unberührte Natur mehr auf der Erde.‹ Und es lässt sie daran glauben und als Verlust von Ursprünglichkeit beklagen. Mich erstaunt dieser Gedankenspuk, widerspricht er doch vielfältiger Erfahrung. Fragt man nach, wie er gemeint sei, gibt es ganz verschiedene Antworten, und das Gespenst beginnt zu grinsen. Es lässt jene Leute sagen, die Gesellschaft sei allgegenwärtig, auch in der Natur – sei es durch umfassende Nutzung, sei es, weil Natur sowieso eine aller Erfahrung vorgängige Idee und kulturelle Projektion sei –, und beides zerstöre eine (ursprüngliche, ganz andere) Einheit; denn eigentlich sei alles Natur. ›Der Mensch‹ habe – mit dualistischen Ideen im Kopf und unbändigem Beherrschungsdrang – diese Einheit zerstört. Das Ergebnis: Die richtige Einheit in Natur wurde so zur falschen Einheit durch die Gesellschaft. Deshalb ist die Natur letztlich nirgends mehr unberührt. Es wird schon hier erkennbar, dass das Gespenst die Leute narrt. In den Gedanken gehen die Bezugsebenen der Vorstellungen von ursprünglicher Einheit, grundsätzlicher ideell konstituierter Trennung, schuldhafter, praktisch erzeug1 | Zwei Bestandteile des Textes wurden unabhängig voneinander bereits in ähnlicher Form publiziert in Eisel 2007 und Eisel 2011. Sie wurden für diesen Aufsatz ergänzt und umgearbeitet.
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ter Trennung, potenzieller zukünftiger Einheit, unmittelbarer Erfahrungsmöglichkeit von Einheit, evidenter Erfahrung von universeller Trennung usw. bunt durcheinander.
B ERGWANDERUNG Zunächst: Allen, die vollmundig erklären, nirgends auf der Welt sei mehr unberührte Natur zu finden, weil die Natur ja sowieso ein kulturell konstituiertes Phänomen sei, das zudem durch einen umfassenden Beherrschungsdrang der Menschen geprägt sei, empfehle ich Folgendes: Gehen Sie mitten in Mitteleuropa in die Alpen (denn es müssen gar nicht Fels- und Eiswüsten an den Rändern der Welt sein), in irgendein durchaus touristisch gut erschlossenes Gebiet. Steigen Sie dann – beginnend in der Zone des Erlengestrüpps, in einem Hang oder Bacheinschnitt in der Stufe der Nadelwälder, am besten in einem Bannwald gegen Lawinen – weglos hangaufwärts, indem Sie einfach vom Bergweg seitlich abzweigen, etwa so wie beim Pilze Suchen. Steigen Sie weiter und weiter den steilen, meist bald felsbänderdurchsetzten Bergwald hinauf, meinetwegen 600 Höhenmeter, also knapp zwei Stunden. Berichten Sie anschließend, falls Sie dazu noch in der Lage sind, neuerlich von der umfassenden, grundsätzlichen Berührtheit der Natur durch den Menschen. Hier habe ich nun über die empirische Ebene von Naturerfahrung gesprochen. Die These, die Natur sei nirgends mehr unberührt, ist objektiv falsch, wenn man damit eine allerorten erfahrbare Zerstörung des unmittelbar natürlichen Eindrucks im Gelände meint. Vermutlich bezieht sie sich vor allem darauf, dass bei weiträumigen Natureindrücken die Erinnerung an die Zivilisation kaum zu vermeiden ist: Man sieht Kondensstreifen, hört Flugzeuge, sieht Hochspannungsleitungen – selbst aus so einem undurchdringlichen Bergwald heraus. Und selbst wenn man nichts dergleichen sieht oder hört, ist ja die industrielle Luftverschmutzung gewiss. Diese Botschaften aus der fernen Gesellschaft, die gar nicht die eigene, momentane Unternehmung in der Natur berühren, werden aber so wahrgenommen, als seien ebensolche Erfahrungen – in denen man, wenn man sich dann noch ein bisschen weiter wagt, sehr bald in größte Einsamkeit eintauchen wird – nicht (›mehr‹) möglich. Sie gelten als grundsätzlich verdorben durch die menschliche Hybris einerseits sowie eben andererseits durch jene kulturelle Prädetermination aller Naturerfahrung durch die Tatsache, dass Begriff und Idee der Natur gesellschaftliche Tatbestände sind und daher Naturerfahrung kein Einsaugen von äußerer Sinnlichkeit ist, sondern eine Projektion fundamentaler Dimensionen von Subjektivität – bestens belegt durch die Geschichte der Landschaftsmalerei. Die Art und Weise etwa, wie das Wesen der Landschaft
G ESPENSTISCHE D ISKUSSIONEN ÜBER N ATURERFAHRUNG
gesehen wird, ergibt sich immer aus einer Projektion der Idee vom richtigen und gerechten Leben. Um die These zu diskutieren, unberührte Natur sei nicht mehr erfahrbar, weil sie auf dem Erdball nicht mehr existent sei, muss also zwischen Ebenen unterschieden werden, die sich auf das Verhältnis von sinnlicher Erfahrung und konstituierter Wahrnehmung beziehen: 1. Die ›naiv‹ gegebene Naturerfahrung. 2. Die Realität dieser Erfahrung in den verschiedenen Formen und Dimensionen ihrer Konstitution durch Ideen (Natur, Gegenwelt, Mitwelt, Landschaft, Wildnis, Organismus usw.). 3. Der Schein der Unmittelbarkeit dieser Erfahrung durch ebendiese verschiedenen Arten gesellschaftlicher Konstitution. 4. Die gesellschaftlichen Ursachen für eine im Prinzip universelle Nutzung von Natur als Ressource durch die kapitalistische Produktionsweise. 5. Die Erfahrung dieses Tatbestandes bei Begegnungen mit der Natur im Rahmen der naiven Naturerlebnisse. 6. Die Kritik am Verlust von Unmittelbarkeit der Naturerfahrung in Verbindung mit der universellen Naturnutzung. Wenn zwei oder mehrere dieser Bezugsebenen beim Reden über die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten von Naturerfahrung vermischt werden, entsteht unausweichlich Unsinn. Dafür sorgt immer wieder das Gespenst.
V ORKL ÄRUNG : N ATUR ALS G EGENWELT UND M IT WELT Einiges an Ungereimtheiten in der larmoyanten Kritik am Verlust an unmittelbarer Naturerfahrung wird durch eine flankierende Diskussion im Naturschutz beeinflusst. Sie findet dort einerseits ganz allgemein diffus statt und andererseits explizit programmatisch in der ökologischen Ethik. Der Diskurs ist normativ und basiert auf zwei Grundaussagen: 1. Die Natur werde in der Neuzeit aufgrund bestimmter Verblendungen – wie etwa des cartesischen Dualismus – als eine Gegenwelt, als das Andere, dem Menschen als reines Objekt gegenüber und zur Verfügung stehende, wahrgenommen. Hier wird immerhin (zunächst) eine ideelle Konstitution von Erfahrungsmöglichkeiten angenommen; aber diese Weise der Konstitution gilt als leider falsch. 2. Lernen müsse unsere Zivilisation, die Natur als Mitwelt zu begreifen. Über die Art und den Grad der mitweltlichen Gemeinsamkeit wird gestritten. Dieser Streit nennt sich dann ökologische Ethik. Innerhalb dieser Diskussion verflüchtigt sich aber erstaunlicherweise die Grundannahme, dass die Naturerfahrung Ergebnis einer Projektion – zunächst noch egal mit welchem Ergebnis – ist. Es gibt die Tendenz, mit der Kritik der Vorstellung von Natur als einer Gegenwelt umgekehrt die Erfahrung von Natur als Affinität und erfahrbares Miteinander, basierend auf einer ursprünglichen Gemeinsamkeit, vorzustellen. Dann gibt es nicht nur die Natur als unmittelba-
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ren Erfahrungstatbestand, sondern sie wäre auch nicht mehr ›das Andere‹ und ›Fremde‹2 , wenn sie nur recht geachtet würde. Diese Diskussion über Gegen- und Mitwelt berührt demnach unsere Fragestellung über Erfahrungsmöglichkeiten von Natur. Der grundlegende neuzeitliche Begriffsinhalt der Idee der Natur ist der einer Gegenwelt zur Zivilisation. Dieser Begriffsinhalt ist zwingend. Das ergibt sich trivialerweise aus der Idee (und Existenz) des Subjekts. In seiner Trivialität ist dieser Begriff der Natur positiv besetzt. Er ist die Basis aller Naturerfahrung und aller Sehnsucht nach Entlastung durch Eintritt in eine ganz andere Ordnung als die gesellschaftliche – wie Schiller es in Der Spaziergang3 beschrieben hat oder Alexander von Humboldt in den »Einleitende[n] Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze« zu seinem Kosmos4 . Natur macht dann frei. Somit ist dieser Begriffsinhalt die Voraussetzung für Naturliebe und Naturerfahrung – und auch für Naturschutz und die Faszination von Wildnis. Er müsste daher in allen Schutzstrategien berücksichtigt und zumeist auch geschürt werden. Wenn dagegen diese unbekannte Zone der Gegenwelt als bedrohliche Wildnis empfunden und angstvoll gemieden wird, ist sie negativ besetzt. Das signalisiert, dass die gesellschaftliche Ordnung noch gar nicht das Spannungsfeld von Freiheit und Ordnung kennt, eine Kultur ohne Zivilisation ist. Dem Begriff der Gegenwelt wird – vor allem in der Diskussion um die Begründung einer ökologischen Ethik – der Begriff der Mitwelt entgegengehalten. Er rekurriert, gleichgültig auf welche Weise begründet, einerseits auf die Verantwortung der Menschen für das ihnen (angeblich nur scheinbar) Gegenüberstehende und andererseits auf die grundlegende Gemeinsamkeit aller Lebewesen oder in der striktesten Form: allen Seins. Mitwelt bedeutet, dass die Subjekte die Natur als sinnvollerweise in ihrer Eigengesetzlichkeit existierend anerkennen; oft wird auch eine Wesensgleichheit von Subjekten und Natur postuliert. Das ›Andere‹ soll nicht mehr fremd sein.5
2 | Der grundlegende Begriffsinhalt von Heimat wird ebenfalls durch die Vorstellung von einer Gegenwelt definiert. Die Gegenwelt der Heimat ist die Fremde. Der Vertrautheit des Subjekts mit sich und seinesgleichen entspricht die Heimat. Wird die Vertrautheit bedrohlich, fasziniert das Fremde und verspricht Befreiung; andernfalls bedroht das Fremde. Der Fremde entspricht die Natur. Beide stehen – jeweils in doppelter Deutungsmöglichkeit – für ›das Andere‹: andere Seinsweise (Natur) und andere Lebensweise (Fremde), jeweils vertraut und Neugier weckend oder aber bedrohlich. 3 | Schiller 1800/1983. 4 | Humboldt 1745-1762/1978. 5 | Damit korreliert, dass Heimat ein Ort ist, an dem der Sinnzusammenhang eines Miteinanders materiell als etwas Ursprüngliches verwirklicht ist.
