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German Pages [256] Year 2010
Markus Weilandt Schule der Frühaufsteher
Markus Weilandt
Schule der Frühaufsteher 20 Jahre Bildungspolitik in Sachsen-Anhalt
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Autobahnschild „Willkommen im Land der Frühaufsteher“ Foto: Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung au�erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20657-4
Inhalt A. Einleitung................................................................................................... B.
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Die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Gies vom 02. November 1990 und die Landtagsdebatte vom 08. November 1990 in ihren bildungspolitischen Dimensionen............................................ 13
C. Die Fundamentalentscheidungen: Genese − Entwicklung − Perspektiven. ..................................................... 21
1. Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen.................. a) Die 4-jährige Grundschule................................................ b) Das differenzierte Sonderschulwesen............................. c) Die Sekundarschule als Ausdruck eines . modifizierten Zwei-Säulen-Modells................................ d) Das Gymnasium als zweite Säule..................................... e) Die Gesamtschule............................................................... 2. Das duale System der Berufsausbildung und die . berufsbildenden Vollzeitschulen............................................ 3. Schulen in freier Trägerschaft................................................. 4. Religionsunterricht und Ethikunterricht.............................
21 22 30 36 51 56 61 79 93
D. Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung.................... 101
1. Die Abschlussprüfungen am Ende der . Sekundarschulbildungsgänge.................................................. 2. Die Abiturprüfung.................................................................... 3. Die Qualitätsagentur................................................................ 4. PISA und Sachsen-Anhalt....................................................... 5. Ganztagsschulen........................................................................ 6. Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten............................
101 109 114 118 124 132
6 Inhalt
E. Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990........................................................................................... 136
1. Die Ausgangslage 1989/1990................................................. 2. Die Personalentwicklung seit 1991....................................... 3. Die Lehrertarifverträge............................................................ 4. Stand und Perspektiven der Lehrerausbildung....................
136 142 155 161
F. Schulnetz und Schulentwicklungsplanung............................ 165 G. Vom bildungspolitischen Antagonismus zur Großen Koalition Oder: Sind die Antagonisten nun Protagonisten in einem Boot?..................................................................................... 185
1. Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006................ 185 2. Die Koalitionsvereinbarung.................................................... 199
H. Der Bildungskonvent − Alibiveranstaltung oder Stellwerk? Aufgabenstellung − Arbeit − Ertrag .................. 208 I. Rückblick und Ausblick Braucht Sachsen-Anhalt einen Systemwechsel?................. 231 J. Anhang. ............................................................................................. 241 K. Hinweise auf die benutzte Literatur...................................... 253
A. Einleitung Wieder zu Besuch in der Schullandschaft Sachsen-Anhalts Am 14.10.1990 konstituierte sich mit der Landtagswahl im Zuge der politischen Veränderungen in Deutschland, die gemeinhin als „Wende“ bezeichnet werden und in Wahrheit einer Revolution in der ursprünglichen Bedeutung dieses Begriffs, also einer Umwälzung glichen, das Land Sachsen-Anhalt.1 Gemäß der verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilung und in der Tradition deutscher Kultur- und Bildungsgeschichte hatte dieses neue Bundesland eine Schlüsselaufgabe zu lösen: Es musste ein Schulsystem aufbauen, das landesspezifischen Gegebenheiten und Interessen Rechnung trug und gleichzeitig in den Kontext bundesrepublikanischer, also gesamtstaatlicher Rahmenbedingungen eingefügt war. Diese zentrale Aufgabe lässt sich verhältnismäßig einfach beschreiben. Sie zu meistern, kam einer bergsteigerischen Großtat gleich, zu der schließlich auch Gratwanderungen gehören. Die Publizistin Regina Mönch schrieb erst, oder noch, wie man will, im November 2009, es habe sich um „die größte Schulreform aller Zeiten“ gehandelt: „Ein Jahr nur hatten die neuen Länder Zeit, um die Einheitsschule der DDR zu entsorgen und an ihre Stelle etwas anderes zu setzen“. Das sei „eine logistische Großleistung sondergleichen“ gewesen.2 Von dem englischen Romancier Aldous Huxley stammt der Roman „Brave New World“ (1932), im Deutschen als „Schöne neue Welt“ bekannt. Er gehört in die Reihe der utopischen Werke, deren Wirklichkeit eben nur eine gedachte ist und keinen realen Handlungsort hat. 1 Das Bundesland Sachsen-Anhalt heißt seine Besucher auf den Bundesautobahnen im „Land der Frühaufsteher“ willkommen. Der Titel dieses Buches ist eine Hommage für die Sachsen-Anhalter und ihr Selbstverständnis. 2 Regina Mönch, Blinder Eifer, in: FAZ v. 18. November 2009, S. N5.
8 Einleitung
Der deutsche Titel trifft das Original nur unzulänglich. „Brave“ ist eigentlich mit tapfer, mutig, wacker zu übersetzen. Bergsteiger kommen ohne diese Eigenschaften nicht aus. In einer „brave new world“ mit zum Teil steilen Bergen und tiefen Schluchten standen auch die Schulreformer der Jahre 1990 und 1991. Vieles musste ihnen utopisch vorkommen in einer Welt, in der es auf vieles ankam, vorzugsweise aber auf Mut zu Neuem, auch Unbequemem, auf tapfere Beharrlichkeit, auf wackeres Nichtaufgeben. Nur: sie hatten kein Utopia vor sich, ihre Welt war eine reale. Ihre Welt war das soeben gegründete Land Sachsen-Anhalt, in dem sie die Schullandschaft zu entwerfen und zu gestalten hatten. Die sehr konkreten Gegebenheiten, das real Existierende mussten bedacht werden. Was in und für Utopia frei von Bindungen gedacht und konstruiert werden kann, stößt in der realen Welt auf Sachstände, auf Umstände, auf Widerstände. Hart im Raume stoßen sich die Sachen! Ich hatte das besondere Glück, im Rahmen meines Studiums der Politikwissenschaft an der Universität Bamberg 1992 ein Praktikum im Kultusministerium (genauer: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur) Sachsen-Anhalts absolvieren zu dürfen. Die Schullandschaft dieses Bundeslandes hatte Konturen erhalten, es war gepflanzt und gesät worden. Hier und da aber zeichneten sich Unebenheiten ab, Unkraut begann zu sprießen, Wildwuchs musste zurückgeschnitten werden. Nicht jede Rabatte gefiel. Die spannende Zeit des Aufbaus und der Gestaltung war noch längst nicht abgeschlossen. Für mich waren die Einblicke und die Perspektiven, die das Praktikum mir gestattete, Motivation, eine Diplomarbeit mit dem Thema „Der Aufbau eines demokratischen Schulwesens in den neuen Bundesländern dargestellt am Beispiel Sachsen-Anhalts“ in Angriff zu nehmen und 1993 abzuschließen.3 Damit schien das Kapitel Sachsen-Anhalt für mich beendet. 3 Markus Weilandt, Der Aufbau eines demokratischen Schulwesens in Sachsen-Anhalt, Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, Band 68, Köln/Weimar/Wien 1997.
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Von Aldous Huxley wissen wir, dass er 1958 „Brave New World Revisited“ vorgelegt hat. Er hat also seiner (utopischen) Welt nach etlichen Jahren einen Besuch abgestattet und sie kritisch betrachtet. Heute nennt man das in der pädagogischen Fachsprache „evaluiert“. Der Schullandschaft Sachsen-Anhalts sei nun ebenfalls ein Besuch gewidmet, fast 20 Jahre nach dem Tag X, als der sich der 01. August 1991 erwies, der erste Tag des ersten Schuljahres auf der Grundlage eines demokratischen Maßstäben verpflichteten Schulgesetzes. Von einem echten Besuch „von außen“ kann allerdings keine Rede mehr sein, da ich seit dem 08. 07. 2002 als Referent für Bildung und Wissenschaft der CDU-Fraktion im Landtag des Landes SachsenAnhalt mit der Gestaltung seiner Schullandschaft befasst bin und den einen oder anderen (landschafts-)gärtnerischen Beitrag geleistet habe. Ich bin in Sachsen-Anhalt sozusagen heimisch geworden, habe dort selbst Wurzeln geschlagen. Dennoch: Eine Landschaft nach etlichen Jahren mit ihrer Ausgangslage zu vergleichen, ist in vieler Hinsicht reizvoll. Was war zu (re)kultivieren? Was war geplant und was wurde gepflanzt? Was ist gewachsen? Was ist umgestaltet worden? Wo ist was ergänzt worden – und warum? Was ist vielleicht verdorrt, was eventuell gejätet worden – und warum? Ist die Landschaft noch Ausdruck gegenwärtiger Gartenbaukunst? Passt sie sich in die sie umgebenden Landschaften harmonisch ein? Kann sie im Wettbewerb mit ihnen mithalten? Das sind Fragen, die der Besucher und Betrachter vor Augen hat, wenn er mit kritischem Blick auf fast 20 Jahre Schullandschaft Sachsen-Anhalt zurückschaut. Die eine oder andere dieser Fragen zu beantworten, soll Aufgabe dieser Abhandlung sein. Mit den Fragen ist aber auch angedeutet, dass es in diesem Buch fast ausschließlich um die Schullandschaft geht, die Architektur, die sich in den Schulstrukturen, den Schulnetzen, den Bildungsgängen, den Bildungsstatistiken (Schülerzahlen, Unterrichtsversorgung), der
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Personalentwicklung etc. widerspiegelt. Anders formuliert: Es geht im wesentlichen um die Fundamentalentscheidungen, die 1990/1991 zu treffen waren, als es galt, ein hochideologisiertes Einheitsschulwesen in ein Bildungswesen umzuwandeln, das freiheitlichen demokratischen Prinzipien entsprach. Sie in ihrer Genese, in ihrer Entwicklung und mit ihren Herausforderungen und Perspektiven darzustellen, habe ich mir zur Aufgabe gemacht. Mein politikwissenschaftlicher Hintergrund hat mich dabei einen besonderen Blick auf den politischen Prozess, also das Argumentieren und das Agieren der diesen Prozess prägenden Protagonisten werfen lassen. In den Bundesländern hat die Bildungspolitik fast zwangsläufig unter dem Stichwort Kulturhoheit immer wieder im Zentrum dieses politischen Prozesses gestanden und den Wahlausgang häufig wenn nicht überhaupt entschieden, so doch stark beeinflusst. Und der Wahlausgang hat wiederum – fast zwangsläufig – seinerseits im Zuge der Ablösung einer Regierungskonstellation durch eine andere zu neuen Strukturen geführt. Auf Sachsen-Anhalt bezogen hat das Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer erst im März dieses Jahres beklagt und einen zehnjährigen „Bildungsfrieden“ angeregt, um Eltern und Schülern verlässliche Orientierung zu bieten. Die Kinder und das Bildungssystem dürften „nicht zum Experimentierfeld von Parteipolitik gemacht werden“.4 Die Bildungspolitik bildete das dominierende Kampffeld für die politische Auseinandersetzung um die Gestaltungshoheit aus der Hand des eigentlichen Souveräns, des Wahlvolks. Diese Protagonisten sind in Sachsen-Anhalt vornehmlich die CDU und die SPD gewesen. Ihre Wahlkampfpositionen des Jahres 2006, die Vereinbarungen der dann folgenden großen Koalition, das Für und Wider im Bildungskonvent und die sich erneut abzeichnenden Unvereinbarkeiten im Ausblick auf das Wahljahr 2011 bilden deshalb einen Schwerpunkt dieser Arbeit. Das hat zur Folge, dass alles, was mit Unterricht im engeren Sinne zu tun hat, hier allenfalls am Rande Erwähnung finden kann. Rahmenrichtlinien, Curricula, Stundentafeln, Konferenzordnungen, 4 Mitteldeutsche Zeitung v. 13. März 2010.
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Mitwirkungsgremien usw. werden von mir außerdem schon deshalb nicht behandelt, weil ich dafür als Politikwissenschaftler keine fachlichen Voraussetzungen mitbringe. Sie bestimmen das Innenleben an den Schulen, in das zu schauen ich sachkundigen Betrachtern überlassen muss. Bereits im Zuge der 1997 erfolgenden Publikation meiner Diplomarbeit von 1993, die zwangsläufig ständig Bezugspunkt dieser Abhandlung ist, habe ich in einem ergänzenden Kapitel „Perspektiven des Schulwesens in Sachsen-Anhalt“ über das Jahr 2000 hinaus zu bedenken versucht. Heute, fast 20 Jahre nach dem Inkrafttreten des ersten Schulgesetzes für das neue Bundesland Sachsen-Anhalt, des „Schulreformgesetzes“, das als Vorschaltgesetz konzipiert war, vom Landtag beschlossen am 24.05.1991, wirksam werdend am 01.08.1991, kann und soll das betrachtende Auge zurückschauen auf diese zwei Jahrzehnte und das Gewordene in seiner Entwicklung Revue passieren lassen. Das geschieht mit dem Ziel einer Bestandsaufnahme, die eine valide Bewertung erlaubt und einen Ausblick gestattet, der nicht auf wenige Jahre und nicht auf Sachsen-Anhalt beschränkt bleiben muss. Die Herausgeber der Schriftenreihe „Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte“, in der meine Diplomarbeit in einer erweiterten Fassung als Band 68 erschienen ist, Prof. Dr. Wolfgang Mitter und Dr. Christoph Führ, sprachen in ihrem Vorwort zu meiner Publikation von einem „umfassende(n) strukturelle(n) Neuaufbau des Schulwesens“ in den neuen Bundesländern. Dieser strukturelle Neuaufbau war erforderlich geworden, weil zutraf, was Ministerpräsident Lothar de Maiziere am 19.04.1990 in einem einzigen Satz zusammenfasste: „Ein katastrophales Erbe übernehmen wir von der SED auch im Bildungswesen.“ 5 Das Erbe auszuschlagen, verbot 5 Regierungserklärung des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere vom 19. April 1990, in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. von: Bundesministerium für inndeutsche Beziehungen, Reihe III, Band 8a, Bonn 1991, S. 187.
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sich. Es zum Ausgangspunkt einer Erfolgsgeschichte zu machen, war die Aufgabe. Bezugspunkt ist dieses Erbe bis auf den heutigen Tag geblieben. Nichts kann so schlecht sein, dass es nicht noch als Warnung geeignet ist! Und eine Erfolgsgeschichte wieder vor Augen zu führen, gehört zu den schönen Aufgaben des (Berufs)Lebens. Anmerkung: Das Manuskript dieses Buches wurde aus redaktionellen Gründen am 30.04.2010 abgeschlossen.
B. Die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Gies vom 02. November 1990 und die Landtagsdebatte vom 08. November 1990 in ihren bildungspolitischen Dimensionen Gemäß dem Einigungsvertrag waren die fünf neugeschaffenen Länder verpflichtet, ihr Bildungswesen bis zum 30. Juni 1991 neu zu regeln. Für Sachsen-Anhalt wurden von der durch eine demokratische Wahl (am 14.10.1990) legitimierten CDU/FDP-Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Dr. Gies sehr zügig die erforderlichen Fundamentalentscheidungen – die landschaftsarchitektonischen Grundmuster sozusagen – getroffen und in der Regierungserklärung vom 02.11.1990 zum Ausdruck gebracht. Die wichtigste lautete: „Die Landesregierung setzt sich zum Ziel, in Sachsen-Anhalt ein modernes, gegliedertes, differenziertes und leistungsorientiertes Bildungssystem aufzubauen.“6
Das war eine unzweideutige Absage an jedwede Form des integrierten Schulwesens, selbstredend eine gegen das Einheitsschulwesen der DDR. Selbst die im Partnerland Niedersachsen in gar nicht geringer Zahl vorhandenen und dort auch von der CDU unter gewissen – regionalen oder lokalen – Bedingungen geschätzten Kooperativen Gesamtschulen (KGS) erhielten damit keine Chance. Die „Debatte zur Regierungserklärung“ fand am 08. November 1990 statt.7 Sie in Bezug auf die Schul- oder Bildungspolitik – diese beiden Begriffe wurden häufig synonym gebraucht und sollen auch in diesem Buch nicht philologisch präzise unterschieden werden – etwas genauer zu betrachten, empfiehlt sich, weil die Grundpositionen der bildungspolitischen Akteure klare Konturen erhielten und wie ein starkes Wurzelwerk immer wieder bis in die Gegenwart hinein neue „Ableger“ produziert haben. 6 Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Gies vom 02. November 1990, Plenarprotokoll 1/2 v. 02. November 1990. 7 Plenarprotokoll 1/3 v. 08. November 1990.
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Für die Fraktion der PDS sprach zunächst deren Vorsitzende Frau Dr. Sitte – und erwähnte die Bildungspolitik mit keinem Wort, nicht einmal indirekt, wenn man von dem Satz „Ein konservatives Konzept hatten wir erwartet“ absieht. Im Verlaufe der Aussprache nahm allerdings die Abgeordnete Dr. Hein für die PDS unmissverständlich zur Bildungspolitik der Landesregierung Stellung: „Völlig unbefriedigend ist für uns der Teil der Regierungserklärung zur Schulpolitik...Das von Ihnen vorgestellte Schulsystem ist ... so ziemlich das konservativste, das man sich vorstellen kann. Selbst in Niedersachsen gibt es noch die Orientierungsstufe zwischen den Klassen 5 bis 7, die Sie auch schon wieder einsparen wollen.“ Die in Niedersachsen heiß umkämpfte und dann 2003 von der CDU dort abgeschaffte Orientierungsstufe, die allerdings, anders als Frau Dr. Hein behauptete, nur die Jahrgänge 5 und 6 umfasste, musste also auch in Sachsen-Anhalt, dem Partnerland, für bildungspolitische Auseinandersetzungen herhalten. Frau Dr. Hein war auf die „Gesamtschule als zentrale Schulform“ fixiert und machte geltend, dass „aus Europa und vielerorts aus den alten Bundesländern... dringend empfohlen“ worden sei, „dieses dreigliedrige Schulsystem nicht zu übernehmen und von der zehnjährigen Regelschule nicht abzugehen“. Diese werde „als Leistung des Bildungswesens der DDR gewürdigt“. Quellen nannte sie nicht. Dann ergab sich eine fast kuriose Situation: Auf die Zwischenfrage des FDP-Abgeordneten Hofmann, woher sie die Erkenntnis und die Gewissheit nehme, dass die Gesamtschule das non plus ultra sei, und auf seine Einlassung, „dass die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit auch ein vielgliedriges Schulsystem mit sich bringen“ müsse, entgegnete sie wörtlich: „Ich bin dafür, dass es ein differenziertes und leistungsorientiertes Schulsystem gibt, aber kein dreigliedriges.“ Sie sprach dann von „verschiedenen Schultypen“, die es geben könne. Da wird man etwas flapsig fragen dürfen: Ja, was denn nun, Gesamtschule bzw. zehnjährige Regelschule oder ein differenziertes Schulsystem mit verschiedenen Schultypen? Dass die Landesregierung in Sachsen-Anhalt ihre Schulpolitik auf eine Zwei-Säulen-Struktur ausrichtete, nicht das „dreigliedrige“ System kopierte und damit alles andere als „das konservativste“ Sys-
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tem zu etablieren gedachte, übersah die Abgeordnete geflissentlich. Diese parlamentarische Episode ist aber nicht nur kurios, sie ist auch aufschlussreich: Vielen war der Umgang mit den Termini bundesrepublikanischer Schulpolitik noch so sehr Neuland, dass sie sich im begrifflichen Rankenwerk verhedderten. Das geschah immer wieder, wie noch gezeigt werden kann! Mit der Zwischenfrage des Abgeordneten Hofmann wurde bestätigt, dass die FDP sich mit der schulpolitischen Kernaussage des Ministerpräsidenten identifizierte. Ihr Fraktionsvorsitzender Prof. Dr. Haase nannte allerdings unter den „Schwerpunkten“ der Regierungsarbeit die „Frauen- und Familienpolitik“ und sagte keinen Satz zur Bildungspolitik. Das war, wie sich zeigen sollte, auf längere Sicht eine Fehleinschätzung erster Ordnung. Für die SPD sprach ihr Fraktionsvorsitzender Dr. Höppner. Nach den etwas markigen Worten, die SPD werde sich „gegen ein Überstülpen einer Bildungskonzeption von oben ... mit den meisten Lehrern zur Wehr setzen“ und eine „demokratische Schule“ mit „Mitspracherecht von Schülern, Eltern und Lehrern“ anstreben – als ob die Landesregierung von CDU und FDP nicht eine „demokratische Schule“ mit den genannten Mitspracherechten wollte! – , bemühte auch er Niedersachsen: „Das vom Ministerpräsidenten vorgestellte Bildungskonzept ist übrigens altertümlicher als das von der CDU-Regierung in Niedersachsen geprägte Bildungssystem“. Auch er hatte offenbar nicht zu erkennen vermocht, dass mit dem konzipierten „Zwei-SäulenModell“ – im übrigen nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in Sachsen und in Thüringen – Wege beschritten wurden, mit denen die Schullandschaft ein eigenes Gepräge erhielt, das auch auf die alten Bundesländer ausstrahlen sollte. Die Orientierung an Niedersachsen machte sich dann besonders bemerkbar, als Dr. Höppner, von einer Koalition der SPD mit Bündnis 90/Die Grünen getragen, ab 1994 Ministerpräsident des Landes war und, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, Anschluss suchte an die Orientierungsstufe, die im Partnerbundesland die Bildungslandschaft prägte. Das polytechnische DDR-Erbe kam in dem Satz „Wir sind z. B. nicht bereit, auf den Zweig Berufsausbildung mit Abitur zu verzichten“
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zum Ausdruck. Er begleitet die SPD-Politik bis in die Gegenwart hinein. Völlige Übereinstimmung signalisierte Dr. Höppner bei einer sehr heiklen Aufgabe: „Unterstützen werden wir die Regierung bei ihrem Anliegen, alle Schulen und Verwaltungseinheiten frei von Personen zu halten, die ihre berufliche Position der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei verdanken und ihre Position missbraucht haben.“ Mit einem Satz, dem er wahrscheinlich gar nicht die fundamentale Bedeutung zuschrieb, die er im Laufe der Jahre zunehmend für die Bildungspolitik in Sachsen-Anhalt haben sollte, soll Dr. Höppner hier abschließend zitiert werden: „Richtig ist, dass unsere Struktur der Landkreise und der Kommunen zu kleine Einheiten enthält“. Für die Gestaltung der Schullandschaft hat sich diese Tatsache als Schlüsselproblem erwiesen. An dem Schlüssel wird immer noch gefeilt. Für die CDU griff deren Fraktionsvorsitzender Auer in die Debatte ein. Auch er ging auf das Bildungssystem der DDR, das seit 1990 immer wieder als Folie der Auseinandersetzungen um die Schulstrukturen hat herhalten müssen, mit deutlichen Worten ein: „Die bisherige DDR war ein unfreies, planwirtschaftliches System nicht nur in der Wirtschaft selbst, sondern in hohem Maße auch im Bildungssystem. Die schulische Bildung war vor allem deformiert durch ideologische Überfrachtung, kollektivistische Bevormundung und undifferenzierte Begabungsförderung. Zu höheren Bildungsabschlüssen kamen oft nicht die Leistungsstarken, sondern die Anpassungsfähigen“. Aus dieser Erkenntnis, die, wie das Protokoll vermerkt, nicht nur „Beifall bei der CDU und bei der FDP“, sondern auch „Zustimmung bei der SPD“ erhielt, ergab sich seine Schlussfolgerung: „Deshalb muss mit dem Einheitsschulsystem der Vergangenheit, das ein Spiegelbild des Staatssozialismus war, Schluss gemacht werden. Wir wollen ein gegliedertes und differenziertes Schulsystem, das die individuelle Entwicklung jedes Kindes ermöglicht und fördert. Wir brauchen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien, wie es sie in den anderen Bundesländern auch gibt.“ Dass er gerade mit dem letzten Satz dem Vorwurf der bloßen Kopie des „dreigliedrigen“ Schulwesens der alten Bundesländer Nahrung
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gab, wird ihm wohl entgangen sein. Es kommt die Ironie hinzu, dass die Landesregierung gar nicht vorhatte, wie noch näher nachgewiesen werden kann, die „Hauptschule“ und die „Realschule“ als selbständige Schulformen einzurichten. Erneut wird das terminologische Defizit deutlich, möglicherweise aber auch ein Kommunikationsproblem. Dem Abgeordneten Auer war es jedoch zu verdanken, dass auf ein bewusstes Anknüpfen an ein Spezifikum der DDR aufmerksam gemacht wurde: „Allerdings sind wir nicht bereit, den alten Bundesländern bei ihrer dreizehnjährigen Schulzeit für Gymnasien zu folgen. Wir wollen bei unseren zwölf Jahren bleiben, was sich auch im Hinblick auf die übrigen EU-Staaten empfiehlt“. Es spricht einiges für die Vermutung, dass er noch gar nicht daran dachte, den alten Bundesländern werde damit eine Gelegenheit zur Kopie gegeben. Es darf aber an dieser Stelle festgestellt werden, dass die in diesen Tagen heftig und vielerorts geführte Diskussion um „G 8“ und „G 9“ ihre Quelle in dieser Festlegung hat, der Herr Auer im Landtag von Sachsen-Anhalt schon im November 1990 unzweideutig Ausdruck verlieh. Es darf also gefragt werden: Wer hat eigentlich wen kopiert? Niedersachsen jedenfalls, das Partnerland, hat unter einer Regierung aus CDU und FDP den Übergang zu G 8 längst vollzogen. Es überrascht nicht wenig, dass ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne, Herr Tschiche, dem Schulsystem der DDR bescheinigte, das Potential gehabt zu haben, „weiterentwickelt“ zu werden: „Die polytechnischen Oberschulen, so wie wir sie hatten, sind zwar durch die ganze politische Situation nicht zu der Entwicklung gekommen, zu der sie hätten kommen können, sie hätten aber weiterentwickelt werden können zu einer Bildungseinrichtung, die für unser Land verbindlich geworden wäre.“8 In seiner heftigen Polemik gegen das „dreigliedrige Schulsystem“ pries er die integrierte Gesamtschule als Alternative mit Monopol8 Man muss sich fragen, ob der Abg. Tschiche nicht doch „vorbildlich“ gesagt oder
wenigstens gemeint hat. Der Kontext drängt die Vermutung auf. Im offiziellen Stenographischen Bericht steht allerdings das Wort „verbindlich“, das nicht recht passen will.
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stellung an, weil sie „im Grunde alle fördern will in der Gesellschaft, die man fördern kann, und das System ist durchlässig“. Ob Herrn Tschiche bewusst war, dass er mit seinen Ausführungen einen Beitrag zu einer sich ab 1990 Schritt für Schritt aufbauenden DDR-Nostalgie lieferte? Für die CDU meldete sich dann zusätzlich der Abgeordnete Dr. Bergner zu Wort, vornehmlich in Auseinandersetzung mit dem Abgeordneten Tschiche, dem er empfahl, „die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahrzehnten mit dem Einheitsschulsystem gemacht haben“, zu prüfen. Im Dialog mit der SPD-Abgeordneten Hajek ließ er durchblicken, dass er bereit sei, über „den Zeitpunkt der Aufgliederung“ und über die „Durchlässigkeit“ im System des gegliederten Schulwesens „im Bildungsausschuss“ zu diskutieren. Wie kaum einer sonst hatte er damit bewiesen, dass ihm die beiden existenzsichernden bzw. existenzgefährdenden Elemente des gegliederten Schulwesens vertraut waren. An seiner grundsätzlichen Zustimmung zum gegliederten Schulwesen ließ er jedoch keinen Zweifel aufkommen. Dr. Bergner wurde zu einer bedeutenden Persönlichkeit unter den Politikern Sachsen-Anhalts. Er sollte später für eine kurze Zeit, nach erheblichen Turbulenzen, die hier nicht dargelegt werden können, Ministerpräsident werden, um dann ein Bundestagsmandat zu erhalten, das ihn in das Amt eines Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesinnenministerium führte. Seinem Naturell entsprechend schlug er moderate Töne an und betonte, dass er sich „einen möglichst breiten Konsens in der Bildungspolitik“ wünsche: „Ich gehe davon aus, dass wir hier über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig sind, dass es darauf ankommt, in einer Bildungs- und Wissenschaftspolitik der nächsten Jahre, die ja in Länderkompetenz fällt und von unserer Regierung gestaltet werden muss, möglichst rasch die geistigen Kräfte und innovativen Potenzen unseres Landes zu wecken“. Das war nobel gedacht und entsprach im Grunde auch der riesigen Herausforderung, die bestanden werden musste. Gleichwohl wird deutlich, dass er in dieser Anfangsphase der Landespolitik verkannte, welche Dynamik und welche Konfrontation gerade das Feld der Bildungspolitik beherrschen sollten.
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Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die SPD-Abgeordnete Frau Hajek im Verlaufe der Debatte eine klare Gegenposition zum Abgeordneten Tschiche einnahm: „Ich bin nicht für die bisherige Einheitsschule.“ Sie ließ erkennen, dass es ihr um die „Durchlässigkeit“ des neuen Systems ging, nicht um prinzipielle Ablehnung. Damit eröffnete sie eine Auseinandersetzung, die die folgenden zwanzig Jahre bestimmen sollte und die tatsächlich die Existenzfrage des gegliederten Schulwesens berührt, wie noch zu zeigen sein wird, nämlich das System der Übergänge, der Brücken, der Verbindungswege in einer Schullandschaft frei von Sackgassen.
C. Die Fundamentalentscheidungen: Genese − Entwicklung − Perspektiven 1. Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen Der bildungspolitische Kernsatz der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Gies sei hier wiederholt: „Die Landesregierung setzt sich zum Ziel, in Sachsen-Anhalt ein modernes, gegliedertes, differenziertes und leistungsorientiertes Bildungssystem aufzubauen.“
Auf weitere Sätze werde ich an anderen Stellen zurückgreifen. Angesichts dieser Kernaussage war es nur konsequent, dass das Schulreformgesetz vom 24.05.1991 Gesamtschulen nicht vorsah und diese allenfalls über den Weg des Schulversuchs gemäß § 11 ermöglichte. Diese Stringenz führte dazu, dass überhaupt nur zwei Integrierte Gesamtschulen (je eine in Magdeburg und in Halle) und zwei Kooperative Gesamtschulen unter Bezugnahme auf §11 für das Schuljahr 1991/1992 genehmigt wurden. In der Zwischenzeit, nämlich von 1994 bis 2002, hat es SPD-geführte (noch dazu von 1998 bis 2002 auf die Tolerierung durch die PDS angewiesene) Landesregierungen gegeben. Die Fundamentalentscheidung für das gegliederte, in den „alten“ Bundesländern dominierende Schulwesen ist davon im Kern aber unberührt geblieben. Das dürfte auch Ausfluss der politisch beachtenswerten Erkenntnis gewesen sein, dass die Bevölkerung Sachsen-Anhalts das gegliederte Schulwesen akzeptiert hat und gegenüber integrierten Modellen bevorzugt. Aus der Zeit der SPD-geführten Landesregierungen, und das sind immerhin acht Jahre, stammen jedenfalls nur vier weitere Gesamtschulen (1IGS und 1KGS sowie 2 KGS in freier Trägerschaft). Seit der Regierungsübernahme durch die CDU im Jahre 2002 hat sich die Zahl der IGS/KGS auf neun erhöht, wobei es bemerkenswert ist, dass die Neugründungen ausschließlich Schulen in freier Trägerschaft
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sind. Sachsen-Anhalt ist ein Bundesland geblieben, dessen Schullandschaft vom gegliederten Schulwesen dominiert ist. Eine Tendenz zur Gründung weiterer Gesamtschulen ist nur ansatzweise erkennbar, zumal die kommunalen Träger angesichts anderer Probleme im Zusammenhang mit Schulstandorten, auf die noch eingegangen werden soll, ihre Leistungsfähigkeit bereits über Gebühr strapaziert sehen. Immerhin ist aber der von vornherein etwas abwegige Versuch, die Gesamtschule auf ein Mauerblümchendasein mit dem Status eines Modellversuchs zu beschränken, unter den SPD-geführten Landesregierungen beendet worden: Die Gesamtschule wurde in den Stand der Regelschulformen gehoben. Die Schulgesetznovelle vom 01.08. 2005 der CDU/FDP-Regierung hat diesen Status bestätigt. Für den Landkreis Mansfelder Land wurde sogar eine KGS als Resultat von Überlegungen des kommunalen Schulträgers in die Schulentwicklungsplanung des Landes einbezogen.9 a) Die vierjährige Grundschule
Seit einigen Jahrzehnten schon führen Erziehungswissenschaftler und -berechtigte, Bildungspolitiker und Psychologen unter dem Stichwort „längeres gemeinsames Lernen“ eine z.T. heftige Auseinandersetzung um die Frage, ob die Grundschule auf vier Jahrgänge beschränkt bleiben soll oder eher auf sechs (oder sogar acht) auszudehnen sei. Die Dauer des Primarbereichs wird, durchaus mit einer inneren Logik, als Schlüssel zur Strukturierung des Sekundarbereichs begriffen: Je länger der Primarbereich mit einer gemeinsamen und grundsätzlich undifferenzierten Schulbesuchszeit für alle Kinder dauert, desto weniger scheint sich für die Befürworter danach die Notwendigkeit eines nach Schulformen gegliederten Schulwesens zu ergeben. 9 Vgl. Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein (PDS), Drucksache 4/1592 v. 13. Mai 2004, Anlage 1.
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Umgekehrt halten es die Anhänger des gegliederten Schulwesens: Sie wollen den Primarbereich auf vier Schuljahre beschränken und dann konsequent gliedern. Die erste Landesregierung Sachsen-Anhalts ließ hinsichtlich der vierjährigen Grundschule – anders als z.B. das Bundesland Brandenburg, das sich für eine sechsjährige Grundschule entschied – an ihrer Entscheidung keinen Zweifel aufkommen: „Dazu wird ein gegliedertes Schulsystem geschaffen, welches an eine gemeinsame Grundschule von vier Jahren für alle Schülerinnen und Schüler anschließt. Die Eltern haben das Recht, für ihre Kinder weiterführende Bildungswege zu wählen, wobei pädagogische Orientierungshilfen der Schule in Anspruch genommen werden.“ 10
An der Übergangsstelle von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen wurde, wie man unschwer erkennt, also sehr dezidiert der „Elternwille“ in das System „hineingepflanzt“, auch wenn der Begriff „Elternwille“, der auch eine erhebliche verfassungsrechtliche Dimension hat, nicht ausdrücklich vorkommt. In die Schullandschaft Sachsen-Anhalts wurde also von Anfang an mit der vierjährigen Grundschule und mit dem an sie gekoppelten Elternwillen ein landschaftsprägender „Verkehrsknotenpunkt“ eingebettet, an dem etliche Wegweiser in verschiedene und unterschiedliche Bildungsgänge lenken. Aber keiner dieser Bildungsgänge hat, wie noch gezeigt werden wird, Sackgassencharakter. Die Ausgangslage von 1991 ist nach fast 20 Jahren im Kern unverändert geblieben: Die vierjährige Grundschule ist trotz des immer wieder auftauchenden Rufs nach der sechsjährigen Grundschule aus den Reihen der SPD, der PDS (heute DIE LINKE) und der Grünen unangetastet geblieben, auch in der Zeit, als diese Parteien die Regierung stellten bzw. „tolerierten“. Der zunächst unkonditionierte Elternwille, der vor allem auch pädagogische Aspekte eines einzuschlagenden Bildungswegs unbeachtet und manche Schullaufbahn „scheitern“ ließ, ist allerdings in10 Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Gies v. 02. November 1990, Plenarprotokoll 1/2 vom 02. November 1990.
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zwischen deutlich eingehegt, also eingeengt worden. Das geschah mit einer Novelle des Schulgesetzes zum 01.08.2005.11 Gemäß § 34, Abs. 2 setzt der Übergang zu einem öffentlichen Gymnasium eine entsprechende Schullaufbahnempfehlung oder eine entsprechende Eignungsfeststellung voraus. Im Schulreformgesetz von 1991 und im Schulgesetz von 1993 war nur von einer „Empfehlung für die Entscheidung bei der Wahl des Bildungsganges“ die Rede gewesen, die Entscheidung selbst war ausschließlich Sache der Erziehungsberechtigten im Sinne des Elternwillens. Die SPD hatte, mit der Zusammenfassung aller Schülerinnen und Schüler der Schuljahrgänge 5 und 6 in einer integrativ geführten Förderstufe durchaus konsequent, die Grundschule der Pflicht enthoben, eine Empfehlung für den weiteren Bildungsgang ihrer Absolventen auszusprechen. Eine zu erwartende Verlagerung an das Ende der Förderstufe fand aber nicht statt. Gemäß dem Schulgesetz von 1996 waren die Erziehungsberechtigten nur noch durch Beratung auf die „Wahl des (weiterführenden) Bildungsgangs“ vorzubereiten. Die Gesamtschule war ausdrücklich als Bildungsgang der Jahrgänge 5 – 10 im Sinne dieser Bestimmung definiert. Der förmliche, weil schriftliche Weg der Empfehlung war also durch die weitgehend formlose mündliche Beratung ersetzt. Damit war die Kanalisierung der Schülerströme auf die weiterführenden Schulen auf ein ganz und gar unverbindliches Hinweisen auf die Besonderheiten und die Anforderungen in den zur Auswahl stehenden Bildungsgängen reduziert worden. Mit dem Regierungswechsel von 2002 erfolgte in zweifacher Hinsicht ein Umsteuern. Die Förderstufe wurde abgeschafft, die Schuljahrgänge 5 und 6 wurden wieder integrale Bestandteile der Sekundarschule bzw. des Gymnasiums. Die Grundschule erhielt ihren Auftrag zurück, an ihrem Ende als der angesprochene Verkehrsknotenpunkt zu fungieren, von dem aus die Schülerströme zu lenken waren. Dabei wurde ihre Lenkungsfunktion nun erheblich verstärkt, weil die obligatorische 11 Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in der Fassung v. 01. August 2005.
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Schullaufbahnempfehlung eine Bindungswirkung entfaltete, die, was das Gymnasium und den Gymnasialzweig einer öffentlichen Gesamtschule in kooperativer Form betraf, nur durch eine im § 34 Schulgesetz verankerte „erfolgreiche Eignungsfeststellung“ korrigiert werden konnte. Die für Sachsen-Anhalt in der Schulleistungsstudie PISA I überaus unbefriedigenden Ergebnisse haben dabei wohl ebenso Pate gestanden wie die hohen Übergangsquoten auf das Gymnasium selbst, bei denen eine nicht geringe Ursache für das Scheitern mancher gymnasialen Schullaufbahn vermutet wurde. Auf jeden Fall versprach sich die CDU/FDP-Regierung mehr Stabilität für die Schülerviten und mehr Sicherheit für die Schulentwicklungsplanung – das alles vor dem Hintergrund einer erhöhten Durchlässigkeit im Sekundarbereich, über die an anderer Stelle im einzelnen zu berichten sein wird. Die Übergänge von der Grundschule in die weiterführenden Schulen sind in § 2 der „Verordnung über die Übergänge zwischen den Schulformen in der Sekundarstufe I“ in der zur Zeit gültigen Fassung vom 2. August 2005 im einzelnen geregelt. Neben sehr konkreten Vorschriften im Hinblick auf die Schullaufbahnempfehlung ist auch das „Verfahren zur Eignungsfeststellung“ normiert. Dabei fällt auf, dass es sehr hoch „aufgehängt“ ist: „Die Durchführung des Verfahrens obliegt dem Landesverwaltungsamt“, es trifft auch die abschließende Entscheidung, bestätigt also oder korrigiert die Schullaufbahnempfehlung der jeweiligen Grundschule. Auf weitere Einzelheiten des Verfahrens kann hier nicht eingegangen werden. Um den Kern der Grundschule herum hat es im Laufe der Jahre beachtenswerte Diskussionen und konkrete Anlagerungen gegeben. Sprachliche Nuancen, die auf den ersten Blick nur Harmloses ausdrücken, lassen erhebliche bildungs- und gesellschaftspolitische Weichenstellungen erkennen, sobald man sich der Materie genauer zuwendet und auch die jeweiligen Zielsetzungen in den Blick nimmt. Im Schulgesetz von 1996 findet sich im § 4 der Absatz 6, in dem die „Grundschule mit festen Öffnungszeiten“ definiert ist. Danach können Grundschulen „als Schulen mit einem zusätzlichen sozialpädago-
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gischen Angebot geführt werden, in denen Schülerinnen und Schüler in einer für alle Schultage einheitlichen Zeit unterrichtet und betreut werden“. Die Einschränkung, dass einerseits die „Abstimmung mit dem Schulträger“ und andererseits „die personellen und sächlichen Voraussetzungen“ vorliegen müssten, lässt nicht übersehen, dass hier eine Anknüpfung an die Horte der DDR vorlag, mit der gesellschaftspolitische, speziell familienpolitische Erwartungen eines Teils der Bevölkerung und auch die eigene Ideologie bedient werden sollten. Außerdem wird dem Konzept der Ganztagsschule auch für den Primarbereich in nicht zu verkennender Weise entsprochen. Als im Jahre 2000 Konkretisierungen der Kann-Bestimmung des § 4, Abs. 6 erfolgten und zahlreiche Umwandlungen von herkömmlichen Grundschulen in solche mit festen Öffnungszeiten ins Haus standen, regte sich erheblicher Widerstand in dem anderen Teil der Bevölkerung, der in Bürgerinitiativen Ausdruck fand, die gegen die Vereinnahmung der Kinder über die Zeit des reinen Grundschulunterrichts hinaus gegen den erklärten Willen der Eltern Front machten. Die sattsam bekannte und für überwunden geglaubte Rundumversorgung unseligen Angedenkens wurde heftig attackiert. Was so harmlos daherkam, erwies sich also als ziemlich explosiv. Mit dem Regierungswechsel von 2002 trug die Koalition von CDU und FDP dem umgehend Rechnung, natürlich auch geleitet von ihrem Familienbild, das Erziehung und Betreuung von Kindern zuvörderst den Eltern zuordnet und der Schule nur einen subsidiären Rang einräumt. Der zitierte Absatz 6 ist im Schulgesetz bereits 2002 in den Absatz 2 eingearbeitet worden. Dabei sind die „festen Öffnungszeiten“ durch die „verlässlichen Öffnungszeiten“ ersetzt worden. Was nur eine sprachliche Variation zu sein scheint, hat eine gravierende inhaltliche Dimension: Eltern können nicht mehr seitens einer Schule (in Abstimmung mit dem Schulträger und mit Genehmigung des Staates!) gezwungen werden, ihre Kinder einem „zusätzlichen sozialpädagogischen Angebot“ zu unterwerfen, wenn sie davon überzeugt sind, ihrer Verantwortung für Erziehung und Betreuung ihrer Kinder selbst nachkommen zu können. Es heißt deshalb im hier relevanten Absatz 2
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unmissverständlich: „ Die Dauer der Öffnung beträgt schultäglich in der Regel fünf und eine halbe Zeitstunde. Der Besuch der Eingangs- und Ausgangsphase ist freiwillig.“ Eine Verordnung regelt „das Verfahren und den Zeitrahmen der Öffnungszeiten sowie die Gestaltung der Eingangs- und Ausgangsphase“. Besonders zu beachten ist auch, dass das Schulreformgesetz von 1991, das bekanntlich als „Vorschaltgesetz“ für das Schuljahr 1991/1992 am 24.05.1991 beschlossen wurde, noch den Begriff „Hort“ führte. Ein Hort hatte „Bestandteil jeder Grundschule“ zu sein, seine Inanspruchnahme war aber in das Belieben der Eltern gestellt. Horte waren ein Markenzeichen des Schulwesens der DDR gewesen, eine ihrer „sozialistischen Errungenschaften“, auf die das Regime stolz war. Die Qualität der Ausstattung und der Arbeit der Horte ist hier nicht zu untersuchen. Jedenfalls konnte 1991 mit der Hort-Tradition aus verschiedenen Gründen nicht gebrochen werden. Unter anderem waren die Horte konstitutives Element einer gesellschaftlichen Mythenbildung geworden – und sie sind bis heute für manche Bestandteil ihrer DDR-Nostalgie geblieben. Aber auch aus rein praktischen Gründen waren sie in einer Zeit des radikalen Übergangs von einem politisch-ökonomischen System in ein völlig anderes, erst noch zu akzeptierendes, auf jeden Fall noch vor der Bewährung stehendes nicht einfach zu eliminieren. Im Schulgesetz von 1996 taucht der Begriff Hort nicht mehr auf.12 Er hatte einen erheblichen Teil seines mythischen Glanzes längst eingebüßt. Horte waren im Übrigen, und das zählte ganz praktisch, als „Bestandteil jeder Grundschule“ zu kostspielig geworden und angesichts der dramatisch zurückgegangenen Geburtenzahlen auch nicht mehr an jedem Grundschulstandort organisierbar, geschweige denn finanzierbar. Die Grundschulen mit „festen Öffnungszeiten“ sollten die wesentlichen Funktionen der Horte übernehmen, nun aber, wenn eingerichtet, mit alle Eltern bindenden Kennzeichen. Das löste den 12 Horte ressortierten inzwischen im Sozialministerium und sind dort, wenngleich nicht ausschließlich, eng mit den Kindertagesstätten verbunden. Sie werden deshalb in diesem Buch nicht mehr behandelt.
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bereits angesprochenen Konflikt aus. Ein solches, über das Angebot von Horten weit hinausgehendes Verfügenwollen über Erziehung und Betreuung von Kindern außerhalb der regulären Unterrichtszeit wurde von vielen abgelehnt und sogar bekämpft. Die von der CDU/FDP-Regierung im Schulgesetz von 2002 verankerte Grundschule mit „verlässlichen Öffnungszeiten“ löste dagegen keinen nennenswerten Protest aus. Sie ist im Gegenteil ganz offensichtlich die angemessene Reaktion auf ein sich von der ideologie-gesteuerten DDR-Vereinnahmungsstrategie zunehmend lösendes Bewusstsein, dass das Elternrecht auch die Pflicht zu Erziehung und Betreuung aus individueller Verantwortung heraus beinhaltet. In ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahl 2006 verzichtete die SPD völlig auf die Verwendung der Begriffe „Hort“ und „Grundschule mit festen Öffnungszeiten“. Im Rahmen ihres grundsätzlichen Ansatzes, „von übereilten Strukturveränderungen an unseren Schulen“ abzusehen, betonte sie die „innere Schulreform“ und formulierte das Ziel, „innerhalb des bestehenden Systems Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Bildungschancen aller Kinder und Jugendlichen erhöhen“. Es blieb aber abzuwarten, inwieweit die SPD im Zuge ihres Begehrens, einen Bildungskonvent einzurichten, und im Kontext ihres Konzepts der Allgemeinbildenden Oberschule (AOS) auf den Ansatz, Schulen mit festen Öffnungszeiten in Anlehnung an die Bestimmungen des §4, Abs.6 des Schulgesetzes von 1996 zu etablieren, zurückkommen würde. Ein heftiger Konflikt mit ihrem gegenwärtigen Koalitionspartner CDU wäre gewiss. Ein weiterer Schlüsselbegriff im § 4 des Schulgesetzes von 1996 war die „Vorklasse“. Sie hatte seit 1991 – der Wortlaut des Gesetzestextes war über die Jahre und die Regierungswechsel hinweg unverändert geblieben! – die Aufgabe, „schulpflichtige, aber noch nicht schulfähige Kinder“ zu „entwickeln“. In den meisten alten Bundesländern war das nicht anders gewesen. Für das Land Sachsen-Anhalt aber wurde die Vorklasse, den angedeuteten Problemen der Horte nicht unähnlich, angesichts der geringen Jahrgangsstärken, die ohnehin schon die sichere Einzügigkeit vieler Grundschulen gefährdeten, über weite Räume nicht mehr organisierbar.
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Es ergab sich dann die glückliche Koinzidenz, dass anderenorts, z. B. im benachbarten Niedersachsen, in die Grundschulstruktur eine Neuerung Einzug hielt, die „Eingangsstufe“, die die beiden ersten Schuljahre umfasste und deren Besuch ein bis drei Schuljahre dauern sollte bzw. durfte. Hier begegneten sich die beiden Förderansätze auf bemerkenswerte Weise: Förderung der stärker und früher Begabten bzw. Leistungsfähigen im Hinblick auf einen zügigeren Durchlauf durch das Bildungswesen (Stichwort: Verkürzung der Schulzeit) und Förderung derjenigen, deren Entwicklungsstand oder Begabung ein bedächtigeres, auf spezifische Förderprogramme zugreifendes pädagogisches Handeln empfahlen. So konnte Sachsen-Anhalt von der Vorklasse Abschied nehmen und gleichzeitig den dort angesiedelten pädagogischen Ansatz in die „Schuleingangsphase“ übernehmen. Der „Lernentwicklung der Schülerin oder des Schülers“ kann jetzt individuell entsprochen werden, ohne dass der finanzielle, sächliche und organisatorische Aufwand für speziell eingerichtete Vorklassen getrieben werden muss. Die so gestaltete Schuleingangsphase scheint allgemeine Zustimmung gefunden zu haben und dürfte der parteipolitischen Auseinandersetzung enthoben sein. Um das Bild der Schullandschaft aufzunehmen: Die Rabatte Grundschule ist gärtnerischer Pflege unterworfen worden, ihre „Schlüssel“-Blumen sind gediehen, nach einigen Irrungen und Wirrungen ist sie wieder der aufgezeigte Verkehrsknotenpunkt, die ihr eingepflanzte Schuleingangsphase dürfte sich als eine Zierpflanze herausstellen. Ob allerdings alle Stauden in Gestalt der Schulstandorte überlebensfähig sein werden, ist die spannende und gleichzeitig alarmierende Frage, wenn es gilt, die finanziellen und personellen Interessen des Landes, der Schulträger und auch der Eltern im Rahmen einer auf Nachhaltigkeit angelegten Schulentwicklungsplanung vor dem Hintergrund demographischer Daten zu bedenken. Dazu werden Überlegungen an anderer Stelle erfolgen. Hier sollen einige wenige Zahlen die Entwicklung seit dem Schuljahr 1991/1992 verdeutlichen: Es gab damals 851 Grundschulen, ausnahmslos in kommunaler Trägerschaft. Die erste private Grundschule begegnet
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uns im Schuljahr 1992/1993. Sie stand am Beginn eines kontinuierlichen Anstiegs, der sich im Schuljahr 2009/2010 in 40 Grundschulen in freier Trägerschaft ausdrückt. Parallel dazu aber ist eine fast schon dramatisch zu nennende gegenläufige Entwicklung zu registrieren: Die Zahl der öffentlichen Grundschulen beträgt nur noch 515. Das Netz ist also für ein Flächenland wie Sachsen-Anhalt bereits überaus großmaschig geworden. b) Das differenzierte Sonderschulwesen
Das DDR-Bildungssystem kannte, wie ich anderenorts ausführte, „kein ausgeprägtes Sonderschulwesen, wie es in der Bundesrepublik existierte“.13 Das hatte einen ideologischen Hintergrund. Das undifferenzierte Ziel einer „allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ und die sich verstärkende „Ausrichtung des Bildungswesens an den Kriterien von Ökonomie und Leistung“14 ließen eine andere, auf die individuellen Bedürfnisse insbesondere der geistig Behinderten ausgerichtete Schulbildung nur eingeschränkt zu. Es folgte eine zunehmende „Ausschulung“ von behinderten Kindern, die wegen ihrer „erheblichen geistigen Behinderung den Anforderungen der Hilfsschule im Hinblick auf die geforderte Aneignung anwendbarer elementarer Kenntnisse ... nicht mehr gerecht werden“ konnten. „Viele geistig Behinderte wurden so in psychiatrische Krankenhäuser oder Pflegeheime eingewiesen bzw. verblieben in Elternhäusern – ohne Bildungschancen“.15 Im Jahre 1989 existierten deshalb in der ganzen DDR lediglich 14 Schulen, die man als Schulen für Geistigbehinderte bezeichnen 13 Markus Weilandt, a.a.O., S. 50 f. . 14 Sieglind Ellger-Rüttgardt, Das Sonderschulwesen, in: Handbuch der deutschen
Bildungsgeschichte, hrsg. von: Christoph Führ und Carl-Ludwig Furck, Bd. 6, München 1998, S.246. 15 W. Decker/Th. Frühauf, Zwischen Verdrängtwerden und Verdrängen, in: Geistige Behinderung 36, 1993, S.1-15.
