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German Pages [214] Year 2016
Ralph Kunz (Hg.)
Seelsorge Grundlagen – Handlungsfelder – Dimensionen
Arbeitsfelder im Pfarramt
Ralph Kunz (Hg.)
Seelsorge Grundlagen – Handlungsfelder – Dimensionen
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit zwei Abbildungen und einer Tabelle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0041 ISBN 978-3-666-62013-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen
Inhalt
Versorgung mit Seelsorge – Elementares zur Einleitung (Ralph Kunz) 7
A Grundlagen der Seelsorgetheorie
Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre (Wolfgang Drechsel) 15 Theologie der Seelsorge (Michael Meyer-Blanck) 29 Seelsorge und Psychoanalyse (Isabelle Noth) 41
B Seelsorge in den Handlungsfeldern der Gemeinde
Seelsorge auf Besuch (Eberhard Hauschildt) 53 »Kindheit ist keine Krankheit«. Lebenstüchtigkeit als Ziel von Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen (Bernd Beuscher) 67 Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim als Aufgabe der Gemeinde (Michael Klessmann) 83 Seelsorge mit älteren Menschen (Ralph Kunz) 97 Inhalt
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Seelsorge mit trauernden Menschen (Kerstin Lammer) 113 Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen (Traugott Roser) 129 Seelsorge in Verbindung mit Kasualien (Dörte Gebhard) 145 Seelsorge in sozialen Medien (Ilona Nord) 159
C Seelsorge als Dimension gemeindlichen Handelns
Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst (Christian Möller) 175 Seelsorge in der geistlichen Begleitung (Corinna Dahlgrün) 189 Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde (Christoph Morgenthaler) 201
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Inhalt
Ralph Kunz
Versorgung mit Seelsorge – Elementares zur Einleitung
1. Elementares Die Reihe »elementar« verspricht, fundiert über Arbeitsfelder im Pfarramt zu informieren. Das Attribut »elementar« ist ein drei faches Versprechen, das nicht so einfach einzulösen ist. Elementar kann sowohl das Grundlegende, als auch das Wesentliche wie das Zerlegte sein. Ist Ersteres gemeint? Dann müsste in diesem Band Komplexes ganz einfach erklärt werden. Denn unter Elementa risierung versteht man die didaktische Vereinfachung eines Inhaltes.1 Ist Zweiteres gemeint? Dann müsste alles Geschriebene fundiert, begründet und belegt sein. Denn das Elementare geht der Sache auf den Grund. Ist an die dritte Bedeutung gedacht? Dann läge eine hochgradig differenzierte Studie vor, die in die Tiefen der theoretischen Voraussetzungen der Seelsorge einführt. Es ginge darum, Seelsorge in ihre Elemente zu zerlegen und das komplexe Bündel der Bedeutungsstränge im Knäuel des seelsorglichen Geschehens zu entwirren. Eine elementare Einführung bietet ein wenig von Allem: reduziertes, fundiertes und da und dort analytisches Wissen. Es geht ans Eingemachte. Die Autorinnen und Autoren haben sich der Aufgabe gestellt, unterschiedliche Perspektiven der seelsorglichen Arbeit in kompakter Form und das heisst entsprechend knapp und konzentriert darzustellen. Ein exemplarisches Fallbeispiel sorgt für Konkretion, eine Liste mit wenigen Lektürevorschlägen lädt zum Weiterlesen ein. Das Format zwingt diejenigen, die 1 Vgl. dazu Dieter Zillessen, Elementarisierung theologischer Inhalte oder elementares theologisches Lernen, in: G. Hilger/G. Reilly (Hg.), Religionsunterricht im Abseits?, München 1993, 34. Versorgung mit Seelsorge – Elementares zur Einleitung
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schreiben, zu Kompromissen und vermittelt denjenigen, die lesen, das gute Gefühl, nach der Lektüre das Wesentliche zu wissen und Impulse für ein vertieftes Studium bekommen zu haben. Das Format der handlichen Einleitung ersetzt aber weder eine Einführung in die Seelsorgepraxis noch breitet sie die Stofffülle aus, die eine Seelsorgelehre verarbeiten oder ein Handbuch vertiefen kann.2 Man mag das als Nachteil ansehen. Es kann auch zum Vorteil werden, wenn das Konzentrat nicht mit ein Abstrakt verwechselt, sondern seine Kürze als Chance für Würze und Geschmack genutzt wird.
2. Zum Aufbau des Buches Der Aufbau des Buches folgt einem Dreischritt. In einem ersten Abschnitt werden die Grundlagen reflektiert. Wolfgang Drechsel erläutert und entfaltet eine Landkarte der Konzepte der Seelsorge lehre mit einem elementaren Koordinatensystem. Er verweist auf die Besonderheit des seelsorglichen Lernens, dem er strukturelle Offenheit im Sinne eines »Sich der Praxis Stellens und Aussetzens« attestiert. Seelsorge lerne man nicht aus Büchern. Aber diese andere Art des Lernens will bedacht und reflexiv verarbeitet sein, eine Lernform, die sich wiederum in den Konzepten der Lehre spiegelt. M ichael Meyer-Blanck erinnert daran, dass Theologie insgesamt als eine elementare Unterscheidungslehre zu verstehen sei und dass dies im Hinblick auf die Seelsorge sofort einleuchte: Der Mensch komme im Leben an physische und psychische Grenzen, aber auch an die Grenzen seines Denkens und Handelns. Im Glauben unterscheiden wir das eigene Handeln vom Handeln Gottes, Gesetz und Evangelium, Letztes und Vorletztes. Die theologische Grundlegung sieht Seelsorge als zielgerichtete Zuwendung zum einzelnen Menschen im Kontext der Kommunikation des Evangeliums. Das schließt das Gespräch im Kommunikations 2 Es herrscht in der Seelsorge derzeit kein Mangel an guter Grundlagen- Literatur. Auf die entsprechenden Titel wird an unterschiedlichen Stellen hingewiesen. Zu den schon erwähnten sei hinzugefügt: Michael Herbst, Beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2012. 8
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raum der Wissenschaften selbstverständlich nicht aus. In Isabelle Noths Beitrag geht es um einen Pionier dieses interdisziplinären Gesprächs: den Zürcher Pfarrer Oskar Pfister. Sein freundschaftlicher, fachlich fundierter wie erfahrungsbasierter Austausch mit Sigmund Freud ist grundlegend für die moderne Seelsorgelehre und illustriert auf eindrückliche Weise, wie erhellend das Einblenden der Theoriegeschichte sein kann. Der zweite Abschnitt behandelt Seelsorge in den Handlungsfeldern der Gemeinde: Seelsorge auf Besuch (Eberhard Hauschildt), mit Kindern und Jugendlichen (Bernd Beuscher), im Alten- und Pflegeheim (Michael Klessmann), mit älteren Menschen (Ralph Kunz), an Trauernden (Kerstin Lammer), bei Sterbenden und ihren Angehörigen (Traugott Roser), in Verbindung mit Kasualien (Dörte Gebhard) und in sozialen Medien (Ilona Nord). Die Auswahl dieser Handlungsfelder ist nicht vollständig, aber repräsentativ für das Versorgungssystem der Gemeinde. Die Entscheidung, die Institutionenseelsorge in diesem Buch nicht zu behandeln und einen Fokus auf die Gemeindeseelsorge zu legen, ist pragmatisch bedingt und kein Programm. Der Dienst der Seelsorge in Spitälern, Schulen, Gefängnissen und Heimen ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche in der Zivilgesellschaft. Wenn gegenwärtig im Zuge von Sparmaßnahmen die Kirchen Seelsorge in Institutionen zunehmend reduzieren, entstehen gravierende Versorgungslücken. Für die Seelsorge hat dies einschneidende Konsequenzen. Was in den letzten Jahren an Professionalität erreicht wurde, wird in Frage gestellt und das Gespräch mit anderen Berufen und Disziplinen erheblich beeinträchtigt. Michael Klessmann macht in seinem Beitrag auf die Problematik aufmerksam. Wenn am institutionellen Pol der Seelsorgepraxis eine problematische Entwicklung festgestellt werden muss, darf dies nicht dazu führen, die Chancen und Herausforderungen am gemeindlichen Pol aus dem Blick zu verlieren. Die Gemeinde als seelsorgliches System zu sehen, lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Ressource der Glaubensgemeinschaft, die, je mehr sie verloren geht, umso stärker (wieder) bewusst wird. Christian Möller ist einer der Pioniere der Wiederentdeckung des geweiteten Seelsorgeverständnisses. Seelsorge geschieht [auch] durch Predigt und Gottesdienst. In dieser Weitung kommen elementare Vollzüge der seelsorglichen Versorgung mit Seelsorge – Elementares zur Einleitung
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Begegnung zur Geltung. Das gilt auch für die Seelsorge in der geistlichen Begleitung, wie dies Corinna Dahlgrün in ihrem Beitrag darlegt. Die geistliche Begleitung ist – je nach Konzeption – eine Form von Seelsorge, die in der gemeinsamen Nachfolge Jesu praktiziert oder eine Form der gemeinsamen Nachfolge, die durch Seelsorge ergänzt wird. Die Begleitung von Menschen, die sich nicht (nur) als Empfänger einer Spiritual Care, sondern als Beteiligte an einer Spiritual Formation verstehen, ist auch ein Motto für die zukünftige Entwicklung der Disziplin.3 In den nächsten Jahrzehnten werden die Gemeinden als seelsorgliche Versorgungssysteme wichtiger werden. Die Gesellschaft ist auf Gruppen, Gremien und Gemeinschaften angewiesen, die dort einspringen, wo Not herrscht und Netzwerke bilden, in denen Ressourcen der Solidarität mobilisiert werden können. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde zu sehen, wie dies Christoph Morgenthaler vorschlägt, verändert die Perspektiven des Fachdiskurses und fordert diesen neu heraus.
3. Versorgung und Selbstbeteiligung Es ist sicher kein Zufall, dass in jüngster Zeit gerade zwei Monographien zur Gemeindeseelsorge erschienen sind. Das Thema ist aktuell.4 Dazu passt, dass in verschiedenen Beiträgen dieses Buches die Zuwendung zum Einzelnen da und dort als eine Tendenz zur Verengung der Seelsorge kritisch vermerkt wird. Eine partizipative Weitung des Ansatzes bietet sich an: sei es mit Blick auf die Selbstbeteiligung einer bestimmten Gruppe (Ralph Kunz), neue Formen der Selbstsorge in den sozialen Medien (Ilona Nord) oder in grundsätzlich seelsorgetheoretischer Perspektive (Wolfgang Drechsel). 3 Vgl. dazu auch Ralph Kunz, Ist Seelenführung Seelsorge? Geistliche Begleitung im Spannungsfeld von Psychagogik, Pädagogik und Mystagogik, in: Wolfgang Drechsel/Sabine Kast-Streib (Hg.), Seelsorge und Geistliche Begleitung. Innen- und Aussenperspektiven, Leipzig 2014, 37–59. 4 Eberhard Hauschildt, Ein Durchbruch für die Gemeindeseelsorge. Über die Bücher von Rolf Theobald und Wolfgang Drechsel, in: PTh 104, (2015), 237–254. Die beiden Werke: Rolf Theobald, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde. Mit einem Vorwort von Michael Klessmann, Neukirchen 2013 und Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. 10
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Problembewältigung und Krisenbearbeitung durch ein Hilfssystem stehen demnach für ein bestimmtes Paradigma der Seelsorge, das zwar unverzichtbar ist, aber nicht hinreichend definiert, was unter Seelsorge (auch) verstanden werden kann. Insbesondere dann, wenn Formen wie Nachbarschaftshilfe oder Besuchsgruppen mit in Betracht gezogen werden (Eberhard Hauschildt) und der Sozialraum der Gemeinde ins Blickfeld rückt (Michael Klessmann), sind partnerschaftliche und partizipative Ansätze gefragt. Die unterschiedlichen Präpositionen in den Titeln der Beiträge weisen auf die multilaterale und multidimensionale Variabilität der Seelsorge hin, die einmal »an« und dann »mit«, »bei« oder »in« Beziehungskontexten in Erscheinung tritt. Solche Weitung der Bezüge und Beziehungen bestreitet nicht, dass die Krisenintervention ein wichtiges Thema der professionell verantworteten und geübten Seelsorge bleibt. Sie öffnet aber die Wahrnehmung für das, was zwischen zwei, drei oder mehr Menschen geschieht, die miteinander seelsorglich unterwegs sind. Wenn Seelsorge allgemein »als Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung« zu verstehen ist und »im besonderen […] als die Bearbeitung von Konflikten unter einer spezifischen Voraussetzung«5, ist klar, dass zur Aufgabe der Seelsorgetheorie gehört, beide Bezüge zu bedenken und aufeinander zu beziehen und in diesem weiten Sinne sowohl für das Alltägliche wie für das Konflikt- und Krisenhafte – wie es in jeder Lebenssituation auftauchen kann – sensibel zu bleiben. Die Weitung könnte mit Blick auf die Gemeinde auch einen Wechsel der Perspektiven bedeuten, wenn dadurch eine verengte Ekklesiologie abgelöst und ein (altes) Versprechen eingelöst wird. Denn auch das Verständnis der Gemeinde wird geweitet. Sie wird als Sozialraum nicht nur religiös definiert – also als pastorales Arbeitsfeld begriffen, auf dem kompetentes Personal ein bestimmtes Klientel mit seelsorglichen Dienstleistungen versorgt! Wird die Gemeinde als »actuoses Subjekt«6 verstanden, tritt sie auch selber als fürsorgliche Akteurin in Erscheinung. 5 Klaus Winkler, Seelsorge, Berlin/New York 1997, 3. 6 Vgl. Carl Immanuel Nitzsch, Praktische Theologie, Bd. 1: Einleitung und erstes Buch. Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens, Bonn 1847, 110. Versorgung mit Seelsorge – Elementares zur Einleitung
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Das heisst aber, dass sowohl die Versorgung als auch die Beteiligung der in der Seelsorge involvierten Menschen wechselseitig aufeinander bezogen und nicht als sich ausschliessende Optionen zu interpretieren sind.
4. Grenzen der pastoralen und Herausforderungen der gemeindlichen Seelsorge Das macht den Reiz und die Würze des Elementaren aus: dass im kritischen Rückgang auf die Grundlagen der Theorie und der konzentrierten Darstellung der Handlungsfelder auch die neuen Herausforderungen der Seelsorge schärfer zu Tage treten. Ein kurzer Schlagabtausch mit dem Übervater der Praktischen Theologie, Friedrich D. E. Schleiermacher, macht dies anschaulich. Seine Entscheidung, Seelsorge im Sinne einer Zuwendung zum Einzelnen als Bestandteil der pastoralen Praxistheorie zu verstehen, gehört zu den Grundannahmen der Disziplin. Schleiermacher setzt bei der Mündigkeit des Subjekts an, wie er sie in der evange lischen Freiheit begründet sieht. Das Gemeindeglied steht in unmittelbarem Verhältniß zu dem gött lichen Wort, kann sich aus demselben selber berathen und kann zu seinem Verständnis des göttlichen Wortes und seiner Subsumtion der einzelnen Fälle unter die in dem göttlichen Wort gegebenen Regeln, Vertrauen haben.7
Seelsorge als pastorale Zuwendung kommt in dieser Konzeption erst dann ins Spiel, wenn Krisen die Selbstformation und Selbstdirektion der Gläubigen behindern. Das ist dann der Fall, wenn die Erziehung und die darstellende Mitteilung im Gottesdienst keine Wirkung mehr zeigen und ein Gemeindeglied »aus der Identität mit der Gemeine gefallen«8 ist. Das Ziel einer seelsorglichen Intervention ist die Aufhebung der Störung und die Rückführung in die Gemeinde durch Wieder 7 Friedrich D. E. Schleiermacher, Praktische Theologie, hg. von Jacob Frerichs, Berlin 1850, 43. 8 Ebd. 459. 12
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herstellung der Mündigkeit auf Basis der geistigen Freiheit des Christen. Die Führung des Geistlichen ist letztlich eine Rückführung des Gemeindeglieds zu den Quellen der Selbstsorge und Seelsorge eine Form der Krisenintervention, die Seelsorge (wieder) überflüssig macht. Daraus entsteht der Kanon: überall, wo solche Anforderungen an den Geistlichen geschieht, hat er sie dazu zu benutzen die geistige Freiheit des Gemeindeglieds zu erhöhen und ihm eine solche Klarheit zu geben, dass jene Anforderungen nicht mehr in ihm entstehen.9
Das Verständnis von Seelsorge als Handlung am angefochtenen Einzelnen darf zu Recht als klassische Umschreibung des seelsorglichen Handelns gelten. Schleiermacher macht aber mit der Voraussetzung des mündigen Subjekts und der »religiösen Circulation« in der Gemeinde zwei Voraussetzungen, die Seelsorge auch als gegenseitige Fürsorge der mündigen Gemeindeglieder sehen lassen! Diese Fürsorge ist aber ein permanentes Geschehen und nicht auf ihre Aufhebung hin konzipiert. Denn ihr Hintergrund ist nicht ein »Problem«, sondern das gemeinschaftliche Leben. Spätestens dann, wenn chronische Belastungen im Spiel sind, lässt sich Seelsorge nicht nur als Aufgabe der Rückführung begreifen, die einem Amt auferlegt wird. Seelsorge als gemeinsam gelebte und geübte Begleitung ist die elementare Form der Nächstenliebe im Miteinander der Gemeinde. Dass in der Kirche pastoral gehandelt wird, ist also eine richtige, aber keinesfalls hinreichende ekklesiologische Einsicht. Daran erinnert der Schüler des Lehrers, Carl Immanuel Nitzsch mit der schon zitierten Formel »actuoses Subject«. Nitzsch betont mit ihr die vermittelnde Rolle der Kirche für den Glauben. Denn so wie das Reich Gottes sich in Christus zur Kirche und durch diese vermittelt, vermittelt sich christliches Leben zum kirchlichen durch dasselbe. Die kirchliche Ausübung ist diejenige, durch welche sich der christliche Glaube in und an der Menschenwelt bestätigt, oder die christliche Gemeinde als solche teils begründet, teils vervollkommnet wird, also ein Inbegriff von Tätigkeiten, welche auf Über-
9 Ebd. Versorgung mit Seelsorge – Elementares zur Einleitung
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lieferung und Verbreitung, Zueignung und Ausbildung des Christentums gerichtet sind.10
Die wichtigste Konsequenz dieser Grundlegung ist die stärkere Stellung der Kirche vor dem religiösen Individuum. Nitzsch sagt es so: »Das Subjekt der kirchlichen Ausübung des Christentums ist der ersten Potenz nach weder der einzelne Christ als solcher noch der Kleriker, sondern eben die Kirche.«11
4. Tolle lege Der Rückblick auf die beiden Klassiker leitet über zum Ausblick auf zukünftige Herausforderungen der Gemeindeseelsorge. Den Leserinnen und Lesern, die diesen Band für die Examensvorbereitung konsultieren, wird ans Herz gelegt, sich darauf einzulassen und sich zusammen mit den Gemeindegliedern auf den Weg zur seelsorglichen Gemeinde zu machen. Die elementare Einführung hat dann ihren Zweck erfüllt, wenn sie Mut macht, Seelsorge im Vollzug zu lernen und gleichzeitig die Lust weckt, sich weiterzubilden und den Fachdiskurs intensiv zu verfolgen. In diesem Sinne wünscht der Herausgeber zusammen mit den Autorinnen und Autoren eine fruchtbare Lektüre und ruft – um einem anderen Klassiker zu zitieren – tolle lege!
10 Nitzsch, Praktische Theologie, 12 f. 11 Ebd., 22. 14
Ralph Kunz
Wolfgang Drechsel
Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
1. Annäherung an das Seelsorgelernen Wer Seelsorge in Ausbildung und Fortbildung lernen will, ist herausgefordert. Heraus-gefordert im wahrsten Sinne des Wortes: Heraus aus den Sicherheiten theologischer und seelsorgetheo retischer Kenntnisse. Heraus aus der Selbstverständlichkeit des Wissens um die eigene Person. Er ist herausgefordert, sich einzulassen auf eine Praxis der Seelsorge, in der es um unmittelbare Begegnung mit fremden Menschen geht. Mit Menschen, die nicht nach dem eigenen Bilde formbar sind, sondern ihre Lebendigkeit, ihr ganz Eigenes in die Begegnung einbringen und allein dadurch nicht selten die bisherigen Vorstellungen von Seelsorge durcheinanderbringen, ja sogar den Seelsorger, die Seelsorgerin in ihrem Selbstverständnis, und d. h. immer auch als Person, in Frage stellen können. Wer Seelsorge lernen will, der lässt sich darauf ein, in der Ungesichertheit der Praxis eigene Seelsorge-Erfahrungen zu sammeln, diese anschließend – im Nachhinein und zumeist im Rahmen einer Gruppe – zu reflektieren, um dann, bereichert durch neues Verstehen und Selbst-Verstehen, sich immer wieder neu auf die Praxis einzulassen. So ist Seelsorge-Lernen ein Wagnis, ein Abenteuer: Selber Seelsorger, Seelsorgerin zu sein – mitten im Leben – unter der Bedingung, bereits das zu tun, was man eigentlich erst erlernen will (und soll). Sich einzulassen auf einen Prozess, der viel mit Exponiertsein und Unsicherheit zu tun hat, der aber gerade dadurch auch ungemein bereichernd und lebendig ist: In der konkreten Seelsorgebegegnung selbst, in der Reflexion eigener und fremder Seelsorgeerfahrungen und im Entwickeln einer eigenen, Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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person- und praxisadäquaten Vorstellung von dem, was Seelsorge denn eigentlich ist. Eine solche strukturelle Offenheit des Seelsorge-Lernens im Sinne eines »Sich der Praxis Stellens und Aussetzens« steht zuerst einmal im Gegensatz zur gewohnten Art des Lernens im Sinne der Aneignung und reflexiven Verarbeitung von Lesestoff. Dies löst bei den Lernenden Unsicherheit aus, mobilisiert Ängste und somit immer auch ein Bedürfnis, doch irgendwie gewappnet sein zu wollen gegenüber all dem, was einem da begegnen kann. So ist es nicht zufällig, dass gerade in den Anfangssituationen des Seelsorge-Lernens immer wieder ein Bedürfnis auftaucht nach Rezepten und Konzepten, die man im klassischen Stil erlesen und erlernen kann und die Sicherheit geben im Reden und Handeln. Das Problem ist dann aber: So angeeignete Rezepte sind in der Praxis damit konfrontiert, dass sich das Gegenüber nicht an die entsprechenden Rezepte hält. Und wer damit beschäftigt ist, wie er eine spezifische Methode »an den Mann« bringen kann (sei dies nun eine zirkuläre Frage oder die Suche nach einem biblischen Text), verliert nicht selten das aus den Augen, was das Gegenüber gerade sagt. Denn alle unmittelbaren Anwendungen von Konzepten aus der Seelsorgelehre setzen in der Praxis so etwas wie eine stimmige personale Aneignung derselben durch den Seelsorger, die Seelsorgerin voraus. Wenn also das Seelsorgelernen zuerst einmal durch eine Abgrenzung bestimmt ist gegenüber Konzepten der Seelsorgelehre – Abgrenzung im Sinne ihrer vorschnellen Inanspruchnahme als Ausdruck eines Sicherheitsbedürfnisses, das nur zu schnell Gefahr läuft, den Kontakt, ja die Gesprächsbeziehung selbst zu verlieren –, welche Rolle spielen dann diese Konzepte im Seelsorgelernen? Welche Funktion haben sie und welche Bedeutung kommt ihnen zu, gerade im Kontext der ungesichertenSeelsorgepraxis?
2. Konzepte auf der Ebene des unmittelbaren Seelsorgelernens Gegenüber dem immer wieder auftauchenden Verständnis von Seelsorgekonzepten im Sinne einer konkreten Vorgabe als Handlungsanleitung, ist festzuhalten: Konzepte in Seelsorge und Seel16
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sorgelehre sind deutlich komplexer als es der erste Eindruck vermittelt. Und sie sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, die ihre je eigene Bedeutung für die Praxis haben. So ist als erstes festzuhalten: Die oben beschriebene Weise des Seelsorgelernens ist selbst bereits Ausdruck eines Konzeptes. Sie ist Ausdruck des – im deutschsprachigen kirchlichen Raum – wohl gängigsten und von allen Ausbildungsinstitutionen geteilten Konzepts der Seelsorgelehre, wonach der Zugang zu eigenem seelsorglichen Handeln nicht durch das Lesen von Büchern erlernt werden kann, sondern dass sie exemplarisch, im Blick auf die individuelle Person des Seelsorgers, der eigenen Erfahrung (als Seelsorgeerfahrung und Selbsterfahrung) sowie der Reflexion derselben bedarf. Dabei ist dieses Konzept, trotz seiner in der Gegenwart allgemeinen Akzeptanz, nicht selbstverständlich: Erst in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt der Gedanke eine Rolle zu spielen, dass Seelsorge nicht nur eine amtsbezogene Geistesgabe ist, sondern auch gelehrt, und d. h. eingeübt und erlernt werden kann.1 D. h. seit der empirischen Wende der Theologie und ihrem Paradigmenwechsel hin zur Erfahrungsbezogenheit hat sich mit der Seelsorgebewegung, die mit Ziemer im Wesentlichen als eine Seelsorgeausbildungsbewegung verstanden werden kann,2 ein grundlegendes Konzept des Seelsorgelernens durchgesetzt, das durch die drei Topoi: –– Seelsorgetheorie –– Person (Selbsterfahrung) –– eigene Praxis in ihrem wechselseitigen, prozessorientierten Bedingungszusammenhang symbolisiert wird. Dies findet in der gängigen Formu lierung des »learning by doing« seinen exemplarischen Ausdruck.3 Dabei kann man davon ausgehen, dass ein solches »learning by doing« nicht, wie gerne postuliert, gänzlich theoriefrei ist, son1 Exemplarisch im Aufsatz von Alfred Dedo Müller, Ist Seelsorge lehrbar?, in: Ernst Rüdiger Kiesow/Joachim Scharfenberg (Hg.), Forschung und Erfahrung im Dienst der Seelsorge, FS Otto Haendler, Göttingen 1961, 71–79. 2 Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre, Göttingen 2000, 88. 3 Vgl. z. B. Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen 2008, 447 f. Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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dern dass gerade hier – verbunden mit dem jeweiligen Input »Seelsorgetheorie« – dem Lernenden auf vermittelte Weise ein ganz spezifisches Konzept der Seelsorgelehre begegnet. Ein Konzept im Sinne des klassischen Verständnisses der Seelsorgelehre: als ein Verstehensmodell, als Konzeption der Seelsorgetheorie, die einen umfassenden Theoriehintergrund von Seelsorge präsentiert und auf ein Verstehen und Gestalten von Seelsorgepraxis ausgerichtet ist. D. h. in der Reflexion (»learning«) ihrer Praxis (»doing«) in der Gruppe begegnen die Seelsorge Lernenden der Konzeption der Gruppenleiter, die die Lerngruppe organisieren und strukturieren und der Gruppe in ihrer personalen Vielfalt eine Hermeneutik zur Verfügung stellen, die individuelle Praxis (in Protokollund Fallbesprechung) neu wahrzunehmen und zu interpretieren, um so innerhalb eines in seiner theoretischen Grundlegung konsistenten Verstehensmodells das persönlich Erlebte im Sinne einer reflektierbaren Seelsorge-Erfahrung zu deuten. Insofern geschieht im »learning by doing« die Begegnung mit einer konkreten Seelsorgekonzeption, nun nicht im Sinne eines Sich-Anlesens als Theorie-Objekt, sondern als Begegnung mit einem hermeneutischen Rahmen, der nicht nur Anregung zu neuer Selbstdeutung ist, sondern eine Deutung der eigenen (und fremden) Praxis ermöglicht und, über die eigene Privatheit hinaus, gemeinsam geteilte (d. h. intersubjektive) Reflexion eröffnet, welche selbst wiederum in den Kontext des Theoriediskurses der Seelsorgelehre eingebunden ist. Hier wird deutlich, dass die Konzepte der Seelsorgelehre nicht als direkte Handlungsanleitungen verstanden werden können, sondern immer eingebunden sind in das Beziehungsgefüge »Person – eigene Praxis«. Dort haben sie ihren Ort als Perspektivveränderung, hermeneutischer Hintergrund, Verstehensmodell und Anleitung zur (Selbst-)Reflexion als wichtiges Element des Grundkonzepts »Seelsorge lernen«. Nun ist es im Allgemeinen so, dass die Seelsorge Lernenden vor allem im Ausbildungskontext (z. B. im Predigerseminar) sich im Allgemeinen nicht aussuchen können, auf welche derartige Konzeption sie sich einlassen. D. h. auch die erste, unmittelbare Begegnung mit einer Konzeption der Seelsorgelehre kann in Analogie verstanden werden zu einem unmittelbaren Sich-Einlassen 18
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auf die konkrete Praxis. Umso wichtiger ist dann aber, die auf der Ebene der Praxisreflexion unerlässliche Arbeit an der Selbstdistanz (im Sinne der Wahrnehmung, Deutung und Gewinnung von Handlungsfähigkeit in der unmittelbaren Seelsorgesituation) immer auch auszudehnen auf die Hintergrundarbeit an einer reflexiven, theoretischen Selbstdistanz. Diese ermöglicht es dann, die Konzeption auf die man sich im Lern-Modus eingelassen hat, im Kontext des Seelsorgetheoriediskurses zu verorten, sie in ihrem Verhältnis zu anderen Konzeptionen zu betrachten, um dann Entscheidungen zu treffen, welche Hintergrundtheorie in den weiteren Lernprozess Seelsorge als Deutungshorizont von Selbst- und Praxiserfahrung einbezogen werden soll.
3. Konzeptionen der Seelsorgelehre Auf der Ebene der Konzeptionen bietet dann der Seelsorgetheoriediskurs eine breitgefächerte Palette an verschiedensten Positionen,4 deren Pluralität es für jeden, der sich mit Seelsorge näher befasst, notwendig macht, Entscheidungen zu treffen: In welchem Verstehenszusammenhang siedle ich mich an? Welche Möglichkeiten und Grenzen hat diese spezifische Position? Auf der Theorieebene, aber auch im Blick auf eine mögliche Seelsorgepraxis? Ja, wie bestimmt das spezifische Konzept eine Antwort auf die Frage »Was ist Seelsorge?«. Auch auf dieser Theorieebene ist Seelsorge eine Heraus-forderung, sich seiner Entscheidung bewusst zu sein (und sie nicht nur den zufälligen biographischen Vorlieben und Gegebenheiten zu überlassen), sich auf eine partikulare Konzeption einzulassen und dennoch den Reflexionszusammenhang im Sinne einer Verhältnisbestimmung (»Wie ist das mit anderen Konzepten?« »Was bedeutet das für eine Vorstellung von Seelsorge insgesamt?« usw.) nicht zu verlieren. Dazu ein Beispiel, das diesen Herausforderungscharakter der Pluralität von Seelsorgekonzepten deutlich macht und angesiedelt 4 Einen Überblick bietet Doris Nauer, Seelsorgekonzepte im Widerstreit, Stuttgart 2001. Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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ist auf der Ebene der Anwendungspraxis, wie sie in der Gemeindeseelsorge immer wieder vorkommen kann: Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin kommt zum Pfarrer ins Amtszimmer. Sie hat einen ganz objektiven Grund: Eigentlich will sie nur mitteilen, dass sie als Ehrenamtliche aufhören will. Aber auf einmal verändert sich die Atmosphäre, die Gesprächsebene wechselt und fokussiert sich auf das Thema, warum ihr im Augenblick alles zu viel wird: Sie erzählt von ihrer kaum mehr erträglichen Situation zu Hause. Ihr wächst alles über den Kopf und die Ehe ist völlig verfahren. Der Pfarrer hört zu. Nun endet diese Beispielszene mit der offenen Formulierung »Der Pfarrer hört zu.« Einmal ganz abgesehen davon, dass auch das »nur Zuhören« (z. B. im Sinne von »Wahrnehmen und Annehmen«) bereits eine konzeptionelle Festlegung beinhaltet, wird spätestens dann, wenn der Pfarrer sich zu dieser Situation äußert (exemplarisch im Sinne eines Kontraktes für das weitere Gespräch) sichtbar, dass eine Entscheidung getroffen werden muss, in dem Sinne, was nun angesagt ist, was hier angemessene Seelsorge sei. Dabei steht der Pfarrer vor der Wahl einer spezifischen, konzeptionsbedingten Vorgehensweise, wie er das weitere Gespräch als seelsorgliches Gespräch führen will – falls eine solche Wahl nicht im persönlichen Vorfeld qua identifikatorischer Aneignung bereits getroffen worden ist. Und d. h. es geht um die Frage, was hier »richtige« Seelsorge ist. Und dies impliziert dann, dass andere mögliche Reaktionsweisen allein schon durch die konkrete Situation als »nicht richtig« ausgeschlossen werden. Der Pfarrer muss sich entscheiden:5 Nimmt er die Gelegenheit wahr, das Wort Got-
5 Das Interesse der folgenden Fragen gilt primär einer Veranschaulichung der faktischen Entscheidungssituation, die im Kontext der Anwendungspraxis durch das plurale Angebot von Seelsorgekonzeptionen entsteht. D. h. die Beschreibung der entsprechenden Konzeptionen bewegt sich – ohne Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit – auf der Ebene einer Vorstellungshaftigkeit des allgemeinen seelsorglichen Bewusstseins. Den Hintergrund bilden dabei die klassischen Konzeptionen der kerygmatischen, gesprächspsycho therapeutischen und psychoanalytischen Seelsorge, sowie die Konzeptionen von Chritoph Morgenthaler, Isolde Karle, Manfred Josuttis, Michael Herbst und – auf der Ebene personaler Positionalität – die Möglichkeit eines ganz eigenen, individuellen Seelsorgeverständnisses. Vgl. dazu exemplarisch 20
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tes auszurichten (in welcher Form auch immer)? Oder geht er auf den individuellen Konflikt ein, sei es im empathisch-sensiblen Fördern der verschütteten Gefühle, sei es auf der Basis der Wahrnehmung von Übertragung und Gegenübertragung in der Frage nach unbewussten Kindheitsmustern, die sich im Verhalten der Mitarbeiterin realisieren? Blickt er mit ihr auf das zerrüttete Familien- und Beziehungssystem, in das er nun einbezogen ist und stellt die entsprechenden zirkulären Fragen? Begegnet er der Frau mit Takt, Güte und sozialer Geschicklichkeit und ist sich dabei des kreativ störenden Charakters der religiösen Kommunikation bewusst? Nimmt er das Kreuz von der Wand seines Amtszimmers und macht einen Exorzismus, um die Mächte des Bösen zu vertreiben? Reagiert er auf eine Weise, in der all diese Perspektiven möglich sind, getragen von der Hoffnung auf den Kairos Gottes, der ihm den Weg zu einem tröstenden und lebendig machenden Wort der Heiligen Schrift weist? Oder sucht er nach einem ganz eigenen Weg, in dem sein persönliches Verständnis von Seelsorge zum Ausdruck kommt? Während also – um es einmal überspitzt zu sagen – in diesem Falle die Frau das Glück hat, »nur« mit ihrem Lebens-Problem beschäftigt zu sein, entsteht auf der Seite des Seelsorgers ein grundlegender Konflikt um die Gestaltung von Wirklichkeit und die Frage »Was ist eigentlich Seelsorge?« Spätestens dann, wenn er die Selbstverständlichkeit seiner bislang eingeübten Seelsorgekonzep tion im Blick auf einen möglichen Alleinvertretungsanspruch oder gar Glaubensanspruch hinterfragt und sich den pluralen und widerstreitenden Seelsorge-Deutungen stellt, muss er Entscheidungen treffen, was denn im Kontext unterschiedlicher und sich Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge (1946), Zürich 71994; Helga Lemke, Seelsorgerliche Gesprächsführung. Gespräche über Glauben, Schuld und Leiden, Stuttgart 1992; Joachim Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, Göttingen 31980; sowie Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 22000; Isolde Karle, Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen 1996; Manfred Josuttis, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Göttingen 2000; Michael Herbst, beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder einer evangelischen Seelsorge, Neukirchen 2012. Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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gegenseitig auch ausschließender Entwürfe seelsorglich für diese Frau richtig sei, im Sinne eines eminent beeinflussenden Beitrags zur Gestaltung ihrer Lebens-Wirklichkeit. Und eine solche Entscheidung wird nicht nur eine Vorstellung von Seelsorge bei der ehrenamtlichen Mitarbeiterin prägen, sondern von ihrer Realisierung her rückwirken auf das Seelsorgeverständnis des Seelsorgers selbst. Wird an einer solchen hypothetischen, im Sinne eines Hinweises auf eine reflexive Grundfigur aber exemplarischen Szene6 etwas von der Herausforderung deutlich, vor die die Vielgestaltigkeit von Seelsorgekonzepten den Seelsorger, die Seelsorgerin stellt, so mag zugleich deutlich werden, wie grundlegend die gängigen Konzepte der Seelsorgelehre differieren können und wie unterschiedlich in ihnen die Frage »Was ist Seelsorge?« beantwortet wird. Um sich zu dieser Pluralität in ein reflexives Verhältnis setzen zu können, erscheint es dann aber sinnvoll, die Frage zu stellen: Lassen sich – über das Konstatieren einer allgemeinen Individualität, die den verschiedenen Positionen zugrunde liegt, hinaus – zumindest schwerpunktmäßig gemeinsame Themen, Fragestellungen bzw. Strukturen heben, die das Feld der pluralen Konzepte der Seelsorgelehre prägen und gestalten? Im Sinne einer grundlegenden Orientierung, die einen Rahmen bietet, das eigene Interesse an einem spezifischen Konzept zumindest zu verorten bzw. innerhalb dessen sich die Arbeit an einem persönlichen Seelsorgekonzept bewusst positionieren kann? Auch wenn im vorliegenden Rahmen einem solchen Vorhaben deutliche Grenzen gesetzt sind und nur auf einige Grundstrukturen Bezug genommen werden kann, seien hier zumindest einige Perspektiven benannt. 6 Im konkreten Praxisfall dürfte in der Regel, im Rückgriff auf eine bereits vertraute Perspektive, zumeist mehr oder weniger unmittelbar reagiert werden. Dabei ist eine entsprechende Entscheidungssituation allerdings immer schon vorausgesetzt, selbst dann wenn die jeweilige Konzeption quasi unbewusst im Kontext des Seelsorgelernens identifikatorisch angeeignet worden ist. Insofern kann das genannte Beispiel als Hinweis verstanden werden auf eine reflexive Grundfigur, die in jedem Sich-Einlassen auf Seelsorge allein durch die Vielfalt der Möglichkeiten immer schon mitgesetzt ist. 22
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Grundsätzlich lässt sich festhalten: Seit der empirischen Wende der Praktischen Theologie, und damit auch der Seelsorgelehre, ist eine rein theologische Konstruktion von Seelsorge, wie sie exemplarisch in der Konzeption von Eduard Thurneysen zum Ausdruck kommt, nicht mehr möglich. Trotz vieler Einwände, die man gegenüber einer grundsätzlich negativen Stilisierung von Thurneysen durch die Seelsorgebewegung haben kann, bedarf doch die Ausrichtung auf eine (mögliche) Praxis jeder Konzeption von Seelsorge grundsätzlich eines empirisch verifizierbaren Verständnisses derjenigen Handlungsbereiche, in denen Seelsorge sich vollzieht. Sie bleibt sonst im rein theologischen Postulat, dessen Umsetzungspraxis nicht weiter reflektiert wird.7 Historisch zeigt sich dies im Kontext der Seelsorgebewegung auf exemplarische Weise in der Entdeckung verschiedener Psychotherapieformen als praxisbezogene Grundlage für die Seelsorge: Sei es, um nur einige Beispiele zu nennen, als »gesprächspsychotherapeutische Seelsorge«, sei es als »psychoanalytische Seelsorge«, sei es später als »systemische Seelsorge«.8 D. h. erst unter Einbeziehung eines auf konkretes zwischenmenschliches Geschehen bezogenen therapeutischen Konzeptes kann aus dieser Perspektive Seelsorge im Sinne eines praxisnahen Modells begriffen werden, das sowohl das Gegenüber, die Beziehung, wie auch den Seelsorger selbst umfasst und so konkrete Praxis eröffnet. Da aber unterschiedlichste Zugänge zur Lebenswirklichkeit der Seelsorgepraxis möglich sind, ist im Laufe der Zeit die Anzahl der »adjektivischen Seelsorgen« nicht auf einige exemplarische thera7 In diesem Sinne betont Klaus Raschzok zurecht, dass Thurneysens Seelsorgelehre eine »theologische Programmschrift« im Sinne einer Wahrnehmungshilfe ist, und »keine Anleitung zum methodischen Vollzug der Seelsorge«. In seiner Hervorhebung der Unangemessenheit einer Thurneysenlektüre aus methodischer und handlungswissenschaftlicher Perspektive durch die Seelsorgebewegung muss er dann aber auch zugestehen, dass Thurneysen selbst zu dieser »Anlass gibt, vor allem durch seine Kompetenzüberschreitungen und falschen Fährten, die er […] durch seine ›Fallbeispiele‹ gelegt hat.« Vgl. Klaus Raschzok, Ein theologisches Programm zur Praxis der Kirche. Die Bedeutung des Werkes Eduard Thurneysens für eine gegenwärtig zu verantwortende Praktische Theologie, ThLZ 120, 1995, 299–312, 308 und 311. 8 Klassisch z. B. in den Konzepten von Helga Lemke/Joachim Scharfenberg/ Christoph Morgenthaler (vgl. Anm.5). Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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peutische Konzeptionen und ihre »Fremdprophetie«9 für die Seelsorge bzw. Theologie beschränkt geblieben, sondern hat sich immens ausgeweitet. Kriterium ist jeweils der spezifische Fokus, von dem her und auf den hin, die Lebenswirklichkeit der Seelsorge betrachtet wird. Sei es z. B. eine religionsphänomenologische Perspektive (wie bei Manfred Josuttis), sei es eine eher evangelikal geprägte, biblisch orientierte Perspektive (wie bei Michal Herbst), sei es eine ressourcenorientiert, salutogenetische Perspektive (wie bei Heike Schneidereith-Maut).10 Ein jedes solches Seelsorge-Konzept bietet ein (mehr oder weniger) geschlossenes und reflektiertes Modell, Seelsorge aus einer spezifischen Sicht zu betrachten, die sowohl den theoretischen Hintergrund wie auch die Reflexion möglicher Anwendungs praxis umfasst. Wenn dabei auf eine (zuerst einmal) theologiefremde Lebenswissenschaft zurückgegriffen wird, stellt sich dann die Frage, wie die derselben zugrundeliegende Anthropologie bzw. ihr Wirklichkeitsverständnis mit der Theologie vereinbart werde kann. Und umgekehrt: Wenn als Basis auf eine genuin theologische Grundlage Bezug genommen wird, ist sie genötigt zu bestimmen, in welchem Verhältnis diese zur möglichen Anwendungspraxis steht, die wiederum nicht ohne Fremdperspektiven auskommt. D. h. jede Seelsorgekonzeption präsentiert eine Entscheidung für eine spezifische Sicht der Wirklichkeit und gestaltet in ihrer Anwendung selbst wiederum Wirklichkeit. Diese perspektivische Fokussierung in ihrer Ausrichtung auf Theorie und Praxis, Theologie und nichttheologische Wissenschaft bzw. Konzeption beinhaltet immer eine konkrete Positionalität auf der Theorieebene, die in Analogie gesehen werden kann zur Positionalität des konkreten Seelsorgers in der unmittelbaren Seelsorgesituation. Nicht 9 Um hier einen Ausdruck Scharfenbergs zu verwenden, den dieser auf die Psychoanalyse bezieht. Vgl. z. B. Joachim Scharfenberg, Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit. Gesammelte Beiträge zur Korrelation von Psychoanalyse und Theologie, Hamburg 1972, 80. 10 Manfred Josuttis, Energetische Seelsorge; Michael Herbst, beziehungsweise (beide vgl. Anm. 5) und Heike Schneidereith-Maut, Ressourcenorientierte Seelsorge. Salutogenese als Modell für seelsorgerliches Handeln, Gütersloh 2015. 24
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selten ist allerdings diese Positionalität verbunden mit einem Anspruch, das »Eigentliche der Seelsorge« zu repräsentieren. Diese Positionalität der Konzepte in ihrer Differenz macht den Reiz des Seelsorgediskurses aus und eröffnet seine Vielgestaltigkeit als pluriformes Angebot, Seelsorge zu verstehen und entsprechend seelsorglich zu handeln. Dabei lassen sich verschiedene Grundperspektiven von Konzepten der Seelsorgelehre unterscheiden: 1. Die Ausrichtung auf Beziehung und Kommunikation: Da Seelsorge als konkretes zwischenmenschliches und im weitesten Sinne förderliches Geschehen eines Verständnisses von Kommunikation und Beziehung bedarf, dürfte es nicht zufällig sein, dass mit der Seelsorgebewegung zuerst einmal dieses Thema im Vordergrund stand (in der Fokussierung auf unterschiedlichste Psychotherapiemodelle, die auch weiterhin Seelsorgekonzeptionen prägen und gestalten). Exemplarisch wird dies in der psychoanalytischen, an Melanie Klein und Wilfried Bion orientierten Position von Wolfgang Wiedemann oder in der gegenwärtigen Konjunktur der systemischen Perspektive, wie sie in verschiedensten Veröffentlichungen wie z. B. der von Karin Tschanz Cooke zum Ausdruck kommt.11 Als repräsentativ für eine mehrperspektivische Sicht der Beziehungs- und Kommunkationsebene kann dabei das Lehrbuch von Christoph Morgenthaler gelten, dem es gelingt, das psychoanalytische und systemische Verstehen in einem Seelsorgekonzept zu verbinden.12 2. Die Ausrichtung auf die Kontexte bzw. Räume der Seelsorge: In den letzten zwanzig Jahren beginnt ein deutliches Interesse zu wachsen, die konkreten Gestalten kirchlicher Seelsorge nicht nur von ihrer allgemeinen Beziehungsorientierung her zu betrachten, sondern die Auswirkungen des spezifischen Kontextes, der konkreten Situation auf die Frage Was ist hier eigentlich Seelsorge? zum Thema seelsorglicher Konzepte zu machen. 11 Vgl. Wolfgang Wiedemann, Keine Angst vor der Seelsorge. Praktische Hilfen für Haupt- und Ehrenamtliche, Göttingen 2009; Karin Tschanz Cooke, Hoffnungsorientierte systemische Seelsorge. Die Familientherapie Virginia Satirs in der Seelsorgepraxis, Stuttgart 2013. 12 Christoph Morgenthaler, Seelsorge, Gütersloh 2009. Seelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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Um nur einige Beispiele zu nennen sei auf die Alltagsseelsorge (Hausschild), die Altenseelsorge (Praktische Theologie des Alterns), die Notfallseelsorge (Zippert) oder die Gemeindeseelsorge (Drechsel) verwiesen.13 3. Die Ausrichtung auf die geistliche Dimension (Frömmigkeit/ Spiritualität): Nachdem lange Zeit die Frage nach dem christlichen Hintergrund in der Seelsorgetheorie eine eher geringe Rolle gespielt hat, finden sich in den letzten Jahren Konzepte, die von der Fokussierung auf die geistliche Dimension der Seelsorge ausgehen und zugleich darum bemüht sind, die Beziehungsorientierung der Seelsorge im Blick zu behalten. Eine Vorreiterrolle hatte hier P. Bukowskis »Die Bibel ins Gespräch bringen« von 1984. Für die Gegenwart ist hier die eher evangelikale Position von Michael Herbst zu nennen, oder auch das Bemühen hervorzuheben, die Geistliche Begleitung im Seelsorgekontext zu verorten.14 Sind damit die drei Schwerpunktperspektiven benannt, so sei zumindest hingewiesen auf eine Vielzahl an einzelnen Konzeptionen, die sich auf unterschiedliche Weise mit thematischen Einzelbereichen der Seelsorge beschäftigen, und dadurch von vornherein auf einen konkreten Schwerpunkt abzielen, wie z. B. die biographische Seelsorge, die Seelsorge an Dementen, oder die sehr punktuelle Ausrichtung auf die Fünf-Minuten-Begegnung.15 13 Vgl. Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Studie des pastoralen Geburtstagsbesuchs, Göttingen 1996; Thomas Klie/Martina Kumlehn/Ralph Kunz (Hg.), Praktische Theologie des Alterns, Berlin 2009; Thomas Zippert, Notfallseelsorge. Grundlegungen – Orientierungen – Erfahrungen, Heidelberg 2006; Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. 14 Vgl. Peter Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen 1994; Michael Herbst, beziehungsweise (vgl. Anm. 5); Wolfgang Drechsel/Sabine Kast-Streib (Hg.), Seelsorge und Geistliche Begleitung. Innen- und Außenperspektiven, Leipzig 2014. 15 Vgl. Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten. Zugänge zur Seelsorge aus biographischer Perspektive, Gütersloh 2002; LenaKatharina Roy, Demenz in Theologie und Seelsorge, Berlin 2013; Timm Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung, Göttingen 2008. 26
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Während sich nun die letztgenannten, wie auch die kontextorientierten Konzepte allein durch ihre Konzentration auf einen konkreten Bereich der Seelsorge, deutlich ein begrenztes Feld möglichen seelsorglichen Handelns aufzeigen, zeigt sich auf der Beziehungsebene bzw. der Ebene der geistlichen Grundlegung nicht selten eine mehr oder weniger ausgesprochene Tendenz, das eigene Konzept zur »Mitte des Seelsorgediskurses« und damit zur »eigentlichen Seelsorge« zu erklären.
4. Konsequenzen für das Seelsorgelernen Über alle unmittelbare Begegnung mit dem Konzept des Seelsorgelernens und der Konzeption der Leiter der Lerngruppe hinaus gilt es, die eigene Seelsorgeerfahrung reflexiv im Kontext der gängigen Seelsorgekonzeptionen zu verorten und bei aller notwendigen Positionierung den Blick auf andere Theorie- bzw. Praxis zugänge zur Seelsorge nicht zu verlieren. Hier können Seelsorgekonzeptionen als Angebote verstanden werden, die einen hermeneutischen Hintergrund für das weitere Seelsorgelernen (als Strukturierung der Praxis wie auch in der Anregung zur Selbstreflexion) bieten und zugleich einen reflexiven Rahmen dieses Geschehens aufzeigen. Eine entsprechende Entscheidung für eine Konzeption, die dann das weitere Seelsorgelernen begleiten kann, wird dabei sicher an persönlichen Einstellungen und Vorlieben andocken. Wenn dabei der Blick auf die anderen (möglicherweise der eigenen widersprechenden) Seelsorgekonzeptionen in ihrer Pluralität nicht ausgeblendet wird, erhält dieser eine wichtige Funktion: Er dient zur Wahrung einer kritischen und selbstkritischen Distanz, die eine unmittelbare Identifikation mit der gewählten Konzeption und der ihr (möglicherweise) innewohnenden Normativität verhindert und mögliche andere Perspektiven eher ausblendet. So kann die grundsätzliche Offenheit des eigenen Seelsorge-Lernprozesses gewahrt bleiben. Insofern ist ein solches Entscheiden immer auch verbunden mit einem bewussten Sich-Einlassen auf eine konkrete Perspektive, die um die Positionalität und damit auch Begrenztheit dieser PerspekSeelsorge-Lernen und Konzepte der Seelsorgelehre
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tive weiß. Gerade hier liegt das kritische und konstruktive Potenzial des Blicks auf die Pluralität der Konzepte der Seelsorgelehre. Wer also Seelsorge lernen will, kann davon ausgehen: In jedem konkreten Seelsorgegespräch kommt, zumindest implizit, ein ganzes Seelsorgekonzept zum Ausdruck. Wenn man das, was da geschehen ist, in seinen theoretischen Konsequenzen zu Ende denkt, zeigt sich allerdings fast immer eine Fülle an offenen Fragen, Unklarheiten und Zufälligkeiten. Insofern ist Seelsorgelernen in seiner Verbindung von eigener Person, eigener Praxis und Theorie darauf ausgerichtet, im Laufe eines solchen Lernprozesses auf ein in sich konsistentes (und zumindest für den Augenblick) stimmiges Konzept hinzuarbeiten. Um dann allerdings nicht in der reinen Privatheit zu verbleiben, bedarf dieses selbst entwickelte, eigene Konzept immer wieder neu der Rückbindung an die kollektive Theoriebildung der Seelsorgelehre. Insofern haben die Konzeptionen der Seelsorgelehre immer eine doppelte Funktion: Als Strukturhilfen des Prozesses eigenen Seelsorgelernens, auf ein persönliches Seelsorge konzept hin, und als Instanzen, die in ihrem kritischen und konstruktiven Potenzial das je eigene Seelsorgekonzept immer wieder neu anregen, die eigene Position zu überdenken und in eine neue Perspektive zu stellen. Auf diese Weise kann sich das eigene Konzept im kollektiv geteilten praktisch-theologischen Theoriekontext verorten – auf neue Praxis hin.
Literatur zum Seelsorgelernen: Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen 2008, 446–468. zu den Konzeptionen: Doris Nauer, Seelsorgekonzepte im Widerstreit, Stuttgart 2001.
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Theologie der Seelsorge1
1. Die Praxis der Seelsorge und die Aufgabe einer elementaren Theologie Eine elementare Theorie hat die Grundlagen eines Arbeitsfeldes im Hinblick auf die beteiligten Menschen und in Bezug auf die gesellschaftliche und institutionelle Umgebung ihres Miteinanders zu umreißen. Handelt es sich dabei um Begegnungen und Gespräche im Bereich des christlichen Glaubens, so ist eine theologisch elementare Theorie gefragt. Christliche Theologie ist die Reflexion des Glaubens an den in Christus erschlossenen dreieinigen Gott. Da die gesamte Poimenik eine theologische Theorie ist, handelt es sich bei einer elementaren Theologie der Seelsorge um ein literarisch künstliches Unterfangen, das etwas isoliert, was sonst verwoben in das Leben begegnet. Normalerweise ergeben sich theologische Fragen im Hinblick auf einen Geburtstagsbesuch, eine Eheberatung oder eine Sterbebegleitung. Denn der Glaube der beteiligten Menschen ist biographisch konkret. Gleichzeitig aber ist er dem professionellen Zugriff des Seelsorgers mehr oder weniger entzogen und bleibt verborgen. Auf jeden Fall ist der Glaube auf Lebensgeschichten bezogen, so dass die Theologie nicht in der Gefahr steht, im Referenzsystem ihrer eigenen Traditionen und Begrifflichkeiten zu verbleiben. Die Handlungsfelder der Praktischen Theologie sind dabei weniger gefährdet als die Systematische Theologie.
1 Gekürzte und für den Zweck dieses Buches überarbeitete Neufassung meines Artikels: Theologische Implikationen der Seelsorge, in: Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2007, 19–33 [32016]. Theologie der Seelsorge
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Andererseits ist auch die praktische Disziplin der Theologie gehalten, die notwendigen begrifflichen Unterscheidungen aus der biblischen und dogmatischen Tradition auf das Handeln zu beziehen. Auch ist es hilfreich, die kirchenhistorischen Entwicklungen präsent zu halten. So ist die heutige Seelsorge ohne die Entwicklungen der Erweckung, des Historismus und des modernen Individualismus seit dem 19. Jahrhundert nicht zu verstehen. Die Theologie insgesamt kann man am besten als eine elementare Unterscheidungslehre verstehen. Das leuchtet im Hinblick auf die Seelsorge sofort ein: Der Mensch kommt im Leben an physische und psychische Grenzen, an die Grenzen seines Denkens und Handelns und schließlich an die Grenze seiner Zeit. Im Glauben unterscheiden wir das eigene Handeln vom Handeln Gottes, unsere Verantwortlichkeit von unserer Abhängigkeit, unsere Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen von unserem Gebet für diese Menschen. Die dogmatische Lehrbildung erfasst solche Denkfiguren als Variationen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Dabei geht es immer um das Menschenmögliche einerseits und das Loslassen aller Möglichkeiten andererseits. Diese theologische Unterscheidung ist in der Beratung und Begleitung von Menschen in der Seelsorge immer wieder gefragt – sie ist theologisch elementar. Sie begegnet in der – schon durch die Verbindung zur Gemeinde bzw. durch das kirchliche Amt – implizit virulenten Frage, ob und auf welche Weise denn »der liebe Gott« ins Spiel kommt oder nicht. Von besonderer Bedeutung ist auch die Frage, ob das Spezifische des christlichen Gottes, des menschgewordenen Gottes eine Rolle spielt, religiös formuliert: welche Rolle der Name Jesu für die Praxis und Theorie der Seelsorge spielt. Das poimenisch elementare Thema des »Propriums« der Seelsorge ist primär keines der Ratsuchenden, wohl aber eines der Seelsorger. Es umschreibt ihre Professionalität und Identität. Für die Pfarrerin und den Pfarrer ist eine eigene theologische Seel sorgetheorie eine elementare Frage. Ihnen dient die theologische Unterscheidung dazu, sich klar zu werden, was denn jeweils der Fall ist. Je theologisch präziser und elementarer man zu unterscheiden weiß, desto eher kann man auf die religiösen Bedürfnisse der Menschen reagieren. 30
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Die elementare christliche Religion ist das Interesse der Klienten, die elementare Theologie ist die Profession der Seelsorger, um sich in der Religion der Menschen orientieren zu können. Die Theologie dient aber auch umgekehrt dazu, die Religion der Menschen anregen zu können. An dieser Stelle liegt das Recht der »verkündigenden« und »biblischen« Konzeptionen von Seelsorge. Die Theologin bringt als Seelsorgerin Aspekte zur Sprache, die eine Situation in unerwarteter Weise verändern können – man denke nur an Ps 139,14a im Hinblick auf die Seelsorge an Menschen mit Depressionen und gefährdeter Selbstachtung. Dieses verändernde, lebendige und nicht planbare Element der Seelsorge ist in der Seelsorgetheorie – in einer missverständlichen Metaphorik – als die »Bruchlinie« oder der »Bruch« im seelsorgerlichen Gespräch bezeichnet worden. So schwierig dieses Bild auch sein mag, es umschreibt die Erfahrung, dass der Glaube den Menschen – und auch den Seelsorger – überraschen kann. Die neutestamentlichen Wundergeschichten stehen für diese Erfahrung. Der Mensch ist nicht festgelegt. Es gibt die überraschende Erfahrung des Wunders und der plötzlich realisierten Freiheit. Das Wunder unterliegt nicht der professionellen Verfügungsmacht des Seelsorgers, aber es gehört zu seiner Professionalität, dem Wunder und damit dem Menschen eine Chance zu geben. Alles andere wäre psychologischer Determinismus. Das gilt übrigens besonders auch für pädagogische Zusammenhänge: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. In diesem Sinne skizziere ich im Folgenden drei Aspekte einer elementaren Seelsorgetheologie. Ich gehe (2.) von der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium aus und suche dann (3.) von Mt 18,20 her einen elementaren neutestamentlichen Bezug seelsorgerlichen Verstehens und Handelns zu beschreiben. Im Zusammenhang dieser Überlegungen kann (4.) die umstrittene Kategorie der Bruchlinie im seelsorgerlichen Gespräch neu interpretiert werden. Dies überführe ich (5.) in einem eigenen theologischen Definitionsversuch der Seelsorge.