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Nicht nur Natur als Gegenwelt, sondern auch Natur als Mitwelt ist eine theoretische Konstruktion, in welcher sich der Mensch ›dem Anderen‹ unter der Perspektive der Koexistenz zuwendet. Die Verantwortung für die Natur schlägt eine Brücke auf Basis jener grundsätzlichen Differenzerfahrung. Ohne diese Basis hätte der ganze Aufwand, um die Idee der Mitwelt zu begründen, gar keinen Sinn. Wie könnte sie als politisches Programm entstehen, wenn der Gedanke, man müsse die Natur wie ein Subjekt als Partner anerkennen, trivial wäre? Der Denkkonstruktion ›Mitwelt‹ entspricht also zunächst keinerlei intuitive Selbstverständlichkeit. Dass Natur als Mitwelt dennoch eine vernünftige politische Forderung und kulturelle Errungenschaft ist, betrifft eine ganz andere Ebene. Diese Ebene kann nur glaubwürdig und erfolgreich betreten werden, wenn die primäre kulturelle Intuition der Gegenwelterfahrung des Subjekts in Rechnung gestellt und berücksichtigt wird, das heißt – wie immer, wenn man einigermaßen realistisch ist – von einem Widerspruch aus gedacht und gehandelt wird: Natur als Mitwelt ist eine gesellschaftliche Aufgabe und muss daher auch genauso lanciert und begründet werden, nicht etwa als ein naturgegebener Ausgangspunkt. Denn die Menschen leben nicht ›mit‹ der Natur, sondern in ihr als ihr Gegenüber. In den Zeiten und Kulturen, in denen die Menschen – so wie wir es zumindest sehnsüchtig fantasieren – mit der Natur lebten, lebten sie, wenn man ihre eigene Perspektive einnimmt, gar nicht mit ihr, sondern mit Gottheiten. Die Einheit mit der Natur wurde gerade nicht durch irgendeine Idee der Natur gestiftet, sondern durch ihr Gegenteil: Alles war Zauber. Das bedeutet: Natur war transzendent, und die Verbindung mit ihr war religiös, nicht ›sachlich‹. Obgleich mit ›Subjektcharakter‹ versehen, konnte sie kein Handlungspartner sein. Natur als Gegenwelt könnte also eigentlich gar nicht – so wie im Fall der Mitwelt – ›gefordert‹ werden, weil sie die intuitive Voraussetzung der modernen Naturerfahrung ist. Da aber faktisch ein großer Teil der Erde kultiviert ist, kann erstens in der Tourismusindustrie und zweitens bei Unterschutzstellungsansprüchen wenigstens die Lust auf diese Gegenwelt hervorgekehrt werden. Damit entsteht natürlich der praktische Folgewiderspruch, dass ›reine‹ Gegenwelt aus unberührter Natur bestünde (die den Kern der Sehnsuchtsfantasie ausmacht) und durch gesellschaftliche Verbote abgeriegelt werden müsste. Zugleich müsste aber – wegen der Lust auf Gegenwelt – die geschützte Natur irgendwie doch zugänglich gemacht werden. (Daran hängt sich das Dilemma des modernen Naturschutzes und vor allem die Entstehung seines Akzeptanzdefizits auf.) Natur als Mitwelt ist in diesem Kontext aus dem Spiel. Sie kommt aber ins Spiel, wenn Strategien der begrenzten Nutzung und Zugänglichkeit für die geschützte Gegenwelt entwickelt werden. Auf solchen Strategien bestehen die Landwirte, die Jäger und die Tourismusindustrie. Im Tourismus entsteht dann ein anderer, aber dem im Naturschutz vergleichbarer Widerspruch: Je mehr Naturerleben vermarktet wird, umso verlogener wird es.
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Nur wenn demgegenüber ›Natur als Mitwelt‹ von vornherein als Gebot der Vernunft (sowohl ethisch als auch utilitaristisch gemeint) dargestellt wird, ein Gebot, das dem Gefühl der Natur als Gegenwelt nicht nur nicht entgegensteht, sondern sogar diese Idee nun einschließt, begreift man Naturschutz als gesellschaftliches Programm statt als Eigeninteresse der Natur. Beides sind dann verständliche Ideen, von denen die Idee der Natur als Mitwelt die Idee der Natur als Gegenwelt voraussetzt; andernfalls wäre sie sinnlos. Unter der Perspektive des praktischen Widerspruchs zwischen ›als Gegenwelt schützen‹ und ›als Gegenwelt erfahrbar machen‹ wird jene Gegenwelt Bestandteil eines räumlichen Miteinanders. Denn Natur als Gegenwelt ist dann nicht nur begriffliche Voraussetzung, sondern auch empirischer Teil desjenigen Programms, das Natur als Mitwelt vorschlägt. Naturerfahrung im Sinne eines gelebten Miteinanders enthält also noch jederzeit die Idee der Natur als Gegenwelt. Dieser Teil Naturerfahrung berücksichtigt diejenige Naturbeziehung des Subjekts, die sinnhaft ist. Die Räume, die davon betroffen sind, sind als sinnhafte Erfahrungsräume Gegenwelten (und als Schutzobjekte Mitwelten selbst dann, wenn sie als Gegenwelten geschützt werden). Gerade dann, wenn ›Natur als Gegenwelt‹ programmatisch eingesetzt wird, das heißt die der Natur innewohnende Kraft ihres Daseins ohne den Menschen gemeint ist, ist sie ganz und gar ein gesellschaftlicher Tatbestand, nämlich eine (Projektion der) Idee vom unentfremdeten Dasein, eine Attitüde der Zivilisationsmüdigkeit. Und diese Funktion kann sie nur haben, weil sie als materielle Realität tatsächlich ohne jedes menschliche Zutun existiert und schon immer existierte. Das bedeutet: Weil es Natur real ohne den Menschen gibt, kann sie symbolisch eine rein kulturelle Vision sein, die genau das suggeriert, was real nicht zutrifft: dass Natur eine Gegenwelt ist, weil sie so existiert, wie sie allein von sich aus ist. Dass dieses Unmittelbarkeitsargument aber nicht zutrifft, liegt daran, dass sie eine Gegenwelt – also Natur mit der Bedeutung, gegensätzlich zur Zivilisation zu sein – nur deshalb ist, weil Subjektivität, die eine Differenz registriert, existiert. Natur an sich ist eigentlich nicht ›Welt‹. Denn ›Welt‹ ist der Inbegriff der Möglichkeit symbolischer Erschließung durch das Subjekt. Gerade deshalb aber ist Natur Gegenwelt, weil ihr symbolisch ohne den Menschen diese unabhängige Existenzweise nicht zukäme.6 Existenz heißt im ersten Fall das, was jeder darunter versteht; im zweiten Fall heißt es ›bedeuten‹. Denn gesellschaftlich gesehen existieren heißt: Bedeutung zu haben. Die Natur für sich ist bedeutungslos. Dass auf der Sonne aus Wasserstoff Helium entsteht, ist für Wasserstoff, Helium und die Sonne bedeutungslos. Es ist nur ein Faktum – und 6 | Wenn man diese sowie die im Text noch folgenden Bedeutungswechsel durch wechselnde Referenzebenen nicht durchschaut und berücksichtigt, wird man recht hilflos in der Begriffslandschaft der Diskussion um Natur umherirren.