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könnte. Die Frage nach dem sozialen Charakter der DDR darf an dieser Stelle mindestens gestellt werden. Die Landesregierung unter Ministerpräsident Dr. Gies machte dieser Verdrängung einer beklagenswerten Wirklichkeit ein Ende und stellte sich der Realität und ihren Erfordernissen, indem sie in Sachsen-Anhalt 87 Sonderschulen unterschiedlicher Prägung einrichtete, davon 43 für Geistigbehinderte in der Trägerschaft der Landkreise und drei ebensolche in freier Trägerschaft. Der Begriff „Sonderschulen“ war seinerzeit der übliche und wurde erst im Laufe der 90er Jahre durch „Förderschulen“ ersetzt. In das Schulgesetz fand dieser neue, vermeintlich politisch korrekte Begriff 2002 Eingang. Viel wichtiger als die gelegentlich skurrile Formen annehmende Schlacht um Begriffe war der im Schulreformgesetz von 1991 im § 8 verankerte Inhalt, der das Sonderschulwesen bestimmen sollte: „Es ist das Ziel, auf der Grundlage rehabilitationspädagogischer Einflussnahme eine individuelle, entwicklungswirksame, zukunftsorientierte und liebevolle Förderung der in den Sonderschulen betreuten Kinder zu sichern.“ 16
Diese Passage des §8 ist bis in das Schulgesetz von 2005 hinein unverändert geblieben. Es wird damit bestätigt, welche hohe Wertschätzung dieser klug und umsichtig formulierte Satz von Anfang an genoss, unabhängig von unterschiedlichen Begriffen, die im Grunde identische pädagogische Zielsetzungen beschreiben. Was ursprünglich und auch noch 1998, das möge hier als Beispiel herhalten, als „unterschiedliche Behinderungsarten“ bezeichnet wurde, erhielt in der Fassung von 2005 die Umschreibung „unterschiedliche Förderschwerpunkte“. Wie gesagt, die Sonderschule war zur Förderschule geworden! Eine sich um 1990 verstärkende Tendenz im Sonderschulwesen der alten Bundesländer, die sogenannte integrative Beschulung, fand sofort Eingang in die Schulgesetzgebung Sachsen-Anhalts. Es wurde
16 Schulreformgesetz von 1991, §8 Abs. 5.
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nicht nur zugelassen, dass „Schüler mit unterschiedlichen Behinderungsarten ... gemeinsam unterrichtet“ wurden. 17 Dieser Ansatz wurde vielmehr sogleich auf alle Schulformen ausgedehnt: „Die Sonderschule kann mit den anderen allgemeinbildenden und mit berufsbildenden Schulen zusammenarbeiten. Dies gilt insbesondere für die Unterstützung mit integrativen Beschulungsvarianten.“18
Ihre gesetzgeberische Abrundung erfuhr diese Entwicklung mit einer Schulgesetznovelle im Jahre 2001, als eigens der Absatz 3a in den § 1 SchulG LSA („Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule“) eingefügt wurde. Seine etwas versteckte Position im Schulgesetz entspricht weder seiner (rechts)materiellen noch gar seiner ideellen Bedeutung vor dem Hintergrund des Grundgesetzes, das in seinem ersten Artikel aller staatlichen Gewalt gebietet, die unantastbare Würde des Menschen, also jedes Menschen, zu achten und zu schützen. Dieser Bedeutung wegen sei Absatz 3a hier im vollen Wortlaut zitiert: „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf sollen gemeinsam unterrichtet werden, wenn die Erziehungsberechtigten der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf dies beantragen, die personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten vorhanden sind oder nach Maßgabe der Haushalte geschaffen werden können und mit der gemeinsamen Beschulung und Erziehung dem individuellen Förderbedarf entsprochen werden kann.“ Die zahlreichen Konditionierungen waren in mehrfacher Hinsicht sinnvoll und zielführend. Als wohlfeile Möglichkeit, sich dem grundsätzlichen Gesetzesauftrag zu entziehen, wollte sie niemand verstanden wissen. Aber ihn schnurstracks realisieren zu wollen, verbot sich aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt aus der Sorge heraus, dass zu großer Eifer zu Überforderungen führen und das ganze Vorhaben gefährden könne. 17 Ebenda. 18 Schulgesetz in der Fassung von 1998, § 8 Abs. 6.
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Die Konsequenz dieser Entwicklung sind die „Förderzentren“, die in der selben Logik im Schulgesetz von 2005 unter einem eigenen Paragraphen 8a besonders definiert werden. Es heißt dort: „Förderzentren entstehen durch Kooperationsvereinbarungen zwischen einer Förderschule und anderen allgemein bildenden oder berufsbildenden Schulen. Sie befördern in besonderer Weise die Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf. Förderzentren sind regional und überregional tätig.“19 Zur Arbeit an Förderzentren gibt es eine relativ zeitnahe, die gegenwärtige Situation erhellende Stellungnahme des Kultusministeriums vom 19.03.200920 als Antwort auf eine Kleine Anfrage (KA 5/6774) der Abgeordneten Jutta Fiedler (DIE LINKE). Bereits in der Vorbemerkung wird betont: „Die Weiterentwicklung des gemeinsamen Unterrichts ist ein Schwerpunkt in der Bildungspolitik der Landesregierung.“ Es werden anschließend die Unterschiede „zwischen zielgleichem und zieldifferentem Unterricht“ beschrieben: „Zieldifferenter Unterricht wird für Kinder und Jugendliche mit den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung erteilt.“ Zum zielgleichen gemeinsamen Unterricht wird ausgeführt, er finde statt, „wenn für die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Lehrpläne bzw. Rahmenrichtlinien der allgemeinen Schule Anwendung finden und über Formen des Nachteilsausgleichs sowie der Binnendifferenzierung die Lerntätigkeit unterstützt wird.“ Aus der Logik dieser Definitionen ergibt sich, dass gemeinsamer Unterricht an Gymnasien „ausschließlich als zielgleicher Unterricht gestaltet“ werde, in dem die Rahmenrichtlinien für Gymnasien für alle gelten, z. B. also auch für Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Hören, Sehen, Sprache, körperlich-motorische Entwicklung oder emotional-soziale Entwicklung. 19 Schulgesetz in der Fassung von 2005, §8a Abs.1. 20 Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Jutta Fiedler (DIE LINKE), Drs. 5/1877 vom 19.03.2009.
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Für das Schuljahr 2007/2008 wurden im März 2009 folgende Tabellen für die Schulen mit gemeinsamem Unterricht (GU) und die Zahl der daran teilnehmenden Schülerinnen und Schüler erstellt: Tabelle 1 Schulen mit gemeinsamem Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Schuljahr
Grundschule
Sekundarschule
Gesamtschule
Gymnasien
2007/2008
224 Schulen 761 GU-Schüler davon 212 zieldifferenziert 549 zielgleich
85 Schulen 204 GU-Schüler davon 69 zieldifferenziert 135 zielgleich
5 Schulen 36 GU-Schüler davon 15 zieldifferenziert 21 zielgleich
31 Schulen 54 GU-Schüler 0 zieldifferenziert 54 zielgleich
Tabelle 2 Gemeinsamer Unterricht von Schülerinnen und Schülern sowohl mit als auch ohne sonderpädagogischem Förderbedarf Schuljahr 2007/2008
Öff. Schulen Schulen in freier Trägerschaft gesamt
Gesamtschülerzahl in der sonderpäd. Förderung
GU-Schüler
Vom-Hundert-Satz der Schülerschaft mit sonderpäd. Förderbedarf
13.928
1.055
7,57
382
17
4,45
14.310
1.072
6,97
Quelle: Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Jutta Fiedler (DIE LINKE) vom 19. 03. 2009, S. 2.
Die Anträge zur Teilnahme am gemeinsamen Unterricht sind jeweils von den Erziehungsberechtigten zu stellen und vom Landesverwaltungsamt zu bescheiden. Zum Schuljahr 2007/2008 wurde allen Anträgen entsprochen. Um die Bewertung der Entwicklung des gemeinsamen Unterrichts und um die Einschätzung der Rolle der weiteren Einrichtung von Förderzentren dabei gebeten, führte das Kultusministerium aus: „Seit Einführung des Absatz 3a in § 1 des Schulgesetzes Sachsen-Anhalt im Jahr 2001 ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht Jahr für Jahr deutlich gestiegen. Sichergestellt wurde bisher, dass gemeinsamer Unterricht durch sonderpädagogisch qualifizierte bzw. erfahrene Lehrkräfte begleitet wird. ... Im Schuljahr 2008/09 werden zum Beispiel 88 Lehrkräfte aus
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dem Sekundarschulbereich auf eine sonderpädagogische Lernprozessgestaltung vorbereitet. Im Zusammenhang mit dem Handlungskonzept wird es weitere Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte aus dem Grund- und Förderschulbereich geben. In die regionalen Förderzentren sind gegenwärtig 99 Förderschulen und 210 allgemeine Schulen eingebunden. Wesentliche Schwerpunkte der Arbeit der Förderzentren sind die Qualifizierung der sonderpädagogischen Begleitung im gemeinsamen Unterricht und die präventive Förderung.“
Aus diesem Teil der Antwort sprechen berechtigter Stolz auf das Erreichte und die Zuversicht, den eingeschlagenen Weg erfolgreich fortsetzen zu können. Es folgen dann Erläuterungen sehr spezieller Begleiterscheinungen des gemeinsamen Unterrichts, auf die hier nicht eingegangen werden muss. Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass die Bilanz des gemeinsamen Unterrichts und der kontinuierlichen Errichtung von Förderzentren erfreulich positiv ausfällt. Die Anlehnung an die Strukturen in den alten Bundesländern hat sich bewährt und ist im Grundsatz unverändert geblieben. Die Ausdifferenzierung des Sonderschulwesens gerade in dem Bereich, der über viele Jahre hinweg in der DDR undifferenziert mit dem Etikett „Hilfsschule“ versehen war, hat sogar dazu geführt, dass es im Schuljahr 1991/1992 132 öffentliche und 3 Ersatzschulen gab. Diese beachtenswerte Zahl ist im Laufe der Jahre nur sehr gering reduziert worden. 2005/2006 existierten noch 123 öffentliche und 6 private Förderschulen. Im laufenden Schuljahr 2009/2010 werden 114 öffentliche und 7 private Förderschulen geführt. Das bedeutet: Ganz im Gegensatz zu der Entwicklung bei den übrigen Schulformen des gegliederten Schulwesens, die weiter unten skizziert wird, ist nur ein geringer Rückgang des Förderschulangebots zu verzeichnen. Unabhängig von den parteipolitischen Konstellationen der Landesregierungen hat sich also das Sonderschulwesen als anerkannt, geachtet und stabil erwiesen. Es gestaltet die bildungspolitische Landschaft farbenfroh, seine Schulen gereichen ihr zur Zierde,
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auch wenn sie nicht auf den ersten Blick in der Weise begeistern, wie das z.B. Orchideen zu tun pflegen. Wertvolle Heilpflanzen sind sie allemal. c) Die Sekundarschule als Ausdruck eines modifizierten Zwei-Säulen-Modells
Am 11.01. 2006 veröffentlichte das „Handelsblatt“ einen Artikel mit der Überschrift: „Der Trend geht zum zweigliedrigen Schulsystem“. Gemeint waren Pläne der Hamburger Bildungssenatorin, im Sekundarbereich neben das Gymnasium eine „Stadtteilschule“ zu stellen, also Hauptschule, Realschule und auch Gesamtschule zu einer Schulform zusammenzuführen und das sogenannte Zwei-Säulen-Modell zu implementieren. Das Blatt betonte, dieser Trend zum zweigliedrigen Schulsystem komme „vor allem aus Ostdeutschland“. Sachsen und Thüringen wurden ausdrücklich als Vorbilder erwähnt, über Sachsen-Anhalt hieß es: „Auch Sachsen-Anhalt hat mittlerweile nur noch zwei Schularten.“ Die Redakteurin muss übersehen haben, dass auch Sachsen-Anhalt von Anfang an, abgesehen von den Förderschulen – die leider häufig unberücksichtigt bleiben, so auch bei der Definition des „ZweiSäulen-Modells“ – im Sekundarbereich I neben dem Gymnasium nur noch eine Schulform geführt hat, nämlich die Sekundarschule, allerdings zunächst ausdrücklich mit dem Hauptschulbildungsgang und dem Realschulbildungsgang. Bereits in meiner Diplomarbeit habe ich die Sekundarschule als das „Herzstück des neuen Schulwesens in Sachsen-Anhalt“ bezeichnet.21 Wenn man an das Bild der Schullandschaft denkt, kann man sie auch als die zentrale Rabatte herausstellen, auf die viele (Bildungs) Wege zulaufen oder von der sie ausgehen. In bewusster Absage an das im Partnerland Niedersachsen existierende und bis in die jüngste Vergangenheit von der CDU mehr oder 21 Vgl. : Markus Weilandt, a.a.O. , S.82 f. .
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weniger eifrig und eifernd, aber vielleicht auch nur reflexartig gehegte klassische dreigliedrige Schulsystem ließ sich die Landesregierung Sachsen-Anhalts von der Beobachtung leiten, dass in zahlreichen alten Bundesländern die Quote des Übergangs auf die Hauptschule eine deutlich negative Tendenz aufwies, die in Flächenstaaten mit dünn besiedelten Räumen wie Sachsen-Anhalt die inhaltlich gebotene Zweizügigkeit nicht mehr erwarten ließ, ja nicht einmal die stabile Einzügigkeit. Das „Handelsblatt“ erwähnte außerdem das Saarland als ein westliches Bundesland, das die Hauptschule und die Realschule zur „erweiterten Realschule“ zusammengefasst habe. Unerwähnt bleibt, dass selbst die CDU in NRW in den 90er Jahren für die Errichtung von „differenzierten Mittelschulen“ eintrat und dass in der CSU eine Diskussion zur Zukunft der Hauptschule in Bayern eingesetzt hat, also selbst dort, wo die Hauptschule noch von der stabilsten Übergangsquote getragen wird. Inzwischen hat auch Schleswig-Holstein mit den „Regionalschulen“ Anschluss an diese Entwicklung gefunden. Bremen ist dabei, neben das Gymnasium nur noch eine Schulform zu stellen, die Hauptschule, Realschule und Gesamtschule in sich vereinigt – und das im Konsens aller Fraktionen der Bürgerschaft. In Hamburg vollzieht sich etwas Ähnliches. In Niedersachsen sind schon nach dem Regierungswechsel von 1990 (CDU/FDP > SPD/Grüne bzw. SPD) viele Hauptschulen preisgegeben worden, indem sie mit Realschulen verbunden (als „Hauptund Realschule“) oder in Kooperative Gesamtschulen eingebracht wurden. In diesem Zusammenhang sei an eine Meldung in der FAZ vom 10.12.2009 erinnert: „Niedersachsen vor Schulreform“. Das niedersächsische Kultusministerium plane eine „verstärkte Zusammenarbeit von Haupt- und Realschulen. Vom kommenden Jahr an können Schüler beider Schulformen in allen Fächern außer in Deutsch, Mathematik und Englisch gemeinsam unterrichtet werden. Damit sollen nach rückläufigen Anmeldungen in Hauptschulen auch kleine Schulstandorte bewahrt werden“. Erneut soll die Frage gestellt werden: Wer kopiert wen? Bereits 1996 erschien in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein Artikel mit der Überschrift „Die Hauptschule. Ein Nachruf“. Ihm war
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eine Karikatur zugeordnet, die die Hauptschule als Sarg darstellte. Ich führte dazu im Nachwort zu meiner Diplomarbeit aus: „Um im Bilde dieser Karikatur zu bleiben: mit der Entscheidung gegen die Hauptschule u.a. in Sachsen-Anhalt ist für diese Schulform ein Sargnagel geschmiedet worden, der dazu benutzt wurde, den Sargdeckel zu schließen. Jedenfalls waren die Bildungspolitiker Sachsen-Anhalts offenbar gut beraten, die Lebensfähigkeit der Hauptschule von Anfang an in Zweifel zu ziehen, zumal frühzeitig erkannt worden war, dass nicht zuletzt wegen der spezifischen DDR-Tradition die Dreigliedrigkeit keine Akzeptanz finden würde. Vor dem Hintergrund der sich 1991 bereits abzeichnenden, in der Zwischenzeit Gewissheit gewordenen dramatischen Rückläufigkeit ihrer Schülerzahlen wären eigenständige Hauptschulen, 1991 eingerichtet, wie sich heute erweist, eine grandiose Fehlinvestition geworden, denn inzwischen sind in größerer Zahl kleine Sekundarschulen mit einzügigen Hauptschul- und Realschulzweigen vor die Existenzfrage gestellt.“22
Der vom „Handelsblatt“ ausgemachte Trend ist also keine neue Erscheinung, sondern ein älteres Phänomen, das nun schärfere Konturen aufweist. Die terminologische Unsicherheit, mit der Ministerpräsident Dr. Gies neben der Einführung des achtjährigen Gymnasiums die „Schaffung einer differenzierten allgemeinbildenden Oberschule“ in Aussicht stellte, ändert an der langfristigen Qualität der Entscheidung nichts. Im Schulreformgesetz von 1991 begegnen wir dann bereits der „Sekundarschule“ als einer eigenständigen und präzise definierten Schulform. Bei grundsätzlicher Absage an die Gesamtschule und vor dem Hintergrund der Einheitsschule POS wäre es verhängnisvoll gewesen, die Hauptschule neben der Realschule noch als eigenständige Schulform zu führen und gegebenenfalls getrennte Schulstandorte auszuweisen. Die bildungspolitische Fundamentalentscheidung Sachsen-Anhalts zugunsten der Sekundarschule von 1990/1991 war vermutlich die weiseste und weitsichtigste aller Weichenstellungen. 22 Markus Weilandt, a.a.O. , S.99 f.
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Diese positive Einschätzung wird nicht dadurch geschmälert, dass 1991 in die Sekundarschule mit den zwei separaten Bildungsgängen ab Schuljahrgang 7 für die Schuljahrgänge 5 und 6 eine gemeinsame Förderstufe eingebettet wurde, die alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule zu durchlaufen hatten. Das war durchaus eine Anlehnung an die niedersächsische Orientierungsstufe, die die Schuljahrgänge 5 und 6 von den weiterführenden Schulen des gegliederten Schulwesens trennte. Aber mehr als eine Anlehnung war es zunächst nicht, denn die Gymnasien führten, anders als in Niedersachsen, in Sachsen-Anhalt die Jahrgänge 5 und 6 selbst. Gleichwohl: Der Ansatz zum radikalen Umbau des Systems war eingebaut und wurde mit dem Regierungswechsel 1994 von der SPD weidlich genutzt, wie noch zu zeigen sein wird. 1991 wurde mit dem Klammerzusatz „differenzierende Förderstufe“ und mit der Bestimmung, dass der Unterricht „in einzelnen Fächern ...leistungsdifferenziert und klassenübergreifend geführt“ werden könne, auch faktisch dem Eindruck entgegengetreten, es handele sich um eine Fortsetzung der Grundschulpädagogik in anderer Kulisse.23 Diese Absicht wurde mit dem Schulgesetz vom 11.03.1993 zusätzlich betont, als aus der Kann-Vorschrift eine Soll-Vorschrift wurde. Wie bei der Grundschule, die eine Empfehlung im Hinblick auf Sekundarschule oder Gymnasium zu geben hatte (s.o.), wurde für die Förderstufe der Sekundarschule festgelegt, dass eine Empfehlung auszusprechen war „für die Entscheidung bei der Wahl des Bildungsganges nach dem 6. Schuljahrgang (Hauptschulbildungsgang, Realschulbildungsgang und Gymnasium)“. Das war bildungspolitisches Neuland: Gemeinsam mit den schon aus der Grundschule auf das Gymnasium wechselnden Schülerinnen und Schülern konnten Absolventen der Förderstufe ihre Schullaufbahn nahtlos im Gymnasium fortsetzen, entweder inspiriert durch die Empfehlung oder auch auf Grund einer von der Empfehlung abweichenden Entscheidung der Erziehungsberechtigten, denn auch an dieser Stelle hatte der Elternwille Vorrang. Aber das war nicht mehr 23 Schulreformgesetz vom 24. Mai 1991, §5 Abs. 2.
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so unkonditioniert der Fall, wie es auf den ersten Blick aussah. War im Schulreformgesetz von 1991 im § 34 eine Aufnahme in die „Schulen der Sekundarstufe II“ davon abhängig gemacht worden, „dass der Schüler einen bestimmten Abschluss oder berufliche Erfahrungen nachweist“, wurde im Schulgesetz von 1993 der Sekundarbereich I mit erfasst, indem die Aufnahme in eine seiner Schulen von einer „entsprechenden Leistungsfeststellung abhängig gemacht werden“ konnte (!).24 Diese Kann-Bestimmung sollte erkennbar der Einstieg in eine stärkere Kontrolle der Schülerströme sein, die sich immer noch sehr breit in das Gymnasium ergossen. Die CDU hat dann aber davon keinen konkreten Gebrauch mehr machen können. Für diejenigen, die nicht auf das Gymnasium wechselten, hieß es dann im Absatz 3 einigermaßen apodiktisch: „Ab dem 7. Schuljahrgang besuchen die Schüler in der Sekundarschule einen Hauptschulbildungsgang oder einen Realschulbildungsgang“. Es konnte also kein Zweifel aufkommen: In der Sekundarschule waren zwei eigenständige, sich grundsätzlich unterscheidende Bildungsgänge zu führen. Im Gesetz wurde auch festgelegt, dass die jeweiligen Abschlüsse „in einem Kolloquium festgestellt“ würden. Was das Kolloquium zu beinhalten habe, blieb offen. Beachtenswert ist auch, dass „bei Vorliegen besonderer Leistungen ... Schüler die Berechtigung zum Eintritt in die Klasse 11 (!) des Gymnasiums“ erwerben konnten, unabhängig von dem Bildungsgang, in dem sie unterrichtet worden waren. Dieser Logik entsprach auch eine Bestimmung, die im § 34 Abs. 3 dem Prinzip der Durchlässigkeit im nach Schulformen und Bildungsgängen gegliederten Schulwesen auf explizite Weise Rechnung trug: „Ein Schüler kann in der Sekundarstufe I von einem Bildungsgang in einen anderen wechseln, wenn dort von ihm eine erfolgreiche Mitarbeit erwartet werden kann“. Das bedeutete also die Möglichkeit des jederzeitigen Wechsels von der Sekundarschule zum Gymnasium, aber auch von einem Bildungsgang zum anderen innerhalb der Sekundarschule. Der häufig artikulierte Vor24 Schulgesetz vom 11. März 1993, §34 Abs. 2.
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wurf, das gegliederte Schulwesen führe zu einer (zu) frühen Selektion und Separation und leite in Sackgassen hinein – hier wird er auf kaum noch zu überbietende Weise widerlegt, sofern der gute Wille vorliegt, die einschlägigen Bestimmungen beim Wort zu nehmen. Ausdruck der besonderen Aufmerksamkeit, die das Prinzip der Durchlässigkeit seit der Aussprache über die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Gies im November 1990 bis in unsere Tage erfahren hat, sind die zahlreichen Verordnungen, die die „Übergänge zwischen den Schulformen in der Sekundarstufe I“ regeln. Eine spezielle sei hier, ohne dass Einzelheiten vorgestellt werden, wegen ihrer exemplarischen Aussagekraft im Hinblick auf Durchlässigkeit genannt. Es handelt sich um die „Verordnung über den Übergang vom Schuljahrgang 9 des Sekundarschulbildungsganges oder des Sekundarschulzweiges in den auf den Erwerb des Realschulabschlusses bezogenen Schuljahrgang 10“ vom 18. Dezember 2003, also aus der Regierungszeit der CDU/FDP-Koalition. Der gewundene Text barg einen einfachen politischen Zweck: Allen Interessierten sollte rechtzeitig aufgezeigt werden, nach welchen Regeln von den Schülerinnen und Schülern der Sekundarschule bzw. des Sekundarschulzweigs an Gesamtschulen der Realschulabschluss erworben werden konnte, der wiederum die Fortsetzung des Bildungswegs in der gymnasialen Oberschule eröffnete. Diese zentrale Intention brachte der Verordnungstext wie folgt zum Ausdruck: „Die Schülerinnen und Schüler sowie deren Erziehungsberechtigte sind unter Berücksichtigung der individuellen Leistungsstände und Lernvoraussetzungen hinsichtlich der Entscheidung, die Ausbildung in der allgemein bildenden Schule fortzuführen oder nach Erfüllung der Vollzeitschulpflicht in das berufsbildende Schulwesen zu wechseln, langfristig zu beraten. Bei Kursumstufungen ist ein individueller Förderplan zu erstellen“. Wie gesagt, das ist nur ein Beispiel! Inzwischen hat sich die Sekundarschule nach zahlreichen Eingriffen und Umbaumaßnahmen mit ihrer inneren Struktur gleichermaßen bewährt und verändert. Die Entwicklung, die diese Bilanz rechtfertigt, soll hier nachgezeichnet werden. Die SPD hat in ihrer Regierungszeit in die Struktur des Sekundarbereichs I nur scheinbar geringfügig, in Wirklichkeit ganz erheblich
42 Genese − Entwicklung − Perspektiven
eingegriffen. Die Förderstufe wurde aus der Sekundarschule herausgelöst und mit den Schuljahrgängen 5 und 6 für alle Schülerinnen und Schüler der entsprechenden Altersgruppen verbindlich. Das Gymnasium verlor seine beiden Eingangsjahrgänge mit Konsequenzen, die weiter unten behandelt werden sollen. Das signalisierte den deutlichen Versuch, möglichst spät zur äußeren Differenzierung, zu der von Dr. Bergner schon 1990 so bezeichneten „Aufgliederung“ (s.o.), zu schreiten. Die niedersächsische Orientierungsstufe ließ nun wirklich grüßen, auch in ihrer ursprünglichen Funktion, einen Meilenstein zu einem integrierten Schulsystem zu bilden. Während z.B. Brandenburg, wie Berlin, die Schuljahrgänge 5 und 6 von Anfang an der Grundschule zuschlug, um die Zeit des „gemeinsamen Lernens“, wie es häufig so mildtätig heißt, zu verlängern, lieferte Niedersachsen, das Partnerland Sachsen-Anhalts, mit der dort seit den siebziger Jahren etablierten, allerdings auch heftig umstrittenen integrierten Orientierungsstufe eine scheinbar bewährte Organisationsform, die den Weg zu einem insgesamt integrierten Schulwesen mindestens offen hielt, wenn nicht überhaupt eröffnete. Die Anlehnung an Niedersachsen erklärt sich zu einem erheblichen Teil auch aus der Tatsache, dass dort zum einen die SPD die Bildungspolitik bestimmte und zum anderen ein nicht gering zu bewertender personeller Faktor zunehmend Einfluss gewann: Von dort kamen Impulse durch Personal, das nach Sachsen-Anhalt gewechselt war oder nun wechselte, vom neuen Staatssekretär bis hin zu den Ebenen der Referatsleiter und der Referenten. Der Begriff Orientierungsstufe, in Niedersachsen vertraut und umstritten zugleich, wurde, taktisch geschickt, durch Weiterverwendung des bereits bekannten Begriffs „Förderstufe“ vermieden. Inhaltlich aber wurde diese neue Förderstufe nun trotz ihres unveränderten Etiketts zur Orientierungsstufe Sachsen-Anhalts. Die Gymnasien verloren, wie bereits erwähnt, die Schuljahrgänge 5 und 6, die Sekundarschule war nur das Dach, unter dem die Förderstufe ein weitgehend eigenständiges Dasein führte.
Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen 43
Für diese Einschätzung sprechen letzten Endes eindeutige, in ihrer Zielsetzung nicht zu verkennende Festlegungen im Schulgesetz von 1996, das die bereits 1994/1995 eingeleiteten Veränderungen gesetzestechnisch zusammenfasste. So heißt es dort (§ 5, Abs. 2) u. a.: „Die Förderstufe führt den für alle Schülerinnen und Schüler gemeinsamen Bildungsgang der Primarstufe fort“. Diese an sich schon eindeutige Aussage wurde verstärkt durch den folgenden Satz (§ 5, Abs. 3): „In der Förderstufe werden die Klassenverbände der Grundschule fortgeführt“.25 Die eingeräumten Ausnahmen können hier vernachlässigt werden, die Dominanz des zitierten Satzes blieb erhalten. Das „gemeinsame Lernen“ bis zum Schuljahrgang 6 war etabliert. Die von der CDU aus ihrer Präferenz für das gegliederte Schulwesen heraus betonte Trennung von Hauptschul- und Realschulbildungsgang im Rahmen der Sekundarschule war der SPD von Anfang an nicht genehm, sie widersprach ihrem Idealbild eines integrierten Schulwesens. Eine direkte Kampfansage an das gegliederte Schulwesen mit seinem weithin akzeptierten Aktivposten, dem Gymnasium, dessen Besuch aus der Sicht vieler höheres Ansehen und bessere berufliche Perspektiven versprach, erschien der SPD nicht opportun, weder in Sachsen-Anhalt noch anderenorts. Wenigstens noch nicht. Die bildungsgangspezifische Separation in der Sekundarschule, Ausdruck des gegliederten Schulwesens, bot sich als wohlfeiler Ersatz an, der angestrebten Integration in einem zweiten Schritt näher zu kommen. Das war schon deshalb eine naheliegende, nicht völlig von der Hand zu weisende Kalkulation, weil der Hauptschulbildungsgang im Zuge der rückläufigen Schülerzahlen an zahlreichen Sekundarschulstandorten nur noch mühsam organisiert und finanziell-personell verantwortet werden konnte. Mit der Schulgesetznovelle von 1998 erfolgte dann der entscheidende Eingriff in die Struktur der Sekundarschule. Dabei gab es gesetzes25 Schulgesetz vom 27. August 1996.
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technisch ein Kuriosum: Die Absätze 4 – 6 des § 5 (Sekundarschule) sind in zwei Fassungen verabschiedet worden. Die am 31.07.1999 auslaufende arbeitete noch mit den Begriffen Hauptschul- und Realschulbildungsgang, in der am 01.08.1999 in Kraft tretenden, kursiv gedruckten waren diese CDU-Spezifika eliminiert. Man hatte sie sozusagen im Orkus der Bildungsgeschichte Sachsen-Anhalts entsorgen wollen. Verwendung fanden nur noch die Begriffe Sekundarschule und Sekundarschulbildungsgang. Der Absatz 4 des § 5 enthielt in seiner ab 01.07.1999 geltenden Fassung die fundamentalen Festlegungen und Zielsetzungen: „Im 7. bis 10. Schuljahrgang der Sekundarschule wird eine allgemeine und berufsorientierende Bildung vermittelt. Die Schülerinnen und Schüler, die ab dem 7. Schuljahrgang die Sekundarschule besuchen, werden mit dem Ziel unterrichtet, mit dem Abschluss des 10. Schuljahrganges einen mittleren Schulabschluss zu erwerben. Der Unterricht der Schülerinnen und Schüler erfolgt im Klassenverband und in nach Leistungen, Interessen und Neigungen differenziertem Unterricht, so dass die Herausbildung eines individuellen, der Lernentwicklung entsprechenden Leistungsprofils ermöglicht wird.“26
Die zunächst in Absatz 4 undifferenzierte Verwendung des Terminus „mittlerer Schulabschluss“ wird im Absatz 5 etwas aufgefächert, aber der Wortlaut bleibt vage. § 35 („Regelung des Bildungsweges“) ermächtigt zwar die oberste Schulbehörde, durch Verordnung u.a. „Abschlüsse und ihre Berechtigung“ zu regeln. Dennoch bleibt kritisch anzumerken, dass das Gesetz hinsichtlich der Abschlüsse die Transparenz vermissen ließ, die noch das Schulgesetz von 1993 auszeichnete, zumal KMK-Vereinbarungen zu den Abschlüssen im Sekundarbereich I sehr detailliert formuliert worden waren. Immerhin bleibt festzuhalten, dass die Arbeit in der Sekundarschule nicht mehr von ihren unterschiedlichen Bildungsgängen her be26 Schulgesetz in der Fassung vom 21. Januar 1998.
Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen 45
stimmt war, sondern von den Abschlüssen abgeleitet werden musste. Das war die entscheidende Neuerung für die Substanz der Sekundarschule. Über die Folgen der Herausnahme, um ein mildes Wort zu gebrauchen, der Schuljahrgänge 5 und 6 aus dem Gymnasium wird im folgenden Abschnitt nachgedacht. An dieser Stelle kommt man zunächst an einer Zwischenbilanz nicht vorbei: Neben das Gymnasium wurde im Sekundarbereich I unter Verzicht auf die Spezifizierung nach Bildungsgängen die Sekundarschule gestellt. Das Zwei-Säulen-Modell war faktisch lupenrein realisiert, die in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen 1994 ziemlich kategorisch zum Ausdruck gebrachte Absicht, die „Trennung zwischen Realschul- und Hauptschulklassen“ aufzuheben, war verwirklicht. Seit der Regierungsübernahme durch die CDU/FDP-Koalition im Jahre 2002 ist die Maßnahme der SPD, eine Förderstufe für alle Schülerinnen und Schüler der Schuljahrgänge 5 und 6 verbindlich zu führen, aufgehoben worden. Zwar erfolgt in den Schuljahrgängen 5 und 6 der Sekundarschule keine äußere Differenzierung, aber das Schulgesetz von 2003 erteilt klare Aufträge (§ 5, Abs. 2): Die Schülerinnen und Schüler sind „in die Lernschwerpunkte, Lernanforderungen und Arbeitsmethoden der Schuljahrgänge 7 – 10“ einzuführen. Am Ende des 6. Schuljahrgangs ist eine „Einstufung in die abschlussbezogenen Klassen oder Kurse“ vorzunehmen, die „von der Erfüllung bestimmter Leistungsvoraussetzungen abhängig“ sein muss. Zunächst fällt auf, dass der Gedanke der Abschlussbezogenheit für die Arbeit, also im wesentlichen den Unterricht in den Schuljahrgängen 7–10 fortgeführt wird. Bildungsgangspezifische Ausführungen fehlen, die einstigen Ordnungselemente Hauptschulbildungsgang und Realschulbildungsgang sind nicht mehr expressis verbis im Gesetz verankert. Über die Gründe wird in einem anderen Abschnitt dieser Publikation nachgedacht.
46 Genese − Entwicklung − Perspektiven
Im Absatz 3 des § 5 heißt es lapidar: „Ab dem 7. Schuljahrgang beginnt eine auf Abschlüsse bezogene Differenzierung“. Dann folgen in den Absätzen 4 und 5 Einzelheiten zum Erwerb des Hauptschul- bzw. des Realschulabschlusses. Erst die genaue Lektüre der Absätze 3 – 5 führt zum Verständnis des Begriffs „Einstufung“, der im Absatz 2 ziemlich unvermittelt auftaucht. Die Einstufung ist als eine Pflichtaufgabe der Lehrkräfte am Ende des 6. Schuljahrgangs definiert, sie ist abhängig „von der Erfüllung bestimmter Leistungsvoraussetzungen“. Der Gesetzgeber hat sich nicht gescheut, in dem Zusammenhang einen Satz in das Gesetz zu schreiben, den man sonst allenfalls in Verordnungen, häufig lediglich in Erlassen findet: „In den Fächern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache wird im 6. Schuljahrgang jeweils eine Klassenarbeit mit zentral gestellten Aufgaben geschrieben“. Dahinter dürften zwei Überlegungen stecken: Zum einen sollte zum Ausdruck kommen, dass dem Qualitätsanspruch, auch und gerade im Kontext der internationalen Vergleichsstudien, von Gesetzes wegen im Unterricht zu entsprechen sei. Zum anderen wurde an dieser Stelle des Gesetzes die Bedeutung der „Einstufung“ besonders unterstrichen. Wenn es denn, aus welchen Gründen auch immer, keine separaten Bildungsgänge mehr gab, sollte doch das Ordnungselement der „Differenzierung“ besonders gewürdigt werden. Dem dient ganz gewiss auch ein weiterer Schlüsselbegriff des § 5, nämlich „Umstufung“, der uns im Absatz 6 begegnet: „Über Umstufungen zwischen Klassen und oder Kursen entscheidet die Klassenkonferenz auf der Grundlage der gezeigten Leistungen und der voraussichtlichen Leistungsentwicklung“. Wo umgestuft wird, noch dazu in der herausgehobenen Weise, da wird, das ist die Botschaft, von unterschiedlichen Niveaus, Zielen und zu erwerbenden Berechtigungen ausgegangen. Die unterschiedlichen Bildungsgänge werden, so muss geschlossen werden, ständig mitgedacht, sie bestimmen auf unausgesprochene Weise Qualität und Umfang des Unterrichts – nur treten sie nicht mehr direkt in Erscheinung. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff der Hauptschule inzwischen, ganz und gar unverdient, negativ besetzt, nachgerade in Verruf geraten ist, wird man die im § 5 gefundene Lösung einer De-
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finition und Ordnung der Sekundarschule als des Ortes, wo Hauptschul- und Realschulinhalte differenziert zur Geltung kommen sollen, als ein Meisterstück gesetzgeberischer Arbeit einschätzen dürfen. Es ist nur konsequent, dass §5 Abs. 8 weiterhin die Zweizügigkeit vorschreibt, allerdings mit der Maßgabe, dass die Schulbehörde Ausnahmen zulassen kann. Die Bedeutung dieser Festlegung für die Sekundarschulstandorte kann angesichts der demographischen Entwicklung und der bildungsgeographischen Umstände, die sich im modernen Begriff des Schulnetzes niederschlagen, gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Der qualitative Aspekt, der im § 5 Abs. 8 durchscheint, wirkt sich in quantitativer Hinsicht aus: Es können nicht mehr Kleinststandorte in größerer Zahl fortexistieren. Deshalb ist auch das Sekundarschulnetz außerordentlich großmaschig geworden. Hatte es 1991/1992 noch 604 – und zwar ausschließlich öffentliche – Sekundarschulen gegeben, beträgt die Zahl im Schuljahr 2009/2010 nur noch 165, also weniger als ein Drittel! Dieser Rückgang wird nicht einmal ansatzweise dadurch gemildert, dass seit dem Schuljahr 2000/2001 schrittweise private Sekundarschulen die Schullandschaft bereichern. Ihre Zahl beläuft sich inzwischen immerhin auf 14, sie hat aber stärker eine qualitative als eine quantitative Bedeutung. Von Interesse sind auf jeden Fall die Zahlen, die für den abschlussbezogenen Unterricht in den Sekundarschulen ermittelt worden sind. Im Schuljahr 2005/2006 betrug der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit einer Zuordnung zum hauptschulabschlussbezogenen Unterricht 34,4%. Außerdem waren 22,6% in „kombinierten Klassen“ organisiert, mit einer steigenden Tendenz als Resultat des generellen Schülerrückgangs im Sekundarbereich. In einer Pressemitteilung des Kultusministeriums vom 22.08.2005 heißt es dazu wörtlich: „In den kombinierten Klassen findet ab einer Anzahl von 10 Schülerinnen und Schülern eine äußere Differenzierung in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch sowie ab Schuljahrgang 9 zusätzlich in Physik statt. In noch kleineren Lerngruppen wird durch Binnendifferenzierung dem Anspruch auf Realschul- bzw. Hauptschulniveau Rechnung getragen.“
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Der dadurch ausgelöste hohe Lehrerstundenaufwand soll hier nur angedeutet werden! Über Notwendigkeit, Funktion und Perspektiven dieser „kombinierten Klassen“ wird unter dem Aspekt der Schulentwicklungsplanung in dem einschlägigen Abschnitt im einzelnen ausgeführt. Für das Schuljahr 2008/2009 soll der abschlussbezogene Unterricht an den Sekundarschulen des Landes spezifiziert dargestellt werden. Es lassen sich dann Erkenntnisse ableiten, die es gestatten, auf Tendenzen zu schließen, die von allgemeiner Bedeutung für notwendig werdende Veränderungen der Schullandschaft sein können. Die folgenden Tabellen scheinen dafür geeignet zu sein: Tabelle 3 Schuljahr 2008/2009, Klassenbildung in Sekundarschulen in kombinierten Klassen RS-bezogen HS-bezogen Schul- Schüler in in jahr- realschul- Prozent gang abschlussbezogenen Klassen 7. 8.
Zahl der Schüler in in hauptschul- Prozent Schüler abschlussbezogenen Klassen
in Zahl der in Prozent Schüler Prozent Gesamtschülerzahl
2.362 2.881
71,3 71,6
951 1.145
28,7 28,4
2.600 2.146
74,8 76,0
878 677
25,2 24,0
9.
4.070
72,1
1.573
27,9
1.574
77,6
455
22,4
10.
6.956
6.791 6.849 7.672 6.956
Tabelle 4 Schuljahr 2008/2009, Sekundarschulen/Klassenfrequenz Realschulabschlussbezogen
Hauptschulabschlussbezogen
Kombi-Klassen
Schüler Klassen Kl. Schüler Klassen Kl. Schul- Schüler Klassen Kl. Frequenz Frequenz Frequenz jahrgang 7. 2.362 117 20,2 951 69 13,8 3.478 182 19,1 8.
2.881
143
20,1
1.145
83
13,8
2.823
148
19,1
9.
4.070
201
20,2
1.573
110
14,3
2.029
104
19,5
10.
6.956
350
19,9
Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen 49
Tabelle 5 Anteil der Schüler in kombinierten Klassen an der Gesamtschülerzahl der Sekundarschulen Schuljahrgang
Gesamtschülerzahl
In kombinierten Klassen
In %
7
6791
3478
51,2
8
6849
2823
41,2
9
7672
2029
26,4
Quelle: Statistisches Landesamt, Schuljahresendstatistik 2008/2009.
Die Tabellen geben sehr beredt Auskunft über die aktuelle Situation der Sekundarschulen des Landes Sachsen-Anhalt. Einige Erkenntnisse drängen sich geradezu auf. Die wichtigsten werden hier, ohne dass ihre Reihenfolge eine Wertung ausspricht, nacheinander genannt: 1. Die Schuljahrgänge 7–10 zeichnen sich durch eine ungewöhnlich günstige Klassenfrequenz aus. Für den hauptschulabschlussbezogenen Bildungsgang gilt das besonders ( ca. 14 Schüler pro Klasse). Zu bedenken ist außerdem, dass in kombinierten Klassen noch die äußere Differenzierung in den Kernfächern gemäß der zitierten Pressemitteilung erfolgt und zusätzlich eine erhebliche Zahl von Lehrerstunden bindet. 2. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in realschulabschlussbezogenen Klassen unterrichtet werden, ist mit ca. 72% sehr hoch. 3. Dieser Anteil liegt in den kombinierten Klassen noch um einige Prozentpunkte höher und senkt den Anteil der „Hauptschüler“ auf nur noch ca. 25%. Angesichts einer Quote von 40–45% der Schüler eines Jahrgangs, die das Gymnasium besuchen, bedeutet dies, dass nur noch etwa 13% eines Jahrgangs die Sekundarschule mit dem Hauptschulabschluss verlassen. 4. Die Gesamtschülerzahl der Sekundarschulen geht kontinuierlich zurück. 5. Die Zahl der kombinierten Klassen nimmt folgerichtig – fast dramatisch – zu, weil es an immer mehr Standorten nicht mehr möglich ist, eigenständige abschlussbezogene Klassen für beide Bildungsgänge im Rahmen der Vorgaben des Klassenbildungserlasses zu organisieren.
50 Genese − Entwicklung − Perspektiven
6. Das schließt ein, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler mit kombinierten Klassen vorlieb nehmen müssen, verstärkt durch den insgesamt geringen Anteil von „Hauptschülern“. 7. Die Bindung von Lehrerstunden durch kleine und kleinste Lerngruppen wird zunehmen. Es ergibt sich eine überaus spannende, einige Sprengkraft mit sich führende Frage: Werden sich diese finanz- und personalaufwendigen Strukturen, denen isoliert betrachtet ihr planerischer Reiz und ihr pädagogischer Sinn, vor allem angesichts der demographischen und verkehrsinfrastrukturellen Umstände, gar nicht abgesprochen werden soll, mittel- und langfristig durchhalten lassen? Anders gefragt: Wird die Sekundarschule im Zwei-Säulen-Modell eine Organisation erhalten müssen, durch die sowohl die Bildungsgänge als auch die Abschlüsse in Abgrenzung zum Gymnasium neu zu definieren sein werden? Diese Frage stellen, heißt aber noch lange nicht, eine Antwort parat zu haben. Vor dem Hintergrund des Angebots unterschiedlicher Abschlüsse am Ende des Sekundarbereichs I in Abhängigkeit von Bildungsgängen und Leistungsprofilen ist es vorerst eminent wichtig, dass ein „Wechsel der Bildungsgänge in der Sekundarstufe I“ im Schulgesetz (§ 34, Abs. 3), wie bereits bei der Betrachtung des Begriffs „Umstufung“ zu erkennen war, ausdrücklich verankert ist und folglich etwas darstellt, was einem Regelfall nahe kommt und nicht nur Ausnahmecharakter haben soll. Dass dieser Wechsel „von der Erfüllung bestimmter Leistungsvoraussetzungen abhängig gemacht“ wird, ist im Grunde nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit. Denn gemeint ist nicht nur ein Wechsel innerhalb der Sekundarschule, sondern auch zwischen Sekundarschule und Gymnasium – in beide Richtungen, versteht sich. Dem Vorwurf, die einmal eingeschlagenen Bildungsgänge des gegliederten Schulwesens könnten sich als Sackgassen erweisen und in einem Irrgarten enden, wird damit erneut der Boden entzogen. Das kommt auch dadurch zur Geltung, dass es im Schulgesetz heißt: „Die
Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen 51
Schule ist verpflichtet, Schülerinnen und Schüler nach einem Wechsel des Bildungsganges besonders zu fördern“. 27 d) Das Gymnasium als zweite Säule
In der DDR besuchten mit Ausnahme der wenigen Schülerinnen und Schüler, die sich in Sonderschulen befanden, praktisch alle eine „Oberschule“, denn die Einheitsschule hieß Polytechnische Oberschule (POS) und umfasste die Schuljahrgänge 1–10. Etikettenschwindel war ja ein Markenzeichen des (bildungs-)politischen Systems! In den alten Bundesländern hatte sich umgangssprachlich „Oberschule“ als Synonym für das Gymnasium durchgesetzt. Was lag also näher, als dass diejenigen, die bisher eine Oberschule als die Regelschule kennengelernt hatten, fast zwangsläufig für ihre Kinder eine Oberschule wollten – also das Gymnasium! Das erklärt zu einem guten Teil die Selbstverständlichkeit, mit der diese Schulform in den neuen Bundesländern eingeführt und von den Eltern angenommen wurde, häufig in Unkenntnis dessen, was das Gymnasium, das wie keine andere Schulform von seinem Abschluss, dem Abitur im Sinne der allgemeinen Hochschulreife, her bestimmt wird, an Anforderungen stellen werde. Das Gymnasium war als einzuführende und von den (eigenen) Kindern zu besuchende Schulform also eine Art Muss, eine conditio sine qua non. Deshalb dürfen wir uns nicht wundern, dass MP Dr. Gies in seiner Regierungserklärung die „Errichtung eines 8-jährigen Gymnasiums von der 5. bis zur 12. Jahrgangsstufe“ ankündigte und erst danach, fast mit dem Ansatz einer Entschuldigung, die terminologisch fragwürdige „differenzierte allgemeinbildende Oberstufe“ – irgendetwas mit „Ober“ sollte es schon sein!