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2. Gesetz und Evangelium Die bekannteste, für die evangelische Theologie grundlegende und wegen der Weite des damit gegebenen Entdeckungszusammenhanges für verschiedenste Lebensfragen hilfreiche Unterscheidung ist diejenige von Gesetz und Evangelium. In seiner Lebensgeschichte begegnet der Mensch Gegebenheiten, die ihm überhaupt nur zu leben erlauben. Zu nennen sind hier etwa Beziehung, Reflexivität, Hingezogensein zu Anderen, Verstehen, ein Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit und zur kollektiven Geschichte sowie Regeln des individuellen und des gemeinschaftlichen Lebens. Diese Gegebenheiten des Lebens kommen einem besonders dann zu Bewusstsein, wenn sie einem Mangel oder einer aktuellen oder chronischen Störung unterliegen: Beziehungsabbruch, eine Krise des Selbstverhältnisses, Isolation, Orientierungsverlust, Krankheit, kulturelle Entfremdung und schließlich Grenzüberschreitungen gegenüber anderen Menschen und ihren Lebensgütern, wie diese in der zweiten Tafel des Dekalogs – als zu vermeidende Grenzverletzungen – beschrieben sind. Diese grundlegenden Gegebenheiten des Lebens und ihre notwendige Orientierungsfunktion um des Schutzes des Lebens willen heißen in der Sprache der Bibel: Gesetz oder Weisung, Tora oder νόμοϛ, ihre positive Befolgung heißt Recht, Gemeinschaftstreue (zdkah) und ihre durch Rechtsprechung herbeigeführte Beachtung heißt Gerechtigkeit (mischpat). Diese Gegebenheiten und Weisungen, Ordnungen und Gesetze dienen dem Leben und grenzen es zugleich ein, sie bewahren den Menschen vor sich selbst und orientieren ihn zugleich. Diese doppelte Funktion der Gegebenheiten des Lebens ist der Hintergrund vieler Lebenskrisen: Die Nichtbeachtung elementarer Lebensregeln (Gebote) hinterlässt Verletzungen beim Geschädigten und Realitätsverluste beim Schädiger und damit Störungen des Zusammenlebens. Aber auch die Beachtung der dem Leben dienenden Vorschriften um der Reduktion von Komplexität willen kann dann zu Störungen führen, wenn die Regeln sich verselbständigen und das Leben eingrenzen anstatt Lebensentfaltung zu ermöglichen. Das ist die klassische Gestalt der zwanghaften Störung, mit der man sich selbst, den Partner, die eigenen Kinder 32
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oder auch andere soziale Gegebenheiten (wie ein Mitarbeiterteam) schädigen kann. Wenn man die Regelhaftigkeit des Lebens religiös, im Horizont der Fragen nach dem Ganzen des Lebens stellt und wenn das in der christlichen Gemeinde vom Glauben an Jesus Christus her geschieht, dann verwendet man die Kategorien von Gesetz und Evangelium. Weil es im Glauben überhaupt keine Fragen außerhalb davon gibt, darum hat die Beachtung wie die Missachtung von Regeln von Gott her noch einmal eine andere Dimension. Von der Bibel Alten und Neuen Testaments her lässt sich formulieren: Gott ermöglicht dem Menschen ein geregeltes Leben und gibt ihm dazu Weisungen; aber er will, dass der Mensch Gott und seinen Nächsten liebt und sich nicht mit Hilfe von Regeln verschließt, anstatt sich anderen aufzuschließen und öffnen zu können. An dieser Stelle greift nun die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Beide dienen dem Glauben und der Fülle des Lebens, haben aber unterschiedliche, in der Lebenspraxis auch gegensätzliche Funktionen. In der Weisung, im Gesetz werden Orientierungen gegeben, die das Zusammenleben fördern (in der Sprache der dogmatischen Tradition: usus politicus legis). Doch insofern der Mensch Realist bleibt und sein Verhalten nicht beschönigt, merkt er, dass er an diesen Regeln scheitert bzw. diese auch willentlich übertritt und damit nicht nur Andere, sondern sich selbst gefährdet oder gar zerstört (in der Sprache der dogmatischen Tradition: usus elenchticus legis). Das Evangelium beschreibt demgegenüber unseren Glauben daran, dass Gott kein verurteilender Gesetzgeber ist, der den Menschen durch Weisungen zum Schuldigen macht. Der biblische Gott als der Erbarmer wird vielmehr beschrieben als der, welcher den Menschen als den leidenden, sündigen und irrenden Menschen2 – gerade als solchen und nicht im Hinblick auf gelobte 2 So die klassische Unterscheidung der seelsorgerlichen »Orthotomie«, der angemessenen »Indikation« des biblischen Wortes in der Seelsorgepraxis bei Carl Immanuel Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege des evangelischen Hirtenamtes (Praktische Theologie Band 3, 1. Abt.), Bonn 21868 [1857], 163–170 (§ 467). Aus heutiger Sicht wird man auch den suchenden Menschen gesondert erwähnen, wenngleich man diesen sehr streng auch unter die anderen drei Kategorie subsumieren könnte. Theologie der Seelsorge
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Besserung! – lieb hat, tröstet und ihm hilft, zu leben statt sich zu verfehlen, zu scheitern und zugrunde zu gehen. Denn Gott ist gemäß dem Glauben an das Evangelium einer, der das Falsche verurteilt, aber den falsch Handelnden durch Liebe aufrichtet und zurechtbringt. In biblischer Sprache: Gottes Zorn entbrennt gegen die Sünde, darum muss Gottes Liebe den Menschen vor diesem Zorn retten, indem sie ihn von seiner Sünde scheidet. Der Liebe Gottes zum Menschen und seiner Verurteilung des Bösen geht die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nach. Das ist deswegen nötig, weil im realen Leben und damit in der Bibel beides stark ineinander verwoben ist. Wenn man speziell das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe (Dtn 6,5 und Lev 19,18; Mt 22,37–40 par.; Röm 13,9–10) als das Zentrum der Weisung zum erfüllten Leben ansieht, dann eröffnet diese Unterscheidung noch einmal einen besondern Blick auf diesen Zusammenhang. Die Liebe ist in unseren alltäglichen Bezügen für uns Menschen die höchste Erfüllung (1. Kor 13,8), aber sie bringt auch die größten Gefährdungen mit sich. Das gilt für die Liebe zum Partner und zu den Kindern wie für die Liebe zu anderen anvertrauten und uns begegnenden Menschen, so dass Neid, Eifersucht, Selbstsucht und Lust an der Macht über den Anderen der Anlass für die meisten Fälle sind, in denen nach seelsorgerlicher Hilfe und Rat gesucht wird. Die Agape ist zwar kein Gegensatz zum Eros3, aber sie begegnet in unserer Welt auch in entfremdeter Gestalt (2. Kor 5,7) und nicht in der Form, in der Paulus ihr das hohe, eschatologische Lied singt (1. Kor 13,1–7). Die Liebe als der eigentliche Inhalt des vom Menschen Geforderten, des Gesetzes, führt gerade auf die Möglichkeit des Menschen, das Gute zu pervertieren. Das zur Liebe Dienende, die Gegebenheiten des Lebens und die Regeln als Lebenshilfen werden missbraucht im Dienste des eigenen Hochmutes, der Lüge und der Trägheit.4 Im Namen des Guten und der Liebe werden andere missbraucht und im Namen des Glau3 Von dieser Gegenüberstellung ist vielfach die Rede seit Anders Nygren (1890–1987); vgl. ders., Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Bd. 1, Gütersloh 1930, Bd. 2, Gütersloh 1937. 4 Formuliert nach der Beschreibung bei Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik Bd. IV/1, Zürich 21960, 83–170 (§ 58), vgl. besonders den Leitsatz zu Beginn (83). 34
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bens wird die eigene Ehre gesucht und die eigene Macht stabilisiert. Diese Struktur des theologisch »Gesetz« Genannten begegnet in der Seelsorge immer wieder: Das Gute des Lebens dient dem Menschen auf geheimnisvolle und abgründige Weise zu seinem Schlechten, ohne dass er davon lassen kann. Die Hilfen zum Leben benutzt der Mensch immer wieder, um sich zu überheben, zu lügen oder in Trägheit und Missmut zu verfallen. Der Glaube wird dann ebenfalls zum Anlass, den eigenen »Krankheitsgewinn« zu perpetuieren – und aus angeblich gutem Grund träge oder prinzipientreu zu bleiben, anstatt an das Evangelium zu glauben. In der Seelsorgepraxis wird man das alles nicht ausbreiten und schon gar nicht in expliziter theologischer Begrifflichkeit. Aber man wird mit solchen Denkfiguren das Erlebte und Gehörte im Glauben (und nicht nur in der angemessenen psychologischen Analyse) zu deuten suchen. Denn das mit den Strukturen des Lebens Gegebene und die biblischen Weisungen behalten ein doppeltes Gesicht: Sie bergen das Leben – und sie können es gerade so verschließen; sie kommen von Gott – und sie können uns doch von Gott entfernen (Röm 7,10–11). Die nicht nur psychologische, sondern auch theologische Ambivalenz der alltäglichen menschlichen Wirklichkeit zu reflektieren ist gerade dann wichtig, wenn man im Seelsorgegespräch nicht einfach biblische oder dogmatische Formulierungen wiederholen und als Deutungen zitieren, sondern an der eigenständigen Deutung durch das Gegenüber helfend mitwirken will. Wenn die Seelsorge als eine Gestalt des Evangeliums vom Gesetz zu unterscheiden ist, dann muss diese Gestalt noch einmal eigens, ohne die spannungsvolle Bezogenheit (»Dialektik«) von Gesetz und Evangelium zur Sprache kommen, indem der eigentliche Inhalt des Evangeliums, das Handeln Gottes in Jesus von Nazareth, zur Sprache kommt. Man kann auch sagen: Zum »Gesetz« (im Sinne von Röm 7, besonders V. 24–25) wird die Schöpfung und das gesamte Leben, wenn es ohne Bezug auf das als rettend und helfend erschlossene Herz Gottes gesehen, wenn unsere Existenz ohne Christus gedeutet wird. Weil von daher selbst der Begriff »Evangelium« noch unhistorisch oder abstrakt missverstanden werden kann, darum ist der explizite Bezug auf den Namen des im Evangelium verkündigten Gottes notwendig. Theologie der Seelsorge
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3. Der Name Jesu (Mt 18,20) und die eschatologische Dimension seelsorgerlicher Praxis Das Evangelium ist nicht einfach als irgendeine zeitlos gültige gute Botschaft aufzufassen. Es ist im Sinne der Ursprungsgeschichte präsent zu halten als die Nachricht vom Handeln Gottes in der Geschichte Jesu von Nazareth. Diese Geschichte gilt den neutestamentlichen Autoren nicht lediglich als historisches Ereignis, sondern als die kategorial andere, als die kairologische und eschatologische Zeit: »die Zeit ist erfüllt und die Gottesherrschaft ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,14; vgl. Gal 4,4; Lk 16,16). Christliche Seelsorge wird von diesem eschatologischen Verständnis der Jesusgeschichte nicht absehen können. Im Sinne der professionellen Selbstvergewisserung der Seelsorge Treibenden wird man sagen können: Die Zuwendung zum Einzelnen im Bereich der Gemeinde wird von der Zuwendung der Person ausgehen, auf die die Gemeinde ihre eigene Existenz sachlich wie historisch zurückführt. Der Name Jesu und der Bezug auf die praesentia Dei ist die entscheidende Basis für das, was christliche, im Namen Christi geschehende Seelsorge von anderen helfenden und begleitenden Beziehungen zu Menschen (in der Therapie und im Wirkungsbereich anderer Religionen) unterscheidet. Damit ist wiederum nicht notwendig impliziert, dass der Name Jesu in jeder seelsorgerlichen Situation explizit genannt werden muss. Aber der Bezug auf diesen Namen ist im Sinne einer Selbstvergewisserung der Seelsorge Treibenden und im Sinne einer Erwartungssicherheit der Rat Su chenden gleichwohl als Verstehensrahmen zugrunde zu legen. Folgt man dem Neuen Testament, dann kann das Evangelium nicht so wirken, dass man bestimmte Sätze, Formeln oder bestimmte Verhaltensweisen vorschreibt (und erst recht nicht dadurch, dass Gespräche von besonderen dazu autorisierten Perso nen geführt werden). Die einzig treffende biblische Orientierung kann nur eine Seelsorgetheologie haben, die im Horizont der gesamten Bibel der christologischen und eschatologischen Ausrichtung des Neuen Testaments nachzugehen sucht. Das bedeutet, dass das Seelsorgegespräch seinen Bezug in der unsere Wirklichkeit zugleich tragend gründenden und überschreitenden Wirklichkeit 36
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Gottes findet, wie sie nach dem neutestamentlichen Zeugnis mit der Geschichte Jesu gegeben ist. Die diesen Zusammenhang am besten treffende ekklesiologische Textstelle ist das bekannte Jesuswort Mt 18,20: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Der Kontext der Logiensammlung in Mt 18,15–18 ist dabei ausdrücklich ein innergemeindlicher Konflikt, in dem der Eine dem Anderen Unrecht getan hat. Die matthäische Gemeinde rechnet mit der Verfehlung auch innerhalb der Gemeinde, wenngleich mit der Verfehlung als der Ausnahme. Unter zweien oder dreien soll der Konflikt gesprächsweise gelöst – nicht durch Kompromisse geschlichtet – werden. An diese Situation ist der allgemeine Satz von der Anwesenheit Jesu in Zweier- und Dreier-Situationen ganz allgemein angeschlossen (Mt 18,19–20). Poimenisch lässt sich mithin sagen: Nicht nur in Gesprächssituationen mit sündigen, sondern auch mit leidenden und irrenden Menschen wird die Anwesenheit Jesu als der entscheidende Bezugspunkt geltend gemacht. Wenn eine Krise gesprächsweise bewältigt werden soll, dann wird mit der wirkmächtigen Kraft des in seinem Namen anwesenden Herrn Jesus gerechnet. Der gesamte Abschnitt 18,15–20 hat sowohl liturgische als auch seelsorgerliche Aspekte, denn es geht um Krisensituationen und um das gemeinsame Gebet, um die Bitte an den »Vater im Himmel«. Dabei ist an die Vollmacht der Menschen gedacht, wenn sie so beten, wie sie es von Jesus gelernt haben. Das Vaterunser, das bis heute auch die der Gemeinde nur sehr wenig verbundenen Menschen in der Regel auswendig kennen, ist der entscheidende Bezugspunkt. Interessant ist dabei, dass der Name des Vaters, der in der ersten Vaterunserbitte (Mt 6,9) genannt ist und der Name Jesu, in dem sich die zwei oder drei versammeln (Mt 18,20), implizit nebeneinander stehen; wie denn auch auf den Namen Jesu getauft (Mt 28,16–20), und in seinem Namen das Böse vertrieben und geheilt (Mt 7,22), aber auch um seines Namens willen gelitten wird (Mt 24,9). Die Seelsorge ist nach dem Matthäusevangelium5 demnach ein Handeln im Referenzbereich des Namens Jesu. Man bezieht sich 5 Das gilt aber auch für andere neutestamentliche Schriften, vgl. Apg. 4,9–12; 4,17 f.; 1. Kor 5,3–4; Joh 14,12–14; Phil 2,9–10; Hebr 13,15. Theologie der Seelsorge
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in Taufe, Gebet und Gemeindekonflikt auf den nicht nur als vorbildlich und in seinen Weisungen als verbindlich angesehen, sondern auf den auch als persönlich – in seinem Namen – als anwesend gedachten erhöhten Herrn Jesus. In nicht religiöser Sprache kann gesagt werden, dass der Bezug auf die Person und Tradition Jesu den Interpretationsrahmen für verschiedene gemeindliche Kommunikationssituationen bildet und dieser Bezug als andere Geltungsansprüche normierend immer wieder neu vorausgesetzt und damit geschaffen wird. Der Name Jesu wird als die letztgültig (eschatologisch) wirksame Kraft erfahren, mit der der irdische und erhöhte Jesus als heilender, helfender und richtender Herr für die Seinen da ist.6 Auch wenn man den Bezug der Gemeinde und ihrer Seelsorge auf die Tradition und Person Jesu mit anderen theologischen Vorstellungen beschreiben möchte als dies bei Matthäus geschieht, gilt auf jeden Fall: Christliche Seelsorge als Gestalt der Kommunikation des Evangeliums kommt nicht aus ohne Bezug auf den Verkündiger des Evangeliums, der seit der Zeit nach Ostern als der Verkündigte geglaubt wird. Die Vorstellung der praesentia Dei im Herrn Jesus ist damit hinreichend konkret, um auch von leidenden, irrenden und weniger gebildeten Menschen (etwa Kindern) in der Seelsorge verstanden zu werden und sie ist hinreichend spezifisch, um das Eigentümliche des kommunizierten Evangeliums zur Sprache zu bringen. Noch einmal: Die explizite Anrufung des Jesusnamens ist dabei nicht in jedem Fall im seelsorgerlichen Gespräch zu praktizieren (oder gar einzufordern); dennoch ist zu bedenken, dass die Volksfrömmigkeit bis heute diese elementare religiöse Sprache ebenso kennt7 wie viele Gesangbuchlieder.8 6 Selbstverständlich gilt das nur auf der literarischen Ebene, denn wir wissen ja nicht, ob Matthäus die in seinen Gemeinden geläufige reale Praxis beschreibt – oder ob er im Gegenteil eine ganz andere, in seiner Sicht defizitäre Praxis mit Hilfe der Berufung auf die Jesustradition (in seinem Sinne) ändern und verbessern will. Real ist aber auf jeden Fall diese dem Jesusnamen auf der literarischen Ebene zugeschriebene Orientierungs- und Wirkungskraft. 7 Man denke nur an das bereits kleinen Kindern verständliche Tischgebet »Komm, Herr Jesu, sei du unser Gast…« (vgl. dazu im Evangelischen Gesangbuch den Kanon Nr. 465). 8 Im Evangelischen Gesangbuch etwa die Nummern 62; 66; 115; 252; 391. 38
Michael Meyer-Blanck
4. Die »Bruchlinie« im seelsorgerlichen Gespräch Mit dem Bezug auf die – eher theologisch reflektierende – Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und auf die – eher frömmigkeitspraktische – Selbstvergewisserung des Seelsorgers »im Namen Jesu« ist im Grunde auch das beschrieben, was seinerzeit Eduard Thurneysen – eher missverständlich – mit der Kategorie der das seelsorgerliche Gespräch durchziehenden »Bruchlinie« zum Ausdruck zu bringen versucht hatte. Das dabei mögliche Missverständnis besteht darin, die Bruchlinie als gesprächsmethodische Kategorie im Sinne eines Gesprächsabbruchs oder eines unvermittelten Themenwechsels zu verstehen. Die »Bruchlinie« lässt sich von Mt 18,20 her auch als »Umcodierung« des Wirklichkeitsverständnisses auffassen. Die empirische Realität der Kommunikation wird als Kommunikation im Wirkungsbereich des Evangeliums gedeutet, biblisch gesprochen als Kommunikation (im Geltungsbereich, Verstehensbereich, Traditionsbereich und Realitätsbereich) – im Namen Jesu. Die »Bruchlinie« bezeichnet in diesem Verständnis das transzendente, das eschatologisch umcodierende hermeneutische Prinzip. Diese Linie durchzieht auch die therapeutisch vorgehende christliche Seelsorge. Die Bruchlinie scheidet hingegen nicht eine psychologische Gesprächsphase von einer spirituellen (»frommen«) Phase – denn gerade dies würde dem (im konfessionellen Sinne) evangelischen Verständnis zutiefst widersprechen, weil damit heilige von unheiligen Zeiten geschieden würden. Daraus folgt: Die »Bruchlinie« im seelsorgerlichen Gespräch ist eine hermeneutische, fundamentalpoimenische und keine gesprächsmethodische Kategorie.9 In gegenwärtiger 9 Dieses Verständnis lässt sich bei Thurneysen selbst durchaus finden: »Das Seelsorgegespräch verläuft sozusagen auf zwei Ebenen. […] Dieses Geltendmachen eines über allem Menschlichen im buchstäblichen Sinne als Vor-Urteil waltenden göttlichen Urteils und das dadurch bedingte Hineinstellen aller menschlichen Dinge in das neue Licht dieses Urteils – das ist gemeint, wenn hier vom Bruch im seelsorgerlichen Gespräch die Rede ist […].« (Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 31965, 114 f.) Thurneysens mangelnde gesprächsmethodische Reflexion ist allerdings für das Missverständnis mitverantwortlich, die »Bruchlinie« meine Gesprächsteile und beschreibe einen Gesprächsabbruch oder Themenwechsel. Theologie der Seelsorge
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Sprache ist das damit Gemeinte eher mit den Kategorien der Umcodierung und Neubewertung der eigenen Lebenssituation im Kontext der Seelsorge zum Ausdruck zu bringen.
5. Eine Definition Abschließend kann das Beschriebene in einer eigenen Definition mit wenigen Erläuterungen zusammengefasst werden. Seelsorge ist die zielgerichtete Zuwendung zum einzelnen Menschen im Kontext der Kommunikation des Evangeliums. Das bedeutet im Einzelnen: –– Das Ziel der Seelsorge ist die Vergewisserung des Einzelnen in seinem glaubenden, handelnden und sozialen Leben. –– Inhalte der seelsorgerlichen Zuwendung sind die glaubende Vergewisserung des eigenen Lebens, u. a. durch die Ermöglichung von Differenz-Erfahrung gegenüber der jeweiligen Lebensdeutung und die Umcodierung bisheriger Erfahrungen (etwa: des Scheiterns) durch die Erschließung unbedingter Annahmen. –– Diese Inhalte sind für die Seelsorger(innen) durch die Deutung des Lebens und des eigenen Handelns als »im Namen Jesu« (Mt 18,20) geschehend gegeben und diese Inhalte sind durch die Unterscheidung des Evangeliums vom Gesetz zu bewähren. –– Formen der Seelsorge sind Einzel- und Gruppengespräche in der Gemeinde, aber auch andere Formen der Zuwendung (etwa nonverbaler oder diakonischer Art). –– Die Seelsorge wird praktisch auf eine Kombination verschiedener psychologischer Methoden im Sinne ihrer eigenen Ziele und Inhalte zurückgreifen.
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Michael Meyer-Blanck
Isabelle Noth
Seelsorge und Psychoanalyse
1. Ein merkwürdiger Seelsorgefall Zu den bahnbrechendsten Seelsorgern in der Geschichte der Poimenik gehört der reformierte Zürcher Gemeindepfarrer Oskar Pfister (1873–1956). Einige bezeichnen ihn gar als »ersten wirklichen Pastoralpsychologen« überhaupt.1 Die Anfänge der theologischen Rezeption der Psychoanalyse sind untrennbar mit seinem Namen und Wirken verbunden. Auslöser im engeren Sinn dafür war ein komplexer Seelsorgefall, der allen in Pfisters Kirchgemeinde Rätsel aufgab und über dessen Umstände wir dank zweier, zeitlich weit auseinander liegender Schilderungen Pfisters etwas mehr erfahren: Eine Frau erhält anonyme Briefe, in denen sie des Ehebruchs bezichtigt wird. Der Seelsorger – Pfisters Amtskollege – versucht zu helfen, alarmiert die Polizei und schliesslich wird auch Pfister selbst zu Rate gezogen. Dieser erwähnte die Begebenheit zunächst in einem persönlichen Schreiben an den religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz aus dem Jahre 1908, also kurz nach dessen Berufung auf die Professur für systematische und praktische Theologie an der Universität Zürich: Gegenwärtig bearbeite ich […] das prachtvolle Gebiet der religiösen Psychotherapie. Hier ist mir eine neue Welt aufgegangen. In einem hoch interessanten seelsorgerlichen Fall erkannte ich die Bedeutung der Psychopathologie für eine vernünftige Seelsorge am normalen Menschen. Eine Frau meiner Gemeinde wurde von anonymen Briefen fast zu Tode gequält. Ihr Seelsorger und ihr Arzt konnten ihr nicht helfen. Sie war dem Selbstmord ganz nahe. Da gelang es mir, jenem Pfarrer und Arzt nachzuweisen, dass der vielgesuchte Briefschreiber niemand anders war als die Adressatin, die subliminal im hysteri1 Vgl. dazu Noth (2010), 17. Seelsorge und Psychoanalyse
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schen Dämmerzustand sich diese entsetzlichen Quälereien zufügte. Nachträglich konnte ich auch graphologisch die Identität der ganz verstellten automatischen mit der normalen Handschrift feststellen. Da ich mit der Kranken fast nur durch Vermittlung eines Kollegen verkehre, konnte ich den traumatischen Komplex noch nicht finden, dessen Verklemmung die Spaltung der Persönlichkeit hervorbrachte. Ich erwarte von der Freud’schen Forschung eine ganz enorme Förderung der religiösen Psychotherapie. Die Entdeckungen der letzten Jahre müssen meines Erachtens einen erheblichen Teil der seelsorgerlichen Arbeit und das Verständnis des religiösen Lebens umwandeln.2
An dieser Umwandlung bzw. Neukonzeptionierung der Seelsorge auf psychoanalytischer Grundlage und einem neuen, religionspsychologischen Verständnis insbesondere, aber nicht nur christlicher Glaubenspraxis arbeitete Pfister fortan voller Begeisterung sein Leben lang. Auch in seinem Rückblick zur Feier seines 80. Geburtstags am 23. Februar 1953 erinnert sich Pfister an jenen Seelsorgefall, welcher für den Fortgang seines Lebens so entscheidend werden sollte. In dem fast 80-seitigen handschriftlichen Manuskript, das er auf ausdrücklichen Wunsch seiner Frau niedergeschrieben hatte, stösst man auf einen Passus, in dem die Geschichte erzählt wird und der sich zugleich wie eine kurze Zusammenfassung der Anfänge der theologischen Rezeption der Psychoanalyse überhaupt liest. Besonders wertvoll macht ihn nicht nur der Umstand, dass er weiteren Aufschluss über den konkreten Anlass gibt, der Pfister damals dazu bewog, sich als Gemeindepfarrer mit dem noch ganz neuen psychoanalytischen Gedankengut zu befassen, um es dann für die Seelsorge zu Hilfe zu ziehen, sondern auch weil er darin einen Einblick in sein damaliges Erleben in der Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung erlaubt:3
2 Brief Pfisters an Ragaz vom 08.07.1908, 2vf. [StA ZH: Nachlass Leonhard Ragaz, W I 67 108.2]. Transkription und Hervorhebungen Isabelle Noth. 3 Oskar Pfister, Aus meinem Leben. Geburtstagsansprache zur Feier mei nes 80. Geburtstages (23. Febr. 1953, S. 58–65 [handschriftl. Manuskript; Privatbesitz Familie Keller]. Hervorhebungen i.O. Transkription Isabelle Noth. 42
Isabelle Noth
Es bleibt mir nur noch eine Arbeit zu nennen übrig, die nach der pfarramtlichen Tätigkeit den grössten Teil meiner Lebenskraft in Anspruch nahm: Die psychoanalytische. 1908 lernte ich infolge eines merkwürdigen Seelsorgefalles Dr. C[arl] G[ustav] Jung kennen. Es handelte sich um eine Frau, die sich mit Hilfe sehr geschickter Verstellung, aber völlig ausserhalb ihres Bewusstseins anonyme Schmähbriefe schrieb, in denen sie des Ehebruchs angeklagt wurde. Sie litt entsetzlich darunter und glaubte, die Last ihres Lebens nicht länger tragen zu können. Pfarrer Bosshard setzte unermüdlich Polizei und Private in Bewegung, konnte aber dem Rätsel nicht beikommen. Als sie auch mich befragte, wollte ich sie beruhigen, es handle sich um die Zuschrift einer Geisteskranken, der sie keine Bedeutung beilegen dürfe. Darauf verklagte sie mich bei meinem Kollegen, ich sei ein schlechter Seelsorger, denn jetzt sei sie erst recht verzweifelt. In meinem Ehrgeiz gekränkt, strengte ich mich nun an, das Rätsel selbst zu lösen, und fand durch unauffällige Merkmale, dass sie selbst die Schreiberin der unseriösen Zuschriften sein müsse. Dr. Jung bestätigte meine Ansicht und führte mich durch eine Analyse in die Freud’sche Analyse ein, die mir tiefen Eindruck hinterliess und mich die ungeheure Wichtigkeit der seelsorgerlichen und wissenschaftlichen Theologie klar schauen liess.4
Die Erfahrung mit der im zitierten Brief genannten Frau, ihrem selbst zugefügten Leiden und ihrer Selbsttäuschung, die lange Zeit nicht als psychische Störung erkannt wird, ebenso wie die Verwirrung und Ratlosigkeit, die diese Geschichte bei den Seelsorgern auslöst, führt Pfister auf die Spur des sogenannten Unbewussten. Dessen ungeheuren Kräfte können sich auch mitten in einer Kirchgemeinde unheilvoll entfalten. Die Ursprünge der psychoanalytisch orientierten Seelsorge sind historisch gesehen eng an Notwendigkeiten und Unzulänglichkeiten der zeitgenössischen Gemeindeseelsorge gebunden. Was hier in einem scheinbar krassen und merkwürdigen, aber in der Seelsorgepraxis gar nicht so aussergewöhnlichen Fall geschildert wird, ist Anstoss für Pfister, sich für damals ganz neues, nämlich psychoanalytisches Verstehen zu öffnen, das just in Zürich als allererster Universitätsstadt wissenschaftlichen Anklang fand, namentlich auch beim in der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli tätigen Arzt Carl Gustav Jung (1875–1961). Über ihn und dessen 4 Ebd. Seelsorge und Psychoanalyse
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in unzähligen V ersuchen rekonstruiertes und analysiertes Verhältnis zu Sigmund Freud (1856–1939) schrieb Pfister in seiner Lebenserinnerung: Etwa fünf Jahre lang arbeitete ich in emsiger Arbeitsgemeinschaft mit ihm [sc. Jung; IN]. Ich lernte aber auch 1909 Sigmund Freud bei einem Aufenthalt in Wien persönlich kennen.5 Etwa 1912 kam es zwischen beiden bedeutenden Persönlichkeiten zum unheilbaren Riss, unter dem ich schwer litt. Jung hatte ich persönlich weit mehr zu verdanken, ohne ihn hätte ich die Analyse nicht kennen gelernt, und in seinem gastlichen Hause fand ich die freundlichste Aufnahme. Allein seine Bekämpfung Freuds liess Objektivität vermissen und artete mitunter in unerträgliche Verunglimpfung des Gegners aus. Meine sachliche Kritik wurde von Jung wie böswillige Gehorsamsverweigerung zurückgewiesen, obwohl ich von allen unbefangenen, deren Gerichtsspruch ich mich nach Jung unterziehen musste, Recht erhielt. Als er mir endlich ehrenrührige Beleidigungen gegen Freud und mich zuwarf, musste ich die Entscheidung treffen zwischen Verjüngung und Verjungung und handelte nach dem klassischen Spruch: »Amicus Plato, magis amica veritas« (»Mein Freund ist Plato, aber noch mehr Freund ist mir die Wahrheit«)6.7
Pfister wendet sich also mit dem erwähnten Seelsorgefall an Jung und lernt über ihn Freud kennen, den er 1909 persönlich in Wien besucht. Mit letzterem verbindet ihn ein lebenslanger wissenschaftlicher Austausch und trotz entscheidender Gesinnungsunterschiede eine ebenso lange persönliche Freundschaft. Diese überstand auch den Bruch zwischen Freud und Jung, infolgedessen Pfister in der Schweiz einen schweren Stand hatte, wie er es in seinem autobiografischen Rückblick beschreibt: Trotzdem geriet ich in grosse Vereinsamung, unter der ich eine Reihe von Jahren schwer litt. Ich war geächtet von den Theologen und Medizinern, vielfach verspottet, von fast allen Seiten ausser von Freud und seinen Anhängern verfolgt.8 5 Dieser Besuch fand am 25. April 1909 statt. Vgl. Brief Pfisters an Frau Prof. Freud vom 12. Dezember 1939, in: Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefwechsel 1909–1939, hg. v. Isabelle Noth, Zürich 2014, 308 f., hier 308. 6 Aristoteles, Nik. Eth. I. 4, 1096 a 13. 7 Pfister, Aus meinem Leben, 58–65. 8 Ebd. 44
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Doch sind Pfisters Bemühungen um eine psychoanalytisch orientierte Seelsorge auch von manchen Erfolgen gekrönt. 1919 ist er Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und in seiner Biografie beschreibt er sein Lebenswerk fol gendermassen: Die 27 Bände meiner sämtlichen Beiträge, unter denen auch stark veränderte Auflagen und Übersetzungen in Fremdsprachen umfasst sind – das Buch über Psychoanalyse in Erziehung erschien in acht Sprachen9 – deuten an, dass ich dabei das meinige beitrug. Viel mehr bedeuten mir aber die vielen hunderte von schwer Leidenden, die ich mit Hilfe der Analyse schwerer Not entreissen durfte. Ohne die Tiefenanalyse wäre dieser Erfolg mir und wohl auch anderen nicht möglich gewesen.10
In diesem Auszug aus Pfisters noch unveröffentlichtem Lebensrückblick wird die enge Verquickung von Pfisters Biografie mit den Anfängen nicht nur der wechselhaften Geschichte der Psychoanalyse bis zur Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, sondern auch der psychoanalytisch orientierten Seelsorge ersichtlich. Auch seine Position in den innerpsychoanalytischen Wirren zwischen Zürich und Wien bzw. zwischen dem reformierten Schweizer Pfarrerssohn Jung und dem jüdischen und aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammenden österreichischen Atheisten Freud wie auch die Anfeindungen, die die Geschichte der Psychoanalyse insgesamt kennzeichnen, kommen hier zum Ausdruck. Gilt Freud als der Begründer der Psychoanalyse, so Pfister als jener der sog. Analytischen Seelsorge, wie auch der Titel seines Grundlagenwerks von 1927 lautete,11 das er für Pfarrer und Laien verfasst hatte. Den jüdischen Atheisten und den gläubigen Pfarrer verband eine lebenslange Freundschaft, die
9 Oskar Pfister, Was bietet die Psychanalyse [sic; IN] dem Erzieher?, Leipzig 1917; 3. überarb. Aufl. 1929: Die Psychanalyse im Dienste der Erziehung. Das Werk erschien in franz., engl., schwed., ital., polnisch, spanisch, griechisch und dänisch. 10 Pfister, Aus meinem Leben. 11 Oskar Pfister, Analytische Seelsorge. Einführung in die praktische Psych analyse für Pfarrer und Laien, Göttingen 1927. Seelsorge und Psychoanalyse
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sich auch in einem ausgiebigen und faszinierenden Briefwechsel zwischen beiden niederschlug.12
2. Entwicklungen Bezeichnete Pfister den obigen Seelsorgefall als merkwürdig, so urteilte Freud in ebensolcher Weise über ihn als Seelsorger. Freud bedankte sich bei ihm in einem Brief vom 10. Mai 1909 für ein Gastgeschenk, nämlich einem Briefbeschwerer in Gestalt des Matterhorns, den Pfister ihm in Wien übergeben hatte, und schrieb dazu: »Es erinnert mich an einen merkwürdigen Mann, der mich eines Tages besuchte, einen Wahren Diener Gottes, dessen Begriff und Existenz mir recht unwahrscheinlich waren. In dem Sinn nämlich, daß es ihm ein Bedürfnis ist, jedem, den er trifft, etwas Gutes auf seelischem Wege zu erweisen. So haben Sie auch mir wolgethan.«13 Was Pfister zu einer im doppelten bzw. doppeldeutigen Wortsinn »merk-würdigen« Persönlichkeit machte, ist der Umstand, dass er einerseits von Kopf bis Fuss Gemeindepfarrer war, dies sein und trotz verschiedener Rufe an Universitäten auch bleiben wollte und andererseits eine durchaus theologisch ungewohnte, nämlich pastoralanalytische bzw. – psychologische Perspektive in die Theologie einführte. Er scheute sich nicht davor, in die Öffentlichkeit zu gehen und Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Zudem hielten ihn Freuds Atheismus und seine Religionskritik nicht davon ab, die Psychoanalyse als »Werkzeug« bzw. »Methode« für die Seelsorge zu nutzen. Mit der Metapher vom »pflügen« und »säen« versuchte er, das Verhältnis von Psychoanalyse und Seelsorge zu plausibilisieren: Erstere »pflügt«, d. h. bereitet den Boden für die notwendige anschliessende Synthese, welche nur die Seelsorge herstellen kann. Für Pfister handelte es sich bei der Psychoanalyse um ein schon neutestamentlich verankertes Verfahren. Analog zum Evangelium 12 Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefwechsel 1909–1939, hg. v. Isabelle Noth, Zürich 2014. 13 8F vom 10. Mai 1909, in: Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefwechsel 1909–1939, hg. v. Isabelle Noth, Zürich 2014, 48 f., hier 48. 46
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seien die Mittel der Psychoanalyse Wahrheit und Liebe. Psychoanalyse und Evangelium entsprächen einander, und Jesus selbst sei schon Jahrhunderte vor Freud analytisch zum Heil von Menschen tätig gewesen, indem er sie von den Fesseln der Vergangenheit befreite und sie für die Aufnahme des Evangeliums überhaupt erst zubereitete. Pfister zufolge ermöglicht die Psychoanalyse demnach ein evangelisches Christsein, indem sie von schädigenden und menschenfeindlichen religiösen Einstellungen und Haltungen befreit. Pfisters enormes Engagement, seine unermessliche Zahl an Vorträgen, Reisen – auch in die USA – und Schriften konnten jedoch nicht verhindern, dass er selbst wie auch die Psychoanalyse in der Theologie zunächst in Vergessenheit gerieten und erst im Zuge der Freud-Renaissance in den 1970er Jahren – insbesondere mit Joachim Scharfenbergs bahnbrechender Habilitationsschrift über »Sigmund Freuds Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben« (1972 [1968]) wiederentdeckt wurden. Zusammen mit der Gründung der deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) 1972 wird die Sektion »T« (= Tiefenpsychologie) ins Leben gerufen und existiert bis auf den heutigen Tag. Und nach wie vor wird der Nutzen psychoanalytischer Theoriebildung für die Seelsorge anerkannt – nicht zuletzt aufgrund ihrer in jüdisch-biblischer Anthropologie fundierten und deshalb auch besonders für die Theologie anschlussfähigen Prämissen. Auch wenn ihre lange Zeit herrschende Dominanz in der Poimenik inzwischen der Vergangenheit angehört und ihr u. a. aufgrund ihres hohen Anspruchs und Anforderungsprofils14 andere Theorierichtungen seelsorgepraktisch längst den Rang ab gelaufen haben, so ist ihr Einfluss nach wie vor unübersehbar und ihre »fremdprophetische« Qualität, welche zur vertieften Einsicht in die Ambivalenz von Religion und Religiosität beitrug, für Theologie und Seelsorge unaufgebbar.
14 So fragt Heribert Wahl (20092, 228) zu Recht: »Welcher Gemeindepfarrer weist die nur durch jahrelange Ausbildung zu erwerbende Kompetenz auf, um in kurzen fokaltherapeutischen Beratungen oder gar in analytischen Langzeitbehandlungen mit Menschen arbeiten zu können?« Seelsorge und Psychoanalyse
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3. Impulse für Theorie und Praxis Anlässlich einer zum 100. Geburtstag von Freud im Jahr 2006 durchgeführten Tagung über Seelsorge und Psychoanalyse zog der Praktische Theologe und Psychologe Christoph M orgenthaler folgendes Fazit: »Die Wirkung der Psychoanalyse innerhalb der Entwicklung der deutschen Pastoralpsychologie kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie hat das theologische Nervenzentrum dieser Disziplin gereizt. Sie hat einen tiefen Einfluss auf Menschenbild und Gottesverständnis ausgeübt. Sie hat selbstreflexive und emanzipatorische Impulse innerhalb der Theologie verstärkt. Sie hat die Praxis der Seelsorge tief greifend verändert.«15 Aus der Vielzahl unterschiedlicher Weiterentwicklungen und Ausdifferenzierungen der Psychoanalyse seit den Anfängen mit Freuds Triebpsychologie – von der Ich- und Selbstpsychologie bis zu Objektbeziehungstheorien – haben sich einige auf ihr fussende Einsichten, Grundhaltungen und methodische Elemente für die Seelsorge als bewährt erwiesen, von denen im Folgenden lediglich fünf erwähnt werden sollen: 1. Freuds sog. Selbstanalyse, die er nach dem Tod seines Vaters begann und die die Grundlage für seine Traumdeutung (1899/1900) bildete, ebnete den Weg zur Erkenntnis, dass auch der Arzt der Heilung bedarf. Alle Selbsterfahrungsanteile in psychotherapeutischen und seelsorglichen Ausbildungsgängen gründen in dieser macht- und hierarchiekritischen und inzwischen allgemein anerkannten Einsicht. Man kann anderen nur soweit helfen und sie auf dem Weg zu mehr Bewusstheit begleiten, als man selber gegangen ist. Eine kontinuierliche Selbstreflexion und Wahrnehmungsschärfung sind notwendige Voraussetzungen einer seriösen seelsorglichen Tätigkeit. 2. Dass wir Menschen die Neigung haben, uns über uns selbst zu täuschen, gehört zum fundamentalen anthropologischhermeneutischen Theorem der Psychoanalyse, die nach einer 15 Ch. Morgenthaler, Zur Funktion der Psychoanalyse in der gegenwärtigen Pastoralpsychologie. Acht Thesen mit Erläuterungen, in: Noth/Morgenthaler (2007), 59–67, hier 62. 48
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radikalen Fähigkeit zur Selbstkritik verlangt. Mit dem Unbewussten und der Macht der eigenen Abwehr und den eigenen Ambiva lenzen rechnen, heisst, die Relativität der eigenen Wahrnehmungen, Interpretationen und Überzeugungen mit einzubeziehen und sich intensiv mit den eigenen Ängsten und ihren kognitive Verzerrungen verursachenden Bias vertraut zu machen. 3. Übertragung und Gegenübertragung gehören zu den grundlegenden psychischen Vorgängen in der zwischenmenschlichen Kommunikation, die weder unterbunden werden müssen noch können, sondern als hilfreiche Hinweise für die seelsorgliche Beziehung verstanden werden sollen. Wir begegnen einander nicht unvoreingenommen, so sehr wir dies gerne täten, sondern stets vor dem Hintergrund unserer jeweiligen Erfahrungen und Narrativen, die wir tendenziell zu wiederholen suchen. 4. Abstinenz bzw. Zurückhaltung – übrigens nicht nur in der Seelsorge, sondern überhaupt im System Kirchgemeinde – ist erforderlich, um sich nicht wie der seelsorgende Pfarrer, Pfisters Amtskollege, im einleitend geschilderten Seelsorgefall im Strudel unbewusst ausagierter psychischer Dramen und Dynamiken mitreissen zu lassen. Bei mangelnder Distanz besteht die Gefahr, dass man im Wunsch, helfen zu wollen, genau das Gegenteil bewirkt, nämlich sich szenisch manipulieren lässt und dadurch sowohl den nötigen Abstand zum Fall verliert, der erst Hilfe möglich macht, als auch Professionalität einbüsst. 5. Als hilfreich, wenn auch gerade für Theologen und Theologinnen oft nicht einfach, erweist sich eine offene, nicht-wertende Haltung, welche das ethische Urteil zurückstellt und das Verstehen ins Zentrum rückt. Der (temporäre oder auch grundsätzliche) Urteilsverzicht darf nicht als Ausdruck moralischer Indifferenz oder Beliebigkeit missverstanden werden. Vielmehr wird er vor dem Hintergrund des Wissens um den tiefen, sich in der Rechtfertigungslehre widerspiegelnden psychologischen Zusammenhang von Indikativ und Imperativ geleistet. Dahinter steckt die nicht nur theologische, sondern auch zutiefst menschliche Einsicht, dass allen moralischen Ansprüchen und ethischen Forderungen der grundlegende Seelsorge und Psychoanalyse
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Zuspruch und die Annahme der anderen Person vorausgehen. Erst sie ermöglichen es, Handlungsspielräume auszuloten und vor diesem Hintergrund verantwortungsvolle Urteile und Forderungen zu formulieren. Die Haltung des verstehen Wollens ist schliesslich selbst als eine ethische.
4. Themen und Tendenzen der aktuellen Diskussion Interessante neuere Versuche einer aktuellen Weiterentwicklung der psychoanalytisch orientierten Seelsorge kommen insbesondere aus der US-amerikanischen Pastoralpsychologie. Zu den Protagonistinnen gehört die in New York lehrende Pamela Cooper-W hite. Anknüpfend an die moderne seelsorgetheoretische Überlegung, dass die Seelsorgeperson, ihre Subjektivität und Persönlichkeit selbst ihr eigenes wichtigstes Instrument für die Seelsorge sind, wendet sich Cooper-White der Gegenübertragung zu und entwickelt eine eigene »method for pastoral assessment and theological reflection«.16 Diese besteht vornehmlich aus dem freien Assoziieren über die Seelsorge suchende Person und der Reflexion der daraus entstehenden Bildern, Fantasien, körperlichen Eindrücken etc. Das zugrundeliegende konstruktivistische Verständnis von Subjektivität ermöglicht einen neuen Zugang zur Bedeutung der Gegenübertragung und neue Erkenntnisse zur spezifischen Seelsorgebeziehung. Zentral ist die Nutzung des eigenen Selbst als Hilfe zum Verstehen bzw. als hermeneutisches Mittel. Als Vorbote einer neueren Entwicklung in der deutschsprachi gen Pastoralpsychologie muss der in seiner Innovativität bisher noch zu wenig wahrgenommene und gewürdigte Versuch von Wolfgang Wiedemann (2009) erwähnt werden, bestimmte psychoanalytische Theoreme und Grundhaltungen über den Kreis spezialisierter Seelsorgender hinaus auch für in der Seelsorge tätige Ehrenamtliche zugänglich zu machen. Wiedemanns Anliegen ist es, das sog. Unbewusste durch die Befassung mit verschiedenen Formen von Übertragungen bewusst für ein tieferes Verstehen miteinzubeziehen, ohne abschreckend zu wirken. Mit seinen anre16 Cooper-White (2007).Vgl. dazu Noth (2010), 258–281. 50
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genden und in durchaus »normaler« Sprache formulierten Praxishilfen will er die »Angst vor der Seelsorge« nehmen und macht sie de facto in ihrer psychoanalytischen Spielart erstmals auch einem grösseren Kreis von Seelsorgenden zugänglich.17 Dabei versteht er die Seelsorge als ein »Handwerk«, das ganz bestimmte »Verstehens-Werkzeuge« benötigt, nämlich v. a. »gleichschwebende Aufmerksamkeit« und Übertragungen und Gegenübertragungen.18 Im Zeitalter permanenten Datensammelns – von Fotos knipsen bis Fragebögen ausfüllen – wirkt die Hervorhebung der von Freud einst als »gleichschwebende Aufmerksamkeit« bezeichneten »Haltung von geschehen lassen, nicht geschehen machen« als befreiend.19 Der/die SeelsorgerIn kann unverkrampft zuhören, ohne das Gefühl haben zu müssen, etwas zu verpassen, wenn sie/ er sich keine Notizen macht oder sich anstrengt, Gesagtes zu memorieren. Im Gegenteil geht gerade das Bedeutende oft im Festhalten wollen verloren. Zu diesem Verständnis passt Wiedemanns Beschreibung der seelsorglichen Aufgabe: Seelsorgende hätten Gott nicht irgendwie ins Gespräch zu zerren, sondern für seine Präsenz und sein Wirken offen und sensibel zu sein. Dabei müssten sie versuchen, »ihm nicht zu sehr im Wege zu stehen.«20
5. Wichtige Leitsätze Auf die konkrete Praxis der Seelsorge bezogen lassen sich folgende zentrale Leitsätze formulieren: Psychoanalytisch orientierte Seelsorgende –– setzen sich mit ihrer eigenen Herkunft, ihren persönlichen Prägungen und Beziehungsmustern intensiv auseinander, –– rechnen damit, dass sie als religiöse Figuren in der Kirchgemeinde spezielle Übertragungen auslösen, 17 Wolfgang Wiedemann, Keine Angst vor der Seelsorge. Praktische Hilfen für Haupt- und Ehrenamtliche, Göttingen 2009. 18 Ebd., 21. 19 Ebd., 26. Wiedemann spricht auch von der »Disziplin der informativen Enthaltsamkeit« (24). 20 Ebd., 229. Seelsorge und Psychoanalyse
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–– nutzen ihre eigene Persönlichkeit und Subjektivität, die in ihren Gegenübertragungen manifest werden, –– versuchen primär zu verstehen und nicht zu be- und verurteilen, –– besuchen regelmässig eine Supervision, –– wissen um die innere Konflikthaftigkeit des Menschen, die Macht des Unbewussten und die stets vorhandene Ambivalenz von Religion.
6. Literatur Sigmund Freud – Oskar Pfister, Briefwechsel 1909–1939, Isabelle Noth (Hg.), Zürich 2014. Isabelle Noth/Christoph Morgenthaler (Hg.), Seelsorge und Psychoanalyse, PTh Bd. 89, Stuttgart 2007. Isabelle Noth, Freuds bleibende Aktualität. Psychoanalyserezeption in der Pastoral- und Religionspsychologie im deutschen Sprachraum und in den USA, PTh Bd. 112, Stuttgart 2010. Heribert Wahl, Tiefenpsychologische Aspekte des seelsorglichen Gesprächs, in: Wilfried. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 20092, 227–251. Wolfgang Wiedemann, Keine Angst vor der Seelsorge. Praktische Hilfen für Haupt- und Ehrenamtliche, Göttingen 2009. Pamela Cooper-White, Many Voices. Pastoral Psychotherapy in Relational and Theological Perspective, Minneapolis 2007.
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Isabelle Noth
Eberhard Hauschildt
Seelsorge auf Besuch
1. Ein pastoraler Geburtstagsbesuch An einem regnerischen Septembertag. Mit einem kleinen Blumenstrauß in der Hand betritt der 63-jährige Gemeindepfarrer Aland die Wohnung von Frau Bauer, die am Vortag ihren 80. Geburtstag gefeiert hat: »Gottes Segen wünsche ich Ihnen für das Jahr, das beginnt. Gott begleit’ Sie.« »Ja, das kann ich gut gebrauchen. Und so einen schönen Blumenstrauß haben Sie mitgebracht. Und dass Sie den Termin gewusst haben!« Nachdem Frau B. für die Blumen eine Vase gefunden hat und während man gemeinsam ins Wohnzimmer geht, beginnt sie: »Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil ich ein bisschen nachlässig war mit dem […]«. In diesem Moment entdeckt der Pfarrer, dass das Wohnzimmer schon voll von Blumensträußen ist. Sein Lob der Blumenpracht unterbricht die noch nicht vollendete Entschuldigung der Besuchten für mangelnden Gottesdienstbesuch. Frau B. versichert, dass ihr die Farbe der vom Pfarrer mitgebrachten Blumen aber besonders gefalle. Nachdem der Pfarrer das Angebot, doch ein »klitzekleines Schnäpslein« zu trinken, dankend abgelehnt hat und stattdessen ein Wasser eingeschenkt ist, beginnt die Besuchte zu erzählen: Es war ein schöner Geburtstag, nur die Tochter hat leider nicht dabei sein können, weil sie auf Mallorca arbeitet. Das Geschenk, das die Tochter ihr vorab brachte, ein Bildband, wird gemeinsam durchgeblättert und bestaunt. Frau Bauer fragt den Pfarrer, wo er denn im Urlaub gewesen sei dieses Jahr. Der geht nicht weiter groß darauf ein, und übergibt stattdessen auch seine Grußkarte. Die Besuchte redet nach einer kurzen Schweigepause über das kalt gewordene Wetter. Bald kommt der Winter, wo es rutschig wird auf den Gehwegen. Einmal ist sie gefallen und lag längere Seelsorge auf Besuch
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Zeit mit einem Bruch im Krankenhaus. Als Thema stellt sich heraus, dass sie mit der Tochter im Gespräch steht, ob diese ihrer Mutter zuliebe zurückkommt nach Deutschland. »Das Geschenk, dass sie in erster Linie wegen mir hierherkommt, das möcht ich gar nicht annehmen.« Wohlmöglich, so ergänzt Frau B., könnte auch das bisherige gute Verhältnis mit ihr getrübt werden. Darauf der Seelsorger: »Was wäre, wenn Sie von all diesen Gedanken auch ihrer Tochter erzählen?« Für eine Weile malen sich die beiden aus, wie wohl die Tochter reagieren würde – und wie Frau B. das fände. Frau B. schenkt Wasser nach. Sie erzählt nun, dass ihr vieles schwerer fällt mit dem Putzen als früher. Vielleicht könnte mal jemand von Gemeinde helfen? Pfarrer A. hat allerdings keine kostenlose Putzhilfe anzubieten. Er überlegt laut, dass er bei der ehrenamtlichen Leiterin im Seniorenkreis die Idee anregen möchte, ob vielleicht die Frau Müller die Seniorin abholen könnte – gegebenenfalls auch mit dem Auto. Frau B. zeigt sich interessiert. Die vielen neuen Flüchtlinge machen der Seniorin Sorge. »So viele Muslime – die gehören doch hier nicht her!« Der Pfarrer berichtet von der Flüchtlingsarbeit einer Nachbargemeinde. So ganz überzeugen kann er Frau B. nicht. Er berichtet dann von den Geschichten seiner Mutter, die sie manchmal von ihrer Flucht aus Schlesien nach dem Krieg erzählte und davon, wie teils schwierig, teils beglückend die Aufnahme im Westen war. Frau Bauer kommentiert: »Aber ihre Mutter war ja auch eine Deutsche.« Darauf der Pfarrer: »Ach ich finde, wir sind doch alle Gottes Kinder.« Nach 45 Minuten sagt Pfarrer A.: »So, mein letzter Schluck. Für den Konfirmandenunterricht heute Nachmittag muss ich noch was vorbereiten.« Als er schon aufgestanden ist, beginnt die Seniorin: »Also, wenn mir was passieren sollte, dann halten Sie doch die Ansprache, eine kleine, oder?« Darauf der Pfarrer: »Ich werde Sie beerdigen, Frau B.« Doch im nächsten Moment bereut er schon die Zusage. Denn er steht kurz vor dem Ruhestand. Im Gemeindebrief, der nächste Woche ausgetragen werden wird, ist zu lesen, dass seine Stelle ab dem 1. Januar mit seiner Zustimmung auf eine 75 %-Stelle reduziert werden wird. Wegen gesundheitlicher Probleme möchte er kürzer treten. Später wird die Gemeinde mit der Nachbargemeinde fusioniert; die Gemeindediakonie-Stelle wird dadurch erhalten bleiben können und für 54
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beide Gemeinden zuständig sein. Er spricht die Sache so an: »Freilich, der jüngste bin ich auch nicht mehr. Zwei Jahre habe ich noch bis zum Ruhestand.« Darauf die Besuchte: »Na, wenn das so ist, dann muss sich mich ja sputen!« Da müssen beide lachen. Bei der Verabschiedung sagt die Seniorin: »Vielen Dank für ihren lieben Besuch und die Blumen.« Der Pfarrer: »Gott behüt’ Sie.« Die Seniorin: »Und ich hoff, dass ich Sie nicht so schnell in Anspruch nehmen muss.« Er: »Okay, das wünsche ich Ihnen auch.« Sie: »Ich werde meiner Tochter von Ihrem Besuch erzählen.« War das, was hier geschah »Seelsorge«? Der Pfarrer tritt als Besu cher in die Wohnung eines Gemeindeglieds ein. Die Konventionen eines Geburtstagsbesuchs greifen: man bringt ein Geschenk und wird im Gegenzug bewirtet. Es gibt auch einigen Small-Talk (über das Wetter und Lob der Geschenke). Einerseits ist dies alles schon mehr als einfach nur seelsorgelose Kontaktpflege. Die sozialen Besuchskonventionen tragen direkt dazu bei, ein Hineinrutschen in Gesprächsthemen zu erleichtern; sie helfen, Gesprächspausen zu überbrücken. Andererseits bleibt in der Schwebe, ob die besuchte Person das Gespräch als »Seelsorge« begreift oder nicht. Ob für sie »Gottes Segen« Bedeutung hat oder nicht, auch. Denn alles lässt sich auch als ein »normaler« Besuch verstehen. Sodann fällt auf: Es geht im Gespräch nicht abstrakt um »den Glauben« oder »den Tod«. Die Besuchte würde sich außerdem wohl kaum selbst als therapie- oder seelsorgebedürftig verstehen. Ihr geht es um Praktisches: Ob die Tochter tatsächlich zu ihr zurückziehen soll. Wie das Putzen organisiert werden kann. Und selbst die Unsicherheiten im Blick auf das Sterben verdichten sich in der Frage: »Wer wird mich beerdigen?« Lösen oder zur Entscheidung bringen kann der Pfarrer die praktischen Aufgaben nicht. Auch kann er die Besuchte von ihrer fremdenfeindlichen Grundeinstellung nicht abbringen. Sehr deutlich aber zeigt sich die Vielschichtigkeit von Beziehung und Kommunikation im pastoralen Alltag. Und es wird klar, wie weit erst im Gespräch selbst ausgehandelt wird zwischen beiden Beteiligten, über welche Themen geredet wird. Doch nicht nur das, sondern auch, was denn »Seelsorge« sein soll und in welcher Weise sie sich vollzieht. Seelsorge auf Besuch
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2. Das Feld der Arten von Besuchen und Seelsorge bei Besuch Das obige Gesprächsbeispiel beruht auf einem Mitschnitt eines tatsächlichen Gesprächs (die Besuchte war selbstverständlich informiert, dass aufgezeichnet wurde). Der Bericht ist stark gekürzt und anonymisiert. Nur an wenigen Stellen wurde etwas verän dert, um einen Sachverhalt noch deutlicher zeigen zu können. Die Idee des pastoralen Geburtstagsbesuchs stammt aus den 1920er Jahren. Es wurde daraus – so ein Pfarrerausspruch – das »dritte Sakrament in meiner Gemeinde«. Das gilt so nicht überall und seit den 1970er Jahren wurde die Aufgabe auch vielerorts an einen »Besuchsdienstkreis« übergeben. Der Geburtstagsbesuch ist nur eine der Varianten von Besuchsseelsorge. Das gesamte Feld lässt sich folgendermaßen strukturieren. 1. Der Geburtstagsbesuch und ebenso Besuche im Zuge der Vorbereitung einer Kasualie (vgl. dazu genauer Kap. 9 und 10) gehören zu den pastoralen Hausbesuchen 2. Ebenso gibt es die umgekehrte Situation, dass der Pfarrer/die Pfarrerin im Pfarrhaus besucht wird. Oft wird vor allem soziale Hilfe angefragt, teils geht es vorrangig um Geld; auch akute Beziehungskrisen und psychische Krisen können der Gesprächsgrund sein. So finden die Besuche bevorzugt abends und am Wochenende statt, wenn andere Hilfeeinrichtungen nicht erreichbar sind. Die Aufgabe für die Pfarrer/innen im Gespräch liegt dann häufig darin einzuschätzen, welche Art des Problems vorliegt, an welche Hilfeeinrichtungen, wenn diese wieder geöffnet haben, sich verweisen lässt und wie der Zeitraum bis dahin überbrückt werden kann. Solche Besuche werden von den Seelsorger/innen nicht selten als Störung in der Freizeit erlebt. Das Gespräch vollzieht sich oft nur an der Türschwelle zum Haus. Der/die Seelsorger/in sieht sich herausgefordert, das Helfen – ggf. gegen den Wunsch des Gegenübers – zu begrenzen. Er/sie muss dann vermitteln, was er/sie als Seelsorger/ in nicht bieten kann – und auch ggf. zwar bieten könnte, aber nicht will. Pfarrer/innen erfahren hier die Grenzen der Seelsorge der Kirche und die Grenzen ihrer eigenen Bereitschaft zur Seelsorge. 56
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3. Eine weitere Gruppe von Besuchsseelsorge findet in keinem der beiden Wohnhäuser statt. Sie geschieht teils spontan, jedenfalls bei einer sich bietenden Gelegenheit: nach dem Gottesdienst, beim Einkaufen, beim Mittagessen auf dem Gemeindefest, vor der Sitzung, an der Bushaltestelle. Schon wenn eine dritte Person zufällig dazukommt, kann das Gespräch abrupt abbrechen. Auch dieser Besuch kommt für den Seelsorger ungeplant. Wie lässt sich möglichst schnell klären, was denn in den wenigen Minuten besprochen werden soll und wie es ein konstruktives Ergebnis erreichen kann? In allen drei Konstellationen ist die thematische Diffusität und Komplexität von Seelsorge augenfällig und scheint besonders wenig Seelsorge möglich zu sein. Die Seelsorge auf Besuch ist Gemeindepfarrer/innen vertraut – wird zum Teil von ihnen hoch geschätzt. Zum Teil ist sie aber auch mit deutlichen Ambivalenzgefühlen besetzt, nicht nur, wenn sie Zeitpläne durcheinanderbringt, sondern auch, weil sie Seelsorge-Idealen nicht genug entspricht.