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nicht einmal das ist es für die Sonne und die Natur, sondern nur für uns, wenn wir sagen wollen, dass ein Tatbestand als Ereignis ohne Bedeutung für es selbst vorliegt.
D OPPELTE W IRKLICHKEIT : G EGENWELT UND M IT WELT IM ERWEITERTEN V ERSTÄNDNIS Wir haben also zwei Definitionen von ›real‹ vorliegen: das einzelne Vorkommen im materiellen Sinne (Realitätsebene 1) und das einzelne symbolische Vorkommen von Tatbeständen, also das, was diese in der Kommunikation zwischen Subjekten bedeuten (Realitätsebene 2). Was die Sonne angeht, wären das zum Beispiel: Quell des Lebens, Hermes (plus Wagen), Gott (für Azteken, Inkas usw.), Mittelpunkt des Planetensystems anstelle der Erde usw. Alle Widersprüche und Doppelbödigkeiten, von denen bisher die Rede war, kommen offenbar – und damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück – dadurch zustande, dass die Welt aus Objekten und Subjekten besteht: Das ist die bekannte ›Subjekt-Objekt-Trennung‹, über die immer so viel gejammert wird. Geschichtsphilosophisch und kulturtheoretisch ist das die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft (oder Kultur). Diese Trennung wiederholt sich in den Subjekten, auch sie bestehen aus zwei Realitätsebenen. Sie sind die Einheit einer Differenz: Körper (Natur) und Geist (Symbole). Im Außenverhältnis können sie im Denken und Handeln jede der Relationen herstellen, die sich aus den drei Polen ergeben: Als Körper sind sie Säugetiere und bilden eine Einheit mit der Natur; damit beschäftigt sich überwiegend die Medizin. Als Geist sind Subjekte different zu sich als Körper und zur Natur. Dann reden sie über sich als Nicht-Natur (Vernunft, Geist, Seele usw.) und über die Natur als entweder ›Materie‹ (analog zu ihrem Körper) oder als Idee, das heißt, sie weisen ihr symbolischen Gehalt zu. Symbolisch kann man – wenn man einmal nur die Ebene der Subjekt-Objekt-Trennung berücksichtigt – über die Natur als Gegenwelt oder aber als Mitwelt reden. Wird sie als Gegenwelt angesehen, wird die Subjekt-Objekt-Trennung betont und symbolisch mit der Idee der Entfremdung aufgeladen: Gerade weil die naive Einheit eines Miteinanders in der Natur verloren ging – die Genesis oder auch Rousseau berichten davon –, ist sie als das ganz Andere potenzieller Ort der Entlastung von den Folgen jenes Verlustes durch die Trennung, also (willkommene) Gegenwelt zur lästigen Zivilisation. (Das ist ihre Bedeutung, das heißt ihr symbolischer empirischer Zustand.) Mitwelt ist sie dann nicht, es sei denn als »dumpfe Ahnung«7 einer atmosphärischen Einheit des Weltganzen,
7 | Humboldt 1745-1762/1978: 2f.
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einer höheren Ordnung und kosmischen Heimat also, der selbst die fremde, wilde Natur angehört. Wird sie als Mitwelt angesehen, so wird die Einheit gegenüber der SubjektObjekt-Trennung eingeklagt. Sie ist dann ›Mutter Erde‹ usw. und Heimat als ›blauer Planet‹ im gewaltigen Universum, der Leben hervorbrachte und so auch die Menschen. Mitwelt bedeutet dann zweierlei: zum einen dankbare Übernahme von Verantwortung für diesen Quell des Lebens. Zugleich verbindet sich damit die Formel, die Natur müsse doch immer ›zusammen mit dem Menschen‹ gesehen werden. Im ersten Fall wird der Mensch eher zurückgesetzt; im zweiten Fall wird die Verantwortung mit realistischen Bedingungen des Interessenausgleichs zwischen Schutz und Nutzung verknüpft. Beide normativen Wendungen sind aber prekär, insofern sie jenen anderen, aus der SubjektObjekt-Trennung zwingend folgenden und im Common Sense tief verankerten Aspekt – den der Gegenwelt – nicht zur Kenntnis nehmen (und im Naturschutz damit die Hauptanziehungskraft der Natur verspielen). Wird diese Nachlässigkeit bemerkt und durch Differenzierung – meinetwegen ähnlich wie ich es zuvor versucht habe – ausgeräumt, so ist aber noch immer eine Falle offen: Natur als Mitwelt ist ein symbolischer Tatbestand, das heißt, sie gehört der empirischen Realität der Gesellschaft an. Wird diese Forderung nun aber unter der (monistischen) Perspektive der Einheit der Natur (statt unter der Perspektive der Gebote der Vernunft wegen der Subjekt-ObjektTrennung) begründet, so erfolgt ein Kurzschluss zwischen den Ebenen ›Körper‹ und ›Symbol‹. Denn auch die Einheit zwischen Natur und Subjekten ist eine Idee, die der symbolischen Welt angehört. Wird sie als Naturtatbestand begriffen, kann eigentlich nur der menschliche Körper als Säugetier als betroffen angesehen werden. Das aber ist offensichtlich nicht beabsichtigt, denn der ganze Mensch ist gemeint. »Mitwelt« bedeutet dann eine Allianz von Handlungspartnern. Damit wird unversehens die Natur mit Subjektqualitäten aufgeladen (also der Spieß umgedreht) und als Naturtatbestand (Realitätsebene 1) mit moralischen Qualitäten versehen (Realitätsebene 2). Dieser Kurzschluss wird dann ökologisch spezifiziert (Realitätsebene 1), indem das Ganze, die Vernetzung, die Einheit, der Systemzusammenhang, der ›hybride‹ Charakter usw. von Mensch und Natur bemüht wird. Das ist ein grässliches gedankliches Chaos und ein reines Machtinstrument, denn die Konstruktion ist immun gegen Kritik, weil gesellschaftliche Kriterien als (scheinbare) Naturgesetze Objektivität gewinnen. Die Subjekt-Objekt-Trennung wird scheinheilig geleugnet oder als überholt abgetan. Einheit (Mitwelt) gilt als gut und Trennung (Gegenwelt) als böse, weil ›ökologisch‹ bzw. naturschützerisch zu denken und zu handeln unter diesen Voraussetzungen bedeutet, das Ganze der Natur einschließlich der menschlichen Gattung im Auge zu behalten, aber der alles beherrschen wollenden Vernunft keine Priorität (mehr) einzuräumen.