27 Schulgesetz in der Fassung vom 01. August 2005, §34 Abs. 3.
52 Genese − Entwicklung − Perspektiven
Jedenfalls war das Gymnasium in den Rang des ganz Normalen, des Selbstverständlichen gehoben, frei von dem anderenorts durchaus noch gepflegten Ruf und auch Vorwurf des Besonderen, des Privilegierenden, des Elitären gar. Das hatte unmittelbare Folgen. Wir dürfen uns deshalb auch nicht wundern, dass 142 Gymnasien errichtet wurden. In dem Flächenland Sachsen-Anhalt war diese außergewöhnlich hohe Zahl nicht nur mit dem Ziel der Wohnortnähe (zum Teil aus Rücksicht auf die vielerorts noch unzulängliche Verkehrsinfrastruktur), sondern eben auch mit dem im Vergleich zu ähnlich strukturierten westlichen Bundesländern besonders hohen Zuspruch zu dieser Schulform zu erklären. Die Übergangsquote betrug auf den 5. Schuljahrgang bezogen annähernd 35%. Das war damals bereits ein Wert, der deutlich über dem Durchschnittswert der alten Bundesländer lag, die mit hohen Quoten aufwartenden Stadtstaaten eingeschlossen. Diesen Vorsprung hat Sachsen-Anhalt seitdem nicht nur gehalten, sondern kontinuierlich ausgebaut. Im Schuljahr 2004/2005 betrug die Quote 42,7%. Bei insgesamt rückläufigen Schülerzahlen ist der Anteil der am Gymnasium angemeldeten Schülerinnen und Schüler sogar noch gesteigert worden auf 45,3% im Schuljahr 2008/2009.28 Die sich zuspitzende Standortproblematik ist also nicht auf eine sinkende Quote zurückzuführen, sondern hat die allgemein bekannten demographischen Ursachen. Im Schulreformgesetz von 1991 wurde das Gymnasium als eine Schulform für „Schüler des 5. –12. Schuljahrganges“ definiert. Das bedeutete im Regelfall das Abitur nach 12 Schuljahren zum einen in Anknüpfung an die Praxis der DDR (10 Jahre POS, 2 Jahre EOS), zum anderen in Anlehnung an die sich verstärkende Diskussion in den alten Bundesländern, die Bildungs- und Ausbildungszeiten zu verkürzen und europäischen Standards anzugleichen. Das war ein ebenso konsequenter wie mutiger Schritt, der im Grundsatz im Widerspruch zum grundlegenden Hamburger Ab28 Vgl. Anhang.
Das gegliederte allgemeinbildende Schulwesen 53
kommen der KMK aus dem Jahre 1964 stand, von dessen Bindungswirkung die neuen Bundesländer nur für eine Übergangszeit (zunächst bis 1996, dann aber 1994 verlängert bis 2000) dispensiert sein sollten. Dieser mutige Schritt der von der CDU regierten neuen Bundesländer verstärkte die bereits geführte Diskussion um die Frage, ob die Gymnasiallaufbahn auf acht oder neun Jahre angelegt sein sollte. Die Finanzminister schlugen sich unisono sehr bald auf die Seite der neuen Bundesländer, sie ließen sich allerdings ausschließlich von finanzpolitischen Erwägungen leiten. In Sachsen-Anhalt selbst kam die Entscheidung für das Abitur nach 12 Schuljahren in Gefahr, als mit dem Regierungswechsel von 1994 dem Gymnasium die Jahrgänge 5 und 6 zugunsten einer integrierten Förderstufe vorenthalten wurden. Die faktisch damit verbundene Kürzung der Gymnasiallaufbahn auf 6 Schuljahrgänge löste eine Auseinandersetzung um die Qualität des Abiturs und die damit verbundene bundesweite Anerkennung aus. Es darf deshalb nicht überraschen, dass in der SPD, für die die integrierte Förderstufe hohen bildungsideologischen Rang hatte, in diesem Kontext sofort darüber nachgedacht wurde, zum Abitur nach 13 Schuljahren überzugehen. Eine Entspannung in dieser durchaus heiklen Problematik schien eine KMK- Vereinbarung von Ende 1995 zu bringen, die auf „Richtungsentscheidungen“ hinauslief. Die hier relevante Passage lautete wörtlich: „Die Dauer der Schulzeit bis zur Erlangung der allgemeinen Hochschulreife beträgt nach dem Hamburger Abkommen dreizehn Jahre. Unter folgenden Voraussetzungen wird das Abitur nach einer Gesamt-Schulzeit von zwölf Jahren anerkannt: Zur Erlangung der allgemeinen Hochschulreife ist ein Gesamtvolumen von mindestens 265 Wochenstunden für die Sekundarstufe I und für die gymnasiale Oberstufe nachzuweisen. Dabei ist den einschlägigen Vereinbarungen der KMK in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu entsprechen.“
Bei pragmatischer Betrachtung bedeutete dies, dass einige Bundesländer, so auch Sachsen-Anhalt, einige Stunden zulegen mussten, während andere sogar Abstriche vornehmen konnten, ohne in den
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Geruch zu geraten, einen „Bildungsabbau“ auf dem Weg zum Abitur vorzunehmen. Ein leidiges Thema schien also vom Tisch zu sein. Mit der Entscheidung für das Abitur nach 12 Schuljahrgängen waren jedoch Fragen der Struktur des Gymnasiums ausgelöst und gleichzeitig beantwortet worden. Dass die Schuljahrgänge 5 und 6 fester Bestandteil eines jeden Gymnasiums sein mussten, war für die CDU (und die FDP) stets, anders als für die SPD und die Grünen, von der PDS gar nicht zu reden, eine Setzung. Daran änderte auch nichts, dass sie als „Beobachtungsstufe“ zu führen waren. Wichtiger war die Übergangsstelle zwischen den Schuljahrgängen 6 und 7, die es möglich machte, ohne Zeitverzug bei einem entsprechenden Leistungsbild von der Sekundarschule auf das Gymnasium zu wechseln. Eine weitere Übergangschance eröffnete die besondere Definition des 10. Jahrgangs. Er diente und dient der Hinführung auf die Kursstufe mit den Jahrgängen 11 und 12. Insbesondere qualifizierte Absolventen des Realschulbildungsgangs erhielten die Möglichkeit, vom 9. oder vom 10. Jahrgang der Sekundarschule in den 10. Jahrgang des Gymnasiums zu wechseln, um das Abitur anzustreben. Damit war ein hohes Maß an Durchlässigkeit im gegliederten Schulwesen garantiert, die Wege der Schullandschaft wurden im Grunde frei begehbar, Halt gebietende Schranken waren auf ein Mindestmaß reduziert und am Maßstab der Qualität der Leistung orientiert. Nach diesem kurzen Exkurs sei der schon formulierte Satz wieder aufgegriffen: Ein leidiges Thema schien also vom Tisch zu sein. Auf der KMK-Ebene war hohe Konsensbereitschaft nicht nur artikuliert, sondern realisiert worden. Die SPD Sachsen-Anhalts steckte allerdings in einem Dilemma: Sie hatte aus Gründen, die hier nicht erneut betrachtet werden müssen, dem Gymnasium die Schuljahrgänge 5 und 6 weggenommen. Die geforderten 265 Stunden Unterricht auf gymnasialem Niveau waren kaum mehr zu erzielen, ohne dass ein 13. Schuljahrgang, also bei strenger Betrachtung der siebente des Gymnasiums, hinzugefügt
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wurde. Auf dem Altar des verlängerten „gemeinsamen Lernens“ wurde das Abitur nach 12 Schulbesuchsjahren geopfert. Im Schulgesetz von 1998 ist die hier nur skizzierte Entwicklung seit 1994 aus der Sicht der SPD abschließend, nämlich vorerst für alle Beteiligten verbindlich, geregelt worden: „Im Gymnasium werden Schülerinnen und Schüler des 7. bis 13. Schuljahrgangs unterrichtet.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings, wie bereits ausgeführt, längst eine allgemeine Diskussion über die Notwendigkeit der Verkürzung der Schul- und der Ausbildungszeiten in Deutschland eingesetzt. Anstatt auf diesem Zug mitzufahren, glaubte die damalige Landesregierung, gegen den Trend operieren zu können, um der Verwirklichung der Idee des Aufbaus eines integrierten Schulwesens näher zu kommen. Inzwischen ist evident, dass das Abitur nach Klasse 13 ausgedient hat. Seitens der SPD gibt es auch, soweit das beobachtet werden konnte, keine Absicht mehr, dazu zurückzukehren. Dieser Zug, um das Bild aufzunehmen, hat längst seinen Zielbahnhof erreicht. Auf das dorthin führende Gleis wurde er mit dem Regierungswechsel von 2002 gesetzt. Die CDU/FDP-Koalition hat das gesetzestechnisch im Schulgesetz von 2005 eindeutig zum Ausdruck gebracht: „Im Gymnasium werden Schülerinnen und Schüler des 5. bis 12. Schuljahrganges unterrichtet.“ Das Auswechseln zweier Ziffern markiert den fundamental unterschiedlichen Ansatz mit all seinen Konsequenzen! Über diese Schulform heißt es sodann unmissverständlich, die Einheit des gymnasialen Bildungsgangs betonend: „Das Gymnasium schließt mit der Abiturprüfung ab.“29 Wie das bereits bei der Sekundarschule beobachtet werden musste, trägt das Schulgesetz auch bezüglich des Gymnasiums der demographischen Entwicklung mit ihren Folgen für das Schulnetz Rechnung, wenn es im § 6 Abs. 5 festlegt: „Das Gymnasium wird mindestens dreizügig geführt; die Schulbehörde kann zweizügige Ausnahmen zulassen.“ Damit ist eine notwendig gewordene Auffanglinie
29 SchG LSA vom 01. 08. 2005, §6 Abs. 1 und Abs. 4.
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für die Schulentwicklungsplanung geschaffen worden, die es möglich macht, ein Schulnetz mit nicht allzu großen Maschen zu erhalten. Mit wenigen Zahlen sei auf die Entwicklung der Gymnasialstandorte eingegangen: Im Schuljahr 1991/1992 begann Sachsen-Anhalt mit 137 öffentlichen Gymnasien und 5 in freier Trägerschaft, diese sofort mit Ersatzschulstatus und Finanzhilfe. Auch bei den Gymnasien entwickelten sich diese Zahlen gegenläufig. Den nur noch 67, also in ihrer Gesamtzahl mehr als halbierten öffentlichen Gymnasien stehen gegenwärtig 12 private zur Seite, so dass 79 Gymnasien das landesweite Schulnetz bilden. Hier kann von einer Konsolidierung gesprochen werden, nachdem zunächst viele Standorte auch aus Rücksichtnahme auf unzulängliche Gebäudebestände und eine unterentwickelte Verkehrsinfrastruktur gebildet worden waren. e) Die Gesamtschule
Der Ausgangspunkt der Schulgesetzgebung Sachsen-Anhalts, das Schulreformgesetz vom 24.05.1991, führte den Begriff „Gesamtschule“, der in den alten Bundesländern bereits seit annähernd zwei Jahrzehnten zu einem Kampfbegriff geworden war, in keiner Zeile. Es wurde so getan, als komme man ganz und gar ohne diese Schulform aus. Auch das war eine Fundamentalentscheidung, allerdings eine, die, sobald sich dem (bildungs)politischen Gegner die Chance dafür bot, einer Korrektur, und das auf Dauer, unterworfen werden sollte. Nur über den Umweg, den der § 11 („Schulversuche“) eröffnete, wurde es überhaupt möglich, in Sachsen-Anhalt schon 1991 zwei integrierte Gesamtschulen (IGS) zu gründen, je eine in Magdeburg und in Halle, sowie zwei kooperative (KGS), jeweils als „Modellschulen“, wie es beschwichtigend hieß. Dahinter stand neben grundsätzlichen Erwägungen der Gedanke, den Schulformen des gegliederten Schulwesens außerhalb dieser großen Städte, vornehmlich in den dünn
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besiedelten Regionen, keine existenzgefährdende Konkurrenz zuzumuten. Mit dem Ansatz, der Gesamtschule noch das Etikett „Schulversuch“ anzuheften, ging etwas Skurriles einher angesichts der Tatsache, dass die Gesamtschule in ihren beiden Spielarten anderenorts längst „durchversucht“ war. Mit dem Regierungswechsel von 1994 bot sich die angesprochene Chance. Die SPD machte sich in Kooperation mit den Grünen, ganz im Einklang mit den Positionen, die beide Parteien bereits in der Aussprache zur Regierungserklärung im November 1990 artikuliert hatten, sofort daran, der Gesamtschule als der von ihr favorisierten Schulform den Rang einer Regelschulform zu verleihen. Man kann es auch so ausdrücken: Wo in der Schullandschaft eine Rabatte im unkultivierten Zustand gelassen worden war, wurden jetzt zielgerichtet neue Stauden eingesetzt, von denen sogar erwartet wurde, dass sie besonders fruchtbar sein und sich ausbreiten würden.30 Im Schulgesetz in der Fassung vom 27. August 1996 manifestierte sich das im neuen § 5a. Die Gesamtschule erhielt den Status einer Regelschulform – gleichzeitig ausgezeichnet durch einige Besonderheiten: Sie durfte, anders als das Gymnasium, die Schuljahrgänge 5 und 6 selbst führen, als Förderstufe, so wie die Sekundarschule. War das ein weiteres Indiz dafür, dass die Gesamtschule mittel- oder wenigstens langfristig die Sekundarschule aufsaugen und allein als zweite Säule neben dem wohl inzwischen als unantastbar eingestuften Gymnasium stehen sollte? 30 Der SPD-Abgeordnete Reck, der von 1994 bis 2002 Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt sein sollte, hatte im Januar 1991 innerhalb einer bildungspolitischen Landtagsdebatte in einer insgesamt sehr moderaten Tonlage, nachdem er erklärt hatte, dass seine Partei sich „ganz konsequent von der von der SED verordneten Einheitsschule“ distanziere, zwei Forderungen noch einmal betont: „Erstens fordern wir die Gesamtschule als Regelschule, und zweitens sind wir gegen eine frühe Trennung bereits in der 4. Klasse.“ Das war (noch) keine Absage an das gegliederte Schulwesen an sich, wohl aber ein klares Bekenntnis zur Gesamtschule als gleichberechtigte Schulform und zu einem längeren gemeinsamen Lernen außerhalb der Gesamtschule. Vgl. Stenographischer Bericht 1/7 vom 17. Januar 1991.
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Sie wurde, sprachlich äußerst umständlich, in ihren beiden Varianten im Gesetz verankert: „Die Gesamtschule wird als Gesamtschule in integrativer Form und als Gesamtschule in kooperativer Form geführt.“ (Abs. 3). Über die Gesamtschule in integrativer Form heißt es anschließend nicht minder gedrechselt: „Die Gesamtschule in integrativer Form bildet eine pädagogische und organisatorische Einheit und ermöglicht in einem differenzierten Unterrichtssystem Bildungsgänge, die ohne Zuordnung zu unterschiedlichen Schulformen zu allen Abschlüssen der Sekundarbereiche I und II führen. Die Schuljahrgänge 7 bis 10 werden im Klassenverband und in einer mit den Jahrgangsstufen zunehmenden Anzahl von Fächern in Kursen erteilt, die nach Leistung und Neigung der Schülerinnen und Schüler gebildet werden.“ (Abs. 4). Der vereinnahmende Charakter der Gesamtschule, ihre Funktion, die übrigen Schulformen als überflüssig erscheinen zu lassen, kommt besonders deutlich, wenngleich verbal versteckt, in der Passage über die Gesamtschule in kooperativer Form zum Ausdruck: „Die Gesamtschule in kooperativer Form führt die Sekundarschule und das Gymnasium pädagogisch und organisatorisch zusammen. Vom Schuljahrgang 7 an wird der Unterricht in schulformspezifischen Klassen und in schulformübergreifenden Lerngruppen erteilt, wobei der schulformspezifische Unterricht überwiegen muss.“ (Abs. 5).
Das aktuelle Niedersächsische Schulgesetz in der Fassung vom 02. Juli 2003 definiert die „Kooperative Gesamtschule“ im § 12 so, dass der Tenor für das gegliederte Schulwesen freundlicher ist: „In der Kooperativen Gesamtschule sind die Hauptschule, die Realschule und das Gymnasium in einer Schule verbunden; sie werden als aufeinander bezogene Schulzweige geführt“.31 Die Fortexistenz der Schulformen des gegliederten Schulwesens in Kooperativen Gesamtschulen wird also dort nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern als systemimmanenter Faktor exponiert. Die Verwendung des Begriffs „Schulzweige“ unterstreicht das. Im Schulgesetz Sachsen-Anhalts von 1996 wird der Begriff vermieden, anders 31 Niedersächsisches Schulgesetz vom 02. Juli 2003, § 12, Abs. 3.
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als in der CDU/FDP-Novelle von 2005, wo erkennbar korrigierend und präzisierend in den Wortlaut des § 5a eingegriffen wurde. Hieß es im Text von 1996 noch, „Gesamtschulen werden mindestens zweizügig geführt“ (Abs. 7), womit zur Gründung auch kleinster Gesamtschulen, ob integrativ oder kooperativ geführt, geradezu eingeladen wurde, erfolgte mit dem Schulgesetz von 2005 eine erhebliche Erhöhung der Hürde: „Gesamtschulen in integrativer Form werden mindestens vierzügig geführt; die Schulbehörde kann Ausnahmen zulassen. Bei Gesamtschulen in kooperativer Form sind die beiden Schulzweige (sic!) jeweils mindestens zweizügig zu führen“. Das entspricht im Übrigen auch den Bestimmungen in anderen Bundesländern, wo allerdings die Zügigkeit gemeinhin in der Verordnung zur Schulentwicklungsplanung geregelt wird, wie z. B. in Niedersachsen, und nicht bereits im Gesetz. Außerordentlich gesamtschulfreundlich war im Schulgesetz von 1996 auch, offenbar in Antizipation relativ geringen Zuspruchs, in Absatz 1 des § 5a der vierte Satz: „Mehrere (!) Gesamtschulen können eine gemeinsame Kursstufe betreiben“. Gemeint waren seinerzeit die Schuljahrgänge 11 bis 13 in der Logik des Abiturs am Ende des 13. Schuljahrgangs. Die CDU/FDP-Koalition griff hier ein und regelte die Kooperationsmöglichkeiten neu: „Die gymnasiale Oberstufe kann auch in Kooperation mit einer anderen Schule geführt werden“ (Schulgesetz von 2005, § 5a, Abs. 7). Die Begrenzung auf eine (!) Schule verringert die Möglichkeiten der Gesamtschulen, selbst mit sehr geringen Jahrgangsstärken eine Oberstufe zu führen und ihre Attraktivität zu steigern, wenn nur hinreichend viele Kooperationspartner zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite bietet sich nun die Chance, auf der Ebene der gymnasialen Oberstufe auch mit grundständigen Gymnasien zusammenzuarbeiten. Dazu ebnet eine weitere Änderung des § 5a den Weg: „In der Gesamtschule in kooperativer Form bilden die Schuljahrgänge 11 und 12 die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe“. Diese Änderung steht im Einklang mit dem bereits skizzierten Verständnis, dass in Kooperativen Gesamtschulen die Schulzweige den Schulformen des gegliederten Schulwesens entsprechen. Die Bildungsgänge werden als grundsätzlich kompatibel und parallel verlaufend begriffen.
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Der Gesamtschule in integrativer Form wird das nicht zugebilligt. Daraus ergibt sich, wiederum durchaus logisch, der Gesetzestext von 2005: „Die Gesamtschule in integrativer Form führt die Jahrgänge 11 bis 13 als gymnasiale Oberstufe“. Das heißt also klipp und klar: An Integrierten Gesamtschulen ist der Weg zum Abitur um ein Schuljahr länger. Um aber auch dort den Erwerb des Abiturs nach 12 Schuljahren nicht vollständig zu verbauen, hat der Gesetzgeber sich etwas einfallen lassen, was in der deutschen Bildungslandschaft nicht seinesgleichen hat: „Auf Antrag des Schulleiters kann mit Genehmigung der obersten Schulbehörde ab dem 9. Schuljahrgang ein Gymnasialzweig eingerichtet werden“ (§ 5a, Abs. 4).32 Deshalb heißt es vorwegnehmend bereits im Absatz 1 dieses Paragraphen: „Sofern sie (= die Gesamtschule in integrativer Form) einen gymnasialen Zweig anbietet, bilden für diesen Zweig die Schuljahrgänge 11 und 12 die Qualifikationsphase“. Das hat die einigermaßen delikate Konsequenz, dass an solchen Gesamtschulen zwei Gleise zum Abitur führen, auf denen die Züge unterschiedlich schnell fahren. Vorerst ist das allerdings nur an einer Gesamtschule in Magdeburg der Fall. Dass Gesamtschulen im Respekt gegenüber dem Elternwillen als Alternativen zum gegliederten Schulwesen, wohlgemerkt dieses nicht vollständig ersetzend oder auch nur in die Minderheit rückend, praktisch in allen Bundesländern die Schullandschaften mitgestaltende Elemente geworden sind, bedarf keiner weiteren Erklärung. In Sachsen-Anhalt ist die Fehleinschätzung, sie könnten über die Hürde des Schulversuchs in einer rechtlichen und faktischen Außenseiterrolle gehalten worden, sehr bald einer nüchternen Reaktion auf die bildungspolitischen Tendenzen gewichen. Der Weg zur Anerkennung 32 Nachrichtlich: Niedersachsen unterscheidet ebenfalls zwischen IGSen und
KGSen im Hinblick auf die gymnasiale Oberstufe. An IGSen umfasst sie die Jahrgänge 11 bis 13, an KGSen die Jahrgänge 11 und 12. Es ist aber eine Diskussion in Gang gekommen, in der das Ziel verfolgt wird, auch an IGSen das Abitur nach Jahrgang 12 zu vergeben.
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als Regelschulform war unausweichlich, auch für diejenigen, deren Präferenz eindeutig dem gegliederten Schulwesen gilt. Ihren Befürwortern, die 1994 meinten, mit ihrer parlamentarischen Mehrheit die Schleusen zum integrierten Schulwesen oder gar zu einem Einheitsschulwesen so sehr öffnen zu können, dass das gegliederte Schulwesen in den (Antrags)Fluten versinken werde, blieb aber der erhoffte Erfolg versagt. Auch als Regelschulform verharren die Gesamtschulen in einer für sie und ihre Promotoren bedrückenden Minderheitenposition. Daran vermochte auch die Regierungszeit der SPD in Verbindung mit den Grünen und der PDS so gut wie nichts zu ändern. Die aktuellen Zahlen stellen sich wie folgt dar: Neben 3 Integrierten Gesamtschulen in öffentlicher Trägerschaft werden 3 privat geführt. Außerdem gibt es 3 öffentliche Kooperative Gesamtschulen. Es ist erkennbar auch in Sachsen-Anhalt so, wie es Umfrageergebnisse immer wieder zum Ausdruck bringen: Mindestens 70% der bundesdeutschen Bevölkerung favorisieren das gegliederte Schulsystem, in dem das Gymnasium eine geradezu unantastbare Vorreiterrolle einnimmt.
2. Das duale System der Berufsausbildung und die berufsbildenden Vollzeitschulen Die zweite Fundamentalentscheidung betraf das berufsbildende Schulwesen. Auf eine verkürzende, aber den Sachverhalt dennoch hinreichend widerspiegelnde Aussage gebracht, ist festzustellen: Das in den alten Bundesländern vor dem Hintergrund der Rahmenkompetenz des Bundes, die im Berufsbildungsgesetz (BbiG) ihren Ausdruck gefunden hatte, faktisch identisch konzipierte und installierte duale System der Berufsausbildung, das für die allermeisten gewerblichen und kaufmännischen Berufe, aber auch für etliche andere eingerichtet war und über Deutschlands Grenzen hinaus als vorbildlich galt, wurde Zug um Zug auf die neuen Bundesländer übertragen, transplantiert
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sozusagen: Pflanze (lat. planta) für Pflanze von Schullandschaft zu Schullandschaft. Das galt auch für die das duale System, das sich im wesentlichen in der Schulform Berufsschule ausdrückte, flankierenden, es sozusagen umrankenden Vollzeitschulformen, die weiter unten im einzelnen erwähnt werden. Den Pfiff zur Abfahrt des ersten Zuges gab noch die DDR-Regierung selbst, allerdings die bereits demokratisch legitimierte unter dem Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere. Mit dem Gesetz vom 19. Juli 1990, das die Inkraftsetzung des BbiG in der DDR regelte, mit dem Gesetz über Berufsschulen vom selben Tage und mit der Übernahme der Handwerksordnung der Bundesrepublik – das alles war Ausdruck des Staatsvertrages über die Bildung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 01. Juli 1990, den die Bundesrepublik und die DDR am 18.05.1990 unterzeichnet hatten – „galten die auf Bundesebene grundlegenden berufsbildungsrechtlichen Vorschriften in der DDR bereits vor ihrem Beitritt“.33 Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 lieferte dann die Besiegelung dieses Vorgangs.34 Das am 14. Oktober 1990, dem Tag der Landtagswahl, mit kleinen Gebietsveränderungen erneut geborene Land Sachsen-Anhalt hatte als der Bundesrepublik Deutschland zugehöriges Bundesland diese zweite Fundamentalentscheidung also genau betrachtet nicht mehr selbst zu treffen, machte sie sich aber als Bestandteil des föderalen Staatsaufbaus, der den Bundesländern die „Kulturhoheit“ zuschreibt, uneingeschränkt zu eigen – wie alle anderen neuen Bundesländer. Hinter diesem Vorgang verbirgt sich der wesentliche Grund, weshalb das berufsbildende Schulwesen, anders als das allgemeinbildende, wie in den anderen Bundesländern kaum je zum Objekt des 33 Hans-Werner Fuchs/Lutz R. Reuter (Hrsg.), Bildungspolitik seit der Wende, Opladen 1995, S. 34.
34 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – vom 31. 08. 1990, in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. von: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Reihe III/Band 8b – 1990, Bonn 1991, S. 7–37.
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Parteienstreits oder gar der heftigen bildungsideologischen Auseinandersetzungen wurde. Das war schon so bei der Aussprache über die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Gies im November 1990 und setzte sich bis zum Bildungskonvent in der Zeit der Großen Koalition fort. Dennoch ist es interessant und aufschlussreich, einerseits auf 20 Jahre berufsbildendes Schulwesen in Sachsen-Anhalt zurückzublicken und andererseits seine Perspektiven zu reflektieren. Die erforderlichen länderspezifischen rechtlichen Grundlagen des schulischen Teils der beruflichen Bildung wurden mit dem Schulreformgesetz vom 11. Juli 1991 und dem Schulgesetz vom 11. März 1993 so zügig wie möglich nachgeliefert. Damit wies auch Sachsen-Anhalts Berufsschulwesen die vielfältige, von zahlreichen Bäumen und Büschen, Stauden und Solitärpflanzen – soll heißen Berufsvorbereitungs- und Berufsgrundbildungsjahr, Berufsschule und Berufsfachschule, Fachschule, Fachoberschule und Fachgymnasium – farbenfroh und abwechslungsreich geprägte Landschaftsarchitektur auf, die den allgemeinbildenden Schulen sowohl Ergänzung als auch Zielvorgabe war. Mit dieser Schullandschaft vor Augen konnte der erste Kultusminister des Landes, Dr. Werner Sobetzko, in einer Informationsschrift seines Ministeriums im Jahre 1992 selbstbewusst erklären: „Wenn in den Jahren der DDR eine Berufswahl nur innerhalb gegebener Planzahlen möglich war und der Persönlichkeit des Bewerbers oft keine Rechnung getragen wurde, erhebt die heutige berufliche Bildung in Sachsen-Anhalt den Anspruch, im Rahmen der geregelten Berufsausbildungsgänge jedem Berufsbewerber eine persönliche Chance für das Finden >seines< Berufes zu geben“.35 Erwähnung verdient, dass in Sachsen-Anhalt, wie in Thüringen und in Sachsen in Anlehnung an zahlreiche alte Bundesländer, zunächst auch Berufsaufbauschulen eingerichtet wurden, „die vollzeitschuli35 Bildungspolitische Informationen Nr. 5: Chance für jeden. Die berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt, hrsg. v. Kultusministerium, Magdeburg 1992.
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sche Ausbildungsgänge in gewerblichen Berufen anbieten und zugleich einen Realschulabschluss ermöglichen“ sollten.36 Auslöser waren wahrscheinlich zwei Überlegungen: Zum einen ergab sich seit 1990 ein Ausbildungsplatzmangel als Folge des allgemeinen wirtschaftlichen Umbruchs mit seinen Produktionsrückgängen, außerdem, weil „der Dienstleistungssektor in der DDR unterentwickelt war und ... ein industrieller Mittelstand und ein selbständiges Handwerk weitgehend fehlten“. Damit standen die „klassischen“ Ausbildungsorte nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Die vollzeitschulischen Berufsbildungsgänge, die vor allem an Berufsfachschulen und Fachschulen angeboten werden, wurden ebenso wie der „Aufbau über- und außerbetrieblicher Berufsbildungsstätten“ wohl gerade deshalb finanziell unterstützt.37 Zum anderen sollten die Berufsaufbauschulen vielen Schulabgängern, nicht zuletzt denen der Einheitsschule der DDR, der POS, eine günstige Gelegenheit bieten, mit dem dort zu erwerbenden Realschulabschluss überhaupt erst die Bedingung zu erfüllen, für die wachsende Zahl von Berufsausbildungsgängen schulisch qualifiziert zu sein, die diesen Mittleren Abschluss voraussetzten und die sich Schritt für Schritt auch in den neuen Bundesländern etablieren sollten. Hier sei aber angemerkt, dass mit dem neuen differenzierten System der Abschlüsse im allgemeinbildenden Schulwesen und mit der Vielfalt des Angebots in berufsbildenden Schulen die Schulform Berufsaufbauschule schnell die Bedeutung verlor, die ihr noch unmittelbar nach der „Wende“ zugesprochen worden war. In SachsenAnhalt gab es 1991 nur 106 Schülerinnen und Schüler in 9 Klassen an 6 Berufsaufbauschulen. Das war, auf das ganze Bundesland bezogen, eine zu vernachlässigende Größe bei insgesamt ca. 10.000 Schülerinnen und Schülern an Beruflichen Schulen in Vollzeitform und etwa 51.000 an jenen in Teilzeitform. Ab 1992 erfolgten an dieser Schulform keine Aufnahmen mehr. Im Schulgesetz von 1993 blieb die Be36 Fuchs/Reuter, a.a.O. . Unerwähnt bleibt dort Sachsen, wo sich die Berufsaufbauschule noch bis 1996 und damit am längsten hielt.
37 Ebenda, S. 35.
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rufsaufbauschule dennoch verankert, offenbar in Treue zum BbiG. Erst das Schulgesetz von 1998 erklärte den entsprechenden Absatz des § 9 für „aufgehoben“. Der Begriff Berufsaufbauschule taucht auch in der Folgezeit nicht mehr im Schulgesetz auf. Eine in guter Absicht gesetzte Pflanze hatte sich als ein Mauerblümchen erwiesen, das weiterhin zu wässern zu kostspielig geworden wäre. Auch in den meisten alten Bundesländern verschwand diese Schulform noch in den neunziger Jahren aus der Schullandschaft, weil ihre Funktion weitgehend obsolet geworden war. Die Berufsaufbauschule mag als Beispiel dafür dienen, dass es nicht in jedem Fall sinnvoll war, von jeder Pflanze einen „Ableger“ zu nehmen, um ihn in den Boden eines neuen Bundeslandes einzusetzen, nur weil sie im Partnerland, wenngleich schon erkennbar mühsam, noch gehegt wurde. Im Bereich der allgemeinbildenden Schulen war man mit der Absage an die selbständige Schulform Hauptschule weitsichtiger gewesen. An den DDR-Hintergrund des berufsbildenden Schulwesens sei hier kurz erinnert: „Etwa zwei Drittel der Berufsschulen in der DDR waren Betriebsberufsschulen, deren Gebäude meist auf dem Betriebsgelände lagen.“38 Es galt zunächst, und das war eine Aufgabe ersten Ranges, die Überführung dieser Betriebsberufsschulen in die Trägerschaft der Kommunen, in der Regel der Landkreise und der kreisfreien Städte, Schritt für Schritt, also häufig Standort für Standort, vorzunehmen und dabei auf den unzureichenden Gebäudebestand und die mangelhafte Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln Rücksicht zu nehmen. Qualitätsaspekte mussten diesen Zwängen weichen. In der erwähnten Informationsschrift des Kultusministeriums aus dem Jahre 1992 über das berufsbildende Schulwesen in Sachsen-Anhalt wurde die Antwort auf die sich daraus ergebende Herausforderung so beschrieben: „Erklärtes Ziel der Landesregierung im Rahmen der Schulentwicklungsplanung ist es, die vielen kleinen 38 Ebenda, S.34.
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ehemaligen Betriebsberufsschulen und kommunalen Berufsschulen zu größeren, leistungsfähigen Berufsschulzentren zusammenzufassen. Mit dieser Maßnahme hat sich die Zahl der berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt auf 76 vermindert. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Standorte in der Zukunft noch weiter zurückgehen wird. Größe wie Bildungsangebot der Berufsschulzentren werden sich aber erweitern“.39 Damit war genau die Aufgabe genannt und definiert, die im Zentrum der Berufsbildungspolitik Sachsen-Anhalts bis in die Gegenwart hinein stehen sollte. Die unzulängliche Zahl der in ihrer Qualifikation westdeutschen Maßstäben genügenden, für die neuen berufsbildenden Schulen dringend benötigten Fachlehrkräfte kam erschwerend hinzu. Es ergab sich ein auch in anderen Kontexten zu beobachtendes Paradoxon: Es gab, rein quantitativ betrachtet, hinreichend viele Lehrkräfte, aber es waren in zu großer Zahl solche, die in den alten Bundesländern als „Lehrer für Fachpraxis“ eingestuft worden wären, weil sie keine lehramtsspezifische Hochschulausbildung und keine Staatsprüfungen vorweisen konnten, in denen neben dem berufsfeldbezogenen Unterrichtsfach auch ein allgemeinbildendes von Belang ist. In qualitativer Hinsicht lag also zwangsläufig ein gravierender Mangel vor. Wie sich das gegenwärtig darstellt und welche Perspektiven der Personalentwicklung und der Unterrichtsversorgung sich ergeben, wird an anderer Stelle zu betrachten sein. Es war leider so: „Ein geordneter Unterrichtsbetrieb kam dadurch nur langsam in Gang“.40 Zum Schuljahresbeginn 1992/1993 existierten in Sachsen-Anhalt 76 Berufsbildende Schulen, von denen als Folge des geschilderten Hintergrunds ca. 50% unter der angestrebten Leitzahl von 700 Schülern pro Schule lagen. Die Zahl der Schulen war also von Anfang an viel zu 39 Bildungspolitische Information Nr. 5: Chance für jeden. Die berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt, Hrsg. Vom Kultusministerium, Magdeburg 1992.
40 Fuchs/Reuter, a.a.O. , S. 35.
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hoch und konnte erst in einem mühseligen Konsolidierungsprozess auf nun weniger als die Hälfte reduziert werden. Wie schon ausgeführt: Diese hohe Zahl war in erster Linie Teil des Erbes, das man angetreten hatte. Viele, nicht selten überdies unzulänglich ausgestattete kleine Gebäudebestände ließen eine funktionsgerechte Struktur zunächst genauso wenig zu wie die Rücksichtnahme auf übernommene Personalkörper und tradierte Angebote. In einem die Finanzen der Schulträger und des Landes erheblich strapazierenden, sich über mehrere Jahre hinziehenden Prozess mussten in das Berufsschulwesen Millionenbeträge investiert werden, um modern ausgestattete Berufsschulzentren zu schaffen, die die überfällige Konsolidierung gestatteten und ein belastbares Netz von Standorten entstehen ließen. Es ist eine auf den ersten Blick paradoxe, auf den zweiten einleuchtende Feststellung zu treffen: Die Reduzierung der Zahl der BBSen bzw. ihrer Standorte ist ein Spiegel erheblicher Investitionen in das Berufsschulwesen. Im Schuljahr 2008/2009 gab es dann im Ergebnis dieses Prozesses 31 Berufsbildende Schulen in kommunaler Trägerschaft. Gleichwohl erweist sich auch diese Zahl als problematisch. Sie weiter zurückzuführen oder mindestens in einem weiteren Konsolidierungsvorgang schulische Angebote berufsfeldorientiert noch stärker an bestimmten Standorten im Sinne einer Profilbildung zu konzentrieren, ist ein Gebot, das nicht nur aus finanziellen Erwägungen erwachsen ist. Es ist auch das Resultat berufsschulspezifischer, fachlicher und personeller Notwendigkeiten als Ergebnis des vorrangigen allgemeinen Ziels, in der Berufsausbildung für die Zukunft des Landes eine hohe Qualität zu sichern. Damit befindet sich Sachsen-Anhalt in einem Dilemma ersten Ranges. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass es auch diesem Bundesland gelungen ist, den notwendigen Umstellungs- und Anpassungsprozess abzuschließen und bereits ein hohes Maß an Konsolidierung zu erzielen. Sein Berufsbildungswesen hat sich grundsätzlich als fester und zuverlässiger Bestandteil eines gesamtstaatlichen Rahmens, der für das berufsbildende Schulwesen aller Bundesländer konstitutiv ist, etabliert.
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Das Dilemma aber muss ausführlich dargestellt werden: Es ist allen mit Bildungspolitik, hier mit der beruflichen Bildung im Lande Sachsen-Anhalt Befassten seit Jahren bewusst und fand seinen ersten unmittelbaren Ausdruck im Ende des Jahres 2007 vorgelegten „Konzept der Weiterentwicklung der berufsbildenden Schulen“, das durch einen Beschluss des Landtages vom 23. März 200741 ausgelöst worden war, dem ein gemeinsamer Antrag von CDU und SPD zugrunde gelegen hatte. Es sollte, „in Abstimmung mit den berufsbildenden Schulen, deren Trägern, den Verbänden und Kammern, der Agentur für Arbeit, den Gewerkschaften und weiteren Bildungsträgern“, primär der „Absicherung eines regional ausgewogenen, bestandsfähigen und leistungsfähigen Netzes von berufsbildenden Schulen in SachsenAnhalt“ dienen. In der Antragsbegründung wurde auf die geburtenschwachen Jahrgänge „ab dem Ausbildungsjahr 2007/2008“ Bezug genommen, aber auch auf die Kreisgebietsreform ab 01. Juli 2007 mit ihren „Auswirkungen auf das Schulnetz“. Es wurden also dezidiert sowohl die berufsbildungspolitischen Aspekte als auch die kommunalpolitischen Rahmenbedingungen betont, die die Weiterentwicklung der berufsbildenden Schulen verlangten. Damit wurde erneut die zentrale Aufgabe der Bildungspolitik in Sachsen-Anhalt benannt, deren Vorrang von niemandem bestritten wird: Regionale Ausgewogenheit des Bildungsangebots sowohl im allgemeinbildenden als auch, wie hier, im berufsbildenden Sektor des Bildungswesens bei gleichzeitiger Sicherung einer hohen Qualität des Unterrichts und der Absolventen der verschiedenen Bildungsgänge. Die dann folgenden Arbeitsaufträge sind jeweils in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen, aber sie sind in erster Linie auf Inhalte und Durchführungsfaktoren gerichtete Vorgaben, deren Sinn in Abhängigkeit von einem Schulnetz gesehen werden muss, das starken Belastungen gewachsen sein und eine hohe Reißfestigkeit aufweisen sollte. Es seien nur einige Begriffe genannt: Ausbau der Eigenverantwortung, effektives Qualitätsmanagement, Zulassung vollzeitschulischer oder kombinierter Maßnahmen zur Kammerprüfung, Schaf41 Landtags-Drucksache 5/19592 B.
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fung von Möglichkeiten zur Einführung eines doppelqualifizierenden Abschlusses, fachgerechte Sicherung des Lehrkräftebedarfs. Sie können ihren Wert nur entfalten, wenn es gelingt, das angestrebte regional ausgewogene, bestands- und leistungsfähige Netz von berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt tatsächlich zu knüpfen und zu sichern. Dieses Netz ist die conditio sine qua non, die Ausgangsgröße, ohne die alles andere schnell Makulatur werden kann. Die Herausforderung ist gesehen und angenommen worden. Im Landtag wurde dem Antrag einstimmig entsprochen. Das wurde auch deshalb möglich, weil ein Änderungsantrag der Linkspartei. PDS, heute Die LINKE, akzeptiert und als Ziffer 8 in die Beschlussfassung aufgenommen wurde. Es geht dort um die verstärkte und zielgerichtete Zusammenarbeit von berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen. Was eine bloße Anknüpfung an polytechnische Bildungskonzepte aus DDR-Zeiten zu sein schien, ist inzwischen sowohl in bildungspolitischer als auch und vor allem in bildungsökonomischer Hinsicht Gegenstand ideologiefreier Reflexionen in allen Bundesländern. Das Ende 2007 von der Landesregierung auftragsgemäß vorgelegte „Konzept der Weiterentwicklung des berufsbildenden Schulwesens“ ist außerordentlich aussagestark und aufschlussreich. Dennoch erübrigt es sich, darauf im einzelnen einzugehen. Die Landesregierung ließ nämlich im März 2009 auf Anforderung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft und Kultur vom 11. Februar 2009 ein „aktualisiertes Konzept“ folgen42 und lieferte am 02. Juni 2009 eine Antwort auf Fragen, die der genannte Ausschuss in seiner Sitzung am 01. April 2009 im Kontext des Konzepts formuliert hatte.43 42 Schreiben des Kultusministeriums an den Ausschussvorsitzenden Dr. Schellenberger (CDU) vom 23. März 2009.
43 Schreiben vom 02. Juni 2009 an den selben Adressaten. Diese beiden Schreiben sind die Bezugspunkte der folgenden Ausführungen bis auf einen Einschub, auf den besonders verwiesen wird.
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Auf das erste dieser beiden ministeriellen Schreiben soll hier näher Bezug genommen werden, da es, ohne den Ausdruck zu verwenden, auf das aufgezeigte Dilemma eingeht und Lösungswege darstellt. Auf das zweite wird im Kapitel „Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung“ näher eingegangen. Es wird im Schreiben vom 23. März, auf das Handlungsfeld Schulnetzplanung bezogen, zunächst betont, dass alle Maßnahmen der Schulentwicklungsplanung gerade im berufsbildenden Bereich in einer unmittelbaren Abhängigkeit von den Folgen der – im übrigen im ganzen Lande aus unterschiedlichsten Gründen außerordentlich heftig und kontrovers diskutierten – parallel sich vollziehenden Kreisgebietsreform zu sehen seien, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Zurecht wird aber herausgestellt, dass mit den erheblich größeren Gebietseinheiten bei den Schulträgern Reaktionen auf Standortfragen ausgelöst bzw. Möglichkeiten der Konsolidierung eröffnet wurden. Die klammen Haushalte der Schulträger (und des Landes) grüßen aus dem Hintergrund. Als zweiter Faktor von Belang wird „die erstmals sich auch hier deutlich niederschlagende demographische Entwicklung“ genannt. Auf beide Faktoren wird dezidiert Bezug genommen als Begründung dafür, dass die Fortschreibung der Schulentwicklungsplanung durch die Schulträger „für die auf ihrem Gebiet befindlichen berufsbildenden Schulen vor dem Hintergrund einer sich dann deutlicher abzeichnenden demographischen Entwicklung“ um ein Jahr verschoben und der neue Planungszeitraum die Jahre 2010 bis 2014 umfassen werde. Wörtlich heißt es: „Angesichts der dann vorliegenden Daten ist davon auszugehen, dass es den Schulträgern nachhaltiger (sic!) gelingen wird, die Einzugsbereiche nach Schulformen, Fachrichtungen, Berufsbereichen und Ausbildungsberufen in der Region zu beraten und abzustimmen.“ In der Sache nicht verwunderlich, in der Methode bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Ministerium das Ergebnis nicht nur bereits zu kennen meint, sondern auch in Auftrag gibt:
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„Im Ergebnis dieser Abstimmungen wird (!) es zu einer stärkeren Konzentration beim Vorhalten von gleichen oder artverwandten Ausbildungsberufen eines Berufsbereiches/einer Berufsgruppe in der Schulform Berufsschule oder von parallel geführten vollzeitschulischen Bildungsgängen ... kommen.“
Es folgt, geradezu zwangsläufig, der Hinweis auf die „Prämissen der Klassenbildung“. Es wird zurecht angenommen, dass in etlichen Bildungsgängen „sowohl an der einen oder an der anderen Schule, als auch an zwei oder drei Schulen“ diese Prämissen nicht mehr würden eingehalten werden können. Die nüchterne und auch ernüchternde Konsequenz lässt dann nicht auf sich warten: „Angesichts zurückgehender Schülerzahlen als Folge der demographischen Entwicklung werden viele Klassenbildungen in dualen und vollzeitschulischen Bildungsgängen an der bisher zuständigen berufsbildenden Schule nicht mehr möglich sein.“ Dem Grundsatz der Klarheit und der Wahrheit kann man nicht präziser entsprechen! Dass auch dem bereits angedeuteten Aspekt der Qualitätssicherung durch effizienten Einsatz der zum Teil nur begrenzt zur Verfügung stehenden Fachlehrkräfte Rechnung getragen werden muss, daran lassen die folgenden Sätze keinen Zweifel aufkommen: „Eine nachhaltige Schulentwicklungsplanung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bündelung der personellen Ressourcen an den Schulen und einer Effizienzsteigerung bei der Unterrichtsversorgung. Indem die Profilierung der berufsbildenden Schulen auf bestimmte Berufsbereiche damit forciert wird, dient das zugleich der Qualitätsverbesserung und -sicherung, im Besonderen im berufsbezogenen Unterricht.“
Wie man aus der Not eine Tugend machen kann, wird in dieser soeben zitierten Passage beispielhaft vorgeführt. Mit einem gravierenden Dilemma nicht nur inhaltlich angemessen, sondern auch sprachlich meisterhaft umzugehen, konnte besser kaum geleistet werden! Das Kultusministerium weist sodann darauf hin, dass auf die sich nicht nur abzeichnende, sondern sehr konkret bereits manifest gewor-
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dene Situation reagiert worden sei mit der „Mischklassenbeschulung“. Dieser, für sich betrachtet, hässliche Begriff wird ein bestimmendes Element der Berufsschullandschaft sein – keine Orchidee, fürwahr, weil aus der Not geboren, aber als eine Art Gewürzpflanze die an sich fade Alltagsspeise immerhin genießbar machend. Wie sehr die Sprache überhaupt oft herhalten muss, einen an sich beklagenswerten Sachverhalt in ein milderes Licht zu rücken, macht der folgende Satz deutlich: „Im Schuljahr 2008/09 konnten erstmalig Auszubildende derjenigen Berufe gemeinsam beschult werden, deren Rahmenlehrpläne, zunächst im ersten Ausbildungsjahr übereinstimmen.“ Wieso „konnten“? Doch wohl eher „wurden“ im Sinne von „mussten“ angesichts der Gegebenheiten, die sich in nackten Zahlen ausdrückten, die wiederum adäquate Maßnahmen unumgänglich machten. Auf diesem Wege, das ist allen Beteiligten klar, wird und muss es weitergehen, wenn auf das erläuterte Dilemma sachgerecht reagiert werden soll. Die folgende Aussage ist eindeutig: „Vorgesehen ist, dass eine gemeinsame Beschulung von Ausbildungsberufen auch im zweiten Ausbildungsjahr dort möglich sein soll, wo die Rahmenlehrpläne ... durch entsprechende Übereinstimmungen dies zulassen. Ziel dieser Organisation ist es, möglichst lange eine dem Ausbildungsort nahe Beschulung zu organisieren. Damit können zum einen die Möglichkeiten der Lernortkooperation (Zusammenarbeit Schule und Ausbildungsbetrieb) umfassend ausgeschöpft werden; zum anderen werden aber auch die Belastungen der Ausbildenden (gemeint war wahrscheinlich „der Auszubildenden“!) verringert, die sonst bereits frühzeitig lange Wege zu einer überregional ausbildenden Berufsschule bewältigen müssten.“
Das geschilderte Dilemma, es bildet also auch hier die Folie! Eine Ausweitung der „Mischklassenbeschulung“ auf sog. „berufsnahe“ Ausbildungsberufe oder auf „Fachrichtungen mit äußerer Differenzierung“, heißt es dann, werde geprüft. Noch einmal, nur anders formuliert: Zeichnet sich mit den Mischklassen eine Hybride ab, die die Berufsschullandschaft stark prägen wird? Das alles aber werde, so die ministerielle Ansage, nicht ausreichen. Es sei „notwendig, überregional Klassen zu bilden“. Auslösender
Das duale System der Berufsausbildung 73
Faktor neben der demographischen Entwicklung sei „die durch die Wirtschaft mit zunehmender Intensität betriebene Spezialisierung bei der (Neu-)Ordnung der Ausbildungsberufe“. Das Land sieht sich als Opfer dieser bundesweiten, von der Wirtschaft ausgelösten Entwicklung, die sich wohlwollend als Ausdifferenzierung, skeptisch als Zergliederung der Berufslandschaft kennzeichnen lässt. Interessant ist in dem Zusammenhang eine dpa-Meldung, die Kultusministerkonferenz (KMK) habe „vor einer weiteren Zersplitterung in der dualen Berufsausbildung gewarnt. .. Sie rief Bundesregierung und Spitzenorganisationen der Wirtschaft zum Umdenken bei der Neuordnung von Ausbildungsberufen auf“.44 Was schon in dichter besiedelten Flächenländern und selbst in den Ballungsgebieten der Stadtstaaten zum Struktur- und Organisationsproblem werden kann, muss sich in dünn besiedelten Räumen, wie sie für Sachsen-Anhalt prägend sind, zu einer Herausforderung entwickeln, die der Quadratur des Kreises gleichkommt. Die Reaktion des Landes ist denn auch beinahe defätistisch:„Soweit Reaktionen noch im Bereich des Landes möglich sind, erfolgen sie auf dem Erlasswege“. Es wird umgehend auf den einschlägigen Erlass „Regionale und überregionale Fachklassen im Schuljahr 2008/09“ vom 30.05.2008 verwiesen. Er bildet die Arbeitsgrundlage für die Festlegung der Standorte der Regional- und der Landesfachklassen. Seine Fortschreibung wird eine permanente Aufgabe der Landschaftspflege sein. Man ist sich im Ministerium aber der Tatsache bewusst, dass selbst Landesfachklassen nicht in jedem Fall als Antwort ausreichen werden. Deshalb werde es „zum Abschluss sogenannter bilateraler Vereinbarungen oder gemäß KMK-Vereinbarung zur Bildung länderübergreifender Fachklassen“ kommen. Interessant ist der Einschub im Text: „vermehrt“. Er spiegelt die rauhe Wirklichkeit, die für pädagogische oder verwandte Wünsche keinen Raum lässt. Von besonderer programmatischer Bedeutung sind im Zusammenhang mit der Kernaufgabe, ein bestandsfähiges Netz berufs44 zitiert in FORUM E, 20. März 2007.