3. Die alltägliche Seelsorge auf Besuch in der Seelsorgeforschung und -lehre Ist Besuchsseelsorge mehr als ein Vorfeld der eigentlichen Seelsorge? Als anfangs des 19. Jahrhundert erstmals F. Schleiermacher eine wissenschaftliche Verortung der Seelsorgetheorie entwarf, bestimmte er ihren Gegenstand als ein »wirksames Handeln«, das auf Reintegration in den mündigen Glaubensvollzug zielt. Solche Definition passt nicht besonders gut auf das obige Gesprächsbeispiel. Nun gibt es aber auch Passagen in Schleiermachers Überlegungen, die besagen, dass die Seelsorgepraxis in der »freien Geselligkeit« zwischen Menschen wurzelt. Nur benötigt diese Seite von Seelsorge keiner weiteren theoretischen Ausarbeitung für die pastoralen Seelsorger, weil sie sich von allein zu vollziehen scheint. Im 20. Jahrhundert kommt für die dialektische Theologie die »Seelsorge als Verkündigung an den Einzelnen« (E. Thurneysen) in in einem Besuch wie dem im Fallbeispiel geschilderten nur ungenügend zur Geltung, gelingt es da doch kaum, das Gespräch auf Seelsorge auf Besuch
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Bibel, Gebet und Beichte hin auszurichten. Man sieht, wie der pastorale Besucher zwar die Rede auf Gott bringt und vom Segen spricht, dies aber an den Rändern des Gesprächs (eingangs und zum Schluss) erfolgt und als pastorale Variante von Besuchskonventionen neutralisiert wird. Was dies für die Besuchte bedeutet oder nicht, bleibt dem Seelsorger unerschlossen. Die Besuchte hingegen scheint zu erwarten, dass sie gegenüber dem Pfarrer Auskunft geben muss, warum sie (wegen ihrer Gebrechlichkeit) nicht zum wöchentlichen Sonntagsgottesdienst kommt. Aber auch den Idealen einer therapeutischen Seelsorge kann solche Besuchsseelsorge nicht genügen. Denn verglichen mit der klinischen Seelsorge ist sie zu unkonzentriert und störanfällig. So sind im obigen Gesprächsbeispiel die Herausforderungen des Alterns deutlich präsent, werden jedoch vom Seelsorger nicht konsequent verfolgt; die Konflikte werden weder deutlich angesprochen noch vertieft bearbeitet. Smalltalk und Praktisches wie z. B. die Frage des Hausputzes und des Angebots zur Teilnahme am Seniorenkreis scheinen abzulenken. Erst die Aufnahme der Thematisierung des Phänomens des Alltags in der Soziologie der 1980er Jahre1 erbrachte eine neue Sicht auf solche Besuchsseelsorge. Henning Luther stellte auf diesem Hintergrund freilich die Seelsorge eher als kritische Überwindung der Alltagssorge dar.2 Die Rede davon, dass der gesamte Gemeindealltag, selbst auch ein Verwaltungsvorgang, »Seelsorge« sei, führte auch nicht wirklich weiter.3 Doch Wolfgang Steck wies demgegenüber 1987 in einem Artikel darauf hin, dass »der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt« liege.4 Er führt vor, wie diese Herkunft aus dem Alltag in der Seelsorge präsent sei. Die Seelsorge 1 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Die Strukturen der Lebenswelt, Bd 1, Frankfurt a. M. 1984, verstehen den Alltag mehr deskriptiv als Fundamentalphänomen; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981 sieht den Alltag aus normativ-kritischer Perspektive als Teil einer kolonialisierten Lebenswelt an. 2 Henning Luther, Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens. in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 224–238. 3 Christian Möller, Seelsorglich predigen, 2. erw. Aufl., Göttingen 1990, 114. 4 Wolfgang Steck, Der Ursprung der Seelsorge der Alltagswelt, in: Theologische Zeitschrift 43 (1987), 175–183. 58
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bleibe auf die alltägliche Gesprächskultur bezogen: Die Themen der Seelsorge seien die alltäglichen Beziehungsthemen menschlicher Lebensführung; sie lägen in bereits durch Alltagswissen bearbeiteter Fassung vor und hätten schon einige Gesprächsgänge durchlaufen, bevor es zum Gespräch mit dem pastoralen Seelsorger komme. Die Form des Seelsorgegesprächs stamme ebenfalls aus der Alltagswelt: Hier wie dort komme das charakteristische Gesprächsmilieu nur zustande, wenn beide die Rollen von Hilfesuche und Hörbereitschaft wählen; die Beendigung steht beiden nach den sozialen Regeln der Alltagswelt frei; seine Dynamik gewinnt das Gespräch aus den nebeneinander herlaufenden Ebenen der erzählten Szene und des gegenwärtigen Erzählens. Dabei verschiebt sich das Vertrauen aus der Intimität des Erzählten hin zur Vertraulichkeit der durch das Gespräch hergestellten Erzähl-Szene, was ethisch nicht ohne Risiko ist. Seelsorge baut auf den alltäglichen gesellschaftlichen Gesprächsinstitutionen auf – besonders denen der Partnerbeziehung und Familie –, und ist mit ihnen eng verwoben, wie bei der Seelsorge in Kasualbesuchen deutlich wird. Auf dieser Spur erschien dann 1996 meine Monographie, in der unter dem Titel »Alltagsseelsorge« wörtliche Transkripte von pastoralen Geburtstagsbesuchen analysiert wurden.5 Ergebnis war, dabei auch über das Phänomen des pastoralen Geburtstagsbesuch hinausgehend: Die »kleine« Form der Seelsorge, mit ihren episodischen Gesprächsgängen stellt durchaus so etwas wie eine Alltagstherapie (gewisse Entlastung und Klärung durch Raum für Darstellung von Gefühlen und Ambivalenzen), Alltagsverkündigung (Gott und Kirche als christliche Symbole für Vertrauen im Horizont von Transzendenz) und Alltagsdiakonie (kleine praktische Hilfen für den Alltag) dar. Diese Gestalten von Seelsorge mögen weniger leisten als die der »hohen« Seelsorge, kommen aber häufiger vor und stützen sich gegenseitig. Sie lassen sich als » basale« Figur von Seelsorge in der Gemeinde verstehen. Gemeindeseelsorger/innen übrigens empfanden es als wohltuend, dass in dieser Sicht ihre alltägliche Praxis von überhöhten Ansprüchen entlastet und als genuine Seelsorge gewürdigt wurde. 5 Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuchs, Göttingen 1996. Seelsorge auf Besuch
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Freilich stellte sich weiterhin die Frage, welche Art von Gesprächsführung solche Art von Seelsorge verbessert und wie sie lernbar wäre. Hier ergab sich eine Veränderung dadurch, dass in der psychologischen Theorie und Praxis der Gesprächstherapie anders als bei Sigmund Freud und Carl Rogers die Fokussierung auf ein gegenwärtiges Symptom und dessen Veränderung sowie auf Kognitionen und nicht nur Emotionen an Gewicht gewann. Schon die systemische Therapie und entsprechend die systemische Seelsorge wiesen in diese Richtung.6 Besonders deutlich wurde das in der 2003 erschienenen methodischen Anleitung zur »Seelsorge in 20 Minuten« von Timm Lohse.7 Diese stammte aus Erfahrungen in der Arbeit in offenen Beratungsangeboten und arbeitete mit kurzzeittherapeutischen und lösungsorientierten Ansätzen. Inzwischen hat der Gemeindepfarrer Rolf Theobold diese Linie deutlich vertieft.8 Herausgearbeitet werden in seiner Monographie die Details der – bislang in der Seelsorge noch wenig beachteten – unterschiedlichen Ansätze in diesem Bereich. Theobold stellt auch heraus, dass ein Erlernen solcher Methodiken, bei grundsätzlich gegebener persönlicher Eignung zur Seelsorge, relativ schnell erfolgen kann und ein Schädigungspotenzial nicht gegeben ist. Auch Ehrenamtliche, etwa die aus dem Besuchsdienstkreis, können manches davon sich aneignen. Ein Beispiel solcher Gesprächsführung ist, – anders als bisher in der Seelsorgeausbildung üblich – präzisierende Fragen zu stellen. Sie beschleunigen die Gesprächsentwicklung und fokussieren sie. Der Satz »Wenn meine Tochter immer da ist, wäre das nicht gut« führt zur Rückfrage: »Immer?« oder: »Wofür genau wäre es nicht gut?«, der Satz: »Den Ausländern kann man nicht trauen« führt zur Rückfrage: »Allen?« Auf den Satz: »Ich fühle mich abends immer so alt wie nie«, lässt sich mit dem Satz reagieren: »Und weshalb ist es am Morgen anders?« Solche Gesprächsbeteiligung des Seelsorgers verhilft dazu, Totalisierungen zu relativieren und Ressourcen zu entdecken. 6 Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 3. Aufl. Stuttgart 2005. 7 Timm Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge d Beratung, 4. Aufl. Göttingen 2012. 8 Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen 2013. 60
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Theobold gibt darüber hinaus einige Hinweise, die zeigen, dass in der sozialen Einbettung innerhalb einer Kirchengemeinde eine eigene Ressource der Gemeindeseelsorge liegt. Diese steht der psychologisch-therapeutischen Behandlungspraxis nicht zur Verfügung. So wird das kirchengemeindliche Setting der BesuchsSeelsorge aufgewertet. Freilich bleibt es dabei, dass de facto Seelsorge-Gespräche mit dem/der Pfarrer/in nur in seltenen Fällen zur Beheimatung in der »Kerngemeinde« führen. Wer ein dezidiert volkskirchliches Gemeindeideal hat, den mag das weniger stören. Aber eine nur auf die Gefühlswelt des Individuums ausgerichtete Seelsorge übersieht dann doch die Besonderheiten und Stärken der Gemeindeseelsorge. Eike Kohler macht auf einen Zusammenhang zwischen Seelsorge und Kirche aufmerksam9, den ich – noch etwas weiter zugespitzt – so formulieren möchte: Auf dem Spiel steht nicht einfach nur, ob Gemeindeglieder mit ihrem Glauben und Leben in den Augen des Vertreters der Kirche sich als kirchlich genug erweisen, sondern genauso, ob sich Kirche und Gemeinde mit ihren Deutungen als anschlussfähig und integrationsfähig genug erweisen gegenüber den Glaubens- und Lebenserfahrungen der Gemeindeglieder. Will man das theologisch zuspitzen, so ließe sich sagen: Es geht um die kritische Rechtfertigung des Sünders – wobei das Problem auf Seiten der Lebens- und Deutungspraxis des Individuums liegen könnte, aber auch auf Seiten der Kirche, wie sie der/die Seelsorger/in repräsentiert. Eine Anschlussfähigkeit an die Deutungen des Gegenübers beiderseits zu erreichen, ist nicht einfach, wie man an dem Eingangsbeispiel sieht. Wie geht der Gemeindepfarrer mit der ausländerfeindlichen Sicht der Besuchten um? Was kann die Kirche tun beim konkreten Problem der Besuchten, dass sie ihren Hausputz nicht mehr für sie zufriedenstellend hinbekommt? Was haben der göttliche Segen und die Debatte, ob die Tochter wieder zu Mutter zieht, miteinander zu tun? Der/die Gemeindeseelsorger/in repräsentiert Gemeinde und Kirche. Für Wolfgang Drechsel ist in seinem aktuellen Buch zur 9 Eike Kohler, Mit Absicht rhetorisch. Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche, Göttingen 2006. Seelsorge auf Besuch
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Gemeindeseelsorge dies der Ausgangspunkt: Pastorale Gemeindeseelsorger/innen sind von der Gemeinde beauftragt, um a) die Gemeindeglieder seelsorglich zu besuchen, und b) zur Verfügung zu stehen, sich besuchen zu lassen.10 Solche »amtsbezogene Seelsorge« ist zu unterscheiden von der Seelsorge aller Christen aneinander. Maß der Seelsorge ist dann gar nicht die Wirksamkeit im Sinn eines Zielerreichungsprogramms (Kann das Seelsorge gespräch tatsächlich die Rechtfertigung durch Gott klar aussprechen? Kann es einen therapeutischen Fortschritt erzielen?). Vielmehr vollzieht solche Seelsorge einen Dienst, genauer: Die Gemeinde/Kirche sorgt in Konsequenz ihres Vertrauens in die geschehene Rechtfertigung durch Gott für einen beauftragten Dienst am Nächsten. Dazu sind die Gemeindepfarrer/innen freigestellt. Somit wird Seelsorge ausgeprägt als diakonisches Geschehen verstanden. Und zugleich wird deutlich, wie stark sie integriert ist in die Kombination aus glaubwürdig-authentischer Pfarrpersönlichkeit einerseits und der sonstigen Amtsausübung andererseits. Denn zum Dienst als Prediger/in, als Lehrer/in, als Liturg/in, als Gemeindemanager/in hat die Gemeinde diese amtliche Seel sorgeperson ja auch beauftragt. Im pastoralen ÜberwechselnKönnen zwischen den Teilrollen und der möglichen vorausgehenden und/oder späteren Begegnung mit dem/der Seelsorger/in bei Ausübung einer dieser anderen Rollen, liegt eine besondere Stärke der Gemeindeseelsorge. Es lässt sich ja niederschwellig immer wieder einmal der/die Seelsorger/in wiedertreffen und sprechen im Gemeindezusammenhang.So wird im Gesprächsbeispiel ja Pfarrer A. von Frau B. auch diakonisch und liturgisch/homi letisch angefragt. Die Gemeindeseelsorge und mitten in ihr die Seelsorge auf Besuch ist gerade nicht die simplere Seelsorge (etwa im Vergleich zur Krankenhausseelsorge und Telefonseelsorge) – sie ist die komplexeste Fassung von Seelsorge. Die therapeutischen Zusammenhänge werden bei Drechsel dann aber in einer anderen Funktion schließlich doch noch wichtig: Wer solch einen Dienst tut, der bedarf der professionellen Unterstützung. Dass eine »Seelsorge am Seelsorger« auch tatsächlich stattfindet, das müsste der Kirche 10 Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. 62
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und Gemeinde ein Anliegen sein, wenn sie Menschen in einen solchen Dienst schicken.11 Stellt man das (pastorale) Amt in der Besuchsseelsorge so stark heraus, was ist dann, wenn das Gewicht der christlich-religiösen Tradition ausfällt? In einer säkularisiert gewordenen Gesellschaft erscheint solche Seelsorge als ein kirchliches Internum, von dem höchstens das Psychosoziale noch allgemein anerkannt werden kann. Diese Wahrnehmung kann sich genauso auch unter manchen Kirchenmitgliedern finden. Inwiefern lässt sich da der Mehrwert christlicher Seelsorge dennoch für alle plausibel machen, wenn die Argumentation nicht mehr auf Religion und Religiosität als anthropologischen Gegebenheiten bauen kann? Es wird möglich, wenn man Seelsorge als ein Teil von Spiritual Care begreift. In der Palliativmedizin wird inzwischen die Unterstützung von »Spiritualität« als genuiner Teil eines allgemeinen Pflegebedarfs angesehen. Das gilt auch für Menschen, die sich als nicht-religiös verstehen. Es geht dabei um den Bezug auf weltlich-immanente Größen, die das Individuelle und das Materielle transzendie ren: z. B. Kohärenzgefühl, Sinnkonstruktionen, Werte, soziale Zusammenhänge (Familie, Nation, Liebe usw.). Mit Eduard Weiher lässt sich analog zu der Unterscheidung zwischen wenig ausdifferenzierten Alltagspraktiken (Alltagsseelsorge) und elaborierten Gesamtkonstruktionen (verkündigende Seelsorge, therapeutische Seelsorge), dann auch noch einmal zwischen impliziter Alltagspiritualität und »expliziter Spiritualität« unterscheiden. Besuchsseelsorge kann beanspruchen, mehr zu sein als Psychologie in christlicher Metaphorik und religiös-motivierte Diakonie. Auch in dem Fall eines nicht-religiösen Gegenübers ergibt sich eine professionelle Aufgabe, die aus der Seelsorgekompetenz her bearbeitet werden kann: Für Alltagsspiritualität ist typisch, dass immanente Phänomene symbolisch aufgeladen werden – und sei es z. B. dies, selber (noch) putzen zu können. Im Beispiel vom Beginn des Artikels wurde der Besuchten, eine mögliche »Ansprache, eine kleine« (gemeint war die Bestattunsgansprache und damit das Todesthema) wichtig, ohne dass Reliogiosität und die christliche Ausdrucksformen direkt ausgesprochen waren. 11 Vgl. a. a. O., 191–195. Seelsorge auf Besuch
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Seelsorgeprofessionalität ist hier darauf vorbereitet, mit dem Gegenüber diese Alltagssymbolisierungen zuzulassen und, wo Bedarf, Interesse und die Fähigkeit besteht, gemeinsam Ausdeutungen zu erkunden und sie zu entfalten. Eine ganz alltagsnahe Art der Entfaltung fand im Gesprächsbeispiel statt. Beide konnten über die unmögliche Möglichkeit in der Vorstellung, sich mit dem Sterben »sputen« zu sollen, gemeinsam herzlich lachen.
4. Wichtige Leitsätze: 1. Seelsorge auf Besuch, oft ungeplant, ist der Normalfall von Gemeindeseelsorge – weniger zielgerichtet und eindeutig, dafür aber im Gemeindealltag viel häufiger der Fall. 2. In den alltagsnahen Gesprächscharakter eingebettet findet sich die basale und integrale Form der episodischen »Alltagsseelsorge«. 3. Es gibt dafür inzwischen passende und vergleichsweise gut zu erlernbare Gesprächsmethoden. 4. Gemeindepfarrer/innen sind von der Gemeinde u. a. auch dafür freigestellt, sich zum niederschwelligen helfenden Gespräch anzubieten. 5. Dabei können die speziellen Möglichkeiten der Gemeinde seelsorge voll ausgenutzt werden: das Überwechseln auf andere pastorale Rollen, das vorhergehende und spätere Aufeinandertreffen mit dem/der Pfarrer/in in den anderen Rollen, die Verknüpfung mit dem Netzwerk Kirchengemeinde. 6. Auch für nicht-religiöse Menschen lässt sich plausibel machen, dass solche Seelsorge mit dem/r gelernten Gemeindepfarrer/in fähig ist, die ganze Bandbreite von Spiritual Care professionell auszufüllen.
5. Zukünftige Entwicklung: Schon bislang gibt es vielerorts Besuchsdienstkreise aus Ehrenamtlichen. In Zukunft werden, gerade in Verhältnissen auf dem Land, in zunehmender Zahl von Fällen nicht mehr die haupt64
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amtlichen Pfarrer/innen, sondern stattdessen Ehrenamtliche zum »Gesicht der Kirche« vor Ort werden. Als solche werden sie von Gemeindegliedern auch als Menschen in Anspruch genommen, die sich für den Dienst der Besuchsseelsorge zur Verfügung gestellt haben. Der Kirche, den Gemeinden und den kirchlichen Hauptamtlichen kommt damit umso mehr die Aufgabe zu, solche Ehrenamtlichen darauf gut vorzubereiten, sie in der Tätigkeit professionell zu begleiten und ihnen als Seelsorger/in zur Verfügung zu stehen.
Literatur Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuchs, Göttingen 1996 (darin auch mehr zu F. Schleiermacher, verkündigender und therapeutische Seelsorge, W. Steck/H. Luther/Ch. Möller). –, Von einer Spiritual-Care-Darstellung für die Seelsorgetheologie lernen. Zum Buch von Eduard Weiher, in PTh 104 (2015), 326–344. Eike Kohler, Mit Absicht rhetorisch. Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche, Göttingen 2006. Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen 2013 (darin auch mehr zu Ch. Morgenthaler/ T. Lohse).
Seelsorge auf Besuch
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Bernd Beuscher
»Kindheit ist keine Krankheit«1 Lebenstüchtigkeit als Ziel von Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen
1. »Weil mein Leben schon lange verpfuscht ist« »Lolita ist achtzehn Jahre alt und auf der Suche nach einem Job. Große Ambitionen hat sie nicht. Als Küchenhilfe möchte sie arbeiten, in einer Kantine. Doch auch dafür muss man eine Bewerbung schreiben und ein Vorstellungsgespräch bestehen. Das fällt Lolita schwer. Sie ist sehr sparsam mit ihren Worten und überhaupt, sie hat keine Ahnung, wie das geht: ein guter Auftritt. Eingemummelt läuft sie herum, mit allerhand Piercings im verschlossenen Gesicht. Man merkt: Sie glaubt nicht daran, von andern gesehen zu werden. Doch jetzt soll sie in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dafür hat man sie zur Beratung geschickt in eine private Agentur für Jobvermittlung. Dort sitzen lauter hübsche, sprachgewandte Frauen. Die mühen sich redlich, Lolita beizubringen, was sie tun muss, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewirbt: auf jeden Fall erstmal lächeln, wenn sie zur Tür hereinkommt. Dann darf sie ihre Papiere nicht halb zerknautscht aus dem Beutel wühlen. Es gibt doch Mappen! Sie sollte sich von 1 Michael Hauch, Kindheit ist keine Krankheit, Frankfurt 2015. »Kindheit ist keine Krankheit«
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ihrer wuchtigen Kunstpelzmütze verabschieden und auch die Piercings – besser nicht in der Küche. Vor allem aber muss sie lernen, ihre Stärken zu betonen. Was sind denn ihre Stärken? »Ich bin motiviert«, brummt Lolita. Ja, das versteht sich, aber was denn noch? »Ich bin ehrlich.« – »Ehrlich klingt nicht gut«, erklärt die Beraterin. Sie könne doch stattdessen sagen: »Bei meinen Freunden bin ich spontan, aber im Umgang mit Kunden bleibe ich immer freundlich.« Da schließen sich Lolitas schmale Lippen erst recht. Und doch ist sie eine Brave. Sie nimmt ihre Termine bei der Agentur alle wahr, trennt sich von ihren dunklen Piercings. Schließlich telefoniert sie sich durch eine lange Liste von Nummern – und erhält eine Absage nach der andern. Der Telefonhörer knallt immer schneller auf die Gabel. »Warum hakst du nicht nach?« drängt die Beraterin, »warum machst du gleich so barsch Schluss?« Lolita schweigt und malt Kringel aufs Papier, bis der Kuli das Blatt zerfetzt. Endlich hebt sie den Kopf und sagt: »Weil mein Leben schon lange verpfuscht ist.«2
2. »Wie gute Fee?« Deutschland bildet sich viel ein auf Bildung. Die Kirchen haben daran einen nicht unerheblichen Anteil. Ob in Form von Schulseelsorge oder in außerschulischen Handlungsfeldern: Seelsorge mit jungen Menschen ist ein wesentlicher Teil des umfassenden Bildungs- und Erziehungsauftrages. Doch wie fühlt sich »Seelsorge mit jungen Menschen« an? Wie gute Fee? Wie Bällchenbad? Und wie klingt das? Wie »Gras und Ufer«? Wie »Eurovision Song Contest«? Wie »Heavy Metall«? Welche Haltung auf Seiten der Erwachsenen ist optimal? Einfühlend? Kümmernd? Möglichst viel Nähe? In einem Flyer für kirchliche Fortbildungstagungen für Schülervertreterinnen und -vertreter heißt es: »Darüber hinaus ermöglichen behutsam ausgewählte Inhalte und Methoden 2 Textauszug einer Morgenandacht von Angelika Obert im Deutschlandfunk. Lolita ist die Heldin des Dokumentarfilms »Les règles du jeu« (»Die Spielregeln«), der beim Festival des Dokumentarfilms in Leipzig 2014 den Hauptpreis gewonnen hat. 68
Bernd Beuscher
den Schüler_innen auch einen Zugang zu den Fragen nach ihrem Glauben […].« Erzählt das Wort »behutsam« nicht von unserer Angst, gegenüber zu treten? Wären sorgfältig ausgewählte Inhalte nicht besser? Verbreitet stellt man sich unter Seelsorge mit jungen Menschen eine Art »freundlichen Moralhumanismus mit religiösem Touch« vor: Seelsorger und Seelsorgerinnen als harmlose liebe Typen, die eine Gegenwelt repräsentieren, in die die Klientel sich vorübergehend aus dem harten Leben flüchten kann. »Wir tun nichts; wir wollen nur spielen. Und gut gemeint ermahnen.« Könnte es sein, dass so die Zielgruppe verfehlt wird, Seelsorger und Seelsorgerinnen also »voll verpeilt« sind, wie Jugendliche sagen? Dass das Leben keine Sesamstraße ist und dass man das Leben nicht zwischendurch abspeichern kann, weiß jedes Kind. »Junge Menschen von heute sind nicht so oberflächlich, wie man ihnen unterstellt. Sie wollen wissen, worum es im Leben wirklich geht« heißt es im Vorwort von Papst Benedikt XVI zum Jugendkatechismus. Ach wirklich? Was ist mit einer Gesellschaft geschehen, die derart belehrt werden muss? Thomas Ziehe hatte 1975 in seiner berühmt gewordenen Dissertation »Pubertät und Narzißmus« vor einem »objektivierten Jugendbegriff als Herrschafts instrument der Erwachsenen« gewarnt. »Unsere liebe Jugend« soll nämlich meistens einlösen bzw. halten, was die Erwachsenen sich einmal von ihrer eigenen Zukunft versprochen hatten. In der Pubertät stellt sich die Gottesfrage als Frage nach sich selbst. Junge Leute stecken in vielen »Zwickmühlen« nach dem Muster »Lass mich los und halt mich fest.« »Ich würde ja gerne zum Bund, aber das macht ja schon mein großer Bruder«, »Lehrerin wäre toll, aber das macht schon meine Schwester«, »Sonderpädagogik wäre voll mein Ding, aber das machen ja alle meine Freunde«. Druck machen auch Konventionen: Als Mann wird man nicht Kindergärtnerin, als Frau nicht Mechatroniker. Hinzu kommen verinnerlichte, widersprüchliche Verhaltens- und Denkmuster: »Nimm Rücksicht«, »Wag’ dich nicht zu weit vor«, »Mache einen guten Eindruck«, »Was sollen die Nachbarn denken«, »Lass dich nicht wegdrängen«, »Benutze deine Ellenbogen«, »Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auto« […]. Die Entwicklungspsychologie spricht vom jungen Menschen als »Index-Patienten«, der »Kindheit ist keine Krankheit«
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als Delegierter der (Gesellschaft) Familie stellvertretend Realitätsprüfungen vornehmen und heikle oder gar verbotene Wünsche inszenieren soll. Bei Wolfgang Schmidtbauer heißt es ganz lapidar: »Todessehnsucht und Selbstmordfantasie sind in der Adoleszenz normal. Sie gehören zur inneren Reaktion auf die massiven seelischen Umgestaltungen der Pubertät und den Berg an Anforderungen des Erwachsenwerdens in einer individualisierten Gesellschaft.«3 In dieser Lebenslage sind junge Menschen dankbar, wenn endlich jemand mal kein Verständnis für sie hat, sondern ihnen Ansehen und Gehör schenkt. Das ist das Mandat an Seelsorge durch Kinder und Jugendliche.
3. »Lasst mich in Ruhe« Bernhard Goltz wusste schon 1869 junge Pfarrer zu warnen, dass Seelsorge kein »forcirter Schnelltrost« ist. Unsere »Erklärungsschnelldienste« und unsere vielen guten Ratschläge gehen den jungen Leuten ziemlich auf den Wecker und verraten viel über die kindischen Allmachtsfantasien von uns Erwachsenen. Die Jugendlichen verstehen sich, Gott und die Welt nicht mehr, offenbaren sich diesbezüglich und vertrauen sich an, und wir – haben vollstes Verständnis für alles! Wie respektlos! Der 15-jährige Paul Bühre stellt in seinen »Teenieleaks« 10 Gebote auf. Das erste Gebot lautet »Lasst mich in Ruhe.« Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, sagt, dass die symptomatische Trutschigkeit vieler Helfer eine unbewusste Strategie ist, um unsere eigenen emotionalen Löcher zu stopfen. Wir sind immer so überaus und schrecklich nett, weil wir be- und geliebt sein wollen. Im Kontext von Seelsorge mit Erwachsenen mag das peinlich sein – der erwachsene Klient bricht die Beziehung einfach ab. Im seelsorgerlichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen jedoch grenzt dies an Missbrauch. Unsere gutgemeinte Nettigkeit wird spätestens dann zur Falle, wenn wir als Anwalt 3 Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus, Reinbek bei Hamburg 2003, 142. 70
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der Realität auftreten müssen. Und das gehört ja zum täglichen Geschäft von Seelsorge. Außerdem bewegen wir uns als Seelsorger chronisch in einem Feld der Unübersichtlichkeit: »Was ist mit mir?« »Was wird aus mir?« »Bin ich schön?« »Bin ich gut?« »Bin ich richtig?« »Wird alles gut?« »Was soll nur werden?« lauten die Fragen, mit der die Lebensluft von jungen Menschen geschwängert ist. Zu viel Nettigkeit als Grundhaltung verspricht leicht mehr, als vom Leben selbst gehalten werden kann. Es gibt nichts Schlimmeres als mit der Kraft des positiven Denkens gepanzerte Seelsorgerinnen und Seelsorger. Wolfgang Schmidbauer spricht entwicklungspsychologisch vom »Isomorphiestreben« und von elementaren »Isomorphiebedürfnissen«4, dass bitte bitte alles gleichförmig und kontinuierlich sein und bleiben soll wie der 14-jährige Olfi Obermeier in einer Erzählung von Christine Nöstlinger träumt: Im Lehnstuhl zu sitzen, mit geschlossenen Augen und über dem Bauch gefalteten Zitterhänden, ganz ohne Besuch und Zuspruch, nur so vor mich hindösen und dämmern, und dreimal am Tag vom Pfleger ein Supperl, das war mein Traumziel! Nach mehr sehnte ich mich nicht!5
Das erlaubt allerdings das Leben nicht. Zu leben heißt, sich ständig mit Unvollkommenheiten auseinander setzen zu müssen. Wie aber soll man sich dann stattdessen verhalten? In evangelischen Horizonten geht es um die Chance auf die Erfahrung einer radikal andersartigen Wert-Schätzung. Um diese Chance zu wahren, ist auf Nettigkeit zu verzichten und sind vielfache Möglichkeiten für heilsame Ent-Täuschung zu eröffnen. Es ist faszinierend zu sehen, wie dabei bereits die frühchristlichen Zeugnisse von Beziehungsarbeit Einsichten folgen, die heute in der modernen Psychoanalyse und Sozialwissenschaft als systemische Verfahren ihre Bestätigung finden.
4 Wolfgang Schmidbauer, Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus, Reinbek bei Hamburg 2003, 168, 170–171. 5 Christine Nöstlinger, Olfi Obermeier und der Ödipus, Hamburg 1984, 9–10. »Kindheit ist keine Krankheit«
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4. »Was willst Du?« Ein wichtiger Grundsatz. Das Kind soll ruhig Unrecht tun. Geben wir uns doch keine Mühe, jeder Untat zuvorzukommen, bei jedem Schwanken sofort den rechten Weg zu weisen, auf jeder abschüssigen Bahn zur Hilfe zu eilen […]. Du bist nicht deswegen empört, weil du eine Gefahr für das Kind wahrnimmst, sondern weil es den Ruf deiner Anstalt gefährdet, deiner pädagogischen Linie, deiner Person: du bist ausschließlich um dich selbst besorgt.6
Eleonore Höfner und Hans-Ulrich Schachtner nutzen »Frechheit« und »provokativen Stil« für ihre Arbeit. Sie klagen: In den herkömmlichen Therapien wird der Klient mehr oder weniger offen mit guten Ratschlägen versorgt. Damit wird dem Hilfesuchenden die Entscheidung abgenommen, was gut und was weniger zuträglich für ihn ist. Mit der Entscheidung nimmt man ihm aber gleichzeitig die Verantwortung für sein weiteres Verhalten ab. Wenn er sich an die Ratschläge des Experten hält, wird der Klient für jedes kleine Schrittchen in die gewünschte Richtung gelobt bis zum Umfallen.7
Bei Jesus wird Lob nicht mit Liebe verwechselt. Hilfsbedürftigen gegenüber war Jesus immer kühl und reserviert.8 Immer wieder bei Blinden, Lahmen, Hinfälligen als Standardintervention dieses brüskierende Fragen an die Leidenden: »Was willst du?« »Was nennst du mich guter Meister?« »Was habe ich mit dir zu schaffen?« Dieses Verhalten hat den entscheidenden Vorteil, ein sicheres Gefühl für Ehrlichkeit zu vermitteln, was vor allem Jugendliche zu schätzen wissen. Es gibt ja schon allgemein genug Lebenslügen der Erwachsenen: »Alle müssen mich lieb haben«, »Das Leben sollte leicht sein«, »Mein Partner muss alle meine Bedürfnisse erfüllen«, »Gott wird mich vor allem Übel bewahren«. Die Kunst der seelsorgerlichen Gesprächsführung liegt da rin, mit transmoralischem Horizont eine kommunikative Performance zu improvisieren, die fragwürdig-inszenierend ansetzt statt manipulierend-betulich. Diesbezüglich werden Small-Talk, 6 Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 1979, 204–205. 7 Erich Höfner/Hans-Ulrich Schachtner, Das wäre doch gelacht. Humor und Provokation in der Therapie, Reinbek 2008, 46. 8 Vgl. Matthäus 9,27ff; 15,22ff; Lukas 18,41; Johannes 5,6. 72
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kleine Gesten und minimale Berührungen und Blicke chronisch unterschätzt. Für Professionelle ist es wichtig, dass sie nicht sofort das BemühenSpiel mitspielen. Denn es ist naheliegend, dass der Professionelle sich bemüht. Er muss Distanz halten können, nicht sofort was tun wollen.9
Durch die damit verbundene Eröffnung vielfacher Möglichkeiten heilsamer Ent-Täuschung wird die Erfahrung ganz neuer Wertschätzung angebahnt. Klaus Dörner und Ursula Plog sprachen in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einer »Normalisierung der Beziehung durch – Gegnerschaft«10. Ulrike Schneider-Harpprecht nennt es »Abstand schaffen«11 und Christoph Morgenthaler favorisiert mit Bezug auf Gianfranco Cecchin eine »respektvolle Respektlosigkeit«: Der respektlose Therapeut unterminiert ständig die Muster und Geschichten, die Familien einengen, fördert Ungewissheit und gibt dadurch dem Klientensystem Gelegenheit, neue Werte, Bedeutungen und weniger restriktive Muster zu entwickeln. Auf dem Wege zu einer Position der Respektlosigkeit muss man versuchen, sich von der einnehmenden Natur konsensueller Glaubenssätze zu befreien.12
Humor, Provokation, Ironie, Konfrontation und Paradoxie sind immer dann als vorbeugende Maßnahme angezeigt, wo die Gefahr droht, »von den Familienkräften aufgesogen zu werden.«13 Jesus fordert einmal sogar zum Hassen auf (Lk 14,26). Der Sinn dieser drastischen Rede vom Hassen ebenso wie vom Lieben (agape) ergibt sich im Kontext des Evangeliums, wenn man dies nicht als Anweisung für Emotionen liest, sondern als einprägsam formulierten Rat im Blick auf den verantwortungsvollen Umgang mit Nähe und Distanz. Emotionen sind nicht verboten, 9 Klaus Dörner/Ursula Plog, Irren ist menschlich, Bonn 1994, 294. 10 A. a. O., 207. 11 Am Beispiel von Taufe, Beerdigung, Konfirmation und Trauung bringt sie »Beispiele für die Begrenzung des Imaginären« (Ulrike Schneider-Harpprecht, Mit Symptomen leben, Münster 2000, 137–138). 12 Gianfranco Cecchin zitiert, in: Christian Morgenthaler, Systemische Seelsorge, Stuttgart 2009, 159. 13 A. a. O., 158 f. »Kindheit ist keine Krankheit«
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aber es geht um etwas anderes, nämlich um das konkrete soziale Miteinander, um die systemische Qualifizierung professioneller Beziehungsarbeit. Jesus hat jedenfalls Ahnung davon, dass es pädagogisch und seelsorgerlich oftmals entscheidend ist, sich als Helfer, Lehrer, Seelsorger auch dosiert zu entziehen (vgl. Johannes 16,7; Markus 6,49). Viele Seelsorgerinnen und Seelsorger folgen einem »Nähe-Konzept«, dessen Leitidee es ist, sich füreinander zu öffnen, Einblicke ins Innenleben zu geben, authentische Gefühle zu zeigen und emotionale Betroffenheit zu teilen. Doch gute Seelsorge ist als evangelische Seelsorge systemisch inszenierte Seelsorge. Diese übt Zu rück-Haltung und zeichnet sich durch Betriebsferne verbunden mit hoher Einfühlung in die Problematik aus. Das auf den ersten Blick unempathisch anmutende Sachlichkeitsdesign der Systemtheorie kompensiert die Abgründe humaner Existenz, die sich durch allerlei böse Geister wie Krankheitsgewinn, Widerstand und Komplizenschaft (Übertragung-Gegenübertragung) bemerkbar machen. Ohne Distanz können wir kein Gegenüber sein. Genau das ist aber die Aufgabe von Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen. Laut Schneider-Harpprecht zeigen manche Probleme Adoleszenter deutlich, wie schwer es ist, für sich selbst zu wissen, was man im Leben will, statt dass andere für einen das Wünschen übernehmen: »Ist der angestrebte Beruf mein Wunsch oder der des Vaters; habe ich um meinetwillen in der Prüfung versagt oder um der Mutter willen, um sie nicht verlassen zu müssen? Woher kommen eigentliche meine Wünsche? Wer spricht aus ihnen? Wem antworten sie? Die Kalamität des ›Sinns‹ betrifft besonders die Personen, die von Berufs wegen ›Sinnvermittler‹ sind, die kirchlichen Mitarbeiter und speziell die Pastoren.«14 Man kann nur schwer von sich selbst aus selbstbewusster werden. In der Generationen-Komödie »Wir sind die Neuen« sagt Gisela Schneeberger in einem Küchentisch-Gespräch den Satz: »Man kann von vielem und allem lernen, nur nicht von sich selbst.« Das wissen auch die jungen Leute in dem Film genau: »Identität ist Beziehung« (Dietrich Zilleßen). Zu den Überraschungsmomenten 14 Ulrike Schneider-Harpprecht, Mit Symptomen leben, Münster 2000, 171. 74
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des Filmes zählen die Szenen, wo Personen aus der Jungen-LeuteWG Personen aus der Alten-WG verzweifelt und unter Tränen aufsuchen, obwohl die WGs doch eigentlich verfeindete Parteien sind. Es ist dann sehr wohltuend zu sehen, dass die Alten sich davon verabschiedet haben, immer so verständnisvoll zu sein. Stattdessen erfüllt sich eine Logik, die Jacques Lacan so auf den Punkt gebracht hat: »Liebe ist geben, was man nicht hat, jemandem, der nichts davon will.«15 »Der nichts davon will« verweist darauf, dass junge Menschen oft »instinktiv« und grundsätzlich erst einmal ablehnend sind, weil sie ihr eigenes Begehren kennen lernen und üben müssen. In der Regel reagieren sie sehr empfindlich darauf, wenn sie mehr oder weniger subtil zu spüren bekommen, was wir wollen, dass sie sollen: ›Junge, dieses Mädchen ist wirklich nett. Lade sie doch mal zum Essen ein.‹ – Der durchschnittliche Jugendliche wird dieses Mädchen vermutlich nicht mehr sehen wollen, denn dann ist es nicht mehr sein Begehren, sondern dass der Eltern.16
Mit »Geben, was wir nicht haben« ist das »Lob der Leere«, das »Lob des Fehlers«, das »Lob des Zu-Wünschen-Übrig-Lassens« gemeint. Das Beste an den Helfern ist ihre Hilflosigkeit! Schwacher Trost tröstet stärker! Auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wurden paradox anmutende Hinweise aus laufenden Forschungsprojekten vorgestellt, »dass Therapieabbrüche sich vermehrt in Fällen finden, in denen der Therapeut besonders zufrieden mit der therapeutischen Beziehung zu seinem Patienten gewesen ist. Wenn sich Therapeuten zu stark auf die Denk- und Verhaltensmuster des Patienten einlassen, können sie keine Alternativen anbieten.«17 Statt Vereinnahmung und Perfektionierung ist es darum besser, die jungen Menschen beim ebenso schwierigen wie unvermeidlichen Erwachsenwerden solidarisch zur Kontingenz zu begrüßen, wie Ulrike Schneider-Harpprecht empfiehlt: 15 Jacques Lacan, Die Übertragung, Wien 2008, 52, 273, 57–59. 16 Schneider-Harpprecht, 186. 17 Vgl. dazu F. A. Z. vom 8 April 2015. »Kindheit ist keine Krankheit«
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Die Größenphantasien Jugendlicher sind oft bestimmt von der Angst, dass die Wirklichkeit sie kastrieren könnte, was sie als totale Ent machtung statt als Einladung zur Kontingenz verstehen. Zur Kontingenz begrüßen bedeutete: ›Hier kann ich etwas machen, wenn auch nur etwas und nicht alles, was aber zu mir gehört, nicht zu meinen Eltern‹.18
Henning Luther hat mit seiner Definition von Glauben ein entsprechendes Vermächtnis hinterlassen: Das eigentümlich Christliche scheint mir darin zu liegen, davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können […]. Im Glauben an Kreuz und Auferstehung erweist sich, dass Jesus nicht insofern exemplarischer Mensch ist, als er eine gelungene Ich-Identität vorgelebt hätte, gleichsam ein Held der IchIdentität wäre, sondern insofern exemplarischer Mensch, als in seinem Leben und Tod das Annehmen von Fragmentarität exemplarisch verwirklicht und ermöglicht ist […]. Inhaltlich könnte die Religions pädagogik eine seelsorgerlich-therapeutische Funktion dadurch erfüllen, dass sie für die Erfahrung der Fragmentarität in den einzelnen biografischen Konkretionen offen und sensibel macht.19
5. »Ich kann mein Ändern leben« Es kommt nicht auf einen klerikalen approach in Vokabular, Sound, Habitus oder Örtlichkeit an, sondern auf einen radikalen Perspektivenwechsel, eine Konversion, die zuerst atmosphärisch spürbar wird. In Anlehnung an eine Formulierung von Wolfgang Wiedemann und im Vorgriff auf Erläuterungen zum systemischen Ansatz kann man sagen, dass es darum geht, gemeinsam gutes Ansehen zu genießen: 18 Ulrike Schneider-Harpprecht, Mit Symptomen leben, Münster 2000, 173–174. Dagegen ist im Horizont von Amokläufen, Terrorismus und PEGIDA ein entscheidender Aspekt, dass »der Terrorist das in die Welt entlassene, in ihr agierende, in ihr explodierende Größenselbst« (42) ist. Siehe dazu: Wolfgang Schmidtbauer, Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus, Reinbek bei Hamburg 2003. 19 Henning Luther, Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 172–173. 76
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In einer seelsorgerlichen Situation stelle ich mir vor: Wir beide sind da, und Gott hört zu und schenkt uns gutes Ansehen. Wir unterhalten uns vor Gott. Diese Vorstellung ist mein Beitrag dazu, dass das Gespräch seelsorgerlich ist.20
Zur Erinnerung: Evangelium ist die revolutionärste Umwertung aller Werte aller Zeiten. Mit dem christlichen Evangelium verlässt Religion die Galaxie der Moral. Ich setze alles darauf, dass ich, so wie ich bin, Ansehen vor Gott genieße. Und weil ich angenommen bin, so wie ich bin, muss ich nicht bleiben, wie ich bin. Shift happens: ich kann mein Ändern leben. Klar: die Einhaltung von Regeln und das Erbringen von Leistung sind wichtig und gut. Ohne Recht und Ordnung ginge alles noch mehr drunter und drüber. Aber Moral allein lässt das Leben nicht gelingen. Die christliche Religion vertritt entschieden die Auffassung, dass Ordnung allein dem Leben nicht gerecht wird. Das bemerkt man allerdings erst, wenn man versucht, Ordnung zu halten. Moral, Gesetz und Werte machen ordentlich, aber nicht lebendig. Ordnung ist das halbe Leben. Dies führt zu einer großen Gelassenheit. Selbstverständlich geht es im Einzelfall sehr oft auch um moralische und justiziable Schuld. Aber der grundsätzliche Referenzrahmen der Seelsorge ist weder eine Rechtfertigung durch gute Werke noch eine Verwerfung durch böse Werke. Es geht um ein neues Muster, einen neuen Rahmen, wie es in unübertroffener Lakonie in 1Kor 13 zum Ausdruck kommt: Wenn du alles hast und alles bringst im Register der Moral und nicht im Register der Liebe (agape), dann kannst du es vergessen. Moral ist die weitverbreitetste und seit jeher populärste Technik, um die Kontingenz des Menschen erträglich zu machen. Der Trick: Moral simplifiziert Überkomplexes. Moral alias Gesetzesreligion ist ein Opferalgorithmus, der buchstäblich Sinn macht, indem immer jemand über die Klinge springen muss. In diesem moralischen Setting neigen Jugendliche fatalerweise oft dazu, sich selbst zu opfern. Ohne moralisch gleichgültig oder amoralisch zu werden reali siert christliche Seelsorge nun, dass es noch etwas Anderes gibt 20 Wolfgang Wiedemann, Keine Angst vor der Seelsorge, Göttingen 2009, 216. »Kindheit ist keine Krankheit«
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als Moral, dass es eine Macht gibt, die jenseits von gut und böse steht und unser Leben von dort her möglich macht. Diese Macht wird in der christlichen Religion unter dem Fachbegriff »Agape« geführt. Hier herrscht Freiheit von einer Welt des Bewertenmüssens, eine Welt, die es uns so schwer macht, den eigenen Wert zu finden, ja uns oftmals dazu zwingt, ihn allererst durch die Entwertung eines anderen Menschen zu erzeugen. Shit happens: »Das habe ich nicht gewollt! Alle waren nett und freundlich zu mir. Ich weiß nicht, weshalb ich so böse wurde. Wie kommt es nur, dass man so oft tut, was man gar nicht will? Ich möchte doch gut sein:« Gute Frage! Wenn Jugendliche die wesentliche humane Erfahrung machen, dass wir oft gegen besseres Wissen handeln oder trotz guter Absicht etwas schief läuft und sie ihr Gewissen plagt, lässt christliche Seelsorge sie nicht mit einem »Selber Schuld!« im Stich. Statt »moralischem Judo«, Empörungsaggressivität, Gesinnungsterror und Gesellschaftsanklage pflegt und übt sie ein starkes, grenzbewusstes Selbstbewusstsein, das gelassen und nüchtern der Realität auch langfristig gerecht zu werden vermag. Hier wird der Gefühlskontakt zu unseren seelischen Abgründen nicht gekappt, und entsprechende (Selbst)Beobachtungen werden nicht tabuisiert. In Beziehungsberufen gibt es heute kaum noch ein Gegenüber, sondern nur noch »Begleiter«. Der große Erfolg von TV-Shows wie DSDS oder GNTM beruht darauf, dass hier deutlich und heftig Ansehen gegeben wird: ein Vater (Dieter Bohlen) und eine Mutter (Heidi Klum) sind ein Gegenüber, das die Jugendlichen in Lob und Kritik spüren lässt, dass sie existieren. So bieten sie ausreichend Reibungsfläche, die nötig ist, um Identität zu entwickeln. Das Gefühl, wirklich zu sein, ergibt sich nicht durch viele Worte oder viel Geld, sondern durch die Erfahrung, dass ich (noch) eine Wirkung auf jemanden habe. Jemand schaut, was ich tue, jemand sieht mich, jemand (be)achtet mich und ich kann das genießen. Zur Not sogar im negativen Sinn. Aus der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen ist bekannt, dass sie Delikte sammeln und damit protzen, welche »Dinger sie alles schon gedreht haben« und wie oft sie schon im Knast waren. Das sind verzweifelte und selbstzerstörerische Versuche, Anerkennung zu erlangen. Lieber schräg angesehen werden von der Gesellschaft 78
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und in Untersuchungshaft als bedeutungslos für die Peer-Group. Am schlimmsten ist es, ein Niemand zu sein. Menschen, die Ansehen genießen, sehen sich selbst und den anderen anders an. Man sieht es ihnen an, dass sie Ansehen genießen. Sie können Ansehen, Anerkennung, Respekt auch geben. Das muss nicht unbedingt ein zärtlich-liebevoller Blick sein. Das kann auch ein kritischer Gruß sein, eine Auseinandersetzung. Ob guter oder schlechter Schüler: Wenn du nicht mehr durchblickst, dich nicht mehr auskennst, nicht mehr weißt, was überhaupt werden soll, dann genießt du in der Seelsorge überraschenderweise Anerkennung und Ansehen: »Sehr gut. Aufstehen.« Weil ich nämlich so bedingungsloses Ansehen vor Gott genieße, bin ich alle Bedingungen für meine Würde und mein Selbstbewusstsein los. Gleiches gilt natürlich auch für die Anerkennung der anderen. Und wenn meine Seligkeit nicht mehr an meine Zeugnisse, an mein Geldvermögen, Aussehen, Status und Image gebunden ist, brauche ich mir und anderen auch nicht länger etwas vorzumachen. Ich muss mich nicht länger ständig vergleichen und auch nicht immer alle und alles gleich machen (und sei es gleich schlecht: nivellieren), sondern kann mir und anderen differenziert und individuell etwas gönnen und zumuten. Weil mir Würde, Anerkennung und Respekt grundsätzlich sicher sind und mein Seelenfrieden nicht länger von meiner Lebensleistungsfähigkeit abhängt, darum habe ich fortan auch wieder Energie frei, meine Möglichkeiten abzuchecken und im Rahmen meiner Möglich keiten das Maximum rauszuholen: ein anständigerer Mensch zu sein, ein fleißigerer Student zu sein usw. Jugendliche leihen sich Erwachsene als Außenbeobachter, damit sie Selbstbeobachtung lernen und Selbsterkenntnis gewinnen können. Selber mitspielen dürfen die Erwachsenen allerdings nicht, wie Wolfgang Wiedemann erzählt in Erinnerung an das Spiel seines Sohnes: Die Geschichte fing jedes Mal so an: Er fragte: ›Papa, spielst du mit mir?‹ – ›Gut, spielen wir‹. Er begann seine Matchbox-Autos aufzureihen und mit ihnen zu spielen. Ich hockte mich auf den Boden zu ihm und machte Anstalten mitzuspielen. Er aber wollte nicht, dass ich mich da einmischte. Ich durfte nicht mitspielen. Schmollend zog ich mich zurück und wollte in mein Arbeitszimmer gehen. ›Papa, spiel mit mir!‹ »Kindheit ist keine Krankheit«
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Ich musste bleiben. Ich dachte, wenn ich schon nicht mitspielen darf, kann ich wenigstens Zeitung lesen. Aber ich durfte auch nicht Zeitung lesen. ›Mitspielen‹ bedeutete, dass ich ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit beim Spielen zuschaute.21
Wahrnehmung wirkt. Für entsprechende Prozesse des Wahrnehmens und der Wahrnehmung, also Erkennen und Anerkennen, Ansehen, Ansehen geben und Ansehen genießen, bedarf es wie gesagt eines gewissen Mindestabstandes, einer Distanz. Die (stellvertretende) Fremdwahrnehmung durch den professionellen Blick des Seelsorgers und der Seelsorgerin kann eine veränderte Selbstwahrnehmung auf Seiten des Jugendlichen auslösen. Wolfgang Schmidtbauer hat verstanden, was Jesus in den Kindern sah, und dass es seelsorgerlich darum geht, den Segen und die Gabe des Kindseins durch das Erwachsenwerden hindurch zu bewahren. Die Kinder, die Unmündigen, die Amateure, Dilettanten und absoluten Anfänger werden von Jesus gepriesen22, weil sie selbstvergessen und hingebungsvoll die Welt anschauen, sich an die Sache verlieren und probieren können. Das ist es, was Kinder so liebens- und beneidenswert macht. Verspieltheit, Albernheit und Punk sind dem Reich Gottes näher und bei der Improvisation des Evangeliums allemal geschickter als die Art vieler Volltheologen und Kirchenräte. Laut Schmidtbauer tritt mit dem Kind ein »Mitspieler« auf die Bühne des erwachsenen Gemeindelebens, […] der die Situation entlasten und erleichtern kann. Denn das Kind hat von allen Beteiligten den sichersten Abstand zu romantischen Flausen und semantischen Fixierungen. Es lebt von Augenblick zu Augenblick. Wer es genau beobachtet, kann von ihm lernen, sich grundsätzlich keine Chance für Genuss und Entspannung verderben zu lassen […]. Die Liebe zu den Kindern ermöglicht Erwachsenen […] einen Reifungsprozess […]. Das Kind ist als Lehrmeister in der Kränkungsverarbeitung dem therapeutischen Experten in der Regel überlegen. Allerdings gelingt diese Lehrzeit nur dann, wenn sich die Partner einigermaßen von naiven kindlichen und symbiotischen Ansprüchen distanzieren können […]. Kinder sind nicht perfekt. Sie bieten den Erwachsenen eine Chance, zu erkennen, wie hohl und einengend deren eigene 21 Wolfgang Wiedemann, Keine Angst vor der Seelsorge, Göttingen 2009, 66. 22 Matthäus 5,3; 18,1–6; Markus 10,13–16. 80
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Vorstellung vom richtigen Leben sind.«23 Der erwachsene Seelsorger hilft so dem Heranwachsenden, den prophetischen Kern und den Segen des Kindseins für sich und die Gemeinde gegen kindische Versuchungen zu bewahren. »Kinder sind Übung, Training, Anreiz […]. Nur wenn Erwachsene und Kinder einander nutzen können, um sich in gegenseitiger Auseinandersetzung zu entwickeln, hat die moderne Gesellschaft angesichts wachsender seelischer Beanspruchung eine Chance.24
Fazit Seelsorge entfaltet ihre Kraft nicht dadurch, dass sie das Leben gegen den Tod sichert, mit Normen Orientierungsfragen still stellt, Differenz mit Einheitsappellen diskreditiert und Allmacht statt Ohnmacht verspricht, sondern dadurch, dass sie Leben ins Spiel bringt. Die jungen Menschen können üben, angesichts der Fragwürde menschlichen Lebens entschieden Position zu beziehen, ohne diese zu verabsolutieren. Das erschöpft sich nicht im Befolgen autorisierter Lehrsätze und normierter Verhaltensregeln, sondern zielt auf die Kompetenz, vertrauensvoll mit dem labilen Leben, mit dem Unwissbaren, Unübersichtlichen, Fremden umzugehen. Es geht in solcher Seelsorge primär nicht um Kirche und ihre autorisierten Amtsträger, sondern um Bildungsarbeit in Form von Beziehungsarbeit im Blick auf die Fragen, die das Leben stellt, in die das Leben uns stellt – um den ganz normalen Wahnsinn. In diesem Sinne schützt Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen den Reifungsprozess hin zu der Erwachsenenkompetenz, den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein.25 Auf diese Weise ist Resilienz auch keine weitere Fußnote eines »Gesundheitsterrors«. 23 Wolfgang Schmidtbauer, Partnerschaft und Babykrise, Gütersloh 2012, 147–151. 24 A. a. O., 187. 25 Ohne sich im Mindesten an den entsprechenden Liedtexten zu stören, führen die Tanzperformances des Nachwuchstalentes Madison Ziegler dies in zwei Musikclips der Sängerin Sia vor Augen: in »Chandelier« die Ablösung von der Mutter, in »Elastic Heart« die Ablösung vom Vater. »Kindheit ist keine Krankheit«
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Sondern als Improvisation des Evangeliums auf Beziehungsebene bildet sie »›feyne geschickte leutt‹, ›viel feyner gelerter, vernünffti ger, erbar, wol gezogener burger‹, ›witzig und klug‹.«26
Literatur Michael Hauch, Kindheit ist keine Krankheit, Frankfurt a. M. 2015. Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 2008. Wolfgang Schmidtbauer, Partnerschaft und Babykrise, Gütersloh 2012. Ulrike Schneider-Harpprecht, Mit Symptomen leben, Münster 2000.