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S TR ATEGISCHE W IDERSPRÜCHE IN N ATURSCHUT Z UND N ATURERFAHRUNG Flankiert wird diese naturalistische Moral durch eine vergleichbar organisierte Esoterik. In dieser wird der Schwerpunkt nicht auf die Handlungspartnerschaft mit der Natur gelegt, sondern die Natur vorgängig als wesensverwandt jenseits der niederträchtigen Subjekt-Objekt-Trennung begriffen. Die Idee der Gegenwelt wird genutzt, um eine höhere Art der objektiven Verbindung zu postulieren, die demjenigen zuteil wird, der auf der Subjektseite, im eigenen Inneren, die (verschütteten) Schwingungen einer universellen All-Einheit aufzudecken in der Lage ist. Man spricht dann meist von Atmosphären, die man aufnimmt. ›Mitwelt‹ verschwindet hier tendenziell aus dem Vokabular; das Wort klänge zu banal und weltlich, auch zu funktional. Aber strategisch passen der ökologische und der esoterische Kurzschluss zwischen den Realitätsebenen 1 und 2 (Tatbestand und Bedeutung) zusammen. Was im ökologischen Kurzschluss die moralisch verwerfliche Vergessenheit der Handlungspartnerschaft ist, einer Partnerschaft, die als potenzielle ökologische Einheit begriffen wird, stellt sich im esoterischen Kurzschluss als zivilisatorisch verschüttete Sensibilität für Zustände dar, die jenseits der Trennung zwischen Körper/Materie und Geist liegen. An die Stelle eines ökologischen Miteinanders tritt, wenn es weniger um Schutz als um das rechte Naturerleben geht, eine leibphänomenologisch-kosmologische Transzendierung dieser Trennung. Beide Strategien sind paradox, weil sie ohne die Existenz der Idee der Natur als Gegenwelt sinnlos wären, das heißt von dieser Idee samt der ihr anhängenden Naturerfahrungen durch die Existenz der Subjekt-Objekt-Trennung getragen werden, gegen die sie sich richten. Dem Widerspruch kann man nur dadurch beikommen, dass von einer theoretisch rekonstruktiven Ebene der Diskussion über Naturerfahrung auf eine moralische Ebene übergewechselt wird: Wenn jene Trennung zwar existent, aber schlecht ist, dann kann man sie eingestehen, aber bekämpfen. Dazu sind der ökologische, der ethische und der esoterische Kurzschluss und damit verbunden die Reduktion von Sein auf Sollen da. Wenn nun Mensch und Natur gewissermaßen gemeinsam handeln sollen, dann ergibt sich bei der Verwirklichung der Idee und Forderung einer Mitwelt – einer Verwirklichung, die ja dem öko-moralischen Kalkül der menschlichen Seite der Partnerschaft zufällt – ein Dilemma: Die Berücksichtigung der Rechte der Menschen im Naturschutz ist eigentlich gegen jene puristischen Schutzstrategien gerichtet, die menschliche Nutzung grundsätzlich als Bedrohung der Natur auslegen. Konsequent konservierender Artenschutz wird kritisiert, weil er den guten Sinn und auch die Übermacht des gesellschaftlichen Fortschritts nicht realistisch einbeziehen kann. Realistisch wäre demzufolge, die Natur weder zu konservieren noch die Gesellschaft aus ihr auszugrenzen, sondern die Ganzheit der Mensch-Natur-Bezie-
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hung als Mitwelt zu konzipieren. Mitwelt würde dann nicht nur bedeuten, dass alle Lebewesen geachtet würden, sondern auch, dass selbst die Menschen gewisse Rechte (wie etwa, neben dem Recht auf vernünftige Nutzung zum Überleben, das Recht auf Naturgenuss zum Zweck der Erholung) genießen würden. Aber wie funktioniert dieses Miteinander? Hier fällt in der Regel der Angriff auf den strikt konservierenden Naturschutz in sich zusammen: Wenn der Zusammenhang nicht als symbolischer Tatbestand, nämlich nicht als eine gesellschaftlich gewollte Sache der Vernunft und damit als politischer Prozess konzipiert wird (Realitätsebene 2), sondern als ›ökologisches Miteinander‹ (Realitätsebene 1), dann müssen die Argumente – zumeist offen oder aber verdeckt mittels der Stabilitäts-Diversitäts-Hypothese – ökosystemtheoretisch oder ethisch (oft beides in undeutlicher Verbindung) formuliert werden. Genau solche Argumente formulieren aber auch die konsequent artenschützenden Gegner und kritisieren das derzeitige Miteinander – in analoger Weise zur Kritik an der Subjekt-Objekt-Trennung seitens der Vertreter der Mitweltperspektive – als ökologisches Missmanagement. Sie ziehen die Konsequenz: Da die Einheit gewissermaßen etwas von der Natur ökologisch Gewolltes ist, ist die Idee der Mitwelt (Realitätsebene 2) ein Naturgebot (Realitätsebene 1 kurzgeschlossen mit Realitätsebene 2). Das sagen aber – wenn sie nun selbst ›ökologisch‹ argumentieren – auch die Kritiker des strikten Artenschutzes. Dabei wollten diese eigentlich gegen solchen Naturalismus – der die Mitweltidee mit ökologietheoretischen Argumenten (im weitesten Sinne) begründet – mit der These vorgehen, die Natur sei praktisch gesehen Mitwelt und ideell ein Kulturprodukt. Ein Scheingefecht findet statt. Analog ereignet sich in der Tourismusindustrie ein Scheingefecht. Naturerleben ist eine Ware. Sie wird verkauft unter der Voraussetzung und Versicherung, dass Naturerleben in vielfältigster Form und jederzeit möglich sei. Dem steht jene allgemeine gespenstische These gegenüber, auf der Erde gebe es eigentlich gar keine unberührte Natur mehr. Deshalb müsse man sich mit jenem Erlebnisdrang beeilen und weit weg fahren – kontert der Tourismus. Also wird der Tourismusindustrie vorgeworfen, gerade sie mache vor den letzten Winkeln unverdorbener Natur keinen Halt, weil an den räumlichen Rändern der materiellen Naturnutzungszonen noch Unberührtheit verheißungsvoll winkt. Sie mache alle Natur zur Mitwelt, aber auf eine falsche Art und mit Lügen. Diejenige Natur, die gemeint ist, wenn die Ware Naturerlebnis verkauft wird, wird im gleichen Atemzug angepriesen und irgendwie auch geleugnet: Es gibt die Orte in der Natur, die unverdorben anmuten, angeblich nicht mehr; dennoch soll das Erleben wieder an seine inneren Verbindungsmöglichkeiten mit Orten solcher Ausstrahlung zurückkehren. Die These, Mensch und Natur seien eigentlich eine ökologische und atmosphärische Einheit, ist merkwürdig verwoben mit der These, unberührte Natur sei nicht mehr erlebbar. Einerseits ist ein Widerspruch eingebaut: Die Sehn-
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sucht nach Annäherung und Gemeinsamkeit setzt die Vorstellung der andersartigen Gegenwelt voraus. Andererseits gilt zugleich jene Einheit als auf prekäre Weise hergestellt, nämlich als Verlust von beidem: von Mitwelt und gemeinsamer atmosphärischer Transzendenzerfahrung.
K URZSCHLÜSSE Z WISCHEN K ONTEMPL ATION UND G ESELLSCHAF TSKRITIK Der Wunsch nach Unmittelbarkeit wird auch im Rahmen eines etwas anders gelagerten Kontextes von Naturerleben bedeutsam. In diesem Zusammenhang konvergieren die zivilisationstheoretische sowie die esoterische Kritik an der Idee der Gegenwelt mit der Praxis der Erfahrung von Landschaft. Die ideelle Projektion eines Begriffs in die räumliche Realität, wie sie der Landschaftserfahrung als ästhetischer und als sinnhafter anhaftet und ihr das Gefühl einer unmittelbaren sinnlichen Erfahrung verschafft, wird als mögliche Erfahrung der ungestörten Einheit aufgefasst, also gerade als Beleg für die Irrelevanz der potenziell allgegenwärtigen Zivilisation für die Einheit von Mensch und Natur. ›Die Natur ist ein gesellschaftliches Phänomen‹ bedeutet dann, dass das, was inhaltlich das faktische Ergebnis der ideellen Konstitution durch den Begriff ist, nämlich dass sie als eine Gegenwelt gilt, angesichts der gefühlten Unmittelbarkeit von Landschaftserfahrungen zur Möglichkeit einer ursprünglichen Erfahrungseinheit des Menschen mit der Natur an sich stilisiert wird. Mit anderen Worten: Weil die beiden spezifischen Konstitutionsvorgänge, welche Natur jeweils zur ›Gegenwelt‹ beziehungsweise zur ›Landschaft‹ machen, in gelingenden naiven kontemplativen Erfahrungszuständen den Eindruck von Unmittelbarkeit mit sich führen, wird eine allgemeine Einheit mit der Natur als möglich und erwiesen empfunden. In dieser Deutung beweist diese naive Erfahrung eine Einheit, die durch die Gesellschaft gestört werden kann, und da das grundsätzlich jeden Ort der Erde und des Weltraums betrifft, ist – potenziell – abermals alle Natur ein vergesellschaftetes Phänomen. Das Letztere ist nun aber wieder nicht konstitutionstheoretisch, sondern empirisch gemeint, denn es greift die vorherige Schlussfolgerung auf, in der von den spezifischen ideellen Konstitutionen auf die allgemeine empirische Erfahrungseinheit geschlossen wurde und extrapoliert sie kritisch: Der Gewissheit einer tiefen Entfremdung von der unkomplizierten Einheit mit der Natur entspricht die Erkenntnis, diese ursprüngliche naturgegebene Nähe sei grundlegend gesellschaftlich abhanden gekommen. Aus dem zweiten Aspekt dieser Deutung, demzufolge Zivilisation omnipräsent ist, folgt die Vorstellung, es sei keine Wildnis mehr zu erleben, aus dem ersten folgt die Ansicht, dass das ein Niedergang von ursprünglichen Möglichkeiten der tiefgründigen Berührung von Mensch und Natur sei.