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bildender Schulen zu knüpfen, zwei Passagen in den ministeriellen Ausführungen, die es verdienen, wegen ihrer grundsätzlichen Aussagekraft in Beantwortung der Landtagsanfrage ausführlich zitiert zu werden: „Während in den Ballungszentren wie Magdeburg und Halle eine Schulprofilbildung mit inhaltlichem Schwerpunkt angestrebt wird bzw. schon vorhanden ist, sind in den Landkreisen durchaus sog. Bündelberufsschulen mit Profilbildung gewünscht. Derzeit gibt es bereits an diesen berufsbildenden Schulen Schwerpunkte für bestimmte Berufsbereiche und/ oder auch Berufsgruppen. Abhängig von den Auszubildendenzahlen ist auch im Sinne eines effektiven und effizienten Lehrereinsatzes eine Schulprofilbildung unabdingbar.“
Man sucht also in der Fläche des Landes das Heil in den Bündelberufsschulen. Diese sollen allerdings kein bloßes Bündel sein, Ansammlung lediglich aller möglichen Berufsbereiche oder Ausbildungsberufe. Die Bündelung soll mit einer Profilbildung einhergehen! Ohne Ehrgeiz ist das nicht! Was für die Schulformen und die Berufe des dualen Systems als Antwort auf die geschilderten Herausforderungen angestrebt wird, soll für den vollzeitschulischen Sektor des berufsbildenden Schulwesens gleichermaßen gelten: „Wohnortnah sollen über die berufsbildenden Schulen Schulformen zur Schulpflichterfüllung (vollzeitschulische Bildungsgänge) angeboten werden. Aber auch Berufsfachschulen, Fachoberschulen, Fachgymnasien und Fachschulen sollen nach Möglichkeit dem jeweiligen Schulprofil entsprechen. ...Nach den derzeit extrem rückläufigen Schülerzahlen an den Fachgymnasien ist jedoch eine >Schulprofilbildung< für diese Schulform an mehreren Standorten im Lande denkbar.“
Der letzte Satz bedarf der näheren Betrachtung. Als „Profile“ der Fachgymnasien kommen die Bereiche Wirtschaft, Technik und Gesundheit in Betracht. Der zitierte Satz kann also nur so verstanden werden, dass angestrebt wird, Fachgymnasien mit diesen Profilen im Lande Sachsen-Anhalt so zu platzieren, dass auch für sie und ihre Klientel ein gerade noch vertretbares Netz von Standorten entsteht, das
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dem Bildungsauftrag des Fachgymnasiums gerecht wird. Sein Angebot überhaupt annehmen zu können, soll gesichert bleiben. Als zweites Handlungsfeld wird in dem aktualisierten Konzept zur Weiterentwicklung der berufsbildenden Schulen der Lehrkräftebedarf vorgestellt. Auf den ersten Blick präsentiert sich das Land Sachsen-Anhalt mit anderenorts gewiss Neid auslösenden Zahlen. Es heißt wörtlich: „Die Unterrichtsversorgung an den öffentlichen berufsbildenden Schulen beträgt im laufenden Schuljahr (also 2008/2009) landesdurchschnittlich rund 98 v.H. Sie konnte damit um knapp einen Prozentpunkt gegenüber dem Vorjahr verbessert werden.“ Die eigentliche Ursache für diesen höchst erfreulichen Sachverhalt wird nur indirekt genannt, sie lässt sich aber aus einem der folgenden Sätze erschließen: „Für das nächste Schuljahr wird von einem weiteren erheblichen Schülerrückgang ausgegangen, so dass auch der Bedarf an Lehrkräften um mehr als 200 Vollzeitlehrereinheiten zurückgehen könnte.“ An dieser Stelle sei von dem bisher zitierten Schreiben des Kultusministeriums vom 23. März 2009 für einen Augenblick Abschied genommen. Bezugspunkt soll vorübergehend die Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Hans-Joachim Mewes (DIE LINKE) vom 24.07.2009 sein.45 Der Abgeordnete hatte nach den Schülerzahlen gefragt, die die Landesregierung „in den Schuljahren 2008/2009 bis zum Schuljahr 2019/2020“ prognostiziere. Unter dem allgemeinen Vorbehalt, dass eine derartige Prognose unter verschiedensten Aspekten als instabil angesehen werden müsse, wurde eine tabellarische Übersicht vorgelegt. Sie weist zunächst aus, dass an den öffentlichen berufsbildenden Schulen in der Dienst- und Fachaufsicht des Kultusministeriums nach einem IST im Schuljahr 2007/2008 von immerhin noch 69.667 Schülerinnen und Schülern bereits für das seinerzeit laufende Schuljahr 2008/2009 ein erheblicher Rückgang auf 65.732 Schülerinnen 45 Landtagsdrucksache 5/2094 vom 24.07.2009.
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und Schüler, also um annähernd 6%, eingetreten war. Schon drei Schuljahre weiter, also 2011/2012, ist laut Prognose nur noch mit ca. 44.700 Schülerinnen und Schülern zu rechnen. Und auf diesem extrem niedrigen Niveau oder sogar noch darunter vermutet man die Zahlen bis 2019/2020. Der Abgeordnete hatte sodann um eine Aussage zur Entwicklung bei den Lehrkräften, ausgedrückt in Vollzeitlehrereinheiten (VZLE), gebeten. In der Antwort hieß es zunächst: „Im Schuljahr 2008/09 waren 2647 Stammlehrkräfte an den berufsbildenden Schulen, von denen sich 282 in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befanden“. Es folgt wieder eine tabellarische Übersicht, deren entscheidende Aussage lautet: Von dem 2009/2010 verbleibenden Arbeitsvermögen in VZLE, das mit 2188 ausgewiesen wird, werde es bis 2019/2020 eine Absenkung auf 1526 VZLE geben, einen Einstellungskorridor gemäß Personalentwicklungskonzept von zunächst je Schuljahr 20 Stellen, ab Schuljahr 2012/2013 von je 30 Stellen vorausgesetzt. Das Ministerium ging also von zwei parallel verlaufenden Abwärtsbewegungen aus: Rückgang der Schülerzahlen bei gleichzeitigem Absinken der Zahl der VZLE. Das Entscheidende daran drückte es wie folgt aus: „Trotz der Unsicherheiten in der Schülerzahlprognose kann eingeschätzt werden, dass die Zahl der Lehrkräfte nicht im gleichen Maße rückläufig ist wie die Schülerzahlen“. Man rechne zunehmend mit Schulen, an denen die Unterrichtsversorgung über 100% liegen werde. Und dann heißt es: „Ab dem Schuljahr 2010/11 ist für etwa vier bis fünf Jahre landesweit mit Überhängen zu rechnen“. Dennoch werde es den schon angesprochenen Einstellungskorridor geben: „Mit Neueinstellungen wird ein notwendiger Beitrag zu einer ausgeglichenen Altersstruktur geleistet. Außerdem können bedarfsgerechte Einstellungen nach Berufsbereichen vorgenommen werden“. Im übrigen werde überlegt, den Lehrkräften Teilzeitangebote zu unterbreiten, um den Überhängen zu begegnen. Die sich anschließende Frage, wie die Landesregierung auf den zu erwartenden Ersatzbedarf ab Schuljahr 2014/2015 vorsorgend zu reagieren gedenke, erhielt folgende Antwort: „Die Landesregierung sorgt dafür, dass trotz zeitweiliger Überhänge kontinuierlich Studien-
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plätze für das Lehramt an berufsbildenden Schulen, Stellen im Vorbereitungsdienst und Stellen für Neueinstellungen im Rahmen des Einstellungskorridors vorgehalten werden“. Wir kehren nun zu dem Schreiben des Kultusministeriums vom 23. März 2009 zurück. Was in offiziellen Verlautbarungen nur sehr zurückhaltend formuliert werden darf, kann hier pointiert ausgedrückt werden: Ein für die allgemeine (wirtschaftliche) Entwicklung Sachsen-Anhalts an sich sehr trauriges, fast entmutigendes Faktum, nämlich das Fehlen eines qualifizierten Nachwuchses für Handwerk, Handel und Industrie, um nur diese Bereiche zu nennen, wird „rein quantitativ – trotz der zu erwartenden Eintritte in die Freistellungsphase der Altersteilzeit oder den Ruhestand – zu einer weiteren Verbesserung der Versorgungslage an den Schulen führen.“ Rein quantitativ! Das ist die entscheidende Einschränkung, der Wermutstropfen mit Langzeitwirkung. Kultusministerien treten im allgemeinen nur zu gern mit dem Hinweis auf die „Verbesserung der Versorgungslage“, und sei sie eben nur eine quantitative, an die Öffentlichkeit. Dieser vordergründige Umgang mit Statistiken zur Unterrichtsversorgung wird gottlob in dem Bezugschreiben nicht praktiziert. Man verschweigt die Konsequenz nicht: Es werde nur wenige, aus fachlichen Gründen notwendige Neueinstellungen geben. Was das für die Altersstruktur in den Kollegien bedeuten muss, liegt auf der Hand. Verschwiegen wird außerdem nicht, dass es wegen der dortigen Überversorgung aus identischen Gründen zu „Abordnungen und Versetzungen von Lehrkräften aus dem Bereich der allgemeinbildenden Schulen“ kommen werde. Das hat allerdings auch eine qualitative Komponente, weil diese Lehrkräfte immerhin den nicht berufsspezifischen Unterricht – also Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Geschichte, Sport etc. – , der sonst in Ermangelung eigenen Fachpersonals nur sehr eingeschränkt würde erteilt werden können, gewährleisten. Es bleiben aber die harten statistischen Daten einer Überversorgung, die den Einstellungskorridor auch für Fachlehrkräfte sehr eng halten und das auf die berufsbildenden Schulen ausgerichtete Lehramtsstudium auf Sachsen-Anhalt be-
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zogen wenig attraktiv machen. Das ist auch deshalb der Fall, weil man den Überhang nutzen will, über Angebote zur Weiterbildung eine wenn schon nicht optimale, so doch vertretbare Lösung des „Problem(s) des Bedarfs an Lehrkräften mit bestimmten fachlichen Ausrichtungen“ zu erzielen.46 Die sich ergebenden rechnerischen Vorteile sollen allerdings von den Schulen auch direkt genutzt werden können. „Sofern sie über entsprechendes Personal verfügt“, soll jede Schule „zusätzlichen Teilungsund Förderunterricht in der Schulform Berufsschule einrichten und über ein Stundenkontingent zum sog. >flexiblen Lehrkräfteeinsatz< verfügen“.47 In den meisten der alten Bundesländer würde das, was in SachsenAnhalt aus einer spezifischen „Not“ heraus geduldet, im Grunde sogar angeregt wird, Jubelarien der politisch Verantwortlichen auslösen. Sachsen-Anhalt geht mit dem Problem eher kleinlaut um, wohl wissend, dass nicht jede günstige Statistik einen ebenso günstigen Gehalt widerspiegelt. Man könnte das bei grundsätzlicher Betrachtung eine verrückte Welt nennen, wenn es nicht so konkrete Implikationen hätte, nämlich das negative Umschlagen von Quantität in Qualität. Ob Karl Marx das auch schon mitbedacht hat? Es wird, was den Komplex Weiterbildung betrifft, auf „eine Struktur von Weiterbildungsmaßnahmen zur fachlichen Qualifizierung von Lehrkräften“ hingewiesen. Diese Maßnahmen seien am „vordringlichsten Bedarf“ ausgerichtet. Der bestehe in den Berufsbereichen „Ernährung und Hauswirtschaft“ sowie „Gesundheit und Pflege“, für die 50 Lehrkräfte interessiert werden sollen. Die Weiterbildung solle sich „über jeweils 2 Schuljahre erstrecken“, mit dem Schuljahr 2009/2010 anlaufen und „sowohl in der Berufspädagogik als auch den Berufsbereichen an der universitären Ausbildung ausgerichtet“ sein. 46 Zur Situation der Ausbildung für das Lehramt an berufsbildenden Schulen vgl. Kap. E 4.
47 Auf den hier verwendeten Begriff „Teilungsunterricht“ sei lediglich hingewiesen!
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Auf die anschließend vorgestellten Handlungsfelder „Berufliche Bildungsgänge“, „Eigenverantwortung“ und „Kooperation mit Sekundarschulen sowie Fachhochschulen und Universitäten“ soll hier ganz im Sinne meiner Ausführungen in der Einleitung zu diesem Buch nicht näher eingegangen werden. Es geht dort um Stichworte wie „Rahmenrichtlinienkommissionen“, „Schulcurricula“ oder „prozessorientierter Unterricht“ und „Praktika“ einerseits und „Aufbau einer systematischen Qualitätsentwicklung“ sowie „Personalverantwortung, Finanzverantwortung, Steuerungsverantwortung“ andererseits, also um Themenkomplexe, die nicht der „Schullandschaft“ in dem hier zugrundegelegten Verständnis zuzurechnen sind und im übrigen auch keine Spezifika des berufsbildenden Schulwesens darstellen.
3. Schulen in freier Trägerschaft Mit dem Totalitätsanspruch der Staat und Gesellschaft dominierenden SED und deshalb auch mit dem auf der Ideologie des Sozialismus basierenden Bildungswesen der DDR waren Schulen in freier Trägerschaft ganz und gar unvereinbar. Sie wären systemsprengend gewesen.48 Als dieses Monopolstellung reklamierende System im Zuge der friedlichen Revolution 1989 zusammengebrochen war und ein durch demokratische Wahl legitimiertes Parlament, immer noch Volkskammer geheißen, ab März 1990 die rechtlichen Grundlagen für ein freiheitliches Staatswesen zu schaffen begann, gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten, gerade auch in Erfüllung von Erwartungshaltungen der Bevölkerung, das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft mit Verfassungsrang zu etablieren.
48 Es gab einige wenige schulische Einrichtungen in der Regie der Kirchen, die An-
gebote des sog. Zweiten Bildungsweges bereithielten und in erster Linie der Heranbildung eigenen Nachwuchses für den pastoralen Aufgabenbereich dienten. Genannt sei als Beispiel das Norbertinum des Bistums Magdeburg.
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Das geschah am 22. Juli 1990 mit dem „Verfassungsgesetz über Schulen in freier Trägerschaft“, mit dem einzelne Artikel der formaljuristisch noch fortbestehenden DDR-Verfassung geändert wurden.49 Die für uns entscheidende, den Artikel 25 Abs. 4 ändernde Passage lautete: „Das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft wird gewährleistet. Schulen in freier Trägerschaft haben Anspruch auf öffentliche Finanzhilfe. Einzelheiten werden durch Gesetz geregelt.“ 50 Es wurde ein Absatz 4a hinzugefügt, in dem es hieß: „Eine Grundschule in freier Trägerschaft ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine staatliche Grundschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht“. Als das neugeschaffene Land Sachsen-Anhalt sich ab November 1990 an die Aufgabe machte, sein Bildungswesen in eigener „Kulturhoheit“ zu gestalten, war zwar, was die Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft anbelangt, der Grundgesetzartikel 7 Abs. 4 zur die Landesorgane bindenden Rechtsnorm geworden, aber in Kenntnis der soeben beschriebenen Änderung der DDR-Verfassung hatte sich bereits auf breiter Front eine Bewegung in Gang gesetzt, die schließlich zu einem vielfältigen „Privatschulwesen“ auch in Sachsen-Anhalt führen sollte. Im Schulreformgesetz von 1991 wurde im Grunde nur noch nachvollzogen, was die DDR-Verfassung seit Juli 1990 und das Grundgesetz von Anfang an rechtsverbindlich vorgegeben hatten. Die §§ 14 bis 18 regelten Grundsätzliches und Einzelheiten. Zwei Bestimmun49 Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1990, Teil I, Nr. 52,
S. 1036. Vgl. dazu auch Hans-Werner Fuchs, Lutz R. Reuter: Bildungspolitik seit der Wende. Dokumente zum Umbau des ostdeutschen Bildungssystems, Opladen 1995, S. 240. 50 Die Volkskammer legte schon im Juli 1990 selbst fest, dass die Finanzhilfe mindestens 70% der Personal- und Sachkosten betragen sollte. Später wurde dieser Satz sogar auf 90% erhöht. Gegenwärtig gilt eine sehr komplizierte Berechnungsformel. Sie ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung, auf die weiter unten speziell eingegangen wird.
Schulen in freier Trägerschaft 81
gen seien besonders herausgestellt. Im § 15 hieß es: „Die Zusammenarbeit zwischen anerkannten Schulen in freier Trägerschaft und öffentlichen Schulen ist zu fördern“. Ihre Gleichwertigkeit, die eigentliche Voraussetzung für die Verleihung der Eigenschaft einer anerkannten Schule (§ 17), wurde damit nachdrücklich unterstrichen. Und im § 18 fand diese Anerkennung ihren Ausdruck in der Gewährung einer „Finanzhilfe als Zuschuss zu den laufenden Personalund Sachkosten“. Im Absatz 3 des § 18 wurde der zuständige Minister ermächtigt, „die Voraussetzungen für die Gewährung der Finanzhilfe und deren Ausgestaltung durch Verordnung zu regeln“. Damit hatte es gesetzestechnisch zunächst sein Bewenden. Seit dem Schulgesetz von 1993 gibt es den § 18a, in dem der „Umfang der Finanzhilfe“ geregelt ist. Zusätzlich wurde die Verordnungsermächtigung hier verankert. Im Zuge der zahlreichen Schulgesetznovellen wurden die Vorschriften in den §§ 18 und 18a immer mehr aufgefächert. Darin spiegelt sich die Tatsache wider, dass die Finanzhilfe die Schlüsselstelle ist, an der sich die Interessen und die Belange des Bundeslandes einerseits und der in ihm wirkenden Schulen in freier Trägerschaft andererseits substantiell, und das heißt sehr profan materiell, begegnen. § 18a hat inzwischen einen Umfang und einen Detailreichtum erfahren, die es nicht erlauben, ihn im Rahmen dieser Abhandlung in allen Einzelheiten zu referieren, zumal Berechnungsformeln und Maßgaben zum Wochenstundenbedarf je Klasse, zum Wochenstundenangebot je Lehrkraft, zur Klassenfrequenz und zu vielem mehr den Text bestimmen. Anders als das Vorschaltgesetz von 1991 befassen sich die Schulgesetze Sachsen-Anhalts seit 1993 auch mit den „Ergänzungsschulen“. Ihnen sind insbesondere die §§ 18b bis 18d gewidmet. Es handelt sich um Schulen in freier Trägerschaft, „die nicht Ersatzschulen nach § 16 sind“. Abgesehen davon, dass sie nicht als „Ersatz“ für die Regelschulformen fungieren dürfen, markiert die Tatsache, dass sie keine „Finanzhilfe“ erhalten, den gravierenden Unterschied zu den Ersatzschulen. Den „anerkannten Ergänzungsschulen“ – die Verleihung dieser Eigenschaft ist im § 18d geregelt – können aber „auf Antrag Zuschüsse nach Maßgabe des Haushalts gewährt werden“.
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Grundsätzlich ist die Genehmigung als erster Schritt von der später erfolgenden Anerkennung einer Schule in freier Trägerschaft als „Ersatzschule“ zu unterscheiden. Erst mit ihrer Anerkennung darf eine Schule die volle Finanzhilfe aus dem Landeshaushalt erwarten. Die erste Verordnung dazu erging gemäß § 18 des Schulreformgesetzes am 22. September 1992, die dann zum Schuljahr 1993/1994 erstmals Wirkung entfalten konnte. Es sei hier bereits erwähnt, dass schon zum Schuljahr 1991/1992 11 Ersatzschulen den Unterrichtsbetrieb aufnahmen. Darunter waren neben 2 Waldorfschulen, 3 Sonderschulen und 1 Schule des Zweiten Bildungswegs 5 Gymnasien. Als die Pioniere seien sie namentlich genannt: Liborius-Gymnasium Dessau, Elisabeth-Gymnasium Halle und Norbertus-Gymnasium Magdeburg in der Trägerschaft des Bistums Magdeburg, inzwischen von der Edith-Stein-Stiftung dieses Bistums getragen, das Ökumenische Domgymnasium Magdeburg in der Trägerschaft eines zu diesem Zweck eingetragenen Vereins und die Christophorusschule in Droyßig mit dem Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland e.V. als Schulträger. Diesen Schulen mit bereits 2.126 Schülerinnen und Schülern (allerdings weniger als 1% der Gesamtschülerzahl an allgemeinbildenden Schulen) wurde, bevor das Vorschaltgesetz in Kraft trat, vor dem Hintergrund der Änderung der Verfassung der DDR im Juli 1990, auf die noch einmal verwiesen sei, und unter Beachtung des Art. 7 GG sofort Finanzhilfe gewährt. Genehmigung und Anerkennung als Ersatzschule gingen sozusagen Hand in Hand. Die Finanzhilfe wurde als erforderliche materielle Grundlage im selben Verwaltungsakt im Vorgriff auf das Gesetz und die daraus abzuleitende Verordnung zugesagt. Ungewöhnliche Zeiten rechtfertigen wohl ungewöhnliches Handeln, sofern es nicht evidenten Rechtsbruch darstellt. Was das Kriterium der Gleichwertigkeit anbelangt, konnte man immerhin ganz sicher davon ausgehen, dass es erfüllt werde – und man wurde nicht enttäuscht, damals nicht und bis auf den heutigen Tag nicht. Weitere Einzelheiten sollen hier nicht behandelt werden. Verallgemeinernd darf festgestellt werden, dass die Zusammenarbeit aller Landesregierungen mit den „freien Trägern“, wie sie gemein-
Schulen in freier Trägerschaft 83
hin genannt werden, auf allen relevanten Gebieten, mithin selbst – trotz überwiegend höchst angespannter Haushaltslage des Landes – in den Finanzangelegenheiten, weitgehend konfliktfrei, sachgerecht und vertrauensbildend gewesen ist. Eine Ausnahme besonderer Qualität gab es aber in den Jahren 2006 bis 2008, als eine scharfe Auseinandersetzung über die Berechnung der Finanzhilfe geführt wurde. Auf diesen Konflikt soll hier ausführlicher eingegangen werden, weil er spüren lässt, wie plötzlich ein an sich harmonisches Miteinander in eine Konfrontation umschlug, die den politischen Prozess im allgemeinen und die in ihm Agierenden im besonderen außergewöhnlich in Mitleidenschaft zu ziehen vermochte. Die Schulen in freier Trägerschaft beriefen sich, mehr Landesmittel fordernd, unter anderem auf Gerichtsentscheidungen, die ihrer Auffassung nach eine höhere Finanzhilfe recht und billig erscheinen ließen. Resultat der Auseinandersetzung war die Zehnte Novelle des Schulgesetzes, die am 15.07.2008 verabschiedet wurde.51 Ihre Genese war bemerkenswert, weil spannend und nicht ohne Dramatik. Ihren eigentlichen Ursprung hatte die Novelle in einem Rechtsstreit von freien Trägern gegen das Land Sachsen-Anhalt, welcher im Jahre 2006 vom OVG Magdeburg entschieden wurde. Sie erhielten mit ihrer Klage auf „auskömmliche“ Finanzierung ihrer Schulen durch das Land Recht. Das Kultusministerium war nun gezwungen, das Schulgesetz und die Ersatzschulverordnung der neuen Rechtslage anzupassen. Eine Novelle zu diesem Zeitpunkt – 2008 – hätte es also ohne eine Klage der freien Träger wohl nicht gegeben. Diese Schlussfolgerung drängt sich förmlich auf, weil man zur Würdigung des gesamten Vorgangs auch die zögerliche, wenn nicht gar verzögernde Haltung der Kultusverwaltung in Rechnung stellen muss. Der Streit um eine auskömmliche und, je nach Sicht, den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Finanzhilfe drehte sich nicht nur um die genauen Formulierungen im Schulgesetz. Vielmehr war auch die Frage 51 GVBl. LSA 2008, S. 398.
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strittig, welche Gestalt die Ersatzschulverordnung finden sollte. Das OVG Magdeburg hatte eine hinreichende Bestimmtheit der Formel für die Berechnung der Finanzhilfe verlangt. Dies führte zu den bereits erwähnten umfang- und detailreichen Formeln und Maßgaben im § 18a des Schulgesetzes. Bevor es dazu kam, kreiste die scharfe Auseinandersetzung zusätzlich um die Frage, welche Modalitäten in dem Zeitraum zwischen der OVG-Entscheidung und dem In-Kraft-Treten des novellierten Schulgesetzes bei der Berechnung der Finanzhilfe Anwendung finden sollten. Vom Kultusministerium wurde dieserhalb eine Ersatzschulübergangsverordnung vorbereitet, um das Problem zu lösen. Die freien Schulen wehrten sich aber gegen einige ihrer Bestimmungen. Um dem Konflikt die Spitze zu nehmen, schalteten sich die Koalitionsfraktionen von CDU und SPD ein. Sie wollten gegenüber den beiden Gesprächspartnern moderieren – auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Dabei hatte die CDU-Fraktion erkennbar weniger Schwierigkeiten, sich mit der Position der freien Träger – vertreten durch den Verband der Privatschulen VDP und die Arbeitsgemeinschaft christlich orientierter Schulen – zu identifizieren, als es der SPD-Fraktion möglich war. Hier traten eindeutig die unterschiedlichen (bildungs)programmatischen Grundmuster der beiden Regierungspartner CDU und SPD zutage. Gleichwohl wurde in dem Konflikt schließlich ein Lösungsweg gefunden, der von beiden Fraktionen gegangen werden konnte. Um Irritationen auszuräumen und um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, führten die beiden Regierungsfraktionen im Vorfeld der offiziellen Anhörung im Ausschuss für Bildung, Wissenschaft und Kultur sogar eine informelle, sozusagen interne Anhörung durch, um Anregungen aufzunehmen. Zentraler Konfliktpunkt war die präzise Formel zur Berechnung der Finanzhilfe. Sie wurde dann mühsam erarbeitet, in der offiziellen Anhörung des Ausschusses am 13. Februar 2008 abschließend konkretisiert und in den § 18a des Schulgesetzes eingearbeitet.
Schulen in freier Trägerschaft 85
Noch einmal: Dies kann nicht der Ort sein, wo die komplexen, eher wohl überaus komplizierten Formeln und Maßgaben des § 18a zu referieren sind. Der gesamte Vorgang verdient aber eine allgemeine Würdigung: Ein Markenzeichen und ein Aktivposten der seit 1990 gestalteten Schullandschaft Sachsen-Anhalts, die Schulen in freier Trägerschaft, hatten sich als fordernd-wehrhaft ihre legitimen Interessen gegenüber dem Staat wahrnehmende gleichberechtigte Teilnehmer am demokratischen politischen Prozess erwiesen. Einen aufwendigen Vergleich mit der DDR kann sich jeder schenken, der sich ihrer Realität erinnert. Die trotz dieses ungewöhnlichen Konflikts dennoch insgesamt gute Zusammenarbeit des Landes mit den freien Trägern war nicht zuletzt Ausfluss der Tatsache, dass sich die Schulen in freier Trägerschaft seit 1990 grundsätzlich des Wohlwollens und des speziellen Augenmerks der Protagonisten in den Kultusgremien sowohl des Landtages als auch der Landesregierung erfreuen durften, galt es doch in Abgrenzung von den unseligen Zeiten der DDR zu bedenken, dass Schulen in freier Trägerschaft damals verfemt gewesen waren und nun umso mehr als Bereicherung einer Schullandschaft freiheitlicher Prägung verstanden werden durften. Im Laufe der Jahre wurde das Begehren, Schulen in freier Trägerschaft zu errichten, unabhängig von der Frage, welche parteipolitische Richtung in der Landesregierung das Sagen hatte, stärker und ist bis auf den heutigen Tag ungebrochen geblieben. Allerdings war die Genehmigungspraxis in den Jahren von 1994 bis 2002 unter der SPD-geführten Landesregierung, aus welchen Gründen auch immer, eher restriktiv. Während die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft in den 90er Jahren zwar stetig, aber eben nicht übermäßig stieg, erlebten die Jahre nach dem Regierungswechsel von 2002 einen regelrechten Antragsboom. So verfügten zum Schuljahr 2003/2004 insgesamt 28 allgemeinbildende Schulen über den Status einer anerkannten Ersatzschule: 8 Gymnasien, 2 Freie Waldorfschulen, 5 Förderschulen, 11 Grund-
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schulen und 2 Sekundarschulen. Hinzu kamen 18 genehmigte Ersatzschulen, überwiegend Grundschulen. Im Schuljahr 2009/2010 lauten die entsprechenden Zahlen: 10 Gymnasien, 3 Freie Waldorfschulen, 6 Förderschulen, 35 Grundschulen, 6 Sekundarschulen und 1 Gesamtschule. Außerdem gibt es 18 genehmigte Schulen, darunter nunmehr zahlreiche Sekundarschulen, also insgesamt 79 Ersatzschulen. Allein seit dem Jahr 2002 wurden 52 Schulen in freier Trägerschaft genehmigt. Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht die Entwicklung. Es wird dabei nicht zwischen Genehmigung und Anerkennung unterschieden, zumal davon auszugehen ist, dass alle genehmigten Schulen über kurz oder lang den Status einer anerkannten Ersatzschule erhalten werden. Tabelle 6 Schulen in freier Trägerschaft − allgemeinbildend Grundschulen Sekundar- Gymnasien Freie IGS/KGS schulen Waldorfschulen 2003/2004
31
2005/2006 2007/2008 2009/2010
Förderschulen
Gesamt
1
6
2
2
6
48
35
7
10
3
1
6
62
36
10
10
3
1
6
66
40
14
12
3
3
7
79
Quelle: Kultusministerium Sachsen-Anhalt.
Die Steigerung der Zahl der Ersatzschulen findet ihre Entsprechung in der Zunahme der Zahl der Lehrkräfte, die an diesen Schulen beschäftigt wurden bzw. werden. Aufschluss gibt eine Übersicht des Kultusministeriums vom 24.07.2009, mit der auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Jutta Fiedler (DIE LINKE) reagiert wurde.52 Zunächst fällt auf, dass es die Beurlaubung von Lehrkräften öffentlicher Schulen für den Dienst an Schulen in freier Trägerschaft gemäß § 16a Abs. 5 SchulG LSA so gut wie gar nicht gibt. Wenn sie 52 LT-Drucksache 5/2093, ausgegeben am 29.07.2009.
Schulen in freier Trägerschaft 87
erfolgt, dann für kurze Zeiträume mit der Möglichkeit der Verlängerung bei Bedarf. Die freien Schulen rekrutieren also ihr Lehrpersonal auf dem freien Markt. Angesichts der sehr reservierten Einstellungspraxis des Landes haben sie bei bestimmten Lehrämtern und etlichen Unterrichtsfächern keine gravierenden Probleme gehabt. Und sie dürften, um es in der Sprache der Arbeitsverwaltung auszudrücken, erheblich zur Entlastung des Lehrerarbeitsmarktes beigetragen haben. Nicht wenige der die Vorbereitungs- und die Studienseminare mit guten Examina, aber mit an den öffentlichen Schulen des Landes nicht nachgefragten Unterrichtsfächern verlassenden Lehramtskandidaten konnten bei den freien Trägern in ein (Übergangs)Beschäftigungsverhältnis kommen. Die Entwicklung der Beschäftigung von Lehrkräften an Schulen in freier Trägerschaft lässt die folgende Tabelle erkennen: Tabelle 7 Entwicklung der Beschäftigung von Lehrkräften an Schulen in freier Trägerschaft Anzahl der Lehrkräfte an Schulen in freier Trägerschaft Sachsen-Anhalts Schulform
2000/01 2001/02 2002/03 2003/04 2004/05 2005/06 2006/07 2007/08 2008/09
Grundschule
58
68
109
157
195
191
251
266
305
Sekundarschule
28
19
19
18
20
37
40
66
88
Gymnasium/ Gesamtschulen
288
319
347
359
378
378
416
385
415
Waldorfschule
48
41
57
49
54
54
55
55
55
Förderschulen
46
48
50
56
56
54
56
59
64
922
1.025
1.013
noch keine Daten
Berufsbildende Schulen
Keine Datenlage
Quelle: LT-Drucksache 5/2093 v. 24.07.2009.
88 Genese − Entwicklung − Perspektiven
Die beeindruckenden Zahlen der beiden Tabellen dokumentieren, welchen Stellenwert die Schulen in freier Trägerschaft im Gefüge des gesamten Schulwesens in Sachsen-Anhalt genießen durften und weiterhin genießen. Dies ist ursprünglich auf das generelle große Interesse der Eltern an diesen Schulen zurückzuführen. Schulen in freier Trägerschaft werden ganz allgemein ein hohes Niveau und ein motivierendes Lernumfeld als Resultat vielfältiger pädagogischer Profile, allerdings mehr noch eine ausgeprägte Orientierung an Werten und Normen sowie eine auf Nachhaltigkeit angelegte Erziehungsarbeit nachgesagt. Die tatsächliche oder auch nur behauptete Misere der öffentlichen Schulen tut offensichtlich ein übriges. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.) titelte am 12. November 2009 „Fluchtburg für Bildungshungrige“ und führte aus, Privatschulen hätten „Zulauf wie nie“. Nicht nur Reiche schickten ihre Kinder dorthin, auch die gebildete Mittelschicht fliehe aus staatlichen Schulen. Eine Graphik vermittelt, dass der „Zulauf für Privatschulen“, wenngleich von einem niedrigen Niveau ausgehend, seit 1997 überproportional stark gewesen ist. Im Jahre 2007 habe der Anteil der Privatschüler an allen Schülern in Ostdeutschland bereits über sechs Prozent betragen bei knapp acht Prozent in Westdeutschland.53 In Sachsen-Anhalt konnten für das hier relevante Schuljahr 2007/2008 folgende Schülerzahlen registriert werden: An den allgemeinbildenden öffentlichen Schulen wurden 174.084 Schülerinnen und Schüler unterrichtet, an den Ersatzschulen – mit dem Schwerpunkt Gymnasien – 9.538. Also betrug die Quote nur 5,5 %. Sie deutete an, dass Sachsen-Anhalt noch Spielraum für weitere Ersatzschulen bot. Und der wurde und wird offensichtlich genutzt. 2008/2009 lauteten die entsprechenden Zahlen 166.254 und 10.215, die Quote war auf 5,8 % gestiegen und deutete den positiven Trend an, der im laufenden Schuljahr durch das Anwachsen der Zahl der Ersatzschulen von 77 auf 79 und der Quote auf 6,3 % zum Ausdruck kommt.
53 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15. November 2009, S. 38.
Schulen in freier Trägerschaft 89
In einer Verlagsbeilage der F.A.Z. vom 28. Januar 2010 macht der Verband Deutscher Privatschulverbände e.V. (VDP) darauf aufmerksam, dass von den rund zwölf Millionen Schülern in Deutschland etwa jeder 13. eine freie Bildungseinrichtung besuche. Seit dem Schuljahr 1992/1993 sei die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft um 55 Prozent auf insgesamt 5015 im Schuljahr 2008/2009 gestiegen. Für Sachsen-Anhalt lassen sich folgende Werte nachweisen: Im Schuljahr 1992/1993 gab es in Sachsen-Anhalt 12 allgemeinbildende Ersatzschulen, 2009/2010 sind es 79. Die Steigerung beträgt fast 660%! Das ist eine Größenordnung, die natürlich relativiert werden muss, denn für Sachsen-Anhalt war das Schuljahr 1991/1992 so etwas wie die Geburtsstunde, die Stunde Null. Aber die Entwicklung zeigt, dass die Eltern in Sachsen-Anhalt sich in ihrer Neigung hin zu Privatschulen nicht wesentlich von denen in anderen Bundesländern unterscheiden, es sei denn dadurch, dass sie diesen allgemeinen Trend noch verstärkt haben.54 An dieser Stelle sei ein Blick auf den berufsbildenden Sektor geworfen. Dort beträgt die Gesamtzahl der anerkannten Ersatzschulen im Schuljahr 2009/2010 bereits 215 – ebenfalls mit steigender Tendenz! Dass sich daneben noch Ersatzschulen im Genehmigungsstatus und zusätzlich einige Ergänzungsschulen der Berufsqualifizierung Jugendlicher zuwenden, sei lediglich erwähnt. Die für Außenstehende gewiss ungewöhnlich hohe Zahl lässt sich relativ einfach erklären. Die Ersatzschulen des berufsbildenden Bereichs können auch und in mancher Hinsicht gerade als verhältnismäßig kleine Einheiten funktionsgerecht organisiert und geführt werden. Viele sind auf bestimmte eher am Rande der Nachfrage stehende (Aus)Bildungsgänge spezialisiert, die nicht auf Mehrzügigkeit 54 In diesem Zusammenhang ist eine Meldung des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) - vgl. Texttafel 169 vom 03.03.2010 – höchst interessant: In Sachsen besuche jeder siebente „Schüler“ (Schülerinnen inbegriffen, versteht sich) eine Schule in freier Trägerschaft, 80% mehr als vor 10 Jahren. Jede fünfte Schule in Sachsen sei eine in freier Trägerschaft. Das berufsbildende Schulwesen wurde natürlich miterfasst. Die folgenden Ausführungen zu Sachsen-Anhalt bestätigen das.
90 Genese − Entwicklung − Perspektiven
angelegt sind und sich auf maximal drei Jahre erstrecken. Die freien Träger können sehr flexibel auf Erwartungen und Herausforderungen des Ausbildungsmarktes reagieren, viel stärker jedenfalls als die kommunalen Träger, die vor dem Hintergrund der Schulentwicklungsplanung und der damit verbundenen Investitionen auf Kontinuitäten und Stabilitäten sowie fiskalische Planungssicherheit (öffentliches Dienstrecht, Personalkörper, Gebäudebestände seien als Beispiele genannt) angewiesen sind. Eine Besonderheit gilt es zu beachten, die in gewisser Weise Ausdruck des soeben Festgestellten ist: Als Berufsschulen der dualen Berufsausbildung mit den Kammern und den Innungen als den Ausbildungspartnern treten Ersatzschulen nicht in Erscheinung. Dafür sind sie umso zahlreicher auf dem Gebiet der Berufsfachschulen und der Fachschulen vertreten, wo die berufsqualifizierende Ausbildung auf die Schule als Ausbildungsort beschränkt bleiben kann. Ein enormes Betätigungsfeld haben sich die Ersatzschulen in Bildungsgängen eröffnet, die auf Pflegeberufe (z.B. Altenpflege, Heilerziehungspflege, Sozialassistenz), medizinische Assistenzdienste (Physiotherapie, Ergotherapie, Diätassistenz etc.) sowie auf den Touristiksektor ( etwa Touristikassistenz, Hotelmanagement, Kochen und Servieren) ausgerichtet sind. Hinzu kommen in nicht geringer Zahl Assistenzberufe für Wirtschaft (z.B. Fremdsprachen und Korrespondenz) und Technik ( wie Chemietechnik, Mechatronik, Mechanik), wobei die Ausbildung nicht selten an Fachoberschulen mit der Perspektive des anschließenden Fachhochschulstudiums erfolgt. Gerade unter den Ergänzungsschulen, das macht schließlich ihren besonderen Charakter aus, ist der eine oder andere „Exot“ zu finden. Genannt seien eine Schule für Barmixer und eine Schule für Animation und Freizeitgestaltung, beide in Halle. Mehrere Faktoren also machen die freien Schulen zunehmend attraktiv. Nicht selten treten sie damit in unmittelbare Konkurrenz zu den öffentlichen Schulen. Sie machen sich allerdings auch eine sich steigernde strukturelle Schwäche der Schullandschaft Sachsen-Anhalts zunutze: Wo das
Schulen in freier Trägerschaft 91
Schulnetz immer weitmaschiger wird, vermögen Ersatzschulen im eigentlichen Wortsinn als Ersatz aufzutreten und den vielerorts drohenden Verlust der Wohnortnähe von Schulstandorten abzuwenden. Die überproportionale Zunahme von Grundschulen und in jüngster Zeit auch von Sekundarschulen verleiht dieser Vermutung viel Plausibilität. Mit leiser Ironie formuliert: In Zeiten drastisch zurückgehender Schülerzahlen wächst die Zahl der freien Schulen, weil sie flexibel auf die Ausdünnung reagieren können und etliche der Lücken zu besetzen verstehen, ohne als Lückenbüßer verstanden zu werden. In Anlehnung an GG Art. 7 Abs. 5, wo noch – seit 1949 – der Terminus „Volksschule“ verwendet wird, hatte die DDR-Volkskammer im Juli 1990 den einerseits einschränkenden, andererseits aber auch öffnenden Absatz 4a in bezug auf die Grundschule in den Artikel 25 eingefügt. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung sei der Text wiedergegeben: „Eine Grundschule in freier Trägerschaft ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine staatliche Grundschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht.“ Wenngleich diese Verfassungsrechtsnorm nicht mehr in Kraft ist, ist sie doch eine Art Orientierungspunkt geblieben. Die meisten der vor allem seit dem Jahre 2000 die Schullandschaft Sachsen-Anhalts in zunehmender Zahl bereichernden Grundschulen in freier Trägerschaft zeichnen sich entweder durch ein besonderes pädagogisches Programm aus oder stellen Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen dar. Das drücken die folgenden Angaben hinlänglich aus: 6 Grundschulen orientieren sich an der Montessori-Pädagogik, 14 sind evangelische und 4 katholische Bekenntnisschulen. Die beiden ersten Gruppen haben überwiegend unterschiedliche Einzelträger in der Rechtsform des eingetragenen Vereins, während für die katholischen Grundschulen wieder die Edith-Stein-Schulstiftung des Bistums Magdeburg als Träger fungiert.
92 Genese − Entwicklung − Perspektiven
Von den 14 Sekundarschulen in freier Trägerschaft befinden sich im Schuljahr 2009/2010 8 noch im Stadium der Genehmigung. Das zeigt, dass ihre Errichtung jüngsten Datums ist und dies die oben präsentierte, etwas gewagte Vermutung zu stützen vermag. Interessant ist, dass sich darunter auch drei konfessionell verortete Schulen befinden: Je eine evangelische Sekundarschule in Magdeburg und in Haldensleben, beide in der Trägerschaft der Johannes-Schulstiftung der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen, und eine katholische Sekundarschule in Halle, auch hier in der Trägerschaft der EdithStein-Schulstiftung. Diese konfessionelle Bindung ist bemerkenswert, entweder, obwohl Zugehörigkeit zu einer Konfession nur noch eine Minderheit der Bevölkerung auszeichnet, oder, wofür mehr spricht, weil der Minderheitenstatus Schulen eigenen Bekenntnisses einen besonderen Sinn verleiht. Zu erwähnen sind abschließend die drei Freien Waldorfschulen als Ersatzschulen mit besonderer pädagogischer Bedeutung, je eine in Magdeburg, Halle und Thale. Sie führen schulische Angebote, die von der Grundschule bis zum Abitur reichen. Ihre Träger sind eingetragene Vereine. Für den Landeshaushalt, das muss nüchtern festgestellt werden, bedeutet die steigende Zahl von anerkannten Schulen in freier Trägerschaft angesichts des Ausbleibens einer adäquaten Entlastung bei den öffentlichen Schulen eine steigende Belastung seiner Ausgabenseite. Im Doppelhaushalt 2010/2011 wurden für die allgemeinbildenden Schulen in freier Trägerschaft im Haushaltsjahr 2010 beachtliche 51.451.500 Euro eingestellt. Für die Schulen im berufsbildenden Bereich beläuft sich der Betrag auf 27. 797.400 Euro. Hinzu kommen Zuschüsse für den Ganztagsbetrieb in Höhe von 327.000 Euro. Insgesamt sind also für die Schulen in freier Trägerschaft 79.575.000 Euro im Haushalt bereitgestellt. Es handelt sich, das muss bedacht werden, um Summen, die aus Rechtsverpflichtungen resultieren. Da sie einen immer stärker wachsenden Ausgabenposten im Einzelplan 07 des Kultusministeriums darstellen, bedeutet dies zwangsläufig, dass bei gleichbleibendem bzw. mehr noch bei abnehmendem Bildungshaushalt weniger Gelder für andere Haus-
Religionsunterricht und Ethikunterricht 93
haltsstellen und damit Aufgaben des Ministeriums zur Verfügung stehen werden.55 Dennoch: Die Schulen in freier Trägerschaft sind unverzichtbarer Ausdruck eines freiheitlich konstituierten Staatswesens. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, mag unter bestimmten Aspekten hoch erscheinen. Aber es ist der Preis für eine Zierde dieses Staates und seiner Schullandschaften. Sachsen-Anhalt hat sich 1990 aus Überzeugung, wohl wissend, dass es eine Alternative dazu gar nicht gab, darauf eingelassen und kann sich das zur Ehre gereichen lassen. Vielfalt ist allemal ein Gewinn, in diesem Fall nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein qualitativer.
4. Religionsunterricht und Ethikunterricht Religionslehre ist in Deutschland das einzige Unterrichtsfach, das Verfassungsrang erhalten hat. Im Grundgesetz heißt es im Absatz 3 des Artikels 7, der dem Schulwesen gewidmet ist, unzweideutig: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach“. Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde diese Bestimmung für die aus der DDR hervorgegangenen Bundesländer zur sie bindenden Rechtsnorm. Es gab deshalb auch von Anfang an keinen Zweifel, dass sich im Kanon der Unterrichtsfächer an den Schulen Sachsen-Anhalts selbstverständlich auch das Fach Religionslehre befinden musste, da Artikel 141 GG mit der sogenannten Bremer Klausel nicht zum Zuge kommen konnte. Artikel 141 GG lautet nämlich: „Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand“. In Sachsen-Anhalt war das wie in den übrigen neuen Bundesländern nicht der Fall.56 55 Für das Haushaltsjahr 2011 hält der Etat 87.497.000 Euro bereit. 56 Außerordentlich interessant ist in diesem Zusammenhang eine Meldung des Mitteldeutschen Rundfunks vom 08.11.2009 auf seiner Texttafel 181. Die neue Ministerpräsidentin Thüringens, Frau Christine Lieberknecht, wird dort aus ei-
94 Genese − Entwicklung − Perspektiven
Das Schulreformgesetz vom 24.05.1991 enthält in den §§ 19 bis 21 die einschlägigen Bestimmungen. § 19 Absatz 1 stellt fest: „Der Religionsunterricht und der Ethikunterricht sind an den öffentlichen Schulen ordentliche Lehrfächer“.57 Auf diese lapidare Aussage muss etwas genauer geschaut werden. Neben den Religionsunterricht wurde in Sachsen-Anhalt von Anfang an gleichberechtigt mit Lehrfachcharakter der Ethikunterricht gestellt. Was als eine Selbstverständlichkeit erscheint, war alles andere als das. Es lag eine Fundamentalentscheidung vor, deren erster Teil als bloßer Ausdruck des Gehorsams gegenüber dem Grundgesetz verstanden werden konnte, deren zweiter hingegen eine frühe eigene Weichenstellung mit Vorbildcharakter beinhaltete. In den westlichen Bundesländern, so auch im Partnerland Niedersachsen, hatte das Unterrichtsfach Religionslehre nämlich lange Zeit auf dem Gebiet der Wertebildung so etwas wie eine Exklusivstellung. Das Prinzip der Religionsfreiheit eröffnete zwar die Möglichkeit, die Teilnahme am Religionsunterricht auf dem Wege der Abmeldung zu vermeiden, aber erst relativ spät, in den siebziger oder gar erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wurde der Besuch von „Ersatzunterricht“, häufig als „Unterricht Werte und Normen“58 bezeichnet, Pflicht. Lehrfachstatus hatte dieser Ersatzunterricht nicht sofort. Das hatte zur Konsequenz, dass zum Beispiel in Niedersachsen Renem Wortbeitrag auf einer Tagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU in Erfurt zitiert. Der Religionsunterricht gehöre ihrer Ansicht nach „zu den Früchten der friedlichen Revolution“. Zugleich habe Frau Lieberknecht erklärt, Religionsunterricht sei „ein elementarer Dienst am Leben junger Menschen“. Es folgt sodann der Bezug auf eine Mitteilung des dortigen Kultusministeriums, dass von 171590 Schülerinnen und Schülern an den allgemeinbildenden Schulen 59505 am Religionsunterricht teilnähmen, also etwa 35%. 57 Eine Verfassungsrechtsnorm Sachsen-Anhalts konnte noch kein Bezugspunkt sein, weil die „Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt“ erst am 16. Juli 1992 verabschiedet und verkündet wurde (GVBl. LSA Nr. 31/1992, ausgegeben am 17.07.1992). Artikel 27 Abs. 3 enthält Bestimmungen, die mit GG Artikel 7 übereinstimmen. Erstaunlich ist aber die gewählte Reihenfolge: „Ethikunterricht und Religionsunterricht...“! 58 Niedersächsisches Schulgesetz i. d. F. v. 01.08.2003, § 128.