26 Martin Luther zitiert nach Reiner Preul, Evangelische Bildungslehre, Leipzig 2013, 118. 82
Bernd Beuscher
Michael Klessmann
Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim als Aufgabe der Gemeinde
Herr R. Herr R. ist im Alter von 82 Jahren nach einem Schlaganfall inkontinent geworden; er hat seine Sprach- und Orientierungsfähigkeit durch einen längeren Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalt zwar in eingeschränktem Maß wieder gewonnen, bleibt aber wegen erster dementieller Symptome und wegen der Inkontinenz betreuungs- und pflegebedürftig. Seine Frau, die elf Jahre jünger ist als er, fühlt sich mit der Pflege zu Hause (trotz Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst) überfordert und hat die Übersiedlung ihres Mannes in ein günstig gelegenes Altenund Pflegeheim betrieben, während sie in der bisherigen Wohnung bleibt. Frau R. besucht ihren Mann sehr regelmäßig, trotzdem fällt Herrn R. die Eingewöhnung in das Pflegeheim schwer; immer wieder fragt er, wann er denn nach Hause könne. Die Kirchengemeinde, zu der beide seit vielen Jahren eine lockere Verbindung gepflegt haben (durch gelegentlichen Besuch von Gottesdiensten und Kasualien), ist Träger des Heims. Eines Tages macht die Gemeindepfarrerin einen Seelsorgebesuch und verspricht bei dieser Gelegenheit, dass in Zukunft Mitglieder des Besuchsdienstes der Gemeinde mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Herrn R. kommen werden. Außerdem weist sie Frau R. auf besondere Angebote der Gemeinde für Senioren hin. Bereits während seines Krankenhausaufenthaltes hatte Herr R. einen Besuch der Krankenhausseelsorge erhalten; der Krankenhausseelsorger wiederum hatte Kontakt mit der Gemeindepfarrerin aufgenommen und um weitere Begleitung nach der Reha-Maßnahme gebeten. Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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1. Gemeinde und Seelsorge Gemeinde als »Gemeinschaft der Heiligen«, als das »allgemeine Priestertum aller Getauften« ist, theologisch gesehen, Subjekt der Seelsorge. Sorge um kranke Menschen ist allen Christen durch ausdrückliche Weisung Jesu (vgl. Mt 25) aufgetragen und zeichnet die Diakonie seit den Anfängen der Kirche aus (vgl. auch Jak 5, 14f). Die entscheidende Frage ist, in welchem Maß eine parochial verfasste Gemeinde unter den gegenwärtigen volkskirchlichen Bedingungen und angesichts der »Aushöhlung lebensweltlicher Bezüge«1 diese seelsorgliche Dimension leben und wahrnehmen kann. Parochie als territorial bestimmte Form von Gemeinde repräsentiert heutzutage im Wesentlichen die sogenannte Kerngemeinde; viele nominelle Kirchenmitglieder werden mit dieser Organisationsform nicht erreicht, das Parochialprinzip bedarf der Ergänzung und Erweiterung durch andere funktionale Prinzipien.2 Trotz dieser Einschränkung bleibt die Frage wichtig, wie eine Gemeinde in angemessener Weise Seelsorge im Krankenhaus und im Alten(pflege-)heim gewährleisten kann. Welche Möglichkeiten und Schwierigkeiten sind in diesem Zusammenhang zu bedenken? Dabei verstehe ich Seelsorge als Angebot der Kirche, Menschen in den Wechselfällen ihres Lebens (bei Anlässen von Schmerz und Trauer, aber auch von Freude und Hoffnung) persönlich zu begleiten und Hilfe zur Sinndeutung des Lebens durch Präsenz, Gespräche und kleine Rituale (Gebet, Segen, Salbung) zu geben.3 Soziologisch gesehen stellt die Parochie einen Sozialraum, ein Netzwerk dar, das Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit, Bindung, Verwurzelung, ja Heimat vermitteln kann; Gemeinde kann im Idealfall emotionalen (und manchmal auch materiellen) Rückhalt, Wertschätzung, Unterstützung und Solidarität zur Verfü 1 Christoph Morgenthaler, Seelsorge, Gütersloh 2009, 305. 2 Ausführlicher zur Diskussion um parochiale und nichtparochiale Formen vgl. Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong, Kirche, Gütersloh 2013, 256 ff. 3 Vgl. ausführlich Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung und Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen 52015. 84
Michael Klessmann
gung stellen4 – was ganz besonders wichtig ist in Zeiten, in denen die bis dahin selbstverständlich gelebte Zugehörigkeit durch die Erfahrung von Krankheit oder Gebrechlichkeit und den dadurch notwendig gewordenen nicht freiwilligen Ortswechsel gefährdet ist. Der spezifisch religiös geprägte Charakter des Sozialraums Gemeinde – ob er nun explizit zur Sprache kommt oder lediglich durch die geistliche Rolle der Seelsorgeperson angedeutet wird – verstärkt die Möglichkeit, sich zugehörig zu fühlen: Denn Religiosität ist in hohem Maß verknüpft mit gemeinsam geteilten traditionellen Deutungen, Erfahrungen und Werten. Religion bekräftigt mit ihrer Traditionsbindung und durch ihre Rituale Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Ein seelsorglicher Besuch durch Repräsentanten der Gemeinde kann diesem Zugehörigkeitsgefühl Ausdruck verleihen. Dabei ist allerdings wünschenswert, dass neben der individuumszentrierten Seelsorge die Chancen dieses Sozialraums als Ganzem mit seinen Möglichkeiten der Vernetzung durch spezielle auf diese Zielgruppe bezogene Veranstaltungen im Blick bleiben, auch wenn Qualität und Intensität dieser Vernetzung unter gegenwärtigen volkskirchlichen Bedingungen sehr unterschiedlich ausfallen. Im Sozialraum Gemeinde lassen sich mehrere Vollzugsformen von Seelsorge unterscheiden: –– Es gibt nachbarschaftliche Seelsorge, in der Menschen, die sich als Nachbarn, als Gemeindeglieder kennen, spontan und ungeplant einander helfen, einander zuhören und Anteil nehmen, manchmal aus bewusst christlicher Motivation heraus, manchmal »einfach so«. Auch Menschen, die wegen vorübergehender Krankheit oder dauerhafter Gebrechlichkeit den direkten Raum der Nachbarschaft verlassen müssen, können Anteil an dieser nachbarschaftlichen Seelsorge bekommen, wenn man den Kontakt zu ihnen in loser Form hält und ihnen damit weiterhin ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt. Das haltgebende Milieu, das Gemeinde zweifellos bilden kann, erstreckt sich dann auch auf diese Menschen. Eine solche spontane Form der 4 Vgl. Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie, Neukirchen 2013, Kap 3. »Gemeinde als Kontext der Seelsorge«, 195ff; vgl. auch Gerrit Heetderks (Hg.), Aktiv dabei: Ältere Menschen in der Kirche, Göttingen 2011. Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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Seelsorge sollte von Hauptamtlichen in der Gemeinde angeregt und gefördert werden5, nicht zuletzt, um die verbreitete Anonymität in vielen städtischen Wohnvierteln stellenweise zu durchbrechen und zum direkten Kontakt zu ermutigen. Eine erste organisierte Form der Seelsorge im Auftrag der Gemeinde geschieht durch Besuchsdienstgruppen, für die, ausge hend vom Pfarramt, motivierte und geeignete Menschen ausgesucht und geschult werden, denen dann bestimmte Dienste übertragen werden (Zugezogenenbesuche, Geburtstagbesuche, Kranken- und Altenbesuche), und die auch in ihrer Tätigkeit unterstützend und kritisch (quasi supervisorisch) begleitet werden sollten. Indirekte, nicht-intentionale Seelsorge geschieht »in, mit und unter« anderen Formen gemeindlicher Arbeit: Durch Gottesdienste, durch Glaubenskurse, durch Feste, durch Erwachsenenbildung, die bestimmte Lebenslagen zum Thema macht (z. B. Themen wie Krankheit und Heilung, Kindererziehung, Spiritualität im Alter etc.), durch Alten-Nachmittage etc. vollzieht sich eine indirekte Form der Begleitung, die zur Selbstreflexion anregt, Gemeinschaft anbietet und Lebensgewissheit stärkt. Seelsorge gehört gemäß dem Ordinationsvorhalt zu den zentralen Aufgaben der Hauptamtlichen in der Gemeinde (Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone etc.); in deren Selbstverständnis spielt Seelsorge fast immer eine herausragende Rolle (»nah bei den Menschen sein«); in der Praxis zeigt sich allerdings häufig, dass Seelsorge gegenüber anderen Aufgaben de facto leicht in den Hintergrund tritt, weil sie zu den kaum strukturierten und wenig öffentlichkeitswirksamen Tätigkeiten im Pfarramt zählt. Eine weitergehende therapeutisch-systembezogene Spezialisie rung und Vertiefung ist für Seelsorge in Institutionen eine notwendige und sinnvolle Voraussetzung (kirchliche Beratungsstellen, Krankenhausseelsorge, Altenheimseelsorge, Gefängnisseelsorge etc.), um auf die Dynamik der Institution, die dort
5 In freikirchlichen Gemeinden werden beispielsweise die Namen von Personen, die erkrankt sind, in der Kirche genannt, um Fürbitte oder auch einen Besuch anzuregen. Das wird in volkskirchlichen Zusammenhängen so nicht möglich sein, weist aber in eine Richtung, in welche sich der Sozialraum Gemeinde entwickeln könnte. 86
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Tätigen und die spezifischen Lebenslagen der Menschen in der Institution kompetent eingehen zu können. Gemeindeseelsorge sollte um diese Spezialisierungen wissen und den Kontakt pflegen, um bei Bedarf Menschen dorthin überweisen zu können. In all diesen Formen geht es, bedingt durch den jeweiligen Kontext, darauf hat Wolfgang Drechsel aufmerksam gemacht, nicht nur um quasi therapeutische Problem- und Krisenbearbeitung, sondern auch um ein Würdigen des unspektakulären Alltags und der sich im Alltag ereignenden gewöhnlichen Lebensvollzüge, um Wertschätzung dessen, was ist.6 Das gilt besonders für Seelsorge im Alten(pflege-)heim.
2. Der spezifische Kontext Krankenhaus und Alten(pflege-)heim Krankenhaus und Alte(pflege-)heim bilden recht unterschiedliche institutionelle Kontexte. Ein Krankenhausaufenthalt, der sich in jedem Lebensalter ereignen kann, wird zwar als bedrohlich für die eigene Gesundheit und Integrität erlebt, aber in der Regel doch eher als vorübergehend und mit Aussicht auf Heilung eingeschätzt, während die Umsiedlung in ein Alten(pflege-)heim fast immer als endgültig und als quasi letzte Etappe im Lebenslauf angesehen (und auch aus diesem Grund gemieden und abgewehrt und so weit wie möglich nach hinten geschoben) wird. Bewohner eines Alten(pflege-)heims gehören mehrheitlich in das sog. »Vierte Lebensalter«, also die Zeit verstärkter Fragilisierung und Pflegebedürftigkeit (dazu zählt auch der erhöhte Anteil von Menschen mit Demenzerkrankungen in diesem Alter7); sog. »junge Alte« (auch drittes Lebensalter genannt) trifft man hier eher selten 6 Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. 7 Demenz bezeichnet eine »erworbene Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit, die Gedächtnis, Sprache, Orientierung und Urteilsvermö gen einschränkt und so schwerwiegend ist, dass die Betroffenen nicht mehr zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sind«. (www.deutschealzheimer.de; 16.07.15) Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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an.8 Für sie Seelsorge im Alten(pflege-)heim sind Grundkenntnisse der Methode der Validation, wie sie Naomi Feil für die wertschätzende Begleitung von demenzkranken Personen entwickelt hat, unbedingt wünschenswert.9 Trotz der unterschiedlichen Kontexte gibt es ähnliche Grundmuster im Erleben für die Betroffenen in beiden Institutionen: Im Vordergrund steht zunächst eine mehr oder weniger große Verunsicherung, Heimatlosigkeit und Einsamkeit, die sozialen Bindungen zu Familie und Nachbarschaft sind unterbrochen, man ist von fremden Menschen umgeben, die unbekannte Institution mit ihren festgelegten medizinisch-pflegerischen Routinen, die Einschränkung bisher selbstverständlich gelebter Autonomie und geschützter Intimität sowie Sorge um die Zukunft (»werde ich wieder gesund?«, »wie wird sich mein Altwerden unter den neuen Umständen gestalten?« etc.), der immer enger werdende Lebensraum (ein Zimmer u. U. noch geteilt mit einer fremden Person) – all das belastet das Lebensgefühl der Betroffenen erheblich.10 Im Alten(pflege-)heim kommt noch als Besonderheit angesichts zunehmender Einschränkungen und Schmerzen häufig eine Art von Lebensüberdruss hinzu (»ich will nicht mehr…«, »warum habe ich ständig Schmerzen?«, »hat Gott mich vergessen?« etc.), der die hohe Suizidalität im Alter teilweise erklärt.11 Deshalb sind Besuche von Familienmitgliedern und Freunden so wichtig, um quasi symbolisch und stellvertretend die Verbindung zur vertrauten Lebenswelt und damit auch den Lebenswillen aufrecht zu erhalten. 8 Vgl. ausführlicher François Höpflinger, Sozialgerontologie: Alter im gesellschaftlichen Wandel und neue soziale Normvorstellungen zu späteren Lebensjahren, in: Praktische Theologie des Alterns, hg. von Thomas Klie u. a., Berlin 2009, 55–73. 9 Vgl. Naomi Feil/Vicki de Klerk-Rubin, Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen, München/Basel 2010. 10 Vgl. Hans-Wolfgang Hoefert, Alte Patienten im Krankenhaus, in: ders/ Martin Härter (Hg.), Patientenorientierung im Krankenhaus, Göttingen/ Bern 2010, 161–185. 11 Vgl. Manfred Wolfersdorf/Elmar Etzersdorfer, Suizid und Suizidprävention, Stuttgart 2011, 42; »Der Anteil der über 65-jährigen Männer an den Suizidzahlen ist knapp doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, allerdings gilt das annähernd auch für die über 60-jährigen Frauen.« 88
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Der Besuch eines Pfarrers oder eines Mitglieds eines gemeindlichen Besuchsdienstes ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen: Er stellt eine Art Hausbesuch dar, (bildet insofern eine Fortsetzung und Ausweitung der Gemeindeseelsorge) und vermittelt der besuchten Person Wertschätzung und eine »atmosphärische Verbundenheit« mit der Gemeinde; Anknüpfungspunkte an die gemeinsam geteilte Heimat »mit ihren lokalen, beziehungsorientierten und religiösen Konnotationen«12 bzw. an den geteilten Alltag, wie sie im Erzählen zum Vorschein kommen, wirken als wohltuende Beziehungspflege und öffnen Räume, in denen Vertrauen und ein Gefühl von Zugehörigkeit, trotz der räumlichen Getrenntheit, (wieder) wachsen kann. In einem solchen Zusammenhang fällt es Betroffenen leichter, auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten des bisherigen Lebens narrativ zurückzu blicken.13 Daraus kann Dankbarkeit erwachsen und Einsicht in die Notwendigkeit, offene Themen vielleicht noch abzuschließen und sich der Brüchigkeit und Endlichkeit des Lebens zu stellen. Dabei wird ein Unterschied zwischen hauptamtlicher Krankenhaus- bzw. Altenheimseelsorge einerseits und Gemeindeseelsorge andererseits deutlich: Erstere repräsentiert Kirche in der jeweiligen Institution, wird insofern eher als fremd wahrgenommen – mit allen Chancen und Schwierigkeiten, die eine solche Situation der Anonymität (die manchmal gerade geschätzt wird!) mit sich bringt. GemeindepfarrerInnen, die einen Krankenbesuch im Krankenhaus machen, repräsentieren dagegen die Verbundenheit mit dem jeweiligen sozialen und lokalen Umfeld, mit dessen Traditionen und Prägungen, was einerseits tröstlich und beruhigend wirken kann, andererseits durch die im Alltag erhöhten Schamgrenzen (man muss damit rechnen, dass man sich in anderen Zusammenhängen wieder trifft!) auch spezifische Grenzen mit sich bringt. Gemeindeseelsorge in diesen Institutionen stellt insofern eine wertvolle Erweiterung und Ergänzung des seelsorglichen Angebots dar, an dem gerade konfessionellen Trägern gelegen sein muss. 12 Drechsel, Gemeindeseelsorge 2015, 62. 13 Vgl. Verena Kast, Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks, Freiburg i.B. 2014. Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die Betroffenen ihre Lebenssituation als eine »religionssensible« Zeit erfahren: Krankheit und/oder Gebrechlichkeit machen nicht eo ipso fromm, aber sie werden doch häufig erlebt als »Radikalisierung der menschlichen Grundsituation«, die verstärkt Fragen nach und Auseinandersetzung mit Themen der Sinnkonstitution des eigenen Lebens auslöst.14 Die spezifischen Ressourcen der Gemeindeseelsorge sind also darin zu sehen, dass sie die lokale Verbundenheit und die darin enthaltenen sozialen Verbindungen stärkt, damit das Fremdheitsempfinden in der Institution abmildert; zugleich repräsentiert sie durch die Seelsorgeperson eine Form mehr oder weniger vertrauter volkskirchlicher Religiosität, die viele Menschen in ihrem Alltag und in Krisensituationen (noch) als hilfreiche Ressource erleben. Seelsorge trägt dazu bei, sich mit Fragen nach Sinn und Sinnlosigkeit von Krankheit bzw. Alter auseinander zu setzen, das Unabänderliche auszuhalten oder vielleicht besser annehmen zu können bzw. im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu gestalten. Abgekürzt könnte man sagen: Die von der Gemeinde beauftragte Seelsorgeperson bringt Gott mit15, und zugleich auch so e twas wie (religiöse) Zugehörigkeit und Heimat. Deswegen erscheint es sinnvoll – das betrifft vor allem die Tätigkeit im Alten(pflege-)heim – das individuelle Seelsorgeangebot mit gemeindlichen Aktivitäten der Altenarbeit zu vernetzen.16 Seelsorgebesuche im Krankenhaus und Altenheim finden zwar geographisch gesehen meistens außerhalb der Gemeinde statt, wirken aber im Gemeindeleben weiter: Sie stärken den diako 14 Vgl. Birgit Weyel, Aszetik: Spiritualität und Religiosität im Alter, in: Praktische Theologie des Alterns 2009, 597–614; vgl. auch Martin Ehrhardt/ Lothar Hoffmann/Horst Roos, Altenarbeit weiterdenken. Theorien – Konzepte – Praxis, Stuttgart 2014. Darin besonders Kap. 1.12 »Spiritualität in der zweiten Lebenshälfte«, 86ff; Lars Charbonnier, Religion im Alter. Eine empirische Studie zur Erforschung religiöser Kommunikation, Berlin 2014, 125 ff. 15 Vgl. Reinhold Gestrich, Die Seelsorge und das Unbewusste, Stuttgart 1998, 163 f. Gestrich spricht hier von einer symbolischen Ingebrauchnahme der Seelsorgeperson: »Man ist durch den Seelsorger/die Seelsorgerin ›an Gott erinnert‹ und kommt ›über ihn‹ ins Gespräch.« 16 Vgl. dazu Martin Erhardt u. a. 2014 (Anm. 14). 90
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nisch-solidarischen Charakter von Gemeinde, ermöglichen Verknüpfungen zwischen Seelsorge und diakonischen Aktivitäten17, und haben insofern für das Selbstverständnis von Gemeinde eine hohe Bedeutung. Gegenwärtig neigen Landeskirchen dazu, angesichts zurückgehender Zahlen von Theologen und Theologinnen, die Seelsorge in Institutionen wie Krankenhaus und Alten(pflege-)heim verstärkt den jeweils nahe liegenden Parochien zuzuordnen.18 Vergangene Erfahrungen zeigen, dass diese Entwicklung durchaus ambivalent einzuschätzen ist: Einerseits wird das diakonische Engagement einer Gemeinde gefördert, wenn haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende gezielt und verstärkt Seelsorge-Besuche in nahe gelegenen Krankenhäusern und Altenheimen machen und das gesamte Bildungsangebot der Gemeinde auch unter seelsorglichen Aspekten verstehen und ausüben. In diesem Sinn stellt Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim eine Bereicherung des Themenspektrums und des diakonischen Engagements einer Gemeinde dar. Gleichzeitig ist deutlich, dass vor allem der institutionelle Aspekt durch Besuche und andere Angebote aus der Gemeinde nicht wirklich wahrgenommen werden kann. De facto zeigt sich hier eine Rückentwicklung von der Krankenhausseelsorge zur Krankenseelsorge, von der Altenheimseelsorge zur Altenseelsorge; nicht mehr die Dynamik und Struktur der Institution, ihre Arbeitsbedingungen, ihre kommunikative und ethische Ausrichtung sowie die Situation der dort tätigen Berufsgruppen (Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger etc.) ist dann im Blick, sondern nur noch die individuelle Lage einzelner kranker oder alter Menschen. Insofern bedeutet dieses Konzept eine bedauerliche Reduktion einer Entwicklung, die in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist. Die Frage ist, ob Kirche das so will und welche Konsequenzen es für die Repräsentanz von Kirche im Gesundheitswesen insgesamt hat. 17 Vgl. dazu ausführlicher Paul-Hermann Zellfelder-Held, Solidarische Gemeinde. Ein Praxisbuch für diakonische Gemeindeentwicklung, Neuendettelsau 2002, 117 ff. 18 Vgl. dazu ausführlicher Doris Nauer 2015, 185 ff. Nauer bezeichnet den Rückzug aus der Kategorialseelsorge als »strukturelle Sünde« (ebd. 190). Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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3. Krankenhaus- und Alten(pflege-)heimseelsorge im poimenischen Diskurs Die Chancen und Schwierigkeiten der Seelsorge in den besonderen Kontexten Krankenhaus und Alten(pflege-)heim werden in der neueren poimenischen Diskussion regelmäßig bedacht. In allen neueren Seelsorgelehrbüchern der letzten Jahre finden sich entsprechende Abschnitte.19 Das Krankenhaus gilt seit den Anfängen der Seelsorgebewegung in den USA als exemplarischer Ort, an dem Menschen Lebenskrisen erleben und deswegen besonders aufgeschlossen für das Angebot kirchlicher Seelsorge, für das Angebot von Begleitung und Hilfestellung bei der Suche nach Sinn und Bedeutung, sind. Die Erfahrung krank zu werden und im Krankenhaus behandelt werden zu müssen, stellt eine besondere Herausforderung für die Betroffenen und ihre Familien dar: Die Abhängigkeit, Gefährdung und Brüchigkeit des Lebens wird einem hier besonders deutlich vor Augen geführt, da kann es hilfreich sein, die eigenen Gefühle und Gedanken in einem offenen Gespräch zum Thema machen zu können und absichtslose religiös konnotierte Begleitung zu erfahren. Medizinisch-pflegerisches Personal ist vorwiegend diagnostisch-therapeutisch interessiert, Familienangehörige und Freunde meistens emotional involviert, da kann eine neutrale, allparteiliche Seelsorgeperson mit einfühlsamer Präsenz, Gesprächsführungskompetenz und spiritueller Aufmerksamkeit wertvoll sein, um Betroffene und ihre Angehörigen in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen und zu stabilisieren. Wahrnehmen, Annehmen und die Fähigkeit, gesprächs- und situationsgerechte Deutungsund Ritualangebote zu machen, sind grundlegend. Für spezielle Zielgruppen (Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Geriatrie, Intensivstationen, Kinderkrankenhaus etc.) sind zusätzliche Qualifikationen zu empfehlen. Allerdings wird man beim Krankenbesuch von Seiten der Gemeinde damit rechnen müssen, dass hier, wie schon erwähnt, stärker der Bezug zur Heimat und zum Alltag im
19 Vgl. die Lehrbücher von Klaus Winkler/Jürgen Ziemer/Michael Klessmann/ Christoph Morgenthaler/Michael Herbst. 92
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Vordergrund steht als die Bearbeitung möglicher durch die Erkrankung ausgelöster existentieller Fragestellungen. Letzteres trifft vor allem für die Alten- bzw. Altenheimseelsorge zu; sie wurde im poimenischen Diskurs lange Zeit hindurch eher als Randphänomen wahrgenommen und insofern – analog zu den verbreiteten negativen Altersklischees in unserer Gesellschaft – latent abgewertet. In der wissenschaftlichen Poimenik kam sie nur marginal vor.20 Wolfgang Drechsel hat darauf hingewiesen, wie mit dem therapeutischen Paradigma der Seelsorge bewegung bestimmte Mythen transportiert wurden – der Mythos von weitergehender psychosozialer Entwicklung und Wachstum, von Problembearbeitung und -lösung, von Integration und Heilung – die mit der Realität der Altenseelsorge wenig zu tun haben. Gerade im Kontext des Alten(pflege-)heims geht es viel stärker um Würdigung des gelebten Alltags und um die Ressourcen, die aus dem Rückblick auf die Biografie erzählend gehoben und wertschätzend noch einmal betrachtet werden können. Seelsorge im Krankenhaus und im Alten(pflege-)heim verdienen im poimenischen Diskurs besondere Aufmerksamkeit auch aus theologisch-anthropologischen Gründen: Der Umgang mit kranken oder alten, gebrechlichen Menschen vervollständigt das Menschenbild und korrigiert Einseitigkeiten, denen wir in Gesellschaft und Kirche auf Grund einer tief verwurzelten Leistungsideologie leicht zu erliegen drohen. Die Würde des Lebens ist nach christlicher Anschauung nicht abhängig von Gesundheit und Intelligenz, von Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit, sondern mit der Geschöpflichkeit des Lebens allen Menschen gegeben, auch oder gerade denen, die nur noch eingeschränkt und fragmentarisch leben können (das gilt besonders auch für alle Formen der Demenz). Leben und Gesundheit sind Gabe, Geschenk und nicht Leistung, darauf macht die Begegnung mit kranken und gebrechlichen Menschen in besonderer Weise aufmerksam. In den poimenischen Diskurs gehen in letzter Zeit zunehmend auch Forschungen zum Zusammenhang von Religiosität/Spiritu 20 Vgl. Wolfgang Drechsel, Das Schweigen der Hirten? Altenseelsorge als (kein) Thema poimenischer Theoriebildung, in: Susanne Kobler-von Komorowski/ Heinz Schmidt (Hg.), Seelsorge im Alter, Heidelberg ²2006, 45–63. Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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alität und Gesundheit bzw. Krankheitsbewältigung ein.21 Bei allen Schwierigkeiten, mit denen diese Forschungen auf Grund ihres Entstehungszusammenhangs in den USA behaftet sind, kann man doch folgende von Religiosität oder Spiritualität ausgehende positiven Effekte festhalten: Sie bieten in mehr oder weniger deutlichem Maß »emotionale Entlastung[…], moralische Orientierung[…], soziale Unterstützung[…], kognitive Neubewertung[…] und mentale Bewältigung.«22 Allerdings sind auch negative Wirkungen wie erhöhte Rigidität und Vorurteilsneigung nicht prinzipiell auszuschließen.23 In jedem Fall sollte Seelsorge solche möglichen Zusammenhänge nach außen hin transparent machen.
4. Leitsätze –– Aufsuchende Seelsorge enthält Chancen gerade bei Menschen, die sich durch einen Aufenthalt in einer ihnen fremden Institution von ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang abgeschnitten und entsprechend verunsichert und vereinsamt fühlen. Gemeindliche Seelsorge (sei es durch Pfarrerinnen und Pfarrer, sei es durch Mitglieder eines gemeindlichen Besuchsdienstes) kann in hilfreicher Weise (religiöse) Zugehörigkeit und Heimat anbieten bzw. verstärken. –– Besonderen Wert hat eine Orientierung an der Biografie der besuchten Person: Hier öffnen sich Möglichkeiten, die aktuelle Lebenssituation im größeren Zusammenhang des eigenen Lebens erzählend zu betrachten und vor diesem Hintergrund Ressourcen wie Grenzen deutlicher in den Blick zu nehmen. –– Die Erfahrung von Krankheit und/oder Gebrechlichkeit weitet die theologisch-anthropologische Perspektive aller Beteiligter: Leben ist als Gabe des Schöpfers unbedingt wertvoll und als solches zu schätzen, unabhängig von Gesundheit und Leistungsfähigkeit. 21 Vgl. Michael Klessmann, Heilsamer Glaube?! Über den Zusammenhang von Religiosität, Seelsorge und Heilung, in: Beiheft 2007 zur BThZ, 130–153. 22 Michael Utsch, Religiöse Fragen in der Psychotherapie, Stuttgart 2005, 184. 23 Vgl. den Titel von Gunther Klosinski (Hg.), Religion als Chance oder Risiko, Bern/Göttingen 1994. 94
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–– Methodisch geht es darum, als religiös konnotierte Person präsent zu sein, Unabänderliches mit auszuhalten, bei der Suche nach Sinn behilflich zu sein, den normalen Alltag und das Wiederkehrende zu würdigen, als Grundhaltung wertschätzende Validation zu vermitteln und durch den Vollzug von kleinen Ritualen (Gebet, Segen) Lebensgewissheit zu stärken. –– Eine Zusammenarbeit zwischen parochialen und nichtparochialen, funktionalen seelsorglichen Diensten ist zu empfehlen.
5. Zukünftige Entwicklungen Es ist jetzt schon spürbar, dass die Zahl der hauptamtlichen Theologinnen und Theologen deutlich zurückgehen wird; gleichzeitig nimmt die Zahl der Alten(pflege-)heime weiterhin zu, wenn die starken Jahrgänge der sog. Babyboomer in ein hohes Alter kommen und pflegebedürftig werden. Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim, die von der Gemeinde ausgeht, wird dann in zunehmendem Maß von Ehrenamtlichen, die entsprechend vorbereitet und begleitet werden, geleistet werden müssen. Diese Entwicklung kann durchaus positiv gesehen werden, denn mög licherweise gelingt es Ehrenamtlichen leichter, eine Atmosphäre von Vertrauen und Gemeinschaft zu erzeugen, die bei Besuchten als tröstlich und ermutigend wahrgenommen wird. Und man kann davon ausgehen, dass die seelsorgliche Tätigkeit vieler Ehrenamtlicher wiederum auf die Gemeinschaft in der Parochie zurück wirkt. Gemeinde wird auf diese Weise wieder deutlicher auch empirisch als Subjekt der Seelsorge erkennbar.
Literatur Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. Martin Ehrhardt/Lothar Hoffmann/Horst Roos, Altenarbeit weiterdenken. Theorien – Konzepte – Praxis, Stuttgart 2014. Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen 52014. Birgit Weyel, Aszetik: Spiritualität und Religiosität im Alter, in: Praktische Theologie des Alterns, Thomas Klie u. a. (Hg.), Berlin 2009, 597–614. Seelsorge im Krankenhaus und Alten(pflege-)heim
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Seelsorge mit älteren Menschen
1. Fallbeispiel Rund hundert Personen besuchen im Bildungshaus die Veranstaltung »Christliche Bestattungskultur«. Es sind vorwiegend ältere Menschen, die den Vorträgen aufmerksam lauschen. In der Kaffeepause nutzt Frau G. die Gelegenheit und spricht einen Referenten an. Sie ist ungefähr 75 Jahre alt und auf einen Rollator angewiesen. Ob er ihr nicht ein gutes Buch empfehlen könne, fragt sie ihn. Sie werde in ihrer Kirchgemeinde immer öfters von alten Gemeindegliedern zur Beratung beigezogen. Wenn es darum gehe, vorsorglich die eigene Bestattung zu regeln, seien viele überfordert. Frau G lebt als reformierte Christin in der katholisch geprägten Südschweiz. Die evangelische Diaspora ist klein und zerstreut – die meisten Gemeindeglieder stammen aus der Deutschschweiz oder aus Deutschland. Es komme nicht selten vor, dass sich die alternden Migranten eine letzte Ruhestätte in der alten Heimat wünschten. Frau G. ist für die damit gegebenen Komplikationen keine Spezialistin, wie sie selbst erklärt. Wichtiger sei es, dass jemand zuhöre und Hilfe vermittle. Sie sei halt als älteres Gemeindeglied schon vertrauter mit den ganz Alten in der Gemeinde. Der Pfarrer könne gar nicht alles bewältigen, meint sie. Darum sei sie auch froh, wenn sie sich lesend in Seelsorge weiterbilde könnte. Der Referent verspricht, ihr ein passendes Buch (Seelsorge in der Reihe elementar!) zu schicken. Er deutet auf den Rollator und fragt, wie sie mit dem Gerät zurechtkomme. Das gehe bestens, meint sie. Es sei ein regelrechter Porsche. Sie habe nur dann ein Problem, wenn es regne. Mit zwei Händen einen Rollator zu steuern und einen Regenschirm zu halten, sei schwierig. In solchen Situationen werde sie nass. ›Wer rostet, rastet‹, meint sie lachend. Er erwidert, die Gott lieben werden sein wie die Sonne! Seelsorge mit älteren Menschen
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2. Die Älteren und die Alten Geweitetes Seelsorgeverständnis Was geschieht in dieser Begegnung? Erfährt Frau G. Seelsorge? Ihr Gegenüber – ein Theologe – lässt sie jedenfalls nicht im Regen stehen. Frau G. kann ihm ihr Anliegen schildern, aus ihrem Leben erzählen und bekommt am Ende des Gesprächs seine Wertschätzung für ihr seelsorgliches Engagement zu spüren. Die Präposition »mit« im Titel deutet es an. Bei der Seelsorge mit älteren Menschen geht es sowohl um Seelsorge an Älteren als auch um Seelsorge, die von Älteren geübt wird. Wer in diesem Pausengespräch Seelsorge sucht, wird sie also mehrfach finden: In der Erzählung von Frau G., in ihrer Bitte um weiterführende Fachliteratur und im kurzen Austausch zwischen zwei Menschen, die sich derselben Sache verpflichtet wissen. Andererseits fehlen einige Merkmale eines »typischen« Seelsorgegesprächs: Keiner der beiden Sprechenden leidet unter Seelennot, es wird nicht gebetet und wenn man den Zuspruch am Ende des kurzen Gesprächs nicht als verkappten Segen interpretieren will, wird auch nicht gesegnet. Und dennoch ist es Seelsorge! Ein geweitetes Verständnis der Seelsorge hat den Vorteil, dass auch dieses alltägliche und spontane Gespräch poimenisch gedeutet werden kann. Tatsächlich lässt sich Seelsorge in und mit einer bestimmten Gruppe nur unter Verren kungen mit der klassischen Definition der pastoralen cura animarum specialis einfangen. Was unter einer gemeindetheologischen Weitung der cura animarum generalis zu verstehen ist, wird mit Bezug auf Friedrich D. E. Schleiermacher in der Einleitung erläutert und in verschiedenen Beiträgen dieses Bandes angesprochen. Geweitetes Verständnis des Alter(n)s Was bedeutet das für die Seelsorge mit den Älteren? Aus der Perspektive der geweiteten Seelsorge geht es einerseits darum, diese Gruppe in ihrem »gegenseitigen Priestertum«1 zu unterstützen und andererseits die Wechselbeziehungen innerhalb dieser Sorgekultur poimenisch zu bedenken. 1 Vgl. dazu Hans-Martin Barth, Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum in ökumenischer Perspektive, Göttingen 1990. 98
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Die Lebenslage älterer Menschen unterscheidet sich von derjenigen von Kindern, Jugendlichen, berufstätigen Erwachsenen aber auch – und das ist etwas kniffliger! – von der Situation der Gruppe, die wir die Alten nennen. Es soll also unter Seelsorge mit älteren Menschen nicht Altenseelsorge verstanden werden.2 Knifflig ist die Unterscheidung der Älteren von den Alten, weil die Themen der Alten und die Alten(pflege)heim-Seelsorge in dieser Gruppe gleichwohl präsent sind. Sie bilden sozusagen den Horizont der Erwartung im Leben der Älteren, insofern diese sich auf das Alter als nächster Lebensphase einstellen – und eben (noch) nicht auf ihr Lebensende! Im Zentrum steht darum die zunächst simpel scheinende Frage: Wer sind die Älteren? Welche Gruppe ist gemeint? Der Komparativ ist schillernd. Älter ist man von Geburt an. Aber wie und wann werden aus den Älteren die Alten? Es scheint sich tatsächlich um eine Art Euphemismus zu handeln, mit dem das Zwiespältige und Despektierliche, das sich mit Bildern des Alters (auch) verbindet, gemildert werden soll. Den Älteren fehlt dafür umgekehrt die Aura der weisen Greise und Greisinnen, die die Alten (auch) umgibt bzw. umgeben kann. Wer nur älter ist, könnte ja noch auf die Idee kommen, im Hühnerhof Motorrad zu fahren.3 Die Lebensphase des Älterseins ist so gesehen eine Spätphase des Erwachsenen- und eine Frühphase des Alters, die sich – ähnlich wie die Phase der A doleszenz – als ein Übergang darstellt, dessen Anfang sich physiologisch (Wechseljahre) und sozial (Pensionierung) bestimmen lässt. Schwieriger als der Anfang ist das Ende dieser Phase festzulegen. Er lässt sich allenfalls mit bestimmten Indikatoren wie Pflege bedürftigkeit oder Multimorbidität definieren. Das kalendarische Alter gibt einen ungefähren Zeitrahmen mit entsprechend weichen 2 Vgl. dazu auch den Beitrag von Michael Klessmann. 3 Das Scherzlied geht zurück auf einen Schlager aus den 1920er Jahren und variiert das Thema der »unwürdigen Alten« auf humorvolle Weise. Die »fidele Alte« oder der »patente Opa« sind akzeptierte Variationen des jungen Senioren – immer auf der Kippe zwischen der Akzeptanz der juvenilen und der Irritation über nicht altersgemässes Verhalten der Alten. Der Hit »Mit 66 Jahren« aus den 1980er Jahren des jüngst verstorbenen Udo Jürgens spielt mit dem Kippen in der Wertung. Seelsorge mit älteren Menschen
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Rändern vor. Die Älteren sind in der Regel Menschen zwischen dem sechzigsten und achtzigsten Lebensjahr. Solche Begrenzungen sind allerdings ziemlich vage. In der Gerontologie sind verschiedene Bezeichnungen für diese Lebensphase in Verwendung. Sie haben allesamt etwas Schillerndes an sich. Wenn beispielsweise von »Best Agern« oder den »jungen Alten« die Rede ist, kommen indirekt und versteckt die Abwertungen, die man doch eigentlich durch die semantische Aufwertung überwinden wollte, (wieder) mit ins Sprachspiel.4 Der Begriff des »Dritten Alters«5 hat demgegenüber den Vorteil, die gedehnte Lebensphase vor dem hohen Alter ohne Wertung zu beschreiben. Das gilt auch für die Bezeichnung »Babyboomer«6. Gemeint ist damit die Kohorte, die nach dem Krieg geboren wurde und ins Alter gekommen ist, sich aber noch nicht alt fühlt. Die geburtenstarken Jahrgänge bilden die erste Generation des dritten Alters – auch Generation 55plus oder 60plus genannt –, eine Generation, die als Trendsetter den gegenwärtigen Altersdiskurs mitprägen und umgestalten. Dass Menschen ein hohes Alter erreichen können, ist an und für sich nichts Neues. Die gestiegene Lebenserwartung und die hohe Geburtenrate bis in die 1960er Jahre führen verbunden mit dem nachfolgenden »Pillenknick« jedoch zum neuartigen Phänomen der alternden Gesellschaft. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich der Altersdiskurs mit dem wachsenden Bewusstsein für die Folgen der demographischen Veränderung ausgesprochen dynamisch und spannungsvoll. Einerseits werden die negativen Zuschreibungen des Alter(n)s aktiver bearbeitet und andererseits haben sich gewisse Stereotypen in gewisser Weise noch verstärkt. Die Angst vor Versorgungslücken bestimmt heute auch die Politik: Im Bereich der Alterspflege gibt es personelle Engpässe, ein 4 Gemeint ist damit, dass das Pro-Aging in ein Anti-Aging kippt, wenn der Jugendlichkeitswahn und die Zwänge des Erwachsenenalters auf die Älte ren übertragen werden. Vgl. dazu Heinz Rüegger, Langlebigkeit, AntiAging und die Lebenskunst des Alterns, in: WzM 59 (2007), 5, 474–488. 5 Vgl. dazu Mike Martin/Matthias Kliegel (Hg.), Psychologische Grundlagen der Gerontologie, Stuttgart 2005, 46–48. 6 Vgl. dazu Pasqualina Perrig-Chiello/François Höpflinger (Hg.), Die Babyboomer. Eine Generation revolutioniert das Alter, Zürich 2009, 13–23. 100
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zunehmend ungünstigeres Verhältnis zwischen Zahlenden und Zahlungsempfängern wird den Sozialstaat belasten; die hohe Lebenserwartung verteuert das Gesundheitswesen. Selbst die quasi neutrale Unterscheidung eines dritten und vierten Alters gerät in diesen Sog. Je verklärter das Leben rüstiger, reisefreudiger und lebenslustiger Senioren/-innen gezeichnet wird, desto düsterer erscheint die Aussicht einer letzten Lebensphase, in der man abhängig, immobil und pflegebedürftig auf den Tod wartet und womöglich der jüngeren Generation hohe Kosten verursacht.7 Uns geht’s gut! Das Dritte Alter ist – nicht zuletzt aufgrund solcher Konstruktionen – mit ambivalenten Gefühlslagen verbunden, die Individuen wie gesellschaftliche Gruppen stark beschäftigen. Positive Erwartungen (»ich möchte mein Leben möglichst lange genießen«) lassen sich als Hoffnungen und negative Erwartungen als Ängste (»ich möchte nicht dement werden!«) einer Generation begreifen, die in den nächsten Jahrzehnten das Gemeindeleben nachhaltig prägen wird. Denn das, was für die Gesellschaft als Ganzes gilt, trifft in noch höherem Masse für die evangelischen Kirchen im europäischen Raum zu: Die Kirchenpopulation ist im Schnitt älter als die Gesamtbevölkerung. Nach Modellrechnungen ist derzeit rund ein Drittel der Evangelischen älter als 60. In zwanzig Jahren werden es 41 % sein.8 Wenn in diesem Zusammenhang da und dort von der »Vergreisung« oder »Überalterung« der Kirche geredet wird, ist das zwar korrekt, aber zumindest zwiespältig.9 Altern ist keine Krankheit, 7 In solchen stereotypen Beschreibungen wird die Alterung der Bevölkerung als »Problem« konstruiert, für das die Politik Lösungen suchen muss. Einer kritischen Sozialgerontologie kommt die Aufgabe zu, solche Konstrukte zu dekonstruieren. Vgl. dazu Anton Amann/Franz Kolland, Kritische Sozialgerontologie, in: dies. (Hg.), Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine kritische Gerontologie, Wiesbaden 2008, 9–43, 17. 8 Petra-Angela Ahrens, Religiosität und kirchliche Bindung in der älteren Generation. Ein Handbuch. Leipzig 2014, 30. 9 Günter Kehrer, Religionssoziologie, Berlin 1968,130 stellt (schon vor fünfzig Jahren) fest, dass die sogenannte Vergreisung kein Indiz für die Randsituation, sondern eher ein Zeichen ihrer Relevanz ist – wenn es ihr gelingt, die mit der Desintegration verbundene Umwertung der Werte positiv zu kompensieren. Seelsorge mit älteren Menschen
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die man kurieren und Alter per se kein Problem, das man lösen müsste. Weder sind die Älteren grundsätzlich eine betreuungsbedürftige Gruppe noch bedarf eine Subgruppe dieser Kohorte – z. B. die alten Älteren – der Seelsorge, nur weil sie altern. Ein geweitetes und gerontologisch gewieftes Seelsorgeverständnis tappt nicht in diese Falle. Dass sich mit dem Alterungsprozess Sorgen einstellen, ist indes nicht von der Hand zu weisen. In der Entwicklungspsychologie wird von Entwicklungskrisen in lebensgeschichtlichen Übergangssituationen gesprochen.10 Der Krisenbegriff hat den Vorteil, dass er an Theoriekonzepte anschließbar ist, die sich für die Seelsorge mit Älteren als fruchtbar erweisen. Psychosoziale Krisen sind keine Symptome einer krankhaften Störung, sondern lassen sich als Signale einer Veränderung begreifen, die als ideales Endziel eine gereifte oder weise Persönlichkeit vorstellt.11 Die Relevanz dieser Themen für die Lebensphase des dritten Alters ist offensichtlich. Es fragt sich aber, ob ein solches Ideal erreicht werden kann und sich die Generation der Älteren überhaupt dafür interessiert, weise zu werden. Was sind ihre Sorgen und Nöte und aufgrund welcher Ressourcen haben ältere Menschen die Kraft, als Christen füreinander einzustehen? Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang eine aktuelle Studie, die sich auf die über 60-jährigen konzentriert. Das sozialwissenschaftliche Institut der EKD hat mit dem Forschungsprojekt »Religiosität und kirchliche Bindung in der älteren Generation« eine Repräsentativbefragung in Form von Faceto-Face-Interviews mit rund 2000 Befragten vorgelegt.12 Unter dem bezeichnenden Titel »Uns geht’s gut« wird in einem ersten Teil der Studie das Lebensgefühl und die Altersbilder der Generation 60plus präsentiert und danach spezifischer nach der Religio-
10 Hilfreich ist der kurze Überblick von Ingeborg Roessler, Krise, Trauma und Konflikt als Ausgangspunkte der Seelsorge, in: Wilfried Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge, Leipzig 2009, 354–376, bes. 358–360. 11 Grundlegend sind die Überlegungen zum Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit von Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 41977, 55–121. 12 Ahrens, Religiosität und kirchliche Bindung (Anm. 8). 102
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sität und der kirchlichen Bindung der Evangelischen gefragt.13 Als zentrales Ergebnis kann festgehalten werden: […] dass sich die ältere Generation – insbesondere die Befragten im ›dritten Alter‹ – von defizitären Altersbildern eher abgrenzt und vielmehr die positiven beziehungsweise aktiven (Selbst-) Zuschreibungen favorisiert. Dieser sich durch praktisch alle Fragen durchziehende Befund lieferte auch den Titel für die Veröffentlichung: ›Uns geht’s gut!‹ Darüber hinaus rechnen sich die meisten Befragten selbst gar nicht zu den Alten. Erst mit Beginn des ›vierten Alters‹, zum Ende des achten Lebensjahrzehnts verändert sich dieses Selbstverständnis. Die Religiosität dockt ihrerseits an die eher am Aktivitätsparadigma orientierten Einschätzungen an: Wer sich selbst als religiös versteht, äußert im Vergleich zu weniger religiösen Personen ein größeres Wohlbefinden, fühlt sich jünger und identifiziert sich stärker mit positiven beziehungsweise aktiven Altersbildern – und dies auch unabhängig von der eigenen Alterszugehörigkeit.14
Insgesamt konstatiert die Studie, dass sich die Bedeutung der Religiosität für das Lebensgefühl und individuelle wie kollektive Altersbilder in engen Grenzen hält. Dort, wo sie bedeutsam ist, korreliert sie positiv mit einer intensiven Praxis.15 Die Generation 60plus ist generell nicht stark kirchenverbunden. Beim Gottesdienstbesuch zeigt sich freilich eine Steigerung mit dem Alter mit einer Spitze bei den 75-jährigen. Danach sinkt die Beteiligung wieder.16
3. Themen der Seelsorge mit Älteren Was bedeuten diese Ergebnisse für die Seelsorge mit den Älteren? Einerseits lassen sie den Schluss zu, dass eine kirchliche Altenarbeit, die weitgehend auf Fürsorge und Betreuung ausgerichtet ist, das dritte Alter verpasst.17 Wenn es darum geht, Ältere als 13 A. a. O., 83–150. 14 A. a. O., 19. 15 A. a. O., 79. 16 Die Studie lässt offen, ob sich darin ein Lebensalterseffekt abbildet, weil keine Vergleichsdaten zur Verfügung stehen. A. a. O., 95. 17 A. a. O., 30. Seelsorge mit älteren Menschen
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Subjekte der Seelsorge anzusprechen, setzt der Begriff »Altenarbeit« ein falsches Signal. Wenn für die Generation 60plus zwar das Alter(n) und mit dem Altern verbundene Erfahrungen relevant sind, das Alter aber an und für sich (noch) kein Thema ist, sind andere Ansätze gefragt. Das spannungsvolle Ineinander der Deutungshorizonte, die das dritte Alter kennzeichnen, findet in der Seelsorgetheorie noch wenig oder noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit.18 Eine kurze (unvollständige) Liste lebensphasenrelevanter Themen vermittelt eine Vorstellung davon, wie viele Ansatzpunkte für eine vertiefte Reflexion sich in der Praxis finden lassen: –– Für viele Menschen ist der Übergang in die nachberufliche Lebensphase ein Befreiungsschlag. Andere erleben einen sogenannten Pensionierungsschock.19 Darunter ist ein krisenhaft erlebtes Ausscheiden aus dem Berufsleben zu verstehen: Von einem Tag auf den anderen fällt man aus einer Struktur heraus; Beziehungsnetze verändern sich und Gewohnheiten müssen aufgegeben werden; die Rollen im häuslichen Zusammenleben werden neu definiert; aktive und passive Zeiten sind neu auszubalancieren etc. Eigentlich würde es sich nahelegen, einen so einschneidenden Übergang rituell zu begehen.20 Seelsorge mit Älteren könnte heißen, zusammen mit den Betroffenen passende Feierformen zu erfinden und Angebote für die Erwachsenenbildung zu kreieren. –– Mit dem Älter- und Erwachsenwerden der eigenen Kinder rutschen Eltern – spätestens wenn Enkelinnen und Enkel da sind – in die nächste Generation. Nicht selten kollidiert das Bedürfnis nach Selbstentfaltung mit den Pflichten der Groß-el18 Das gilt insbesondere auch für die Formen gemeindebezogener Seelsorge, wie sie in diesem Band von Christoph Morgenthaler entfaltet werden. Sie sind bis heute wenig untersucht, in der Seelsorgelehre unterbelichtet und auch im Selbstverständnis der Kirchen zu wenig verankert. 19 Vgl. dazu Perrig-Chiello/Höpflinger, Babyboomer, 45–58. 20 Theoretisch – in einschlägigen Fachwerken – wird eine Erweiterung der Kasualpraxis schon lange gefordert, aber in der Praxis ist davon (noch) nicht viel zu sehen. Das Feld wird eher von freien Ritualbegleiter/-innen besetzt! Vgl. dazu Marianne Kramer Abebe, Aufbruch zu neuen Ritualen. Eine Annäherung an die Praxis freiberuflicher Ritualbegleiter und Ritualbegleiterinnen, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, 39. Jg. 2000, 35–64. 104
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tern.21 Krisen und Chancen der Langzeitbeziehung sind ein weiteres Thema, das nach dem Wegzug der erwachsenen Kinder und/oder dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben stärker in den Vordergrund rückt. Fühlen sich Geschiedene Paare in ihrer Kirche willkommen? Hat die kirchliche Paarberatung auch die »jung« verliebten 70-Jährigen im Visier?22 –– Die steigende Lebenserwartung hat zur Folge, dass die Generation der Älteren immer öfters in eine Sandwichposition geraten und von zwei oder gar drei Seiten als Stützsysteme beansprucht werden können. Die eigenen Kinder oder Enkel sind noch nicht ganz flügge und die hochbetagten Eltern sind unter Umständen auf Unterstützung angewiesen. In der Psychologie kennt man den Begriff der filialen Krise für ein Phänomen, das mit dem Rollenwechsel verbunden ist.23 Wenn die eigene Mutter bemuttert wird, verwickeln sich (meistens) die Töchter oder Schwiegertöchter in einen Widerstreit der Gefühle. Seelsorge mit Älteren könnte heißen, dass die Gemeinde in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen in der Kommune gender- und generationensensible Kurse anbietet, die Betroffenen Hilfestellungen und Möglichkeiten für Gesprächskreise o.ä. bieten. –– Die Generation 60plus verfügt im Vergleich zur Gesamtbevölkerung über die meisten Ressourcen. Sie haben mehr Geld und mehr freie Zeit als in jüngeren Jahren und sind in der Regel auch zufriedener und gesünder.24 Umso härter trifft es diejenigen, die wirtschaftlich schlechter gestellt sind als der Durchschnitt. Altersarmut inmitten gutbegüterter »Silberlöwen« ist bitter. Wer aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls zu früh ›alt‹ wird, hadert mit dem Schicksal. Seelsorge mit Älteren vertröstet nicht die Zukurzgekommenen, sondern verstärkt die 21 A. a. O., 127 f. 22 A. a. O., 118–122. 23 Geprägt hat den Begriff Margret Blenkner, Social Work and Family Relationships in Later Life with Some Thoughts on Filial Maturity, in: E. Shanas/ G. F. Streib (Ed.) Social Structure and the Family. Generational Relations, Englewood Cliffs 1965. Ältere »Kinder«, die ihre Eltern pflegen und ihre neue Rolle akzeptieren, haben eine »filiale Reife« erreicht. 24 Pasqualina/Höpflinger, Babyboomer, 63–83. Seelsorge mit älteren Menschen
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inklusive Kraft der solidarischen Gemeinde. Seelsorge darf den diakonischen Auftrag der Kirche nicht vergessen und muss alles daran setzen, dass die seelsorgliche Gemeinde wächst.