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In dieser allgemeinen Bestürzung über die Entfremdung von Natur wird der systemische Tatbestand, dass der Industriekapitalismus als Weltmarkt und durch seine Koppelung von Ausbeutung durch relativen Mehrwert mit technischer Rationalisierung der Produktion – beides zusammengezogen benannt als ›Fortschritt‹ – die Tendenz hat, Naturgrundlagen (einschließlich nicht-kapitalistischer Zivilisationen) universell, und zwar real und potenziell, seinem Diktat zu unterwerfen, abstrakt auf ›menschliches Handeln‹ projiziert, so als sei dieser Tatbestand eine Sache von Motiven und Entscheidungsoptionen (verblendeter) Einzelner. In der gespenstischen Redeweise, vor allem in der Ethikdiskussion, heißt dieser kapitalistische Systemzusammenhang immer ›der Mensch‹. Diese immerhin tatsächlich empirisch gegebene materielle Situation der Ressourcenausbeutung bis hin zur Freizeitindustrie mit ihrem Angebot an Wildniserlebnissen wird vermischt mit der ebenfalls empirisch gegebenen symbolischen Situation der Konstitution von Natur als Objekt durch eine Idee. Diese Idee – und nicht irgendeine Realität einer Mensch-Natur-Einheit – enthält die Anleitung zum kontemplativen Landschaftserlebnis. Die unreflektierte und suggestive Basis dieses Kurzschlusses besteht vermutlich darin, dass beide Seiten eine (reale bzw. ideelle) Form gesellschaftlich hergestellter Universalisierung darstellen. Man kann die oben beschriebene Deutung, dass das kontemplative Landschaftserleben als Beleg für eine eigentlich ursprünglich naturgegebene, zivilisatorisch verschüttete Möglichkeit der bruchlosen Einheit mit der Natur steht, unter Beachtung der Differenz zwischen konstitutiver und empirischer Ebene der Naturbeziehung analysieren. Dann wird deutlich, dass der Versuch, dem konstitutionstheoretischen Zugang eine realistische und kritische Wendung zu geben, eine Konfusion erzeugt. Das bedeutet: Die Verwirrung wird hervorgerufen, wenn – wie in der oben beschriebenen Deutung – versucht wird, von der Gemeinsamkeit zwischen strukturell universeller Ausbeutung der Natur und (neuzeitlich) konstitutiv erzeugter Erfahrung der Unmittelbarkeit von Natur als Landschaft her über eine prekäre Praxis zu reden. Beide gesellschaftlich erzeugten Universalisierungen – Natur als ›freies Gut‹ und Natur als kontemplativ zugängliche und sinnträchtige Gegebenheit – werden zu einer These verbunden: der des Verlustes unberührter Natur angesichts einer an sich möglichen, aber unter den herrschenden Bedingungen unmöglich gewordenen Einheit mit ihr. Die Konfusion ist vielschichtig: Empirisch gilt dann die blank objektive Natur für uns – weil der bruchlosen Erfahrung eines Dinges-an-sich unzugänglich – als abwesend, weil sie eine Idee ist und nur unter deren Wirkungsweise erfahren werden kann. Diese Art des gesellschaftlichen Charakters der Natur führt aber im Landschaftserlebnis zu einer empirischen Anwesenheit, in welcher Natur in ihrer Unmittelbarkeit erfahrbar und zugleich – und hier wird nun die Ebene gewechselt – als unberührte abwesend ist, weil sie allerorten zerstörerisch genutzt wird. In diesem Muster spiegelt sich der Widerspruch, dass die Idee der
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Unberührtheit die Idee der Gegenwelt voraussetzt, welcher die These und der Wunsch nach Einheit entgegengesetzt werden, einer Einheit, die nun aber von der Unberührtheit profitieren will, die nicht mehr möglich ist, weil die Idee der Gegenwelt zur Naturzerstörung führte. Der offenkundigen Paradoxie entkommt man, wenn ein Sündenfall eingebaut wird. Die naive Einheit wird zum Ursprung erklärt, der durch Intervention von außen zerstört wird. Danach bleibt nur noch, in der falschen äußeren Welt der ›Trennung von Mensch und Natur‹ nach jenem Ursprung in sich zu suchen, um zur Einheit zurückzukehren, indem man unberührte Natur als Mitwelt erlebt. Jedoch: Betritt man die, zerstört man sie erneut; betritt man sie aus diesem Grund nicht, kann man von Naturerfahrung nur gespenstisch reden. Das Grundmuster des Sündenfalls ist bekannt: Eine naive paradiesische Einheit wird durch schlechten Einfluss von außen zerstört. Danach ist die Natur Gegenwelt und Arbeitsobjekt. Im ökologischen und esoterischen Kalkül fehlen natürlich der gnädige Gott und die Erlösung, die der Sache eine Wendung geben. Deshalb müssen und können die Menschen nicht im Glauben und in der Liebe zu Jesus der paradiesischen Zukunft im Jenseits entgegengehen – allenfalls zusätzlich können sie darauf bauen. Vielmehr müssen sie eine Instanz der Rettung vom Sündenfall gegenüber der Natur und der Umkehr selbst definieren. Das geschieht in zwei Varianten. Wenn der Nutzen einer Rückbesinnung auf das Paradies für die Menschen im Vordergrund steht, ergibt sich eine anthropozentrische Ethik der Umwelt. Werden demgegenüber der Eigenwert, die Funktionsweise oder der höhere Sinn der Natur zum Maßstab des neuen Miteinanders erklärt, ergeben sich die verschiedenartigen bio- und ökozentrischen Ethiken.
W IE VIEL TECHNIK VERTR ÄGT DIE W ILDNIS ? Beide Phänomene – die Projektion der Idee vom gesellschaftlichen Zusammenleben in die Naturerfahrung und die damit einhergehenden Naturbegriffe und Landschaftsleitbilder sowie die globale praktische Naturzerstörung – sind unbestritten. Aber in der Gespensterdiskussion soll – wie wir gesehen haben – die trügerische Erfahrung von Natur in einem Gefühl der Unmittelbarkeit, die mit der (erst in der Neuzeit möglichen) Projektion ihrer Idee (als einer Gegenwelt) einhergeht, in jener Kritik an der Naturbeherrschung auch als empirischer Tatbestand dingfest gemacht werden. Denn es muss materielle gesellschaftliche Gründe für eine strukturelle Abwesenheit unverdorbener Natur und Naturerfahrung geben, wenn man Gegenmaßnahmen ins Auge fassen will. Der ökonomisch begründete Raubbau an der Natur ist die eine, materiale Seite. Er wird, was die ideelle Seite angeht, der seit der Neuzeit herrschenden Hybris dualistischer Vernunft als Kern jener Konstitutionsidee angelastet.
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Aber eine neue Qualität des Verlustes an Unberührtheit kommt seit ein paar Jahren hinzu. Die wird in der universellen Verfügbarkeit von Zivilisation in jedem Winkel der Erde durch moderne Kommunikations-, Ortungs- und Rettungstechniken dingfest gemacht. Dieser Aspekt hebt weniger auf die ökonomische Ressource als vielmehr auf die Erfahrungsressource Natur ab. Dabei verschmilzt die Allgemeingültigkeit eines ideellen Konstitutionsvorgangs, nämlich der durch die Idee der Natur als Gegenwelt, abermals mit einer realen Art der Omnipräsenz von Zivilisation in der Natur: Nichts ist mehr in dem Sinne unberührt, dass es nicht doch durch jene mitgeführten Technologien (sowie oftmals auch durch professionelle Führer und Bedienstete) potenziell der Erfahrung der Unzugänglichkeit für die Zivilisation entzogen wäre. Dieser Tatbestand boykottiere – und boykottiert wohl tatsächlich – das Erleben von Wildnis. Denn die Idee der Wildnis fußt nicht nur auf der Idee einer Gegenwelt Natur, sondern auch auf der Vorstellung von Unberührtheit. Diese Vorstellung gerät auf Umwegen in Konflikt mit jener umfänglichen neuen Technisierung der Lebenswelt: Wenn der Gedanke im Spiel ist, spezifische Techniken machten jeden Winkel der Erde für die Zivilisation einigermaßen gefahrlos erreichbar, dann widerspricht das der Idee des unzugänglich Unberührten, der Vorstellung einer Welt also, in die man nur eintreten kann, wenn man definitiv aus der Zivilisation hinaustritt in eine ganz andere Welt, in der man jederzeit jede Macht über die Ereignisse verlieren könnte. Das aber sei angesichts der Freizeitindustrie sowie der Ortungs- und Rettungstechnologie nicht mehr gegeben und ist es wohl tatsächlich nicht, sobald man sich all dessen bedient. Somit ist Wildnis auch deshalb nicht mehr existent, weil die unberührte Natur ›technisch-medial‹ außer Kraft gesetzt wird, wo Wildnis irgendwie doch noch vorliegt. Es wird die Machtlosigkeit des Menschen auch dort noch aufgehoben, wo er eigentlich im Ernstfall verloren wäre. So verliert die Unberührtheit ihren Wert. Das beklagen ebenso die fundamentalistischen Kritiker der Naturzerstörung, die das Naturerlebnis meiden, um die Natur zu schonen, wie diejenigen, die der Unberührtheit touristisch wohlversorgt bis in die hintersten Winkel der Erde ambivalent nachrennen – und ich bestätige diesen Eindruck, beklage den Sachverhalt aber nicht: Man kann ja auf diese Techniken und kommerziellen Erlebnisplanungen verzichten. Der Eindruck des Wertverlustes hat eine reale begriffliche Basis: Die Idee der Wildnis enthält eine Einheit der Erfahrung von potenzieller Machtlosigkeit und Unberührtheit. Davon ist nicht betroffen, dass das Erleben in der Wildnis, insoweit es mit der Erhabenheit der Natur verbunden ist, gerade nicht von einem Gefühl völliger Machtlosigkeit bestimmt wird. Diese ästhetische Gemütsbewegung lebt – wie Kant gezeigt hat – von der (wenn auch ambivalenten) Abwesenheit der Furcht und bildet gewissermaßen, zusammen mit dem Naturschönen, die Ausführungsbestimmungen des Erlebnisses ›Wildnis‹; sie ist seine attraktive Innenseite. Man braucht die Wildnis, das heißt eine spezifische
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Umweltsituation für die realistische Projektion der Idee der Machtlosigkeit und Gefahr, damit mittels des Gefühls der Erhabenheit die ambivalenten Gefühle der Bewährung als Überlebender in einer solchen Gegenwelt aufkommen. Die das Erleben absichernden Medien heben nun offenbar die Einheit von Machtlosigkeit und unberührter Fremdheit auf; mit dem Verlust oder zumindest der Abschwächung des potenziellen Ausgeliefert-Seins wird die Unberührtheit schal. Und genauso schal und paradox werden damit alle tourismusindustriell geplanten Extremerlebnisaktivitäten in der Natur.