Religionsunterricht und Ethikunterricht 95
ligionslehre Prüfungsfach im Abitur sein konnte, nicht aber „Werte und Normen“. Dass sich das inzwischen geändert hat, sei am Rande bemerkt. Die Gleichstellung von Religionsunterricht und Ethikunterricht hatte natürlich eine, ebenfalls als DDR-Erbe zu bezeichnende, landesspezifische Ursache. Nur eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler gehörte den im § 19 Abs. 3 erwähnten „Religionsgemeinschaften“ an, „in Übereinstimmung“ mit deren Grundsätzen der Religionsunterricht zu erteilen war. Es wäre deshalb der Mehrheit nicht zu vermitteln gewesen, dass der Besuch des Ethikunterrichts zwar Pflicht, er selbst aber nur „Ersatz“ sei. § 21 steht in der Logik dieses Gedankengangs: „Die Erziehungsberechtigten bestimmen, an welchem Unterricht gemäß § 19 Abs. 1 ihre Kinder teilnehmen. Nach Vollendung des 14. Lebensjahres steht dieses Recht dem Schüler zu“. Was theoretisch relativ einfach geregelt werden konnte, musste sich im Schulalltag, das war dem Schulgesetzgeber bewusst, als schwierig zu organisierende und zu lösende Aufgabe darstellen. Darauf nimmt Absatz 5 des § 19 Rücksicht: „Der Unterricht in diesen Fächern wird eingerichtet, sobald hierfür die erforderlichen Unterrichtsangebote entwickelt sind und geeignete Lehrer zur Verfügung stehen“. Auch im Schulgesetz von 2005 ist der Wortlaut von § 19 Abs. 5 unverändert geblieben. Das bedeutet: Religionsunterricht und Ethikunterricht konnten weiterhin nicht flächendeckend eingerichtet werden, weil die Voraussetzungen noch nicht umfassend gegeben waren. Der Verfassungsauftrag, den das Land Sachsen-Anhalt in seinem Schulgesetz anerkannt hatte, konnte immer noch nicht verwirklicht werden. Seine Erfüllung blieb auch nach fünfzehn Jahren konditioniert. Verfassungsrechtlich war das mindestens bemerkenswert, wenn nicht überhaupt bedenklich. Die „geeigneten Lehrer“ stellten das Schlüsselproblem dar. Sie gab es an den allermeisten Schulen zunächst überhaupt nicht, jedenfalls nicht als sog. „Stammlehrkräfte“, und über viele Jahre hinweg trotz zahlreicher Qualifizierungsmaßnahmen nicht in ausreichendem Umfang. Es sei ferner bedacht, dass gemäß Art. 7 Abs. 3 GG kein Lehrer gegen seinen Willen verpflichtet werden darf, Religionsunterricht
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zu erteilen. Andererseits ist die Zugehörigkeit zur entsprechenden Religionsgemeinschaft zwangsläufig conditio sine qua non, die in Sachsen-Anhalt nur von einem relativ geringen Prozentsatz aller Lehrkräfte erfüllt wird. Es fällt im übrigen auf, dass die §§ 19 bis 21, die dem Religionsunterricht und dem Ethikunterricht gewidmet sind, überhaupt bis auf redaktionelle Korrekturen völlig unverändert geblieben sind. Sie waren dem Parteienstreit weitestgehend enthoben. Besondere Aufmerksamkeit haben sie jedoch stets ausgelöst. Das drückt sich zum Beispiel in zwei Statistiken aus, in denen für die Schuljahre 2004/2005 und 2005/2006 Zahlen mit speziellem Augenmerk auf diese Fächer vorgelegt wurden. Exemplarisch soll hier zunächst die Auswertung der Erhebungen durch das Kultusministerium für das Schuljahr 2004/2005 in Auszügen vorgestellt werden. Es verwundert nicht, dass der Ethikunterricht den höchsten zahlenmäßigen Zuspruch gefunden hatte. Es existierten in Sachsen-Anhalt insgesamt 4459 Lerngruppen, davon 4037 im Klassenverband, 1976 klassenübergreifend, 246 jahrgangsübergreifend. Den evangelischen Religionsunterricht erhielten 1835 Lerngruppen, davon 199 im Klassenverband, 932 klassenübergreifend, 686 jahrgangsübergreifend, 18 schulübergreifend. Diese Zahlen zeigen, dass selbst im Geburtsland Martin Luthers die Organisation des evangelischen Religionsunterrichts eine Herausforderung darstellte. Für die eine winzige Minderheit ausmachenden katholischen Schülerinnen und Schüler galt und gilt das selbstredend. Für sie wurden 185 Lerngruppen eingerichtet, davon 12 im Klassenverband, 98 klassenübergreifend, 68 jahrgangsübergreifend und 7 schulübergreifend. Die beiden ersten Organisationsformen waren fast ausschließlich den drei Gymnasien in katholischer Trägerschaft zuzuschreiben. Ein Blick auf die Zahl der den Ethikunterricht bzw. den evangelischen und den katholischen Religionsunterricht besuchenden Schülerinnen und Schüler ergibt folgende Erkenntnisse: Es beteiligten sich an den allgemeinbildenden Schulen insgesamt 140.844 an einem der drei Unterrichtsfächer. In einer Mitteilung des Kultusministeriums vom 14.03.2005 heißt es wörtlich: „Das entspricht einem Anteil von
Religionsunterricht und Ethikunterricht 97
63,3 v.H.; im Schuljahr 2003/2004 lag dieser Anteil bei 57 v.H.. Die Grundschule (81,3 v.H.) und das Gymnasium (73,6 v.H.) liegen über dem Durchschnitt der allgemein bildenden Schulen, die Sekundarschule und die Sonderschulen liegen mit 48.1 v.H. bzw. 23,1 v.H. darunter“. An den berufsbildenden Schulen war das Gesamtbild wesentlich ungünstiger, wie die selbe Quelle vermittelt. Es nahmen nur 8,8 v.H. aller Schülerinnen und Schüler am Ethik- bzw. am Religionsunterricht teil, im Schuljahr davor sogar nur 7,8 v.H.. Fast entschuldigend wird dann wörtlich ausgeführt: „Es ist allerdings zu beachten, dass in den Schulformen Nichtärztliche Heilberufe und Fachschulen gemäß den Stundentafeln nicht in jeder Fachrichtung Ethik- und Religionsunterricht vorgesehen ist.“59 Die Gesamtbilanz war einigermaßen ernüchternd: „An 201 öffentlichen Schulen von insgesamt 1084 Schulen findet kein Unterricht in diesen Fächern statt“. Anders ausgedrückt: An fast 19% gab es weder Religionsunterricht noch Ethikunterricht, „das Verständnis für ethische Werte und Normen sowie der Zugang zu philosophischen und religiösen Fragen“ 60 wurden nicht vermittelt. Damit blieb die Wirklichkeit im Schuljahr 2004/2005 noch ein gutes Stück hinter dem Anspruch des Schulgesetzes zurück. Daran änderte verhältnismäßig wenig, dass die Gymnasien bereits zu 94% wenigstens eines der drei Fächer unterrichteten. Erhellend dürfte eine Analyse des durchschnittlichen Unterrichtseinsatzes je Woche der Lehrkräfte im jeweiligen Fach sein. Danach lag er im Schuljahr 2004/2005 im Ethikunterricht bei 7,5 Wochenstunden, im evangelischen Religionsunterricht bei 5,9 Wochenstunden und im katholischen Religionsunterricht bei 4,8 Wochenstunden. Da hätten also, so scheint es, noch Reserven mobilisiert werden können, gerade für den Ethikunterricht – wenn nicht das spezifische Fehl in anderen Unterrichtsfächern dagegen gesprochen hätte. Über 59 Anlage zu einer Kurzmitteilung des Kultusministeriums vom 24.06.2005, die das Datum 14.03.2005 trägt. Anmerkung: Sprachlich und inhaltlich korrekt ist natürlich nur „...vorgesehen sind“, da es sich um zwei eigenständige Fächer handelt, noch dazu in Konkurrenzsituation. 60 Schulgesetz LSA i. d. F. v. 01.08.2005, § 19 Abs. 4.
98 Genese − Entwicklung − Perspektiven
die „kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ wurde ausgeführt, dass die der evangelischen Kirche wöchentlich 7,0 Stunden und die der katholischen Kirche 2,6 Stunden unterrichteten. Angesichts der Diasporasituation beider Kirchen darf man vermuten, dass die Nachfrage nach Religionsunterricht einigermaßen zufriedenstellend bedient werden konnte, wenn man die alles in allem ungünstigen organisatorischen Rahmenbedingungen in Rechnung stellt. Immerhin darf inzwischen konstatiert werden, dass die Entwicklung aufs ganze gesehen positiv ist. Der schon für das Schuljahr 2004/2005 im Vergleich zu den Vorjahren relativ erfreuliche Befund wurde von den Daten des Schuljahres 2005/2006 deutlich in den Schatten gestellt. In Vorbereitung eines Berichts für den Ausschuss Bildung und Wissenschaft des Landtages wurde der Staatssekretär in einer Vorlage vom 20.09.2005 über die Situation im neuen Schuljahr unterrichtet. Der entscheidende Satz lautete: „Im Ergebnis ist festzustellen, dass über alle allgemein bildenden Schulformen der Ethikunterricht je Schüler sich um 40 v. H., der evangelische Religionsunterricht um fast 25 v.H. und der katholische Religionsunterricht um über 10 v.H. erhöht“. Ein Blick auf die Zahlen der eingesetzten Lehrkräfte lässt erkennen, wie die positive Entwicklung zustande gekommen war. Waren im Schuljahr 2004/2005 im Ethikunterricht 1047 Lehrkräfte mit 8643 Stunden eingesetzt, erhöhten sich diese Zahlen im Schuljahr 2005/2006 auf 1170 bzw. 11314. Für den Religionsunterricht ist das Bild ähnlich: Evangelischen Religionsunterricht erteilten 2004/2005 366 Personen (Lehrkräfte und kirchliche Mitarbeiter) mit 2780 Unterrichtsstunden, 2005/2006 405 mit 3207 Stunden, katholischen Religionsunterricht 2004/2005 63 Personen mit 292 Stunden, 2005/2006 78 mit 303 Stunden. Die insgesamt gute Unterrichtsversorgung ließ die hier behandelten Fächer zunehmend kräftig partizipieren. Und der Trend, der sich weiterhin der gezielten Aufmerksamkeit sowohl des Ministeriums als auch des Landtags sowie der Öffentlichkeit erfreuen durfte, konnte fortgesetzt werden. In einer Vorlage des Kultusministeriums vom 12.03.2007, in der die Daten des Schuljahres 2006/2007 vorgestellt wurden, lautete der
Religionsunterricht und Ethikunterricht 99
entscheidende Satz: „Im Schuljahr 2006/2007 ist eine weitere Verbreiterung des Angebots an Ethik- und Religionsunterricht zu verzeichnen“. Am „wertebildenden Unterricht“ 61 nahmen nunmehr 90,4% aller Schülerinnen und Schüler teil. Betrachtet man ausschließlich die Grundschule, so beträgt der Anteil 99,7%. Es kann also dort von einer Vollversorgung gesprochen werden. Besonders bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass an allen 81 Gymnasien Ethikunterricht erteilt wurde. In einer Art Bilanz wird festgestellt: „Insgesamt gibt es im Schuljahr 2006/2007 nur noch 47 Schulen, an denen gar kein wertebildender Unterricht stattfindet. 178 Schulen verfügen im Schuljahr 2006/2007 über keine Stammlehrkraft mit einer Lehrbefähigung für eines der drei Fächer“. Es folgt dann der Hinweis, dass die erreichte Angebotsbreite auch dem Einsatz kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie dem Einsatz von Lehrkräften über die Stammschule hinaus zu verdanken sei. Ganz besonders aufschlussreich ist eine Aufschlüsselung der Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am „wertebildenden Unterricht“ an den drei wichtigsten Schulformen des Landes. An den Grundschulen, an denen ja nahezu alle Schülerinnen und Schüler solchen Unterricht besuchen, lauten die Anteile: 78,7% Ethikunterricht, 20,1% ev. Religionsunterricht, 1% kath. Religionsunterricht. An den Sekundarschulen sieht die Verteilung so aus: 83,2% Ethikunterricht, 9% Ev. Religionsunterricht, 0,4% kath. Religionsunterricht. Und die Gymnasien bieten folgendes Bild: 64,6% Ethikunterricht, 21,8% ev. Religionsunterricht, 2,3% kath. Religionsunterricht.62 61 Der Ausdruck hat sich durchgesetzt. Dass er, wörtlich genommen, nicht das beschreibt, was den Ethikunterricht und vor allem den Religionsunterricht auszeichnet, dürfte auf der Hand liegen. 62 Die Prozentzahlen erklären vielleicht, warum auch in ministeriellen Schriftsätzen zunehmend vom „Ethik- und Religionsunterricht“ die Rede ist. Das Schulgesetz dagegen unterscheidet zwischen „Religions- und Ethikunterricht“ in klarer Beachtung des verfassungsrechtlichen Vorrangs des Religionsunterrichts gemäß
100 Genese − Entwicklung − Perspektiven
Das heißt also: An den Sekundarschulen erhalten annähernd 8% keinen „wertebildenden Unterricht“, an den Gymnasien etwa 11%. Angesichts der Bedeutung, die dem Unterricht, der sich mit Werten und Normen auseinandersetzt, in Staat und Gesellschaft zunehmend zugeschrieben wird, sind das noch keine zum Jubel Anlass gebenden Quoten, zumal in den Förderschulen nur jeder Zweite, in den berufsbildenden Schulen sogar lediglich 12% – immerhin mit positiver Tendenz – diesen Unterricht erhalten. Wenn man aber bedenkt, dass das Land Sachsen-Anhalt 1991 ein völlig unkultiviertes Feld urbar und fruchtbar machen musste, dann kann von einer Erfolgsgeschichte besonderen Ranges gesprochen werden. Zwei Vergleichszahlen vermögen lange Ausführungen dazu überzeugend zu ersetzen: Im Schuljahr 1995/1996 nahmen lediglich 10,6% aller Schülerinnen und Schüler der allgemein bildenden Schulen am „wertebildenden Unterricht“ teil, im Schuljahr 2006/2007 waren es 90,4%! Die Fundamentalentscheidung zugunsten eines gleichberechtigt neben den Religionsunterricht gestellten Ethikunterrichts war eine weitsichtige, die in Kauf nahm, dass eine lange Wegstrecke würde zurückgelegt werden müssen, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Auf der Zielgeraden ist das Land nun bereits angekommen, es gilt nur noch durchzuhalten. Das dürfte umso leichter fallen, als allen Beteiligten dankbar vor Augen getreten sein dürfte, wie vorteilhaft es gewesen ist, dass ihnen Auseinandersetzungen um den Religionsunterricht und den Ethikunterricht, wie sie Berlin erlebt hat, erspart geblieben sind. Zwei dem Bildungsauftrag der Schulen besonders dienende Fächer haben sich nach schwierigen Anfängen in der Schullandschaft SachsenAnhalts einen festen und anerkannten Standort sichern können. Art. 7 GG, dem, wie oben erwähnt, der Gesetzgeber 1991 den Ethikunterricht gleichberechtigt zur Seite gestellt hat. Aber Zahlen sollten nicht dazu verleiten, eine Rechtsnorm hintanzustellen. Dass, wie bereits erwähnt, die Verfassung Sachsen-Anhalts im Artikel 27 die Formulierung „Ethik- und Religionsunterricht“ aufweist, macht die Sache nicht besser, allenfalls erklärt sie den üblich gewordenen Sprachgebrauch. Der für Thüringen in einer Fußnote genannte Wert für den Religionsunterricht sei hier in Erinnerung gerufen.
D. Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung 1. Die Abschlussprüfungen am Ende der Sekundarschulbildungsgänge Die Vergabe der Sekundarbereich I-Abschlüsse am Ende des Hauptschul- bzw. des Realschulbildungsgangs war von Anfang an mit einer Art Abschlussprüfung verbunden, die im Schulreformgesetz von 1991 noch sehr zurückhaltend als „Kolloquium“ eingeführt wurde. Dennoch gilt: Dadurch unterschied sich das Schulwesen in SachsenAnhalt in einem weiteren Punkt ganz wesentlich von der Praxis in den alten Bundesländern, in denen eine Abschlussprüfung am Ende des Sekundarbereichs I nicht vorgesehen war. Die prüfungslose Ausstellung von Zertifikaten unterhalb der Allgemeinen Hochschulreife hatte dort Tradition und war auch bildungsideologisch determiniert. Die Abschlüsse wurden in der Regel nach Maßgabe des absolvierten Bildungsgangs und des Leistungsbildes vergeben. Wie noch gezeigt werden wird, knüpfte die SPD in Sachsen-Anhalt an diese Tradition an, ohne zu merken, dass der Zug sich bereits in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen begonnen hatte. Es bedurfte erst des PISA-Schocks, der überall ein radikales Umdenken auslöste, das nun in Abschlussprüfungen, noch dazu „zentralen“, ein Heilmittel ortete. Sachsen-Anhalt also war der Entwicklung zunächst ein ganzes Jahrzehnt voraus gewesen, wenngleich zunächst ohne die zentralen Prüfungselemente, wurde dann durch die erkennbare, im übrigen auch artikulierte Prüfungsphobie der SPD und ihrer Partner zurückgeworfen und musste durch die Entscheidungen der CDU/FDP-Koalition von 2002 bzw. 2005 erst wieder Anschluss finden an die Fahrt aufnehmende bundesweite Hinwendung zu Abschlussprüfungen auch im Sekundarbereich I. Der Beweis für das Eingreifen der SPD sei hier sofort angetreten: Hatte es im Schulgesetz in der Fassung vom 27. August 1996 im § 5 Abs. 4 in der Tradition der CDU/FDP-Gesetzgebung noch geheißen, „der qualifizierte Hauptschulabschluss wird durch eine Prü-
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fung erworben“ und „Der Realschulabschluss wird durch eine Prüfung erworben“, sind diese Sätze in der Fassung vom 21. Januar 1998 ersatzlos gestrichen worden. Statt dessen verkündet Absatz 5: „Nach dem erfolgreichen Besuch der Sekundarschule werden nach dem 10. Schuljahrgang unterschiedliche leistungsbezogene Abschlüsse erworben, die den Schülerinnen und Schülern die Fortsetzung ihres Bildungsweges im berufsbildenden oder allgemeinbildenden Bereich der Sekundarstufe II ermöglichen“. In der zur Zeit geltenden Fassung des Schulgesetzes ist im §5 – Sekundarschule – ausdrücklich ab dem 7. Schuljahrgang die „auf Abschlüsse bezogene Differenzierung“ Pflicht. Dabei ist interessant, dass für die beiden Bildungsgänge unterschiedliche Regelungen gelten. In der entsprechenden Abschlussverordnung vom 14.08.2002, mit der gleich nach dem Regierungswechsel die Verordnung vom 17.12.2001, also aus der SPD-Regierungszeit und immer noch mit dem SPD-Schulgesetz von 1998 als Bezugspunkt (!), geändert wurde, ist die fundamentale Bezogenheit der Abschlüsse auf die unterschiedlichen und spezifisch definierten Bildungsinhalte, diese besonders betonend, wiederhergestellt worden. Wo zu SPD-Zeiten von der Berufsbildungsreife, der Erweiterten Berufsbildungsreife, der Fachoberschulreife und der Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe die Rede war, wird seit dem 14.08.2002 zwischen Hauptschulabschluss, Hauptschulabschluss nach dem 10. Schuljahrgang, Realschulabschluss und Erweitertem Realschulabschluss an Sekundarschulen und Gesamtschulen unterschieden. Die SPD hatte, wie schon erwähnt worden ist, 1998 zwei Fassungen des § 5 im Schulgesetz nebeneinander existieren lassen. Die am 31.07.1999 auslaufende arbeitete noch mit den Termini „Hauptschulbildungsgang“ und „Realschulbildungsgang“ und kannte auch den „erweiterten Realschulabschluss“. Die am 01.08.1999 in Kraft tretende Fassung nahm nur noch auf „unterschiedliche leistungsbezogene Abschlüsse“ Bezug, denen die Qualität attestiert wurde, die Fortsetzung des Bildungsweges „im berufsbildenden oder allgemeinbildenden
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Bereich der Sekundarstufe II“ zu ermöglichen. Spezifizierungen nach Bildungsgängen und die davon abgeleiteten speziellen Abschlüsse erhielten auch terminologisch eine Absage. Das kommt in einem scheinbar harmlosen Satz im neuen Absatz 5 des § 5 sehr deutlich zum Ausdruck: „Am Ende des 9. Schuljahrganges (gemeint: der undifferenzierten Sekundarschule) kann ein erster allgemeinbildender Schulabschluss erworben werden“.63 Die CDU/FDP-Koalition hat nur auf den ersten Blick lediglich eine terminologische Änderung vorgenommen. Im Kern wurde der von der SPD und ihren Koalitionspartnern verfolgte Ansatz, aus der Sekundarschule eine „kleine“ Gesamtschule ohne differenzierende Bildungsgänge zu machen, ausgelöscht. Hier wurde also über eine Verordnung das Grundmuster der Schullandschaft Sachsen-Anhalts wiederhergestellt, ihre Konturen wurden schärfer als je zuvor markiert. Die Bildungsgänge, auch wenn sie unter diesem Begriff nicht auftreten, sind die landschaftsprägenden Trassen, nie als Sackgassen angelegt, eindeutig abschlussspezifisch konturiert und stets mit Möglichkeiten des Übergangs zu anderen Spuren angelegt. Es lohnt, noch etwas genauer hinzuschauen, denn wie stark sich CDU und SPD im Grundverständnis der Sekundarschule – und damit des Schulwesens überhaupt – unterschieden, wird wohl an keiner anderen Stelle deutlicher als in ihren Abschlussverordnungen für die Sekundarstufe I. Ich habe bereits herausgestellt, dass auch die CDU im Schulgesetz von 2005 die Begriffe Hauptschulbildungsgang und Realschulbildungsgang vermied, als seien sie kontaminiert und einer interessierten oder gar einschlägig beeinflussten Öffentlichkeit nicht mehr vermittelbar. Gleichwohl, auch das habe ich betont, war sie ständig und aus Überzeugung bemüht, den Gedanken durchzuhalten, in der Sekundarschule sei „Differenzierung“ (vgl. § 5, Abs. 3: „auf Abschlüsse be63 Wie sehr dieser Satz mit heißester, erkennbar ideologisch gefärbter Nadel gestrickt wurde, lässt ein Blick auf die Sprache erkennen. Kann es „allgemeinbildende (Schul)Abschlüsse“ geben?
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zogene Differenzierung“ ab dem 7. Schuljahrgang) das bestimmende Ordnungselement, auf das hin am Ende des 6. Schuljahrgangs die „Einstufung“ in die abschlussbezogenen „Klassen oder Kurse“, die schließlich nur als schulform- oder bildungsgangspezifische begriffen werden können, zu erfolgen habe. In dieser Logik wurden dann auch, wenngleich auf den ersten Blick etwas unvermittelt, im Schulgesetz die Begriffe Hauptschulabschluss und Realschulabschluss verwendet, immerhin suggerierend, diese Schulformen des gegliederten Schulwesens seien weiterhin die die Arbeit und die Inhalte der Sekundarschule prägenden Faktoren. Fachleute wissen natürlich, dass die Begrifflichkeit auf die einschlägigen Termini in den relevanten KMK-Vereinbarungen zurückgeht. Die SPD hatte sich, vom Gedanken an ein ein für allemal zu etablierendes integriertes Schulwesen gefesselt, an die KMK-Termini gar nicht mehr gehalten und nicht nur in ihrem Schulgesetz von 1998 den Begriffen Hauptschulbildungsgang und Realschulbildungsgang eine eindeutige Absage erteilt, sondern in ihrer „Abschlussverordnung – Sekundarstufe I“ vom 17. 12. 2001 – aus ihrer Position heraus zwingend abgeleitet – den bis dahin in Abschlussverordnungen so plakativ nicht verwendeten Terminus „Berufsbildungsreife“ eingeführt, den sie dann nicht nur auf Abschlüsse an der Sekundarschule bezog, sondern auch auf die oft so genannten „mittleren Abschlüsse“ am Gymnasium, dessen genuiner, den ganzen Bildungsgang bestimmender Abschluss das Abitur ist, so dass die vorher erzielten Abschlüsse eigentlich nur en passant erworben werden können. Dennoch ist natürlich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass zahlreiche Schülerinnen und Schüler den gymnasialen Bildungsgang hin zum Abitur vorher verlassen wollen bzw. müssen. Aber der Begriff „Berufsbildungsreife“ mutet in bezug auf das Gymnasium an dieser Stelle außerordentlich befremdlich an. Mit der Einführung des zentralen Begriffs „Berufsbildungsreife“ in die Abschlussverordnung für die Sekundarstufe I, anzuwenden in allen Schulformen, wurde von der SPD ein verdeckter, aber letzten Endes gravierender Schritt in Richtung auf ein integratives Grund-
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muster für die Sekundarstufe I getan, dessen Sprengkraft für das gegliederte Schulwesen selbst von manchen seiner Anhänger zunächst nicht erkannt wurde. Die CDU/FDP-Koalitionsregierung von 2002 reagierte aber auf die Herausforderung, die auch als Kampfansage gedeutet werden konnte, ungewöhnlich zügig und in der aus ihrer Sicht gebotenen Eindeutigkeit mit der „Verordnung zur Änderung der Abschlussverordnung – Sekundarstufe I“ vom 14. August 2002. Im Schulgesetz von 2005 schlug sich diese Verordnung dann auch auf der Gesetzesebene nieder.64 Der systemwidrige, aber, wie ich meine dargelegt zu haben, mit Bedacht und Funktion eingeführte Begriff „Berufsbildungsreife“ ist vollständig eliminiert und durch die klassischen Bezeichnungen „Hauptschulabschluss“ und „Realschulabschluss“ ersetzt worden. Auch der von der SPD kreierte Begriff „Fachoberschulreife“ hat dem „Realschulabschluss“ weichen müssen, da er, ohnehin nur als Qualifikation für eine Fortsetzung der schulischen Laufbahn im Sekundarbereich II (entweder an der Fachoberschule oder in der gymnasialen Oberstufe, vom Leistungsbild abhängig) definiert, seine Berechtigung allenfalls aus dem Zusammenhang mit der „Berufsbildungsreife“ ableiten konnte, sozusagen in Abhängigkeit und Abgrenzung von ihr. Der Realschulabschluss kann auch, das regelt das Schulgesetz von 2005 entsprechend, „bei Erreichen besonderer Leistungen“ in der „erweiterten“ Form erworben werden, die „zum Besuch des 10. Schuljahrgangs des Gymnasiums und zum Eintritt in das Fachgymnasium berechtigt“ (§ 5, Abs. 5). Auch an dieser Stelle wird dem Prinzip der Durchlässigkeit Rechnung getragen. Immerhin ließ die CDU/FDP-Koalition den systemwidrigen Abschnitt 4 „Gymnasium“ bis auf die terminologischen Eingriffe in Analogie zu den Korrekturen in den übrigen Abschnitten in der Verordnung zunächst stehen. 64 Eigentlich hätte es, gesetzestechnisch betrachtet, umgekehrt sein müssen. Es ist also in gewisser Hinsicht ein Kuriosum, dass die CDU/FDP-Koalition bildungspolitische Fundamentalentscheidungen der SPD in einer Verordnung aushebelte, die formaljuristisch auf dem SPD-Gesetz von 1998 fußte.
106 Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung
Das änderte sich erst mit der völlig überarbeiteten, auf die Schulpolitik der CDU/FDP-Koalition zugeschnittenen , also neugestalteten „Verordnung über die Abschlüsse in der Sekundarstufe I“ vom 20. Juli 2004 mit dem inzwischen vorliegenden CDU/FDP-Schulgesetz von 2003 als dem Rechtsrahmen. Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass dem Gymnasium in dieser der Sekundarstufe I gewidmeten Verordnung kein spezieller Abschnitt mehr eingeräumt wird, dem Gedanken verpflichtet, dass das Gymnasium seinem tradierten und immer noch weithin anerkannten Verständnis nach im Grunde nur einen Abschluss kennt – das Abitur (s.o.). So findet das Gymnasium nur im Zusammenhang mit dem erweiterten Realschulabschluss – § 6 der VO – Erwähnung. Besondere Beachtung verdient die sprachliche Gestaltung des Absatzes 2 von § 6: „Mit der Versetzung in den 11. Schuljahrgang des Gymnasiums oder des Gymnasialzweiges an Kooperativen und Integrierten Gesamtschulen wird ein dem erweiterten Realschulabschluss gleichwertiger Abschluss erworben.“ Es wird die Gleichwertigkeit attestiert, aber eine eigene Abschlussqualität wird der genannten Versetzung nicht zugebilligt. Der Geschlossenheit und der inneren Stringenz des gymnasialen Bildungsgangs mit dem Ziel des Abiturs als der allgemeinen Hochschulreife wird die gebotene Reverenz erwiesen. In der unterschiedlichen Begrifflichkeit hinsichtlich der Abschlüsse im Sekundarbereich I finden natürlich auch die grundsätzlichen Differenzen ihren Ausdruck, was das Verständnis von Inhalt und Funktion schulischen Lehrens und Lernens anbelangt. Anders formuliert: Die unterschiedlichen Termini, die in den Verordnungen von 2001 und 2004 Verwendung fanden, sind auch Ausdruck unterschiedlicher Bildungsbegriffe. „Hauptschulabschluss“ und „Realschulabschluss“ verweisen auf die eingerichteten und von den Schülerinnen und Schülern absolvierten Bildungsgänge mit ihren spezifischen Inhalten, Arbeitsweisen und Anforderungen. Die „Abschlüsse“ sollen auf erbrachte und nachgewiesene „Leistungen“ – gewiss sehr unterschiedlicher Art – bezogen sein. Die „Berufsbil-
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dungsreife“, wahrscheinlich eine Anlehnung an die „Hochschulreife“, ist viel stärker von einem prognostischen Tenor geprägt, der geeignet ist zu verdrängen, dass alle schulischen Zertifikate Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten als Resultate systematischen schulischen Unterrichts bescheinigen – wenigstens ausschlaggebend. Inwieweit diese Verdrängung beabsichtigt war, und wenn ja, zu welchem Zwecke, bleibt allerdings Spekulation und kann hier nicht weiter betrachtet werden. Für die einzelnen Abschlüsse gilt es zu unterscheiden65: Der Hauptschulabschluss wird „mit dem erfolgreichen Besuch des 9. Schuljahrgangs“ erworben. Was darunter zu verstehen ist, wird in der Verordnung vom 20. Juli 2004 im Detail geklärt. Generell gilt: Unabhängig von dem Bildungsgang, der besucht wurde, ist die pauschale Voraussetzung für den Erwerb des Hauptschulabschlusses, dass die Schülerin oder der Schüler „in den 10. Schuljahrgang zu versetzen wäre“. Der qualifizierte Hauptschulabschluss „wird durch eine besondere Leistungsfeststellung erworben“ und ist außerdem von einem bestimmten Notendurchschnitt in den „Kernfächern“ sowie in den „sonstigen versetzungsrelevanten Fächern bei höchstens einer mangelhaften Leistung und im Übrigen jeweils mindestens ausreichenden Leistungen“ abhängig. Diese „Leistungsfeststellung“ ist im einzelnen in der Verordnung vom 20. Juli 2004 im § 9 wie folgt geregelt: „Die besondere Leistungsfeststellung umfasst: 1. je eine schriftliche Leistungsfeststellung in den Fächern Deutsch und Mathematik sowie 2. eine mündliche Leistungsfeststellung nach Wahl der Schülerin oder des Schülers in einem anderen Fach aus den übrigen Pflichtfächern mit Ausnahme des Faches Sport“.
Ihren besonderen Stellenwert unterstreicht § 11 der Verordnung, wenn es heißt: „Die Aufgabenstellungen werden vom Kultusministe65 Die Zitate sind, wenn nicht andere Angaben erfolgen, dem § 5 des Schulgesetzes von 2003 entnommen worden.
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rium entsprechend den Rahmenrichtlinien des auf den Hauptschulabschluss bezogenen Unterrichts der Sekundarschule vorgelegt“. Weitere Details der Durchführung und der Bewertung folgen. Sie werden hier genauso wenig referiert wie die Ausführungen zur mündlichen Leistungsfeststellung. Von fundamentaler Bedeutung ist etwas ganz anderes: Die sogenannten mittleren Abschlüsse sind vom qualifizierten Hauptschulabschluss an aufwärts mit zentralen Prüfungselementen in einen Rang gehoben worden, der für sie bis in unser Jahrhundert hinein weithin unvorstellbar gewesen ist. Wie schon gesagt: Der Druck, der von PISA I ausging, war gewaltig. Das 1991 eingeführte „Kolloquium“ war kaum mehr als ein Vorbote gewesen, ein säuselnder Windhauch über einer Schullandschaft, die man von heftigen Stürmen meinte freihalten zu können. Als der Sturm in Gestalt der PISA-Ergebnisse zu blasen begonnen hatte, musste reagiert werden. Wie nicht mehr anders zu erwarten, sind denn auch die Realschulabschlüsse eindeutig an einen Prüfungsvorgang gekoppelt worden. Im Gesetz heißt es: „Mit dem erfolgreichen Besuch des 10. Schuljahrgangs und bestandener Abschlussprüfung wird der Realschulabschluss erworben“. Der erweiterte Realschulabschluss setzt zusätzlich das „Erreichen besonderer Leistungen“ voraus. Die wesentlichen Elemente dieser Abschlussprüfung sind gemäß der genannten Verordnung (§ 13) folgende: „Die Abschlussprüfung umfasst: 1. je eine schriftliche Prüfung in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch sowie 2. je eine mündliche Prüfung nach Wahl der Schülerin oder des Schülers a) in einem naturwissenschaftlichen Fach (Biologie, Chemie, Physik) und b) in einem Fach aus den übrigen Pflichtfächern mit Ausnahme des Faches Sport“.
Die Anlehnung an die Abiturprüfung sticht ins Auge und kommt auch durch die Einrichtung von Prüfungskommissionen und Fachprüfungsausschüssen sowie durch das Institut der Zulassung zu den Prüfungen zur Geltung.
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Der gesamte Sekundarbereich I, das dürfte deutlich geworden sein, ist von seinen Abschlussprüfungen her revolutioniert worden. Wenn man das aufgezeigte Bild in einen bundesdeutschen Zusammenhang stellt, wird evident, dass Sachsen-Anhalt sich in eine Vorreiterrolle manövriert hat – wohl nicht ganz freiwillig, bedenkt man die zunächst dürftigen PISA I-Ergebnisse, aber offensichtlich mit sich verstärkendem Ertrag, schaut man auf die ermutigenden PISA IIResultate.66 Aber das, was in Sachsen-Anhalt zum Standard erhoben worden ist, dürfte anderen Bundesländern, die z. T. noch einen erheblichen Nachholbedarf haben, als Maßstab dienen. Erneut sei gefragt: Wer übernimmt inzwischen von wem?
2. Die Abiturprüfung Für das Gymnasium, das in Deutschland traditionell auf eine wie auch immer gestaltete Abiturprüfung orientiert gewesen ist, sind die „zentralen“ Prüfungselemente im Schulgesetz von 2005 verankert, sie erhalten dadurch einen besonderen Rang. Wenngleich das Gymnasium in § 6 Abs. 1 eindeutig als eine Schulform mit einem geschlossenen Bildungsgang der Schuljahrgänge 5–12 definiert ist, wird im Absatz 2 den Jahrgängen 5 und 6 nicht besonders folgerichtig die Funktion einer Einführungsphase (1991 noch Beobachtungsphase genannt) zugeschrieben: Sie „führen schrittweise in die Arbeitsmethoden des gymnasialen Bildungsganges ein“, der aber, so ist Absatz 1 nun einmal zu verstehen, mit dem 5. Schuljahrgang bereits begonnen hat. Das hängt auch mit den klar akzentuierten Leistungsüberprüfungen zusammen. Für den 6. Schuljahrgang ist „eine Klassenarbeit mit zentral gestellten Aufgaben“ in den Fächern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache vorgeschrieben. Davon war im Schulreformgesetz von 1991 noch keine Rede, selbstverständlich auch nicht in den Geset66 Vgl. Kapitel D 4.
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zesnovellen und den Verordnungen aus der Zeit der SPD-geführten Landesregierungen. Wie weiter oben schon betont, wird nach dem PISA-Debakel (fast) überall in Deutschland in „zentral gestellten“ Prüfungsaufgaben, selbst bis in die Grundschule hinunter, der erfolgsträchtige Ansatz gesehen, das Leistungsniveau zu heben und Qualitätssicherung zu betreiben. Für die Sekundarschulen und die Gesamtschulen sind denn auch analog identische Sätze in das Schulgesetz eingebaut worden. Allein die Tatsache, dass diese Klassenarbeiten mit zentral gestellten Aufgaben im Schulgesetz verankert sind, zeigt den Stellenwert, der ihnen in Sachsen-Anhalt zugemessen wird. Das Land Niedersachsen z.B. kennt in seinem Schulgesetz von 2003 eine solche Regelung nicht. Für die Abiturprüfung stehen im Schulgesetz ebenfalls Bestimmungen bereit, die bis in Verfahrensfragen hinein detaillierte Vorschriften enthalten. Das Schulreformgesetz von 1991 war im Vergleich dazu karg. Es hieß lediglich: „Das Gymnasium schließt mit der Abiturprüfung ab“ (§ 6 Abs.5). Im Absatz 7 dieses § 6 wurde allerdings der Kultusminister ermächtigt, durch Verordnung „das Nähere“ zu regeln. Die Entscheidung fiel zugunsten des „Zentralabiturs“, als in zahlreichen westlichen Bundesländern – Bayern und Baden-Württemberg bildeten Ausnahmen – der Gedanke an eine zentrale Aufgabenstellung, welcher Spielart auch immer, noch verpönt war. Im z. Zt. gültigen Schulgesetz (§ 6 Abs. 4) heißt es: „Die oberste Schulbehörde legt fest, in welchen Fächern schriftliche Prüfungen mit zentral gestellten Aufgaben durchgeführt werden. Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage der zentralen Bewertungshinweise und des Erwartungshorizonts des jeweiligen Fachprüfungsausschusses. In den Fächern der schriftlichen Prüfung werden die Prüfungsarbeiten von einer Fachkraft eines anderen vom Landesverwaltungsamt bestimmten Gymnasiums zweitkorrigiert.“ 67 67 Auch Niedersachsen kennt inzwischen die zentral gestellten Prüfungsaufgaben: „Für die schriftliche Prüfung werden grundsätzlich landesweit einheitliche Prüfungsaufgaben gestellt“ (Nieders. Schulgesetz von 2003, § 11 Abs. 6). Auf die
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Die letzte, gegenwärtig gültige Festlegung erfolgte in der „Verordnung über die gymnasiale Oberstufe“ vom 17. November 2006, die weitgehend, insbesondere in den hier interessierenden Passagen identisch ist mit der Verordnung vom 24. März 2003, mit der die Verordnung der SPD-Regierung vom 26. Februar 1999 abgelöst worden war. Es macht einen besonderen Reiz aus, diese Verordnungen zu vergleichen und den bildungspolitischen Faktor des politischen Prozesses zu betrachten, der, wie in der Einleitung angekündigt, im Mittelpunkt dieses Buches steht und stets die Protagonisten in ihrem Antagonismus präsentiert. Es sei daran erinnert: 1991 wurde von CDU und FDP , auch im Blick auf das europäische Umfeld, bewusst an die DDR-Tradition des Abiturs nach 12 Schulbesuchsjahren angeknüpft. Nachdem die SPD aus Gründen, die bereits erläutert worden sind, dem Gymnasium die Jahrgänge 5 und 6 vorenthalten hatte, meinte sie „oben“ ausgleichen zu müssen. Sie verordnete also deshalb dem Gymnasium den 13. Schuljahrgang zu einem Zeitpunkt, als die Diskussion um die Verkürzung der „Ausbildungszeiten“ längst in Gang gekommen war. Mit der Schulgesetznovelle vom 21. Januar 1998 lautete § 6 Abs. 1: „Im Gymnasium werden Schülerinnen und Schüler des 7. bis 13. Schuljahrganges unterrichtet“. Und Absatz 3 ergänzte: „Die Schuljahrgänge 11 bis 13 bilden die Kursstufe“. Dem § 86 mussten zwei Absätze hinzugefügt werden: „(2) Die Verlängerung der Schulzeit auf 13 Schuljahre gilt erstmals für Schülerinnen und Schüler, die am 1. August 1999 in den 11. Schuljahrgang eines Gymnasiums oder einer Gesamtschule eintreten“ und „(3) Schülerinnen und Schüler, die am 1. August 1999 den 11. Schuljahrgang erfolgreich abgeschlossen haben, beenden ihre Ausbildung nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften“. Die von dieser Schulgesetznovelle abgeleitete „Verordnung über die gymnasiale Oberstufe“ folgte am 26. Februar 1999. Für den Vergleich Zweitkorrektur durch eine Fachlehrkraft eines anderen Gymnasiums wird aber verzichtet, auch auf die zentralen Bewertungshinweise, so dass das zentrale Element der Abiturprüfung deutlich eingeschränkt ist.
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sind einige Paragraphen von ausschlaggebender Bedeutung. Auf sie soll das Augenmerk gerichtet werden. Es fällt zunächst auf, dass weiterhin von Leistungskursfächern und Grundkursfächern die Rede ist. § 20 bestimmt: „Für die Abiturprüfung sind vier Prüfungsfächer zu wählen“. Die Leistungskursfächer seien „das erste und zweite Prüfungsfach“ und würden schriftlich geprüft. Eines dieser Leistungskursfächer müsse Deutsch, eine Fremdsprache, Mathematik oder eine Naturwissenschaft sein. Einschränkend wurde festgelegt: „Sofern aus dieser Gruppe nur Deutsch Leistungskursfach ist, muss als drittes oder viertes Prüfungsfach eine Fremdsprache oder Mathematik gewählt werden“. Zu den Prüfungsaufgaben wurde im § 21 verordnet: „Die Prüfungsaufgaben für die Fächer der schriftlichen Prüfung werden auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien und der Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Regel landeszentral durch die oberste Schulbehörde gestellt. Die Erarbeitung des Erwartungshorizontes ist Aufgabe der den jeweiligen Kurs unterrichtenden Lehrkraft“. Die Verordnung der CDU/FDP-Koalitionsregierung vom 24. März 2003, der eine Schulgesetznovelle vom 27. Februar 2003 das rechtliche Fundament lieferte, griff in die Abiturprüfungsbestimmungen gravierend ein. Es wird nun nicht mehr zwischen Leistungskursfächern und Grundkursfächern unterschieden. Diese vertrauten Begriffe sind durch die Termini Kernfächer, Profilfächer und Wahlpflichtfächer abgelöst worden. Damit hat die Oberstufe eine neue Struktur erhalten. Die für alle verbindlichen Kernfächer sind Deutsch, Geschichte und Mathematik. Sie müssen über vier Kurshalbalbjahre durchgängig belegt und in die Gesamtqualifikation der Abiturprüfung eingebracht werden. Aus der Liste der Profilfächer gilt das gleiche für eine („fortgeführte“) Fremdsprache, eine Naturwissenschaft sowie im Regelfall entweder eine weitere Fremdsprache oder eine weitere Naturwissenschaft. Dazu kommen Kurse in Wahlpflichtfächern wie z. B. Kunsterziehung oder Musik, Sozialkunde oder Geographie, Religionsunterricht oder Ethikunterricht, zu belegen jeweils mindestens in zwei Kurshalbjahren .
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Schon diese Belegungs- und Einbringungsverpflichtungen markieren nicht nur im Vergleich zur Oberstufenverordnung der SPD, sondern auch im Vergleich mit den Ordnungen zahlreicher anderer Bundesländer eine deutlich verschärfte Gangart in der Abiturprüfung. Weitere Bestimmungen verstärken diesen Eindruck. Der vergleichende Blick richtet sich im einzelnen wieder auf die §§ 20 und 21: § 20 Abs. 1 beginnt mit einem Paukenschlag: „Für die Abiturprüfung sind fünf (!) Prüfungsfächer zu wählen“. Dann heißt es: „Das erste und zweite Prüfungsfach sind die gemäß § 16 Abs. 2 doppelt gewichteten Fächer. Sie werden schriftlich auf Leistungskursniveau geprüft“.68 Für das bessere Verständnis seien aus § 16 Abs. 2 zwei Sätze zitiert: „Aus den Kern- und Profilfächern sind vor Beginn des dritten Kurshalbjahres zwei als doppelt gewichtete Kurse zu benennen. Dabei kann nur eine Fremdsprache und aus den Fächern Geschichte, Naturwissenschaft und Angeboten gemäß § 14 Abs. 2 nur eines doppelt gewichtet sein.“ Zu verbindlichen schriftlichen Prüfungsfächern werden in § 20 Abs. 2 Deutsch, Mathematik und eine Profilfach-Fremdsprache sowie eine Profilfach-Naturwissenschaft oder Geschichte erklärt. Auf eine bereitgestellte Ausnahme muss hier nicht eingegangen werden. Von fundamentaler Bedeutung ist, dass seit einigen Jahren in SachsenAnhalt in vier Fächern schriftlich geprüft wird, und zwar mit dezidiert zentralem Charakter, wie § 21 erschließt: „Die Prüfungsaufgaben und Bewertungshinweise für die Fächer der schriftlichen Prüfung werden auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien und der Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Regel landeszentral durch die oberste Schulbehörde gestellt“.
Die postulierte hohe Zentralität der Abiturprüfung erfährt nur eine geringfügige Einschränkung durch die Vorschrift im § 29, dass der jeweilige Fachprüfungsausschuss – und nicht allein die Kurs68 Dieser Hinweis auf ein „Leistungskursniveau“ mutet etwas eigenartig an, wenn man bedenkt, dass Leistungskurse in der Verordnung nicht mehr erwähnt oder gar definiert sind.
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lehrkraft, wie noch in der SPD-Verordnung bestimmt – den Erwartungshorizont erstelle. Der soll zwar die von der den jeweiligen Kurs unterrichtenden Lehrkraft vorgelegten unterrichtlichen Voraussetzungen berücksichtigen, sich aber gleichzeitig an den zentralen Bewertungshinweisen orientieren. Es kommt hinzu, dass gemäß § 24 Abs. 2 von der Schulbehörde auch Lehrkräfte anderer Schulen in die Fachprüfungsausschüsse berufen werden können. Abschließend sei an die Zweitkorrektur durch eine Fachlehrkraft eines anderen Gymnasiums erinnert, die das Schulgesetz von 2005 im § 6 Abs. 4 vorschreibt. Der nur noch sehr eingeschränkt „schuleigene“ Prüfungsvorgang tritt also sehr deutlich hinter die zentralen Elemente zurück. Die Abiturprüfung soll erkennbar dem Grundsatz der Objektivität unterworfen und dem Anspruch der Qualitätssicherung verpflichtet sein. Sie wird als ein den ganzen gymnasialen Bildungsgang steuernder Faktor verstanden, ganz im Sinne der traditionellen Sicht, dass das Gymnasium stets eine von ihrer Abschlussprüfung her bestimmte, im Grunde dominierte Schulform gewesen sei bzw. zu sein habe. Gerade in etlichen alten Bundesländern hat es dazu über Jahrzehnte hinweg Tendenzen und Entwicklungen gegeben, dieses konstitutive Element des Gymnasiums zu schwächen oder gar zu eliminieren. Sachsen-Anhalt knüpft also eindeutig an die Ursprünge einer Tradition des Gymnasiums an, die ihm einen wesentlichen Teil seiner Eigenständigkeit, seines Charakters und seiner Wertschätzung verlieh. In der Schullandschaft Sachsen-Anhalts ist das Gymnasium nicht zuletzt wegen dieser Anlage der Abiturprüfung ein markanter, prägender, auf die ihn in Gestalt der anderen Schulformen umgebenden Landschaftsteile Einfluss nehmender qualitätsfördernder Quell, der ein ganzes Bewässerungssystem zu speisen vermag.
3. Die Qualitätsagentur Der Begriff Qualitätssicherung ist eine Erscheinung unserer Tage und wird in vielen Lebensbereichen verwendet. Das lässt generell die
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Vermutung aufkommen, dass es um die Qualität, wessen auch immer, nicht besonders gut bestellt sei. Das Schulwesen ereilte dieser Begriff im Kontext der Leistungsvergleichsstudien, zumal dann, wenn diese Alarmsignale aussandten. Es war schließlich nur ein konsequenter Schritt, „Qualitätssicherung“ als Auftrag in die Schulgesetze aufzunehmen. In Sachsen-Anhalt geschah das im Zuge der Novellierung von 2005, als der Paragraph 11a in das Schulgesetz eingefügt wurde. Mit einer Schulgesetznovelle, dem Elften Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 18.02.2009, hat § 11a seine gegenwärtig gültige Fassung erhalten. Auf sie wird hier Bezug genommen. § 11a wirkt wie eine Art Leuchtturm, der ständig Signale aussendet, damit ein Kentern oder Stranden, von Untergang ganz zu schweigen, vermieden werden kann. Alles Handeln in den Schulen, „die gesamte Bildungs- und Erziehungstätigkeit“, soll vom § 11a her begriffen und auf ihn ausgerichtet sein. „Qualitätssicherung“, heißt es im Absatz 1, „umfasst insbesondere 1. internationale, nationale, landeszentrale und regionale Schulleistungsuntersuchungen, 2. die Einführung nationaler Bildungsstandards, 3. die externe Evaluation; dazu gehören die Evaluation durch Schulbesuch, die Inspektion, zentrale Leistungserhebungen und Schulbefragungen, 4. die interne Evaluation, 5. die Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten. Die Hochschulen unterstützen die Qualitätssicherung.“ Es versteht sich nach den bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel sozusagen von selbst, dass die „Verordnung über die Abschlüsse in der Sekundarstufe I“ und die „Verordnung über die gymnasiale Oberstufe“ Schlüsselfunktionen innehaben, wenn es um Qualitätssicherung an den Schulen geht. Zusätzlich zu diesen schon grundsätzlich vorhandenen qualitätssichernden Rechtsvorschriften wurde das Schulgesetz also der Ort,
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wo Elemente und Verfahren der Qualitätssicherung im Schulwesen verankert wurden. Das hatte seinen Hintergrund: Sachsen-Anhalt hatte in der Schulleistungsuntersuchung PISA I nicht besonders gut abgeschnitten, es fand sich auf einem Rangplatz im unteren Mittelfeld wieder. Das ließ die Sirenen heulen. Es musste reagiert werden. Der § 11 a ist das Resultat. In einer für ein Gesetz erstaunlichen Festlegung von Details sowohl inhaltlicher als auch verfahrenstechnischer Art wird Qualitätssicherung zur Pflicht erhoben: „Die Schulen, die Schulbehörden und das Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung sind zu kontinuierlicher Qualitätssicherung verpflichtet“. Dieses Landesinstitut wurde mit der genannten Schulgesetznovelle zwar nicht förmlich, aber doch faktisch in den Rang einer Schulbehörde mit Schulaufsichtsfunktion erhoben. Das geschah durch die Ergänzung des § 82 um einen dritten Absatz, der bestimmt, dass das Landesinstitut „die Aufgabe der Schulaufsicht bei der externen Evaluation hinsichtlich der Evaluation durch Schulbesuche, der Inspektion und der Schulbefragungen, bei der internen Evaluation und bei der Ausbildung und Prüfung der Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter und Referendarinnen und Referendare sowie bei der Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten für die Schulbehörde“ wahrnehme. In § 11a Abs. 2 heißt es ergänzend: „Die zentralen Leistungserhebungen werden vom Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung Sachsen-Anhalt in Zusammenarbeit mit der Schulbehörde durchgeführt“. Als Schulbehörde fungiert gemäß § 82 Abs. 2 das Landesverwaltungsamt. Das Landesinstitut ist zur „Qualitätsagentur“ geworden. Es existiert seit dem 01.03.2009 – hervorgegangen aus dem LISA (Landesinstitut für Lehrerfort- und -weiterbildung und Unterrichtsforschung in Sachsen-Anhalt) und einigen Referaten des Landesverwaltungsamtes. Mit dem Begriff „Evaluation“ ist in das Gesetz so etwas wie ein Zauberwort hineingekommen, ohne das man im Zusammenhang mit dem ebenfalls inzwischen fast mythischen Terminus „Qualitätssicherung“ nicht mehr meint auskommen zu können.