4. Seelsorge mit Älteren – Impulse für den poimenischen Diskurs Bezeichnenderweise wurden die aufgelisteten thematischen Impulse in der Vergangenheit eher in der Literatur zur Freiwilligenarbeit und in der Altenbildung aufgegriffen. Wenn man die Seelsorge mit Älteren als Programm für ein »Pastoral« begreift25, kommt man also nicht umhin, ein Seitenblick auf die Fachdiskurse in diesen Praxisfeldern zu werfen, um danach in einem zweiten Anlauf nach dem gemeindetheologischen Profil der Seelsorge mit den Älteren zu fragen.26 Seelsorge in der Freiwilligenarbeit Das Fallbeispiel spielt eine typische Konstellation ein, die ein solches interdisziplinäres Querdenken erfordert. Frau G. versteht sich als Freiwillige. Sie ist als Mitmensch gefordert und schöpft aus diesem Engagement zugleich die Befriedigung einer sinnvollen Beschäftigung. Sie gibt und empfängt und verbindet das Helfen mit ihrem Bedürfnis nach Selbstformation.27 Wie wichtig diese Wechselbeziehungen für eine Theorie des Helfens sind, hat auch die Diakoniewissenschaft erkannt.28 Für die Seelsorge in der Gemeinde ist der Einbezug von Freiwil ligen vor allem im Besuchsdienst und immer mehr auch im palliativen Bereich unabdingbar. Es versteht sich von selbst, dass man 25 Vgl. dazu Martina Blasberg-Kuhnke Gerontologie und Praktische Theologie. Studien zu einer Neuorientierung der Altenpastoral, Düsseldorf 1985. 26 Vgl. dazu Matthias Dannemann, Die Begleitung älterer Menschen durch Bildung, Gemeindeaufbau und Seelsorge, Berlin 2009. 27 Vgl. dazu Anika Christina Albert, Helfen als Gabe und Gegenseitigkeit: Perspektiven einer Theologie des Helfens im interdisziplinären Diskurs, Heidelberg 2010. 28 Eine gute Übersicht bieten Heinz Rüegger/Christoph Sigrist (Hg.), Diakonie – eine Einführung. Zur Theorie des helfenden Handelns, Zürich 2011, 36–39. 106
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sich für zukünftige Rekrutierungen auf die Gruppe der Älteren konzentrieren muss. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Antworten der EKD-Studie auf die Frage nach der Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement. Sie ist überraschend hoch. 37 % der Befragten geben an, gerne die eine oder andere Aufgabe übernehmen zu wollen. Eine Altersdifferenzierung der Ergebnisse zeigt aber, dass sich nachweislich die 70- bis 74-jährigen stärker engagieren. Das legt den Schluss nahe, dass beim Eintritt in den Ruhestand anderes im Vordergrund steht. Hier wären sicher vertiefte Analysen gefragt.29 Zwei weitere Phänomene lassen sich beobachten: es gibt ein beachtliches Stadt-Land-Gefälle und einen starken Effekt der religiös-kirchlichen Nähe. Anders gesagt: Ein Sozialraum mit hoher Interaktionsdichte wirkt sich positiv auf die Bereitschaft zur Mithilfe aus. Wer zur Kerngemeinde gehört, zeigt eine überdurchschnittlich hohe Motivation, sich weiterhin im Bereich der Kirche zu betätigen. Spiritualität und Lebenskunst Ein zweites seelsorgenahes Praxisfeld ist die sogenannte kirchliche Altenbildung – auch wenn der Begriff, wie eingangs erläutert, in die Irre führt! Denn im Fokus ist mit den Älteren eine Gruppe von Menschen für die eher Themen der Lebenskunst und nicht das Sterben im Vordergrund steht. Das erstere eher mit Spiritualität und letzteres mit Religiosität in Verbindung gebracht wird, macht auf eine Problematik aufmerksam, die der Spruch »im Alter kommt der Psalter« offenbart. Er ist doppelt fragwürdig: Erstens könnten die Älteren auf die irrige Idee kommen, dass das A lter noch nicht gekommen ist, solange sie nicht Psalmen beten und zweitens hat der Psalter den Älteren so wenig und so viel zu sagen wie Jugendlichen oder Erwachsenen.30 Um noch einmal die EKDStudie zu konsultieren: Hier wird festgestellt, dass die Generation 60plus hinsichtlich ihrer religiösen Selbsteinstufung im Durchschnitt eine »eher verhaltene religiöse Orientierung«31 zeige. Be29 Ahrens, Religiosität, 148–150. 30 Vgl. dazu das Themenheft »Im Alter kommt der Psalter« in: Zeitschrift für Gerontologie und Ethik, Nürnberg 2012. 31 Ahrens, Religiosität, 186. Seelsorge mit älteren Menschen
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merkenswert sei insbesondere die Relativierung eschatologischer Glaubenssätze. Es würden, so die Autoren, die üblichen Zuordnungen »regelrecht auf den Kopf« gestellt. Dies zeigt sich sehr eindrücklich in den Befunden zum Glauben an ein Leben nach dem Tod, der doch eigentlich gerade zum Lebensende hin seine Kraft entfalten sollte, als hoffnungsfrohe Aussicht, dass mit dem Tod eben nicht einfach das Ende besiegelt ist. In unserer Untersuchung lässt sich statistisch jedoch keine Relevanz des Alters für diese Glaubensüberzeugung bei den Evangelischen nachweisen.32
Ist das so erstaunlich? Warum soll sich eine 60-jährige mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von beinahe 30 Lebensjahren auf einmal für die letzten Dinge interessieren? Bedeutsamer ist der wachsende »Bedeutungsverlust der Tradierung« innerhalb der älteren Generation. Offensichtlich vergrößrt sich die mentale Distanz zur Kirche im Laufe des Lebens und es »gewinnt auch in der älteren Generation die eigene religiös-kirchliche Entwicklung zunehmend an Relevanz.«33 Wer aufgrund solcher Befunde meint, Religion sei bei den Älteren wenig oder gar nicht gefragt, zieht einen voreiligen Schluss. Die existentielle Auseinandersetzung mit Gott, dem Nächsten und sich selbst ist in dieser Lebensphase wichtig. Die Babyboomer lassen sich auf Fragen des Lebens und des Glaubens ansprechen – sie wollen aber selber mitreden! Schließlich bilden sie auch das Kernsegment der Menschen, die das Bildungsangebot der Kirchen und Akademien nachfragen.34 Dieses Angebot hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Auffällig ist der Trend zu dem, was mit Wilfried Engemann in Aufnahme des weisheitlichen Paradigmas und mit Bezug auf die praktische Philosophie Wilhelm Schmids eine seelsorglich begleitete Lebenskunst nennt. Der Akzent liegt auf den seelsorglichen Implikationen der Begegnung mit dem Anderen, der Be32 A. a. O., 187. 33 A. a. O., 234. 34 Instruktiv ist die Bestandesaufnahme der kirchlichen Altenarbeit seit 1970 in Christian Mulia, Kirchliche Altenbildung. Herausforderungen – Perspektiven – Konsequenzen, Stuttgart 2011, 97–113. 108
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wusstmachung, Irritation, Vermittlung und Zumutung.35 Ähnliches lässt sich beim Thema Spiritualität beobachten. Auch hier wird in der Regel die Selbstsorge stark betont.36 Voreilig wäre es, diesen Trend nur als Fortschritt zu sehen. Eine kritische Gerontologie wird auch die Zwänge beachten, die aus einer Ideologisierung des mittleren Erwachsenenalters entstehen können. Wenn aus dem Succesful Ageing ein Best Ageing wird und Erfüllungsfantasien das Lebensgefühl dominieren, gerät die Selbstsorge in den Strudel einer totalitären Vervollkommnungsideologie. Eine Seelsorge mit den Älteren wird in dieser Kritik Ansätze für eine Poimenik finden, die sich auf Henning Luther berufen kann. Luther analysierte die entwicklungspsychologischen Identitäts konzeptionen von George Herbert Mead und Erik Erikson und kritisiert daran das Ideal einer ganzen, vollständigen, einheitlichen und dauerhaften Identität.37 An dieser Aufgabe scheitert jeder Mensch! Luther spricht seinerseits vom Fragment als einem Torso, das im Kontrast zum Totalen nur bruchstückhaft vorhanden ist, aber eine Ahnung vom Ganzen stiftet und eine Bewegung der Sehnsucht auslöst.38 Eine Seelsorge für ältere Menschen kann daran anschließen und das Proprium des Christlichen in einer hilfreichen und heilsa men Weise für eine Lebensphase konkretisieren, die unter einem enormen Erfüllungsdruck steht.39 Sie nimmt den älteren Mensch gerade dann als Subjekt wahr, wenn sie das Fragile und Fragmentarische der Lebensentwürfe würdigt und das Gelingen wie das 35 Wilfried Engemann, Aneignung der Freiheit, Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge, in: WzM, 58 (2006), 28–48 und ders., Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung der Praktischen Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart, in: ders., Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie, Leipzig 2004, 320–345, 336 ff. 36 Instruktiv dazu auch Rolf Schieder, Seelsorge und Lebenskunst, in: Wilfried Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge, Leipzig 2009, 377–389, bes. 381–383. 37 Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–171. 38 A. a. O., 161–163. 39 Zum Proprium vgl. Richard Riess, Die Frage nach dem Proprium der Seelsorge, in: Wilfried Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2009, 177–186, bes. 184 f. Seelsorge mit älteren Menschen
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Versagen an den Lebensaufgaben im Horizont der Gnade zur Sprache bringt.40 Rechtverstandene Selbstsorge und Seelsorge bilden keinen Gegensatz – sie bedingen einander!41
5. Von Älteren und Ältesten – Leitsätze zum seelsorglichen Amt Die Etablierung einer Seelsorge mit Älteren ist ein Auftrag der christlichen Gemeinde und nicht allein Sache des Pfarramts. Und doch ist das Amt gefragt. Denn die Leitung der Gemeinde basiert in den meisten evangelischen Kirchenordnungen auf einem Zuordnungsmodell. Man kann es sich als eine Ellipse mit zwei Polen vorstellen:42 Den einen Pol verkörpert das pastorale Amt mit den Kernaufgaben der Wortverkündigung und der Verwaltung der Sakramente, den anderen Pol verkörpert ein Gremium, deren Vertreter traditionell die »Ältesten« oder »Presbyter« (von griechisch πρεσβὺτερoς = »Ältester«) heißen.43 Jan Hermelink kommt in einem kurzen geschichtlichen Aufriss dieser Struktur auf Spannungsfelder zwischen pastoralem und presbyterialem Amt zu sprechen und spezifiziert daraus das Ältestenamt. Es zeichnet sich im Gegenüber zu den pastoralen Amtsträgern dadurch aus, dass es den lokal »gewachsenen Bezug des Glaubens« und die »Gemeinschaft der Verschiedenen« markiere. Die Ältesten stehen der Gemeinde als Repräsentanten des Glaubens vor, als solche »in einem erkennbaren Engagement für 40 Vgl. dazu auch Gunda Schneider-Flaume, Schicksal oder Gnade? Theologische Überlegungen zum demographischen Wandel und zum Alter(n), Göttingen 2008. 41 Vgl. dazu Hermann Steinkamp, Seelsorge als Anstiftung zur Selbstsorge, Münster 2005 und Schieder, Selbstsorge, 388 f., der empfiehlt, »den Zwang zur Selbstwahl theologisch in der Lehre von der Erwählung aufzuheben«. 42 Bernhard Petry, Leiten in der Ortsgemeinde. Allgemeines Priestertum und kirchliches Amt – Bausteine einer Theologie der Zusammenarbeit, Gütersloh 2001, 35 ff. 43 Der deutsche Begriff »Priester« geht auf »Presbyter« zurück. In der Lehre des vierfachen Amtes nach Calvin gibt es das Amt der Ältesten, des Lehrers, des Pfarrers und des Diakons. Zum Hintergrund vgl. Matthias Danne mann, Begleitung älterer Menschen, 169–175. 110
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die Kirche, in der Gemeinde in beruflichen und in anderen öffentlichen Zusammenhängen«.44 Zusammen mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer nehmen sie die Verantwortung für die Gemeinde leitung als »Sorge für die Darstellung des Glaubens«45 wahr. Eine Seelsorge mit Älteren kann an diesem Modell und der Bezeichnung »Älteste« anknüpfen. Das Presbyterium ist einerseits ein Relikt aus früheren Zeiten, aber – im Lichte seiner Leitungsfunktionen betrachtet – auch ein Signal für eine gemeinsam gelebte Seelsorgekultur, die der Mitarbeit und Mitverantwortung der Älteren eine konkrete Gestalt gibt – oder besser gäbe. Denn in der realexistierenden Volkskirche herrscht eher ein konzentrisches Leitungsmodell vor. Das Pfarramt bildet das innerste Zentrum, um das sich ringförmig eine Mitarbeiter- und Kerngemeinde legt. Ein Gemeindemodell, das die Altenarbeit und Selbstbeteiligung der Älteren stärker verschränkt, macht es erforderlich, über die Rolle der Mitarbeiter nachzudenken. Zu Recht erinnert Matthias Dannemann an den Zusammenhang von Seelsorge, Bildung und Gemeindeaufbau, wenn er folgende Leitsätze formuliert. Die neuen Alten sind eine neue Herausforderung für die Kirchen, denn diese Frauen und Männer ab 60 Jahren wollen sich nicht als Senioren verstehen. Sie möchten mitarbeiten, anstatt sich bei Kaffeetafeln betreuen zu lassen […] Wie gehen die Kirchen auf diese Menschen zu? Wie beziehen sie diese in ihre konzeptionelle Arbeit ein? […] Hier gilt es, neue Strategien zu entwickeln; eine neue Spiritualität ist gefordert, die sich von aktionistischen Tendenzen abgrenzt und ihren missionarischen Auftrag mit Überzeugung wahrnimmt. Menschen, die aus dem beruflichen Leben ausscheiden, sollten […] die Möglichkeit erhalten, neue spirituelle Impulse zu bekommen und in persönlicher Begegnung und durch Seelsorge auch für neue Aufgaben zur Mitarbeit in der Gemeinde angeregt werden.46 44 Jan Hermelink, Was die Gemeinde leitet – wer die Gemeinde leitet. Spannungsfelder zwischen pastoralem und presbyterialem Amt, in: ders., Kirche leiten in Person, Leipzig 2014, 169–186. 45 A. a. O., 182–184. 46 Dannemann, Begleitung älterer Menschen, 2. Ähnlich Gerit Heetderks, Aktiv dabei. Ältere Menschen in der Kirche, Göttingen 2011 und Im Alter neu werden können, EKD-Orientierungshilfe, Gütersloh 2009, 90 f. Seelsorge mit älteren Menschen
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6. Zukünftige Entwicklungen Matthias Dannemanns Leitsätze verbinden das Phänomen der neuen Alten mit der Forderung einer innovativen Gemeinde entwicklung. Denn die »wachsende Präsenz und die wachsende Zahl älterer Menschen stellt nicht nur die traditionelle Altenarbeit vor neue Herausforderungen, sie stellt auch das traditionelle Bild von Gemeinde infrage und fordert sie zu neuen Lebens- und Gemeinschaftsformen heraus«.47 Das ist eine große Aufgabe! Aber wer, wenn nicht die Babyboomer, könnte sie packen? Sie sind es, die vor vierzig Jahren ausgezogen sind, die Gesellschaft zu verändern. Jetzt haben sie die Chance, etwas von ihren Visionen in der Kirche zu realisieren. Ein Blick in die Zukunft könnte dann aber jene erschrecken, die das dritte Alter möglichst lange dehnen und strecken möchten. In zwanzig Jahren werden die jungen Babyboomer im Vierten Alter angekommen sein und feststellen: Eines Tages werden auch die Älteren alt.48 Diejenigen, die das Altern schon heute mit anderen zusammen üben, fürchten den Tag nicht. Sie werden sein wie die Sonne, die aufgeht in ihrer Pracht.
Literatur Michael Herbst, Beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2012, 612–667, bes. 635–642. Heinz Rüegger, Altern im Spannungsfeld von ›Anti-Aging‹ und ›Successful Aging‹.Gerontologische Perspektiven einer seelsorglichen Begleitung älterer Menschen, in: Ralph Kunz (Hg.), Religiöse Begleitung im Alter. Religion als Thema der Gerontologie, Zürich 2007, 143–182. Gerit Heetderks, Aktiv dabei. Ältere Menschen in der Kirche, Göttingen 2011. EKD Orientierungshilfe, Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche, Gütersloh 2009. Silke Van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analyse einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M./New York 2009. 47 A. a. O., 3. 48 Vgl. dazu Eva Zeltner, Und plötzlich fühle ich mich alt. Vom Blues der mittleren Jahre, Oberhofen 2004. 112
Ralph Kunz
Kerstin Lammer
Seelsorge mit trauernden Menschen
1. Fallbeispiel Meike, nach ihrer zwei Jahre älteren Schwester die zweite Tochter ihrer Eltern, starb infolge einer Stoffwechselerkrankung im Alter von 19 Jahren. Ihre letzte Lebenswoche verbrachte sie auf der Intensivstation einer Universitätsklinik; die Familie konnte dauerhaft anwesend sein, Meike in den Tod begleiten und sich am Sterbe- und Totenbett von ihr verabschieden. Rückblickend erzählt Meikes Mutter: »Ich habe gefühlt, dass da etwas passiert, was ich nicht beeinflussen kann, was ich geschehen lassen muss. Ich habe gefühlt, dass es da eine andere Kraft gibt, die Meike in ihren Händen hat, wir konnten das nur begleiten und zulassen … Es war hilfreich, dass Seelsorger da waren, als wir das Bedürfnis danach hatten. Es gab zwei, sie waren zu verschiedenen Zeitpunkten genau richtig für mich.« Weiter berichtet die Mutter: Die Seelsorgenden haben die Familie bei der Entscheidungsfindung bezüglich lebensverlängernder Maßnahmen bei Meike unterstützt; sie haben sie ermutigt, die verbleibende Zeit mit Meike bewusst zu erleben und so schön wie möglich zu gestalten, von Meike zu erzählen, zu lachen und zu weinen. Sie erzählt weiter von ritueller und sozialer Trauerbegleitung nach dem Tod ihrer Tochter: »Es war so gut, dass wir zusammen die Trauerfeier und die Beerdigung vorbereiten und selbst gestalten konnten. […] Es war ein wichtiges Stück Trauerbewältigung. Die vielen, vielen Beileidsbriefe haben uns immer aufs Neue bewegt und sehr getröstet.« Und später: »…Dass sich die Trauer verändert hat, hat unsere älteste Tochter am zweiten Todestag ausgesprochen, als wir zusammen am Grab standen: ›Es ist anders als letztes Jahr …‹. Bei einem Vortrag von Fulbert Steffensky in diesen Tagen hat mir seine Beschreibung gefallen, dass aus der Trauer Wehmut geworden ist Seelsorge mit trauernden Menschen
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und dass die Wunden vernarbt sind. […] Verändert hat sich meine Haltung zum Tod. Es fällt mir nicht mehr schwer, auf Menschen zuzugehen, die einen Todesfall aushalten müssen. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. […] Durch den Tod von Meike ist mir der Tod als Teil des Lebens viel bewusster geworden. […] Gott ist für mich die Macht, die ich als Mensch mit meiner Vernunft nicht erfassen kann, die ich aber als Macht spüre, und in der ich Meike geborgen sehe.«1
2. Die Bedeutung der Trauer für die Seelsorge und die Bedeutung der Seelsorge für die Trauernden Die Bedeutung der Trauer für die Seelsorge Das obige Fallbeispiel zeigt ein komplexes Bild hilfreicher Trauer seelsorge zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Angebotsformaten und durch verschiedene AnbieterInnen: –– Begleitung antizipatorischer Trauer in der Zeit der Vorbereitung auf den nahenden Tod; –– akute Sterbe- und Trauerbegleitung zur Sterbezeit, am Sterbeort; –– gestreckte Amtshandlungsseelsorge im Zusammenhang der Bestattung und in der oft Jahre andauernden Zeit der Verlust bewältigung; –– institutionelle Seelsorge im Krankenhaus und gemeindliche Seelsorge am Wohnort; –– spezielle Seelsorge durch individuelle Einzelgespräche mit den Trauernden und allgemeine Seelsorge durch gemeinschaftliche rituelle Begehung (Trauerfeier und Bestattung) sowie durch kirchliche Bildungsarbeit (Psychoedukation im Blick auf das Verständnis der Trauer und theologische Bildung im Blick auf das Verständnis von Leben und Tod); 1 Zit. aus: Hildegard Bargenda/Kerstin Lammer/Jens Terjung (Hg.), Kostbare Zeit – Was Eltern erleben, wenn ihr Kind stirbt. Elterninterviews, Praxisberichte und eine wissenschaftliche Reflexion von Kerstin Lammer, Göttingen 2013, Kapitel »Meike«, 109–116. Für den hier abgedruckten Beitrag wurden ausgewählte Textpassagen aus der wissenschaftlichen Reflexion im o.a. Buch (135–177) wörtlich oder sinngemäß übernommen. 114
Kerstin Lammer
–– Trauerseelsorge durch das seelsorgliche Amt der professionell Handelnden und durch die seelsorgliche Gemeinde, die ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringt und stützende, tröstende Gemeinschaft bietet (im obigen Fallbeispiel etwa durch Kondolenzbriefe). Nicht umsonst verwenden die christlichen Kirchen traditionell einen substantiellen Teil ihrer Ressourcen auf die kirchliche Bestattung und auf die Seelsorge in deren Kontext als flächendeckendes Regelangebot im Trauerfall. Doch das reicht nicht mehr aus. Heute »[…] kann die Hilfe der Kirche im Prozess des Trauerns nicht […] mit dem Todesfall beginnen, und nicht […] beendet sein, wenn der Pfarrer gemessenen Schrittes das Grab verlässt«.2 Dies gilt aus mindestens zwei Gründen:3 –– Durch gestiegene Lebenserwartung, Hospitalisierung des Todes sowie Individualisierung und Privatisierung der Trauer ist die Gesellschaft zunehmend ungeübt im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Die Trauernden sind mit der Bewältigung zunehmend allein gelassen. Der Bedarf an Trauerbegleitung steigt. –– Dennoch entgleitet den Kirchen ihre angestammte Expertise im Todes- und Trauerfall. Mehr und mehr wird sie anderen Anbietern (z. B. den Bestattungsinstituten) übertragen. Die Nachfrage nach Kirche als Krisenagentur für Menschen, die vom Tod betroffen sind, ist in den vergangenen 40 Jahren um 35–40 % gesunken. Das trifft die Kirchen in ihrer Kernkompetenz, in ihrem Markenkern. Denn (hierin ist dem Dogmatiker Eilert Herms zuzustimmen): »Der Ausdruck ›Religion‹ bezeichnet nicht irgendwelche Ansichten über eine übersinnliche Welt, Ansichten, die man hegen kann oder auch nicht, sondern ›Religion‹ bezeichnet den für die Existenz jeder endlichen Person grundlegenden Tatbestand, dass sie auf den Ursprung und auf das Ziel ihrer Existenz bezogen ist; und zwar so bezogen, dass 2 Yorick Spiegel,, Der Prozess des Trauerns, Analyse und Beratung, München (Kaiser Verlag) 7. Aufl. 1989, 140. 3 Vgl. hierzu Kerstin Lammer, Trauer verstehen: Formen – Erklärungen – Hilfen. Mit 14 Abbildungen und 13 Tabellen, Berlin/Heidelberg (Springer Medizin) 4. Aufl. 2014, 7–9. Seelsorge mit trauernden Menschen
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sie diese Grenzen ihres Daseins irgendwie verstehen und in ihrer Lebensführung berücksichtigen muss.«4
Endlichkeit bzw. Sterblichkeit ist demnach das zentrale Thema sowohl der Anthropologie als auch der Theologie, sowohl des Lebens wie des Glaubens; die Kommunikation darüber ist die genuine Aufgabe der Religionsgemeinschaft. Besteht auch in der modernen Gesellschaft kein mehrheitlicher Konsens mehr über spezifische (etwa: christliche, evangelische, katholische etc.) inhaltliche Ausprägungen der religiösen Einstellung zum Tod, so haben doch die Kirchen (wie auch andere Religionsgemeinschaften) den religiösen Diskurs darüber zu führen und ihre je eigenen Anschauungen dazu zu kommunizieren. Der Tod ist der »Ernstfall« des Glaubens. Wo er eintritt, ist Kirche im Zentrum ihrer Aufgabe gefordert. Deshalb hat Kirche im Todesfall präsent zu sein; deshalb gehört sie an die Seite der Trauernden; deshalb haben die kirchlichen Amtspersonen ihre Kompetenz nicht nur für den Todes- und Trauerfall auszubilden, sondern auch durch ihn bzw. von ihm her! Der Tod hat hermeneutische Funktion – er ist der Lehrmeister des Lebens und des Glaubens. Mit ihrer Präsenz im Todes- und Trauerfall hat Kirche deshalb einen Dienst an den Betroffenen, an der Gesellschaft und an sich selbst zu leisten. Daher gilt es, den Dienst der Trauerseelsorge stark zu machen. Die Bedeutung der Seelsorge für die Trauernden Neuere Studien belegen: Seelsorge und Religiosität bilden bei der Bewältigung von Trauerfällen und anderen Krisen ein stützendes Potenzial. Dabei schlägt der soziale Faktor – also die Stütze durch die Religionsgemeinschaft – ebenso zu Buche wie substanzielle Faktoren – also die Stütze durch Glaubensinhalte und durch die spirituelle Haltung, die aus dem Glauben erwächst. Die aktive Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist zugleich auch die Zugehörigkeit zu einer Sozialgemeinschaft von Menschen, die diese Religion ausüben und einander in Krisen 4 Herms, Eilert, Ist Religion noch gefragt? in: ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 25–48, hier 30. 116
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situationen wie dem Trauerfall auch soziale Unterstützung geben. »Soziale Unterstützung« ist nach Sidney Cobb zu verstehen als »Information, die das Subjekt zu dem Glauben führt, dass man sich um es kümmert und dass es geliebt, geschätzt und zugehörig zu einem Netzwerks ist, in dem man sich aufeinander verlassen kann«.5 Nach Cobb kann solche soziale Unterstützung die Stressbelastung in einer Krise deutlich reduzieren, und dadurch auch die Raten psychischer und physischer Erkrankungen sowie den Medikamentenbedarf signifikant senken. Über die soziale Unterstützung hinaus kann religiösen Menschen aber auch die Substanz ihrer Religion bei der Krisenbewältigung helfen (oder im Falle negativer Prägungen eventuell auch schaden). Mit Substanz sind die Inhalte der Religion und die religiöse Haltung bzw. die Spiritualität gemeint. Kenneth Pargament und Team verglichen 1990 eine Reihe neuerer, vorwiegend USamerikanischer empirischer Studien dazu: Durchschnittlich 78 % der befragten Personen gaben an, in Stress- oder Krisensituationen religiöse Bewältigungsstrategien zu Hilfe zu nehmen.6 In Deutschland sichtete Jula Well 2013 verschiedene religionspsychologische Studien aus dem In- und Ausland und kommt zu dem Ergebnis, »[…] dass Religiosität eine positive, gesundheitsfördernde Wirkung habe«, sowie » […] ein psychosoziales Potenzial, das die Stressbewältigungskompetenz des Individuums zu stärken vermag.«7 Ein wesentlicher Wirksamkeitsfaktor dabei ist, 5 Übersetzung von mir. Vgl. im Original: Cobb, Sidney, Social Support as a Moderator of Life Stress, in: Psychosomatic Medicine 38 (1976), 300.314, hier: Abstract, 300. 6 Vgl. Pargament, Kenneth I. et al., God help me. 1: Religious Coping Efforts as Predictors of of the Outcomes to Significant Life Events, in: American Journal of Community Psychology 18 (1990), 739–823. 7 Jula Well,, Ressourcen stärken. Seelsorge für Eltern letal erkrankter Kinder, Leipzig 2013, 62. Well benutzt den Begriff »Religion« gemäß der Definition von Pargament als »Suche nach Bedeutsamkeit in Relation zum Heiligen« und »Religiosität« entsprechend als »individuelle Suche nach Bedeutsamkeit in Relation zum Heiligen«; vgl. Kenneth I. Pargament,, The Psychology of Religion and Coping. Theory, Research, Practice, New York 1997, 28. Vgl. aus dem deutschsprachigen Raum auch: Christian Zwingmann/Helfried Moosbrugger, (Hg.), Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung. Neue Beiträge zur Religionspsychologie, Münster Seelsorge mit trauernden Menschen
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dass Religion Modelle zur Verfügung stellt, um krisenhafte Lebensereignisse in Bedeutungszusammenhänge einzuordnen. Dadurch wird es den Betroffenen erleichtert, einen Koheränzsinn, d. h. einen Zusammenhangssinn zu entwickeln und mit der Kontingenz umzugehen. Das psychosoziale Potenzial der Religion lässt sich in folgende drei Dimensionen ausdifferenzieren:8 –– ein »soziales religiöses Potenzial« durch soziale Kontakte, die infolge der Zugehörigkeit zur Gemeinde entstehen; –– ein »emotionales religiöses Potenzial«, d. h. dass Religiosität (nach der Theorie der positiven Emotionen) einen positiven emotionalen Erlebniswert hat, indem nämlich der Glaube an die Existenz eines liebenden Gottes ein »Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit in den Händen dieses Gottes vermitteln« könne9; –– ein »kognitives religiöses Potenzial«, d. h. dass Religiosität (nach der Theorie der kognitiven Orientierung) Orientierung i. S. einer Ausrichtung an den Werten und Sinndeutungen der Religionsgemeinschaft, die »eine kognitive Strukturierung in einer immer weniger überschaubaren und sich permanent verändernden Welt« ermöglichen.10 Man unterscheidet drei protektive und drei negative Stile der religiösen Bewältigung (engl. »Coping« genannt):11 2004, darin insbesondere: Anette Dörr, Religiöses Coping als Ressource bei der Bewältigung von Life Events, aaO., 261–275, sowie Anette Dörr, Religiosität und psychische Gesundheit. Zur Zusammenhangsstruktur spezifischer religiöser Konzepte, Hamburg 2001. 8 Vgl. Well, aaO., 63 f. im Anschluss an Dörr, A., Religosität und psychische Gesundheit. Zur Zusammenhangsstruktur spezifischer religiöser Konzepte, Hamburg 2001. 9 Vgl. Well. aaO., 63 im Anschluss an Dörr, aaO., 56; dies dürfte vorwiegend auf die drei monotheistischen Religionen zutreffen. 10 Vgl. Dörr, aaO., 53, zit. nach Well, aaO., 64. 11 Vgl. Well, aaO., 65–69, im Anschluss an Kenneth Pargament et al., Religion and the Problem-Solving Process. The Styles of Coping, in: Journal for the Scientific Study of Religion 27, 1988, 90–104 sowie Kenneth I. Pargament/ Curtis R. Brant,, Art. Religion and Coping, in: Harald G. Koenig (Ed.), Handbook of Religion and Mental Health, San Diego 1998, 111–118. 118
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–– der »selbsttätige Stil« (engl.: »Self-Directing Style«) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen ihre Probleme selbst und alleinverantwortlich lösen, aber darauf vertrauen, dass Gott ihnen die dazu notwendigen Ressourcen (z. B. Kraft) schenkt; –– der »verschiebende Stil« (engl.: »Deferring Style«) zeichnet sich durch die Erwartung aus, dass Gott durch seine Aktivität das Problem löst bzw. die Krise überwindet, z. B. indem er den Betroffenen Zeichen gibt, was zu tun sei; –– der »kollaborative Stil« (engl.: »Collaborative Style«) ist durch die Annahme gekennzeichnet, dass Gott und Mensch bei der Bewältigung des Problems bzw. der Krise zusammenwirken. Diese drei Modelle religiöser Grundannahmen können sich als positive bzw. protektive Ressourcen bei der Krisenbewältigung auswirken. Dagegen seien »Unzufriedenheit mit der Gemeinde und Gott« (engl.: »Discontent with Congregation and God«), wie z. B. die Annahme: »Ich bin von Gott und der Welt verlassen, keinen kümmert mein Schicksal« sowie negative religiöse Umdeutung12 (engl.: »Negative Religious Reframing«), wie z. B. die Annahme: »Gott straft mich mit diesem Widerfahrnis für meine Vergehen; ich bin schuld« eher dysfunktional und der Krisen bewältigung abträglich. Die Versuchsanordnung der genannten Studien ist insofern unterkomplex, als sie »Religiosität« oder »Glauben« vorwiegend mit der Zustimmung zu bestimmten Annahmen gleichsetzen, und sie weniger verstehen als eine Haltung der Ehrfurcht vor dem Geworfensein ins Leben und des Vertrauens ins Leben, mehr als Überzeugung und weniger als spannungsvolle und letztlich sich dem Leben doch anvertrauende Auseinandersetzung mit den Ambiguitäten des Seins. Wesentlich scheint aber zu sein: Religion bietet (verschiedenste) Modelle dafür, wie man angesichts des Leidens Sinn suchen und finden kann. Sie bietet einen gemeinschaftlich gehaltenen Raum für die Auseinandersetzung mit der Kontingenz. Sie lässt erkennen, dass die Wirklichkeit mehr ist als das Vorfindliche und das Machbare. Sie ermöglicht Vertrauen auf 12 Hierfür bietet Well keine deutsche Übersetzung an; die Übersetzung stammt von mir. Seelsorge mit trauernden Menschen
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eine Kontinuität der Verbundenheit trotz Verletzungen und Versehrtheiten. Daher kann sie eine geeignete Ressource zur Leidensbewältigung, in unserem Fall: zur Trauerbewältigung, sein. Denjenigen, die Trauende seelsorglich begleiten, ist zu raten, Selbst- und Weltverständnis sowie Religion nicht als Privatsache zu betrachten, sondern Trauernde darauf anzusprechen, inwiefern sich ihre Lebenseinstellung durch die gemachte Leidenserfahrung verändert (hat), wonach sie in ihrer Lage fragen und suchen, woran sie glauben, worauf sie vertrauen und hoffen – oder, wenn sie es momentan nicht können, worauf sie vertrauen und hoffen möchten. Manchmal kann es hilfreich sein, stellvertretend vom eigenen Hoffen und Vertrauen zu sprechen.
3. Erkenntnisse neuerer Trauerforschung Trauer ist die normale Reaktion auf einen bedeutenden Verlust. Es handelt sich um einen kulturübergreifend bekannten Prozess, der eine positive Funktion hat, nämlich: den Verlust nach und nach zu begreifen, ihn emotional, kognitiv, sozial und im Verhalten zu bewältigen und sich in einer äußerlich und innerlich veränderten Wirklichkeit wieder zurechtzufinden. Ein Trauerprozess verlangt den Betroffenen enorme Integrationsleistungen ab, führt dadurch aber auch oft zu einer Reifung und Stärkung der Persönlichkeit.13 Annahmen über Ursache, Formen, Charakter und Dauer von Trauerprozessen, die noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gängig waren und zum Teil bis heute in evangelischen Bestattungsagenden fortgeschrieben werden, sind durch die neuere Forschung widerlegt worden. Auf diese Forschung ist einzugehen, denn im Anschluss an ihre Ergebnisse mussten auch Paradigmen und Zielbestimmungen der Trauerbegleitung verändert werden. 13 Zur Reifungsfunktion der Trauer vgl. insbes. Melanie Klein, Die Trauer und ihre Beziehung zu manisch-depressiven Zuständen (1940), in: dies., Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse, hg. von Hans A. Thorner, Stuttgart, 5. Aufl. 1994, 95–130. 120
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Diversität von Trauerreaktionen Das Stichwort »Diversität« fasst den wichtigsten Befund der neueren empirischen Trauerforschung zusammen: Menschen trauern nicht, wie es in der älteren Forschungstradition die verbreiteten »Phasen«-Modelle nach Elisabeth Kübler-Ross, Granger Westberg, Yorick Spiegel und anderen nahegelegt haben, gleich oder ähnlich, sondern im Gegenteil sehr verschieden. Daher ist jede schematisierte Erwartung daran, wie man »normal« oder »richtig« zu trauern habe, verfehlt. Vielmehr sind Trauernde individuell darin zu unterstützen, den eigenen Trauerweg sowie den eigenen Trauerstil zu entdecken und die Trauer so zu leben, wie es der eigenen Neigung und dem eigenen Bedürfnis jeweils entspricht. Dabei wird die Gestalt der Trauer sich verändern – Trauer ist ein vitaler und dynamischer Prozess, in dem sich die Betroffenen auf vielfältige Weise neu kennen lernen und entwickeln. Dauer Der Umgang mit Trauernden fordert Geduld, denn die Dauer von Trauerprozessen kann wesentlich länger sein, als es sozial erwartet wird. Das Arbeitsrecht räumt Trauernden beim Verlust eines Angehörigen ersten Grades zusätzlich zum regulären gesetzlichen Urlaubsanspruch nur einen arbeitsfreien Tag zur Teilnahme an der Trauerfeier ein. Das im Mai 2013 erschienene US-ameri kanische Standard-Diagnosemanual für psychische Störungen, DSM-V, misst Trauerprozessen bereits einen Krankheitswert bei, wenn sie länger als 14 Tage dauern. Die kulturelle Tradition in Mitteleuropa erlaubt ein Trauerjahr. Nach empirischen Befunden ist es aber völlig normal, wenn Trauerprozesse zwei, drei, fünf oder mehr Jahre dauern.14 Der Trauerprozess gilt als beendet, wenn man sich an die Verstorbenen erinnern kann, ohne dass es stechenden Schmerz auslöst. Diversität von Trauerursachen und Bedeutungen des Verlusts Man trauert nicht um jeden Menschen, der im näheren sozialen Umfeld stirbt, sondern man trauert nur dann um einen Menschen, 14 Vgl. u. a. Sidney Zisook/Stephen S. Shuchter, The First Four Years of Widowhood, in: Psychiatric Annals 16 (1986), 288–294. Seelsorge mit trauernden Menschen
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wenn man seinen Tod als persönlich bedeutsamen Verlust empfindet. Man trauert nicht, wie Sigmund Freud annahm, nur dann um einen Menschen, wenn man ihn geliebt hat, sondern auch dann, wenn er oder sie in irgendeiner anderen Weise bedeutsam für die eigene Person oder für das eigene Leben war – sei diese Bedeutung positiv oder negativ oder ambivalent. Und man trauert nicht nur um das, was man mit dem verstorbenen Menschen gehabt, sondern auch um das, was man mit ihm nicht gehabt hat, was man von ihm erhofft und ersehnt, aber nie bekommen hat, und nach seinem Tod auch endgültig nicht mehr bekommen wird. Die neuere theoretische Trauerforschung sucht die Frage, wa rum und worum genau Trauernde trauern, von verschiedenen psychologischen Schulen her sehr unterschiedlich zu erklären: Ist es Liebe (Psychoanalyse), ist es Bindung (Bindungstheorien), ist es positive Verstärkung (Behaviorismus), ist es Lebenssinn (Kognitionspsychologie), ist es emotionale, instrumentelle oder validierende Unterstützung, ist es soziale Identität (Stroebe&Stroebe)15, oder was ist es sonst, das mit dem verstorbenen Menschen verloren und betrauert wird? Der wichtigste Befund neuerer theoretischer Trauerforschung scheint die Diversität der möglichen Verlustqualitäten zu sein. Daraus leitet sich als zentrale Frage von Trauerarbeit und Trauerbegleitung ab, was genau der ver15 Vgl. zur Grundlegung der psycholanalytischen Trauertheorie: Sigmund Freud, Trauer und Melancholie(1916), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt 41967, 428–446; zur Grundlegung der Bindungstheorien und deren Bezug zur Trauer: John Bowlby, Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen, Stuttgart 1982 (am. Originalausgabe: The Making and Breaking of Affectional Bonds, London [Tavistock Publications] 1979; zu behavioristischen Modellen von Trauer und Trauer begleitung: Janel Gauthier/William L. Marshall, Grief: A Cognitive-Behavioral Analysis, in: Cognitive Therapy and Research 1 (1977), 39–44; zu kognitionspsychologischen Ansätzen: Lazarus, Richard S./Susan Folkman, Stress, appraisal and coping, New York (Springer Publishing) 1984 sowie Peter Marris, Loss and Change, London (Routledge/Kegan Paul) 1974; zum multiplen Defizitmodell der Trauer: Margret und Wolfgang Stroebe, Bereavement and Health. The psychological and physical consequences of partner loss, Cambridge/New York (Cambridge University Press) 1987, 90–100; alle angegebenen Modelle sind rezipiert und für die Praxis der Trauerseelsorge weitergeführt in: Kerstin Lammer, Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen-Vluyn, 6. Aufl. 2013. 122
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storbene Mensch für die Hinterbliebenen bedeutet hat, was davon mit seinem Tod verloren gegangen und zu betrauern ist, und was davon ihnen trotz seines Todes bleibt. Das kann von Fall zu Fall und selbst für verschiedene Hinterbliebene, die um denselben Menschen trauern, sehr verschieden sein. Wenn zwei Kinder um dasselbe Elternteil trauern, betrauert das eine womöglich einen ganz anderen Verlust als das andere, weil jedem der Vater oder die Mutter etwas anderes bedeutet hat. Um dem nachzugehen, ist es wichtig, von den Verstorbenen, immer und immer wieder zu erzählen. Denn das, was wieder und wieder erzählt wird, zeigt den Inhalt der besonderen Bedeutung der Verstorbenen an – also die Antwort auf die o.a. Suchfrage. Auch die Trauerrede im Kontext der Bestattung kann diese Frage aufnehmen. Trauer als Lernprozess Trauer hat, so wissen wir durch die Studien des Verhaltens- und Bindungsforschers John Bowlby16, u. a. den Charakter eines Lernprozesses. Es braucht also Zeit, Raum und Gelegenheit, die Tatsache des Todes zu begreifen und die Anpassung an die neuen Realitäten eines Lebens, in dem der verstorbene Mensch fehlt, zu erlernen. Daher ist es gut, wenn Trauernden Gelegenheit zu solchem Lernen gegeben wird und wenn sie selbst die Gelegenheiten suchen und wahrnehmen: Abschied am Sterbe- und Totenbett, Leichenschau, Bestattungsritual, Aufsuchen von Erinnerungsorten, Totengedenken, Sprechen über die Verstorbenen, über ihren Tod und über ihr Leben, etc. Initiation je früher desto besser Die so genannte »Schock-Phase«, die in der evangelischen Poimenik besonders durch Yorick Spiegel prominent vertreten wurde, ist ein schädlicher Mythos der Trauerliteratur. Die meisten Trauernden sind am Beginn des Trauerprozesses nicht wie betäubt, wahrnehmungs- und kommunikationsunfähig, sondern im Gegenteil von hoher Sensibilität und Aufmerksamkeit – auch wenn es nach außen nicht so scheinen mag. Unterdrückung und Verzögerung von Trauerreaktionen gehören zu den Risikofaktoren, 16 Vgl. das in Anm. 16 angegebene Werk Bowlby’s. Seelsorge mit trauernden Menschen
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die Trauerprozesse erschweren; dagegen ist eine möglichst frühe Trauerinitiation von Vorteil und macht es in aller Regel später überflüssig, mit aufwendigen therapeutischen Verfahren die Ursprungssituation mühevoll wieder aufzusuchen, freizulegen und nachzuerleben. Deswegen gilt auch für die Trauerbegleitung: je früher, desto besser. Gute Hilfestellungen bieten hierzu christliche Rituale, die der Bestattung noch vorgelagert sind: Krankensalbung, Sterbesegen (als Segen, den die Sterbenden den Hinterbleibenden spenden!), Aussegnung der Toten am Totenbett etc.. Die Anmeldung der Bestattung und der seelsorgliche Besuch im Trauerhaus sollten schnellstmöglich nach dem Tod erfolgen. Bewältigung Die Bewältigung des Verlusts können viele Trauernde ohne fortwährende professionelle Hilfe meistern – wenn sie Gelegenheit dazu haben und auf normale familiäre und/oder soziale Unterstützung (z. B. in einer Kirchengemeinde) zurückgreifen können. Nach Stroebe und Shut scheint die Bewältigung am besten nach einem »dualen Prozessmodell der Trauer« zu gelingen, d. h. durch eine Kombination von Festhalten und Loslassen, Trauer leben und Trauer auch gelegentlich verdrängend zur Seite schieben, Beschäftigung mit dem Tod und den Toten einerseits und Ablenkung, Verdrängung und Zuwendung zum Leben andererseits.17 Risikofaktoren, die zu erschwerten oder chronifizierten Trauerverläufen führen können, sind inzwischen gut identifiziert und können Seelsorgenden als Orientierung dafür dienen, wem sie eine fortgesetzte professionelle Trauerbegleitung anbieten oder empfehlen sollten.18 Bleibende Verbundenheit statt Ablösungsideal Entgegen verbreiteten Annahmen der älteren Trauerforschung ist die so genannte »Ablösung« von den Verstorbenen für die Ver17 Vgl. Margret Stroebe/Henk Shut, The dual process modell of coping with bereavement: Rationale and description, in: Death Studies 23, 1999, 197–224. Darauf baut auch auf: Hansjörg Znoj, Komplizierte Trauer. Fortschritte der Psychotherapie, Göttingen 2004. 18 Vgl. Kerstin Lammer, Trauer verstehen: Formen – Erklärungen – Hilfen, Heidelberg (Springer Medizin), 4. Aufl. 2013, 26 f. 124
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lustbewältigung nicht erforderlich. Zwar wird es auch heute noch als ein Ziel der Trauerarbeit angesehen, dass Trauernde in die Lage kommen, andere Beziehungen als die zu den Verstorbenen wieder zu genießen und neue Beziehungen einzugehen. Dazu ist es aber nicht notwendig, sich von den Verstorbenen zu lösen oder sie gar zu vergessen. Vielmehr wird heute angeregt, die Verstorbenen und das, was sie den Hinterbliebenen bedeutet haben, neu zu verorten. Das kann geschehen, indem die Trauernden eine Vorstellung vom Schicksal und vom Verbleib der Toten entwickeln. Oder sie geben dem, was ihnen in der Beziehung zu den Verstorbenen wichtig war, einen neuen Platz im eigenen Leben, indem sie Erinnerung und die innere Verbundenheit mit den Verstorbenen weiterhin pflegen. Die christliche Bestattungs- und Erinnerungskultur wie auch der christliche Glaube an die Gemeinschaft der Heiligen, zu denen ja auch die Toten gehören, bieten hierfür traditionell reiche Ressourcen. Neuere hypnosystemische Ansätze, die von Roland Kachler für die Trauerseelsorge rezipiert wurden, bieten psychologische Hilfestellungen (z. B. Imaginationsübungen) zur Pflege der bleibenden Verbundenheit mit den Verstorbenen.19 Aufgabenmodell statt Phasenmodell Wenn nun eine so große Diversität von Verlustbedeutungen und von Verlustreaktionen zu konstatieren ist, wenn Menschen also so unterschiedlich trauern, kann ein Phasenmodell kein adäquates Modell des Trauerprozesses und/oder der Trauerbegleitung sein, denn hier wird ein idealtypisches Schema immer gleicher oder ähnlicher Abläufe entworfen. Besser geeignet scheint ein Aufgabenmodell, das beschreibt, was Trauernde im Verlauf des Trauerprozesses zu bewältigen haben, das aber Raum lässt für ein individuelles Wie der Bewältigung, also für verschiedene Bewältigungsstrategien und Trauerstile. Die Aufgaben der seelsorglichen Trauerbegleitung sind aus den Aufgaben abzuleiten, die Trauernde im Umgang mit dem Verlust zu bewältigen haben (vgl. Abb. unter 4.). 19 Vgl. Kachler, Roland, Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis, Heidelberg (Carl-Auer-Verlag), 2. Aufl. 2012. Seelsorge mit trauernden Menschen
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4. Wichtige Leitsätze für die Seelsorge mit Trauernden Leitsätze für die Praxis habe ich in meinem Aufgabenmodell der Trauerbegleitung formuliert:20 Aufgaben der Trauerbegleitung nach Lammer 2004/20141
T
od begreifen helfen (Realisation)
R
eaktionen Raum geben (Initiation)
A
nerkennung des Verlusts äußern (Validation)
U
ebergänge unterstützen (Progression)
E
rinnern und Erzählen ermutigen (Rekonstruktion)
R
isiken und Ressourcen einschätzen (Evaluation)
5. Impulse für die zukünftige Entwicklung der Trauerseelsorge Aus genannten Gründen ist es geboten, die kirchliche Expertise für den Todes- und Trauerfall zu halten und an die Betroffenen zu bringen. Was dafür fachlich erforderlich ist, ist in der Poimenik gut erfasst. Die sozial- und humanwissenschaftlichen Forschungsstände sind rezipiert und poimenisch weitergeführt. Diskurse um gute Trauerbegleitung sind gegenwärtig nach außen vor allem mit der Medizin zu führen: Die aktuelle Fassung des füh20 So veröffentlicht in Lammer, Trauer verstehen: Formen – Erklärungen – Hilfen, Heidelberg (Springer Medizin) 79, Erstauflage Neukirchen-Vluyn 2004. 126
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renden psychiatrischen Diagnosemanuals in den USA, DSM-V (2013) pathologisiert und stigmatisiert gesunde Trauerreaktionen, die länger als 14 Tage andauern – dem ist unter Verweis auf die empirischen Befunde zur Dauer von Trauerprozessen zu wehren. Nach innen muss sich der poimenische Diskurs um gute Trauerbegleitung vor allem auf die Strukturebene beziehen:21 Wie kann angesichts der Verknappung personeller Ressourcen eine Angebotsstruktur vorgehalten werden, die den unter 2. genannten Anforderungen genügt? Wie wird die erforderliche Vernetzung von gemeindlicher und institutioneller, von haupt- und ehrenamtlicher Seelsorge, von Seelsorge, Gottesdienst und Bildungsarbeit organisiert? Wie gewinnen GemeindepfarrerInnen angesichts schon bestehender Überforderungen Zeitkontingente für eine gestreckte Trauerseelsorge? Wo wird definiert, was zur seelsorglichen Grundversorgung, z. B. im Trauerfall, gehört und wie wird auf Leitungsebene sichergestellt, dass diese Versorgung auch vorgehalten werden kann? Wie können Angebote der Trauerseelsorge, die über den Zusammenhang der Bestattung hinausgehen, den Betroffenen bekannt gemacht und verlässlich erreichbar werden? Die poimenische Diskussion ist hier nicht ohne die kybernetische zu führen.
6. Literatur Roland Kachler, Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis, Heidelberg, 22012. Lammer, Kerstin, Trauer verstehen: Formen – Erklärungen – Hilfen. Mit 14 Abbildungen und 13 Tabellen, Berlin/Heidelberg 42014 (Erstauflage Neukirchen-Vluyn 2004). Lammer, Kerstin/Borck, Sebastian/Habenicht, Ingo/Roser, Traugott (Hg.), Menschen stärken. Seelsorge in der evangelischen Kirche, Gütersloh 2015. 21 Vgl. hierzu Kerstin Lammer, Welche organisationale Qualität braucht die Seelsorge? Strategie, Struktur und Leitungsaufgaben, in: dies. et al., Menschen stärken. Seelsorge in der evangelischen Kirche, Gütersloh 2015, 93–112, sowie Sebastian Borck/Traugott Roser, Wohin soll die Entwicklung der Seelsorge gehen? Sicherung, Erweiterung und Konzentration, Vernetzung in der Region, in: ebd., 113–119. Seelsorge mit trauernden Menschen
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Müller, Monika et al., Handbuch der Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care, Göttingen 22014. Wagner-Rau, Ulrike (Hg. im Auftrag der Liturgischen Konferenz), Zeit mit Toten. Eine Orientierung der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2015. Lammer, Kerstin, Fortschritte in der Trauerforschung – Herausforderungen für die kirchliche Trauerbegleitung, in: dies., Beratung mit religiöser Kompetenz. Beiträge zu pastoralpsychologischer Seelsorge und Supervision, Neukirchen-Vluyn 2012, 73–93. Wagner-Rau, Ulrike, Kontakt zu Toten. Seelsorgerlicher Umgang mit spiritualistischer Religiosität im Trauerprozess, in: An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorick Spiegel, FS für Yorick Spiegel zum 70. Geburtstag, Ilona Nord/Fritz Rüdiger Volz (Hg.), Münster 2005, 453–468.
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Traugott Roser
Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
1. Fallbeispiel Herr F., Mitte 60, leidet an fortgeschrittener Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Er wohnt mit seiner Lebensgefährtin Frau H. in einer Etagenwohnung. Frau H. hat ihre Berufstätigkeit eingeschränkt, um für ihn da sein zu können, unterstützt durch einen Pflegedienst und jüngst durch Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV). Auf einen Hinweis des örtlichen Hospizdienstes besucht Pfarrerin S usanne G. Herrn F., der Mitglied ihrer Kirchengemeinde ist. Die Ärztin des SAPV-Teams klärt sie vorab über die Erkrankung und den bald zum Tode führenden Verlauf auf. Die zunehmende Lähmung der Muskulatur wird in Kürze auch die Atmung beeinträchtigen. Herr F. hat künstliche Beatmung abgelehnt und möchte zuhause sterben. Beim Hausbesuch empfängt Herr F. im Rollstuhl sitzend in der Wohnküche gemeinsam mit seiner Partnerin die Pastorin. Er macht sich mittels einer elektronischen Kommunikationshilfe verständlich. Nachdrücklich teilt er mit, dass er zuhause bleiben will und hofft, bald sterben zu können. Frau H. sagt unvermittelt: »Und dabei sind wir noch nicht mal richtig verheiratet, weil ich ja schon einmal geschieden bin. Ich bin ja katholisch, und da ging das nicht. Naja. Ich bin später ja noch nicht einmal eine richtige Witwe! Was mach’ ich nur ohne ihn?« Herr F. beginnt in dieser Situation intensiv zu weinen. Frau H. versucht ihn zu beruhigen und klärt die Pfarrerin auf, dass das pathologische Weinen bei dieser Krankheit immer wieder vorkomme. Bei einem erneuten Besuch bietet Pfarrerin G. ein Segnungsritual für die Partnerschaft an.1
1 Das Fallbeispiel findet sich in verkürzter Form wider in: Margrit Gratz/ Traugott Roser, Curriculum, Spiritualität für ehrenamtliche Hospizbegleitung, Göttingen 2015, 147 f. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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2. Gemeindeseelsorge Zum Ort der Seelsorge bei Sterbenden 66 % der Menschen, die sich schon einmal Gedanken zum eigenen Sterben gemacht haben, wollen zuhause sterben.2 Im Pflegeheim oder im Krankenhaus will kaum jemand sterben, auch wenn dort realiter die meisten Tode (40 % bzw. 30 %) erfolgen. Beide Kontexte tangieren seelsorgliche Sterbebegleitung in und durch Kirchengemeinden, entweder als Hausbesuch im privaten Wohnumfeld oder als seelsorgliche Betreuung in Hospizen, Pflegeheimen und Krankenhäusern am Ort und im sozialen Nahraum. Wenn Einrichtungen über kein eigenes Seelsorgepersonal verfügen, werden in der Regel Kirchengemeinden kontaktiert: Die 2015 von der Deutschen Krebsgesellschaft veröffentlichte Leitlinie Palliativmedizin sieht nicht nur vor, dass im Mittelpunkt der Betreuung der Sterbende und seine Angehörigen »unter Berücksichtigung der physischen, psychosozialen und spirituellen Dimensionen des Sterbens« stehen, sondern empfiehlt zur Bewältigung der »unterschiedlichen Bedürfnisdimensionen«3 die Hinzuziehung von Seelsorge. Seelsorge erfolgt »am anderen Ort«4 – im Privatbereich der sterbenden Person oder in staatlichen, kommunalen, wohlfahrtverbandlichen oder privatwirtschaftlich geführten und organisierten Institutionen. Auf diese Weise kommt es zu einer gegenseitigen Durchdringung privater, öffentlicher und kirchlicher Christentumspraxis:5 –– Der Seelsorger repräsentiert die kirchliche Institution, zu der der Patient oder Angehörige in einem definierten Bezug stehen, als Mitglied oder Nicht-Mitglied. –– Der Kontakt vollzieht sich in einem privaten Umfeld: Auch in einer Pflegeeinrichtung stellt das Bett samt Nachtkästchen einen Privatraum dar, symbolisiert durch Gegenstände signifikanter 2 Meldung der Ärzte Zeitung vom 20. August 2012. 3 Deutsche Krebsgesellschaft et.al., S3-Leitlinie, 151ff, Zitate 151, 153. 4 Kerstin Lammer/Sebastian Borck/Ingo Habenicht/Traugott Roser, Menschen stärken, Seelsorge in der evangelischen Kirche, Gütersloh 2015, 48. 5 Vgl. Wolfgang Steck, Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 272 ff. 130
Traugott Roser
Bezogenheit: Fotografien, Grußkarten, Gesangbuch. Seelsorge erhält nur mit Erlaubnis des Gegenübers Zugang; bei kognitiver Beeinträchtigung wird dies stellvertretend durch Angehörige gewährt. In manchen Patientenverfügungen findet sich ein Passus zum Wunsch nach seelsorglicher Begleitung. Zum Privatraum gehören auch Personen in ihrer jeweils singulären Zuordnung zum Patienten und zur Religionsgemeinschaft. –– Der Kontakt zu kirchlicher Seelsorge wird in zunehmendem Maße durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsberufe vermittelt, ein Ausdruck öffentlicher Christen tumspraxis. Der Sterbende als Akteur: Subjektzentrierung Dem Sterbenden wird nicht nur zugestanden sondern zunehmend zugemutet, über die Umstände seines Sterbens zu entscheiden: Ort, Behandlung, Betreuung sowie Einbeziehung Nahestehender und Angehöriger. In der seit 2010 veröffentlichten Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland heißt es: »Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung […] Die Betreuung erfolgt durch haupt- und ehrenamtlich Tätige soweit wie möglich in dem vertrauten bzw. selbst gewählten Umfeld. Dazu müssen alle an der Versorgung Beteiligten eng zusammenarbeiten.«6 Ergänzend wird hinzugefügt: »Er muss darauf vertrauen können, dass er mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert wird und dass Entscheidungen in seinem Sinne getroffen werden.«7
Der Soziologe Armin Nassehi erkennt darin eine Veränderung der Verantwortlichkeiten: während früher dem Unverfügbaren durch Konventionen begegnet wurde, zu denen der Besuch des Geistlichen und die Versorgung mit Sakramenten gehörten, geht es heute um aktive Gestaltung des Sterbens als eines praktischen Vor6 DGP, Charta, 6. Die Charta wurde mittlerweile von knapp 15 000 Privatpersonen und über 1300 Organisationen und Institutionen unterzeichnet. Vgl. http://www. charta-zur-betreuung-sterbender.de/ (Zugriff am 13. Dezember 2015). 7 Ebd., 9. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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gangs, bei dem »der Sterbende als ein Akteur und Zurechnungspunkt«8 fungiert. Die Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Sterbeprozess durch medizinische und bio-technische Möglichkeiten und rechtliche Rahmenbedingungen führen auch im Sterben zu einer »Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen«9, die dem sterbenden Individuum Entscheidungen bzgl. der praktischen Organisation seines Sterbeprozesses abverlangen. Dies erfordert von Seelsorge eine Neuinterpretation der Subjektzentrierung in therapeutischer und systemischer Tradition. Der sterbende Gesprächspartner hat »die entscheidende Stimme«10 auch über seelsorgliche Interventionen. Seelsorge bei Sterbenden bedarf eines Verständnisses für den Sterbevorgang, um die Subjektivität adäquat wahrzunehmen und zum Ausgangspunkt eigener Interventionen zu machen. Netzwerkorientierte Seelsorge Durch das Hospiz- und Palliativgesetz (2015) wird jedem Menschen »das Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen« zugesprochen: »Sterbende Menschen benötigen eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die ihrer individuellen Lebenssituation und ihrem hospizlich-palliativen Versorgungsbedarf Rechnung trägt.«11 Von den Mitarbeitenden wird erwartet, dass sie »körperliche, psychische, soziale Probleme und spirituelle Anliegen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern rechtzeitig erkennen und geeignete Behandlungs- beziehungsweise Begleitmaßnahmen veranlassen – insbesondere unter Nutzung der und in Kooperation mit vorhandenen Hospiz- und Palliativversorgungsakteurinnen und -akteuren.«12 8 Armin Nassehi, Vorwort, in: Frank Schiefer, Die Vielen Tode. Individualisierung und Privatisierung im Kontext von Sterben, Tod und Trauer in der Moderne. Wissenssoziologische Perspektiven, Münster 2007, 9. 9 Ebd., 10. 10 Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen 2013, 360. 11 Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Hospizund Palliativversorgung in Deutschland, Drucksache 18/5170 vom 12. Juni 2015. 12 Ebd., Anlage 3, 43. 132
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Die Betreuung von Sterbenden zuhause wird von Pflegediensten, Haus- und Fachärzten und von Freiwilligen der Hospizvereine übernommen. Sie umfasst auch spirituelle Begleitung: Ehrenamtliche Hospizbegleiter, von denen es in Deutschland ca. 80.000 in etwa 1500 Hospizdiensten gibt, stellen unabhängig von ihrer eigenen religiösen Zugehörigkeit den Kontakt zu Kirchengemeinden her, wenn sie entsprechenden Bedarf feststellen. Befragungen von Hospizverantwortlichen zeigen, dass ehrenamtliche Hospizbegleiter zwar eine Lücke füllen können, wenn kirchliche Seelsorge schwer erreichbar ist, aber dass dies professionelle Seelsorge nicht ersetzen kann.13 Seelsorge bei Sterbenden erfolgt in einem Bereich, der private religiöse Praxis grundgesetzlich sichert und durch Sozialund Gesundheitsgesetzgebung gefördert wird. Das Feld wird aber nicht ausschließlich den Religionsgemeinschaften zugewiesen. Es lässt sich beobachten, dass die Kompetenz zur Beschreibung und Deutung des spirituellen Feldes nicht mehr allein bei der Theologie liegt, sondern in einem gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt werden muss.14 Die Konsequenzen der sich verändernden Versorgungsstrukturen für das Angebot gemeindlicher Seelsorge bei Sterbenden sind bislang noch wenig untersucht. Der Hinweis Wolfgang Drechsels15 auf die vertraute Unterscheidung einer »Seelsorge 1. Ordnung« – als Ausdruck des Priester tums aller Gläubigen – und einer »Seelsorge 2. Ordnung«, einer 13 Vgl. Gratz/Roser, Curriculum. Vorbereitung ehrenamtlicher Hospizbegleiter auf den Umgang mit der spirituellen Dimension Sterbender, in: Radbruch, Lukas/Hesse, Michaela/Pelttar, Leena/Scott, Ros (Hg.), Ehrenamt in allen Facetten, Bonn 2015, 133–141. 14 Vgl. Ralph Kunz, Spiritualität im Diskurs. Ein diskurskritischer Versuch, in: ders./Claudia Kohli-Reichenbach, Spiritualität im Diskurs – Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012. Vgl. auch die Darstellung der Auseinandersetzung um das Konzept Spiritual Care bei Doris Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge?, Stuttgart 2015, sowie bei Roser, Wie positioniert sich Seelsorge im Gesundheitswesen? Spiritual Care und die Integration von Seelsorge in ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen, in: ZEE 59 (2015). 15 Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. Vgl. die Darstellung bei Eberhard Hauschildt, Ein Durchbruch für die Gemeindeseelsorge, in: PTh (2015). 251 f. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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»amtsbezogenen Seelsorge«, bei dem Professionalität Leitung und supervisorische Begleitung Ehrenamtlicher und die kritische theologischen Deutung der Seelsorgethemen umfasst, erhält hier eine die Gemeindegrenzen transzendierende Bedeutung. Denn die spirituelle Begleitung durch Ehrenamtliche findet auch außerhalb der Parochie statt, bedarf aber nach wie vor einer ›Seelsorge 2. Ordnung‹ als kritischer Instanz, die damit »intentional die Gemeindegrenzen hin zur ›Welt‹ überschreiten«16 muss. Gemeinde ist dabei sowohl parochial als Kirchengemeinde vor Ort als auch als geistliche Größe zu denken, als Raum für »das tröstende, rettende und heilende Wort des Evangeliums.«17 Mit Ziemer kann gelten: »Seelsorge für die Welt setzt die Gemeinde als Ort der Seelsorge voraus.«18 Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit nicht-kirchlichen Diensten und Einrichtungen ist damit auch eine Frage von Qualität ortsgemeindlicher seelsorglicher Angebote.