C OMPUTERGESTÜT Z TE IDEOLOGISCHE E RFAHRUNG : DER K URZSCHLUSS Z WISCHEN S EHNSUCHT UND W ISSEN Ich beende hier die ›Arbeit am Begriff‹, die sich mit der objektiven Logik des Spuks befasst hat, und frage nun: Was ist wohl der ›subjektive Faktor‹ der Verwirrungen, der dem Gespenst den Spuk so leicht macht? Die gespenstischen Diskussionen über Naturerfahrung werden vermutlich vorrangig von Menschen geführt, die sich nie einmal ein paar Schritte in die Natur gewagt haben. Vom Schreibtisch aus wird da erklärt, wie es den Menschen in der Welt der Natur ergeht, ohne dass dem der geringste ernsthafte Versuch der Erfahrung zugrunde liegt. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen die wohlorganisierten Versuche, gerade das zu finden, was es dieser Diskussion zufolge gar nicht mehr gibt. Konsequent verhindert die verzagte, von allerlei Segnungen des Fortschritts überlagerte Art der Versuche den Erfolg – was dann die Thesen über den Verlust an ›echten‹ Erfahrungsmöglichkeiten bestätigt. Wer das Problem der Naturerfahrung von Fernsehberichten über den Müll auf dem Mount Everest aus konzipiert, kombiniert mit GPS-gestützten Spaziergängen auf ausgeschilderten Wanderpfaden und wohlorganisierten Erlebnistrips in irgendeine touristisch bereitgestellte Einöde am scheinbaren Ende der Welt, mit Pulszählern um Arm und Brust, isotonisch versorgt, von Thermowäsche umschmeichelt, mit Teleskopstöcken bewaffnet, von Führern betreut und wohlvorbereiteter Nachtquartiere sicher, der mag glauben, nirgends sei Naturerfahrung ohne Zivilisation zu haben. Wenn er sich der warengesellschaftlichen Industrie der Ausstattung von Naturerfahrung nicht unterordnen würde und einfach mit unerschrockener Lebenslust ins Gelände ginge, würde er sich wundern, wieviel Natur da noch ganz unverdorben auf ihn wartet. Natürlich ist der Verzicht auf solche Ausrüstungen nicht konstitutiv für so etwas wie ungebrochene und reiche Erfahrung, die die Differenz zur Natur als eine Unmittelbarkeit ästhetisch und sinnhaft werden lässt, wenn man mit der Idee der Natur, Landschaft und Wildnis im Inneren hinausgeht in eine natürliche Umgebung (und eine vernünftige Ausrüstung ist in jedem Fall geboten). Auch ohne diese Sicherheits- und Wohlfühltechnologie treibt das Gespenst sein
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Unwesen. Vielmehr scheinen mir der Boom dieser Industrie und ihr Erfolg einem überzogenen Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen, das sich in der Überanpassung an äußerliche (Über-)Lebenshilfen ausdrückt, die aus Hilflosigkeit in einer unvertrauten Welt resultiert. Hinzu kommt der landläufige Fitnesskult, in dem angestrengte körperliche Freizeitbetätigung schon seit Langem verbunden ist mit einem Wust von ausgeklügeltem technischen Gerät. Naturerfahrung wird im Rahmen dieses Trends schnell zur computergestützten Trainingseinheit. Natur ist Nebensache, Kulisse. Vielleicht geht es aber sogar in gar keiner Weise um Naturerfahrung, sondern mehr um Selbstdarstellung, um die an Kleidung und Ausrüstung schon von weitem erkennbare Teilnahme an Ereignissen der Erlebnisgesellschaft. Zumindest ergänzen sich die sportliche und die szenebewusste Vorliebe für Hilfs- und Kontrollgerätschaften. Man will bei dem dabei gewesen sein, was ›angesagt‹ ist. Hierbei verwischen sich die Ziele und die Objekte der Begierde: Das sind jene Hilfsmittel nicht weniger als die Natur selbst; die Sehnsucht nach Naturerfahrung schürt geradezu eine Lust auf technisches Spielzeug. Ich habe manche Stunde auf (eher leicht zu erreichenden) Berggipfeln verbracht, auf denen solche schicken Wanderer nichts anderes zu tun hatten, als die gesamte Zeit ihres Aufenthalts darauf zu verwenden, an jenen Gerätschaften herumzufingern, die ihnen irgendwelche Daten über die Umgebung, den Ort im Universum, die eigene Befindlichkeit, ihre Lieben zu Hause usw. vermittelten. Meist wird dann darüber gemeinsam auch stolz (über neueste ›Versionen‹ von irgendetwas) gefachsimpelt – auch zwischen Fremden: Technik verbindet. Nicht, dass ich jemandem das Recht absprechen würde, sein Leben auf diese Weise zu organisieren. Das kann jeder machen, wie er will. Aber auf dieser Basis oder überhaupt vom Schreibtisch aus über Naturerfahrung zu urteilen und gar zu theoretisieren, ist lächerlich. Natürlich ist das Kriterium (und Gefühl) der Unberührtheit, das der Idee der Natur als Gegenwelt anhaftet, nicht von der Hand zu weisen, und der Rummel auf vielen Ausflugswegen oder an Ausflugszielen in der Natur zerstört die Wirkungsweise dieser Idee, verkehrt sie in eine Verlusterfahrung. Um diese Fälle geht es aber nicht, sondern um die große Vielzahl der Möglichkeiten des Naturerlebens außerhalb der ausgetretenen Pfade. Dass man zwar auch auf Touren im weglosen Gelände zwischen den Zonen der Kulturlandschaft da und dort dennoch erstens aus der Ferne auf die Zivilisation hingewiesen wird oder zweitens auch gelegentlich Zeichen von (oft ehemaliger) extensiver Nutzung oder auch von Unternehmungen der gleichen Art sieht, wie man sie selbst liebt, ist ebenfalls unbestritten. Aber was stört daran? Auf welche Zustände ist denn Naturerleben gerichtet? Geht es nicht darum, eine komplexe konkrete Begegnung mit sich durch die Natur zu erleben – wie sie auch immer im Einzelnen leicht differierend erfahren werden mag? Es geht um Licht, Schatten, Materialien, um Oberflächen: verlässlich – nicht verläss-