Qualitätsagentur 117
Was denn schulische Qualität ausmache, darüber wird trefflich gestritten. Fast jeder versteht darunter etwas anderes, aber jeder will das, was er als Qualität versteht, sichern. Insoweit herrscht Konsens. Im § 11a wird, wie schon zitiert, zwischen interner und externer Evaluation unterschieden. In Absatz 3 heißt es: „Die interne Evaluation obliegt der einzelnen Schule. Die Schule kann sich der Mitarbeit Dritter bedienen“. Für beide Formen der Evaluation bestimmt Absatz 4: „Die Kriterien der internen und externen Evaluation sind aufeinander abzustimmen.“ Welche Kriterien das sind, wer sie festlegt und gegebenenfalls überprüft und wer die Koordination vornimmt, darüber sagt das Gesetz nichts. Geradezu folgerichtig hat der Kultusminister in einer Broschüre schon im Jahre 2006, auf den § 11a des Schulgesetzes von 2005 Bezug nehmend, umfassend und detailliert zugleich dargelegt, von welchen Kriterien bei der externen Evaluation auszugehen sei. Er stellt einen „Qualitätsrahmen schulischer Arbeit“ in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und betont, dass der sechs Qualitätsbereiche enthalte: – Schülerleistungen – Lehr- und Lernbedingungen – Professionalität der Lehrkräfte – Leitungsgeschehen und Schulmanagement – Schulorganisation – Schulklima und Schulkultur. Zu diesen Qualitätsbereichen werden dann Erläuterungen gegeben. Von Bedeutung für die Anwendung der Kriterien sind ferner die umfangreichen Ausführungen zu den Evaluationsmethoden und -instrumenten, den Ablaufplänen, den begleitenden und unterstützenden Maßnahmen sowie zur Auswertung. Mit dieser sehr allgemeinen Behandlung der Evaluationskriterien möge es sein Bewenden haben. Eine bemerkenswerte Besonderheit stellt der „Bildungsbericht“ dar, der gemäß § 11a Abs. 5 „einmal je Wahlperiode“ von der obersten Schulbehörde, soll heißen dem Kultusministerium, zu veröffentli-
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chen ist. Das beinhaltet also die Pflicht zur Bilanzierung des Erreichten, nicht zuletzt im Vergleich mit dem Übernommenen oder auch dem Angestrebten bzw. in Wahlprogrammen Angekündigten. Dieser Bildungsbericht soll, „differenziert nach Schulformen und Bildungsgängen, über den Entwicklungsstand und die Qualität der Schulen in Sachsen-Anhalt“ Auskunft geben. Die Evaluationsergebnisse seien in angemessener Weise darzustellen. Dem Auftrag des Gesetzes entsprechend ist mit dem ersten Bildungsbericht am Ende der laufenden Legislaturperiode, also noch vor dem März 2011 zu rechnen. Das Sinnhafte eines solchen Berichts leuchtet ein. Inwieweit er die bildungspolitische Auseinandersetzung im Wahlkampf beeinflussen wird, bleibt allerdings abzuwarten.
4. PISA und Sachsen-Anhalt Hinter PISA versteckt sich nicht ein schiefer Turm. Einen solchen kann man in der Toskana bewundern, in Pisa. 69 PISA steht für Programme for International Student Assessment, eingerichtet von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Mitgliedsstaaten der OECD sollen über Stärken und Schwächen ihrer Bildungssysteme informiert werden. Zielgruppe des Programms sind die fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler. Sie sind in zahlreichen Staaten dann am Ende der Pflichtschulzeit. PISA, heißt es in einer Publikation des PISAKonsortiums Deutschland, „konzentriert die Erhebungen auf grundle69 Es erstaunt, dass in fast allen Gazetten sowie auf den Texttafeln der öffentlichrechtlichen Sendeanstalten von den „Pisa-Studien“ die Rede gewesen ist. Offenbart sich darin eine bedenkliche Leseschwäche gerade derjenigen, die mit Häme über die festgestellte oder auch nur vermutete Leseschwäche vieler deutscher Schülerinnen und Schüler herzogen? In allen Publikationen des sog. PISA-Konsortiums heißt es „PISA untersucht...“ oder „PISA befragt...“. Diesen Fachleuten sollte man auch als selbstbewusster Journalist die richtige Schreibweise abnehmen. Ganz gewiss sollten die Medienleute richtig zu zitieren gelernt haben.
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gende Kompetenzen, die für die individuellen Lern- und Lebenschancen ebenso bedeutsam sind wie für die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Weiterentwicklung.“ 70 Die erste PISA-Erhebung fand im Jahre 2000 statt, damals stand die Lesekompetenz im Mittelpunkt. Im Jahre 2003 folgte die zweite Erhebung mit Mathematik als dem Schwerpunktgebiet, 2006 die dritte, die auf die Naturwissenschaften fokussiert war. PISA I, die internationale Vergleichsstudie, deren Ergebnisse im Herbst 2001 veröffentlicht wurden, ließ erkennen, dass sich Deutschlands Bildungssysteme, nämlich die der einzelnen Bundesländer, in einer doppelten Schieflage befanden. Deutschland hatte zum einen im Jahre 2000 im Vergleich zu anderen OECD-Mitgliedern sehr mäßig abgeschnitten. Das war den meisten Medien, gewissen Lehrerverbänden und etlichen einschlägig interessierten „Bildungsforschern“ (willkommener?) Anlass, reißerisch von „Bildungskatastrophe“, „PISA-Debakel“ und „PISA-Schock“ zu sprechen und zu schreiben. Aber in Deutschland selbst waren die Bildungssysteme ebenfalls nicht im Lot. Es offenbarte sich ein dramatisches Süd-Nord-Gefälle mit den unionsregierten Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen als den eindeutigen Spitzenreitern. Das wiederum passte einigen überhaupt nicht ins bildungspolitische Weltbild, so dass es häufig außerhalb der Betrachtung und damit der Bewertung blieb. Inwieweit die Erhebungen wirklich valide Ergebnisse lieferten, muss hier dahingestellt bleiben. Es hat nicht wenige Stimmen gegeben, die bis auf den heutigen Tag erhebliche grundsätzliche Zweifel anmelden. Eine sei genannt, die des Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, der sich nicht scheute, im Blick auf den internationalen Vergleich vom „PISA-Schwindel“ zu sprechen. 71 Für die deutsche Bildungspolitik war jedenfalls Alarm ausgelöst worden. Insbesondere auf der KMK-Ebene wurde hektisch reagiert. 70 PISA-Konsortium Deutschland: PISA 2003, Ergebnisse des zweiten Ländervergleichs, Zusammenfassung, S. 4. 71 Josef Kraus, Der PISA-Schwindel, Signum Verlag Wien, 2005.
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Wichtige Resultate der fieberhaften Analyse der Ergebnisse und der Ursachenforschung waren die Bildungsstandards, auf die sich die Bundesländer verständigten, die Prüfungsarbeiten mit zentral gestellten Aufgaben sowie die Vergabe der sog. Mittleren Bildungsabschlüsse auf der Basis von institutionalisierten Prüfungsvorgängen. Auf SachsenAnhalt bezogen habe ich dazu bereits Ausführungen gemacht. Wie immer man zu den Methoden und der Aussagekraft der Erhebungen stehen mag, es bleibt festzuhalten, dass Sachsen-Anhalt im Jahre 2000 mit dürftigen Ergebnissen aufwartete und mit einem der hinteren Rangplätze vorlieb nehmen musste. Eine im Juni 2002 durchgeführte ergänzende nationale Studie unter dem Namen PISA-E bestätigte, dass Sachsen-Anhalt im Vergleich der Bundesländer schlecht dastand. Erneut wurde nach Schuldigen einerseits und nach Wegen aus der Misere andererseits gesucht. Die leidige Schulstrukturdebatte war seit 2001, also seit PISA I, wieder angeheizt worden. Die Befürworter des Einheitsschulwesens und des längeren gemeinsamen Lernens versuchten, aus der Flut der schlechten Nachrichten Wasser auf ihre Mühlen zu leiten. Zu den Übeltätern zählten sie die Befürworter des gegliederten Schulwesens, denen sie (zu frühe) Selektion und Diskriminierung bildungsferner Schichten vorwarfen, deren Kindern der Aufstieg mittels Bildung bewusst verwehrt werde. Ein relativ spätes Produkt dieses Denkens ist immerhin der Bildungskonvent in Sachsen-Anhalt, über dessen Arbeit und dessen Ergebnisse an anderer Stelle dieses Buches berichtet wird. Diejenigen, die nach dem Ende des gegliederten Schulwesens riefen, hatten aber übersehen, dass schon bei PISA I die Bundesländer mit der konsequentesten Gliederung und den wenigsten Gesamtschülern für Deutschland noch die meisten Kastanien aus dem Feuer geholt hatten: Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen vorneweg. Und unter den Schulformen hatte das Gymnasium besonders gute Werte aufzuweisen. PISA-E bestätigte das Bild mit Thüringen als dem eigentlichen Aufsteiger in die Spitzengruppe. Angesichts dieser Befunde und in Kenntnis der Ergebnisse von PISA II aus dem Jahre 2003 rief die frühere Kultusministerin von
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Nordrhein-Westfalen, Gabriele Behler (SPD), in einem Aufsatz, der am 06.12.2004 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurde, zu „Mehr Redlichkeit“ auf. 72 Ihre Adressaten waren in erster Linie die GEW, die Grünen und ihre Parteigenossen, die das hohe Lied des integrierten Schulwesens mit neuer Inbrunst zu singen begonnen hatten. Sie reihte sie bei den „säkularisierten Heilsbringer(n)“ ein, deren frohe Botschaft laute: „Die eine Schule für alle Kinder, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule oder Einheitsschule genannt, bringt die Erlösung aus dem bildungspolitischen Jammertal eines gegliederten Schulwesens mit seinen PisaErgebnissen.“ Sie sprach wörtlich von „erfolgreichen Förderbemühungen der Gymnasien“ und fuhr fort: „Dass die deutsche Gesamtschule mit ihren Leistungsergebnissen und mit ihrem gescheiterten Versuch, den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenz zu verringern, nicht gerade ein attraktives Gegenmodell zum gegliederten Schulwesen ist, wird verschwiegen, eine Analyse ihrer Schwächen geradezu verweigert.“ Sie betonte zurecht, dass Deutschland bei PISA 2003 zu den Aufsteigerländern gehörte. Und genau als das erwies sich innerhalb Deutschlands SachsenAnhalt – als Aufsteigerbundesland Nummer 1. Auf die Ergebnisse soll ein genauerer Blick geworfen werden. Man könnte voreilig meinen, Sachsen-Anhalts „Aufstieg“ sei in erster Linie der Schwerpunktverlagerung von der Lesekompetenz (PISA I) zur mathematischen Kompetenz (PISA II) zu verdanken. Aber eine solche Lesart greift zu kurz. Gerade auf dem Gebiet der Lesekompetenz hat Sachsen-Anhalt den größten Sprung nach vorn machen können. Die zitierte Publikation des PISA-Konsortiums bescheinigt fünf Bundesländern „signifikante Zuwächse“. Unter diesen steht Sachsen-Anhalt mit der Steigerung des Mittelwerts von 455 auf 482 Punkte, also um 27 Punkte, eindeutig an der Spitze. Hatte es bei PISA I nur Bremen – Berlin und Hamburg hatten sich in zu geringem Umfang beteiligt und waren bei der Auswertung nicht berücksich72 Gabriele Behler, Mehr Redlichkeit, in: FAZ, 06.12.2004.
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tigt worden – hinter sich lassen können, stand Sachsen-Anhalt bei PISA II nun stabil im Mittelfeld auf Rang 9 unter allen Bundesländern, zwar immer noch knapp unter dem Mittelwert Deutschlands (491 Punkte), aber der war durch die herausragenden Werte Bayerns (518), Baden-Württembergs (507) und Sachsens (504) zu erklären. Auf dem PISA II-Schwerpunktgebiet Mathematik konnte sich Sachsen-Anhalt auf Rang 5 (502 Punkte) in unmittelbarer Nähe des deutschen Mittelwerts (503 Punkte) platzieren, der erneut Bayern (533), Sachsen (523), und Baden-Württemberg (512) sowie nun auch Thüringen (510) zu verdanken war. Alle anderen Bundesländer ließ Sachsen-Anhalt hinter sich, wobei es erneut auf „signifikante Zuwächse“ stolz sein konnte. Auch im Bereich der naturwissenschaftlichen Kompetenz wies Sachsen-Anhalt den höchsten Zuwachs auf, von 471 auf 503 Punkte, und verbesserte sich vom vorletzten auf den achten Rangplatz unter allen Bundesländern, knapp über dem deutschen (502) und dem OECD-Mittelwert (500) angesiedelt. Eindeutig schwächer schnitten Sachsen-Anhalts Schülerinnen und Schüler auf dem Gebiet der Problemlösekompetenz ab. Sie liegen zwar mit 501 Punkten knapp über dem OECD-Durchschnitt (500), aber deutlich unter dem deutschen Durchschnitt (513), der wiederum von Bayern (534), Sachsen (527) und Baden-Württemberg (521) maßgeblich bestimmt ist. Es ergibt sich als Fazit: Es sind die Bundesländer mit streng gegliedertem Schulwesen – und es ist unter den Schulformen das Gymnasium 73 – , denen Deutschland im internationalen Vergleich bei PISA II seinen signifikanten Aufstieg zu verdanken hatte. SachsenAnhalt hatte sich von einem Platz unter den Sorgenkindern zu einem konkurrenzfähigen Wettbewerber emporgearbeitet. Dass zwischen PISA I und PISA II im Jahre 2002 der Regierungswechsel von einer von der PDS tolerierten SPD-Regierung zu einer CDU/FDP-Regierung stattfand, mag in diesem Zusammenhang 73 Das ist in vielen Publikationen herausgearbeitet worden und wird hier nicht erneut nachgewiesen.
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als „Zufall“ ohne unmittelbare Wirkung abgetan werden. Wer aber in Rechnung stellt, dass politische Entscheidungen und Präferenzen (hier für das gegliederte Schulwesen) auch und z. T. sogar maßgebliche Impulse gerade für den Unterricht zu setzen vermögen, der wird nicht umhin kommen, in den bemerkenswerten Ergebnissen SachsenAnhalts mehr als nur ein Zufallsprodukt zu erblicken. Das insgesamt bereits erfreuliche Bild wurde im Jahre 2008 durch PISA III rundum bestätigt. Diesmal bildeten die Naturwissenschaften den Schwerpunkt der Erhebungen, die 2006 vorgenommen worden waren. Wie kaum anders zu erwarten, rangierten wieder Sachsen (541 Punkte), Bayern (533), Thüringen (530) und Baden-Württemberg (523) auf den ersten Plätzen, aber nun in dieser Reihenfolge. Das sei auch, schrieb die FAZ-Redakteurin Heike Schmoll, der „während der DDR-Zeit gewachsenen Tradition des naturwissenschaftlichen Unterrichts“ zu verdanken, zudem der Tatsache, dass „der naturwissenschaftliche Stundenanteil“, zumal an den Gymnasien, deutlich höher sei als in vielen anderen Bundesländern. 74 Dass es wieder die Bundesländer mit konsequenter Gliederung nach Schulformen bzw. Bildungsgängen sind, darf und muss wohl ergänzt werden. Sachsen-Anhalt bestätigte diese Aussage und belegte mit 518 Punkten, zwei Punkte über dem Bundesdurchschnitt (516), Rang 5 und unterstrich eindrucksvoll seinen Aufstieg in das erste Drittel aller Bundesländer. Besonders erfreulich war das Abschneiden der Gymnasien bei PISA-E. Bei einem Durchschnittswert von 598 Punkten lag Sachsen-Anhalt mit 606 Punkten deutlich darüber auf Rang sechs gleichauf mit Thüringen, aber zum Beispiel weit vor seinem einstigen Partnerland Niedersachsen, das nur auf 588 Punkte kam. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass sich die Leseleistung der Grundschüler Sachsen-Anhalts, wie die im Dezember 2008 vorgestellten Ergebnisse der „IGLU-E 2006 Studie“ belegen, nur als mittelmäßig einstufen lässt, wenngleich mit deutlicher Steigerung 74 Heike Schmoll, Denken ist besser als experimentieren, in: FAZ, 19. November 2008, S. 2.
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gegenüber dem Bild, das frühere Studien ergeben hatten. Nicht zuletzt deshalb hat Heike Schmoll wohl von „erfolgreichen Ländern wie Thüringen und Sachsen-Anhalt“ gesprochen. 75 Jedenfalls sieht sich das Kultusministerium gut gerüstet, die erkennbare nationale Wettbewerbsfähigkeit Sachsen-Anhalts im Bildungswesen auch dadurch unter Beweis zu stellen, dass es sich auf gemeinsame zentrale Abituraufgaben mit Sachsen und Thüringen einlässt. Darüber berichtete sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 27.11.2008: „Schon im Schuljahr 2011/2012 soll es gemeinsame Abituraufgaben in Deutsch und Mathematik geben, kündigten die drei zuständigen Kultusminister an.“ Auf den damaligen thüringischen Kultusminister Müller (CDU) wurde dann mit einem Satz Bezug genommen, den im Kontext dieser Arbeit hier zu präsentieren besonders naheliegt. Er habe gesagt, „nicht die Schule für alle, sondern die richtige Schule für jeden sei das erfolgreiche Modell der Zukunft“. Mittelfristig ist sogar die Teilnahme am sog. Südabitur vorgesehen, bei dem es darauf ankommen wird, auch mit Bayern und BadenWürttemberg mitzuhalten. Ohne Ehrgeiz und Selbstbewusstsein ist das alles nicht. Aber die seit 2003 nachgewiesenen Fortschritte sind das Resultat erheblicher Anstrengungen der Bildungspolitik des Landes unter Führung der CDU. Sie deuten darauf hin, dass die Schullandschaft Sachsen-Anhalts inzwischen so „kultiviert“ worden ist, dass sie einen Vergleich mit der prächtigen Gartenarchitektur der Spitzenreiter der bundesweiten Leistungsstudien, allesamt ebenfalls von den Unionsparteien maßgeblich bestimmt, nicht zu scheuen braucht.
5. Ganztagsschulen Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein waren Ganztagsschulen in der Bundesrepublik Deutschland so gut wie überhaupt nicht existent. Lediglich Schulen in freier Trägerschaft, zumal wenn 75 Heike Schmoll, Weltklasse in und um Weimar, in: FAZ, 10.12.2008, S. 4.
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sie einen Internatsbetrieb unterhielten, boten in nennenswerter Zahl Ganztagsbetreuung oder gar Ganztagsunterricht an. Diese begründeten denn auch einen wesentlichen Teil ihrer Attraktivität bei denjenigen Erziehungsberechtigten, deren Lebensumstände es sinnvoll erscheinen ließen, Ganztagsangebote von Schulen – auch unter Inkaufnahme erheblicher Kosten – anzunehmen. Erst mit den Gesamtschulen, die seit den siebziger Jahren als Konkurrenten des gegliederten Schulwesens die Bildungslandschaft zu verändern begannen, etablierte sich die Ganztagsschulidee auch im öffentlichen Sektor des Bildungswesens etlicher alter Bundesländer, ohne allerdings zunächst mehr als ein Stachel zu sein oder eine Außenseiterrolle zu spielen. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass die Ganztagsbetreuung an den Gesamtschulen nach und nach einen besonderen Reiz entfaltete, der den Zuspruch der Eltern für diese Schulform mit den sich verändernden Lebensbedingungen in Gesellschaft und Wirtschaft steigen ließ. In der einstigen DDR war Ganztagsbetreuung hingegen von Anfang an bildungsideologisch erstrebt worden. Sie wurde als systemrelevant begriffen und entsprechend durchgesetzt. Die besonderen sozialistischen Produktionsverhältnisse taten ein übriges, um Ganztagsbetreuung als Bestandteil eines pädagogischen Gesamtkonzepts zu propagieren, der weitgehende Akzeptanz fand und zu den sozialistischen Errungenschaften gezählt wurde. Es kommt deshalb auch nicht von ungefähr, dass die Erinnerung an die Horte, die als Ausdruck der Idee der Ganztagsbetreuung wirksam wurden, dem, was als DDR-Nostalgie zu beobachten ist, immer wieder Impulse und Nahrung gibt. Es war so: Das Einheitsschulwesen der DDR war genuin mit Ganztagsbetreuung verbunden. Die Horte bildeten mit den Einheitsschulen ein mehr oder weniger deutliches symbiotisches Ganzes.76
76 Die Frage nach der Qualität der Horte, gerade auch in pädagogischer Hinsicht, drängt sich auf. Ihr kann aber hier nicht nachgegangen werden.
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Diese Tatsache galt es zu bedenken, als das Einheitsschulwesen der DDR durch ein gegliedertes Schulwesen nach dem Vorbild der alten Bundesländer ersetzt werden sollte. Waren die Horte mit dem alten Schulsystem in Gänze zu entsorgen? Würde das gegliederte Schulwesen Akzeptanzprobleme bekommen, sobald die Ganztagsbetreuung aufgegeben war? Machte nicht gerade die Umbruchphase Ganztagsangebote dringend erforderlich, die eine Entlastung der Eltern in einer Zeit extremer existenzieller Veränderungen versprachen? Weitere Fragen könnten angeschlossen werden. Jedenfalls war der Landesregierung 1991 bewusst, dass die Idee der Ganztagsbetreuung auf irgendeine Weise Eingang finden musste in das Schulgesetz, ohne der Ganztagsschule damit schon Tür und Tor zu öffnen. Es musste der Gedanke vermittelt werden, dass sich Perspektiven boten, die grundsätzlich Hilfe in Aussicht stellten, sobald man auf diese meinte angewiesen zu sein. Gleichzeitig wollte die Landesregierung sich von der Rundumversorgung und -betreuung auch und gerade im Schulwesen der DDR distanzieren, deren Vereinnahmungsstrategie längst durchschaut und auch abgelehnt worden war. Der Antwort auf das Dilemma konnte man sich tatsächlich nur im Sinne einer Gratwanderung nähern. Das Resultat dieser Überlegungen war § 12 des Schulreformgesetzes von 1991 „An Schulen der Sekundarstufe I kann eine ganztägige Betreuung angeboten werden, in der Kinder, deren Eltern es wünschen, außerhalb des Unterrichts betreut werden. Die Einrichtung bedarf der Genehmigung der Schulbehörde. Voraussetzung für die Genehmigung ist, dass die sächlichen und personellen Bedingungen gegeben sind.“ 77 77 Es sei daran erinnert, dass im Schulreformgesetz von 1991 im § 4 („Grundschule“) die Horte als „Bestandteil jeder Grundschule“ institutionalisiert wurden. Näheres ist dazu im Abschnitt „Die vierjährige Grundschule“ von mir ausgeführt worden.
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Wohlgemerkt, damit wurde noch keine Ganztagsschule auf den Weg gebracht. Sehr konsequent lautet die Überschrift des § 12 auch nur „Ganztagsbetreuung“. Es ist wahrscheinlich nur ein Zufall, dass auf den § 11 im Schulgesetz Sachsen-Anhalts, der „Qualitätssicherung“ zum Inhalt hat, sofort mit dem § 12 Bestimmungen folgen, die die „Errichtung von Ganztagsschulen“, außerdem „schulische Angebote außerhalb des Unterrichts“ zum Gegenstand haben. Bundesweit wird die Ganztagsschule seit einiger Zeit als eine Art Wunderwaffe begriffen, mit der sich Qualitätsdefizite – seien es tatsächliche oder lediglich vermeintliche – auf geradezu einfachste, selbstredend auf natürliche Weise beheben ließen. Inwieweit dabei sozialpädagogische, bildungsideologische oder nur sozialpolitische Triebfedern wirken, muss hier ausgeblendet bleiben. Der Blick soll auf die Ganztagsschule(n) als Bestandteil der Schullandschaft Sachsen-Anhalts über die zwanzig Jahre ihrer Gestaltung hinweg gerichtet sein. Die Genese der Ganztagsschule war und ist Ausdruck des bildungspolitischen Prozesses, um den es in dieser Arbeit vorrangig geht. Schaut man in das Schulreformgesetz von 1991, fällt also, wie bereits ausgeführt, auf, dass der Begriff „Ganztagsschule“ nicht vorkommt. Im § 12 wird aus nachvollziehbaren Gründen nur von „Ganztagsbetreuung“ gesprochen, noch dazu beschränkt auf den Sekundarbereich I. Nicht nur Fachleuten wird einleuchten, dass die Beschränkung auf „Betreuung“ gewollt war und vorerst nicht einmal den Anflug des Gedankens zuließ, es sei ein Einstieg in den Ganztagsschulbetrieb ins Auge gefasst. Mit dem Schulgesetz von 1993 taucht aber bereits die Überschrift des § 12 auf, die bis zum heutigen Tage beibehalten worden ist: „Errichtung von Ganztagsschulen, schulische Angebote außerhalb des Unterrichts“. Der Wortlaut verdient etwas Aufmerksamkeit: „An den Schulen können Bildungsangebote außerhalb des Unterrichts gemacht werden. Die Einrichtung bedarf der Genehmigung der Schulbe-
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hörde. Voraussetzung für die Genehmigung ist, dass die sächlichen und personellen Bedingungen gegeben sind.“
Das bedeutete: Die Beschränkung auf „Betreuung“ als schlichte pädagogische Einladung insbesondere an Kinder berufstätiger Eltern war gefallen, ebenso die Beschränkung auf den Sekundarbereich I. Das ging einher mit der Herausnahme der Auflage aus dem § 4, dass ein Hort Bestandteil einer jeden Grundschule zu sein habe. Die „Bildungsangebote“ sollten zwar „außerhalb des Unterrichts“ angesiedelt sein, aber sie erhielten nun mehr oder weniger artikuliert die Funktion, den Unterricht mit seinem zentralen Bildungsauftrag zu unterstützen. Die Grundschule, das war erkannt worden, musste einbezogen sein, weil sie als der besonders geeignete Ort begriffen wurde, wo sich die zusätzlichen Bildungsangebote wirksam entfalten konnten. Es spricht nämlich vieles dafür, dass sie sinnvollerweise den Unterricht ergänzende, jedenfalls den Bildungsprozess der Schülerinnen und Schüler fördernde Maßnahmen sein sollten, den Primarbereich nicht nur mit erfassend, sondern ihn bewusst in den Blick nehmend. Die Verwendung des Begriffs Ganztagsschule konnte nur so verstanden werden, dass die Bildungsangebote eben doch schulischer Natur sein sollten und dadurch eine Halbtagsschule klassischer Gestalt mindestens tendenziell in eine Ganztagsschule verwandelten. Die Schulgesetznovelle vom 27. August 1996, Produkt der Koalition aus SPD und Bündnis 90/ Die Grünen, die seit 1994 regierte, ging auf dem Weg zum eigentlichen Ganztagsschulbetrieb einige wesentliche Schritte weiter. Im § 12 Abs. 1 wurden nun die Schulformen Grundschule, Sekundarschule, Gesamtschule und Gymnasium ausdrücklich genannt, die als „Ganztagsschulen“ organisiert werden konnten. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Sonderschulen nicht als Ganztagsschulen geführt werden durften. Bemerkenswert ist, dass die Errichtung von Ganztagsschulen nicht alle Jahrgänge der betroffenen Schulen umfassen musste: „Die Gestaltung als Ganztagsschule kann sich auch auf einzelne Schuljahrgänge beschränken.“ Absatz 2 eröffnete die Möglichkeit, „Bildungs- und Freizeitangebote außerhalb des Unterrichts“, also unterhalb des eigentlichen Status
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von Ganztagsschulen, zu machen, und zwar „an allen Schulen“, d. h. Sonderschulen inbegriffen. Damit waren zwei verschiedene zusätzliche Gestaltungsebenen in das allgemeinbildende Schulwesen eingezogen worden: – Grundschulen, Sekundarschulen, Gesamtschulen und Gymnasien konnten als Ganztagsschulen geführt werden, abhängig vom pädagogischen Konzept der Schule und von den sächlichen Voraussetzungen, die der Schulträger zu schaffen hatte, aber auch abhängig von der Genehmigung durch die Schulbehörde, die ihrerseits die personellen Bedingungen sicherzustellen hatte. – Alle allgemeinbildenden Schulen konnten sich im Vorfeld der Organisationsform Ganztagsschule mit „Bildungs- und Freizeitangeboten außerhalb des Unterrichts“ ein je eigenes Profil geben und auf Nachfragesituationen reagieren. Der Wortlaut des § 12 ist seit 1996 bis auf den heutigen Tag unverändert geblieben und hat die Grundlage für einen beachtlichen Ausbau des Ganztagsschulwesens abgegeben, in das im Laufe der Jahre erhebliche Haushaltsmittel geflossen sind. Im Primarbereich wurden allerdings, wie bereits ausgeführt worden ist, durch die Umgestaltung der Grundschule zu einer Bildungseinrichtung mit zunächst „festen Öffnungszeiten“ (SPD-Modell), dann mit „verlässlichen Öffnungszeiten“ (CDU/FDP-Konzept) – wobei „die Dauer der Öffnung ...schultäglich in der Regel fünf und eine halbe Zeitstunde“ zu betragen hat – , das Begehren bzw. die Notwendigkeit, eine Ganztagsschule einzurichten, beträchtlich reduziert.78 Das hat zur Folge gehabt, dass sich im Schuljahr 2009/2010 unter den 83 öffentlichen Schulen, die als Ganztagsschulen gemäß § 12 Schulgesetz organisiert sind, nur 4 Grundschulen befinden. Das sind lediglich 0,8 % aller Grundschulen (517)! Bei den Sekundarschulen sieht das Bild völlig anders aus: Von den 165 Sekundarschulen haben 58 den Status von Ganztagsschulen, also 35,2 %. Unter den 65 Gym78 Vgl. SchulG LSA vom 01. August 2005, § 4 Abs. 2. Zur Auseinandersetzung über feste bzw. verlässliche Öffnungszeiten der Grundschulen sind Ausführungen im Kapitel „Grundschule“ ( C 1a) erfolgt.
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nasien werden immerhin 15, somit 23,1 %, als Ganztagsschulen geführt. Die 6 öffentlichen Gesamtschulen, und darin unterscheiden sie sich nicht von denen anderer Bundesländer, sind sozusagen naturnotwendig allesamt Ganztagsschulen. 79 Im statistisch erfassten Schuljahr 2008/2009 wurde an den öffentlichen Schulen des Landes Sachsen-Anhalt für über 26.000 Schülerinnen und Schüler ein Ganztagsangebot unterbreitet. Angenommen wurde es von 19.735, darunter 776 (Beteiligungsquote 84%) an Grundschulen, 12.093 (78, 4%) an Sekundarschulen, 549 (59,2%) an Gymnasien. Für das laufende Schuljahr 2009/2010 konnten durch zusätzliche Genehmigungen für über 1000 Schülerinnen und Schüler weitere Möglichkeiten geschaffen werden. Seit dem Beginn der Legislaturperiode im Jahre 2006, also seit Bildung der Koalition von CDU und SPD, sind 22 neue Ganztagschulen genehmigt worden. Das ist konkreter Ausdruck der Vereinbarung, die „kontinuierliche Entwicklung der Ganztagsschulen“ zu forcieren. Für das Schuljahr 2010/2011 sind bereits weitere Anträge im Genehmigungsverfahren. Einen Schub spezieller Art erfuhr das Ganztagsschulwesen in ganz Deutschland durch das Investitionsprogramm des Bundes „Zukunft, Bildung und Betreuung“ (IZBB), das vom Bund und von den Ländern am 12.05.2003 unterzeichnet wurde. Es war mit einem Fördervolumen von 4 Milliarden Euro dotiert, die Mittel sollten nach einem festgelegten Schlüssel verteilt werden. Bedingung der Mittelvergabe an die Bundesländer war eine Kofinanzierung der Projekte durch die Länder mit mindestens 10%. 80
79 Auf eine Ausdifferenzierung der Ganztagsschulen nach Organisationsform, also ob als offene, teilweise gebundene oder vollständig gebundene geführt, wird hier verzichtet. 80 Einzelheiten der Mittelvergabe bleiben unerwähnt. Entscheidender Berechnungsfaktor waren die Schülerzahlen der Grundschulen und der Sekundarstufe I des Schuljahres 2000/2001 der einzelnen Bundesländer im Verhältnis zur Gesamtheit dieser Schülerzahlen im Bundesgebiet.
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Sachsen-Anhalt erhielt in den Jahren 2003–2009 81 aus dem Programm 125.874.570 Euro. Diese wurden auf die verschiedenen Förderalternativen wie folgt verteilt: – Aufbau neuer Ganztagsschulen: 69 % (86.853.453 Euro) – Qualitative Weiterentwicklung bestehender Ganztagsschulen: 27 % (33.986.133 Euro) Die verbleibenden 4 %, immerhin 5.034.983 Euro, wurden für diverse Maßnahmen eingesetzt. Sachsen-Anhalt konzentrierte seinen Mitteleinsatz auf die Förderung des Ganztagsschulbetriebs von Sekundarschulen und von Grundschulen, wenn diese eine enge Kooperation mit verschiedenen Formen der Hortbetreuung gemäß Kinderförderungsgesetz (KiFöG) vom 05. 03. 2003 nachweisen konnten.82 Die Investitionen hatten entsprechend der Vereinbarung der Länder mit dem Bund in Neubau-, Ausbau-, Umbau- und Renovierungsmaßnahmen zu erfolgen. Auch die damit verbundenen Dienstleistungen galten als förderungswürdig, nicht aber die Aufwendungen für betreuendes Personal sowie die Betriebs- und Verwaltungskosten. Es wurden insgesamt 68 Schulen gefördert: 24 Grundschulen, 31 Sekundarschulen, 8 Gymnasien, 3 Sonderschulen und 2 Waldorfschulen. Was 1991 als ganz zartes Pflänzchen zu sprießen begann, ist inzwischen zu einer blühenden und duftenden Rabatte einer immer vielseitigeren Schullandschaft gediehen, die allerdings erhebliche Mengen
81 Der ursprüngliche Investitionszeitraum umfasste die Jahre 2003–2007. Da aber am Ende dieses Zeitraums nicht alle zur Verfügung gestellten Mittel in Anspruch genommen worden waren, wurde die Förderung bis 2009 verlängert. 82 Es ist also zu unterscheiden zwischen den wenigen - nämlich nur 4 - Grundschulen, die eigenständige Ganztagsschulen darstellen, und den zahlreichen Grundschulen, die mit Horten kooperieren, die im Geschäftsbereich des Sozialministeriums angesiedelt sind und für die das KiFöG maßgeblich ist. Diese Grundschulen konnten aber auch in das Förderprogramm aufgenommen werden.
132 Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung
an Dünge- und Bewässerungsmitteln in Gestalt von eigenen, unabhängig von den vom Bund fließenden Haushaltsansätzen bindet.83
6. Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten Es wurde lange verkannt oder verdrängt, dass in einem leistungsfähigen, modernen, den Herausforderungen der Zukunft sachgerecht begegnenden Schulwesen auf die individuelle Förderung von besonders Begabten nicht verzichtet werden darf. Qualitätssicherung bedeutet eben auch das Ausschöpfen der Potentiale derjenigen, die den Rahmen des Normalen im positiven Sinne zu sprengen vermögen. Über die bekannten und vielerorts praktizierten Maßnahmen hinaus, die sich u. a. in Förderangeboten, binnendifferenziertem Unterricht, in Arbeitsgemeinschaften und in der Vorbereitung auf die Teilnahme an Wettbewerben, zudem in der vorzeitigen Einschulung oder im Überspringen von Schuljahrgängen manifestieren, hat das Land Sachsen-Anhalt seinen Schulen die Möglichkeit eröffnet, mit inhaltlichen Schwerpunkten zum einen ein besonderes Profil zu ihrem Markenzeichen zu machen, zum anderen Schülerinnen und Schülern als Ort zu dienen, wo sie ihre spezifischen Talente und Anlagen zur vollen Entfaltung bringen können. Letzten Endes ist das Ausfluss einer Bestimmung im § 1 des Schulgesetzes, in dem „der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule“ definiert ist. Seit der Schulgesetzfassung von 1993 heißt es im Absatz 1, dass „jeder junge Mensch ... das Recht auf eine seine Begabungen, seine Fähigkeiten und seine Neigung fördernde Erziehung, Bildung und Ausbildung“ habe. Im Schulreformgesetz von 1991 war der Schule lediglich auferlegt worden, das Recht eines jeden jungen Menschen „auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen(!) entsprechende Bildung und Erziehung“ 83 Das Zahlenwerk kann hier nicht ausdifferenziert genannt werden, weil die für den Ganztagsschulbetrieb bereitgestellten Mittel nicht in eigenen Kapiteln des Landeshaushalts veranschlagt sind, sondern Bestandteil der Haushaltsansätze in den Kapiteln der einzelnen Schulformen sind.
Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten 133
zu gewährleisten. Das Wort „Begabung“ fand aus Gründen, die nicht mehr definitiv erschlossen werden können, keinen Eingang in das Schulgesetz. Zu vermuten ist allerdings, dass der Begabungsbegriff gemieden wurde, weil er längere Zeit bildungsideologisch verpönt gewesen war. Um es etwas polemisch auszudrücken: Begabung war zu einer Art Unwort geworden; statt dessen schuf man von interessierter Seite das bis dahin im Deutschen unbekannte transitive Verb „begaben“ als Ausdruck des generellen Auftrags der Schule, alle zu begaben, da niemand von vornherein als von Natur aus, sozusagen genetisch determiniert, begabt zu gelten habe, schon gar nicht als begabter als andere. Die neunziger Jahre waren tatsächlich die Zeit, in der der Begabungsbegriff bildungswissenschaftlich eine Renaissance erlebte. Die aufkommende neue Wertschätzung einer Bildungselite tat ein übriges. Genauso bemerkenswert ist allerdings, dass „Ausbildung“ zunächst nicht zu den Zielgrößen schulischen Wirkens gehörte. Aus unterschiedlichen Gründen, die hier nicht vorgestellt werden müssen, begann man, auch in der allgemeinbildenden Schule die Institution zu sehen, die nicht nur einem abstrakten Bildungsbegriff, sondern sehr konkret zusätzlich der Ausbildung für das Berufsleben verpflichtet sein sollte, zumal in den Hauptschul- und den Realschulbildungsgängen. Vor diesem Hintergrund gibt es seit 2006 eine Koordinierungsund Beratungsstelle zur Begabtenförderung mit der Aufgabe, „Lehrkräfte und Eltern über die Möglichkeiten und Zugänge zu den Angeboten der Begabtenförderung“ zu beraten und „die Schulen bei der konzeptionellen Erarbeitung von Förderplänen und Fördermaßnahmen für hochbegabte Schülerinnen und Schüler“ zu unterstützen.84 Im Dezember 2008 hat das Kultusministerium den Eltern eine Informationsbroschüre an die Hand gegeben, in der detailreich auf
84 Diese Koordinierungs- und Beratungsstelle wurde am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsforschung (LISA) in Halle angesiedelt.
134 Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung
die „Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten in Sachsen-Anhalt“ hingewiesen wird. 85 Tabelle 8 Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten Schule
Inhaltlicher Schwerpunkt
Georg-Cantor-Gymnasium Halle
Mathematik, Naturwissenschaften
Werner-von Siemens-Gymnasium Magdeburg
Mathematik, Naturwissenschaften
Landesgymnasium für Musik Wernigerode
Musik
Burg-Gymnasium Wettin
Kunst
LATINA „August Hermann Francke“ Halle
Sprachen und Musik
Landesschule Pforta
Sprachen und Musik
Sportschulen Magdeburg (Gymnasium und Sekundarschule)
Sport
Sportschulen Halle (Gymnasium und Sekundarschule)
Sport
Dass es sich, abgesehen von zwei Sekundarschulen mit dem Schwerpunkt Sport, ausschließlich um Gymnasien handelt, ist in der Natur der Sache begründet. Bemerkenswert ist allerdings, dass die drei Gymnasien in der Trägerschaft des Landes darunter sind: Das Landesgymnasium Latina in Halle, die Landesschule Pforta in Schulpforte bei Naumburg und das Landesgymnasium für Musik in Wernigerode. 86 Wer einen anderen Träger dafür gewinnen will, seine Schule mit einem inhaltlichen Schwerpunkt zu profilieren und zu definieren, muss eben mit gutem Beispiel vorangehen! 85 Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten in Sachsen-Anhalt, Magdeburg, Dezember 2008. Das vorangehende Zitat ist Seite 4 dieser Publikation entnommen. 86 Die Schulträgerschaft des Landes ist im § 65 des Schulgesetzes verankert. Sie ist ausdrücklich „Schulen besonderer Bedeutung“ vorbehalten. Neben den drei genannten Gymnasien sind noch fünf Förderschulen davon erfasst: Die Förderschulen für Gehörlose und Hörgeschädigte in Halberstadt und in Halle, die Förderschule für Körperbehinderte sowie Blinde und Sehbehinderte in Tangerhütte, die Förderschule für Körperbehinderte in Halle und die Förderschule für Blinde und Sehgeschädigte in Halle. Auch in diesen Schulen spiegelt sich der Aspekt der Qualitätssicherung!
Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten 135
In der Broschüre werden sodann die Bewerbungsmodalitäten und das Aufnahmeverfahren für diejenigen beschrieben, die eine Schule mit inhaltlichem Schwerpunkt besuchen wollen. Zum Pflichtprogramm aller Bewerber gehört u.a. eine Eignungsprüfung. Eine Passage sei zur Verdeutlichung der Zugangsvoraussetzungen zitiert: „Aus den jeweils erreichten Gesamtpunkten aus der Eignungsprüfung und den Noten des letzten Zeugnisses wird eine Rangliste ermittelt. Auf deren Grundlage erfolgt die Aufnahme entsprechend der vorhandenen Kapazität der Schule.“
Für die Sportschulen weichen die Aufnahmeregelungen davon ab: „Die Schülerinnen und Schüler müssen eine vom Landessportbund Sachsen-Anhalt e. V. festgestellte leistungssportliche Eignung vorlegen oder an einem sportlichen Vielseitigkeitstest teilgenommen haben sowie mindestens befriedigende Leistungen in den versetzungsrelevanten Fächern vorweisen.“
Jeder denkbaren Geringschätzung eines billig erworbenen „Sportabiturs“ bei dürftigsten intellektuellen Leistungen soll damit vorgebeugt werden. Für die besonders „begabten und leistungsbereiten Schülerinnen und Schüler“, so Kultusminister Prof. Dr. Olbertz in seinem Vorwort zu der Broschüre, werden neben dem „Regelunterricht“, an dem teilzunehmen Pflicht ist, „Ergänzungen und Vertiefungen“ in den inhaltlichen Schwerpunkten geboten. Um die Offensive zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung für das ganze Flächenland Sachsen-Anhalt wirksam werden zu lassen, betont der Minister: „Alle Schulen mit inhaltlichem Schwerpunkt haben eine Internatsanbindung und stehen Schülerinnen und Schülern aus nah und fern offen.“ Das macht dieses Programm der (Hoch)Begabtenförderung zu einer Kostbarkeit in der Schullandschaft Sachsen-Anhalts – auch unter dem Kostenaspekt!
E. Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990 1. Die Ausgangslage 1989/1990 Das Land Sachsen-Anhalt hatte von Anfang an in seinem Schulwesen Personalprobleme. Auf eine generelle, im Detail natürlich widerlegbare Formel gebracht, heißt das, dass die Personalprobleme dort genau das Gegenteil dessen darstellten, was in den meisten alten Bundesländern zeitgleich zu beobachten war. Diese Personalprobleme hatten sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte, die sich zudem z. T. überlagerten, jedenfalls ein Spannungsverhältnis begründeten, das bis in die Gegenwart hineinwirkt und wegen seiner Spezifika auch noch die nahe Zukunft beeinflussen wird, ehe es wahrscheinlich mittelfristig seine Energie verlieren wird. Es näher zu analysieren, wird die zentrale Aufgabe dieses Abschnitts sein. Die Personalprobleme stellten keine isolierten Interna der Bildungspolitik dar. Sie hatten, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung des Haushalts, auf die Struktur und die Perspektiven des Personalkörpers in seinem konkreten schulischen Einsatz und auf das Verhältnis des Landes in seiner Arbeitgebereigenschaft und zu den Lehrerverbänden als organisierte Vertretungen der Arbeitnehmerseite im tarifrechtlichen, aber auch im beamtenrechtlichen Sinne. Der alte Marxsche Lehrsatz vom Umschlagen von Quantitäten in Qualitäten – hier wird er auf besondere Weise immer wieder virulent. Wenden wir uns, stark von statistischen Daten begleitet, zunächst der Ausgangslage von 1990/1991 zu. Sie war gekennzeichnet durch eine „verdeckte Überfüllungssituation“. Mit dieser ungewöhnlich einfallsreichen, treffsicheren Wortwahl kennzeichnete Sebastian Müller-Rolli die auf den ersten Blick „optimalen Verhältnisse“ der DDR des Jahres 1984 mit einer SchülerLehrer-Relation von 1:11,8 und einer durchschnittlichen Klassen-
Ausgangslage 1989/1990 137
frequenz von 20 Schülern, die das Resultat einer DDR-spezifischen Einstellungspraxis waren, die ohne Einstellungsstopp auskommen wollte – gewiss auch von ideologischen Erwägungen geleitet.87 1984 – dieses Jahr soll hier als Bezugsdatum dienen, da zuverlässige Erhebungen vorliegen – belief sich die Zahl der vollbeschäftigten Lehrkräfte in der DDR auf 173.000, nachdem sie 1959 nur ca. 80.000 betragen hatte. Dabei war zusätzlich zu berücksichtigen, dass ab 1980 etwa ein Drittel aller Lehrer jünger als 30 Jahre alt war. Das war das Erbe, das mit dem entsprechenden Anteil auch von Sachsen-Anhalt angetreten werden musste und, keineswegs in diskriminierender Absicht, auch als Erblast bezeichnet werden kann. Das neue Bundesland Sachsen-Anhalt fand ca. 36.000 Lehrkräfte in seinem Bestand vor! Von Erblast zu reden ist auch deshalb berechtigt, weil die quantitative Überlast von einem strukturellen, also die Qualität des Lehrkörpers bestimmenden Defizit flankiert wurde, das sich in einer Mangelsituation manifestierte, was Ausbildungshintergrund, Lehrbefähigungen, Unterrichtsfächer, Klassenstufen und auch Regionen betraf. So sollte sich die Aufgabe der Überführung des Lehrpersonals der einstigen Einheitsschulen der DDR in das neue, nun gegliederte Schulwesen nach dem Vorbild der Bundesrepublik als eines der schwierigsten Kapitel im Prozess der deutschen Einheit, zu dem sozusagen naturnotwendig auch der Aufbau eines demokratischen Schulwesens in den neuen Bundesländern gehörte, darstellen. Ein wichtiger Grund für das tatsächlich existierende und sich auch artikulierende Misstrauen in der Elternschaft gegenüber dem öffentlichen Schulwesen, das man als Ort und Quelle der Indoktrination im Sinne der herrschenden Ideologie kennengelernt hatte, und für die u.a. daraus resultierende unerwartet starke Hinwendung zu privaten Schulen war sicherlich die grundsätzlich berechtigte Sorge, ihre Kinder würden auch in Zukunft von denselben Lehrkräften unterrichtet 87 Sebastian Müller-Rolli, Lehrerbildung, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, 2. Teilband, Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 254–256.
138 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
werden, denen sie schon zu DDR-Zeiten begegnet waren – um ein neutrales Verb zu benutzen. Es war wohl objektiv so, dass selbst nach der „fortschreitenden Lockerung der Verhältnisse“ im Laufe der achtziger Jahre „das Bildungssystem eine der letzten poststalinistischen Hochburgen“88 in der DDR bis 1989 hatte bleiben können. Das war nur möglich gewesen, weil die Mehrheit der Lehrkräfte sich nicht nur als ideologieanfällig erwiesen hatte, sondern auch ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag als Dienst für die herrschende Ideologie der sozialistischen Staatsmacht begriff oder, milder formuliert, begreifen musste, ganz wie das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ aus dem Jahre 1965 es verlangte und wie es der für die Stabilisierung des zerfallenden Gesamtsystems einberufene Pädagogenkongress noch im Juni 1989 erneut forderte, völlig realitätsblind und letzten Endes reformunfähig, weil ideologiegesteuert. Es sei der „letzte große Selbsttäuschungsversuch der SED-Führung und ihrer Apologeten“ gewesen. Er habe „Frustration und Sprachlosigkeit“ ausgelöst.89 Diese werden durch einen Satz Margot Honeckers besondere Nahrung erhalten haben: „Der Sozialismus … hat unwiderruflich gesiegt, und es wird niemanden geben, das Rad der Geschichte umzudrehen“. Die SED sei die „Partei der Neuerer“.90 Es verwundert deshalb auch nicht, dass die sich ab Sommer 1989 verstärkenden Proteste und Demonstrationen sowie die sich bildenden regimekritischen Gruppierungen sich „im Kern gegen die ideologische Verfälschung klassischer, bürgerlich-humanistischer Bildungsideale“ richteten. Es war der Protest „gegen die jahrzehntelangen Versuche des DDR-Bildungssystems, eine fadenscheinige politische Stabilität und ideologische Geschlossenheit der Gesellschaft zu gewährleisten, eine nor88 Stefan Wolle, Der Weg in den Zusammenbruch: Die DDR vom Januar bis zum Oktober 1989, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1992, S. 93. 89 Bernd-Reiner Fischer, Bildung und Wissenschaft im Einigungsprozess, in: Eckard Jesse/Armin Mitter, a.a.O. , S. 339. 90 Hans-Werner Fuchs/Lutz R. Reuter (Hrsg.), a.a.O. , S. 73.