3. Forschung und Lehre Der Prozess des Sterbens in multiperspektivischer Betrachtung Sterben unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ist ein Vorgang, der differenziert zu deuten ist, bei dem aber jedem der Beteiligten eigene Deutungskompetenz zusteht. Theologische Forschung und Lehre bedarf der Rezeption dieser Einsichten. Aus Sicht des Patienten, der Patientin, ist es wichtig, im Gespräch19 das eigene Verständnis und eigene Vorerfahrungen äußern zu können. Das Miterleben des Sterbens anderer aber auch eigene Erfahrungen mit Todesnähe wirken prägend. Für viele Kranke gehören Erstickungsanfälle oder ähnliches zur Krankheitsgeschichte, die mitunter Angstreaktionen auslöst. Eine immer wieder von Alpträumen geplagte Patientin kam in Gesprächen darauf, dass sie als Kleinkind beinahe in einem zugefrorenen 16 Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre, Göttingen 2000, 121. 17 Ebd., 122. 18 Ebd., 13. 19 Sofern dies kognitiv möglich ist. 134
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Weiher ertrunken sei. Die Todesangst war in ihr Gedächtnis, auch ihr Leibgedächtnis eingebrannt. Zahlreiche Studien belegen den engen Zusammenhang von Angst und Atemdepression, weshalb gerade in der Sterbephase angstlösende Medikamente gegeben werden. Zur Perspektive des Patienten gehört es auch, spirituelle Bedürfnisse und aktive Copingstrategien als Ressource zu begreifen. Bei chronisch Kranken und Sterbenden sind die Bedürfnisse nach innerem Frieden und Ruhe sowie nach Generativität in besonderem Maße ausgeprägt. Innerer Frieden und Ruhe wird als ein Rückzug von der Krankheitssymptomatik gedeutet, verbunden mit dem Wunsch, an einem konkreten Ort oder in der Natur sein zu können.20 Generativität und Geben »thematisieren eine eigenaktive Zuwendung zu anderen, die man auch trösten, denen man etwas von sich schenken und denen man die eigenen Lebenserfahrungen weitergeben möchte [›verbunden mit der Gewissheit‹] dass das eigene Leben sinn- und wertvoll war«21. Seelsorgliche Begleitung kann darauf achten, dass diesem Bedürfnis entsprochen wird, etwa dadurch, dass nicht nur die sterbende Person gesegnet wird, sondern sie auch selbst ihre Nahestehenden segnen kann. Dies entspricht der biblischen Tradition des Sterbe segens (etwa Dtn 33,1; Gen 27,7.10; 49,28). Aus Sicht der Angehörigen geht dem Sterben zuhause eine Phase erheblicher Belastungen voraus. In Deutschland pflegen über 1,1 Millionen Menschen ihre schwerkranken Angehörigen alleine ohne externe Unterstützung, viele davon neben einer Berufstätigkeit. Angehörige leisten emotionale Unterstützung, fördern die Eigenständigkeit der Sterbenden, sind präsent und schaffen eine ruhige, angenehme Atmosphäre; sie organisieren soziale Kontakte (Besuche, Telefonate), führen den Haushalt und leisten Pflege (Grundpflege, Applikation von Medikamenten, Zubereitung und Reichung von Nahrung). Zudem eignen sie sich Infor20 Vgl. Arndt Büssing/Eckhard Frick, Psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse chronisch Kranker, in: Arndt Büssing/Janusz Surzykiewicz/Zygmunt Zimowski, (Hg.), Dem Gutes tun, der leidet. Hilfe kranker Menschen – interdisziplinär betrachtet, Berlin/Heidelberg 2015, 7. 21 Ebd. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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mationen an.22 Angehörige sind (häufig unter Ausschluss der Kranken selbst) die ersten Ansprechpartner, wenn es um Behandlungs-Entscheidungen geht und um die Frage, ob ein Seelsorger einbezogen werden soll.23 Sie sind besonders gestresst, wenn ›ihre‹ Kranken unter starken Schmerzen leiden und Todeswünsche äußern. Nicht selten führt die Überbelastung der Angehörigen dazu, dass sie das Sterben nicht zulassen können. Aus Perspektive der Angehörigen handelt es sich beim Sterben um eine soziale Situation, aus der der Sterbende mit Gewissheit ›herausfallen‹ wird. Angehörige sind, sofern sie das Unweigerliche des Sterbens akzeptiert haben, permanent mit der antizipierten Auflösung der sozialen Situation konfrontiert und müssen sich auf eine neue soziale Situation einstellen, die eine Verunsicherung der eigenen sozialen Rolle mit sich bringt.24 Sterbeseelsorge umfasst deshalb Seelsorge für nahestehende Angehörige in eigener Weise, durch Gespräche, durch Da-Sein und eigene Rituale (z. B. Segen und Gebet). Zu wenig sind bislang in der Forschung die Handlungsformen seelsorglicher Begleitung von Angehörigen in der Sterbephase untersucht worden. Aus medizinischer Sicht ist die Sterbephase »als die letzten drei bis sieben Tage des Lebens definiert«;25 als Kriterien gelten Veränderungen der Atmung, der Emotionen und des Bewusstseins, zunehmende Schwäche und reduzierter Allgemeinzustand, Hautveränderungen, zunehmende Verwirrtheit, Verlust des Interesses an Nahrung und Flüssigkeit. Einige der Symptome, z. B. Delir, sind für Patient und Beteiligte beängstigend und aufwühlend. Für Angehörige beängstigend ist die Rasselatmung, die häufig falsch 22 Vgl. Daniela Grammatico/Martina Kern/Elisabeth Ostgathe, Was brauchen Menschen, die ihre schwerstkranken und sterbenden Angehörigen zu Hause versorgen?, Bonn 2009 23 So die Ergebnisse einer Untersuchung in Österreich. Vgl. Dietmar Weixler/ Rudolf Likar/Andreas Falkner, Bedingungen des Sterbens an Österreichs anästhesiologischen Intensivstationen, eine Querschnittuntersuchung, in: Z Palliativmed 16 (2015), S. 26–32. 24 Vgl. Werner Schneider, Sterbewelten: Ethnographische (und dispositivanalytische) Forschung zum Lebensende, in: Martin W. Schnell/Werner Schneider/Harald Kolbe (Hg.), Sterbewelten. Eine Ethnographie, Wiesbaden 2014, 71. 25 Vgl. auch im Folgenden: Deutsche Krebsgesellschaft, S3-Leitlinie, 148–162. 136
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behandelt wird (Absaugen, Flüssigkeitsgabe). Bei Angst und Unruhe gilt es, Ursachen (Schmerz, Obstipation, Harnverhalt etc.) zu bestimmen und v. a. durch Ruhe und eine angenehme Umgebung zu beseitigen. Hier kommt unter Umständen auch der Seelsorge eine wichtige Rolle zu, weil Angst und Unruhe durch Da-Sein, nonverbale und zeichenhafte Kommunikation (Rituale, Singen, vorsichtiges Berühren) vermindert werden können. Da Sterbende häufig in Metaphern und Bildern sprechen (Koffer, Reise etc.) ist es hilfreich, wenn eine Seelsorgeperson dies validierend aufgreift und Angehörigen erläutert. Auf Ernährung und Flüssigkeitsgabe wird in der Sterbephase verzichtet, Hunger- und Durstgefühle werden pflegerisch gestillt. Erfahrene Seelsorgende können durch Erläuterung der Symptome beruhigend und deeskalierend wirken. Psychosoziale Professionen betrachten Sterben als existenzielles Geschehen, geprägt durch Todesangst, die Erfahrung von Verlust und Wandel, Wahlfreiheit, Würde und Würdeverlust, fundamentale Einsamkeit, veränderte Beziehungen, Sinnsuche und einem Geheimnis.26 Seelsorge begreift Sterben als spirituellen Prozess. Im interdisziplinären Miteinander ist es wichtig, die Besonderheit theologischer Deutung zu verdeutlichen und zum Ausgangspunkt des eigenen Handelns zu machen. Zentral ist die Unterscheidung zwischen Sterben als zum geschöpflichen Leben gehörend und dem Tod als einem ganz Anderen. Ziel seelsorglicher Begleitung ist Stärkung zum Leben. Deshalb sollte ein Seelsorger den Sterbenden oder die Angehörigen nicht irenisierend ermutigen, sich mit dem Tod abzufinden oder gar anzufreunden, gerade weil der Tod nach christlicher Auffassung überwunden ist durch das Leben schaffende Wort Gottes. Nach Mk 12,27 ist der Gott Jesu kein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Das biblische Zeugnis beschreibt den Tod nicht als etwas, womit man sich – wie antike platonisch geprägte Grabinschriften in vorchristlicher Zeit es nahelegten – aus Weisheit anfreunden müsse, sondern als etwas, was von allem Leben scheidet. Alttestamentlich gilt der Tod als Beziehungslosigkeit; die paulinische Auffassung vom Tod als der 26 Vgl. David W. Kissane, The relief of Existential Suffering, Arch Intern Med. 172 (2012), 1501–1505. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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Sünde Sold (Röm 6,23) mahnt zu einer kritisch-nüchternen Deutung. Angesichts eines neu erwachten Interesses an der mittelalterlichen ars moriendi, ist ernst zu nehmen, was Reiner Sörries formuliert: »Das größte Problem der Ars moriendi ist, dass sie eine Versöhnung mit dem Tod anstrebt.«27 Hochnormative Ansätze einer Versöhnung, Akzeptanz oder aktiven Herbeiführung des Todes am Sterbebett suggerieren ein Vorauswissen der Begleitenden, das prinzipiell unmöglich ist. Die Äußerung Martin Luthers in der 4. Invokavit-Predigt von 1522 macht deutlich, dass es sich um eine schlechthin unüberwindliche Differenz handelt, bei der der Sterbende letztlich allen Begleitern voraus und damit auch existenziell allein ist: »Wir sind alle zum Tode gefordert, und wird keiner für den Andern sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. […] Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir. Derhalben muß ein jedermann selbst die Hauptstücke, so einen Christen belangen, wohl wissen, dadurch er in diesen ernsten Kampf gerüstet komme.«
Die Tradition Martin Luthers, der Weggefährten in Briefen in Sterben und Trauer zu begleiten wusste, mahnt zu Nüchternheit28 angesichts menschlicher Ohnmacht dem Tod gegenüber: Ein guter Tod ist schlichtweg nicht machbar, auch nicht durch beste Begleitung. Den Sterbenden rät Luther: »Die kunst ists gantz und gar, sie [die Bilder der Ars moriendi] fallen zu lassen unnd nichts mit yhn handeln«29 Für ihn ist Sterben größte Anfechtungserfahrung, der er nur rechtfertigungstheologisch standhalten kann. 27 Reiner Sörries, Der Tod ist der Feind des Lebens, oder: Vom Irrtum, das Sterben könne eine Kunst sein, in: Daniel Schäfer/Christof Müller-Busch/ Andreas Frewer (Hg.), Perspektiven zum Sterben: Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova?, 2012, 159–162, 160. 28 Vgl. zur Haltung der Nüchternheit auch Christoffer H. Grundmann, To Be With Tthem, A Hospital Chaplain’s Reflection of the Bedside Ministry to Terminally Ill and Dying People, in: Christian Bioethics 9 (2003), 81–83. 29 WA 2, 688, 33 f. Zitiert nach Claus Schwambach, »Suche dich nur in Christus!« Luthers ›Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben‹ als Herausforderung für die christliche Verkündigung und Seelsorge, in: Christian Herrmann/Eberhard Hahn (Hg.), Festhalten am Bekenntnis der Hoffnung. Festgabe für Reinhard Slenczka, Erlangen 2001, 165–190, 173. 138
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Hoffnung und Trost geht auf Gottes Handeln zurück und kann deshalb allenfalls zeichenhaft in Wort und Sakrament als Gnadengaben30 vermittelt werden. Das Festhalten am Bekenntnis erwartet einen Gott, der den Sterbenden nicht verlässt und ihm gerade in der Schwachheit, im Versiegen der eigenen Kraft als Geschenk der Kraft Christi entgegen kommt. Für Luthers vielschichtige Sterbe-Seelsorge gilt, dass der Trost, den der Seelsorger den Empfängern spendet, ihm vor allem selbst gilt.31 Die Besonderheit des Umgangs von Seelsorgern mit Sterbenden ist, dass sie sich in der Begleitung immer wieder selbst der Krisenerfahrung und eigenen Trostbedürftigkeit bewusst werden. In diesem Sinne formuliert der britische Seelsorgeforscher Steve Nolan die Aufgabe von Seelsorge bei Sterbenden als hope beyond hope, deren Vermittlung aus accompanying presence (wie sie alle Begleiter leisten) comforting presence werden lasse.32 Unter Verweis auf bindungstheoretische (Bowlby) Einsichten beschreibt Nolan, dass die Vermittlung von Trost und Hoffnung mehr durch nonverbale als verbale Impulse erfolgen kann, die das Gegenüber sich in einer vorsprachlichen Weise als geliebt und gehalten (Winnicott) erleben lassen. Gehaltensein ist denn auch der zentrale Ausdruck für dieses Moment in der Beziehung zwischen Seelsorgendem und sterbendem Menschen. Handlungsformen der Seelsorge in der Sterbephase umfassen deshalb Da-Sein, das Achten auf verbale und nonverbale Kommunikation des Sterbenden und der Anwesenden untereinander, das klärende und differenzierende Gespräch, Schweigen, symbolisierendes und rituelles Verdichten.33
30 Dies ist ritualkritisch zu verstehen, da Sakramente theologisch gesehen gespendet und nicht gemacht werden. 31 Vgl. Gerhard Ebeling, Luthers Seelsorge, Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997, 338. 32 Vgl. Steve Nolan, Spiritual Care at the End of Life. The Chaplain as a ›Hopeful Presence‹, London 2012. 33 Vgl. Lammer et.al., 59–72. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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4. Leitsätze »Dying is a spiritual event with medical implications«34 –– Seelsorge bei Sterbenden als Beitrag zur Entmedikalisierung des Sterbens erinnert in kritisch-konstruktiver Weise daran, dass sich das Sterben einer Machbarkeit durch technisch-medi zinische oder juristische Verfahren entzieht. –– Sie warnt vor Versprechen, Sterben ohne Leiden möglich zu machen, wenn ausreichend Palliativmedizin oder juristischer Gestaltungsspielraum (z. B. durch Suizidbeihilfe) bestehe. –– Seelsorge anerkennt, dass der spirituelle Prozess ohne medizinisch-pflegerische Betreuung erschwert ist. Sie ist angewiesen auf die Versorgungsstrukturen vor Ort. –– Seelsorge anerkennt, dass ein Sterbender spirituelle Begleitung primär durch andere erhält, durch Angehörige und Freunde, ehrenamtlich Begleitende, Ärzte und Pflegende.35 Gemeindepastoren als ›Seelsorger 2. Ordnung‹ unterstützen diese, wie sie auch gemeindliche Besuchsdienste unterstützen: in kritischkonstruktiver, empathischer Weise und mit supervisorischer Haltung. –– Seelsorge sucht Sterbende bei Bedarf auf und anerkennt, dass der Bedarf durch andere wahrgenommen und vermittelt wird: Angehörige, Hospizbegleitung, Gesundheitsberufe. Mit diesen verständigt sich Seelsorge über den Umgang mit vertraulichen Informationen unter Wahrung seelsorglicher Vertraulichkeit.36 –– Gemeindeseelsorge bemüht sich aktiv um Netzwerkarbeit durch Kontakt mit Trägern, Vereinen und Berufsgruppen. Sie informiert über das machbare gemeindliche Angebot von Seelsorge, über Handlungsformen und Kompetenzen. 34 Gwen London, zitiert in: John Swinton/RichardPayne, Christian Practices and the Art of Dying Faithfully, in: Dies. (Hg.), Living Well and Dying Faithfully. Christian Practices for End-of-Life-Care, Grand Rapids/Cambridge 2009, XV. 35 Vgl. die Untersuchung von Laura Hanson et.al., Providers and types of spiritual care during serious illness, in: J Pall Med 11 (2008), 907–914. 36 Vgl. hierzu das Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD sowie das Diskussionspapier von Michael Coors et.al., Das Beicht- und Seelsorgegeheimnis im Kontext der Palliativversorgung, in: Wege zum Menschen 66/1 (2014), 91-98. 140
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–– Seelsorgerinnen und Seelsorger fördern die Kompetenz anderer durch Fortbildungen. –– Seelsorge begegnet dem sterbenden Menschen und den Angehörigen absichtslos und in Entsprechung zum Auftrag, die Kranken zu besuchen (Mt. 25, 31ff). Sie respektiert die individuell ausgeprägte Spiritualität des Gegenübers, ohne die eigene Identität als Vertreter der evangelischen Tradition zu verbergen. Auf diese Weise gelingt echte interpersonale Begegnung auch im ›bloßen‹ Da-Sein beim anderen. –– Seelsorge bemüht sich um die Haltung eines Weggefährten37 und passt ihre Kommunikationsformen denen des Gegenübers an. Sie achtet auf die aktuelle physische, psychosoziale und spirituelle Situation, auf belastende Symptome und auf Ressourcen. Sie geht achtsam mit Möglichkeiten leiblicher Kommunikation und sparsam mit eigenen Gesprächsanteilen und rituellen Handlungsformen um, ohne diese außen vor zu lassen.
5. Zukünftige Entwicklung: Thanatopragmatik Gemeindlich verantwortete Seelsorge bei Sterbenden und Angehörigen bedarf vor allem guter Leitung im Zusammenspiel des kirchlichen Angebots mit den Versorgungs- und Betreuungsstrukturen. Alle Beteiligten brauchen grundlegende Informationen. Angehörige der Gesundheitsberufe müssen informiert werden, wie sie spirituelle Bedürfnisse von Sterbenden und Angehörigen erkennen und auf das Angebot gemeindlicher Seelsorge hinweisen können. Seelsorge bei Sterbenden beginnt durch gegenseitige Information und Fortbildung.38 Auch in diesem Sinn ist Seelsorge bei Sterbenden Kirche ›am anderen Ort‹. In der Realität ist die Zusammenarbeit noch oft unterentwickelt. In einer repräsentativen Umfrage unter katholischen und evangelischen Gemeindepastoren wurde untersucht, welche Rolle gemeindliche Seel37 Übertragung von »Companion« bei Grundmann, To be with them, 84, wobei es sich wiederum um eine Übertragung des alten Konzepts des ›amicus‹ handelt. 38 Vgl. Gratz/Roser, Curriculum. Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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sorge in der Versorgung Sterbender v. a. in ländlichen Gebieten spielt.39 Weit über zwei Drittel der Befragten berichteten, in den letzten Monaten keine oder nur ein bis zwei Personen im Sterben begleitet zu haben (71 %).40 Nur ein Fünftel der Geistlichen gab Kontakte zu Hospizdiensten an.
Beobachter aus der Soziologie attestieren einerseits einen »Funktions- und Monopolverlust der Kirchen im Bereich von Sterben, Tod und Trauer insbesondere im Bereich der konventionellen Seelsorge […], die durch eine stärkere Verlagerung thanatopraktischer Grundbedürfnisse auf Professionen«41 wie Sozialarbeit und Psychologie, eine »Dispersion des Religiösen (…) also seine Verteilung auf ganz unterschiedliche Orte, Anbieter und Sozialformen.«42 Andererseits verweisen sie angesichts der intensiven Kooperation von Gesundheits- und kirchlichen Professionellen im Bereich der Betreuung Sterbender auf eine »noch immer […] hohe Erwartungshaltung und Kompetenz bei der thanatospezifischen Kontingenzbewältigung«43 an die Kirchen, die über hohe Plausibilität in der Gesellschaft verfüge. Seelsorge in der Gemeinde ist bewährter pragmatischer Umgang mit dem Sterben in theologischer Verantwortung.
39 Vgl. Kurt Buser/Volker E. Amelung/Nils Schneider, German Community Pastors’ Contact with Palliative Care Patients and Collaboration with Health Care Professionals, in: Journal of Social Work in End-of-Life & Palliative Care, Vol. 4 (2) 2008, 85–100 Available online at http://www. haworthpress.com (doi: 10.1080/155242508). 40 Dies bestätigt eine Aussage von Josef Kirsch: »Begleitung Sterbender [gehört] zur täglichen Arbeit einer Krankenhauspastorin […] Im Gemeindepfarramt kommt dies de facto kaum vor. Der Gemeindepfarrer begegnet dem Tod in der Regel erst bei der Beerdigung.« (224) 41 Frank Schiefer, Die vielen Tode, Individualisierung und Privatisierung im Kontext von Sterben, Tod und Trauer in der Moderne. Wissenssoziolo gische Perspektiven, Münster 2007, 157. 42 Ebd., Referat der Position von Michael Ebertz. 43 Büssing/Surzykiewicz/Zimowski (Hg.), Dem Gutes tun, der leidet. Hilfe kranker Menschen – interdisziplinär betrachtet, Berlin/Heidelberg 2015, 159. 142
Traugott Roser
Literatur Arndt Büssing/Janusz Surzykiewicz/Zygmunt Zimowski (Hg.), Dem Gutes tun, der leidet. Hilfe kranker Menschen – interdisziplinär betrachtet, Berlin/Heidelberg 2015. Gerhard Ebeling, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997. Margit Gratz/Traugott Roser, Curriculum Spiritualität für ehrenamtliche Hospizbegleitung, Göttingen 2015. Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und Deutschen Krebshilfe (DKH), S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung, Stuttgart 2015. Steve Nolan, Spiritual Care at the End of Life. The Chaplain as a ›Hopeful Presence‹, London 2012.
Seelsorge bei Sterbenden und ihren Angehörigen
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Dörte Gebhard
Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
1. Ein Einzelfall ist kein Einzelfall Das Taufgespräch findet auf einem abgelegenen Bauernhof mitten in der Schweiz statt. Das Küchenfenster ist mit Pappe geflickt, geheizt wird der dunkle Raum mit einem Kohleofen, Wasser kommt aus dem Brunnen auf dem Hof. Es sei kein Geld da, erst neuerdings gebe es überhaupt wieder Arbeit in einer Altölsammelstelle. Die Mutter verdient ein wenig dazu als Friseuse für die Nachbarinnen. Nicht nur die Eltern des Täuflings sind anwesend, sondern auch die Paten und weitere Angehörige. Das Neugeborene hat einen arabischen Vornamen, weil er schön klinge. Als Taufspruch wählen die Eltern das Wort aus dem 91. Psalm: »Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.« Mit den Planungen für den Gottesdienst, den niemand der Anwesenden sich recht vorstellen kann, kommt Gott im weitesten Sinne zur Sprache. Der Vater entblößt sich plötzlich und zeigt leibhaftig, welch ein Wunder es in seinen Augen ist, dass er trotz früheren Hodenkrebses noch ein Kind zeugen konnte. Während des Abends werden in der engen Küche über 30 Zigaretten in Gegenwart des wenige Wochen alten Babys und mehrerer Kinder geraucht. Kein Kasualgespräch gleicht einem anderen, auch wenn gegenwärtig regelmäßig die Kirchenbindung thematisiert wird und Kasualien nicht selten eine Wiederbegegnung nach längerer Zeit mit Kirche, Gemeinde, Gottesdienst und den Fragen nach Gott sind. Ein unvergleichlicher Einzelfall ist dabei kein Einzelfall. Jedes Kasualgespräch zeigt die große Orientierungskraft und die Grenzen von Statistiken, Milieustudien und Kirchenmitgliedschaftsbefragungen. Der geschilderte Hausbesuch illustriert und ergänzt z. B. auf eindrückliche Weise Veröffentlichungen und Zahlen zur – meist meisterhaft – versteckten Armut in der Schweiz. Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
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Darüber hinaus gibt es seelsorglich-theologische Gründe, einen Einzelfall niemals als Einzelfall anzuschauen. Ekklesiologisch ist jeder einzelne Mensch immer ein Beziehungswesen: vor Gott und mit den Menschen um ihn her. Dieser Perspektivwechsel öffnet den Raum für Seelsorge in jedem Fall. Jeder klassische, am individuellen Leben orientierte Kasus, gleich ob Taufe, Konfirmation, Trauung oder Abdankung, markiert einen Übergang, aber re-präsentiert zugleich das ganze Leben. Die Schwelle verweist auf Herkunft und Zukunft. In einem besonderen Moment, nicht nur, wenn ein Kind geboren wird, kommt auch alles Alltägliche, Gewöhnliche ans Licht – und sei es auch außergewöhnlich für die erstmals eintreffende Pfarrperson. Ein Einzelfall ist kein Einzelfall. Aus professionstheoretischer Perspektive ergeben sich erste, weitreichende Konsequenzen für den Beruf der Pfarrperson. Kasualien […] verlangen ein professionstheoretisch sensibles Verhalten und ein individuelles Eingehen auf die jeweils Betroffenen. Sie setzen eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit, Behutsamkeit und ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Verantwortungsbereitschaft voraus. Deshalb können sich professionelle Ärztinnen und Richter, Pfarrerinnen und Lehrer auch nur bedingt an Standardsituationen orientieren, obwohl viele Krankheiten, Rechts- und Seelsorgeprobleme ständig wiederkehren.1
Dabei treten neben die klassischen Kasualien mehr und mehr entscheidende Lebensübergänge, die weniger gottesdienstlich zu begehende als seelsorglich zu begleitende Auf- und Abbrüche sind. Abschluss der Berufsausbildung und erste Stelle, Pensionierung und Auswanderung(!) werden exemplarisch im »Glaubens-ABC« der EKD unter dem Stichwort Kasualien genannt;2 Trennung und Scheidung sind zu ergänzen. Das weite Feld der Seelsorge in Verbindung mit Kasualien ist damit umrissen. 1 Isolde Karle, Volkskirche ist Kasualien- und Pastorenkirche!, in: DtPfrBl 12/2004, 3; abgerufen am 18.8.2015 unter www.pfarrerverband.de. 2 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland; Glaubens-ABC. Kasualien, Hannover 2015; abgerufen am 21.8.2015 unter www.ekd.de. 146
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2. Seelsorgliche Begegnungen – komplementäre Perspektiven Kasualien kommen aus verschiedenen Perspektiven ins Blickfeld, die sich komplementär zueinander verhalten. Die Sicht der Kirchenmitglieder (1) unterscheidet sich häufig deutlich von den Haltungen und Hoffnungen der gefragten Pfarrpersonen (2) und beide wiederum von der Wahrnehmung im gesamtgesellschaftlichen Kontext (3). (1) Von Kirchenleitungen initiierte Befragungen zeigen, dass die Kirchenmitgliedschaft immer mehr auf individueller Entscheidung beruht. Wohl nie zuvor waren so viele Menschen so freiwillig in der Kirche wie in der Gegenwart. Diejenigen, die nur »von Fall zu Fall«3 am Gemeindeleben teilnehmen, bleiben der Kirche verbunden, weil sie in den lebens entscheidenden Momenten seelsorgliche Begleitung und eine ansprechende Gestaltung der ambivalent-festlichen Unterbrechung des Alltags erhoffen. Dabei werden Kirche und Gemeinde wesentlich über die Pfarrperson wahrgenommen und beurteilt. »Die Mitglieder […] wünschen, dass ihre Pfarrerin oder ihr Pfarrer für sie Zeit haben, wenn sie nach ihnen rufen. Sie sind in dieser Hinsicht weder verwöhnt noch anspruchsvoll. Sie melden sich selten. Wenn sie sich aber melden, möchten sie ernst genommen werden.«4
Erwartet werden neben ausreichend Zeit und authentischer Anteilnahme auch das Eingehen auf spezielle Wünsche und Ausdrucksformen privat gewordener Religiosität, die sich nicht immer leicht mit Agenden und liturgischen Gewohnheiten vor Ort verbinden lassen, sondern von den kirchlichen Mitarbeitenden als »Zumutungen«5 erfahren werden. Trauerkontrastierende Musik 3 Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten, Gütersloh 22011. 4 Rudolf Roosen, Die Kirchengemeinde – Sozialsystem im Wandel. Analysen und Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit, Berlin/ New York 1997, 602. 5 Christian Grethlein, Grundinformation Kasualien. Kommunikation des Evangeliums an den Übergängen des Lebens, Göttingen 2007, 257 im ZuSeelsorge in Verbindung mit Kasualien
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an der Urne oder hollywoodeske Drehbücher für Filmaufnahmen bei Trauungen sind nur zwei Beispiele von vielen. (2) Im pfarramtlichen Alltag nehmen die klassischen Kasualien einen wesentlichen Raum ein. Werden zudem 3000 bis 4000 Gemeindeglieder auf eine Pfarrstelle gerechnet, ist das menschenfreundliche und überhaupt realisierbare Arbeitsmaß in der Regel weit überschritten. Diese Beobachtung steht im Gegensatz zum kirchenleitend vorgesehenen Zeitaufwand, der z. B. für die Vorbereitung einer Taufe im Sonntagsgottesdienst veranschlagt wird. Im Arbeitszeitmodell der Reformierten Landeskirche Aargau/Schweiz sind beispielsweise für das Gespräch und die Vorbereitung einer Taufe 0,25 Arbeitstage vorgesehen. Umgerechnet auf die veranschlagte Wochenarbeitszeit von 42 Stunden stehen zwei Stunden und sechs Minuten zur Verfügung. In dieser Zeit sind der Hin- und Rückweg beim Hausbesuch, das Taufgespräch, telefonische Vor- und Rückfragen, nicht selten zu heiklen Fragen wie der Kirchenmitgliedschaft von Paten, evtl. das Aussuchen eines passenden Taufspruches, die Vorbereitung der Taufansprache, der Liturgie und der Lieder, meist auch das Bereitmachen von Taufkerze, Kinderbibel, Urkunden und Tauferinnerungselementen für den Kirchenraum zu bewältigen. Für seelsorgliche Impulse bleibt in dieser Zeitspanne kaum Energie und notwendende Musse übrig. Die seelsorgliche Herausforderung ist stets neu. Dabei unterscheidet sich Kasualseelsorge von anderen Begegnungen meist durch die Kürze des Kontakts und die anfängliche bzw. auch bleibende Fremdheit derer, die das Evangelium miteinander kommunizieren. Eine Garantie für das Gelingen gibt es nicht, denn das Gespräch über Persönliches ist ungewohnt und rührt möglicherweise an Narben und Wunden, die das Leben hinterlassen hat. Es erfordert ein Maß an Kommunikationsbereitschaft, das unter zunächst Fremden nicht leicht oder sofort herzustellen ist. sammenhang mit Trauungen: »Hier hilft oft das Bemühen weiter, die hinter irritierenden Bitten bzw. Forderungen stehenden Anliegen in der Logik des Paares zu verstehen.« 148
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Hinzu kommen Unsicherheiten, Ängste und Vorurteile gegenüber der Pfarrperson oder der Kirche im Allgemeinen und der ambivalente Wille, keinesfalls oder mit ganzer Kraft aus der Rolle und dem üblichen Rahmen zu fallen. Die Rituale sollen entweder traditionell sein und Halt bieten oder sie sollen individuell und in einmaliger Weise überboten werden – oder beides gleichzeitig. Käthi la Roche, die bis 2011 als Pfarrerin am Zürcher Großmünster amtierte, hat dieses Paradoxon beim Wunsch nach Eigenwilligkeit bei Trauungen exemplarisch und exakt beschrieben. Auf die Frage eines Journalisten, ob viele eigene Texte verfasst werden, antwortet sie: Ich kann es ihnen meist nicht ausreden, ich probiere es aber. Sie haben einfach das Bedürfnis, ihr Innerstes preiszugeben, was nicht leicht ist, vor allem wenn die Kirche voll ist. Dann wird es oft furchtbar peinlich. Und gleichzeitig so konventionell. […] Ich habe in all den Jahren als Pfarrerin die Erfahrung gemacht, dass wir bei allem, was uns ganz persönlich betrifft – sei es heiraten oder auch sterben –, das Gefühl haben, es sei einmalig. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich versuche den Brautleuten zu erklären, dass sie sich mit diesem Schritt in eine Generationenreihe stellen und dass es hilfreich sein kann, eine gebundene Form zu wählen. Eine, von der man weiss, dass sie schon andere getragen hat. Aber der Individualismus unserer Gesellschaft zwingt zu Originellem. Dabei sind selbst die Kleider Uniformen.6
In der Beobachtung, dass das für individuell Gehaltene gerade das allgemein Verbreitete ist, liegt existentieller Schrecken und Trost zugleich. (3) Zu den individuellen Kasualien kommen diejenigen Anlässe, die größere Gemeinschaften in Freud oder Leid angehen. Zum einen lässt sich das Kirchenjahr als lockere Folge von volkskirchlich zugänglichen Kasualien verstehen. Ein Gottesdienst wird nicht mehr aus Gewohnheit oder gar Zwang, sondern bei passender Gelegenheit besucht, zu Weihnachten und zu Ostern, zu Erntedank und Silvester, zur Einschulung und zum Abitur. Die 6 Käthi La Roche, Thema: heiraten, in: NZZ-Folio 4/2007; abgerufen am 25.8.2015 unter www.folio.nzz.ch/2007april/das-ja-wort. Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
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Kirchgemeinde wird wahrgenommen anlässlich von Jubiläen. Neuerdings werden auch Kirchgemeindefusionen festlich begangen mit Hüpfburg und bischöflichem Grußwort. Bei gesellschaftlichen Umbrüche ist stets strittig, ob sie kirchlich zu begehende Wendepunkte und »Großwetterlage[n]«7 darstellen. Die Einweihung von Schulen oder Brücken, politische Ereignisse wie der Zusammenschluss zweier Staaten nach friedlicher Revolution und die folgenden Jahrestage, aber auch 100 Jahre Trachtenchor, ein Stadtmarathon, aufgeschlossene Künstlerkreise und nicht zuletzt Katastrophen wie ein Amoklauf, ein Flugzeugabsturz oder ein Großbrand geben Anlass zu äußerst sorgfältiger Gestaltung von – meist ökumenischen, unterdessen auch interreligiösen – Feiern, die ohne seelsorgliche Vor- und Nachbereitung in größeren Gruppen kaum denkbar sind.8 Diese unvollständige Aufzählung zeigt die Vielfalt der Optionen und wirft die Frage auf, ob und wie generelle Seelsorge im Umkreis dieser Anlässe, die häufig unter massenmedialer Beobachtung stattfinden, möglich ist. Fragen genereller Seelsorge ergeben sich freilich bei jeder Kasualie, weil neben Täufling, Traupaar, Teenager und trauernder Witwe immer ein größerer und disparaterer Kreis im seelsorglichen Blick sein muss, für den die Kasualie von anderer, aber nicht geringerer Bedeutung ist. Bei einer Taufe anlässlich der Geburt eines ersten Kindes kommen Eltern, Großeltern, heute nicht selten auch Urgroßeltern zur Welt, und bei jeder Trauung werden aus Bekannten mehr oder weniger enge Verwandte.
7 Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: ders., Predigen als Beruf. Aufsätze herausgegeben von Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 9–51, 38. 8 Vgl. zur anderen, öffentlichen Seite dieser Kasualien Kristian Fechtner/ Thomas Klie Hg., Riskante Liturgien. Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011. 150
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3. Kasualien als Sonderfälle in der Praktischen Theologie In der Praktischen Theologie haben sich die Kasualien meist als utopisch erwiesen. Sie fanden trotz ihres Schwergewichts in der pfarramtlichen Praxis in der üblichen Fächeraufteilung (Liturgik/ Homiletik, Poimenik, Diakonik, Katechetik/Religionspädagogik) keinen eigenen Ort, sondern zersplitterten in ihre Einzelaspekte. Nur langsam entwickelt sich eine eigenständige Behandlung des Themenbereichs. Sie wird wesentlich durch die empirische Einsicht befördert, dass die Kasualien wichtige Kontaktstellen der meisten Evangelischen zu ihrer Kirche bilden und in ihnen das Evangelium biografie- und lebensweltbezogen kommuniziert werden kann.9
Der Themenkreis der Praktischen Theologie reformiert sich permanent. Die Kasualien haben davon erheblich profitiert und die speziell spätmoderne Gnade größerer Aufmerksamkeit gefunden.10 Die Kasualseelsorge harrt dagegen immer noch gründlicherer Bearbeitung. Bereits 1971 erkannte Hans-Joachim Thilo das Kasu algespräch als exemplarischen Ort der Seelsorge, fand damit aber wenig Resonanz in der Praktischen Theologie.11 In der Geschichte des Kasualgesprächs spielte bei Leiden und Trauer die Seelsorge stets eine wesentliche Rolle. Sonst aber standen Fragen der Pädagogik und der Kirchenzucht durchaus im Vordergrund. Anlässlich von Taufen wurden Lehrgespräche geführt, vor der Konfirmation gab es Beichtexamen und unangekündigte Hausbesuche, vor Trauungen wurden sogenannte »Brautexamen« inklusive der rechtlichen Prüfung von Ehehindernissen durchgeführt. Der vage Eindruck, die Kirche kontrolliere etwas oder 9 Grethlein, Grundinformation, 20 f. 10 Vgl. die großen Monographien: Christian Albrecht, Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006; Lutz Friedrichs, Kasualpraxis in der Spätmoderne. Studien zu einer Praktischen Theologie der Übergänge, Leipzig 2008; Ulrike WagnerRau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 22008. 11 Vgl. Hans-Joachim Thilo, Beratende Seelsorge. Tiefenpsychologische Methodik dargestellt am Kasualgespräch, Göttingen 1971. Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
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jemanden anlässlich eines Hausbesuches, ist auch heute noch gelegentlich unausgesprochen, aber atmosphärisch wahrnehmbar. Auch bei Kasualien findet »Seelsorge als Gespräch« und »Gespräch als Seelsorge«12 statt, allerdings selten nur unter vier O hren. Das Seelsorgegespräch erweist sich diesbezüglich als ein Schatz in tönernen bzw. irdenen Gefäßen. Diese können zerspringen, wenn Konfirmandeneltern niemanden empfangen. Sie können aber auch zu dichten Momenten von gelingender Kommunikation des Evangeliums werden, an die sich Beteiligte noch Jahre später erinnern, gerade weil sie – aufgrund volkskirchlicher Partizipationsmuster – solch einen Seltenheitswert haben und auf Seiten aller Beteiligten mit hohen, manchmal unrealistischen Erwartungen verbunden sind. Eine notwendig unvollständige Tour d’Horizon der Themen der Seelsorge bei einer Taufe zeigt die zu hebenden Schätze: Es muss geklärt werden, ob Eltern und Verwandte in ihrem Taufwunsch einig sind. Mitunter gilt auch zu klären, in welche Konfession hinein ein Kind getauft werden soll, ob die Säuglingstaufe oder eine Segnung vorgesehen sind und wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Eltern sehen sich konfrontiert mit der Schutzbedürftigkeit ihres Kindes und ihren eigenen, begrenzten Möglichkeiten. Ambivalente Erfahrungen der Eltern mit der Kirche, erlebten oder gar erlittenen Kasualien im Familien- und Freundeskreis, mit Pfarrpersonen und der Kirchensteuer werden zuverlässig repetiert. Der Widerstreit zwischen Verpflichtung und Freiheit, was Eltern für ihr Kind vorentscheiden und was diesem und seiner reifenden Entscheidungsfähigkeit überlassen bleibt, drängt ebenso in den Vordergrund wie die Rechtfertigung des eigenen kirchlichen Verhaltens, ganz gleich, ob es als defizitär (»Wir sind nicht so regelmäßige Kirchgänger.«) oder als mehr als ausreichend (»Ich zahle Kirchensteuer und nicht zu knapp!«) wahrgenommen wird. Die Konfessionszugehörigkeit der Paten, der Ablauf des Gottesdienstes, wie ein passender Taufspruch gefunden werden kann und 12 Vgl. Joachim Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung, Göttingen 31980; Martin Nicol, Gespräch als Seelsorge. Theologische Fragmente zu einer Kultur des Gesprächs, Göttingen 1990. 152
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welche Rolle ein biblisches Wort als Lebensmotto spielen kann, fordern im Gesprächsverlauf orientierende Seelsorge heraus. Ein Taufgespräch verschafft der Pfarrperson einen unersetzba ren Zugang zur weitgehend unbekannten Generation der 25- bis 45-jährigen in einer volkskirchlichen Gemeinde mit ihren Krisen und Chancen. Nach wie vor scheiden viele Frauen beim ersten Kind vorläufig aus dem Berufsleben aus. Es besteht die Gefahr sozialer Isolation, die Partnerschaft muss bewusster vor Vernachlässigung bewahrt werden, allein verdienende Männer geraten in eine ›satellitäre Existenz‹, die neuerliche Rückbindung an die junge Großelterngeneration führt zur Rekapitulation älterer Konflikte um Kindererziehung bzw. Wertmaßstäbe und verwandtschaftliche Beziehungen müssen neu ausgehandelt werden.13
4. Orientierungen des seelsorglichen Einfallsreichtums (1) Die erste seelsorgliche Aufgabe besteht darin, die Kasualie überhaupt zu finden, zu erschließen, was genau der Fall ist. Das gründliche Studium von Milieuanalysen und jahrzehntelange Berufserfahrung können diese erste Mühe, genau wahrzunehmen, komplementieren, aber nicht ersetzen. Das erfordert trotz der Kürze des Kontaktes Zeit, Empathie und Aufmerksamkeit – alle samt knappe, aber entwicklungsfähige und seelsorglich verheißungsvolle Ressourcen in der Spätmoderne. »Den vermeintlich kleinen Dingen ist nachzugehen.«14 Das ist mit großem hermeneutischen Aufwand verbunden. Eigensinnige Gestaltungswünsche etwa sind aus seelsorglicher Sicht nicht nach dem Code ›erlaubt/verboten‹ zu beantworten, sondern erfordern einen Perspektivenwechsel aller Beteiligten, um das Individuelle und Überindividuelle einer Kasualie zu entdecken, alle bleibenden Ambivalenzen auszuhalten und gemeinschaftlich verständlich auszudrücken. 13 Vgl. Christoph Morgenthaler, Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie 3, Gütersloh 2009, 321. 14 Fechtner, Kirche, 15. Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
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(2) Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die verschiedenen Interessen zwischen agierenden Individuen und Gemeinschaften, zwischen privat und öffentlich zu öffnen und in Beziehungen zu setzen. Eine Taufgesellschaft findet sich erstmals und ungewohnterweise in einer sonntäglichen Gottesdienstgemeinde vor, der a lles vertraut ist. Eine Verstorbene hat für ihre eigene Trauerfeier ein genaues Reglement hinterlassen, statt Liturgie und Predigt möge ein 90-minütiger Film gezeigt werden. Die Kinder aber drücken ihren Widerwillen aus, weil sie so nicht von ihrer Mutter Abschied nehmen können und wollen. Privatheit und Öffentlichkeit sind dabei keine gegeneinander abgeschlossene Größen, sondern gehen graduell ineinander über. Auch wenn jede Kasualie eine Lebensschwelle veröffentlicht, so gibt es private Dinge, die aus seelsorglichen Schutzgründen im Rahmen eines Seelsorgegespräches bleiben. Das gilt auch, wenn dieses Gespräch beim Leidmahl nach dem Trauergottesdienst geführt wird. Seelsorgliches Interesse, also Dazwischensein, erfordert ebenso den Schutz des Privaten, wie auch das aktive Herstellen von Öffentlichkeit, wenn es u. a. darum geht, dass Beisetzungen nicht nur im allerengsten Familienkreis stattfinden, sondern Arbeitskollegen und Nachbarn aus dem Seniorenheim ebenso Ge legenheit finden sollen, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. (3) Die dritte seelsorgliche Orientierung gründet im Auftrag, das Evangelium lebensnah, biografiebezogen und überindividuell verständlich zu kommunizieren. Das Evangelium erweist sich dabei immer häufiger als fremdes Wort, das die Lebenslinie von der Herkunft in die Zukunft unterbricht und dabei gleichermaßen stören und/oder überwältigen kann. Aus dem zuvor Gezeigten ergibt sich, dass nicht ein Traditionsabbruch zu beklagen, sondern eine hermeneutisch-seelsorgliche Herausforderung wahrzunehmen ist. Ins Blickfeld geraten die Möglichkeiten heilsamer Konfrontation, der sorgfältige Umgang mit ›Kirchenverletzungen‹ in der Vergangenheit, aber vor allem das erklärende, deutende Gespräch über das, was nicht selbstverständlich ist und auch in den letzten Jahrhunderten oft nur scheinbar war, sondern erklärungsbedürftig und anspruchsvoll auftritt. 154
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Ein wesentlicher theologisch-seelsorglicher Perspektivenwechsel entsteht bei der Rechtfertigung von Lebensgeschichten aus Gnade statt Leistung. In den Kasualien wird Lebensgeschichte gerade nicht als gottgefälliges Leben gefeiert, nicht als ein sozial erfolgreiches Leben wird sie zelebriert und sie wird auch nicht als ein nach menschlichen Maßstäben sinnvolles Leben gewürdigt. Alle diese Momente werden in der Kasualpraxis nicht negiert, wohl aber transzendiert […].15
Sodann finden alle Kasualien im »Segensraum«16 Gottes statt. Der Segen Gottes erscheint nach biblischer Überlieferung nicht als harmloser oder magischer Schutz, sondern als etwas, was empfangen, errungen und entfaltet werden muss, wie es Jakob am J abbok zugleich passiv widerfuhr und von ihm aktiv erkämpft wurde. Bei Kasualien wird das Dasein gefeiert, obwohl das Leben bei bloßer Betrachtung kein Fest ist. Deshalb müssen Zufall und Geschick behutsam auseinandergehalten werden. Dabei gilt es Worte zu finden für das, was die Kasualbegehrenden selbst nicht zu sagen wagen, nicht zu sagen wissen oder – gemäß der reformatorischen Einsicht, dass das Heil extra nos auf uns zukommt – nicht zu sagen vermögen. Dem seelsorglichen Einfallsreichtum sind dabei nach biblischem Zeugnis und seit 3000 Jahren keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, die Geschichten Gottes mit den Menschen heilsam zu erzählen, Menschen in Geschichten zu verstricken.
5. Künftige Kasualien – Chancen und Grenzen der Seelsorge In Zukunft werden die an individuellen Lebensgeschichten orientierten Kasualien weiter an Selbstverständlichkeit einbüßen. Damit aber wachsen die Neugier und die Optionen, Bedeutungen neu zu finden und zu klären, so dass mit einem Traditionsabbruch durchaus auch das Ende problematischer Gewohnheiten, Tradi15 Fechtner, Kirche, 39. 16 Vgl. Wagner-Rau, Segensraum. Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
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tionen und Konnotationen verbunden sein kann. Nicht alles, was früher üblich war, ist gut und erhaltenswert. Die Konkurrenzen und damit die Diversifizierung bei der Gestaltung von entscheidenden Lebenssituationen werden weiter zunehmen. Über nach wie vor offene, ökumenische Fragen hinaus werden interreligiöse Kasualanfragen zunehmen und damit auch die seelsorglichen Fragen im Umgang mit bleibend differenten, religiösen Vorstellungen. Toleranz als aktives und gestaltendes Leiden an unüberbrückbaren Unterschieden wird ein prominentes Thema der Seelsorge und ihrer Äquivalente in anderen Religionen werden. Im Blick auf die großen gesellschaftlichen Entwicklungen ist vor allem dem kulturgefährdenden Trend entgegenzuwirken, Lebensknotenpunkte gar nicht mehr zu begehen, nicht mehr Freud und Leid gemeinsam zu benennen und zu tragen, sondern sogenannte »Bürohochzeiten« formal im Standesamt hinter sich zu bringen und stille Abdankungen durch den Friedhofsgärtner vornehmen zu lassen ohne Anwesenheit von Trauergästen. Bei den klassischen Kasualien wird die Kirche immer weiter über sich selbst hinauswirken müssen und können. Immer mehr Menschen werden dort als Taufpaten, Hochzeitsgäste und Trauernde begegnen, die sich äußerlich und/oder innerlich von der Kirche verabschiedet haben. Der seelsorgliche Anspruch und die Erwartungen werden dabei in allen Fällen grösser, wenn diese Entwicklung als Chance und nicht als Aufruf zur Selbstghettoisierung verstanden wird. Gemeinschaftsbezogene Kasualien werden zunehmen und durch die Anwesenden vielfältiger und herausfordernder hinsichtlich einer generellen Seelsorge werden. Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob man immer wieder ›neue‹ Kasualien – wie die inzwischen gut etablierte Goldene Konfirmation beim Übertritt ins junge Alter – entwickeln oder das Vorhandene stärken soll. Hier sind zwei Dinge abzuwägen. Einerseits ergeben vier Kasualien, von denen ein Mensch in den meisten Fällen nur zwei bewusst an sich selbst erlebt, ausgesprochen wenig Kontaktmöglichkeiten zur Kirche. Andererseits ist die Fülle möglicher anlassbezogener Gottesdienstfeiern schon jetzt so groß, dass sie im Rahmen heutiger Gemeinde- und Sonderpfarrämter das menschenfreundliche Maß regelmäßig übersteigt. 156
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Veränderungen bei den Kasualien zeigen auch in Zukunft seismographisch die Erschütterungen der spätmodernen, individualisierten Kirche und Gesellschaft. Für die Praktische Theologie bedeutet dieser Wandel nicht zuletzt eine seelsorgliche Horizonterweiterung.
Literatur Rudolf Bohren, Unsere Kasualpraxis – eine missionarische Gelegenheit?, in: TEH 83, München 1960. Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – Eine Orientierung, Gütersloh 22011. Isolde Karle, Volkskirche ist Kasualien- und Pastorenkirche!, in: DtPfrBl 12/2004; abgerufen am 18.8.2015 unter www.pfarrerverband.de. Ralph Kunz, Wie kommt Gott ins System?, in: Ralph Kunz/Isabelle Noth (Hg.), Nachdenkliche Seelsorge/Seelsorgliches Nachdenken, Stuttgart 2012, 44–61. Christoph Müller, Ambivalenzen in Kasualien. Wahrnehmungen und Umgangsweisen bei Taufen, kirchlichen Trauungen und Bestattungen, in: Walter Dietrich/Kurt Lüscher/Christoph Müller (Hg.), Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten, Zürich 2009, 123–192.
Seelsorge in Verbindung mit Kasualien
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Seelsorge in sozialen Medien
Einleitung Seelsorge in sozialen Netzwerken zu reflektieren heißt erstens, in den Horizont der Seelsorge-Diskussion auch seelsorgerliche Kommunikationen aus digitalisierten Kontexten, insbesondere im Bereich sozialer Medien, einzurücken. Wer sich vor dem inneren Auge eine Seelsorge-Situation vorstellt, sollte insofern plurale Vorstellungswelten kultivieren: es ist nicht länger vor allem von der Konstellation eines persönlichen Gesprächs unter Anwesenden auszugehen, sondern vielmehr auch von einem medial vermittelten Geschehen innerhalb vorstrukturierter digitalisierter Plattformen wie Facebook, Twitter oder Youtube. Zweitens ist mit der Ref lexion auf Seelsorge in sozialen Medien ebenfalls die Wahrnehmung des Transformationsprozesses verbunden, den moderne Gesellschaften durch Digitalisierungsprozesse durchlaufen. So ist Seelsorge in sozialen Medien nicht als eine Form der Sonderseelsorge wie Notfall-, Gefängnis-, Urlaubs-, oder Militärseelsorge zu verstehen. Vielmehr wird mit der Digitalisierung ein ähnlich durchgreifender Entwicklungs- und Transformationsprozess bezeichnet wie dies mit den Begriffen der Industrialisierung, der Globalisierung, der Individualisierung u. a. m. innerhalb soziologischer Zeitdiagnosen geschehen ist. Es gibt demnach also nicht nur seelsorgerliche Kommunikationen in sozialen Netzwerken poimenisch zu erkunden, sondern es ist mit einem tiefgreifenden Wandel in Kommunikationskulturen zu rechnen, der auch in Veränderungen individueller Kommunikationsverhalten sichtbar wird. Umfassend gesagt: Kommunikation verändert sich und dies betrifft immer auch ihre Inhalte. Inhalt und Form, Kommunikationsgehalt und Medium lassen sich nicht voneinander trennen. Die Pastoralpsychologie hat diese Einsicht bereits vor der Diskussion um DigitalisierungsproSeelsorge in sozialen Medien
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zesse gehaltvoll vorgetragen: die Frage nach der Rolle der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers war immer zugleich auch die Frage danach, wie sie oder er ihr Auftreten kommunizieren. Für die Seelsorgelehre ist nun von besonderer Bedeutung, dass die Motive zur Nutzung des Internets sich seit seiner Popularisierung durch den PC, durch Laptops und Handys von der Informationsvermittlung weg entwickelt haben und heute sozial und kommunikativ bedingte Nutzungsmotive Vorrang haben. Es werden persönliche Kontakte gepflegt, sie sind Teil eines größeren Netzwerks, das wiederum in viele einzeln aufgebaute virtuelle Gemeinschaften ausdifferenziert ist. Steht hinter vielen Seelsorgetheorien noch immer das Bild des einzelnen Menschen, der als Klient der Seelsorge gilt und mit dem in höchster Verschwiegenheit gesprochen werden muss, wird mit der Digitalisierung moderner Gesellschaften immer deutlicher, dass die modernen Polaritäten von Individualität versus Sozialität und Privatsphäre versus Öffentlichkeit kaum mehr tragfähige Koordinaten zur Deutung gesellschaftlicher Prozesse liefern. Vielmehr muss das, was mit ihnen gesichert und für die Gesellschaft bewahrt worden ist, neu justiert werden. Darüber hinaus schult die alltägliche und massenhafte Kommunikation in sozialen Medien nicht nur den Umgang mit sozialen Medien, sondern sie bringt auch spezifische Standardisierungen von Kommunikation hervor, einfach zusammengefasst: es verändert sich das Wie von Kommunikation, was sich an OnlineSemantiken ebenso wie an Visualisierungen durch Fotos oder Zeichen zeigen lässt. War in der Vorstellung von der Seelsorge das Gespräch das primäre Medium so ist zu fragen, ob und wie Interaktionen in sozialen Medien seelsorgerliche Dimensionen haben oder sogar als Seelsorge zu bezeichnen sind, die schriftlich und unter dem Einsatz von Bildern vollzogen werden. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Kommunikation nicht nur in sozialen Medien spezifische Eigenheiten besitzt, sondern dass sich hier Mediatisierungsprozesse der Gesamtgesellschaft widerspiegeln und dass diese insofern nicht als Insel-Kommunikationen zu betrachten sind. Digitale Kommunikationsweisen wandern in nicht-digitale Kommunikationen ein, so wie nichtdigitale Kommunikationsweisen für viele digitale Kommunika 160
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tionskulturen kennzeichnend sind.1 Insofern ist für die Seelsorge lehre und -praxis die Reflexion von Digitalisierungsprozessen von doppelter Bedeutung: Einerseits weil hier ›neue‹ Orte von seelsorgerlicher Praxis aufzufinden sind und andererseits weil Seelsorge ein kommunikatives Geschehen ist und insofern an der Selbstaufklärung ihrer Kommunikationskulturen ein eigenes Interesse hat.