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lich, trocken – nass, rau – glatt, um Strukturbilder in Fels, Sand, Geröll, Wasser, Schnee; um Einsamkeit, Wolkenbilder, Zufriedenheit, Risiko, Wasserrauschen, Vorsicht und Besonnenheit, Himmelsfarben, Stille, Tierspuren, Muskelkraftgefühl, tiefe Ruhe, Blumen, Vogelstimmen und -flugbilder, Herzklopfen, Wind, Horizonte, Meditation. Um all das und mehr geht es – falls man das Innere vom Äußeren her benennen will. Das wird durch ferne Spuren der Zivilisation oder vereinzelte nahe Spuren alter Nutzung oder gelegentlicher Wanderer nicht im Geringsten gestört. Scheinbar gestört – in Wirklichkeit aber von vorneherein durch einen selbst ausgeschlossen – wird es nur dann, wenn man sein Erleben aus ›kritischem‹ Bewusstsein heraus dem Maßstab der Zerstörung von Unberührtheit unterwirft, das heißt der Maßgabe des Wahns unterstellt, es gehe um ›authentische‹ Naturerfahrung und die sei an wirkliche Ursprünglichkeit gebunden, die durch nichts gestört werden dürfe: Wenn man also die Welt tatsächlich empirisch so wie vor einer imaginären Schwelle der Zivilisation erleben möchte und glaubt, nur dann Natur so erlebt zu haben, wie es sich eigentlich gehörte – also der Sehnsucht nach der widerspruchslosen Naivität urmenschlichen Daseins verfallen ist bzw. diese Sehnsucht denen, die sich ins Gelände begeben, als Maßstab vorhält, ohne dort je aufzutauchen. Diese Sehnsucht ist ein hochgradig ideologisches modernes städtisches Konstrukt, das wohl meist zu nichts anderem dient, als von der eigenen Bequemlichkeit und der Unfähigkeit, sich im weglosen Gelände zu bewegen, abzulenken – ganz abgesehen davon, dass dieses ideologische Ideal gar nicht den Reiz der Naturerfahrung trifft. Denn weder um Wildnis, das heißt um das Gefühl des Verlustes jeder Ähnlichkeit mit den Umständen, denen man ausgeliefert ist, geht es, noch um Unberührtheit, das heißt um die Hoffnung auf das Geschenk einer unverdorbenen Annäherung an das Andere, das einen einmal hervorgebracht hat – auch wenn beides als Konstitutionsideen von Natur der Naturerfahrung anhaftet. Auch diese Sehnsüchte sind unbenommen und wohl sogar konstitutiv für Naturerfahrung. Aber sie sind nicht die Ziele der Unternehmung. Sie erhalten diesen Schein, wenn sie mit den Theorien über das Faktum und den Charakter der Idee der Natur sowie deren Vorgängigkeit vor jeder Erfahrung einerseits und Theorien über den industriegesellschaftlichen Ressourcenraubbau andererseits kurzgeschlossen werden. Dann entstehen ideologische Paradoxien: Die Sehnsucht wird als Mangelerfahrung kulturtheoretisch und gesellschaftskritisch heilig gesprochen und ideologiekritisch hypostasiert zu jener gespenstischen These der Abwesenheit von unberührter Natur und ihrer Erfahrungsmöglichkeit. Das Gespenst macht sich einen Spaß daraus, das ideologische Bewusstsein dann auch noch wie eine unmittelbare Erfahrung erscheinen zu lassen. Ein anderer Ausgangspunkt ist möglich: Zunächst ist ja die normale Naturerfahrung eines Wanderers und Abenteurers ganz unmittelbar und naiv. Man
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›geht raus‹ in die Natur, ist dort einfach ›unterwegs‹ – und dies nicht etwa in einer als Gegenwelt missverstandenen Mitwelt. Diese unmittelbare Naturerfahrung und das Wissen um die Wirkungsweise der Ideen von Natur, Landschaft und Wildnis widersprechen sich also durchaus nicht, solange das eine nicht mit dem anderen aufgeladen wird. Dass man um die Wirkungsweise der Idee der Natur und um die globale Naturzerstörung weiß, ist von der naiven Erfahrung ganz unabhängig, braucht sie nicht zu affizieren. Wenn man – trotz ihrer Wirkung in den Konstitutionsideen von Natur und Landschaft – keine der Sehnsüchte nach Unberührtheit und Nähe in der Differenz als Motiv im Sinn hat, wenn man nichts sucht, sondern sich dem Reichtum von Farben, Formen, Herausforderungen, Einsamkeit, Atmosphären überlässt, wird Naturerfahrung möglich. Der Plan lautet dann nicht: Wo bin ich endlich ich und zugleich das Andere, sondern beispielsweise: Heute steige ich mal auf diesen schönen Berg und genieße die Aussicht.
L ITER ATUR Eisel, Ulrich (2007): »Politisch korrekte Heimat? Ein polemischer Essay über politisches Engagement in der Wissenschaft sowie einige Gedanken über die Funktionsweise von Ideen«. In: Reinhard Piechocki & Norbert Wiersbinski (Bearbeiter), Heimat und Naturschutz. Die Vilmer Thesen und ihre Kritiker. Bonn: BfN-Schriften-Vertrieb im Landwirtschaftsverlag, S. 353-402. — (2011): Abenteuer, Brüche, Sicherheiten und Erschütterungen in der Landschaftsarchitektur? Über den Unterschied zwischen Theorie und Fachpolitik – sowie einige Auskünfte über eine Schule. Kassel: kassel university press. Humboldt, Alexander von (1745-1762/1978): Kosmos. (Für die Gegenwart bearbeitet von Hanno Beck.) Stuttgart: Brockhaus. Schiller, Friedrich (1800/1983): »Der Spaziergang«. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. II: Gedichte 1799-1805, Erster Teil. Herausgegeben von Norbert Oellers. Weimar: Böhlaus Nachfolger, S. 308-314.
Autorinnen und Autoren
Antonia Dinnebier studierte Landschaftsplanung an der TU Berlin. 1995 Dissertation über Landschaftsästhetik und Gesellschaftstheorie. Seit 2001 in Wuppertal selbständig (www.landconcept.de). Projekte zu grünen Wegen in der Stadt und historischen Parkanlagen. Geschäftsführung Schloss Lüntenbeck, Denkmalpflege und Veranstaltungen. Ehrenamtlicher Naturschutz in lokalen Gremien und regionalen Vereinen. Ausgewählte Veröffentlichungen: 2004: »Landschaft entdecken. Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft am Beispiel der Sächsischen Schweiz«. In: Stadt und Grün 53, S. 15-19. 2009: »Gärten – Güter – Architekten.« In: Von Tugend und Glück. Die private Welt der Bürger 1815-1850, S. 59-73. Eveline Dürr habilitierte sich 2000 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Fach Ethnologie. Bis 2008 Associate Professor an der Auckland University of Technology in Neuseeland. Seit 2008 Professorin für Ethnologie an der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Ethnologische Stadtforschung, Umweltund Naturwahrnehmungen, kulturelle Identitäten und Globalisierung. Regionale Schwerpunkte: Mexiko und Neuseeland. Ausgewählte Veröffentlichung: Dürr/Jaffe 2010 (Hg.): Urban Pollution. Cultural Meanings, Social Practices. Ulrich Eisel, Berufsausbildung als Kartograf (Ing. grad.). Studium: Geografie, Soziologie, Politologie. Wissenschaftlicher Assistent: FU Berlin und Universität Osnabrück; Promotion in Geografie. Habilitation in Politologie, Uni Osnabrück. Inhaber des Fachgebiets »Sozialwissenschaftliche Humanökologie« am ehemaligen Fachbereich 14 »Landschaftsentwicklung« der TU Berlin von 1985 bis 2000. Arbeitsschwerpunkte: Ideengeschichte des Landschaftsbegriffs und des Lebensbegriffs; Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Geografie und der Ökologie; Beziehung zwischen Architektur, Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung; Naturerfahrung und kulturelle Identität. Literatur: www.ueisel.de.