Ausgangslage 1989/1990 139
mierte politische und ökonomische Verfügbarkeit des einzelnen zu bewirken sowie das von der SED-Führung proklamierte Menschenbild umzusetzen“.91 Dem hatten „die filigran gearbeiteten Weisungs- und Kontrollmechanismen“92 des von Margot Honecker seit 1963 ununterbrochen geleiteten Volksbildungsministeriums gedient, unterstützt vom Ministerium für Staatssicherheit, das praktisch in jedem Kollegium auf irgendeine Weise zugegen gewesen war. Dem hatten auch der Staatsbürgerkundeunterricht und der Wehrunterricht gedient, nicht zuletzt außerdem die penetrante Präsenz der Kader der „einheitlichen Kinderund Jugendorganisation“, also der Jungen Pioniere und der FDJ, z.B. in Gestalt der Jugendpionierleiter. Ein erheblicher Teil des Lehrkörpers einer jeden Schule nahm also außerunterrichtliche Funktionen im Dienste der Ideologie wahr. Das erklärt ganz wesentlich die geradezu exorbitante numerische Überbesetzung an den Schulen im Vergleich zu den normal mit Lehrerstunden ausgestatteten Schulen der alten Bundesländer. Neben der inhaltlichen Problematik, die die alles in allem nicht zu vermeidende Übernahme der übergroßen Mehrheit der vorhandenen Lehrkräfte auslöste, sollte sich dieser quantitative Aspekt als eine große Hypothek erweisen. Daran änderte sich grundsätzlich selbst dadurch nichts, dass schon unter dem Ministerpräsidenten Modrow auf Druck der Eltern und der Runden Tische Kündigungen von „Schulfunktionären, die als Erfüllungsgehilfen der SED-Politik besonders unrühmlich aufgefallen waren“, ausgesprochen wurden. Im Gegenzug nämlich erfolgten Übernahmen von Personen in den Schuldienst, „die zum Teil keine ausreichende fachliche und pädagogische Qualifikation aufweisen konnten: ehemalige FDJ-Kader, frühere Mitarbeiter von SED-Kreis- und Bezirksleitungen, des Ministeriums für Staatssicherheit, der Nationalen Volksarmee (NVA) und des Staatsapparates – die sogenannten Modrow-Lehrer“.93 91 Bernd-Reiner Fischer, a.a.O. , S. 339. 92 Ebenda, S. 338. 93 Ebenda, S.340. In der Koalitionsvereinbarung der DDR- Regierungsparteien vom 12. April 1990 wurden denn auch gesetzliche Regelungen gefordert, die eine Überprüfung der fachlichen Qualifikation dieser Modrow-Lehrer ermög-
140 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
Diese Übernahmen steigerten die bereits aufgezeigte Bürde sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht ganz erheblich. Es musste spätestens jetzt allen Eingeweihten klar sein, dass der Abbau des enormen rechnerischen Überhangs einerseits wegen seiner gravierenden Belastung des Landeshaushalts geboten war, andererseits wegen der Blockade, die er für die unbedingt anzustrebende Verbesserung der fächerspezifischen Grundversorgung eines gegliederten Schulwesens darstellte, die nur durch Neueinstellungen erreicht werden konnte. Das dialektische Verhältnis von Quantität und Qualität – hier kommt es auch für den paradigmatisch zum Ausdruck, der alles ist, nur nicht Marxist! Dass eine personelle Erneuerung im öffentlichen Dienst generell, im Bildungssystem speziell unumgänglich war, fand seinen Ausdruck im Einigungsvertrag. In ihm sind denn auch die Kündigungsgründe aufgezählt: mangelnde fachliche Qualifikation oder persönliche Eignung, fehlender Bedarf, die Auflösung der beschäftigenden Einrichtung, der Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit sowie die Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit. Dazu heißt es in der bereits zitierten Publikation: „Damit waren die Entscheidungskriterien für eine personelle Überprüfung von Lehrern, Wissenschaftlern und allen anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gegeben.“94 Gewiss war das so – theoretisch bzw. formaljuristisch. Eine ganz andere Frage blieb ausgeklammert: Wie ließ sich das bewerkstelligen angesichts dessen, was man vorgefunden hatte, und angesichts dessen, was an Herausforderungen zu meistern war? lichten, von denen es hieß, sie seien „hauptamtliche Mitarbeiter des MfS gewesen“. Vgl. auch: Wolfgang Schmidt, Lehrerüberprüfungen und Stellenreduzierungen in den neuen Bundesländern, in: Pädagogik und Schulalltag, 47/1992, S. 62. Diese außergewöhnlich zeitnahe Publikation ist häufig Bezugspunkt in diesem Kapitel. 94 Bernd-Reiner Fischer, a.a.O. , S. 350.
Ausgangslage 1989/1990 141
Es sei noch erwähnt, dass der Einigungsvertrag im Artikel 37 Abs. 4 „die bei der Neugestaltung des Schulwesens ...erforderlichen Regelungen“ den neuen Bundesländern auftrug. Dabei sollten sie „Überprüfungsbögen“ einsetzen, allerdings selbst entscheiden, „welche Angaben sie als notwendig erachten“. Die Folge war ein uneinheitliches Vorgehen der Bundesländer. Im Folgenden soll nur auf Sachsen-Anhalt geblickt werden. Außerdem sollten die neuen Bundesländer ihr Beamtenrecht bis zum 31. Dezember 1992 geregelt haben. (Anlage I, Kap. XIX, Abschn. III des Einigungsvertrags). Von Bedeutung war ferner Artikel 26 des „Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 18. Mai 1990, unter dessen finanzpolitischen Vorgaben „die nachhaltige Absenkung der Personalausgaben im Öffentlichen Dienst“ zu finden war. Das musste zur Stellenreduzierung auch im Erziehungs- und Bildungsbereich führen. Und ein weiteres muss als Handlungsrahmen genannt werden: Im November 1990 lagen „Empfehlungen zum Personalbedarf der obersten und nachgeordneten Landesbehörden der Bundesländer (es folgen die Namen) in der Aufbauphase 1990/1991“ vor. Für den Schulbereich diente die dort angegebene faktische Schüler-Lehrer-Relation in den alten Bundesländern als „Planungshilfe“. Wolfgang Schmidt fasst diese Rahmenbedingungen in seiner bereits zitierten Abhandlung wie folgt zusammen: „ (Es) war von den neuen Ländern 1991 ein aus primär finanzpolitischen Gründen bedingter Stellenabbau und eine aus primär politisch-rechtlichen Bestimmungen abzuleitende Überprüfung der persönlichen und fachlichen Eignung der Lehrer zu leisten“.95
95 Wolfgang Schmidt, a.a.O. , S. 64.
142 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
2. Die Personalentwicklung seit 1991 Wie bereits ausgeführt, sollte sich das Problem der Überführung des Lehrpersonals an den bestehenden Schulen der alten DDR in das neue gegliederte Schulwesen nach dem Vorbild der Bundesrepublik als eines der gravierendsten herausstellen.96 Es ergaben sich Fragen der Anerkennung von DDR-Hochschulabschlüssen, der Eingruppierung von Lehrkräften in das Schema der bundesdeutschen Vergütungs- bzw. Besoldungsskalen und der Fortschreibung von Lehrertarifverträgen in den Folgejahren bis in die Gegenwart hinein. Der Lehrkräftebedarf ist generell betrachtet eine Funktion der Gesamtschülerzahl, die sich, ebenfalls verallgemeinert, in der Zahl der Schulstandorte und der Zahl der dort gebildeten Klassen niederschlägt – selbstverständlich abhängig von weiteren Faktoren. Ein in diesem Zusammenhang wichtiger Indikator ist die sogenannte Lehrer-Schüler-Relation. Im Schuljahr 1991/1992 gab es im Land Sachsen-Anhalt insgesamt noch 1.731 öffentliche allgemein bildende und bereits 11 Schulen in freier Trägerschaft mit einer Gesamtzahl von rund 30.000 Lehrkräften! (vgl. Tabelle 1) Diese Zahlen sollten sich bis in die Gegenwart (Schuljahr 2009/2010) hinein auf 870 öffentliche Schulen und immerhin 79 Schulen in freier Trägerschaft verändern. Die Gesamtzahl der Lehrkräfte verringerte sich auf 19.377 im Schuljahr 2009/2010. Die Ausgangszahlen haben sich bis zum Schuljahr 2009/2010 dramatisch verändert, wie die Tabellen 9 und 10 im einzelnen ausweisen:
96 Das berufsbildende Schulwesen bleibt hier außerhalb der Betrachtung. In dem Kapitel C2 sind dazu, wenngleich ohne tabellarische Übersichten, Ausführungen erfolgt, die geeignet sein sollten, die spezifische Konstellation an den berufsbildenden Schulen zu beschreiben.
Personalentwicklung seit 1991 143
Tabelle 9 Allgemeinbildende Schulen im Land Sachsen-Anhalt seit 1991 Schuljahr
Schulen gesamt
1991/92
1.742
1993/94
1.605
1999/2000
1.419
2002/03
1.294
2005/06
1.020
2007/08
954
2009/10
949
Quellen: Stat. Berichte Statistisches Landesamt; Kultusministerium Sachsen-Anhalt 2009.
Tabelle 10 Lehrkräfte an den allgemein bildenden Schulen in SachsenAnhalt Schuljahr
Gesamtlehrkräftebestand
1991/1992
Ca. 30.000
1994/1995
27.520
1999/2000
25.166
2006/2007
20.189
2008/2009
19.377
Quelle: Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, Abt. Schule; Personalentwicklungskonzept 2009–2025.
Zwar hatten von den rd. 36000 Lehrkräften, die 1990 noch im Schuldienst auf dem Gebiet des sich konstituierenden Landes SachsenAnhalt standen, ca. 6000 eine Kündigung erhalten. Der rechtliche Hintergrund war ein Parlamentsbeschluss, der „per 31.07.1991 die Streichung von 6000 Stellen im Bereich Schulwesen“, die Horte inbegriffen, vorgab. Zusätzlich sollten 1992 und in den Jahren danach 4230 Stellen abgebaut werden. Doch diese Kündigungen waren in der Regel reine „Bedarfskündigungen“, das heißt fächer- und lehramtsspezifisch begründet. Ein einfaches Beispiel: Staatsbürgerkundelehrer wurden aus vielfältigen
144 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
Gründen nicht mehr benötigt. Sie hatten sich sozusagen überlebt, nachdem die Voraussetzungen ihrer Existenz mit dem sozialistischen Einheitsschulwesen und seinem ideologischen Hintergrund hinweggefegt worden waren. Eine ins Detail gehende flächendeckende Überprüfung der Lehrer hinsichtlich ihrer Qualifikation oder auch ihrer politischen Belastung erfolgte allerdings zunächst nicht, obwohl alle (!) Lehrerstellen ausgeschrieben wurden. Es musste sich also jede Lehrkraft, die im Schuldienst verbleiben oder in ihn neu aufgenommen werden wollte, auf die ausgeschriebenen Stellen bewerben. Dabei war ein Bewerbungsbogen mit Angaben zum persönlichen und beruflichen Werdegang auszufüllen, außerdem eine „Zustimmung zur Sicherheitsüberprüfung“ sowie eine „Selbstauskunft“ abzugeben. Es wurden auf Kreisebene Einstellungskommissionen gebildet. „Je ein Vertreter des Schulaufsichtsamtes, des Schulträgers, des Kreispersonalrates sowie der Vorsitzende des Stadt- oder Kreisbildungsausschusses bewerteten diese Unterlagen primär nach fachlichen Kriterien wie Examensnoten, Berufsjahren und Fächerverbindungen.“ Im unmittelbaren Anschluss an diese Feststellung nimmt Wolfgang Schmidt eine bemerkens- und bedenkenswerte Bewertung vor: „Damit trat das dem Landtag im Bericht vom 13. März 1991 als primär genannte und definierte Kriterium der persönlichen bzw. persönlichen eingeschränkten Eignung bei der Auswahl der Lehrer hinter das der fachlichen Eignung zurück“.97
Für die Gymnasien waren 5500 Stellen ausgewiesen, auf die sich 11000 Personen bewarben, fast jeder dritte Lehrer also. Die Eignungsaussage war stark getragen von der Einschätzung der pädagogischen oder der fachlichen Kompetenz, wobei die Fächerverbindungen eine herausragende Rolle spielten. Im Kultusministerium wurde eine „Härtefallkommission“ eingerichtet, die bei zuvor abgelehnten Bewerbern die Eignungsfrage noch einmal beantworten sollte. Immerhin konnten die Bewerber, deren Eignung für die Laufbahn der Gymnasiallehrer 97 Wolfgang Schmidt, a.a.O. , S.69.
Personalentwicklung seit 1991 145
verneint worden war, am Verfahren der Besetzung der Stellen an Sekundarschulen und an Grundschulen teilnehmen. Schmidt betont zu Recht, dass „es sich bei der Bewerbung der Lehrer an Gymnasien um eine positive oder negative Laufbahn-Entscheidung“ handelte.98 Bei der Besetzung der Stellen an den anderen Schulformen ging es im Kern um die Frage der Weiterbeschäftigung oder der Kündigung. Bewerbungen von Staatsbürgerkundelehrern waren von vornherein ausgeschlossen. Das galt auch für Pädagogen, „die jahrelang außerhalb ihres Berufsstandes tätig gewesen waren“. Wer damit sehr verklausuliert gemeint war, lässt sich nicht nur ahnen. Obwohl sie nur ein Lehrfach vorweisen konnten, durften sich Lehrer für Polytechnik bewerben. Schmidt fasst zusammen: „Bevorzugt eingestellt wurden Pädagogen mit einer Lehrbefähigung in drei Fächern. Trotz dieses Auswahlkriteriums überwog die Anzahl der Bewerber die der vorhandenen Stellen. Ungefähr 4500 Lehrer unterhalb dieses Qualifikationsniveaus erhielten deshalb zum 31. Juli oder Dezember 1991 ihre Kündigung, wobei soziale Gründe offenbar nicht immer berücksichtigt wurden“.99 Die Bedarfskündigungen wurden durch die Bezirksregierungen ausgesprochen. Es gab schon im August 1991 etwa 1600 Beschwerden bzw. Einsprüche gegen die Entscheidungen der Auswahl- und der Bewerbungskommissionen, von denen rund 1500 auch zu Kündigungsschutzklagen führten. Weniger als 20% sind erfolgreich gewesen. Zusätzlich zu den Kündigungen erfolgte im Rahmen einer am 25. Juni 1991 beschlossenen generellen Überprüfung aller Landesbediensteten durch zwanzig bei den drei Bezirksregierungen angesiedelte >Personalausschüsse< eine spezielle Bewertung der persönlichen Eignung. Das Kultusministerium, so berichtete die Presse, vermutete „rund 1800 stasibelastete Lehrer im Schuldienst“, die es aufzufinden gelte.100 98 Ebenda, S. 70.
99 Ebenda, S. 70. 100 Neue Zeit, 03. September 1991, S.23.
146 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
Die zahlreichen Beschwerden und Klagen führten nicht nur dazu, dass der neue Ministerpräsident Prof. Dr. Werner Münch den Stellenabbau an Schulen und Horten bereits am 02. August 1991 zur Chefsache erklärte, sondern auch am 13. September 1991 zur Bildung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Überprüfung der Einstellungs-, Berufungs- und Entlassungsverfahren. Von diesem Untersuchungsausschuss, der sich am 06. November 1991 konstituierte, ging dann auch die Anregung aus, einen Sozialplan für entlassene Lehrer und Erzieher aufzustellen. Dem kam die Regierung bereits im November 1991 nach.101 Es blieb aber „das arbeitsrechtliche Hauptproblem zu klären, ob die sehr kurzfristig ausgesprochenen Bedarfskündigungen ohne gleichzeitig angebotene berufliche Alternativen gerechtfertigt waren“.102 Schmidt nimmt, auf Sachsen-Anhalt bezogen, eine abschließende Bewertung vor: „Durch die Präferenz für die fachliche Überprüfung und damit für Bedarfskündigungen vor einer ausführlichen persönlichen Überprüfung wie in Sachsen-Anhalt wird die zwischen diesen beiden Bereichen notwendige Trennung jedoch ebenso verwischt wie eine personelle Erneuerung verzögert“. Und er fährt fort: „Zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern hat Sachsen-Anhalt sich für das Primat der fachlichen Überprüfung entschieden mit dem Ergebnis, das hier politisch nicht belastete Lehrkräfte den Dienst quittieren mussten, während gleichzeitig . . . fachlich, aber persönlich nicht geeignete Lehrkräfte weiter unterrichten“.103 Es dürfte an dieser Stelle genügen, die Komplexität der Materie lediglich anzudeuten, ohne die Ergebnisse im Einzelnen vorzustellen und weitere Zahlen auszubreiten. Es kann verallgemeinernd konstatiert werden, dass der Faktor Zeit eine heilsame Wirkung entfaltete. Was als gravierendes Problem begann, ist spätestens seit Ende der neunziger Jahre kaum noch von Belang. Das Problem hat sich sozusagen „ausgewachsen“. 101 Der Abschlussbericht wurde als Drucksache 1/3731 neu am 26. Mai 1994 vorgelegt. 102 Wolfgang Schmidt, a.a.O., S.71. 103 Ebenda, S. 75.
Personalentwicklung seit 1991 147
Wichtiger ist: Es ergaben sich grundsätzliche Fragen der Anerkennung von DDR- Hochschulabschlüssen104, der Eingruppierung von Lehrkräften in das Schema der bundesdeutschen Vergütungs- bzw. Besoldungsskalen und der Fortschreibung von Lehrertarifverträgen in den Folgejahren bis in die Gegenwart hinein. Auf diese Fragen im Detail einzugehen, ist hier leider nicht der Raum. Eine Ausnahme sollen die Lehrertarifverträge bilden, wie weiter oben bereits angekündigt. Derweil hatte man sich im ersten Halbjahr des Jahres 1991 im Ministerium auf die Besetzung der Schulleiterstellen zum Schuljahr 1991/1992 konzentriert. Es sollte das erste in eigener Regie auf der Basis des neuen, noch zu verabschiedenden Schulreformgesetzes sein. Die Schulleiter aus DDR-Zeiten hatten aufgrund der von der „de Maiziere-Regierung“ erlassenen „Verordnung über Mitwirkungsgremien und Leitungsstrukturen im Schulwesen“ vom 30. Mai 1990 allesamt zum 31. August 1990 ihre Funktion verloren. Sie waren durch Lehrkräfte ersetzt worden, die zunächst nur für das Schuljahr 1990/1991 ins Leitungsamt kamen, und zwar im Ergebnis einer offenen Ausschreibung, zu der übrigens aus übergeordneten rechtlichen Erwägungen auch die bisherigen Direktoren als Bewerber zugelassen worden waren. Die neuen Schulleiter wurden von den Kreisschulräten ernannt, die sozusagen im Auftrage der letzten, immerhin demokratisch legitimierten DDR-Regierung für die erst noch zu bildenden Länder handelten. Einigermaßen kurios und Ausdruck der Improvisation in der Übergangsphase ist die Tatsache, dass die Regierung de Maiziere im Sommer 1990 „Landesschulräte“ einsetzte und in ihrem Auftrag handeln ließ, obwohl es noch keine Länder gab. Für das Gebiet des zukünftigen Landes Sachsen-Anhalt war das der spätere erste Staatssekretär im Kultusministerium, Dr. Wolf-Dieter Legall. Immerhin beschloss die DDR-Volkskammer am 22. Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz und das Länderwahlgesetz für die Land104 Diese Fragen wurden auf KMK-Ebene abschließend geregelt. Ausschlaggebend war eine KMK-Tagung in Greifswald am 07. Mai 1993.
148 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
tagswahlen am 14. Oktober 1990, mit denen die von der SED 1952 aufgelösten Länder wiedererstehen sollten. Die kommunalen Schulträger und die Schulkonferenzen hatten bei der befristeten Bestellung der Schulleiter ein Anhörungsrecht wahrnehmen können. Die Befristung gab der nach der Landtagswahl im Herbst 1990 agierenden Landesregierung die Möglichkeit, bis zum Schuljahr 1991/1992 ein eigenes Verfahren zur Einsetzung von Direktoren zu entwickeln und zu realisieren – mit dem unvermeidbaren Makel, dass ein Schulgesetz noch nicht in Kraft getreten sein konnte. Die Schulleiter wurden nur in das Funktionsamt eingewiesen und nicht wie sonst – im Westen – üblich auch in das Statusamt, denn die Verbeamtung sollte erst am Ende eines Bewährungszeitraums nach erfolgter Bewährungsfeststellung vorgenommen werden. Dieses Verfahren der Besetzung der Leitungsämter zog sich bis in die Mitte der neunziger Jahre hin. Inzwischen sind diese Ämter durchweg mit Personen im Beamtenverhältnis besetzt, sofern nicht objektive, in der Regel im Beamtenrecht verankerte Gründe (z. B. Alter) die Verbeamtung ausschließen. Auf die Detailfragen der Zuordnung der Ämter zu den Besoldungsstufen kann hier nicht eingegangen werden. Erwähnt sei lediglich noch, dass bei den übrigen Funktionsämtern (Konrektor, Koordinator etc.) zeitversetzt dasselbe Verfahren angewandt wurde, so dass jetzt alle Stellen der Leitungsebene an den Schulen im Regelfall mit Personen im Beamtenverhältnis besetzt sind. Mit dem letzten Satz ist implizit bereits gesagt, dass die überwiegende Zahl der Lehrkräfte ohne Funktionsamt, und das markiert einen fundamentalen Unterschied zur Situation in den alten Bundesländern, auch heute lediglich in einem Angestelltenverhältnis zum Land steht, nicht in einem Beamtenverhältnis. Zu Beginn des Schuljahres 1991/1992 war von den rund 30.000 Lehrkräften, abgesehen von den nach Sachsen-Anhalt vornehmlich aus Niedersachsen abgeordneten Personen, niemand verbeamtet. Das hing mit dem Einigungsvertrag zusammen, der in Artikel 37 vorsah, dass Gleichwertigkeit der in Staatsprüfungen erworbenen Abschlüsse
Personalentwicklung seit 1991 149
und Befähigungsnachweise gegeben sein müsse.105 Diese beamtenrechtlichen Voraussetzungen konnten ehemalige DDR-Lehrkräfte schlicht und einfach nicht unmittelbar erfüllen – und blieben vorerst oder auf Dauer Angestellte. Nähere Regelungen waren der Kultusministerkonferenz vorbehalten (Artikel 37 Abs. 2). Das trat ein, obwohl es bereits ein Landesbeamtengesetz gab. Der Einigungsvertrag hatte ein solches bis zum 31. Dezember 1992 verlangt. Tatsächlich wurde das Landesbeamtengesetz vom Landtag bereits am 21. März 1991 beschlossen und am 15. Mai im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht. Der eigentliche Prozess der Verbeamtungen begann erst mit dem Schuljahr 1994/1995. Diese betrafen, wie schon ausgeführt, zuallererst Funktionsstelleninhaber wie Schulleiter, aber auch Schulaufsichtsbeamte in Anerkennung des Grundsatzes des öffentlichen Dienstes, dass Hoheitsaufgaben im Regelfall von Beamten wahrzunehmen sind. Von den damals noch 27.520 Lehrkräften wurden 525 verbeamtet. Dies entspricht einem Anteil von lediglich 1,9%. Während sich die Gesamtlehrkräftezahl bis zum Schuljahr 2008/2009 auf insgesamt 19.377 verringert hat, hat sich die Zahl der verbeamteten Lehrkräfte auf 3.087 erhöht und einen Anteil von 15,9% erreicht, der jedoch immer noch als überproportional gering zu beschreiben ist. (vgl. Tabelle 3) Tabelle 11 Anteil beamteter Lehrkräfte am Gesamtlehrkräftebestand Schuljahr
Gesamtlehrkräftebestand
1994/1995
27.520
525
1,9
1995/1996
27.464
1.065
3,9
1996/1997
27.299
1.097
4,0
1997/1998
25.832
1.158
4,5
1998/1999
25.417
1.169
4,6
1999/2000
25.166
1.176
4,7
2000/2001
24.557
1.182
4,8
105 Einigungsvertrag, a.a.O. .
Beamtete Lehrkräfte
Anteilig Beamte
150 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
2001/2002
24.197
1.193
4,9
2002/2003
23.688
1.191
5,0
2003/2004
22.584
2.272
10,1
2004/2005
21.733
2.770
12,7
2005/2006
20.764
3.037
14,6
2006/2007
20.189
3.164
15,7
2008/2009
19.377
3.087
15,9
Quelle: Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, Abt. Schule.
Wie der Übersicht entnommen werden kann, gab es vom Schuljahr 2002/2003 zum Schuljahr 2003/2004 einen deutlichen Anstieg der Zahl der beamteten Lehrkräfte um fast 100%. Das ist auf das Bestreben der CDU/FDP-Landesregierung zurückzuführen, über mehr Verbeamtungen den Landeshaushalt zu entlasten – wenn auch nur mittelfristig. Die Auswertung dieser Statistiken führt auf den ersten Blick zu lediglich banalen, bei genauerem Hinsehen aber zu basalen, nämlich das Kernproblem der Personalentwicklung im Schulwesen SachsenAnhalts erfassenden Erkenntnissen: Sachsen-Anhalt hat bis zum Schuljahr 2009/2010 etwa 50% seiner Schulen eingebüßt, besser aufgegeben, aber nur rund ein Drittel seiner Lehrkräfte „verloren“. Die Schülerzahl sank parallel zu der Zahl der Schulen deutlich, wie Tabelle 12 vermittelt: Tabelle 12 Schülerzahl und Schulen seit 1991 Schuljahre
Schülerzahl
Schulen (allgemeinbildend)
1991/92
371.644
1.742
1995/96
390.210
1.560
2000/01
307.616
1.374
2005/06
215.557
1.020
2006/07
201.590
978
2007/08
183.622
954
2009/10
173.922
949
Quelle: Kultusministerium Sachsen-Anhalt, Statistik-Referat, 21. 12. 2009.
Personalentwicklung seit 1991 151
Die schon angesprochene Interdependenz kommt also klar zum Ausdruck. Die Entwicklung der Zahl der Lehrkräfte – hier wird bewusst aus weiter unten zu erläuternden Gründen nicht von Lehrerstunden gesprochen – koppelte sich davon ab. Die zu erwartende Korrelation hat sich nicht eingestellt, weil es neben dem biologischen Faktor nur geringe Möglichkeiten gegeben hat, den viel zu hohen Bestand auf das Maß zu reduzieren, das der Entwicklung der Schülerzahl und der Zahl der Schulen adäquat gewesen wäre. Das öffentliche Dienstrecht und das Arbeitsrecht jedenfalls waren in der Hinsicht nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar kontraproduktiv. Die Auswirkungen auf fachspezifische Aspekte und auf den „Einstellungskorridor“ waren erheblich, wie noch zu zeigen sein wird. An und für sich sind die in den Tabellen erfassten Daten noch kein Grund zur großen Beunruhigung. Erst wenn man weitere Aspekte des „Lehrer-Daseins“ in Sachsen-Anhalt in Betracht zieht, wird man die Tragweite der in den Daten versteckten Probleme gewahr. Mit bedacht werden müssen Umsetzungen infolge von Fachlehrermangel in bestimmten Fachbereichen und an bestimmten Schulformen. Es würde zu weit führen, diese gewichtige Herausforderung mit allen notwendigen Daten darstellen zu wollen. Deshalb seien nur die wesentlichen Umstände beleuchtet. § 30 Abs. 3 des Schulgesetzes von Sachsen-Anhalt sieht für alle Lehrkräfte die Verpflichtung zum „Unterricht in anderen Fächern, Schulstufen und Schulformen“ als denen, für die sie die Lehrbefähigung erworben haben, ausdrücklich vor, „wenn es ihnen nach Vorbildung oder bisheriger Tätigkeit zugemutet werden kann und für den geordneten Betrieb der Schule erforderlich ist“. Der dann folgende Satz nimmt lediglich den Religionsunterricht von dieser Regelung aus. Das allein unterscheidet dieses Bundesland nicht von anderen Ländern, auch nicht z.B. von Niedersachsen. Den eigentlichen Unterschied markiert der Grad der Anwendung, und der ist in SachsenAnhalt hoch. Kennzeichnend für die Unterrichtsversorgung an den Schulen Sachsen-Anhalts war und ist es, dass sie nur durch eine große Zahl von Versetzungen oder gar von Umsetzungen auch an andere Schul-
152 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
formen gesichert werden konnte bzw. kann, um so in extremen Mangelfächern wie Musik, Kunst, Fremdsprachen etc. den Unterrichtsausfall zu vermeiden oder ihn immerhin abzumildern. Das Schulwesen Sachsen-Anhalts hat personalwirtschaftlich einem großen Verschiebebahnhof geglichen. Im Schuljahr 1999/2000 wurden deshalb beispielsweise 1.549 Grundschullehrkräfte an Sekundarschulen „verschoben“, auch ermöglicht oder geradezu notwendig, weil die Zahl der Schüler an den Grundschulen schlichtweg eingebrochen war. Von diesen Grundschullehrkräften unterrichteten dann 400 stundenweise in den Jahrgängen 7 und höher, also außerhalb ihres bisherigen pädagogischen Einsatz- und Erfahrungsbereichs.106 Um ein anderes Beispiel zu erwähnen: Im Schuljahr 2001/2002 erfolgten bei 5.000 Personalmaßnahmen der Staatlichen Schulämter insgesamt 942 Versetzungen von Lehrkräften an andere Schulformen.107 Diese also schon relativ früh einsetzende grundsätzliche Praxis, Lehrkräfte zur Sicherung der Unterrichtsversorgung an anderen Schulformen einzusetzen, hat sich in den Folgejahren noch verstärkt: So wurden im Schuljahr 2005/2006 insgesamt 2.377 Lehrkräfte an andere Schulen abgeordnet oder versetzt, mit einem beträchtlichen Anteil auch Sekundarschullehrer an Gymnasien.108 Dies ist eine Folge einerseits des Hochwachsens relativ starker Jahrgänge in die lehrerstundenintensive gymnasiale Oberstufe und andererseits des generellen Rückgangs der Jahrgangsstärken im Sekundarbereich I bei gleichzeitig sich verstärkenden Übergängen in das Gymnasium. Wie gesagt, das sind nur Beispiele. Sie dürften aber hinreichend geeignet sein, den Kern des Problems zu verdeutlichen. Die Unterrichtsversorgung an den Schulen Sachsen-Anhalts konnte durch diese Maßnahmen immer wieder auf einem, statistisch 106 Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Gudrun Schnirch vom 28. Juni 2000, Drs. 3/3124. 107 Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Eva Feußner vom 21. September 2001, Drs. 3/4965. 108 Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Dr. Rosemarie Hein vom 17. November 2005, Drs. 4/2504.
Personalentwicklung seit 1991 153
betrachtet, zufriedenstellenden Niveau von annähernd oder über 100% gesichert werden. Eine andere Frage ist es, ob die Lehrkräfte diese Maßnahmen in Gänze gutgeheißen haben. Es ist anzunehmen, dass die Resonanz auf solche Maßnahmen des Dienstherrn eher negativ ausfiel. Hier schließt sich ein Folgeproblem fast nahtlos an: Das Land Sachsen-Anhalt kann den Bedarf an Lehrkräften für einzelne Schulformen und für einzelne Unterrichtsfächer nicht durch das klassische Instrument der Neueinstellungen decken. Der Bestand an Lehrkräften „im System“ ist numerisch nach wie vor zu hoch, als dass neue Lehrkräfte in größerer, fachspezifisch angemessener Zahl eingestellt werden könnten. So betrug der Einstellungskorridor im Schuljahr 2003/2004 gerade einmal 74 Stellen an allgemeinbildenden und 26 an berufsbildenden Schulen.109 Diese Tatsache hängt mit dem Umstand zusammen, dass der Haushaltsgesetzgeber gezwungen ist, den Personalüberhang an den Schulen durch einen konsequenten Stellenabbau zu reduzieren. Die Finanzmisere des Landes schlägt an dieser Stelle mit allem Nachdruck auf den Einstellungskorridor für Lehrkräfte durch. Es ist deshalb nicht einmal möglich, den Bedarf an Lehrkräften für die weiter oben bereits erwähnten Mangelfächer auch nur annähernd zu decken. Ein Umstand, den man durchaus als ein Kuriosum bezeichnen kann, kommt erschwerend hinzu: Die Stellenausschreibungen erfolgten längere Zeit im Verlaufe des jeweiligen Jahres so spät, dass von den vom Kultusministerium angeschriebenen und zur Einstellung vorgesehenen Bewerbern nur ein kleiner Teil das Angebot annahm, weil andere Bundesländer mit ihren Ausschreibungen schlicht und einfach schneller waren und die Bewerber „wegfischten“. Dies geschah häufig auch zu wesentlich besseren Konditionen, denn in den alten Bundesländern werden seit längerer Zeit alle Beamtenstellen, und sie sind die Regel, zu 100% angeboten, wie es die Rechtsprechung durchgesetzt hat. 109 Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Madeleine-Rita Mittendorf vom 06. November 2003, Drs. 4/1118.
154 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
Gegen diese lukrativeren Angebote – mit 100% dotierte Beamtenstellen – kann das Land Sachsen-Anhalt nur wenig bis gar nichts unternehmen. Man hat aber die erste Konsequenz gezogen und stellt nunmehr Bewerber in einem beschleunigten Verfahren ein, zu dem auch die Anpassung der Ausschreibungsfrist an die der alten Bundesländer gehört. Wohlgemerkt: Der Druck entstand nicht durch eine miserable rechnerische Unterrichtsversorgung, sondern durch ein fachspezifisches Fehl bei gleichzeitig mindestens ausreichender Gesamtversorgung ausweislich der statistischen Werte. Nach dem Personalentwicklungskonzept der Landesregierung bis 2025, welches Aufschluss über den Personalbedarf in der Landesverwaltung gibt, ist es das Ziel der Landesregierung, die Beschäftigtenzahl im Lehrerbereich auf nur noch 13.000 Stellen im Landeshaushalt zurückzuführen. Dies gebietet die bereits angesprochene unabweisbare Haushaltsdisziplin. Für den Landeshaushalt 2009 sind für die allgemein bildenden Schulen gegenwärtig noch 16.124 Stellen ausgewiesen, auf denen 19.377 Beschäftigte geführt werden. Hierbei handelt es sich um 3.087 Beamte sowie 16.290 Tarifbeschäftigte.110 Diese verteilen sich auf 949 allgemein bildende Schulen mit rund 176.000 Schülern im Schuljahr 2008/09. Das Durchschnittsalter der Lehrkräfte beträgt 50,02 Jahre. Problematisch ist die im Personalentwicklungskonzept 2009–2025 vom Finanzminister vorgesehene weitere Absenkung der Zahl der Stellen um 1.000 bei bisher vorgesehenen 13.000 Vollzeitlehrereinheiten (VZLE). Dies hat die Kritik der Bildungspolitiker hervorgerufen, die ein „Ausbluten“ des Lehrerstandes und einen Niveauverlust an den Schulen befürchten. Wenn die landesdurchschnittlichen schulischen Parameter, also Stundentafeln, Zusatzbedarfe, Unterrichtsorganisation, Sekundarschulprogramm, Anrechnungsund Ermäßigungstatbestände, Klassen- und Lerngruppengrößen usw., beibehalten würden, dann ergäbe sich ein notwendiger Bedarf von 14.248 Vollzeitlehrereinheiten(VZLE). An dieser Stelle ergibt sich also ein nicht unerhebliches Konfliktpotential unter den Koali110 Personalentwicklungskonzept 2009-2025, S.97 f.
Lehrertarifverträge 155
tionspolitikern, je nach Interessenlage als Finanz- oder Bildungspolitiker. Das Kultusministerium ist sich darüber im Klaren, dass nur bei Aufrechterhaltung attraktiver Beschäftigungsbedingungen, wie sie eine Verbeamtung darstellt, die Möglichkeit besteht, den ab 2012 ansteigenden Lehrkräftebedarf, vor allem in den Mangelfächern, abzusichern. Andernfalls ist eine Konkurrenzfähigkeit mit anderen Bundesländern bei der Lehrkräftegewinnung nicht mehr gegeben. Die Politik in Sachsen-Anhalt hat dieses grundsätzliche Problem zwar erkannt. Ob die infolge der altersbedingten Abgänge vorgesehenen 460 Neueinstellungen bis 2012 für den allgemein bildenden und den berufsbildenden Bereich ausreichen werden, darf bezweifelt werden. Selbst die bis 2020 vorgesehene Zahl von 2.734 Neueinstellungen dürfte, verstärkt durch den Konkurrenzdruck der alten Bundesländer, nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, aber immerhin in die richtige Richtung weisen. Um es an dieser Stelle noch einmal deutlich auszusprechen: Die besondere Relation von Beamten und Angestellten im Schuldienst SachsenAnhalts (und der übrigen neuen Bundesländer) ist ein spezifisches Erbe der DDR und markiert einen der großen Unterschiede zu den Schulsystemen der alten Bundesländer. Andererseits gibt dieser Umstand der seit einiger Zeit geführten Diskussion um das Dienstverhältnis von Lehrkräften neue Nahrung, in der vehement für bzw. gegen den Beamtenstatus von „einfachen“ Lehrkräften gestritten wird. Der hohe Anteil von Angestellten im Schulwesen verleiht dem Tarifrecht zwangsläufig einen hohen Stellenwert und hat zu speziellen Lehrertarifverträgen geführt. Über ihre Ausgestaltung und ihre Fortschreibung wird im Folgenden ausgeführt.
3. Die Lehrertarifverträge Es wurde bereits erwähnt: Von den 30.000 Lehrkräften, die zu Beginn des Schuljahres 1991/1992 dem Lande Sachsen-Anhalt aus der „Erbmasse“ zur Verfügung standen, war niemand verbeamtet. Im all-
156 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
gemeinbildenden Schulwesen sind, wie gezeigt worden ist, auch fast zwanzig Jahre später ca. 80% aller Lehrkräfte im Angestelltenverhältnis beschäftigt. Für sie gilt grundsätzlich das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes.111 Wegen der den Haushalt belastenden Überhangsituation wurden, um ein riesiges, konfliktträchtiges sowie kosten- und zeitaufwendiges Kündigungsprogramm zu vermeiden, ein spezieller Lehrertarifvertrag abgeschlossen, der erste Arbeitsplatzsicherungs-Tarifvertrag Land Sachsen-Anhalt vom 01. 08. 1997 mit einer Laufzeit bis zum 31.07.2003. Er hatte aus der Sicht des Arbeitgebers die zentrale Funktion, das Unterrichtsdeputat der Lehrkräfte zu senken, damit auf diese Weise das Kostenvolumen nachhaltig reduziert werden konnte. Der willkommene und beabsichtigte Nebeneffekt des Abbaus von Überhängen in überversorgten Fächern zum Zwecke der Öffnung oder der Verbreiterung eines Einstellungskorridors für sogenannte Mangelfächer trat hinzu, soll aber hier zunächst nur angedeutet werden. Für das Gros der Lehrkräfte bedeutete der Tarifvertrag die Garantie der Weiterbeschäftigung bei abgesenkten Bezügen entsprechend der zurückgefahrenen Arbeitszeit. „Teilzeit“ wurde zum Kennzeichen des Lehrerdaseins. Es handelte sich, das muss herausgestellt werden, um eine (verdeckte?) Zwangsteilzeit, weil die Alternative Verlust des Arbeitsplatzes qua Kündigung bedeuten konnte. Auf die Dauer aber wurde diese erzwungene Teilzeit zu einem materiellen Problem. Was lag näher, als die Vollbeschäftigung anzustreben. Latent war die Auseinandersetzung um dieses Ziel bei jeder anstehenden Verlängerung des Tarifvertrags vorhanden. Entsprechende Forderungen der Gewerkschaften wurden stets öffentlichkeitswirksam artikuliert. 111 Im berufsbildenden Schulwesen ist der Sachstand ein völlig anderer: im Schuljahr 2008/2009 waren von 2.661 Beschäftigten 1.879 im Beamtenverhältnis, also 70,6%. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass an den BBSen die Kollegien seit den frühen 90er Jahren überhaupt erst Schritt für Schritt über Neueinstellungen aufgebaut werden mussten.
Lehrertarifverträge 157
Im Jahre 2007 stand ein heftiger Tarifkonflikt ins Haus, als die Verlängerung des bestehenden Tarifvertrags mit seinen Konditionen abgelehnt wurde. Das Thema „kochte hoch“. Es entwickelte sich auch zu einem Sprengsatz, der den Arbeitsfrieden zu zerstören drohte. In zahlreiche Kollegien wurde ein Spaltpilz hineingetragen. Dabei standen sich mit unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessen, sehr vereinfacht ausgedrückt, diejenigen, denen das Beamtenverhältnis verwehrt geblieben war, also in erster Linie nun bereits ältere ehemalige DDR-Lehrer, denjenigen zumeist jüngeren Kollegen gegenüber, die über einen Einstellungsvorgang den Beamtenstatus erhalten hatten und sich in einer erheblich besseren materiellen Lage befanden. Höhepunkt der Auseinandersetzungen war die Kündigung des Lehrertarifvertrags durch die Gewerkschaften mit Wirkung zum 31. Juli 2008. Die Konsequenz lautete: „Sollte bis dahin keine andere Lösung zum Tragen kommen, wären alle Lehrkräfte, die vom Arbeitsplatzsicherungs-Tarifvertrag LSA erfasst sind, ab 01. August 2008 vollbeschäftigt und dementsprechend zu bezahlen gewesen. Allerdings entfiele auch der tarifvertraglich vereinbarte Kündigungsschutz“.112 Das Land Sachsen-Anhalt, vertreten durch die Landesregierung, war nun in die Lage versetzt, verschiedene Lösungen anzustreben, um eine Vollbeschäftigung seiner Lehrkräfte zu vermeiden. Diese kam ja wegen der erheblichen Mehrkosten für den Landeshaushalt nicht ernsthaft in Betracht. Es war in dem genannten Arbeitspapier von „Kosten in besorgniserregender Größenordnung“ die Rede. Man sah mit der zum 01.08.2008 eintretenden Vollbeschäftigung einen „Überhang an Arbeitsvolumen“ voraus, „der nicht sinnvoll eingesetzt werden kann, aber vergütet werden muss“. Für den Doppelhaushaltsplan 2008/2009 rechnete man in den Lehrerkapiteln mit einem Mehrbedarf von 1.899 Stellen im Jahre 2008 und 1.856 Stellen im Jahre 2009. Möglich wären betriebsbedingte Kündigungen gewesen. Man ging davon aus, dass mindestens 3000 Lehrkräften betriebsbedingt hätte 112 Das Zitat ist einem Arbeitspapier des Finanzministeriums vom 26. Oktober 2007 entnommen, das für die folgenden Ausführungen den Bezugspunkt bildet.
158 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
gekündigt werden können – oder müssen, wie man will. Bei einer so großen Zahl von Betroffenen hätten große Prozessrisiken bestanden, z.B. wegen etwaiger Verfahrensfehler bei der „Sozialauswahl“. Eine weitere Möglichkeit hätten Änderungskündigungen dargestellt, die allerdings oder immerhin bedeutet hätten, dass das Land als Arbeitgeber willens war, die Arbeitsverhältnisse, wenngleich zu veränderten Bedingungen, fortzuschreiben. Für viele Lehrkräfte hätte dies den Ausblick auf eine Fortsetzung der Teilzeitbeschäftigung zur Folge gehabt, wahrscheinlich aber bei verschlechterten Konditionen. Ein Nebeneffekt musste jedoch bedacht werden: Parallel zu den Änderungskündigungen hätte es, vornehmlich aus arbeitsrechtlichen Gründen, keine Neueinstellungen geben können. Auch wären individuelle Teilzeitangebote eine Lösung gewesen. Etliche Lehrkräfte hätten dieses Angebot wohl auch angenommen, zumal sie sich, wie formuliert worden ist, an den „Freizeitwohlstand“ gewohnt hätten. Zu dieser Lösung wurden im Finanzministerium tatsächlich Überlegungen angestellt. Man beschäftigte sich sogar mit dem Gedanken, das Angebot mit einem „Bonus“, also einer Art Prämie lukrativ zu machen. Da aber diese Teilzeitangebote außerhalb des Tarifrechts angesiedelt gewesen wären, hätte man die Zustimmung der Tarifgemeinschaft deutscher Länder einholen müssen, nicht zuletzt wegen des Präzedenzfallcharakters. Die zu erhalten, hielt man für fraglich. Man gab deshalb diesen Ansatz auf. Schließlich sprachen sich die Tarifparteien, nachdem nun einmal der Tarifvertrag gekündigt worden war, für erneute Verhandlungen aus. Die Initiative ging vom Kultusminister Prof. Dr. Olbertz aus, dem es aus verschiedenen ressortspezifischen Gründen essentiell darum ging, die finanziellen Mehrbelastungen für den Landeshaushalt als Folge der drohenden Vollbeschäftigung ab 01. August 2008 zu vermeiden. Die für den Kultusminister entscheidende Überlegung lautete: Bei eintretender Vollbeschäftigung wären Neueinstellungen so gut wie ausgeschlossen geworden. Die aber benötigte man, um die Unterrichtsversorgung in den sogenannten Mangelfächern einigermaßen sicherzustellen. Ein Weiteres kam hinzu, nämlich das hohe Durchschnittsalter der Lehrkräfte deutschlandweit, aber in Sachsen-Anhalt speziell als Resul-
Lehrertarifverträge 159
tat der erwähnten Einstellungspraxis der DDR in den achtziger Jahren. Es war mit einem sprunghaft ansteigenden Lehrerbedarf ab 2015 zu rechnen. Dazu heißt es in dem Arbeitspapier: „Es wird einen rasanten Wettbewerb um viel zu wenige Absolventen geben“. Sachsen-Anhalt sei deshalb gut beraten, „auf der Grundlage seiner Personalentwicklungskonzeption beizeiten den Weg zu Neueinstellungen im Lehrerbereich zu ebnen“. Die Dramatik der Situation, Resultat eines Dilemmas besonderer Ausprägung, kam in folgenden Worten präzise zum Ausdruck: „Wir bilden mit enormem Kostenaufwand junge Lehrerinnen und Lehrer aus, die im Anschluss an ihr Studium in Größenordnungen das Land verlassen, obwohl sie in nur wenigen Jahren in Sachsen-Anhalt dringend gebraucht werden. Auch unter volkswirtschaftlichen Gründen kann auf Einstellungskorridore nicht verzichtet werden“. Die Zitate belegen, dass das Kultusministerium im Finanzministerium einen Verbündeten hatte, trotz aller parteipolitischen Unterschiede auf den Leitungsebenen. Die Tarifverhandlungen wurden also seitens der Landesregierung im politischen Konsens geführt. Und sie zeitigten Resultate, deren Kompromisscharakter nicht zu übersehen ist: Für das Land bedeuteten sie, dass der „worst case“ der prinzipiellen Vollbeschäftigung ab 01.08.2008 abgewendet werden konnte und der vielbeschworene Einstellungskorridor geöffnet blieb. Für die Gewerkschaften und die von ihnen vertretenen Lehrkräfte ergab sich die generelle Anerkennung ihres Ziels der Vollbeschäftigung, wenngleich zu späteren Zeitpunkten als dem angestrebten. Die Ergebnisse, die mit dem neuen Lehrertarifvertrag vom 30.10.2007 (gültig ab 01.08.2008) erzielt wurden, lassen sich tabellarisch darstellen: Tabelle 13 Grundschule Schuljahr
Besondere regelmäßige Arbeitszeit
2008/2009
88,9 v. H.
2009/2010
92,6 v. H.
2010/2011
Vollbeschäftigung
160 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
Tabelle 14 Sekundarschule Schuljahr
Besondere regelmäßige Arbeitszeit
2008/2009
84 v. H.
2009/2010
88 v. H.
2010/2011
92 v. H.
2011/2012
96 v. H.
2012/2013
Vollbeschäftigung
Tabelle 15 Gymnasium Schuljahr
Besondere regelmäßige Arbeitszeit
2008/2009
84 v. H.
2009/2010
88 v. H.
2010/2011
92 v. H.
2011/2012
96 v. H.
2012/2013
Vollbeschäftigung
Für die Förderschulen hatte nach altem Tarifvertrag die Vollbeschäftigung ohnehin mit dem Schuljahr 2008/2009 eintreten sollen. Deshalb wurden die Lehrkräfte dieser Schulen nicht mehr vom neuen Tarifvertrag erfasst. Die mit dem Vertrag vereinbarten Beschäftigungsbedingungen hatten zur Folge, dass die zunächst erwarteten Mehrkosten in Höhe von 43,5 Mio. Euro in 2008 und von 90,77 Mio. Euro in 2009 deutlich niedriger ausfielen als befürchtet. So kam es zu Mehrkosten von „nur“ 11 Mio. Euro in 2008, von 24,6 Mio. Euro in 2009. Für 2010 und 2011 ist jeweils mit 22 Mio. Euro zu rechnen. Neben diesen Regelungen zu den Beschäftigungsumfängen der angestellten Lehrkräfte wurde auch eine Vereinbarung zu den beabsichtigten Neueinstellungen gefunden. Danach sollten im Schuljahr 2008/2009 90, im Schuljahr 2009/2010 100, im folgenden Schuljahr 120 und schließlich 2011/2012 150 Neueinstellungen erfolgen.
Stand und Perspektiven der Lehrerausbildung 161
Die Auseinandersetzungen um die Lehrertarifverträge hatten eine paradigmatische Bedeutung. Letzten Endes drehten sie sich einerseits um die Frage, ob nur oder überwiegend dem Bestand Rechnung zu tragen sei, und andererseits um die strategische Bewertung einer Nachwuchspolitik im Sinne einer Zukunftsvorsorge im Bildungsbereich als einem entscheidenden Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit des Landes Sachsen-Anhalt. Wie die abschließende Antwort ausfallen wird, kann sich erst in einigen Jahren erweisen.
4. Stand und Perspektiven der Lehrerausbildung Mit der Aufgabe, ein an den Strukturen und den Maßstäben des Schulwesens in den alten Bundesländern – mit den KMK-Beschlüssen als Orientierungsrahmen – ausgerichtetes landesspezifisches Schulsystem aufzubauen, ergab sich auch die Notwendigkeit, trotz des enormen Lehrkräftereservoirs, aus dem geschöpft werden konnte, eine adäquate, nach der Fundamentalentscheidung für das gegliederte Schulwesen nach Lehrämtern differenzierte, auf Schulformen ausgerichtete Lehrerausbildung in eigener Regie in Angriff zu nehmen. Diese hatte so zu erfolgen, dass im Geltungsbereich des Grundgesetzes keinerlei Einschränkung der beruflichen Mobilität zu befürchten war. Das musste in beide Richtungen gelten, also aus Sachsen-Anhalt heraus, aber auch nach Sachsen-Anhalt hinein, und das möglichst schon während des Lehramtsstudiums. Die Lehrerausbildung hatte deshalb mit ihren zwei Staatsprüfungen dem Zwei-Säulen-Modell Rechnung zu tragen, ohne, wie in der DDR üblich, auf Schulstufen fixiert zu sein. Das bedeutete: An den Universitäten des Landes mussten schulformbezogene Lehramtsstudiengänge vornehmlich für die fachwissenschaftliche Ausbildung der Lehramtskandidaten eingerichtet werden. Für die zweite Phase, nennen wir sie verkürzt die pädagogische oder die unterrichtspraktische, waren Seminare mit nach Lehrämtern differenzierter Ausbildung vorzuhalten. Dieser Aufgabe hat sich das Land Sachsen-Anhalt sofort gestellt – und es hat sie, um es vorwegzunehmen, ohne Fehl und Tadel gelöst.