2. Ein Fallbeispiel Seelsorge als Selbstsorge im sozialen Medium Bereits die Auswahl des Fallbeispiels und der Hinweis auf weitere Seelsorge-Modi im Internet, insbesondere im Bereich der sozialen Medien, verraten etwas über das Seelsorge-Verständnis, das zur Entfaltung des Themas gewählt wird. Im Mittelpunkt stehen hier die massenhaft auftretenden kommunikativen Interaktionen, die auf sozialen Netzwerken wie Facebook anlässlich des Todes eines Menschen, – hier eines fünfjährigen Jungen, der bei einem Verkehrsunfall an einem unbeschrankten Bahnübergang stattfand –, miteinander geteilt werden und die unter der Leitlinie Seelsorge als Selbstsorge in sozialen Medien vorgestellt wird. Solche Mitteilungen können zu allen Tages- und Nachtzeiten und in beliebiger Länge verfasst werden, sie enthalten sehr häufig Bilder, auch Videos sowie Texte, die die verstorbenen Personen zeigen und sie in der weiteren Beschreibung präsent werden lassen. Daneben befinden sich häufig mit vielen Emoticons (Zeichen wie Herzchen, Smileys und Luftballons) versehene Kurzmitteilungen. Es gibt auch längere Kommentare, die ein Sharing mit eigenen Erfahrungen bieten. Hier geht es nicht darum, dass sich die Betroffene in einer Notsituation an einen professionellen Seelsorger wenden wollte, sondern darum, dass sie mitten im Alltag 1 Unter Mediatisierung wird ein in Europa und in den deutschsprachigen Medienwissenschaften etabliertes Theoriekonzept verstanden, das aufzeigen will, wie Medienkommunikationen gesellschaftliche Strukturen und Prozesse prägen. Vgl. Andreas Hepp, Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten, Wiesbaden 2011; Friedrich Krotz, Die Mediatisierung des kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien, Opladen 2001. Seelsorge in sozialen Medien
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sehr einfach, kostengünstig, schnell und direkt Kontakt zu einer Gruppe von Menschen aufnehmen kann, die sie selbst kennt bzw. die einen selbst kennen. Ihnen will sie etwas von dem, was sie umtreibt, zeigen. Gefühle, Gedanken und Hoffnungen, die sie hegt, werden zum Ausdruck gebracht. Zugleich sind die Postings Gelegenheiten, einen Prozess der Selbstreflexion über die eigene Person hinaus anzuregen. Sie werden innerhalb eines kommunikativen Kontextes angesiedelt, der nicht – wie im Tagebuch – ohne Rückmeldung an einen selbst bleibt, sondern wiederum sehr unterschiedlich kommentiert werden kann; diese Kommentare reichen von einer mit einem Zeichen verbundenen Zustimmung oder Ablehnung über Tröstungen bis hin zu ebenfalls langen Resonanzen, die mit der eigenen Erfahrung die gegebene Lage aufgreifen und darin auch teilen. Artikulierte Trauer erfährt zeitnah vielfältige Aufmerksamkeit und darin Anerkennung, die in in162
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tensiven Trauerprozessen innerhalb einer Familie möglicherweise nicht erfahren werden könnte, weil sich alle Personen dieser Familie in einer akuten Trauersituation befinden. Mit zu diesem Fallbeispiel gehört, dass die Mutter ihre Trauer nicht allein auf Facebook kommuniziert, sondern auch über den nahen Bekannten-, Familien- und Freundeskreis hinaus politisch tätig wird. Sie veröffentlicht ca. zwei Wochen nach dem tödlichen Verkehrsunfall auf Change.org eine Petition, die dafür streitet, dass in Deutschland alle Bahnübergänge mit Schranken versehen werden.2 So erscheint Ende Mai auf Change.org ein offener »Brief an meinen toten Sohn«: »Hallo Mäuschen, oh sorry, du wolltest ja nie ›Mäuschen‹ genannt werden, sondern lieber ›Schatz‹ oder ›Steppke‹! Also dann: Hallo, mein Schatz! Nun fehlst du uns schon zwei unendlich lange Wochen, und du würdest kaum glauben, was hier alles in der Zwischenzeit passiert ist!? Mal abgesehen davon, dass ich endlich aus dem Krankenhaus nach Hause durfte (meine Beine würdest du momentan lieben, sie haben deine Lieblingsfarben: Lila und Blau!), ist eine ganze Menge geschehen, was unser aller Leben ganz schön verändert hat. 2 Change.org ist eine Initiative von zwei kalifornischen Internetaktivisten, Ben Rattray und Mark Dimas, die im Jahre 2007 eine Plattform für kostenlose Kampagnen entwickelt haben. Den Impuls hierzu erhielt Rattray, als er erlebte, welche Diskriminierungen sein Bruder erleiden musste, als er sein homosexuelles Coming-Out hatte. Ziel sei es, kollektive Aktionen und bürgerschaftliches Engagement via Internet zu stärken. »Menschen sollten mit Hilfe von Change.org Petitionen starten, sich gegenseitig unterstützen und so erfolgreich gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Change.org wächst nach eigenen Angaben mittlerweile mit zwei Millionen Nutzern pro Monat, beschäftigt 150 Mitarbeiter in 18 Ländern, existiert in elf Sprachen und wird in 196 Ländern der Welt genutzt. Im April 2012 nahm das US-Nachrichtenmagazin Time Change.org-Gründer Ben Rattray in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt auf. […] Die Organisation will es fördern, dass Einzelpersonen sich jederzeit zutrauen, gesellschaftliche Veränderung anzustoßen. Seelsorge in sozialen Medien
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Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll?! Na gut, beginnen wir mal mit dem Positiven: Ja, Elena geht’s super, du musst dir keine Sorgen um sie machen! Ich kenne dich ja als großer Bruder, und die Sorge um deine kleine Schwester – auch wenn ihr euch gerne öfter mal gezankt habt, und sie natürlich IMMER schuld war […]. Sie hat bei dem Unfall wirklich nur einen kleinen Kratzer auf der Stirn abbekommen, bei dem sogar schon der Schorf abgeht […]..
Dem Briefende folgt folgender Aufruf zu einer Petition: Es gibt einfach noch zu viele unbeschrankte Bahnübergänge in Deutschland! Dass die Züge, die dort passieren, teilweise gar nicht oder zu spät von Autofahrern wahrgenommen werden, zeigt der furchtbare Unfall, den meine Familie am vergangenen Montag Abend (11.05.2015) auf der Halbinsel Eiderstedt hatte. Kurz vor dem Bauernhof, wo wir Urlaub machten, wurde unser Auto von einem Zug erfasst! Und NIEMAND von uns 5 Insassen hat ihn kommen sehen oder hören! Dieser furchtbare Unfall forderte das Leben meines 5-jährigen Sohnes Matteo, mein Vater liegt lebensgefährlich verletzt an Kopf und Rumpf im KH, meine Mutter und ich liegen ebenfalls mit Brüchen an Becken, Hüfte und Brustkorb im KH. Meine knapp zweijährige Tochter hat wie durch ein Wunder nur Kratzer abbekommen. Bitte unterschreibt meine Petition, damit Niemand mehr einem unbeschrankten Bahnübergang zum Opfer fallen muss!!!« (http://www.huffingtonpost.de/marzia-plichta/ brief-an-meinen-toten-sohn_b_7435772.html, 26.8.2015).
Kein Einzelfall Die Kombination aus Facebook-Kommunikation und Engagement erscheint kein Einzelfall zu sein. Wie ich in einem früheren Beitrag zur Blog-Kommunikation einer krebserkrankten Jugendlichen zeigen konnte3, wählte auch sie über den eigenen Blog hi3 Vgl. Ilona Nord, Face your fear, in: dies./Luthe, Social Media; es sind aber auch viele weitere solcher Fälle im Internet zugänglich, siehe z. B. den Popsong Clouds von Zach Sobiech auf youtube. 164
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naus den Weg zu einer Kampagne, die für die Bekämpfung von Krebserkrankungen Gelder einzusammeln beabsichtigte. Viele weitere Beispiele solcher transpersonalen Engagements könnten genannt werden. Stand hier nun also so etwas wie Alltagsseelsorge als Selbstsorge in sozialen Medien im Zentrum, ist darüber hinaus darauf zu verweisen, dass sich neben diesen Formen im Internet auch ein breites Angebot aus dem Bereich der professionell unterstützten und angeleiteten Seelsorge findet. Bereits seit Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts existiert eine so genannte Mail-Seelsorge, die man inzwischen z. B. im Bereich der verfassten Kirchen und Religionsgemeinschaften als professionelles Angebot der Seelsorge bezeichnen muss.4 Als ein weiteres Angebot, das nicht one-by-one strukturiert ist, sondern mehrere Personen im Gespräch zulässt, ist die Chat-Seelsorge zu nennen. Dieser Chat kann von einem professionellen Seelsorger angeleitet werden oder unter den Interessierten verlaufen. Dann wird er nur im Hintergrund von Professionellen begleitet bzw. kommunikativ strukturiert.5 Vom Gruppenchat aus kann man auch Kontakt mit einem Seelsorger bzw. einer Seelsorgerin aufnehmen, um einen verabredeten Einzelchat zu führen. Seelsorgechats sind in aller Regel anonym geführt, so dass auch Moderator/in und Seelsorger/in nicht wissen, wer den Chatroom betritt.
3. Bedeutung für die Gemeindeseelsorge Umstellung der Kommunikationskultur Als Pfarrerin oder Pfarrer innerhalb eines sozialen Mediums präsent zu sein, heißt sich für alltägliche Kommunikationen offen zu zeigen. Nachdem Jugendliche und Erwachsene in Mitteleuropa in einem bis um die 90 % reichenden Prozentsatz mit mobilen Telefonen, Tabletcomputern oder Personal Computers online sind, 4 Vgl. z. B. www.seelsorge.net, das E-Mail und SMS-Angebot der reformierten und der katholischen Kirchen in der Schweiz sowie auch www.telefonseelsorge.de, die Telefon, Mail und Chat-Angebote macht. 5 Vgl. z. B. www.chat.dafeg.net. Seelsorge in sozialen Medien
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liegt in diesem Bereich eine große Möglichkeit mit Gemeindemitgliedern aller Generationen und darüber hinaus auch Bewohnerinnen und Bewohnern eines Stadtteils, die nicht zur Gemeinde gehören, kommunikativ verbunden zu sein: Denn soziale Medien vernetzen vor allem Menschen miteinander, die sich bereits kennen. Aber auch für den wachsenden Bereich der älteren Gemeindemitglieder wird dies mehr und mehr gelten. Die Online-Zugänge der über 60jährigen nehmen stetig zu und bieten für das hohe Alter eine wirkungsvolle Möglichkeit, Beziehungen zu pflegen, wenn die eigene Mobilität nachlässt. Der häufig bereits kritisierten Komm-Struktur kirchlicher Kommunikationsangebote wird eine leicht erreichbare mediale Kommunikationsmöglichkeit zur Seite gestellt, die nicht nur kommunizieren kann, ob jemand zum gemeinsamen Nachmittag kommen kann oder nicht. Sie bietet auch verschiedene Möglichkeiten der inhaltlichen Partizipation über den Versand von Fotos und Videos oder über Skype oder Chat, der die Person selbst im Kommunikationsraum der anderen Personen kurzfristig und kostengünstig Präsenz ermöglicht. Eine weitere Kommunikationschance für die Gemeindeseelsorge liegt in den Kommunikationen zwischen Ehrenamtlichen und Pfarrerinnen und Pfarrer, die auf sozialen Medien transparenter, direkter und partizipativer als in der one-by-one Kommunikation gestaltet werden können. Projektideen können in der Gruppe ebenso kommuniziert werden wie Mitteilungen, dass jemand erkrankt ist oder Unterstützung braucht etc. Gerade dann, wenn Fusionen eine Kirchengemeinde über mehrere Ortschaften verteilt, liefert die digitale Kommunikation Möglichkeiten, Kontinuität aufzubauen.6 Aber auch die im engeren Sinne seelsorgerliche Arbeit kann über den Gebrauch von sozialen Medien in einem hohen Maße intensiviert werden. Dabei wird die pastorale Haltung, die pastoralpsychologische Fortbildungen innerhalb der Pfarramtsausbildung gefördert haben, stärker als bislang abgerufen. Man bildet 6 Vgl. Ilona Nord, Gemeinde in Netzwerken, in: Ralph Kunz/Thomas Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, NeukirchenVluyn, 2014, 409–415. 166
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Pfarrerinnen und Pfarrer hier nicht nur im Know-how für eine Gesprächsführung und in der Selbstreflexion der Rolle als Seelsorgerinnen und Seelsorger aus, sondern sie ermöglichen auch eine realistischere Einschätzung dessen, was Seelsorge in der Gemeinde sein kann. Grenzen und Chancen sind bewusster geworden und dazu gehört es, dass die professionelle Rolle der Seelsorgerin und des Seelsorgers sich gerade darin zeigt, dass man den eigenen Auftrag bescheidener als ehedem formuliert: Kaum mehr geht es in einem heute verantwortlich reflektierten Selbstverständnis darum, dass man Probleme lösen wollte oder sollte, sondern dass man Menschen auf ihren Wegen begleitet, Unauflösbares anhört und mit aushält, Freuden und Leiden miteinander teilt. Wo es möglich ist, sollen darüber hinaus noch die Ressourcen der Klienten und Klientinnen gestärkt oder Gelegenheiten geschaffen werden, dass Menschen in einer Krise wieder neue Lebensmöglichkeiten für sich entdecken können. Ressourcenorientierte Kommunikation ist ein Leitmotiv von Seelsorge. Die Ressourcenorientierung und die Haltung aufmerksamer Teilhabe werden – wie bereits oben in der Vorstellung des Beispiels anklang – in sozialen Medien hoch geschätzt. Man kann one-by-one über private Nachrichten kommunizieren und mit kurzen Mitteilungen emotionale Unterstützung geben. Das Fallbeispiel zeigt, wie Menschen mit einfacher Artikulation von Symbolen ihre Anteilnahme an einer Situation äußern. Es werden nicht die großen Botschaften gepostet, sondern diejenigen, die Annahme und Aufmerksamkeit füreinander signalisieren. Menschen gehen miteinander ein Stück ihrer Lebenswege. Als Facebook-Mitglied verfügt man darüber hinaus über einen Kreis von Personen, die einem zur gemeinsamen Kommunikation zur Verfügung stehen.7 Allerdings sind Pfarrerinnen und Pfarrer hier nicht als Leitungspersonen innerhalb der Gruppe gefragt; wechselseitig und auf Augenhöhe zu kommunizieren, bedeutet persönlich in Kommunikation zu treten, die Berufsrolle tritt zurück. 7 In der soziologischen Analyse von Facebook-Kommunikationen werden diese als Sozialkapital bezeichnet, vgl. Bernadette Kneidinger, Facebook und Co. Eine soziologische Analyse von Interaktionsformen, in: Online Social Networks, Wiesbaden 2010. Seelsorge in sozialen Medien
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Interessant ist auch der Gebrauch christlicher Segenswünsche und Deutungen des eigenen Lebens im Licht des christlichen Glaubens. Es fällt vielen Menschen leichter, einer anderen Person über ein Medium den Segen Gottes zu wünschen, als dies face-toface zu tun. Doch in aller Regel bleibt das Experimentieren mit religiöser Sprache in Facebook nicht auf dieses Medium begrenzt, sondern strahlt auf neue Kompetenzen religiöser Kommunikationsfähigkeit im face-to-face-Bereich aus. Erkennt man alltägliche Postings auf sozialen Netzwerken wie Facebook als seelsorgerliche Kommunikationen in der Gemeinde an, kommen die SelbstsorgeRessourcen der Gemeinde neu in den Blick. Für Pfarrerinnen und Pfarrer hat dies den Vorteil, dass sie oder er sich nicht als einzige Personen sehen, die seelsorgerlich in der Gemeinde tätig sind. Außerdem kommen nicht immer nur sie selbst als Ansprechpartner/in oder als Helfer/in ins Spiel, sondern können selber an Kommunikationen still teilnehmen, um zu sehen und zu hören, was kommuniziert wird, oder auch um mitteilen zu können, was sie bewegt und wo sie hilfsbedürftig sind. Neue Rollen Die Möglichkeit von Pfarrerinnen und Pfarrern, sich mit den bereits vernetzten Kommunikationen von Gemeindemitgliedern zu verbinden, nimmt dabei keineswegs automatisch Amtsautorität in Sachen Seelsorge weg. Man kann vielmehr zeigen, dass man da ist und sich füreinander interessiert. Idealer Weise geschieht dies aus realem Interesse an den persönlichen Beziehungen in der Gemeinde, ohne dass hier der Eindruck entsteht, man würde nur aus einer beruflichen Rolle oder von Amtswegen heraus dabei sein. Denn die häufig in Seelsorge-Kommunikationen noch enthaltene Hierarchie zwischen Seelsorger/in und Klient/in prägt die Kommunikationen in sozialen Medien kaum mehr. In sozialen Medien wird zumeist direkt, ohne hohen Respekt vor beruflichen Rollen o.a. und vor allem auf Augenhöhe kommuniziert. Die auch poimenisch unverzichtbare Einsicht, dass niemand weiß, was für einen anderen Menschen das Beste ist, wird hier in der Regel beherzigt. Kann hier aber die Seelsorgekompetenz für alle auch einmal produktiv eingebracht werden, – etwa wenn es gelingt, eine bislang noch nicht gesehene Facette einer Lebenssitua168
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tion zu beleuchten –, wird dies umso höher geschätzt. Das oben angeführte Fallbeispiel zeigt dabei, welche Herausforderung sich stellt: Es geht darum, sich auf konkrete Kontexte einzulassen, die durch spezifische Trostkommunikationen bereits vorstrukturiert sind und unter Umständen in einer Notsituation, das Eigene einzubringen, das anschlussfähig an eine allgemeine Kommunikation, nicht oberflächlich und gehaltvoll sein soll. Risiken und Chancen Fragt man abschließend nach den Risiken, die etwa im Bereich des Mobbing von Personen oder gar des Pfarrpersonals liegen, so ist festzuhalten, dass soziale Medien keine Sonderbereiche der Gesellschaft bzw. der Gemeinde sind, sondern ein Spiegel ihrer Realitäten. Das heißt, dass ein kommunikatives Problem bzw. konkret Aggressionen kommunikativ zu Tage treten, die nicht nur in Facebook existieren oder dort hochgekocht würden, sondern Teil der Realität sind. Dass mediale Kommunikationen Eigen dynamiken entwickeln, die vorab nicht intendiert waren, ist ein häufig bemühter Allgemeinplatz in der Bewertung insbesondere digitalisierter Kommunikationen, doch diese Einschätzung lässt sich kaum valide nachweisen. Die bewusste Integration digitalisierter Kommunikationen in die Gemeindearbeit, hier speziell in die Seelsorge-Arbeit, bedeutet dabei nicht, dass man nicht die Menschen wahrzunehmen hätte, die kein Smartphone haben oder an digitaler Kommunikation bislang und möglicher Weise auch zukünftig keinen Anteil haben. Auch hier haben Kirchengemeinden eine Verantwortung, dass Menschen, die keinen Zugang zu digitalisierter Kommunikation haben, dennoch Anteil an den kommunikativen Strukturen der Gemeinde erhalten. Wie notwendig eine große Offenheit gegenüber den neuen Medien ist, zeigt sich insgesamt in der Gemeindearbeit, weil sich die Verkündigung der christlichen Botschaft zu einem großen Teil in Kommunikationen vollzieht. In der Gemeindeseelsorge spitzt sich dies noch einmal zu, denn viele Menschen nutzen längst seelsorgerliche Angebote im Internet. So erwarten Gemeindemitglieder quer durch die Generationen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer kommunikationsfähig und im Sinne des Evangeliums auch persönlich Seelsorge in sozialen Medien
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kommunikativ aufgeschlossen sind. Kirche wird gesellschaftlich als kommunikatives Netzwerk der christlichen Botschaft, als zivilgesellschaftliche Agentur wahrgenommen. Will sie dieser gesellschaftlichen Rolle entsprechen und in dieser auch wirkungsvoll seelsorgerlich tätig sein, müssen ihre Vertreterinnen und Vertreter an den Kommunikationskulturen partizipieren, in denen Menschen tagtäglich viel davon artikulieren, was sie bewegt.
4. Soziale Medien – Einblicke in Forschung und Lehre Im deutschsprachigen Kontext markieren zwei Handbücher eine breitere Akzeptanz oder Durchsetzung der medienwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen sozialer Medien: Anja Ebersbach und Markus Glaser mit Social Web (2008) sowie Daniel Michalis und Thomas Schildhauer mit Social Media Handbuch (2010).8 Sucht man nach den Kennzeichen dieser Technologie, so wird schnell klar, dass die radikale Neuerfindung des Internet durch Soziale Medien zu einer Nutzungsveränderung geführt hat. Das Internet ist von einer besseren Litfaßsäule zu einem Medium der Vernetzung von Informationen, zu einem Medium der spontanen Interaktion mit vernetzten Informationen geworden.9 Zu den populärsten und weltweit derzeit erfolgreichsten Web 2.0-Auftritten gehören nach Stephan Münker das Videoportal YouTube, die Online-Enzyklopädie Wikipedia und die Community-Seiten von Facebook. Alle drei Angebote beziehen ihre Inhalte ausschließlich von ihren Nutzern. Herausragende Veränderungen betreffen die Immersivität des Mediums. Die sozialen Medien des digitalen Netzes lassen die Nutzer Teil des Webs werden.10 Die Entwicklung von Seelsorge-Konzepten, die nicht im Sonder-, sondern im Regelfall von einer Gruppensituation ausgehen 8 Daniel Michelis/Thomas Schildhauer (Hg), Social Media Handbuch. Theorien, Methoden, Modelle. Baden-Baden 2010; Anja Ebersbach/Markus Glaser/Richard Heigl (Hg), Social Web. Konstanz 2011. 9 Vgl. Stefan Münker, Die sozialen Medien des Web 2.0, in: Daniel Michelis/ Thomas Schildhauer (Hg.), Social Media Handbuch. Theorien, Methoden, Modelle, Baden-Baden 2010, 32. 10 Ebd., 40. 170
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und partizipativ orientiert sind, ist soweit zu sehen ist, ein Desiderat der Poimenik.11 Im Bereich der langsam Fahrt aufnehmenden praktisch-theologischen Auseinandersetzung mit Social Media-Kommunikationen12 sind es bislang vor allem Trauerkommunikationen und Zusammenhänge, die in eine Transformation von Bestattungskulturen hineinführen, die analysiert und poime nisch reflektiert werden.13 Das weitere Feld der Kasualtheorie mit Taufe, Konfirmation und Trauung bietet ebenfalls praktisch-theologisch bereits reich reflektierte Gelegenheiten zur seelsorgerlichen Kommunikation, deren Themen und Formen im Kontext mediatisierter Lebenswelten diskutiert werden sollten. Schließlich steht eine Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen Social Media-Kommunikationen und den poimenischen Konzepten an, die das Setting des Einzelgesprächs im Pfarrbüro bereits verlassen haben. Hierzu zählen Bereiche wie etwa die Konzeptualisierung von Seelsorge innerhalb von Selbsthilfegruppen, die Schulseelsorge14, das Konzept der Alltagsseelsorge15 sowie Formen von Kurzgesprächen.16 Wenn es um die in einem engeren Sinne verstandene Entfaltung des Verständnisses von Seelsorge geht, kann z. B. an Konzepte angeschlossen werden, die Seelsorge als Sorge für sich und andere pointieren.17 11 Diese Umorientierung kann auf bereits vorliegende Reflexionen zu Selbsthilfegruppen in und außerhalb von Kirchengemeinden aufbauen. 12 Als eine der ersten umfangreicheren Arbeiten zum Thema ist Hans-Ulrich Gehring, Seelsorge in der Mediengesellschaft, Neukirchen-Vlyn 2002, zu nennen. Dem Thema Internetseelsorge widmete sich als erste Praktische Theologin m.W. Sabine Bobert: Trägt das Netz? Seelsorge unter den Bedingungen des Internet, in: Pastoraltheologie 89 (2000), 249–262. 13 Vgl. z. B. Carmen Berger-Zell, Trauerleibseelsorge, in: Ilona Nord/Swantje Luthe (Hg.), Social Media, christliche Religiosität und Kirche, Jena 2014, und kasualtheoretisch orientierte Studien zur Bestattung von: Swantje Luthe, Social Media und Kasualtheorie. 14 Ilona Nord, Schulseelsorge in mediatisierten Welten, in: Schönberger Hefte 1/2015, Nr. 169. 15 Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge, Göttingen 1996. 16 Vgl. hierzu zuletzt und am umfangreichsten die Studie von Rolf Theobald, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen-Vluyn 2013. 17 Vgl. z. B. Michael Klessmann, Seelsorge. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2008, insbesondere § 2, 25–48. Seelsorge in sozialen Medien
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5. Leitsätze –– Wer seelsorgerlich kommunizieren will, muss selbst an kommunikativen Netzwerken partizipieren, wo seelsorgerlich kommuniziert wird. –– Seelsorgerliche Kommunikationen in sozialen Medien ersetzen nicht den Hausbesuch des ehrenamtlichen Seelsorgedienstes oder das Gespräch mit der Pfarrerin oder mit dem Pfarrer. Sie intensivieren vielmehr die Beziehungen von Gemeindemitgliedern bzw. Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadtteils oder Ortes untereinander. Sie können auch der Anbahnung von face-to-face Kontakten dienen, müssen dies aber nicht zwingend leisten. –– Gemeindeseelsorge ist als Aktivität aller Gemeindemitglieder, inklusive der Hauptamtlichen, aneinander und sogar als Tätigkeit einer Person für sich selbst im Sinne der Selbstsorge in den Fokus zu rücken.
6. Zukünftige Entwicklung »Bald werden alle Menschen auf unserem Planeten vernetzt sein.«18 Die Kommunikationskulturen digitalisierter Welten werden dabei nicht nur Probleme des Datenschutzes und des Kontrollverlusts über die Techniken medialer Vernetzung bringen, sondern auch neue Chancen der Kooperation und der Auseinandersetzung mit globalen Problemen wie Hunger, Umweltzerstörung und Kriege. Wollen Kirchengemeinden sich von diesen Entwicklungen, die sich auf die persönliche wie auf die politische Partizipation von Menschen an der zukünftigen Entwicklung planetaren Lebens nicht selbst ausschließen, sollten sie sich in allen Lebensäußerungen auf die Mediatisierung der Lebenswelt einstellen. Hierzu gehört es auch, dass sie ihre Kommunikationskulturen im Bereich der Seelsorge radikal verändern. Seelsorge ist einerseits persönlich und baut auf Vertrauen auf, andererseits wird mehr 18 Eric Schmidt/Jared Cohen, Die Vernetzung der Welt. Ein Blick in die Zukunft, Hamburg 2013, 27. 172
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und mehr gerade in halböffentlichen und öffentlichen Kommunikationen in sozialen Medien deutlich, dass Seelsorge ebenso eine auf Kommunikationsgruppen bezogene Interaktion ist, die politische Bedeutungen hat wie am Fallbeispiel gezeigt wurde. Die wachsende seelische Belastung derer, die das Sterben von Tausenden von Flüchtlingen an den Grenzen Europas täglich mit ansehen, ist ein weiteres Beispiel dafür, das die Notwendigkeit einer politisch orientierten Seelsorgekonzeption nahelegt.
Literatur Birgit Knatz, Handbuch Internetseelsorge. Grundlagen. Formen. Praxis, Gütersloh 2013. Ilona Nord/Swantje Luthe, Räume, die Selbstvergewisserung ermöglichen. Virtuelle Bestattungs- und Gedenkräume und ihre Bedeutung für die Diskussion um den Wandel in der Friedhofskultur, in: Thomas Klie/Martina Kumlehn/Ralph Kunz/Thomas Schlag (Hg), Praktische Theologie der Bestattung, Berlin/New York 2015, 307–330. Ilona Nord/Swantje Luthe (Hg), Social Media, christliche Religiosität und Kirche. Studien zur Praktischen Theologie mit religionspädagogischem Schwerpunkt, Jena 2014. Ilona Nord, Die virtuelle Dimension der Seelsorge, in: Wege zum Menschen Heft 4, Juli/August 2009, 353–366.
Seelsorge in sozialen Medien
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Christian Möller
Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst1
1. Fallbeispiel Es geschah an einem Pfingstsonntag in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg. Die Gemeinde wurde nach der Predigt zum Abendmahl in den Chorraum eingeladen. Unter den vielen Menschen, die nach vorn kamen, befand sich auch ein relativ junger Mann mit einem etwas verschlissenen Parka. Als die Einladung zum Abendmahl an alle erging, rief er schon von seinem Platz hinten in der Kirche: »Ich brauche Brot, Brot, ich kann nicht mehr von Marx und Mao leben.« Und dann rief er noch den Namen eines Pfarrers, den ich zufällig kannte. Die Kirchenältesten wollten ihn eigentlich abweisen, weil er ziemlich heruntergekommen aussah und wie in Ekstase erschien. Er ließ sich aber nicht abweisen, sondern schnappte sich ein Stück Brot und wartete dann geduldig, bis ihm auch der Kelch gereicht wurde. Beim Verlassen der Kirche sprach ich diesen Mann auf den Pfarrer an, dessen Namen er in die Kirche hinein gerufen hatte. Und schon waren wir im Gespräch. Ja, das sei der Pfarrer, der ihn vor 25 Jahren konfirmiert hat und ihm wie den anderen Konfirmanden immer gesagt habe, wenn sie einmal nicht mehr weiter wüssten, könnten sie zum Abendmahl gehen. Da fange Gott mit ihnen neu an. Und er sei in diesem Gottesdienst durch die Predigt so sehr überwältigt worden, dass er unbedingt zum Abendmahl wollte, weil er darauf hoffte, irgendwie einen neuen Anfang für sein Leben zu bekommen. Eigentlich wollte er ja gar nicht in die Kirche, sondern in die Kneipe, aber die 1 Da ich bereits im Band »Homiletik elementar« einen Beitrag »Für die Seele sorgen« (34–49) verfasst habe, konzentriere ich mich in diesem Band »Seelsorge elementar« vor allem auf die Seelsorge durch den Gottesdienst, ohne aber die Predigt aus dem Blick zu lassen. Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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sei um 10 Uhr noch geschlossen, und so habe er sich in den Gottesdienst gesetzt und habe ungewollt auch die Predigt mit anhören müssen. Die fing mit den Sätzen an: »Das wäre ein wahrhaft pfingstliches Ereignis, wenn einer heute in der Kirche wäre, der redlicher Weise zu seinem Leben sagen müsste: Verdammt in Alle Ewigkeit, und nun vom Apostel Paulus zu hören bekomme: So ist nun keine Verdammnis in denen, die in Jesus Christus sind!« Das habe bei ihm gezündet. Ihm sei klar geworden, dass er in der Zeit der Studentenrevolution sein Leben mit Marx und Mao vertan und viel Zeit seines Lebens verloren habe. Mit seinen Eltern sei er zerfallen und wisse nun mit 40 Jahren nicht mehr recht weiter. Und da habe er sich an seinen Konfirmator erinnert und sei hungrig wie nie zuvor zum Abendmahl gegangen. Ich lief neben diesem Mann her und staunte nicht schlecht über die seelsorgliche Wirkung einer Predigt, die ich selbst als Hörer gar nicht so spektakulär erlebt hatte. Immerhin hatte uns der Prediger den schweren Text aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes ordentlich und klar ausgelegt. Ob er aber ahnen konnte, welche seelsorglichen Wirkungen seine Predigt hatte? Natürlich nicht, denn das gehört ja gerade zu den Wirkungen der Predigt, dass sie weder ein Prediger noch sonst ein Mensch im Griff hat. Umso mehr aber gilt es mit der seelsorglichen Kraft des Heiligen Geistes zu rechnen, der sich im Hören einstellt und Menschenworte in Gottes Wort verwandelt. Dann kann einer, der nur zufällig im Gottesdienst sitzt, bis in die Tiefe seiner Seele hinein getroffen werden. Zugegeben, das ist ein spektakuläres Fallbeispiel für die seelsorgliche Wirkung einer Predigt und eines ganzen Gottesdienstes. Alles hat sich aber tatsächlich so in Heidelberg als Spätfolge der unruhigen 68er Uni-Jahre ereignet. Der erste Satz der Predigt schlug wie ein Blitzstrahl in einen Menschen ein, der sich dann an seine Konfirmandenzeit und an seinen Konfirmator erinnerte. Es sind diese Erinnerungen und Wiedererkennungen, die einen Gottesdienst seelsorglich machen. Größere Zusammenhänge blitzen auf. Der Hunger nach Brot und Wein als Nahrung der Seele wird unbändig. Der Hunger nach weiteren Gesprächen gleich nach dem Gottesdienst wird gewaltig, weil eine Geschichte wieder auftaucht, die erzählt werden will. Unsere Gespräche führten wie von 176
Christian Möller
selbst zu einem gemeinsamen Mittagessen. Dort kam manches zur Ruhe und zur Leichtigkeit eines Glases Wein. Wir wurden so leicht, dass wir es uns getrauten, jenen Pfarrer am Telefon anzurufen, dessen Nummer ich zufällig parat hatte. Nun sprach der junge Mann mit dem, den er im Gottesdienst beim Namen gerufen hatte. Und er war selig. Ich konnte meines Weges gehen.
2. Bedeutung des Gottesdienstes für die Gemeindeseelsorge2 Gehen wir einmal den Gottesdienst Schritt für Schritt durch und achten dabei auf die seelsorglichen Augenblicke, die sich mir in einem ganz normalen Gottesdienst öffnen können: a) Herbeirufen: Die Glocken läuten und geben mir durch ihren Klang zu verstehen, dass es jetzt Zeit zum Gottesdienst ist. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, sonntags in den Gottesdienst zu gehen. Ohne Gewohnheiten kann der Mensch nicht leben, auch wenn es wahr ist, dass er darin ersticken kann. Aber eine Gefahr ist das in dieser Zeit wohl kaum. Die Gewohnheit, die Regelmäßigkeit, die Geläufigkeit erbauen die innere Haltung des Menschen; sie üben auf ihre Weise Seelsorge an dem Menschen. Indem ich mich auf den Weg mache, lasse ich mich von den Glocken einladen und beginne den Gottesdienst auf meine Weise, ob viele mit mir gehen, oder ob ich ganz allein heute auf den Straßen bin. Auch wer dem Ruf der Glocken nicht folgt, wird doch durch ihren Klang berührt. Die Glocken üben durch ihren Klang am Sonntag wie im Alltag ihre Seelsorge an dem Dorf oder an der Stadt aus und schaffen so etwas wie ein »Kirchspiel« der Zusammengehörigkeit. b) Grüßen: Je mehr Menschen es in der Nähe der Kirche werden, desto mehr werde ich zum Grüßen herausgefordert. Ob es nun 2 Vielfältig beziehe ich mich in diesem Abschnitt auf Fulbert Steffensky, Der Reichtum des Gottesdienstes, Pastoralblätter 2002, 130–135. Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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ein »Grüß Gott!« ist oder nur ein freundliches Zunicken, so nehme ich andere Menschen wahr, freue mich über ihre Gegenwart oder gehe besser in Deckung. So oder so muss ich mich verhalten und aus mir herausgehen. Nur schwer kann ich im Gottesdienst in meiner Isolation bleiben. Selbst das stille Staunen über diesen Behinderten oder jenen Begleiter, die ich heute zu sehen bekomme, ist ja schon ein Wahrnehmen und Aus-mir-Herausgehen. Und wenn es dann in der Liturgie des Abendmahls zum Friedensgruß kommt, nimmt der Gruß die Gestalt einer symbolischen Kommunikation an. Das wird beim Hinausgehen aus der Kirche vielleicht offener, spontaner. Und wenn mich die Pfarrerin zum Abschied grüßt, wird alles noch einmal förmlicher oder auch herzlicher. In jedem Fall passiert im Grüßen mehr Seelsorge als gemeinhin vermutet. Wie tief das gehen kann, kommt zum Ausdruck, wenn zwei eigentlich gut bekannte Menschen grußlos im Gottesdienst sitzen oder aneinander vorbeigehen. Da kommt Kälte auf. Ich nehme teil am Glauben von anderen Menschen, und so kann ich leichter das Glaubensbekenntnis sprechen, das Vaterunser und die Psalmen. Ich bin nicht nur auf meinen eigenen windschiefen Glauben angewiesen. Wir teilen den Glauben, wie man Brot teilt in kargen Zeiten. Gemeinschaft der Heiligen! Es sind noch andere Heilige da, die Toten und die Engel. In der Kirche gab es immer eine schöne Idee: Jeder Gottesdienst ist Teilnahme am großen, objektiven Werk des Lobes Gottes, das die Schöpfung singt. Die Beter stimmen ein in den großen Lobgesang der Engel. Wenn ich das weiß, dann brauche ich meinen eigenen gebrochenen Glauben nicht zum Maßstab meiner Worte und meiner Lieder zu machen. Man birgt seine eigene zittrige Stimme in das große Lob der Welt. Man fragt nicht mehr danach, ob das Herz auch fromm genug ist zum Beten, ob die Gebete auch echt sind und ob auch alles von innen kommt. Man schüttet die Tränen seines Glücks und seiner Trauer in das große Meer des Lobes Gottes. Gemeinschaft der Heiligen.3 Ist das nicht auch »Gemeindeseelsorge«?
3 A. a. O., 131. 178
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c) Singen und Musik: Die unaufdringlichste und vielleicht wirksamste Form der Seelsorge überhaupt mögen das Singen wie die Musik im Gottesdienste sein. Wer es nicht mag, kann heute ja auch nur zuhören und für sich mitbrummen. Mir wird im Singen kein Zwang auferlegt. Ich kann es mir gefallen oder auch zu Herzen gehen lassen, wenn die Gemeinde singt. Und wenn ich mitsinge, muss ich mich nicht fragen, ob jetzt nur der Mund oder auch das Herz singt. Steffensky wehrt an dieser Stelle mit Recht eine falsche Frage ab: Manchmal singt wirklich nur der Mund. Aber wir sind ja nicht nur Herz, Gott sei Dank! Wir sind auch unser Mund, der das schwache Herz hinter sich herschleift, bis es wieder auf den eigenen Beinen gehen kann[…]. In der Poesie des Singens sind wir uns selber voraus – unseren Einsichten, unseren Argumenten, unserem Zwiespalt. Wie an keiner anderen Stelle tut man beim Singen, als könnte man schon glauben. Wir geraten mit der Musik und in den Liedern in den Bereich der Schönheit. Die Schönheit heilt. Sie lehrt uns lächeln – wer täte es nicht bei Paul Gerhardts ›Narzissus und die Tulipan‹? Sie lehrt uns weinen wie das ›Wenn ich einmal soll scheiden‹. Sie lehrt uns Zartheit wie das weihnachtliche ›Brich an, du schönes Morgenlicht‹. Die Schönheit und die Gnade sind leibliche Geschwister, und sie begegnen uns am dichtesten in den Liedern. Zehnmal lieber würde ich im Gottesdienst auf die Predigt verzichten als auf die Lieder.4
Natürlich würde Steffensky nicht auf eine tröstliche, zu Herzen gehende, vielleicht auch auf eine prophetische Predigt voller Zeitansage verzichten. Es geht ihm ja auch nur um eine irreale Alternative. Aber zweifellos stimmt er mit ganz vielen Menschen in der evangelischen Kirche überein, die gegenwärtig allenfalls durch Musik in die Kirche zu locken sind, aber nicht mehr durch Predigen. Wie oft habe ich schon an Karfreitag, dem höchsten protestantischen Feiertag, beobachtet, dass am Vormittag im Abendmahlsgottesdienst nur ein kleines Häuflein versammelt war, während nachmittags um 15.00 Uhr in der Johannes- oder Matthäuspassion von Bach die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt, ja überfüllt war. Offenbar hat die Evangelische Kirche in ihrer klassischen Musik noch die Hörweite, die Menschen auch aus 4 A. a. O. Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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den entfernteren Winkeln anzuziehen vermag. In dieser Musik können sie das Geheimnis erahnen, in dem der Glaube gründet, während viele Predigten dieses Geheimnis offenbar nicht mehr in Hörweite bringen, sondern leider zerreden. Die Prediger meinen, unter einem Erklärzwang zu stehen, während die Hörer denken: »Hättest du es mir nicht erklärt, dann hätte ich es vielleicht verstanden«. Dieser Erklärzwang ist der Tod jeder Art von Seelsorge. d) Hören ist anstrengende Arbeit, anstrengender oft als Reden. Der Glaube kommt aus dem Hören (Röm 10,17). Eigentlich ist die Predigt eine Höre, und alles Reden darf in der Predigt nur hörendes Reden sein. Bleibt sie bloß eine Rede, wird sie monologisch, zumal dann, wenn ein Prediger sich selbst gern reden hört, weil er ein fähiger Redner ist. Wirkliche Predigt ist hörende Rede, die sich dem Gehör der Hörer aussetzt. Natürlich wird ganz viel umgehört, hinzugefügt, beurteilt und weggenommen, so dass sich manche Predigthörer am Ausgang der Kirche für Worte der Predigt bedanken, die überhaupt nicht gesagt, aber dennoch gehört wurden. Steffensky spricht im Blick auf das Hören von der »Kraft der Passivität« und grenzt das Hören gegen die Eigenart des Sehens ab: Hörend verschmilzt ein Mensch mit den Objekten, die an ihn herandrängen. Im Sehen kann ich die Dinge auf Distanz halten, feststellen und fixieren. Im Gehör dringen Stimmen an mein Ohr, das ich im Unterschied zu den Augen nicht schließen kann. Es ist wichtig, dass ich fremde Stimmen von meiner eigenen unterscheiden kann, damit ich hörfähig und urteilsfähig werde für die fremde Stimme, die tröstend und beschützend in mich eindringen und mich bestimmen will. Hören muss die »Kraft der Passivität« haben, damit es nicht ein willkürliches Hören aus Einbildung heraus ist, sondern ein biblisches Gehör, das die Gemeinde als christliche Gemeinde zusammengehören lässt und sie im biblischen Gehör urteilsfähig macht. Eine Gemeinde mit biblischem Gehör ist bei Trost, weil sie auf die Stimme des Trostes zu hören weiß, der trägt und nicht trügt, eine Stimme, die von außen her als verbum externum seelsorglich zu Gehör kommt. »Sich selber kann man nicht trösten und erbauen.«5 5 A. a. O. 180
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Die »Kraft der Passivität« wird in der Feier des Sakraments noch stärker und deutlicher erfahren, sowohl in der Feier des Taufsakraments wie des Altarsakraments – ist doch hier alles auf das Empfangen angelegt und ausgerichtet! Schon Jesus selbst legt größten Wert darauf, dass er durch Johannes getauft wird und nicht sich selbst tauft, weil er erst so ins reine Empfangen kommt und die Stimme vom Himmel zu hören bekommt. So sehr die Taufe ein Leben lang in den Glauben eines Menschen hineinwachsen und als Trost gebraucht sein will, so sehr ist sie doch an sich selbst reines Geschenk, das umso besser empfangen wird, je weniger ein Mensch sich einbilden kann, irgendetwas dafür getan zu haben. Deshalb sind ja auch Kinder, je kleiner sie sind, desto geeigneter für die Taufe. Ähnlich ist es bei der Feier des Abendmahls, dass die Kraft der Passivität umso stärker in Erscheinung tritt, je mehr sich einer den Empfang von Brot und Wein und den Zuspruch von Christi Testament gefallen lässt. Deshalb entdecken ja auch immer mehr Gemeinden auf dem Weg zum Abendmahl die Beichte und die Absolution wieder neu, weil sich die Kraft der Passivität umso mehr entfaltet, je mehr die Vergebung der Sünden in den Mittelpunkt tritt, die kein Mensch sich selbst zusprechen kann. Es gibt keine stärkere Seelsorge, als auf dem Weg zum Abendmahl »frei, los und ledig« von allen Sünden gesprochen zu werden und diese Lossprechung dann durch Christi Leib und Blut unter Brot und Wein sinnlich bekräftigt zu bekommen. e) Segnen: Unerschöpflich ist der Reichtum des Gottesdienstes und seine Seelsorge. Und doch wäre er nicht angemessen bedacht, wenn nicht abschließend noch vom Segen die Rede wäre, der manchen Menschen so wichtig ist, dass sie nur auf den Segen warten und ihren Gang zum Gottesdienst mit dem Satz rechtfertigen: »Ich hol’ mir den Segen ab«. Fulbert Steffensky nennt den Segen am Schluss des Gottesdienstes den »Ort höchster Passivität«: Ich will eine Segensformel und einen Segensgestus, die mir meine Passivität lassen. Ich möchte mich fallen lassen in die Bilder. Ich möchte mich einschmiegen in die wiegende Bewegung der Formel. Ich möchte also nicht gespannt und aufmerksam sein, ich möchte nicht denken, nicht an dieser Stelle. Ich brauche einen Gestus und ein Wort, das ich Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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kenne; das sich schon oft wiederholt hat, mit dem ich meine Erfahrung habe und das mir nicht die Mühe der Bewusstheit abverlangt. Ich brauche einen pathischen Raum; also einen Raum, in dem ich empfangen, annehmen und versinken kann. Ich will also keinen originellen Segen, keinen theologisch ausgefeilten, keinen ästhetisch ziselierten.6
Das macht Seelsorge des Gottesdienstes aus, dass er ein Ort des Wiedererkennens ist. Das Leben wechselt unaufhörlich und verlangt höchste Anspannung von den Menschen, damit sie auf dem Laufenden bleiben. Umso dankbarer sind sie, wenn sie sich mit ihrem angespannten Leben in die alte Formel und in den alten Gestus zurückfallen lassen können und dabei die Erfahrung machen, dass hier ein Stück Ewigkeit in die Zeit hineinragt und ihnen Aufatmen für die Seele gewährt. Die alte Formel ist gar nicht mehr alt, wenn sie in das jeweils neue Leben eingetaucht wird. Sie zeigt dann immer wieder ein neues Gesicht und schafft Raum für das, was die Predigt mit dem neuen Wort zu denken gibt. Unerschöpflich ist der Reichtum des Gottesdienstes und sein Trost im Wechsel von Altem und Neuem, von Festgelegtem und Beweglichem, von Erwartetem und Überraschendem. Was ihn so tröstlich macht, ist das Wiedererkennen und Eintauchen in das Uralte einerseits und andererseits die Sendung ins Unerwartete und Neue hinaus.
3. Forschung und Lehre An einem weiten oder einem engen Begriff von Seelsorge entscheidet sich, ob und inwieweit von einer seelsorglichen Bedeutung des Gottesdienstes und der Predigt die Rede sein kann. Die alte Unterscheidung von cura animarum generalis und specialis wirkt sich hier aus: Gilt nur die Spezialseelsorge, dann fallen der Gottesdienst und die Predigt als Ort der Seelsorge aus. a) Der klassische Fall von cura animarum specialis findet sich in der kerygmatischen Seelsorge bei Hans Asmussen und Eduard Thurneysen: Ist Seelsorge die »Verkündigung des Wortes Gottes von Mann zu Mann« in der Form eines Gespräches, wobei »dem 6 A. a. O., 29. Vgl. auch Fulbert Steffensky, Segnen – die Fähigkeit zu geben, was man nicht hat, Pastoralblätter 2/2000, 42–44. 182
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Einzelnen auf den Kopf zu die Botschaft gesagt wird«,7 dann scheiden Gottesdienst insgesamt und Predigt als Ort der Seelsorge aus. Wenn Thurneysen die Seelsorge »als Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen« bestimmt, nämlich als »eine spezielle Ausrichtung der in der Gemeindepredigt sozusagen generell, das heißt an Alle verkündigten Botschaft an den Einzelnen«,8 so ist es der Einzelne, der im Unterschied zur Gesamtheit der Gemeinde ausmacht, was Seelsorge ist. Auch dann fällt der Gottesdienst als Ort der Seelsorge aus. Er kommt in Thurneysens »Seelsorge im Vollzug« (1968) auch nur ganz am Rande vor, weil er für die Seelsorge keine entscheidende Rolle spielt. b) Für einen therapeutischen Seelsorgebegriff kam der Gottesdienst als Ort der Seelsorge bei Hans-Joachim Thilo in den Blick.9 Im Licht des psychologischen Dreischrittes von Erinnern-Wiederholen-Durcharbeiten wird der Weg des Gottesdienstes in seiner therapeutischen Funktion erschlossen: Eine »positive Regression« ereignet sich beim Betreten des Kirchenraumes und bei der Eröffnung des Gottesdienstes als ein Erinnerungsprozess; im Gebets- und Lesungsteil der Messe ereignet sich »Darstellung und Integration in die Communio Sanctorum« als ein kollektiver und identifikatorischer Prozess der Wiederholung; Credo und Predigt machen in Gestalt eines Durcharbeitens und einer kognitiven Deutung das Angebot einer Identitätsfindung; in der Eucharistie wird schließlich der Weg »von der (meßbaren) Realität zur (ganzheitlichen) Wirklichkeit gebahnt«, indem in der Realpräsenz das »Eschaton in der Immanenz« erscheint. Dieser Weg hat eine durch und durch therapeutische Wirkung auf die Seele der Gemeinde wie jedes einzelnen, weil Getrenntes sich zu einer heilsamen Ganzheit zusammenfindet, indem Gott und Mensch im Gottesdienst zusammenkommen. Weshalb auf diesem therapeutischen Weg, wie ihn Thilo sieht, das Singen und die Musik im Gottesdienst überhaupt keine Rolle spielen, bleibt eine offene Frage. 7 Hans Asmussen, Seelsorge, München 1934, 15 f. 8 Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 1946, 9. 9 Hans-Joachim Thilo, Die therapeutische Funktion des Gottesdienstes, Kassel 1985. Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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c) Eine religionsphänomenologisch verstandene Seelsorge findet ihren Ausdruck gerade im Gottesdienst, weil er einen Weg in den Machtbereich des Heiligen darstellt. Hier tun sich »die Tiefen der Gottheit« auf. »Die Erfahrung des Heiligen ergießt sich auf die Anwesenden. Die Fülle der Christuswirklichkeit erfasst die Menschen«.10 Für die Seele ist diese gottesdienstliche Erfahrung freilich nur heilsam, wenn sie zuvor von Schuld durch die Kraft der Beichte und der Lossprechung gereinigt wurde. Das Abendmahl, das Ignatius die »Medizin der Unsterblichkeit« genannt hat, könne ohne Beichte geradezu tödlich (1Kor 11,30) wirken. »In der Beichte wird rituell praktiziert, was das Herrengebet verbalisiert: Der Eingang ins Reich wird erst möglich, wenn die Befreiung vom Bösen erfolgt.«11 Sollte aber die Beichte von moralischen oder psychologisierenden Missverständnissen überlagert sein, könnte auch eine Besinnung auf die Umkehrkraft der Taufe zu einem die Seele befreienden Gelübde führen, das im Gottesdienst seinen Ort findet.12
4. Wichtige Leitsätze a) Die Seele darf im Gottesdienst aufatmen. Im Lobpreis Gottes wird sie wieder weit. Da ist der Lobpreis, den uns die Liturgie immer wieder anbietet. Hätten wir ihn aus eigenem Impuls von uns aus angestimmt? Ich glaube nicht. Die Worte werden uns von der Ordnung der Liturgie förmlich in den Mund geschoben. Ist das nicht ein weiter Raum? Ein paar Atemzüge im Lobpreis getan zu haben, und das würde doch heißen, ein paar Atemzüge für Gott dagewesen zu sein und nicht für uns.13
10 Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, 97. 11 Manfred Josuttis, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000, 194. 12 A. a. O. 13 Gerhard von Rad, Predigten, München 1972, 157. 184
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b) Im Gottesdienst kommen wir aus dem Alleinsein mit uns selbst heraus an den Tisch des HERRN und erfahren hier: »Gott ist größer als unser Herz«. (1. Joh 3,20) c) Im Gottesdienst bekommen wir, die wir uns selbst ständig verurteilen oder entschuldigen, einen Richter. Sein Richterspruch macht mich nicht klein, aber er reißt mich heraus aus den Urteilen meines Gewissens und öffnet mir den weiten Raum einer Geschichte, in der ich mich bewegen darf. d) Im Gottesdienst bekomme ich heilsame Gebote, die ich gern tun kann, statt unerfüllbarer Forderungen, die ich mir selbst auferlege. e) Wenn ich Gott im Gottesdienst mitloben kann, werde ich von mir selbst befreit, weil ich wieder weiß, wozu ich da bin, und dass Gott auch an mir liegt.
5. Sehnsucht, die Freundlichkeit des HERRN zu schauen Die Sehnsucht nach einem die Seele berührenden Gottesdienst ist uralt und findet sich schon in Israels Psalmen: »Eines bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: dass ich im Haus des Herrn bleiben könne mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn.« (Ps 27,4). Aus dem näheren Zusammenhang des Psalmes geht hervor, dass es sich hier nicht um die Sehnsucht eines liturgischen Feinschmeckers handelt, der »schöne« Gottesdienst feiern möchte, sondern um einen Verfolgten, der sich von Feinden umringt weiß. Deshalb strebt er nach Asyl im Heiligtum, wo ihn seine Feinde nicht mehr greifen können, weil er hier unter Gottes Schutz steht. Es geht also um den Lebensschrei eines Gehetzten, der nicht mehr weiß, wo er in der Welt noch bleiben kann. In der Sehnsucht nach den »schönen Gottesdiensten« sehnt er sich in Wahrheit danach, dass er »Gottes Freundlichkeit schauen« und sich in ihr bergen kann, weil er sonst in einer ihn feindselig anblickenden Welt verloren wäre. Vielleicht gibt es auch heute viel mehr Menschen als wir ahnen, die mit sich selbst zerfallen sind und ihre Umwelt als so feindselig erleben, dass es sie förmlich danach hungert, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen. Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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Jochen Klepper zum Beispiel, der Dichter von Liedern wie »Die Nacht ist vorgedrungen« oder »Er weckt mich alle Morgen«, wurde im Dritten Reich wegen seiner Ehe mit einer Halbjüdin aus seiner Stellung im staatlichen Rundfunk entlassen und erlebte die nationalsozialistische Welt als eine ihn von allen Seiten feindselig umgebende Welt. Sein bewegendes und erschütterndes Tagebuch »Unter dem Schatten deiner Flügel« zeigt, wie sehr er und seine Frau sich von Sonntag zu Sonntag danach sehnten, die »Freundlichkeit des Herrn« gottesdienstlich zu schauen und den Gottesdienst als Seelsorge zu erfahren. Er war oft schon für ganz Weniges dankbar, z. B. für ein Gebet, das die Sorgen der Menschen aufnimmt oder für ein Lied von Paul Gerhardt, das seine Ängste überwindet, oder eine Predigt, die ihn als begnadigten Sünder anspricht. Freilich, oft genug ging er auch enttäuscht aus dem Gottesdienst nach Haus. Seine Enttäuschung gipfelt in dem Satz: »So verschüttet ist in den Gottesdiensten das Göttliche. So drängt das Menschliche sich hervor.«14 Nach meinem Eindruck trifft diese Kritik nach wie vor den Kern der Enttäuschung vieler gerade angefochtener Menschen über leere Gottesdienste, die dann auch zahlenmäßig immer leerer werden: »So drängt das Menschliche sich hervor.«15 Das mögen gut gemeinte Erklärungen und Regieanweisungen sein, die doch die Begegnung mit dem Heiligen zerreden. Es mögen Liturgen sein, die eher einem Showmaster im Fernsehen gleichen. Es mögen auch Gemeindeglieder sein, die ein happening erwarten oder aus dem Gottesdienst ein event machen. So wenig es sich vom Menschen aus machen lässt, dass sich Gottes Freundlichkeit im Gottesdienst zeigt und zur Seelsorge an zersorgten Seelen führt, so sehr lässt sich die Begegnung mit dem Heiligen doch vom Menschen aus verstellen und verschütten, indem ein Müllberg toter, platter Richtigkeiten aufgeschüttet wird. Die Jagd nach dem sogenannten »modernen Menschen« und seinen Erwartungen kann gerade im Gottesdienst so elend werden, dass die Seelen von angefochtenen Menschen leer bleiben und Seelsorge sich kaum ereignet. 14 Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932–1942, Stuttgart 1956, 854. 15 Ebd. 186
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»Die Kirche befriedigt nicht Erwartungen, sie feiert Geheimnisse.«16 Dieser Satz des Mailänder Kardinals C. M. Martini trifft den Nagel auf den Kopf und weist dem Gottesdienst seinen Weg in die Zukunft. Solange die Kirche, zumal in ihren Gottesdiensten, Erwartungen befriedigt, wird sie für irgendwelche Zielgruppen zeitgeistige Modethemen aufbereiten und religiös überhöhen. Das wird auf Dauer zum Gähnen langweilig! Sobald sie aber anfängt, die Geheimnisse gottesdienstlich zu feiern, die ihr in Jesus Christus anvertraut sind, horchen die Menschen auf und feiern mit. Um welche Geheimnisse geht es? Im Kern um das eine Geheimnis, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, damit aus maßlos gewordenen Unmenschen wieder Menschen werden, die in die Grenzen ihrer Zeit und ihrer Geschöpflichkeit um kehren können.17
Literatur Hans Asmussen, Die Seelsorge. Praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung, München 1934. Lars Charbonnier u. a., Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012. Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996. –, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000. Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Aufzeichnungen der Tagebücher von 1932–1942, Stuttgart 1954. Christian Möller, seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge, Gottesdienst und Gemeinde, Göttingen 1983. –, Kirche, die bei Trost ist. Plädoyer für eine seelsorgliche Kirche, Göttingen 2005. –, Lasst die Kirche im Dorf! Gemeinden beginnen den Aufbruch, Göttingen 2009. 16 Carlo Maria Martini/Umberto Eco, Woran glaubt, wer nicht glaubt?, Zürich 1999, 64. 17 Vgl. auch Martin Nicol, Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evange lischen Gottesdienst, Göttingen 2009. Seelsorge durch Predigt und Gottesdienst
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Martin Nicol, Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, Göttingen 2009. Fulbert Steffensky, Der Reichtum des Gottesdienstes, PBl 2002, 130–135. –, Segnen – die Fähigkeit zu geben, was man nicht hat, PBl 2000, 40–45. Hans-Joachim Thilo, Die therapeutische Funktion des Gottesdienstes, Kassel 1985. Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 81988.