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Anton Escher studierte Geografie, Philosophie, Islamwissenschaften und Physik in Erlangen. 1985 Promotion über traditionelles Handwerk in marokkanischen Städten, 1990 Habilitation über sozioökonomische Entwicklungen in Bergregionen der Arabischen Republik Syrien; seit 1996 Professor am Geografischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und seit 2005 Sprecher des Zentrums für Interkulturelle Studien. Arbeitsschwerpunkte: Arabische Altstädte, arabische Diaspora und Wechselwirkungen von Medien und Lebenswelt. Ausgewählte Veröffentlichung: Escher/Petermann 2009: Tausendundein Fremder im Paradies? Ausländer in der Medina von Marrakech. Arne Göring studierte Sportwissenschaften, Biologie, Soziologie und Politikwissenschaften an der Universität Göttingen. Promotion im Jahr 2006 mit einer interdisziplinären Arbeit über das Risiko im Sport. Seit 2002 am Institut für Sportwissenschaften sowie im Hochschulsport der Universität Göttingen als Mitarbeiter und stellvertretender Leiter tätig. Arbeitsschwerpunkte: Risiko- und Trendsport, Sport in Institutionen des tertiären Bildungswesens, Gesundheitsförderung durch sportliche Aktivität, Sportentwicklung unter den Bedingungen der Zivilgesellschaft. Anne Haß studierte Landschaftsplanung und Philosophie in Berlin. Sie arbeitet zu Fragen der kulturellen Bedingtheit von Naturideen und untersucht den Einfluss dieser Ideen auf die Theoriebildung in den Gesellschaftswissenschaften. Von 2003 bis 2005 arbeitete sie als Lehrbeauftragte für das Fach »Kulturgeschichte der Natur« an der TU Berlin. Derzeit promoviert sie an der TU München zu den philosophisch-weltanschaulichen Ursprüngen der US-amerikanischen Humanökologie. Veröffentlichungen u.a.: 2010: »Wilderness – zur philosophischen Basis einer ästhetischen Naturidee«, ANL (Hg.), S. 92-98; 2011: »Isabella Bird bereist die Rocky Mountains oder warum ein Abenteuerurlaub so manche Krankheit heilt«, ANL (Hg.), S. 31-35. Deborah Hoheisel studierte Landschafts- und Umweltplanung an der TU München und der Universitet for Miljø- og Biovitenskap (Norwegian University of Life Sciences). 2008-2011 Promotionsstipendiatin der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Seit 2011 Mitarbeiterin im Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Landschaft und Wildnis, systemtheoretische Landschaftskonzepte, Inhalte und grafische Darstellungsweisen der Landschaftsplanung. Ausgewählte Veröffentlichung: Hoheisel/Kangler/Schuster/Vicenzotti 2010: »Wildnis ist Kultur. Warum Naturschutzforschung Kulturwissenschaft braucht«, Natur und Landschaft 85, S. 45-50.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Gisela Kangler studierte Landschaftsarchitektur und -planung in München und Wien. Seit 2003 wissenschaftliche Angestellte am Wasserwirtschaftsamt Weilheim. Freiberuflich Kartierungen von Kulturlandschaften für die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Lehrauftrag an der TU München. Arbeitsschwerpunkte: Theorie zu kulturellen Auffassungen von Landschaft und Wildnis sowie deren Bedeutung in der Praxis von Gewässerrenaturierung, Landschaftsplanung und Naturschutz. Aktuelle Veröffentlichung: Kangler/ Schuster 2011: »Naturschutz im Nationalpark: Ist der ›Borkenkäferwald‹ Natur? Was kulturwissenschaftliche Analysen eines Naturschutzkonfliktes zu seiner Lösung beitragen können«, ANL (Hg.), S. 139-143. Thomas Kirchhoff studierte Landschaftsplanung und Philosophie in Berlin. Dissertation an der TU München über Theorien ökologischer Einheiten und ihre kulturellen Hintergründe. Seit 2010 an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Ökologie, Naturphilosophie, Theorie der Landschaft und Wildnis, Biodiversitätskonzepte, Theorien des Mensch-Natur-Verhältnisses. Ausgewählte Veröffentlichungen: 2011: »›Natur‹ als kulturelles Konzept.« Zeitschrift für Kulturphilosophie 5, S. 69-96. Kirchhoff/Trepl 2009 (Hg.): Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Anke Ortlepp ist Professorin für Amerikanische Kulturgeschichte am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians Universität München. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die amerikanische Reise- und Tourismusgeschichte sowie die Ding- und Geschlechterstudien. Derzeit schließt sie ein Buchprojekt zur Kulturgeschichte des Flugreisens in den USA ab. Zu ihren Publikationen zählen 2004: ›Auf denn, Ihr Schwestern!‹ Deutschamerikanische Frauenvereine in Milwaukee, Wisconsin 1844-1914. Ortlepp/Ribbat 2010 (Hg.): Mit den Dingen leben: Zur Geschichte der Alltagsgegenstände. Simon Putzhammer studierte den Bachelor Landschaftsarchitektur und -planung sowie bis 2008 den Master Umweltplanung und Ingenieurökologie an der TU München. Masterarbeit: »Untersuchung der Auswirkungen von Erstaufforstungen auf das Landschaftsbild« (online veröffentlicht bei Shaker). 2010 bis 2011 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Landschaftsökologie der TU München (Prof. Trepl) tätig. Der Autor beschäftigt sich mit Naturwahrnehmung und Landschaftsästhetik und arbeitet als Landschaftsplaner. Veröffentlichung 2011: Ekel und ›Natur‹. Zur Übertragung von Grenzen des Selbst auf Grenzen in der Lebensumwelt. In: Psychologie & Gesellschaftskritik 137, S. 65-85.
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Markus Schwarzer studierte Landschaftsarchitektur und Umweltplanung an der TU München. Anschließend war er Stipendiat der DFG im Graduiertenkolleg »Interdisziplinäre Umweltgeschichte« an der Georg-August-Universität Göttingen; Promotionsthema: Der planerisch-gestalterische Diskurs über die Bergbaufolgelandschaft in Ostdeutschland. Seit 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Naturschutz und Landschaftsplanung insbesondere im Kontext der »Energiewende«, Theorie und Geschichte der Landschaft, Kulturgeschichte der Wildnis, Umweltgeschichte. Andrea Siegmund studierte Landschaftsarchitektur an der TU München. Sie forscht und publiziert zur Interpretation des Landschaftsgartens, zur Theorie der Landschaft und zur Geschichte der Gartenkunst. In ihrer Dissertation entwickelte sie ein Idealtypusmodell der Landschaftsbilder, die in der Gartentheorie und -praxis des 18. und 19. Jahrhunderts entworfen wurden; publiziert 2011: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt: Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung. Marcus Termeer, Promotion an der Universität Münster (Soziologie, neuere und neueste Geschichte, Politikwissenschaft). Freier Autor (Schwerpunkte: Kultursoziologie, gesellschaftliche Naturbeziehungen, Stadt- und Raumsoziologie, Dialektik des Zivilisationsprozesses, Geschlechterforschung). Veröffentlichte u.a. 2005: Verkörperungen des Waldes. Eine Körper-, Geschlechter- und Herrschaftsgeschichte. 2010: Münster als Marke. Die ›lebenswerteste Stadt der Welt‹, die Ökonomie der Symbole und ihre Vorgeschichte. Ludwig Trepl, Studium der Biologie 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Freien Universität Berlin. 1983 Promotion zum Dr. rer. nat. bei Herbert Sukopp an der Technischen Universität Berlin. 1988 Habilitation am Fachbereich Landschaftsentwicklung der Technischen Universität Berlin. 1994 bis 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Ökologie, Theorie und Geschichte von ›Landschaft‹. Aktuelle Publikation 2012: Die Idee der Landschaft. Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung. Vera Vicenzotti studierte Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung an der TU München. 2010 Promotion an der TU München mit einer diskursanalytischen Arbeit über die Zwischenstadt als Wildnis. Seit 2011 mit einem Feodor-Lynen-Forschungsstipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Newcastle University. Arbeitsschwerpunkte: Theorien und Ideengeschichte von
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(Kultur-)Landschaft, Wildnis und Stadt sowie Theorie und Geschichte von Landschaftsarchitektur, Städtebau und Landschaftsplanung. Ausgewählte Veröffentlichung: 2011: Der ›Zwischenstadt‹-Diskurs. Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt. Annette Voigt studierte Landschaftsplanung in Berlin und promovierte an der TU München über den Ökosystembegriff. Seit 2010 arbeitet sie in der AG Stadtund Landschaftsökologie der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Stadtnatur, urbaner Naturschutz, Wissenschaftstheorie der Ökologie, Theorien zu Natur und Landschaft, Naturauffassungen. Ausgewählte Veröffentlichungen: 2009: Die Konstruktion der Natur. Ökologische Theorien und politische Philosophien der Vergesellschaftung. Kazal/Voigt/Weil/Zutz 2006 (Hg.): Kulturen der Landschaft. Ideen von Kulturlandschaft zwischen Tradition und Modernisierung. Gordon Winder erwarb sein PhD in Toronto, Kanada, und war bis 2008 Senior Lecturer in Geografie an der Universität Auckland in Neuseeland. Von 2010-2011 LMU-fellow am Rachel Carson Center, seit 2011 Professor für Wirtschaftsgeografie und Nachhaltigkeitsforschung an der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Globalisierung, Industrienetzwerke, Mediengeografie und Nachhaltigkeit. Ausgewählte Veröffentlichung: 2012: The American Reaper. Harvesting Networks and Technology, 1830-1910. Jörg Zimmermann, Philosoph und Ästhetiker. Nach Tätigkeit an Hochschulen in Tübingen, Konstanz, Hamburg, Hannover und Berlin von 1995-2011 Inhaber des Lehrstuhls für Kunsttheorie an der Universität Mainz. Gast an der Univ. Roma Tre. Monografien zu: Wittgenstein, Sprachanalytische Ästhetik, Bacon – Kreuzigung, Theory of Earth Science; als Hg. zu: Sprache und Welterfahrung, Das Naturbild des Menschen, Lichtenberg, Die Erfindung der Natur, Ästhetik und Naturerfahrung, Ästhetik der Inszenierung. Seit 2006 Ausstellungen eigener Werke mit Katalogen: Zollhafen, Metallomorphie, Carrara, Unter Eis (joerg-zimmermann-aesthetik.de). 2011 Essay: Der Tod und das Mädchen. Franz Schubert als Leitfigur der Ästhetik von Samuel Beckett. Projekt 2012: Ätna/ Mongibello. Grundzüge einer ästhetischen Vulkanologie.
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Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Juni 2012, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung Juni 2012, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Claus Leggewie, Darius Zifonun, Marcel Siepmann (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften (unter Mitarbeit von Anne-Katrin Lang) Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne Januar 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3
Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« Januar 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne Juli 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen Juni 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Nicole L. Immler Das Familiengedächtnis der Wittgensteins Zu verführerischen Lesarten von (auto-)biographischen Texten
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen Juli 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1
Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne März 2012, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2044-3
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
Ludwig Trepl Die Idee der Landschaft Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung März 2012, 258 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1943-0
2011, 398 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1813-6
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