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Christian Möller
Corinna Dahlgrün
Seelsorge in der geistlichen Begleitung
Eine grundsätzliche Überlegung möchte ich voranstellen: Geistliche Begleitung oder Beratung, wie ich sie verstehe1, ist der Seelsorge in vielem ähnlich, dennoch wird sie sich in Nuancen von seelsorglichem und supervisorischem Handeln unterscheiden. In geistlicher Beratung wird immer wieder auch unerbetener Rat erteilt werden; seitens des Ratgebers werden aktiv Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten des Ratsuchenden angesprochen und gegebenenfalls kritische Nachfragen daran formuliert werden.2 In der Seelsorge werden dagegen kaum die Vorstellungen des Seelsorgers, sondern vor allem die Gedanken, Fragen, Berichte des Gegenübers den Gesprächsverlauf bestimmen. Auch wird der Seelsorge eher ein bestimmter Anlass zugrundeliegen, eine Frage, ein Problem, und so wird hier meist eine konkrete Zielvereinbarung zu treffen sein. Seelsorge kann darum auch von vornherein befristet verabredet sein und gegebenenfalls mit wenigen Begegnungen auskommen, während geistliche Beratung eher auf Dauer angelegt ist und Regelmäßigkeit erfordert. Doch sind die Grenzen fließend, da im Laufe einer langjährigen geistlichen Beratung beim Ratsuchenden Krisen auftreten können, zu deren Lösung nicht eigens ein anderer Seelsorger aufgesucht wird. Und in der Seelsorge können Fragen nach einer geeigneten praxis pietatis oder der Wunsch nach Weisung für das Leben des Glaubens aufkommen. 1 Zu der begrifflichen Unterscheidung vgl. Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort von Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009, 408–420. 2 Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Tun des Altvaters Zenon, der einen im Dorf angesehenen Frommen zu sich beordert und ihm ungefragt die Eitelkeit seines Tuns vor Augen führt. Vgl. Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt. Übersetzt von Bonifaz Miller, Trier 62003, 94 f. Seelsorge in der geistlichen Begleitung
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In jedem Fall gibt es für Seelsorger und für geistliche Beraterinnen etliche identische Voraussetzungen ihres Tuns: die umfassende Akzeptanz des Gegenübers, echtes Interesse an ihm, Aufrichtigkeit, In-Beziehung-Sein, ein Sich-zur-Verfügung-Stel len ohne eigene Ziele, eine gute Kenntnis der eigenen Seele3, Lebens- und Glaubenserfahrung, die Fähigkeit, Gesagtes, Ungesagtes und Zwischentöne zu hören und (möglichst) Humor. Im Grunde ist für mich Seelsorge eine spezielle Form der geistlichen Beratung, insoweit beide sich als Angebote verstehen, die dem Menschen helfen wollen, coram Deo in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben. Seelsorgerinnen haben also ebenso wie geistliche Berater den ganzen Menschen im Blick, mit Leib, Seele und Geist, mit seinen guten und seinen destruktiven Anteilen. Beide vermeiden es da rum, den Menschen idealistisch verklärt zu sehen und auf diesem Wege zu überfordern. Sie gehen immer davon aus, dass Gott das Heil des von ihm geschaffenen Menschen will, aber sie halten sich zurück, genauer als Gott wissen zu wollen, auf welchem Wege es erreicht wird. Sie wissen, dass Menschen auf dieser Erde unter den Bedingungen der noch nicht erlösten Schöpfung leben, dass es Heil nicht immer und für alle gibt, so ungerecht das scheinen mag. Sie erinnern sich, dass Christus Menschen von Krankheiten geheilt und ihnen damit einhergehend ihre Sünden vergeben hat, aber sie erinnern sich auch, dass er manchen Menschen harte Worte nicht erspart und dass er nicht allen geholfen hat4 – das schützt sie vor Überforderung. Denn sie wissen zum einen, dass sie nicht immer und überall helfen können, und zum anderen, dass sie selbst Menschen mit Schwächen sind, simul iustus et peccator, und damit bleibend auf Hilfe und Begleitung angewiesen.
3 Sehr nützlich, wenn auch nicht zwingend erforderlich, sind dazu fundiertes psychologisches Wissen sowie die Kenntnis der Methoden unterschiedlicher therapeutischer Ansätze, um für das jeweilige Gegenüber die richtige auswählen zu können. 4 Dieser Abschnitt ist (leicht verändert) entnommen: Corinna Dahlgrün, Seelsorge zwischen Esoterik und Psychologie, in: Michael Utsch (Hg.), Spirituelle Lebenshilfe (EZW-Texte 229/2014) 65–76. 190
Corinna Dahlgrün
1. Fallbeispiel Nach einem Vortrag vor einem Pfarrkonvent5 zum Thema »Formen der praxis pietatis im Berufsalltag« sprach mich eine Teilnehmerin an. Sie war etwa 40 Jahre alt, arbeitete nach einer pastoralpsychologischen Ausbildung als Krankenhausseelsorgerin. Sie suche, wie sie sagte, schon seit geraumer Zeit eine geistliche Ratgeberin, weil sie sich neue Impulse für ihr Glaubensleben wünsche. Sie machte einen klaren, strukturierten Eindruck und schien zu wissen, was sie brauchte und wollte. Wir vereinbarten – ohne weitere Informationen auszutauschen – wegen der räumlichen Entfernung Telefonate in monatlichem Rhythmus.6 Das erste, noch tastende Gespräch zeigte eine aktive Frau, die Beruf, Freundeskreis und Familie (Ehemann; drei heranwachsende Kinder; ihre zwei Geschwister, mit denen die Familie regelmäßig zusammenkam; Eltern, die als recht streng und anspruchsvoll, und dabei als sehr kirchenverbunden charakterisiert wurden) gut zu koordinieren wusste und mit ihrem ausgefüllten Alltag einigermaßen zufrieden war. Ihre Gottesbeziehung, die sie schnell thematisierte, sei allerdings ein wenig distanziert; mit ihren Gebeten könne sie Gott nach ihrer Wahrnehmung oft nicht erreichen. In den folgenden Gesprächen färbte sich das Bild immer dunkler: Nicht allein die Gottesbeziehung war von Distanz bestimmt, auch die Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern wiesen keinerlei echte Nähe auf. Bald wurden die Ursachen deutlich: vom achten bis zum siebzehnten Lebensjahr andauernder sexueller Missbrauch durch den Vater mit Wissen und Zustimmung der Mutter, die auf diesem Wege den sexuellen Kontakt zu ihrem Mann vermeiden konnte; die ganze Kindheit hindurch immer wieder massive körperliche Züchtigung durch beide Eltern; Liebesentzug und religiöser Druck als Mittel der Erziehung (Vater und Gott waren nahezu identisch); eine Ehe, in der sie immer w ieder 5 Das Fallbeispiel wurde anonymisiert und hinsichtlich der Angaben zur Person stark verändert. 6 Natürlich ist ein Gespräch im direkten Gegenüber günstiger, weil die Wahrnehmung (Mimik, Gestik, Körperspannung etc.) umfassender ist; vgl. Joe Navarro mit Martin Karlins, Menschen lesen. Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt, München 72011. Seelsorge in der geistlichen Begleitung
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Abwertung, Missachtung und Ausnutzung erfuhr. Der Gott, der sie dieser Kindheit, diesem Leben überlassen hatte, wurde als fern und gleichgültig erlebt, als abweisend, als taub. Sie bete zwar regelmäßig, sagte sie, doch sei das eher schmerzlich. Allerdings sitze der Schmerz im Kopf, fühlen könne sie kaum etwas, weder Gutes noch Schlechtes. Sie regle die Dinge mit dem Verstand und sei froh, wenn sie möglichst glatt durchkomme. Deshalb versuche sie, es allen möglichst recht zu machen, auch den Eltern gegenüber ihre Pflicht zu tun, zu leisten, was von ihr erwartet werde, keinen Anstoß zu bieten. Und sie sei mittlerweile ziemlich erschöpft und fühle sich leblos. In der geistlichen Beratung ermutige ich normalerweise ebenso zur Selbstreflexion im Gegenüber zu Gott wie zu regelmäßigem Gebet, morgens und zur Nacht, weil ich immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass eine solche Praxis, wenn sie zur Gewohnheit geworden ist, trägt, dass sie hilft, Krisen zu überstehen. Doch hier hatte ich es mit einer Frau zu tun, die zum einen ihre Lebendigkeit ganz in den Kopf verlegt hatte und ohnehin eher reflektierte als fühlte, und in der zum anderen die Hinwendung zu Gott die Erinnerung an die Traumatisierungen der Kindheit evozierte; das Beten – sofern es das Gefühl erreichte und nicht eine bloße Sprachübung war – rief die Krise neu hervor. Bevor ich also eine geistliche Beratung im engeren Sinne sinnvoll beginnen oder gar zum Beten als Quelle der Kraft raten konnte, musste ich mit meinem Gegenüber seelsorglich arbeiten.7 Ich verstand, dass das Telefon eben wegen der Distanz, die es gewährte, für sie im Augenblick der beste Kommunikationsweg war – das erklärte bis 7 Verschiedentlich habe ich in geistlicher Beratung zur Lektüre bestimmter Schriften geraten. Im vorliegenden Fall hatte ich es, noch in Unkenntnis der Kindheitsgeschichte, mit Julian von Norwich versucht. Die Klientin las die sehr ermutigenden Visionen dieser Mystikerin, doch die Vorstellung, dass etwas (oder gar alles) heil werden könne, lag viel zu fern, als dass sie daraus eine Ermutigung hätte ziehen können. Ein unbestimmter Instinkt hatte mich zum Glück davon abgehalten, ihr Johannes vom Kreuz (Die dunkle Nacht) zu empfehlen – die Vorstellung eines Gottes, der allein Licht ist, während die Dunkelheit aus der menschlichen Sünde resultiert sowie dem daraus folgenden Unvermögen, das Licht zu sehen, hätte ihr lediglich das Gefühl vermittelt, dass die Schuld an ihrer Situation bei ihr selbst liege. 192
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zu einem gewissen Grade auch, warum sie den Missbrauch in den zwei von ihr durchlaufenen Therapien nie erwähnt hatte.8 Die Distanz des Settings ermöglichte ihr, mein Dabeisein anzunehmen und sich auf meine konkreten Vorschläge hin in kleinen, zögerlichen Schritten dem Fühlen der kleinen Dinge des alltäglichen Lebens wieder anzunähern, die Sonne auf der Haut zu fühlen, oder das Wasser beim Schwimmen, den Duft von Linden wahrzunehmen und den Geschmack von Erdbeereis. Das klingt banal, doch waren diese Übungen für sie mit erheblicher Anstrengung verbunden, da sie es nicht gewöhnt war, sich etwas zu gönnen, etwas für sich selbst zu tun und dies bewusst zu spüren. Hinzu kam, dass die Öffnung für das eigene Gefühl auch die erlittenen Verletzungen spürbar machte, dass also das Fühlen mit erheblichem Schmerz verbunden war. Doch gewann sie über die Wahrnehmung ihrer selbst allmählich ein Gespür für ihre Ich-Grenzen, und damit auch für die Grenzüberschreitungen anderer und begann, sich zur Wehr zu setzen. Sie begann, Trauer zu fühlen, und auch Wut, wozu ich sie ausdrücklich ermutigte. Anstelle des Betens legte ich ihr dann nahe, in einem freien Text oder einem Bild auszudrücken, was ihre Gefühle gegenüber Gott seien. Es entstand dann doch ein Gebet, ein zorniger Klagepsalm von alttestamentlicher Wucht, in dem die wiederholte Frage »Gott, wo warst du, als […]« einen zentralen Platz einnahm. Nach einer Reihe von Gesprächen konnte sie den Hinweis annehmen, dass in ihrem Nicht-Zerbrechen, ihrem Überleben, ihrer manchmal auftretenden Kraft und Entschlossenheit zur Gegenwehr in besonderer Bedrängnis ein Zeichen von Gottes Nähe gegeben sein könne. – Der Prozess ist noch bei weitem nicht zu Ende. Noch immer müssen sich seelsorgliche Verhaltensweisen und Interventionen mit geistlichem Rat mischen, und ich kann nur hoffen und für sie erbitten, dass das Gefühl für sich selbst und ihre Grenzen, das Gespür für die Beheimatung im Leben und das Vertrauen in Gott weiter wachsen mögen. 8 Auch ihrem Mann hatte sie übrigens nichts davon gesagt, weil sie nicht sicher war, ob er dies nicht irgendwann gegen sie wenden werde – ein nachvollziehbares Misstrauen angesichts ihrer Erfahrungen mit Nähe in Bindungen. Seelsorge in der geistlichen Begleitung
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2. Bedeutung für die Gemeindeseelsorge Die Bitte um geistliche Beratung oder um ein Seelsorgegespräch trat im gemeindlichen Kontext schon immer in den unterschiedlichsten Situationen auf: nach einem Gottesdienst, am Rande eines Gemeindefestes, bei einem Besuch, nach dem Mitarbeitergespräch oder einem Gruppentreffen, in der regulären Sprechstunde; und daran wird sich künftig schwerlich etwas ändern.9 Denn Gemeinden sind diejenigen Orte in der Gesellschaft, in der Menschen am ehesten hoffen dürfen, jemanden zu finden, der die erforderlichen Charismen aufweist.10 Die Bitte wird vor allem dann mit großer Wahrscheinlichkeit geäußert werden, wenn diejenigen, die Seelsorge oder Beratung suchen, in ihrem Gegenüber diese Charismen erkennen und ihnen in diesen Bereichen etwas zutrauen; wenn sie das Gefühl gewonnen haben, dort mit ihren Anliegen aufgehoben zu sein; wenn sie ihr Gegenüber als einen geistlich lebenden, möglichst sensiblen und erfahrenen, als vernünftigen und in vieler Hinsicht auch starken11 Menschen erleben. Menschen, die von anderen – Pfarrerinnen und Pfarrern wie anderen Gemeindegliedern – geistliche Beratung erbitten, sind in der Regel Menschen, die auf die eine oder andere Art Verletzungen erlitten oder Schuld auf sich geladen haben, in Krisen geraten sind 9 Wer die Atmosphäre im sozialen Miteinander der Gegenwart wahrnimmt, wird – auch ohne wie Ernst Lange Gemeinden als »Ensemble der Opfer« oder wie Ulrich Bach als »Patientenkollektive« zu verstehen – angesichts des in dieser Hinsicht zunehmenden Bedarfs nicht erstaunt sein. 10 Aktuell besteht eine nicht unproblematische Neigung, von »Kompetenzen« zu sprechen, die »erworben« werden sollen. Im konkreten Fall wären das die poimenische bzw. kommunikative und die spirituelle Kompetenz. Damit will ich nicht bestreiten, dass in beiden Bereichen viel gelernt werden kann; doch sollte dabei nicht übersehen werden, dass bei Pfarrerinnen und Pfarrern ebenso wie bei den Menschen in den Gemeinden viele Gaben von vornherein vorliegen, und dass diese Gaben durchaus unterschiedlich verteilt sind. 11 In meiner Gemeindezeit erzählte mir eine alte Dame vom Kummer mit ihren Kindern und Enkeln, die sämtlich am Rande der Gesellschaft laborierten – Haftstrafen, Prostitution, Kleinkriminalität. Auf meiner Frage, was sie denn nun von mir erwarte, antwortete sie: Nichts, sie habe es bloß erzählen wollen. Auf die Nachfrage, warum mir und nicht dem für ihren Bezirk zuständigen Kollegen: Weil sie gewusst habe, dass ich es aushalten könne. 194
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oder sich mit Lebensfragen herumschlagen, für deren Lösung sie andere brauchen. Sie kommen nicht immer mit klaren Erwartungen: Oft wollen sie nur »raus« aus dem Bisherigen, wollen »anders« leben, mehr spüren von Gottes Nähe. Was sie daran hindert, tritt erst im Laufe der Gespräche zutage, und diese Hindernisse können dann seelsorgliches Handeln erfordern12 – mitunter müssen, wie im Fallbeispiel, erst psychische Hemmnisse bearbeitet werden, damit der Weg für geistliche Erfahrungen wieder frei wird. Doch auch das Umgekehrte kommt vor: Ein Mensch sucht Hilfe bei einem psychischen oder zwischenmenschlichen Problem, in einer Depression, bei einem ins Stocken geratenen Trauerprozess, bei Ängsten oder Einsamkeit. Ein konkretes Beispiel: Er oder sie hat einen Fehler gemacht und fühlt sich schuldig, und dies, obwohl der Geschädigte um Verzeihung gebeten und diese gewährt wurde. Warum also kann der Mensch sich selbst nicht verzeihen? Oft liegt diesem Unvermögen ein geistliches Problem zugrunde, der fehlende Glaube an die Vergebung Gottes, mit einem theologischen Begriff gesagt: die desperatio. In dieser Situation wird der Seelsorger zum geistlichen Berater, der mit seinem Gegenüber über Gott und Gotteserfahrung spricht, Gedankenprozesse anstößt, eine Lektüre aus dem großen Bereich spiritueller Literatur empfiehlt oder eine geistliche Übung als Aufgabe stellt. Der Lektürevorschlag oder die Anregung, es mit Stille, mit dem Herzensgebet oder mit der Meditation eines Bibeltextes zu versuchen, erfolgt dabei aus der Intuition des geistlichen Ratgebers heraus, die sich durch dessen eigene geistliche Erfahrung geformt hat.13 Seelsorgerin und geistlicher Berater, ob ausgebildete Theologen oder Gemeindeglieder, brauchen, um bei solchen Anfragen weiterhelfen zu können, vor allem Erfahrung14, eine eigene p raxis pietatis und das Wissen, das sie es mit dem ganzen Spektrum des12 Dies ist natürlich mit dem Ratsuchenden anzusprechen, wenn und insoweit es erforderlich ist, die ursprüngliche, den Gesprächen zugrundeliegende Vereinbarung anzupassen. 13 ›Intuition‹ kann synonym für ›durch Erfahrung geschultes Charisma‹ stehen. 14 Professionalität ist keine zwingende Voraussetzung. Wichtig ist, dass dem Ratgeber die eigenen Grenzen bewusst sind, damit im Zweifelsfall ein Mensch weiterverwiesen werden kann, wenn die eigenen Möglichkeiten erschöpft sind. Seelsorge in der geistlichen Begleitung
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sen zu tun haben, was zum Leben gehört, mit Leid und Glück, mit Hoffnung und Verzweiflung, mit dem Alltag, mit Krisen und Chancen, mit Gott und der Welt.
3. Forschung und Lehre Die Überschneidung von geistlicher Beratung und Seelsorge ist ein Thema, das bisher eher in der Praxis als in der Theorie begegnet. Die sehr stark ausdifferenzierte Literatur zur Seelsorge auf der einen Seite nennt eine Fülle von Aspekten, die dabei zu bedenken wichtig sind: Leiblichkeit, systemischer Kontext, tiefenpsychologische Dimension, Voraussetzungen und innere Abläufe der Kommunikation, psychopathologische Erscheinungen15 und vieles mehr. Die vielfach sehr ergiebige Literatur zu Fragen der Spiritualität anderseits, die immer weiter anwächst und kaum mehr zu überblicken ist, bedenkt alle Aspekte geistlichen Lebens, die Frage der Beratung eingeschlossen. Die Verbindung beider begegnet eher selten. Allerdings gibt es einen aktuellen Ansatz, der die geistliche Dimension der Seelsorge stark betont und darum für die vorliegende Thematik besonders ertragreich ist: Manfred Josuttis’ energetische Seelsorge. Manfred Josuttis fordert die Seelsorger auf, nicht allein innerpsychische Vorgänge zu beachten, sondern gegenüber dem menschlichen Leib und allen mit ihm verbundenen Vorgängen, gegenüber Räumen und Atmosphären wieder aufmerksamer zu sein, die Heiligung als notwendige Folge des Rechtfertigungsgeschehens nicht zu vergessen und dem Wirken des Heiligen Geistes im Flussgeschehen zwischen Menschen wie auch im Wirkraum von Ritualen etwas zuzutrauen. In so ausgerichteten seelsorglichen Prozessen sei nicht Selbst- oder Identitätsfindung das Ziel: 15 Zu denken ist etwa an Folgen von Traumatisierungen oder an die Selbstverletzungen Jugendlicher – alles dies findet sich zunehmend auch in gemeindlichen Kontexten, und Pfarrerinnen und Pfarrer sollten etwas darüber wissen. Vgl. dazu die Arbeiten von Mathias Hirsch: Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie, Stuttgart/New York 2004 und ders. (Hg.), Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens, Gießen, 22002. 196
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Die Begegnung mit dem Heiligen löst die alten Probleme nicht in der Weise, dass es nun zur Bildung einer gefestigten, eindeutigen, unerschütterlichen Identität kommt […] Vielmehr [werden] die Suche und auch die Sucht nach einem klaren Identitätsprofil in mehrfacher Hinsicht aufgehoben […]. Die Christusmacht besetzt einen Menschen und stößt ihn auf einen Weg, der äußerste Schmerzen, aber auch höchste Glücksmomente umfassen kann.16
Außerdem erinnert Josuttis daran, dass Führer in den Raum des Heiligen den Weg kennen und selbst gehen müssen und überdies die Erfahrung des Geführt-Werdens gemacht haben sollten.17 Sehr hilfreiche Impulse für das Ineinander von Seelsorge und geistlicher Beratung gibt auch der Psychiater und Existentialpsychologe Irvin Yalom, einer der angesehensten Psychotherapeuten Amerikas. Er macht in allen seinen Schriften deutlich, dass es im Gespräch zwischen Therapeut und Klient letztlich immer um existentielle Themen geht, um Leben und Tod, Angst, um Freiheit, Verantwortung und Wollen, um Einsamkeit, Isolation, Sinn18, und dass Hilfe für den Klienten nur aus einer unmittelbaren, unverstellten Beziehung erwachsen kann. Das bedeutet, dass nach Yalom der Therapeut sichtbar werden, seine eigenen Emotionen vor dem Klienten offenlegen soll: »Ich bin überzeugt davon, dass der Therapeut sich offen mitteilen sollte. Denn letztlich bedeutend in einer Therapie ist die Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Therapie hilft nur, wenn es hier eine gute, akzeptierende, alom versteht daraufrichtige Beziehung gibt.«19 Der Agnostiker Y unter ausschließlich die zwischenmenschliche Beziehung in der Therapiesituation. Mit Josuttis ist zu ergänzen, dass in Seelsorge und geistlicher Beratung die Zweierbeziehung trianguliert wird, weil der lebendige Gott Teil des Geschehens ist. 16 Manfred Josuttis, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000, 73. 17 Dass Menschen, die geistliche Beratung anbieten, selbst einen Berater, eine Beraterin benötigen, ist keine neue Einsicht – in geistlicher Literatur wird seit Jahrhunderten darauf hingewiesen; vgl. Dahlgrün, Christliche Spiritualität (s. Anm. 1), 409–411. 18 Vgl. Irvin D. Yalom, Existenzielle Psychotherapie, 5. korrigierte Auflage Bergisch Gladbach 2010. 19 Yalom, Psychotherapie, 562. Seelsorge in der geistlichen Begleitung
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4. Wichtige Leitsätze Die Seelsorgerin und der geistliche Ratgeber kennen sich in und mit sich selbst aus; sie nehmen für sich selbst geistliche Beratung in Anspruch und haben – im Idealfall – eine Therapie oder eine die Tiefen nicht aussparende Seelsorge durchlaufen. Sie machen eigene Erfahrungen im geistlichen Leben und können darum andere auf ihrem Weg begleiten und bei der Entwicklung einer eigenen praxis pietatis unterstützen. Seelsorger und Ratgeberin haben Interesse am Menschen, sie wissen, dass jeder Mensch einzig ist und dabei viele Facetten hat. Sie nehmen ihr Gegenüber wahr, wie es in diesem Moment ist, und sie nehmen es so an; denn dies ist die Voraussetzung für jede gemeinsame Arbeit, die bleibende Veränderungen zum Ziel hat. Selbst wenn sich Fragestellungen, Probleme, Wünsche ähnlich sein mögen – die betroffenen Menschen sind verschieden. Eine Zugangsweise, und sei sie noch so bewährt, wird nie alle erreichen, ein geistlicher Autor, der Hunderten geholfen hat, kann für einen bestimmten Menschen unergiebig oder sogar schädlich sein.20 Das bedeutet: Seelsorgerin und Ratgeber werden sich auf jeden Menschen neu einstellen und die Methoden ihrer Beratung für ihn neu (er)finden. Seelsorgerin und Ratgeber halten in ihrem Denken, Fühlen und Tun Gott und Welt zusammen. Das heißt: Sie vernachlässigen keinen Bereich menschlichen Lebens zugunsten des Glaubenslebens ihres Gegenübers; und sie lassen es genauso wenig damit genug sein, dass ein Mensch in seinem Alltag, in seiner Beziehung, an seinem Arbeitsplatz wieder zurechtkommt.
20 Vgl. dazu die gegensätzlichen Ratschläge zum Umgang mit Leidenschaften, die der Altvater Joseph (Weisung der Väter, 135 f.) zwei Ratsuchenden gab: »Laß sie eintreten und kämpfe mit ihnen« und »Laß sie ganz und gar nicht hereinkommen, sondern haue sie auf der Stelle aus!« Nach dem Grund für diesen Unterschied gefragt, antwortet Joseph, dass es Menschen gebe, denen es nicht fromme, dass die Leidenschaften an sie herankämen – der Rat wird nicht nach einer abstrakten Einsicht, sondern nach den Möglichkeiten und Grenzen der Ratsuchenden erteilt. 198
Corinna Dahlgrün
Seelsorger und Ratgeberin beten für die Menschen, die zu ihnen kommen, und sie verstehen ihr Beten als einen wesentlichen Teil ihres Tuns.
5. Zukünftige Entwicklung In der theologischen Ausbildung sollte berücksichtigt werden, dass Theologen als Geistliche auszubilden sind – ohne dabei ihre pastoralpsychologische Schulung zu vernachlässigen. Spiritualität wird also in der Lehre vorkommen und es werden Studierenden, Vikarinnen und Vikaren sowie Geistlichen im Entsendungsdienst Angebote geistlicher Beratung gemacht werden. Und die Geistlichen werden diese Angebote wahrnehmen. Die Arbeitgeberin Kirche wie die einzelnen Gemeinden, Gemeindekirchenräte und Presbyterien sollten sich immer mehr bewusst machen, dass Pfarrer und Pfarrerin als geistliche Menschen leben müssen, wenn sie andere geistlich beraten und seelsorglich mit ihnen arbeiten wollen; sie werden darum das geistliche Leben als einen wichtigen Aspekt der pfarramtlichen Tätigkeit und als Teil der Arbeitszeit verstehen und nicht, wie leider zumeist in der Vergangenheit, als eine Übung privater Frömmigkeit.
Literatur Manfred Josuttis, Von der psychotherapeutischen zur energetischen Seelsorge, in: WzM 50 (1998) 71–84 (Der Aufsatz nennt erste grundlegende Überlegungen zu einer transpsychologischen Seelsorge). Irvin D. Yalom, Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht, übersetzt von Almuth Carstens, München 2002 (Yalom formuliert in diesem auch für Laien gut verständlichen Buch eine Folge von Regeln mit Erläuterungen, die Therapeuten ermöglichen sollen, zu ihren Patienten echte Beziehungen aufzubauen, die Heilungsprozesse ermöglichen). Manfred Josuttis, Kraft durch Glauben. Biblische, therapeutische und esoterische Impulse für die Seelsorge, Gütersloh 2008. (Nach den »Segenskräften« entfaltet Josuttis in diesem Buch eine Seelsorgelehre, die, aufbauend auf einer Religion im Alltag mit entsprechenden Ritualen, Seelsorge in der geistlichen Begleitung
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Menschen – also auch Theologen – zu Heilern machen und so Heilungsgeschehen ermöglichen will). Corinna Dahlgrün, Gott schenkt Gnade – auch mir? Vom Zuspruch der Gnade in der Seelsorge und von der Schwierigkeit, sie anzunehmen, in: Rainer Rausch (Hg.), Gnade – Sonst nichts! Protestantische Positionen (Dokumentationen der Luther-Akademie Sondershausen Ratzeburg e. V. 8), Hannover 2014, 185–206 (Der Aufsatz nennt einige Beispiele für das Ineinander von Seelsorge geistlicher Beratung.) Irvin D. Yalom, Was ist real?, in: ders., Denn alles ist vergänglich. Geschichten aus der Psychotherapie, München 2015, 23–39 (Der Text bietet ein Beispiel für Yaloms therapeutisches Vorgehen.)
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Corinna Dahlgrün
Christoph Morgenthaler
Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
1. Fallbeispiel In einer Vorstadtgemeinde wird eine Ausstellung zum Thema »Glauben – unglaublich!« durchgeführt. Sie wird von Gruppen in der Gemeinde zusammen mit den Hauptamtlichen gemeinsam entwickelt und verantwortet. Neben vielen anderen Veranstaltungen sollen am »Tisch der Gemeinschaft« unter Beteiligung möglichst vieler die Evangelien, die Psalmen und die Apostelgeschichte abgeschrieben werden. Die Pfarrerin spricht Frau S. während der Ausstellung darauf an, ob sie auch mithelfen würde. Diese sagt zu und nimmt Blätter und Textvorlage mit nach Hause. Einige Zeit später gibt sie die Blätter ab, kunstvoll verziert, und erzählt der Pfarrerin, wie ihre Enkelin dies gemacht habe. Von dieser hatte sie der Pfarrerin schon Einiges berichtet. Sie ist in die Drogenszene geschlittert und hat bisher keine Berufslehre abgeschlossen. »Von der Kirche will sie auch nichts wissen.« Ein Jahr später, als die Bibelbücher gebunden in der Kirche liegen, macht Frau S. einen Nachmittagsbesuch in der Kirche. In ihrer Familie hatte sie von den wunderschönen »Seiten« ihrer Enkelin erzählt. Sie kommt mit einer ihrer Töchter, nicht der Mutter, aber der Tante der Enkelin und zeigt ihr die Seiten. Beide verlassen stolz die Kirche.1
1 Leicht überarbeitetes Beispiel aus: Carola Jost-Franz, Lebensraumorientrierte Seelsorge am Beispiel der Ausstellung »Glauben – unglaublich!« vom 3.5.–7.6.2009 in der reformierten Kirchgemeinde Zürich-Höngg, Masterarbeit MAS PCPP Universität Bern, 2012. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
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2. Gemeindeseelsorge Seelsorge geschieht hier in einer doppelten Weise. Zum einen trifft die Seelsorgerin Frau S. offenbar immer mal wieder, zum Beispiel nach dem Gottesdienst. Sie nimmt sie, wie sie ist, und hört in kurzen Gesprächen mit Empathie deren Sorgen um die Enkelin (und manch anderes wohl auch). Dies ist ein Beispiel professioneller Seelsorge in der Gemeinde mit ihrer »ausgesprochen intensiven Begegnungsvielfalt«.2 Seelsorge kommt zudem in einem erweiterten Sinn in Gang: Die Ausstellung wird zum Raum, in dem sich Menschen finden, vernetzen und zusammen aktiv werden und einander so zu Seelsorgenden werden. So geschieht dies auch in Familie S.: Zwischen den Generationen festigt sich die Hoffnung, dass die Enkelin ihren Weg finden wird. Dies geschieht in einer Gemeinde im Aufbruch und verdichtet sich symbolisch im Raum der Kirche, in dem die Bibelabschrift nun liegt. Seelsorge geschieht in dieser gemeindezentrierten Perspektive durch jene, die kirchlich zur Seelsorge beauftragt sind: durch Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch sozialdiakonische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Katechetinnen und Katecheten, die die seelsorgliche Dimension ihrer Arbeit wahrnehmen. Die besondere Qualität dieser professionell verantworteten »Gemeindeseelsorge« – bisher ein »Stiefkind der Poimenik«3, ist wenig erschlossen. Durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Hauptamtlicher entsteht in einer Ortsgemeinde eine spezifische Kombination von Begleitung, Beratung und Seelsorge, die in dieser Art von keiner anderen sozialen Organisation flächendeckend angeboten wird. Gemeindezentrierte Seelsorge erschöpft sich aber nicht darin. Sie geschieht durch alle, die Gemeinde als Raum der Begegnung, Gestaltung und Lebenskunst für sich entdecken, sich davon in ihrem Beziehungsalltag anregen lassen und sich auch ehrenamtlich (z. B. in einem Besuchsdienst) engagieren. Seelsorge wird hier in einem weiten Sinn verstanden: mit ihr ist »alles Zuhören, Mitfühlen, Verstehen, Be2 Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015, 12. 3 Ebd., 196. 202
Christoph Morgenthaler
stärken und Trösten gemeint, das der eine Mensch einem anderen gewährt«.4 In den beiden Grundformen von Gemeindeseelsorge finden Menschen in ihrem So-Sein Bestätigung, werden bei der Suche nach Sinn begleitet, lernen akute Probleme besser zu bewältigen und ihre Interessen gemeinsam zu artikulieren. Gemeindezentrierte Seelsorge wirkt damit auch präventiv. Sie hilft Schwierigkeiten vorauszusehen und zu umgehen; sie behält deren strukturelle Randbedingungen im Blick und arbeitet an deren Veränderung. Dies alles geschieht im grossen Raum christlicher Traditionen und kirchlicher Lebensformen. Als Verantwortliche einer »seelsorglichen« Gemeinde gelten folglich sowohl die hauptamtlich Angestellten wie auch alle anderen Gemeindeglieder: Menschen, die ihren Alltag miteinander teilen, Freiwillige, die sich kurz oder mittelfristig in einer Gemeinde (in einem Besuchsdienst, einer Selbsthilfegruppe oder einem Mittagstisch für Asylsuchende) engagieren, aber auch verantwortliche Gremien einer Kirchgemeinde, welche die nötigen finanziellen und organisatorischen Entscheide fällen. Sie alle tragen gemeinsam und in immer neuen und sich ändernden Konstellationen zu gemeindezentrierter Seelsorge bei. Gemeinde wird dabei in einem doppelten Sinn als »seelsorgekompetent« betrachtet: In ihr lassen sich einerseits persönliche, soziale, spirituelle und materielle Kompetenzen aktivieren, die sie zur Seelsorge befähigen. Gemeinde ist andererseits zuständig und verantwortlich für das, was an Seelsorge in einem engeren und weiteren Sinn in ihr geschieht, und auch in diesem Sinn kompetent.
4 Hans Van der Geest, Unter vier Augen: Beispiele gelungener Seelsorge, Zürich 62002, 223. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
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3. Forschung und Lehre Ein gemeindezentriertes Verständnis hat seine Wurzeln in biblischen Überlieferungen, insbesondere im Gemeindeverständnis neutestamentlicher Schriften.5 Gemeinde wird in den paränetischen Teilen der Briefliteratur als »Praxis des Einander« bestimmt: einander annehmen (Röm 15,7), einander zurechtweisen (Röm 15,14), Einmütigkeit untereinander suchen (Röm 12,16), aufeinander warten (1Kor 11,33), einträchtig füreinander sorgen (1Kor 12,25), einander die Lasten tragen (Gal 6,2), einander trösten (1Thess 5,11), einander erbauen (1Thess 5,11), einander Gutes tun (1Thess 5,15), einander in Liebe ertragen (Eph 4,2), gütig und barmherzig zueinander sein (Eph 4,32), einander verzeihen (Kol 3,13), füreinander beten (Jak 5,16), gastfreundlich zueinander sein (1Petr 4,9). Dies alles charakterisiert christliche Gemeinschaft als Koinonia, die in der Koinonia Gottes mit dem Menschen ihren Grund hat. Begrifflich ausgearbeitet wird dieses Verständnis bei Paulus im Bild der Gemeinde als Leib Christi: Seelsorge ist die Bewährung der einen Charis im täglichen Gottesdienst je nach Gnadengaben, die jedem geschenkt sind. Weder Herrschaft (1Kor 12,21: »Ich brauche dich nicht!«) noch Selbstentwertung (»Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin!«, 1Kor 12,15) bestimmt die Kommunikation in der Gemeinde. Die Gemeindeglieder sind vielmehr in einem dialogischen Austausch von Worten und Handlungen in Unterschiedlichkeit und Egalität aufeinander bezogen. So kannte die urgemeindliche christliche Bewegung auch das helfende Gespräch als »Angelegenheit aller Christen«6 (z. B. Gal 6,1). Erst in einer späteren Phase der urchristlichen Gemeinden wurde Seelsorge zur Aufgabe der Gemeindeleiter. Diese gemeindezentrierte Sichtweise von »Seelsorge« wurde in der Geschichte der Kirchen immer wieder wirksam. Insbesondere die Reformation hat Seelsorge programmatisch zur Aufgabe des 5 Breiter entfaltet bei: Joachim Rückle, Seelsorge der Gemeinde. Voraussetzungen und Möglichkeiten ehrenamtlicher Seelsorge im Kontext von Kirche und Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2010, 37 ff. 6 Eberhard Hauschildt, Auf dem Weg zu einer Praktischen Theologie der Ehrenamtlichen-Seelsorge, PTh 99, 2010, 117. 204
Christoph Morgenthaler
allgemeinen Priestertums erklärt. Luther fasst dies 1537 in den Schmalkaldischen Artikeln in die Formel »mutuum colloquium et consolatio fratrum«. Mit ihr verankert er die Seelsorge »in der Fraternität der christlichen Gemeinde und in der Profanität der Welt, insofern auch das alltägliche Gespräch zu einer Mitteilung des Evangeliums werden kann.«7 Ähnliche Impulse finden sich in der reformierten Tradition. Seelsorge bedeutet für Zwingli das Hüten der Herde und Schaffen einer neuen christlichen Lebensordnung, aber auch das Wahrnehmen des Wächteramtes der Kirche: Übernahme öffentlicher Verantwortung und Kritik an Schäden der Zeit. Bucer schuf für Strassburg eine Kirchenordnung, in der die Mitverantwortung der Gemeindeglieder, insbesondere der Gemeindeältesten, für die Seelsorge ins Zentrum rückte. Der Pietismus brachte mit seiner Betonung der gegenseitigen Erbauung und der Erneuerung des Dienstes der Kirche in der Welt unterschiedliche seelsorgliche Gemeinschaftsformen hervor, obwohl nun zunehmend auch das persönliche Gespräch unter vier Augen wichtig wurde. Damit setzt eine Entwicklung ein, die im 19. Jahrhundert über die Berufstheorien eines Schleiermacher und Nitzsch und im 20. Jahrhundert dann durch eine stärkere Anbindung der Seelsorge an akademische Theologie und therapeutische Standards zum heutigen Verständnis der Seelsorge in einem engeren Sinn als professionelles Handeln Hauptamtlicher führte. Das Wissen um Seelsorge als Kompetenz von Gemeinde ging allerdings auch in der jüngeren Geschichte der Poimenik nie ganz verloren: Thurneysens Entwurf der kerygmatischen Seelsorge ist ekklesiologisch gerahmt. Seelsorge geschieht »im Raum der Gemeinde«. Sie gehört zu den Pflichten »der bestellten Träger des Amtes der Verkündigung«, »kann aber auch geübt werden von Glied zu Glied in der Gemeinde, so gewiss auch für den Amtsträger seine eigene Gliedschaft am Leib der Gemeinde und nicht etwa nur sein spezielles Amt die wesentliche Voraussetzung seiner Seelsorge ist. Auch er übt sie als Bruder am Bruder oder an der Schwester. Ja, es wird mit zum Zeichen lebendiger Gemeinden ge7 Sibylle Rolf, Vom Sinn zum Trost. Überlegungen zur Seelsorge im Horizont einer relationalen Ontologie, Münster/Hamburg/London 2003, 100. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
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hören, dass solche Seelsorge von allen ihren Gliedern und ungerufen getan und empfangen wird.«8 Bohren pocht in reformierter Tradition ebenfalls auf Seelsorge als Charisma der Gemeinde.9 Van der Geest kennt nicht nur ein weites Seelsorgeverständnis, sondern versteht auch »Seelsorge unter vier Augen« primär als Ausdruck von Koinonia und erst sekundär als Ort von Diakonia und Kerygma.10 Steinkamp entwirft als Katholik in seiner »Sozialpastoral« ein eigentliches Programm basiskirchlich fundierter Seelsorge.11 Schmid sieht in der vernetzten Gruppe nicht nur eine praktikable Form von Kirche, sondern betont im Anschluss an die »communio-Ekklesiologie« von »lumen gentium« den seelsorglichen Charakter christlicher Koinonia.12 Kohler stellt sein Verständnis rhetorischer Seelsorge bewusst in einen ekklesiologischen Rahmen und versteht Seelsorge dezidiert auch als »kirchenleitende Funktion«.13 Hauschildt konturiert die Leistungen ehrenamtlicher Seelsorge14 und Rückle stellt Voraussetzungen und Möglichkeiten ehrenamtlicher Seelsorge im Kontext von Kirche und Gesellschaft monographisch dar.15 Auch Drechsel profiliert in seiner Gemeindeseelsorge die oft übersehenen besonderen Möglichkeiten der Seelsorge in der Ortsgemeinde, im Zusammenspiel von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen.16
8 Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 1946, 45. 9 Rudolf Bohren, Gemeinde und Seelsorge, in: ders., Geist und Gericht, Neukirchen/Vluyn 1979, 129–142. 10 Van der Geest, Unter vier Augen, 234 f. 11 Hermann Steinkamp, Sozialpastoral, Freiburg i. Br. 1991. 12 Peter F. Schmid, Im Anfang ist Gemeinschaft. Personenzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und praktischer Theologie. Beiträge zu einer Theologie der Gruppe, Stuttgart 1998. 13 Eike Kohler, Mit Absicht rhetorisch. Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche, Göttingen 2006, 79. 14 Hauschildt, Ehrenamtlichen-Seelsorge. Ders., Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt, Ehrenamtliche und Berufstätige, in: PTh 102, 2013, 388–407. 15 Rückle, Seelsorge der Gemeinde. 16 Drechsel, Gemeindeseelsorge, passim. 206
Christoph Morgenthaler
4. Themen und Tendenzen der aktuellen Diskussion Die Seelsorgebewegung brachte den Seelsorgenden in Gemeinden einen grossen Zugewinn an Seelsorgekompetenz. Auch Vertreter des gemeindezentrierten Verständnisses von Seelsorge betonen dies. Sie nennen aber Schattenseiten eines spezialisierten, professionalisierten Seelsorgeverständnisses. So führt die Orientierung der Seelsorge am Leitmodell des helfenden, therapeutischen Gesprächs leicht dazu, dass die Vielfalt der Begegnungsformen und der besondere Charakter der Gemeindeseelsorge aus dem Blick geraten.17 Gemessen an professionalisierter Seelsorge wird die Ehrenamtlichen-Seelsorge zur Seelsorge zweiten Ranges. Hier führt eine gemeindezentrierte Sicht von Seelsorge zu notwendigen Korrekturen. Sie ist kein »Alternativprogramm« zur professionellen Seelsorge sondern eher eine Heimholung von Handlungsmöglichkeiten. Professions- und gemeindezentrierte Formen von Seelsorge ergänzen einander. Ehrenamtlich Seelsorgende übernehmen eine wichtige Funktion in gemeindezentrierter Seelsorge. Hauschildt unterscheidet drei Typen: 1. »Ehrenamtliche Alltagsseelsorge« (durch »möglichst viele«18) in primären Beziehungen und Nachbarschaft, die nicht durch Hauptamtliche normiert, wohl aber gefördert werden kann, 2. »die den Professionellen zuarbeitende Seelsorge«19 (zum Bespiel ehrenamtliche Seelsorge in Besuchsdiensten) mit ihrer besonderen Leistung, der vernetzenden Tätigkeit, und 3. die »semiprofessionelle« Seelsorge wie sie beispielsweise in der Telefonseelsorge durch »möglichst gut geschulte«20 Ehrenamtliche getragen wird. Diese Varianten unterscheiden sich bezüglich Leistungen, Organisationsmodellen und Formen der Zusammenarbeit von Ehren- und Hauptamtlichen. Der Charakter der ehrenamtlichen Alltagsseelsorge lässt sich im Anschluss an die Theorie sozialer Netzwerke weiter erhellen.21 17 Ebd. 18 Hauschildt, Ehrenamtlichen-Seelsorge, 123. 19 Ebd., 124. 20 Ebd., 125. 21 Vgl. bes. Rolf Theobold, Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen 2013, 205 ff. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
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Netzwerke der Verwandtschaft, der Nachbarschaft, einer Dorfgemeinschaft oder eines Stadtquartiers sind in einer schnell sich wandelnden Welt als »Puffer«, soziale Unterstützung und emotionaler Rückhalt sowohl in präventiver wie kurativer Hinsicht von zunehmender Bedeutung. Gemeinde selbst kann als ein Netzwerk verstanden werden, das primäre, persönliche Beziehungen ermöglicht, als sekundäres, institutionelles Netzwerk wahrgenommen und beansprucht wird und als tertiäres Netzwerk vermittelnde Beziehungen z. B. zu informellen Helfern zugänglich macht. Gemeindebezogene Seelsorge versteht sich selbst als Teil dieser Netzwerke, fördert sie, knüpft neue »Knoten« in diesen Netzwerken und verbessert die Randbedingungen, unter denen sich Menschen in einer Gemeinde vernetzen und gegenseitig stützen lernen. Auch Gruppen sind als Orte »existentieller Geschwisterlichkeit und Menschlichkeit«22 ein einzigartiges Medium von Seelsorge und eine praktikable Realisationsform von Gemeinde.23 Bildungsveranstaltungen, welche nach gruppendynamischen Prinzipien (z. B. nach Kriterien der themenzentrierten Interaktion) geführt werden, entwickeln seelsorgliches Potential. Selbsthilfegruppen können in Gemeinden begründet, beheimatet, vernetzt und begleitet werden. Unter diesem Blickwinkel erscheinen auch traditionelle Formen wie der Hauskreis in einem neuen Licht. Kirchen als Teil einer kritischen demokratischen Öffentlichkeit sind mit anderen gesellschaftlichen Akteuren an der Herstellung von Öffentlichkeit, an der Selbstorganisation der Bürger und an der Artikulation von Sinnbedürfnissen und Orientierungswissen beteiligt.24 So wird Seelsorge nicht nur zu einem Moment im Gemeindeaufbau.25 Gemeinden und mit ihr Seelsorge müssen darüber hinaus auch ihre prophetische, öffentliche Dimension zurück gewinnen und sich an der (Wieder-)Herstellung von lebens22 Ebd., 243. 23 Vgl. Schmid, Im Anfang; Christoph Morgenthaler, Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 3, Gütersloh, 283 ff. Die Entdeckung der seelsorglichen Kraft der Gruppe steht am Anfang der Seelsorgebewegung: vgl. Joachim Scharfenberg, (Hg.), Glaube und Gruppe. Probleme der Gruppendynamik in einem religiösen Kontext, Wien 1980. 24 Vgl. dazu Rückle, Seelsorge der Gemeinde, 129 ff. 25 Morgenthaler, Seelsorge im Gemeindeaufbau. 208
Christoph Morgenthaler
freundlichen Verhältnissen beteiligen.26 So wirken Gemeinden in einem weiten Sinn seelsorglich auch dann, wenn sie und ihre Repräsentanten und Mitglieder beispielsweise für die Bewahrung und qualitative Verbesserung des unmittelbaren Lebensraums in Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen, Quartiervereinen, lokalen Behörden und politischen Parteien einsetzen. Hauptamtlichen in Gemeinden kommt in gemeindebezogener Seelsorge dabei eine dreifache Rolle zu: ihre je eigene seelsorgliche Beauftragung und Kompetenz im Blick auf einen konkreten Lebensraum auszugestalten, dabei miteinander zu kooperieren und ihre professionellen Kompetenzen für gemeindezentrierte Seelsorge miteinander fruchtbar zu machen. Den Hauptamtlichen kommt zudem in Zusammenarbeit mit Leitungsgremien von Gemeinden die Aufgabe zu, für gute Rahmenbedingungen der Ehrenamtlichen-Seelsorge zu sorgen und an deren Qualität zu arbeiten. Dabei sollte sich das Bewusstsein für best practices in der gemeindebezogenen Seelsorge weiterentwickeln. So sind die Mitarbeitenden eines Besuchsdienstes beispielsweise sorgfältig auszuwählen und in ihrem Amt von der Gemeinde oder gar der Landeskirche zu bestätigen. Sie sollten als Gruppe in einem regelmässigen Abstand unter der Leitung Hauptamtlicher zusammen kommen, zum Austausch und zur supervisorischen Arbeit an schwierigen Situationen. Kirchgemeinden haben dazu die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen, damit nicht nur die Spesen der Freiwilligen beglichen werden können, sondern ihre Arbeit in der Gemeinde gewürdigt werden kann (zum Beispiel durch Aus- und Weiterbildung oder im Rahmen eines jährlichen Festessens). Ihre Arbeit sollte zudem auf einem Sozialausweis vermerkt werden.27 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der seelsorglichen Schulung Ehrenamtlicher. Lösungs- und ressourcenorientierte Kurzformen von Seelsorge sowie die Würdigung von Lebenserfahrung und alltagsweltlicher Gesprächskompetenzen ermöglichen angemessene, hilfreiche Zugänge.28 26 So entschieden Steinkamp, Sozialpastoral. 27 Zu Besuchsdienstarbeit bereit: Rückle, Seelsorge der Gemeinde, 277 ff. 28 Breit dargestellt bei Theobold, Smalltalk und Therapie, 81–194. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
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Diese Praxis gemeindezentrierter Seelsorge wurzelt in einer theologischen »Grammatik«, die ihre Anlage und Realisation bestimmt, aber lange nicht immer explizit wird:29 –– So ist eine gemeindezentrierte Sicht von Seelsorge theologisch, genauer: ekklesiologisch grundiert. Seelsorge wird als ein Charisma der Gemeinde gedeutet, als vitale Ausdruckform christlicher Koinonia und Frucht des Geistes, der seine Gaben allen zum wechselseitigen Dienst schenkt. »Gemeinde« in diesem theologischen Sinn ereignet sich in Kirchgemeinden am Ort. Sie lebt aber auch im Umfeld funktionaler, spezialisierter Seelsorge, etwa in Krankenhäusern, Gefängnissen oder Organisationen der Telefonseelsorge.30 Immer wieder neu ist dabei das Verhältnis von »ecclesia visibilis« zu »ekklesia invisibilis«, von »Gemeinde« zu ihren konkreten, kontextuellen Ausdruckformen, zu bestimmen.31 –– Damit wird auch das »Seelsorgeamt« in einem weiten Sinn theologisch bestimmt: Seelsorge ist Auftrag und Verheissung aller, die sich zur christlichen Gemeinde zählen. Da gibt es keinen Unterschied, »weder in der Qualität noch in der Würde der Aufgabe«.32 Daraus lässt sich auch ein gemeinsames Anforderungsprofil ableiten für alle, die Seelsorge in einer Gemeinde als Dienst aneinander leben und anbieten. Dieses Anforderungsprofil kann zudem in unterschiedliche Richtungen konkretisiert werden: Es sind je besondere Anforderungen damit verbunden, seelsorglich im Nachbarschaftsbereich, in einem Besuchsdienst, in der semiprofessionellen Seelsorge oder in einem kirchlichen Amt tätig zu sein. In der Zusammenarbeit 29 Drechsel, Gemeindeseelsorge, 30. 30 Diese Formen nicht-parochialer, gemeindezentrierter Seelsorge können hier nicht ausdrücklich thematisiert werden (vgl. Morgenthaler, Seelsorge, 349 ff). 31 Theologisch noch grundsätzlicher wird eine gemeinschaftsbezogene Seelsorge im Rahmen einer trinitätstheologisch reflektierten relationalen Psychoanalyse (Wolfgang Reuter, Relationale Seelsorge. Psychoanalytische, kulturtheoretische und theologische Grundlegung, Stuttgart 2012) oder einer relationalen Ontologie (Rolf, Vom Sinn zum Trost) verortet. 32 Hier kommen komplexe theologische, kirchenrechtliche und ökumenische Probleme ins Spiel, vgl. Hauschildt, Allgemeines Priestertum, mit einem Vorschlag zur Systematisierung der Problematik. Hier wird in reformierter Tradition ein dreifaches, ja vielfaches Amt postuliert. 210
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von Haupt- und Ehrenamtlichen wird dabei in konkreten Verständigungs- und Aushandlungsprozessen »an dem gefeilt, was reformatorisch Amt in der Kirche«33 bedeutet.
5. Wichtige Leitsätze Aus den vorangehenden Überlegungen lassen sich handlungsleitende Maximen für eine gemeindebezogene Sicht von Seelsorge in der Ortsgemeinde gewinnen. Sie sind hier aus der Sicht des Pfarramts formuliert. Pfarrer bzw. Pfarrerinnen, die Seelsorge als Kompetenz von Gemeinde verstehen, –– bauen in einer Gemeinde ein Bewusstsein dafür auf, dass Seelsorge eine Kompetenz der Hauptamtlichen, aber auch jedes einzelnen Gemeindeglieds und von Gemeinde als Ganzer ist –– helfen Gemeinde so zu verstehen, zu entwickeln und zu organisieren, dass sie ihre seelsorglichen Potentiale weiter entfalten kann –– entwickeln kooperativ mit einzelnen, Gruppen, Gremien und anderen Hauptamtlichen einer Gemeinde ein Verständnis des gemeinsamen Seelsorgeauftrags und der Anforderungsprofile unterschiedlicher Akteure der Seelsorge –– sehen die unterschiedlichen Formen von Seelsorge in ihrem kooperativen Zusammenspiel und machen sie einzeln und füreinander stark –– entwickeln Projekte ehrenamtlicher Seelsorge in Zusammenarbeit mit anderen hauptamtlich Tätigen in einer Gemeinde34 –– richten Initiativen der Gemeindeseelsorge »sozial-diagnos tisch« auf das soziale Leiden in einem Lebensraum aus und aktivieren Personen, Netzwerke und soziale Ressourcen einer Gemeinde für Seelsorge –– machen das in der Seelsorgebewegung entwickelte Verständnis qualifizierter Seelsorge für die seelsorgliche Sensibilisie33 So Peter Frör in einem Vortrag (»Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht« – Ehrenamtliche Seelsorge im Krankenhaus, 2, zum Download unter: www.pastoralklinikum.de/goformularliste.asp, Zugriff 13.8.2015). 34 Konkretionen in: Morgenthaler, Seelsorge im Gemeindeaufbau, 20 ff. Seelsorge als Kompetenz der Gemeinde
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rung und Qualifizierung möglichst vieler Gemeindeglieder fruchtbar –– verorten die Gemeinde bewusster in einem weiteren gesellschaftlichen Umfeld und suchen zum gemeinsamen Wohl die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren und Menschen guten Willens in diesem Sozialraum –– initiieren theologische Grundlagenarbeit in Gemeinde, welche diese Form von Seelsorge plausibilisiert und im Raum der Gemeinde auch verankert. Formen gemeindebezogener Seelsorge sind bis heute wenig untersucht, in der Seelsorgelehre unterbelichtet und auch im Selbstverständnis der Kirchen zu wenig verankert. Gemeindebezogene Seelsorge muss deshalb empirisch besser erforscht, poimenisch intensiver diskutiert und kirchlich bewusster gefördert werden.
5. Zukünftige Entwicklungen Künftige Ereignisse sind schwer absehbar. Doch scheint eine Doppelstrategie nötig, wenn Seelsorge als Kompetenz von Gemeinde zum Tragen kommen soll. Zum einen muss weiter spezifiziert werden, was professionell verantwortete Seelsorge im Gemeindekontext genau bedeutet. Gleichzeitig, parallel und ergänzend sind unterschiedliche Varianten ehrenamtlicher Seelsorge weiter zu entwickeln, sowohl konzeptionell-poimenisch, wie methodisch, praktisch, institutionell und finanziell. Beide Zugänge gehören zur Geschichte der Seelsorge, zu ihrem Auftrag in der Ortsgemeinde und zu ihren spezifischen Stärken auch in der Moderne. Gemeindebezogene Seelsorge hilft dabei zur Profilierung des sozialen Nutzens von Kirchen in einer Zeit, in der diese zunehmend unter Legitimationsdruck geraten. Leistungen von »Gemeinde« sind in dieser Debatte »Trümpfe«. Kirchen liefern so den Tatbeweis, dass Seelsorge in einer Zeit abnehmender kirchlicher Mittel ein »Wachstumsfaktor« bleibt und bleiben soll, weil sie Markenzeichen christlicher Koinonia ist.35 35 Frör, Ehrenamtliche Seelsorge im Krankenhaus, 7. 212
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Grenzen einer solchen Doppelstrategie sind allerdings ebenso absehbar: Mit der Lockerung der Kirchenbindung, dem Rückgang der aktiven Beteiligung am Gemeindeleben und der damit verbundenen Dienstleistungsmentalität gehen auch Grundlagen eines solchen Seelsorgeverständnisses verloren. Zudem fragt sich, wie vermieden werden kann, dass das Programm einer gemeindezentrierten Seelsorge zur kuscheligen Sozialromantik verkommt. Genau jener Lebensraum, um den es auch in christlicher »Gemeinde« geht, steht heute unter erhöhtem Auflösungsdruck (durch Urbanisierung, Individualisierung, Deregulierung, Migration und politische Radikalisierung). Es leidet keinen Zweifel, dass diese Prozesse auch dazu führen, dass menschliches Leben fragiler wird, psychische Erkrankungen zunehmen und der Therapiebedarf steigt. Als Akteure der Zivilgesellschaft bringen Kirchen mit gemeindezentrierter Seelsorge in einer gewissen Wider ständigkeit ihre eigene Logik ins Spiel. Der gesellschaftlichen »Medikalisierung« des Leidens und der Therapeutisierung und Spezialisierung von Hilfe stellen sie eine »Sozialisierung« des Leidens und der Hilfe und ihre Kultur der Deutung menschlichen Leidens entgegen.
6. Literatur Wolfgang Drechsel, Gemeindeseelsorge, Leipzig 2015. Eberhard Hauschildt, Auf dem Weg zu einer Praktischen Theologie der Ehrenamtlichen-Seelsorge, PTh 99, 2010, 116–127. Christoph Morgenthaler, Seelsorge im Gemeindeaufbau. Von der amtszur gemeindezentrierten Seelsorge?, in: R. Kunz (Hg.), Gemeindeaufbau konkret. Arbeitsfelder einer lebendigen Gemeinde, Zürich, 2001, 11–30. Joachim Rückle, Seelsorge der Gemeinde. Voraussetzungen und Möglichkeiten ehrenamtlicher Seelsorge im Kontext von Kirche und Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2010. Rolf Theobold, Zwischen Smalltalk und Therapie. Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde, Neukirchen 2013.
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