162 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
Seit 1991 sind an den Universitäten Halle-Wittenberg und Magdeburg nach und nach alle erforderlichen Lehramtsstudiengänge für die ganze Palette der Unterrichtsfächer im Angebot, selbstverständlich in der angemessenen Aufgabenteilung. Sie sind so ausgestaltet, dass Studienortwechsel in andere Bundesländer genauso in Betracht kommen wie Auslandssemester. Und sie lassen es selbstverständlich zu, dass „Auswärtige“ auf das Lehramt hin auch in Sachsen-Anhalt studieren können, ohne Anerkennungsprobleme befürchten zu müssen. Für die zweite, die Seminarphase, existieren zur Zeit in der Regie des „Landesinstitut(s) für Lehrerbildung und Schulqualität SachsenAnhalt“ zwei „Staatliche Seminare für Lehrämter“, je eines in Halle und in Magdeburg. 113 An beiden Seminaren wird für alle Lehrämter ausgebildet – mit einer Ausnahme: Für das Lehramt an berufsbildenden Schulen nur in Magdeburg. Das hat natürlich seinen guten Grund, denn die Universität Magdeburg hat, anders als Halle-Wittenberg, neben dem naturwissenschaftlichen einen renommierten technischen Schwerpunkt und hält die berufsbezogenen Studiengänge vor. An den beiden Seminaren werden im Schuljahr 2009/2010 insgesamt 339 Kandidaten in zwei Ausbildungsjahren auf das Lehramt vorbereitet. Für die beiden Standorte und für die Lehrämter sind die Zahlen in der nachfolgenden Tabelle spezifiziert ausgewiesen: Tabelle 16 Übersicht über die Anzahl der Auszubildenden 2009/2010 Seminar
1. Ausbildungsjahr GS
SEK Gym FöS
2. Ausbildungsjahr
Gesamt
BbS
Ges
GS
SEK Gym FöS
BbS
Ges
26
90
19
15
16
15
20
85
175
Magdeburg
21
9
23
11
Halle
22
17
22
25
0
86
43
1
14
20
0
78
164
Gesamt
43
26
45
36
26
176
62
16
30
35
20
163
339
Quelle: Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulqualität Sachsen-Anhalt, Stand 01.10.2009.
113 Die Entwicklung zum Ist-Zustand wird hier nicht nachgezeichnet. Sie war u.a. das Resultat verwaltungsorganisatorischer Entscheidungen der unterschiedlich zusammengesetzten Landesregierungen.
Stand und Perspektiven der Lehrerausbildung 163
So erfreulich das Bild auf den ersten Blick ist, ein genaueres Hinsehen stimmt leider etwas traurig. Bei einem Einstellungskorridor, der laut Lehrertarifvertrag in den nächsten Schuljahren nur für maximal 150 Neueinstellungen pro Haushaltsjahr geöffnet sein wird, ist davon auszugehen, dass numerisch über Bedarf ausgebildet wird. Der hohe Mitteleinsatz wird sich für Sachsen-Anhalt summa summarum nicht auszahlen. Viele Absolventen werden, zumal wenn ihre Fächerkombination nicht oder kaum nachgefragt wird, von der Möglichkeit der Mobilität Gebrauch machen müssen und ihre berufliche Zukunft in anderen Bundesländern suchen wollen, dann wohl ohne Rückkehr. Es kommt ein anderer wehmütig stimmender Umstand hinzu: Gerade für das vom Fachlehrermangel geplagte Gymnasium zeichnet sich keine Entspannung ab, wenn man bedenkt, dass unter den insgesamt 75 Studienreferendaren nur drei das Fach Chemie, fünf das Fach Physik und acht das Kern- und Langfach Mathematik anbieten. Es kann kein Trost sein, dass im Nachbarland Niedersachsen die Situation diesbezüglich ähnlich desaströs ist. Und beim Lehramt für das berufsbildende Schulwesen sieht es in einigen Berufsfeldern (Metalltechnik, auch Bautechnik) nicht besser aus. Einen Lichtblick stellt die relativ große Zahl von Kandidaten in den Fächern Musik (10), Religionslehre, Ethik und Geschichte (18) dar, wobei gerade im Fach Geschichte aus naheliegenden Gründen weitgehend ideologiefrei ausgebildete Lehrkräfte höchst willkommen sein müssen. Bei einer insgesamt erfreulichen Zahl von Lehramtskandidaten ist dennoch in dreierlei Hinsicht keine günstige Perspektive zu vermuten. Zum einen werden bei finanzpolitisch notwendigem, unabweisbarem Stellenabbau und deshalb eng gehaltenem Einstellungskorridor etliche mit hohem Kostenaufwand hochwertig ausgebildete Lehrkräfte dem Land den Rücken kehren. Zum zweiten wird das Lehramtsstudium, auf bestimmte Fächer bezogen, noch weniger attraktiv sein, als es ohnehin schon geworden ist, so dass der für die Zeit nach 2015 sich abzeichnende hohe Ersatzbedarf allein von daher kaum
164 Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung seit 1990
wird befriedigt werden können. Und zum dritten wird das bereits registrierte Defizit in verschiedenen Unterrichtsfächern (und Lehrämtern) auch mittelfristig nicht behoben werden können, vermutlich auch wegen der für Sachsen-Anhalt alles in allem ungünstigen Wettbewerbslage, auf die bereits mit einigen Aspekten hingewiesen wurde – und das selbst dann nicht, wenn bundesweit geworben würde.
F. Schulnetz und Schulentwicklungsplanung Über die öffentlichen Schulen heißt es mit sprachlichen Variationen, aber inhaltlicher Identität in den Schulgesetzen aller Bundesländer, sie seien „nichtrechtsfähige Anstalten“ ihres Trägers und des Landes. Das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (SchulG LSA) nennt im § 2 Abs. 2 als Träger „die Landkreise, die Gemeinden oder das Land“.114 Das bedeutet, dass ein klassischer Dualismus der staatlichen und der kommunalen Ebene vorliegt. Man kann aber auch von einem Kondominium sprechen. Um es sehr vereinfacht auszudrücken: Das Land ist als Folge seiner Kulturhoheit für die schulischen Inhalte und Ergebnisse verantwortlich und hat die Personalkosten zu übernehmen, die Träger haben die schulische Infrastruktur bereitzustellen und für die Sachkosten aufzukommen. Einzelheiten der „Aufbringung der Kosten“ sind in den §§ 69 und 70 geregelt. Die allgemeine Schulpflicht findet in der Pflicht des Landes und der Schulträger, ein angemessenes, zumutbares Netz von schulischen Angeboten vorzuhalten, ihre Entsprechung. Die Schnittstelle für Land und Schulträger, wo sie ihrer aus der dualistischen Aufgabenzuordnung erwachsenden jeweiligen Funktion zu entsprechen haben, ist die Schulentwicklungsplanung. Sie hat in allen Schulgesetzen einen hohen Rang. Das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt behandelt die Schulentwicklungsplanung im § 22. Absatz 1 sei wegen seiner allgemeinen Bedeutung zitiert: „Die Schulentwicklungsplanung soll die planerischen Grundlagen für die Entwicklung eines regional ausgeglichenen und leistungsfähigen 114 Diese Vorschrift ist seit dem Schulreformgesetz von 1991 unverändert geblieben. Ich beziehe mich hier auf das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in der aktuell gültigen Fassung nach Verabschiedung des Zwölften Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes durch den Landtag am 14.07.2009.
166 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
Bildungsangebotes im Lande und den Planungsrahmen für einen auch langfristig zweckentsprechenden Schulbau schaffen. Schulen in freier Trägerschaft sind im Plan ebenfalls darzustellen“.
Gegenüber den beiden ersten Schulgesetzfassungen von 1991 und 1993 weist dieser Absatz seit dem Schulgesetz von 1996 auch das Erfordernis „leistungsfähig“ als Ergänzung zu „regional ausgeglichen“ auf. Dahinter steckt mehr als redaktionelle Kosmetik. Die demographische Entwicklung mit ihren Auswirkungen in der Fläche des Landes hat die Hand geführt. Bloße regionale Ausgeglichenheit hätte auch mit Kleinsteinheiten erzielt werden können. Diese hätten aber – unabhängig von den zu erwartenden exorbitanten Kosten – die Frage der Leistungsfähigkeit des Schulwesens des Landes negativ berührt. Was jedoch im Gesetzestext relativ harmlos zum Ausdruck gebracht worden ist, stellt in der Kombination der Adjektive, hinter denen sich ja Auflagen verbergen, so etwas wie eine Herkulesaufgabe dar: regional ausgeglichen und gleichzeitig leistungsfähig! Schulentwicklungsplanung soll außerdem, wie Absatz 1 SchulG LSA seit 1991 vorschreibt, den Planungsrahmen für einen „auch langfristig zweckentsprechenden Schulbau“ darstellen. Hier schwang also von Anfang an die Sorge mit, es könnte sehr viel Geld investiert werden, das langfristig unvertretbare Überkapazitäten zu schaffen drohte. Im Kapitel, das den berufsbildenden Schulen gewidmet ist, wurde auf diese Schlüsselproblematik bereits hingewiesen. Im Zuge der dramatischen demographischen Entwicklung hat die Bedeutung der zitierten Textpassage erheblich an Gewicht gewonnen. Leerstände gilt es zu vermeiden. Träger der Schulentwicklungsplanung sind gemäß § 22 Abs. 2 SchulG LSA die Landkreise und die kreisfreien Städte. Sie haben Schulentwicklungspläne „für ihr Gebiet im Benehmen mit der Schulbehörde und den kreisangehörigen Gemeinden unter Mitwirkung ihrer Kreiseltern- und Kreisschülerräte oder der Stadteltern- und Stadtschülerräte“ aufzustellen. Sie sind dabei gehalten, neben den Vorschriften des Schulgesetzes die Vorgaben der Verordnung zur Schulentwick-
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 167
lungsplanung (SEPl-VO) zu beachten. Die zur Zeit gültige stammt vom 22. September 2008.115 Wichtig ist angesichts der besonderen Herausforderungen, vor denen das Land Sachsen-Anhalt steht, ein weiterer Satz im Absatz 2 des § 22: „Dabei sind auch die Bildungsbedürfnisse zu berücksichtigen, die durch Schulen für das Gebiet nur eines Landkreises oder einer kreisfreien Stadt nicht sinnvoll befriedigt werden können“. Kleinräumiges, noch dazu egozentrisches Planen soll einem Denken in Zusammenhängen Platz machen, das bildungspolitische Grundsatzentscheidungen ebenso berücksichtigt wie die legitimen Interessen der Schulträger und die ebenso legitimen Bildungsbedürfnisse der Landeskinder, die unabhängig von Wohnort, Kreiszugehörigkeit und Verkehrsinfrastruktur zur Geltung kommen sollen. Welche Spezifizierungen die SEPl-VO dazu vornimmt, soll weiter unten behandelt werden. Die Schulentwicklungsplanung des Landes Sachsen-Anhalt begann unmittelbar nach seiner Geburt mit einem Kuriosum. In Ermangelung eines Schulgesetzes und folgerichtig ohne die Existenz einer davon abgeleiteten Verordnung erfolgte die Festlegung der Schulstandorte mit ihren Schulformen und Bildungsgängen, also des Schulnetzes als Grundmuster der Schullandschaft, auf der schlichten Grundlage von ministeriellen Schreiben, denen man allerdings, immerhin, verwaltungsrechtstechnisch die Qualität von Erlassen zubilligen kann. Eines dieser Schreiben, das der damalige Staatssekretär Dr. Legall am 13.03.1991 zum einen „An die Damen und Herren Schulräte in den Schulaufsichtsämtern“ und zum anderen „An die Damen und Herren Direktoren der allgemeinb. Schulen des Landes Sachsen-Anhalt“ richtete, führte zunächst aus: „Im gegliederten Schulwesen des Landes Sachsen-Anhalt wird es im Sekundarbereich I neben dem Gymnasium und der Sonderschule die Sekundarschule geben.“
115 Verordnung zur Schulentwicklungsplanung (SEPl VO) vom 22. September 2008, in: GVBl. LSA Nr. 20, ausgegeben am 30.09.2008.
168 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
Bezugsdatum war der 01.08.1991, der Beginn des ersten Schuljahres in der Regie der ersten freigewählten Landesregierung. Dieses Schreiben gab der Aussage des Ministerpräsidenten Dr. Gies in seiner Regierungserklärung vom 02. November 1990 noch einmal präzise Nachdruck und ließ nicht nur unmissverständlich erkennen, dass die Sekundarschule die zentrale Rabatte, das Herzstück der neuen Schullandschaft sein werde, sondern ließ auch ahnen, dass sie der besonderen Gestaltung und der kontinuierlichen Pflege bedürfen werde. Schulentwicklungsplanung in Sachsen-Anhalt kann ohne diese Funktion der Sekundarschule gar nicht sinnvoll gedacht werden. Über sie hieß es sodann: „Jede Sekundarschule ist grundsätzlich gehalten, beide Bildungsgänge (also Hauptschul- und Realschulbildungsgang) anzubieten“. Auf die Bedeutung von „grundsätzlich“ in amtlichen Texten sei nur hingewiesen. Den Bildungsplanern des Ministeriums war jedenfalls von der ersten Stunde an klar, dass dieser Verpflichtung wenn schon nicht von Anfang an, so doch im Verlaufe der Jahre an immer mehr Standorten immer weniger würde entsprochen werden können. Deshalb wurde mit hoher Relevanz für die Ausweisung von Standorten in den Schulentwicklungsplänen sogleich eine planerische Hilfe angeboten: „Von der Möglichkeit der Kooperation benachbarter Sekundarschulen sollte intensiv Gebrauch gemacht werden, damit Lerngruppen mit ausreichender Frequenz (wenigstens 15) gebildet werden können. Das kann z.B. dadurch geschehen, dass die Schülerinnen und Schüler von zwei (oder mehr) Sekundarschulen, die einen Hauptschulbildungsgang absolvieren sollen/möchten, an einer Sekundarschule zu einer Klasse mit HS-Bildungsgang zusammengefasst werden“. Und an die Schulträger gerichtet, setzt das Schreiben fort: „Die Schulträger der Sekundarschulen bleiben aufgerufen, im Rahmen ihrer Schulentwicklungsplanung Standorte für die genannten Bildungsgänge so auszuweisen, dass der Nachfrage möglichst wohnortnah entsprochen werden kann“. Man war sich im Ministerium auch der Tatsache bewusst, dass man unter seinerzeit zumutbaren Bedingungen zu erreichende Schul-
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 169
standorte vorerst nicht ohne einzügige Sekundarschulen werde vorhalten können.116 Dazu wurden sehr großzügige Ausnahmeregelungen angeboten. Wegen ihrer elementaren Bedeutung für die Schulentwicklungsplanung des Landes Sachsen-Anhalt nicht nur zu Beginn seiner Existenz, sondern über die vergangenen zwanzig Jahre hinweg mit wichtigen Aspekten auch für die zukünftige Gestaltung der Schullandschaft sei die entsprechende Textstelle trotz ihrer Länge im Wortlaut zitiert: „An einzügigen Sekundarschulen sollte immer dann, wenn nicht über Kooperationsmodelle anderes geregelt ist, grundsätzlich der Realschulbildungsgang geführt werden. Um die Schülerinnen und Schüler, für die der Hauptschulbildungsgang angemessen ist, zu den angestrebten Abschlüssen zu führen, kann an einzügigen Sekundarschulen mit RS-Bildungsgang – nach Ausschöpfung von Kooperationsmöglichkeiten -, wenn die Klassenfrequenz das gestattet, in den Fächern Deutsch, Mathematik und 1. Fremdsprache neben der Kernlerngruppe (RS-Bildungsgang) eine Kleinlerngruppe (HS-Bildungsgang) eingerichtet werden, deren Schülerinnen und Schüler in den genannten Fächern nach Maßgabe der jeweiligen Rahmenrichtlinien für den HS-Bildungsgang unterrichtet werden. Im Zeugnis sind die Noten als im HS-Bildungsgang erworben zu kennzeichnen. Diese Kleinlerngruppen können eingerichtet werden, wenn diese wenigstens aus acht Schülerinnen und Schülern bestehen und die Frequenz der Kernlerngruppe nicht unter 14 liegt. Das setzt also in der Regel an einer einzügigen Sekundarschule eine Mindestklassenfrequenz von 22 voraus. Ausnahmen sind von der Schulbehörde zu genehmigen. Diese Kleinlerngruppen sollen der Förderung derjenigen Schülerinnen und Schüler dienen, die im RS-Bildungsgang in den besonders versetzungsrelevanten und für die Abschlusszuerkennung maßgeblichen Unterrichts116 Mir scheint noch einmal der Hinweis erforderlich, dass sich das eine oder andere Standortproblem in bezug auf die Sekundarschule mit ihrer grundsätzlichen Verpflichtung, beide Bildungsgänge zu führen, zunächst auch dadurch ergab, dass unzulängliche Gebäudebestände die Organisation der Bildungsgänge an unterschiedlichen Standorten erforderlich machten. Auf die noch unzulängliche Verkehrsinfrastruktur habe ich ebenfalls schon aufmerksam gemacht.
170 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
fächern überfordert sein könnten. Sie sind damit auf besondere Weise pädagogisch begründet und sollen gleichzeitig das gegliederte Schulwesen in seiner wohnortnahen und begabungsgerechten Ausprägung stützen“.
Wir müssen uns vergegenwärtigen: Auf diesem (schul)rechtlich eher sehr mageren Boden, dessen Qualität zudem zunächst weder durch einen bedarfsgerechten Gebäudebestand noch durch eine die Schülerinteressen angemessen bedienende Verkehrsinfrastruktur aufgewertet werden konnte, entstand das Schulnetz Sachsen-Anhalts, von dem man wusste, dass es immer wieder neu zu knüpfen war, von dem man aber auch erwartete, dass es fortlaufend seine Reißfestigkeit werde beweisen können. Um das Bild des Schulnetzes aufzunehmen: Die Knoten sind als die Schulstandorte zu begreifen, wenngleich mit unterschiedlichen Zuordnungen von Schulformen und damit auch mit unterschiedlichen Funktionen im Netz selbst. Die zu Knoten verarbeiteten und diese verbindenden Seile stehen für die Übergänge im gegliederten Schulwesen, für die aufeinander bezogenen Bildungsgänge, allerdings auch für die Lenkung der Schülerpopulationen zu den Bildungsangeboten und für einiges mehr. Die von den Knoten und den Seilen gebildeten Maschen sind von ausschlaggebender Bedeutung. Die Reißfestigkeit eines Netzes ist im wesentlichen von der Qualität der Knoten und der Seile abhängig. Seiner Funktion kann das Netz allerdings in der Regel nur nachkommen, wenn seine Maschen, einem Fischernetz gleich, die dem Bedingungsgefüge und den Intentionen entsprechende Größe haben. Es muss unmissverständlich festgestellt werden: Das Schulnetz Sachsen-Anhalts wurde 1991 außergewöhnlich kleinmaschig geknüpft, den angedeuteten Umständen geschuldet, aber bereits auf mittlere Sicht so weder unter Kostenaspekten noch unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit durchzuhalten. Für jedes Netz gilt, dass es über kurz oder lang ausgebessert, „konsolidiert“ werden muss. Fischer praktizieren das täglich, mal an diesem, mal an jenem Netz und beim einzelnen Netz mal an dieser und mal an jener Stelle. In der Bildungspolitik, die ständig auf verschiedene sich verändernde
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 171
Parameter schauen muss, kann das nur in Jahresrhythmen geschehen. Es ist aber genauso unabweisbar, mal mit Blick auf diese Schulform, mal auf jene, und mit dem eindeutigen Ziel, in bestimmten Abständen die ganze Schullandschaft einer architektonischen Generalrevision zu unterwerfen. Dabei werden die einen am Grundmuster ihres Schulnetzes festhalten wollen, andere werden ein völlig anders strukturiertes über die Landschaft zu ziehen versuchen. Davon lebt der (bildungs)politische Prozess, der Kern demokratischer Auseinandersetzung um die legitime Macht im Staate einschließlich der legitimierenden Rechtsvorschriften. Das Schulnetz des Schuljahres 1991/1992 war durch folgende Zahlen gekennzeichnet: Es gab 851 Grundschulen, 604 Sekundarschulen, 137 Gymnasien, 2 Integrierte Gesamtschulen(IGS), 2 Kooperative Gesamtschulen (KGS), 132 Sonderschulen sowie 3 Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs, also 1731 öffentliche allgemeinbildende Schulen. Sie wurden ergänzt um 2 Freie Waldorfschulen, 5 Gymnasien und 3 Sonderschulen sowie eine Einrichtung des Zweiten Bildungswegs in privater Trägerschaft mit Ersatzschulstatus. Es existierten also insgesamt 1.742 allgemeinbildende Schulen, davon 1.731 öffentliche und 11 Ersatzschulen. Das Schuljahr 2007/2008, das als Vergleichsjahr gewählt wurde, präsentiert ein ganz und gar anderes Bild.117 Die Zahl der öffentlichen Schulen hat sich fast halbiert, sie beträgt 888, während sich die Zahl der Ersatzschulen genau versechsfacht hat, von 11 auf 66. Im einzelnen lauten die Zahlen bei den öffentlichen Schulen: 531 Grundschulen (= 61,2% des Ausgangsbestandes), 169 Sekundarschulen (= 28%), 69 Gymnasien (= 50,4%), 3 IGS, 3 KGS (statt je 2 1991/1992), 121 Sonderschulen (= 91,6%). Bei den Ersatzschulen fällt auf, dass die Zahl der Gymnasien sich verdoppelt hat, von 5 auf 10. Seit dem Schuljahr 2005/2006 gibt es eine IGS in freier Trägerschaft, außerdem sind 3 Freie Waldorfschu117 Das Schuljahr 2007/2008 wurde gewählt, weil seine Daten den aktuellen Hintergrund für die am 22. September 2008 in Kraft getretene, gegenwärtig gültige SEPl-VO bildeten, die noch im einzelnen vorgestellt werden wird.
172 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
len vorhanden. Diese Zahlen sind lediglich zu registrieren, da sie sich in einer Größenordnung bewegen, die unter dem hier gewählten Aspekt vernachlässigt werden kann. Von größerer Aussagekraft sind allerdings die Daten für die Grundschulen und die Sekundarschulen. Gab es 1991/1992 noch keine in freier Trägerschaft, beträgt ihre Zahl 2007/2008 36 bzw. 10, mit einem bemerkenswerten Anstieg seit 2000/2001.118 Festzuhalten ist: Je engmaschiger das Schulnetz der einzelnen Schulformen 1991/1992 war, desto mehr wurden ihre Standorte aus den Knoten, den Verdichtungspunkten der Schullandschaft, herausgenommen. Das heißt, die für sie relevanten Maschen wurden größer gestaltet, den Schülerzahlen Rechnung tragend, dem Leistungsaspekt verpflichtet, vom Kostenfaktor getrieben, aber auch von der Sorge begleitet, dass der Grundsatz der Wohnortnähe Schaden nehmen könne, wenn die Maschen zu groß würden. In welchem Ausmaß gerade die Entwicklung der Schülerzahlen für das Schulnetz relevant werden musste, zeigt ein Blick auf die folgende Tabelle: Tabelle 17 Schuljahr
Schülerzahl
1991/1992
370.057
1995/1996
389.198
2000/2001
306.857
2004/2005
230.649
2007/2008
183.219
Quelle: Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt 2008.
Wir erkennen also, dass im Schuljahr 1991/1992 noch ca. 370.000 Schülerinnen und Schüler die allgemeinbildenden Schulen (ohne die des Zweiten Bildungsweges, aber unter Einschluss der Ersatzschulen) in Sachsen-Anhalt besuchten. Im hier relevanten Schuljahr 2007/2008 118 Einen genauen Überblick gewährt die tabellarische Darstellung, die in Kapitel C 3, S. 86, vorliegt.
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 173
waren es nur noch knapp 184.000. Es ist also festzustellen, dass das Schulwesen Sachsen-Anhalts seit 1991 ziemlich genau 50% seines ursprünglichen Schülerbestandes verloren hatte. Das sollte fortan die ganze Dramaturgie der Schulentwicklungsplanung bestimmen. Wenn von der Sekundarschule als der zentralen Rabatte, dem Herzstück der Schullandschaft Sachsen-Anhalts gesprochen wurde, so muss hier beachtet werden, dass der aufgezeigte, von den Schülerzahlen oktroyierte Konsolidierungsprozess gerade diese Schulform am stärksten erfasste. Einschließlich der im Laufe der letzten 8 Jahre hinzugekommenen 10 Schulen in freier Trägerschaft macht der verbliebene Bestand gegenüber der Ausgangslage gerade einmal 30% aus! Die auf zahlreiche, zum Teil schon herausgestellte Umstände Rücksicht nehmende Ausnahmenvielfalt, die das umfassend behandelte ministerielle Schreiben vom 13.03.1991 anbot, war nicht durchzuhalten gewesen. Zum einen resultierte das aus dem demographischen Einbruch, der ab 2000 in den Sekundarschulen seinen Niederschlag fand, zum zweiten aus der Verbesserung des Gebäudebestands an bestimmten Standorten durch massive Schulbaumaßnahmen, zum dritten aus der Notwendigkeit, die beiden Bildungsgänge, auch wenn nur noch von der Abschlussbezogenheit des Unterrichts ausgegangen wurde, mit vertretbaren Frequenzen zu organisieren, zum vierten aus dem legitimen Interesse der Schulträger und des Landes, die Sach- und die Personalkosten durch Konsolidierungsmaßnahmen in einem vertretbaren Rahmen zu halten, und fünftens aus der auf über 45% steigenden Quote des Übergangs auf das Gymnasium – um nur die wichtigsten Faktoren zu nennen. Für die Grundschulen und die Gymnasien gilt das eben Gesagte bis auf den fünften Faktor im Grundsatz auch. Es fällt aber auf, dass die Zahl der Grundschulen immer noch relativ hoch ist. Dahinter verbirgt sich natürlich der für die zum Teil sehr dünn besiedelten Gebiete besonders verständliche Ruf „Kurze Wege für kurze Beine“. Aber das im § 22 des Schulgesetzes verankerte Postulat „eines regional ausgeglichenen und leistungsfähigen Bildungsangebotes“ lässt sich beinahe selbstverständlich auf die wohnortnahe Komponente verengen,
174 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
weil die Leistungsfähigkeit selbst kleiner und kleinster Grundschulen kaum tangiert wird – von dem Kostenfaktor einmal abgesehen. Bei den öffentlichen Gymnasien hat in dem Zeitraum von 1991 bis 2009 ziemlich exakt eine Halbierung stattgefunden, von 137 auf 67, also präzise im Einklang mit dem Rückgang der Schülerzahlen insgesamt. Das hängt in erster Linie mit spezifischen Mindestanforderungen an ein Gymnasium zusammen, z. B. abgeleitet aus der Sprachenfolge als einem seiner Merkmale oder aus der Ordnung der gymnasialen Oberstufe mit ihren Kursangeboten. Dreizügigkeit ist deshalb für das Gymnasium bundesweit die Minimalgröße, die Zweizügigkeit wird stets nur als Ausnahme betrachtet. Dem entspricht das Schulgesetz Sachsen-Anhalts in klassischer Formulierung: „Das Gymnasium wird mindestens dreizügig geführt; die Schulbehörde kann zweizügige Ausnahmen zulassen“.119 Trotz der von Anfang an sehr hohen Übergangsquote auf das Gymnasium, die sich schließlich seit 2005/2006 bei etwa 45% bewegt hat und die angesichts der Tatsache, dass Sachsen-Anhalt nur wenige sogenannte Verdichtungsräume hat, als außerordentlich hoch im Vergleich zu vielen anderen Bundesländern anzusehen ist, konnten 50% der Gymnasien nicht gehalten werden. Hier spielte, anders als bei den Grundschulen, der zitierte Gesichtspunkt der „Leistungsfähigkeit“ des Bildungsangebots, den § 22 des Schulgesetzes zum Standard erhebt, die dominierende Rolle. Außerdem darf auch auf die Gymnasien bezogen der Kostenfaktor nicht unberücksichtigt bleiben. Während 1991 im Blick auf unzulängliche Gebäudebestände vielerorts mit Außenstellen oder mit Gymnasien, die nur die Schuljahrgänge 5–9 führten, gearbeitet werden musste, konnte mittels der zahl- und umfangreichen Schulbaumaßnahmen und nach erheblicher Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Schritt für Schritt auch bei den Gymnasien der notwendige Konsolidierungsprozess durchgeführt werden.120 119 SchulG LSA, § 6 Abs. 5. 120 Die Situation des Jahres 1991 habe ich mit mehreren konkreten Beispielen in meiner Diplomarbeit dargestellt. Vgl. deshalb Markus Weilandt, a.a.O., S. 44 – 48.
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 175
Insgesamt kann immer noch, auch im Vergleich mit anderen Flächenländern, von einem recht engmaschigen Netz von Gymnasien gesprochen werden, das allerdings, das muss eingeräumt werden, in dünn besiedelten Räumen wie z. B. der Altmark bereits ziemlich großmaschig geraten ist, so dass dort manche sogenannte „Bildungsreserve“ unausgeschöpft bleiben könnte, weil widrige Umstände vom Besuch eines Gymnasiums Abstand nehmen lassen. Bemerkenswert ist natürlich die Verdoppelung der Zahl der Gymnasien in freier Trägerschaft von 5 auf 10 im Schuljahr 2007/2008 (inzwischen sogar 12!). Man könnte meinen, sie trügen in besonderer Weise dazu bei, das Netz zu stabilisieren. Das ist jedoch kaum der Fall, da sie vornehmlich in den großen Städten angesiedelt sind. Das gilt zum Beispiel für die drei Gymnasien in der Trägerschaft des Bistums Magdeburg, die auf die Städte Magdeburg, Halle und Dessau verteilt sind, aber auch für das Ökumenische Gymnasium, das sich in Magdeburg befindet. In der Verdoppelung spiegelt sich wahrscheinlich viel deutlicher die besondere Wertschätzung wider, die Schulen in freier Trägerschaft zunehmend generell genießen. Das ist eine bundesweite Erscheinung, die Sachsen-Anhalt nicht ausgespart hat. Außerdem: In den dünn besiedelten Räumen können Gymnasien in freier Trägerschaft nicht als Ergänzung der öffentlichen Schulen gedacht werden. Dort können sie nur als die öffentlichen Gymnasien verdrängende Alternative in Betracht kommen, ohne Rückwirkungen auf die Maschenstruktur und die Reißfestigkeit des Schulnetzes. Wie die Zahlen ausweisen, ist bei den Förderschulen kein Rückgang zu verzeichnen, der statistisch irgendeine Signifikanz erkennen lässt. Gab es 1991 135 Sonderschulen, nämlich 132 öffentliche und 3 private, waren es 2007/2008 immer noch 127, im Verhältnis 121 zu 6. Aber genau das ist das Bedeutungsvolle: Die Förderschulen erfreuen sich wegen ihrer hochrangigen pädagogischen Funktion einer Wertschätzung, die im krassen Gegensatz steht zu der Geringschätzung, die diejenigen in der DDR ertragen mussten, die der sonderpädagogischen Förderung existentiell bedürftig waren. Der beson-
176 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
deren Funktion aller Förderschulen entspricht es, dass sie auf kleine Gesamtschülerzahlen beschränkt bleiben und bei der Klassen- oder Lerngruppenbildung von geringen Frequenzen ausgehen dürfen. Geringere Jahrgangsstärken müssen sich, auch unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit, zwangsläufig weniger dramatisch auswirken als bei den Schulformen, die auf Zügigkeiten zum Zwecke der Differenzierung in den Bildungsgängen angewiesen sind. Außerdem spielt das Erfordernis der Wohnortnähe gerade im Blick auf die Klientel der Förderschulen eine fundamentale Rolle und verlangt eine relative Kleinmaschigkeit des Schulnetzes. Bei den Förderschulen für Lernbehinderte (zur Zeit 55 Standorte, davon 44 Einzelstandorte und 2 Mehrfachstandorte) wird man allerdings dem Kultusminister zustimmen müssen, wenn er in seinem gleich anschließend zu behandelnden Schreiben davon spricht, dass „das Standortnetz dieser Schulform ... bereits sehr ausgedünnt“ sei. In welchem Maße der Rückgang der Zahl der Schulen aller Schulformen, aber eben doch mit Ausnahme der Förderschulen, auch und gerade ein Phänomen der letzten Jahre gewesen ist, vermag die nachstehende Tabelle zu vermitteln. Aufschlussreich ist dabei, wie sehr Prognosen innerhalb weniger Jahre revidiert werden mussten. Tabelle 18 Schulform
Schulen in öff. Trägerschaft Schulen in öff. Trägerschaft Schulen in öff. Trägerschaft 2003/04 2008/09 (Prognose 2004) 2008/2009 (Prognose 2007)
Grundschule
589
528
517
Sekundarschule
338
173
163−168
Gymnasium
102
65
63
Gesamtschule Förderschule
6
6
6
123
117
121
Quelle: Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt 2008.
Ich habe bereits erwähnt, dass die für das Schuljahr 2007/2008 ermittelten und soeben vorgestellten Zahlen den Hintergrund für die SEPl-VO des Jahres 2008 abgaben.
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 177
Ihr gingen „Grundsätze der zukünftigen Schulentwicklungsplanung“ voraus, die einen Beschluss des Landtages vom 26. April 2007121 zum Ausgangspunkt hatten und in einem Schreiben des Kultusministers Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz vom 23. Juni 2007 an den Vorsitzenden des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landtages, Dr. Gunnar Schellenberger (CDU), präsentiert wurden. Einleitend wurde eine neue SEPl-VO angekündigt, deren „Veröffentlichung zum Ende des Jahres 2007“ für „unausweichlich“ erklärt wurde, damit die Planungsträger ihre Schulentwicklungspläne „für den Planungszeitraum ab 2009/10 zum 31. Dezember 2008“ vorlegen könnten. Dass die SEPl-VO dann tatsächlich erst am 22. September 2008 in Kraft treten konnte, ist nicht Resultat irgendwelcher Nachlässigkeiten oder bewusster Verzögerungen, sondern Ausdruck der extremen Schwierigkeit der Materie, der mit äußerster Sorgfalt zu begegnen war. In dem Antwortschreiben wird in seinem ersten Abschnitt die Erwartung für das Schuljahr 2008/2009 in Zahlen für die einzelnen Schulformen als Grundlage für den Planungszeitraum ab 2009/2010 zum Ausdruck gebracht.122 Es wird bei allen Schulformen ein leichter Rückgang der Zahl der Schulen vermutet. Diese dann verbleibenden werden allerdings jeweils als „bestandsfähig“ eingeschätzt im Sinne eines langfristigen Erhalts „des bis 2008/2009 entstandenen Schulnetzes entsprechend dem Koalitionsvertrag“.123 Dahinter steht die Erwartung, dass die Schülerzahlen sich auf dem erreichten niedrigen Niveau stabilisieren werden.
121 Landtagsdrucksache 5/20/651 B. 122 Es geht zunächst nur um die allgemeinbildenden Schulen. Zu Zahlen und Entwicklungen des berufsbildenden Schulwesens habe ich mich in dem einschlägigen Kapitel ausführlich geäußert, so dass ich mich in diesem Abschnitt nur an seinem Ende noch mit den berufsbildenden Schulen befasse. 123 Die Koalitionsvereinbarung habe ich im Kapitel G 2 behandelt.
178 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
Man nimmt folgende Entwicklung an: Tabelle 19 Schuljahr
Schülerzahl
2008/2009
178.336
2015/2016
184.990
2020/2021
180.990
Quelle: Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt 2008.
Spezielle Aufmerksamkeit verdient die Aussage, dass es dem Kultusministerium um „eine regional differenzierte Schulnetzplanung“ gehe, „um insbesondere der spezifischen Situation in dünn besiedelten Gebieten und Regionen des Landes gerecht zu werden“. Die Schulform Sekundarschule – ich erinnere an ihre zentrale Funktion in der Schullandschaft des Landes – wird sodann in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. Es heißt in dem Schreiben, die „Annahme einer Stabilisierung auf dem derzeitigen Niveau ist demnach zulässig“, wobei vom Regelfall der Mindestjahrgangsstärke von 40 Schülerinnen und Schülern ausgegangen wird. Es folgt eine Textpassage, die es verdient, wegen der grundsätzlichen Aussage im Zusammenhang zitiert zu werden: „Die Landkreise, die schon gegenwärtig und insbesondere mit Blick auf das Prognosejahr 2020 eine geringe Einwohnerdichte haben (weniger als 75 EW/km) haben auch eine deutlich unterdurchschnittliche Versorgung mit weiterführenden Schulen. Unabhängig davon werden in allen Regionen des Landes die Schulwegzeiten in einem zumutbaren Rahmen eingehalten. Das Kriterium der zumutbaren Schulwegzeit allein ist daher nicht ausreichend. Auch in den dünn besiedelten Landesteilen sind alternative Standorte von Sekundarschulen noch innerhalb einer Zeit von 60 Minuten erreichbar, was am Netz der Gymnasialstandorte klar nachweisbar ist.“
Es ist also bei den weiterführenden Schulen von 60 Minuten als dem Maximalwert einer noch zumutbaren Schulwegzeit auszugehen. Zu beachten ist aber das generelle Zugeständnis, dass die „erforderliche schulische Mindestgröße regional differenziert“, an die Bevöl-
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 179
kerungsdichte geknüpft, bewertet werden könne. Es werden dann die Landkreise Altmarkkreis Salzwedel, Stendal, Jerichower Land und Wittenberg sowie zahlreiche Gemeinden und Verwaltungsgemeinschaften anderer Landkreise ausdrücklich genannt. Für die Sekundarschulen gibt es bereits den Hinweis in Vorwegnahme der SEPl-VO, dass diese an Einzelstandorten – wohlgemerkt nur dort – fortgeführt werden können, „solange mit mindestens 20 Schülerinnen und Schülern eine Eingangsklasse gebildet werden kann“. Und über die Gymnasien in den betroffenen Regionen wird ausgesagt, dass ihr Netz schon so angespannt sei, „dass der Verlust weiterer Standorte, zumindest für die Versorgung der Jahrgänge der Sekundarstufe I, nicht mehr vertretbar ist“. Auch für die gymnasiale Oberstufe sollen Ausnahmen greifen. Die an sich vorgeschriebene Mindestjahrgangsstärke von 50 Schülerinnen und Schülern könne unterschritten werden, wenn es gelinge, in Ermangelung einer „möglichen alternativen Lösung“ unter Inkaufnahme von „schulfachlichen Einschränkungen“ , die allerdings „im Vorfeld konzeptionell untersetzt und gegenüber den Betroffenen angemessen kommuniziert und von ihnen letztendlich auch gewollt“ sein müssten, „Einzelfalllösungen“ zu finden. Für die nicht genannten Regionen folgen sehr detaillierte Ausführungen, die hier nicht referiert werden sollen – mit einer Ausnahme. Für das zukünftige Netz der Grundschulen dürfte der folgende Satz von zentraler Bedeutung sein: „Entstehende Einheitsgemeinden können Grundschulen an bisherigen Einzelstandorten fortführen, solange mindestens 40 Schüler die Schule besuchen und andernfalls Schulwegzeiten unzumutbar (länger als 30 min) würden“. Inwieweit hier auf dem Altar der heftig umstrittenen und vielerorts abgelehnten Gebietsreform geopfert worden ist, muss Spekulation bleiben. Sicher ist jedoch, dass die „eigene“ Grundschule für viele Gemeinden eine wichtige Triebfeder gewesen ist, sich dem Zusammenschluss zu Einheitsgemeinden zu widersetzen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hier behandelten „Grundsätze der zukünftigen Schulentwicklungsplanung“ sich durch
180 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
eine besondere Maxime auszeichnen. Sie lautet: Regionale Unterschiede sind ein wichtiges Kriterium und entsprechend zu beachten. Das drückt der folgende Satz unmissverständlich aus: „Eine angemessene Reaktion auf regionale Unterschiede ist in der Sache sinnvoll, schulfachlich begründet und wirtschaftlich vertretbar“. Diese „Grundsätze“ bildeten die Folie für die SEPl-VO des Jahres 2008. Hinzu kam ein einstimmiger(!) Beschluss des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft und Kultur vom 17. November 2007 zu den Eckwerten der künftigen Schulentwicklungsplanung, den sich die Landesregierung zu eigen machte. Alle Bemühungen um ein flächendeckendes Netz von öffentlichen Schulen, die von allen Schülern unter möglichst gleichen, mindestens aber zumutbaren Bedingungen zu erreichen sein sollen, orientieren sich daran, die Einzugsbereiche klein und damit die Schulwege kurz zu halten. Ein Vergleich der Bundesländer zeigt, dass die „Schülerdichte“ in Sachsen-Anhalt nur noch halb so groß ist wie in ähnlich strukturierten westdeutschen Flächenländern. Schon allein deshalb können die dortigen Schulgrößen kein Vorbild für die Ausweisung und die Definition von Schulstandorten in Sachsen-Anhalt sein, da sonst die Einzugsbereiche doppelt so groß sein würden wie in diesen Ländern.124 Die SEPl-VO stellt im §1 („Grundsatz“) allgemeine Leitlinien auf und lässt diese unmittelbar in eine Generalklausel münden, die nur vor dem aufgezeigten Hintergrund, dem Bedingungsgefüge, ihre Berechtigung erfährt: „Auf der Grundlage dieser Verordnung sind die planerischen Grundlagen für ein regional ausgeglichenes und leistungsfähiges Schulangebot zu schaffen, das gleichzeitig als langfristiger Rahmen für den Schulbau geeignet ist. In bestimmten Fällen ist die Führung von Schulen mit entsprechenden Mindestgrößen möglich.“
Der letzte Satz an dieser prominenten Stelle der Verordnung drückt aus, wie stark nur noch mit „Mindestgrößen“ operiert wird, wenn es 124 vgl. Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage des Abg. Matthias Höhn (DIE LINKE), Drucksache 5/2387 v. 22.01.2010,
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 181
gilt, ein reißfestes Netz von Schulstandorten nicht nur zu etablieren, sondern auch zur Sicherung einer lebensfähigen Schullandschaft funktionstüchtig zu halten. § 2 der SEPl-VO definiert die „Schulstandorte“. Für die Grundschulen sind es „Gemeinden, Einheitsgemeinden und Verbandsgemeinden“. Es darf unterstellt werden, dass die angestrebten Ergebnisse der Gemeindegebietsreform als gegeben vorausgesetzt werden. Für die Sekundarstufe I sollen als Schulstandorte die Grund-, Mittel- und Oberzentren, für die Sekundarstufe II die „Grundzentren mit Teilfunktion Mittelzentrum“ sowie die Mittel- und Oberzentren fungieren. Eine generelle Klausel besagt, dass Ausnahmen zulässig seien, „wenn und solange auch unter Berücksichtigung benachbarter Träger der Schulentwicklungsplanung 1. die notwendigen Investitionen außer Verhältnis zur schulisch sachgerechten Nutzung vorhandener Schulgebäude stehen, 2. die regionale Ausgewogenheit des Schulangebotes nicht gewährleistet werden kann und 3. die Schulwege sich unzumutbar gestalten.“ Das Angebot, sich der Ausnahmenklausel zu bedienen, ist also beträchtlich und tendiert in Richtung eines Zustandes, der die Ausnahmen zur Regel macht. Im § 3 werden die „Anforderungen an Schulbezirke und Schuleinzugsbereiche“ sehr detailliert aufgeführt.125 Für die Grundschulen und die Sekundarschulen wird bestimmt, dass das „Bildungsangebot regional ausgeglichen“ zu sein habe und „vollständig vorgehalten“ werde. Die „Zumutbarkeit der Schulwegzeiten“, das wird erneut, sozusagen als ständiger Merkposten, in Erinnerung gerufen, sei zu berücksichtigen. 125 Die getroffene Unterscheidung von „Schulbezirken“ für Grundschulen und Sekundarschulen einerseits und von „Schuleinzugsbereichen“ für „andere allgemeinbildende Schulen“ andererseits orientiert sich am § 41 des Schulgesetzes. Dort sind die beiden Begriffe inhaltlich von einander abgehoben.
182 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
Für die anderen allgemeinbildenden Schulen seien die Schuleinzugsbereiche so zu gestalten, dass „ein langfristig gesichertes und möglichst vollständiges Bildungsangebot“ vorgehalten werden könne. Es folgen dann im § 4 detailreiche Ausführungen zu den Größen der Schulen, u.a. mit präzisen Angaben der Richtwerte zur Festlegung der Einzügigkeit. Die folgende Tabelle soll eine Übersicht ermöglichen. Tabelle 20 Schulform Grundschule Sekundarschule Schuljahrgänge 5-10 Gesamtschulen Schuljahrgänge 5-10 Gesamtschulen Schuljahrgänge 11-12 oder 13 Gymnasien Schuljahrgänge 5-12
Richtwert zur Festlegung der Einzügigkeit
Zügigkeitsrichtwert
15
Mindestens 1
20
Mindestens 2
25
Mindestens 4
25
Mindestens 2
25
Mindestens 3
Die bereits bei der Behandlung der „Grundsätze“ genannten Landkreise und Verwaltungsgemeinschaften werden besonders erwähnt. Dort sollen Sekundarschulen fortgeführt werden können, „solange die Mindestschülerzahl von 120 nicht unterschritten wird. Es gilt der Gebietsstand vom 01. Juli 2007“. Dahinter verbirgt sich, wenn man sich des Richtwertes zur Festlegung der Einzügigkeit erinnert, die Zulässigkeit einzügiger Sekundarschulen in beträchtlicher Größenordnung. Für die Schulform Gymnasium werden als Konsequenz der Gegebenheiten des Landes „Ausnahmen zum Führen eines zweizügigen Gymnasiums“ gestattet. Diese seien zulässig, wenn am Schulstandort kein weiteres Gymnasium vorhanden ist. Dabei solle die Mindestzahl der Jahrgangsstärken jeweils 50 betragen.126 126 Dass auch davon noch Ausnahmen gewährt werden, sei hier nur erwähnt.
Schulnetz und Schulentwicklungsplanung 183
An Mehrfachstandorten könne eines der Gymnasien zweizügig geführt werden. Die Auflage für die gymnasiale Oberstufe gilt dann entsprechend. Zusammenfassend kann für das allgemeinbildende Schulwesen in Würdigung der SEPl-VO registriert werden, dass das Land SachsenAnhalt, abgesehen von den großen Städten, von einer Schullandschaft geprägt sein wird, in der einzügige Grundschulen, ein- und zweizügige Sekundarschulen sowie zwei- und dreizügige Gymnasien den Regelfall darstellen werden, auch wenn sie ihr Fortbestehen in großer Zahl lediglich Ausnahmetatbeständen verdanken. Den berufsbildenden Schulen seien in diesem Kapitel noch einige Überlegungen zusätzlich zu dem gewidmet, was bereits in dem ihnen reservierten Abschnitt ausgeführt worden ist. Auf sie kommt nämlich sehr bald ein besonderes Problem zu. Zur Zeit gibt es 33 öffentliche berufsbildende Schulen, z. T. mit Außenstellen am Schulstandort. Angesichts der zu erwartenden demographischen Daten wird sich deren Schülerzahl bereits bis zum Schuljahr 2011/2012 nahezu halbieren und dann bis 2020/2021 auf diesem niedrigen Niveau verharren. Die Entwicklung seit Mitte der neunziger Jahre und die zu erwartenden Zahlen werden durch die folgende Tabelle deutlich: Tabelle 21 Schuljahr
Schüler insgesamt
1997/1998
85.117
2007/2008
69.667
2008/2009
62.984
2009/2010
55.891
2011/2012
44.677
2020/2021
44.558
Quelle: Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt 2008.
184 Schulnetz und Schulentwicklungsplanung
Um diesen Daten Rechnung zu tragen, wird die Mindestschulgröße von derzeit 700 Vollzeitschülern im Einklang mir §4 Abs. 9 der SEPlVO auf zukünftig 600 abgesenkt werden. Dabei wird für die Berechnung vorgegeben, dass 2,5 Schüler der Berufsschule einem Vollzeitschüler entsprechen. Diese Absenkung der Mindestschülerzahl ist, abgesehen von der unmittelbaren Auswirkung des demographischen Faktors, auch deshalb erforderlich, weil angesichts zurückgehender Jahrgangsstärken der in die berufliche Erstausbildung eintretenden Jugendlichen und einer anzunehmenden Stabilisierung der Situation am Markt betrieblicher Ausbildungsplätze von einem Nachlassen der Nachfrage nach vollzeitschulischen Bildungsangeboten auszugehen sein wird. In der Folge werden sich die Größe der vorhandenen berufsbildenden Schulen und der Umfang der kapazitiven Ansprüche an die Lehrkörper deutlich reduzieren. Daher ist zum einen die Verringerung der Mindestschulgröße notwendig, zum anderen die Öffnung der berufsbildenden Schulen zu Qualitätszentren der Fort- und Weiterbildung angezeigt, um die bisherigen, inzwischen überwiegend hervorragend ausgebauten Standorte der beruflichen Bildung weitestgehend zu erhalten. Die soeben behandelte Verordnung zur Schulentwicklungsplanung vom 22. September 2008 schreibt abschließend vor, dass „jeweils zum 31. Dezember“ eine Fortschreibung zu erfolgen habe, „wenn die Bestandsfähigkeit einzelner Schulen nicht mehr gegeben ist“. Deutlicher kann die Sorge nicht artikuliert werden, die das Land Sachsen-Anhalt im Blick auf die Funktionsfähigkeit seines Schulnetzes unter Quantitäts- und Qualitätsaspekten umtreibt. Diesen Blick wach zu halten und auf sich verändernde Parameter zügig und sachgerecht zu reagieren, wird die Herausforderung schlechthin für die fruchtbringende Gestaltung der Schullandschaft Sachsen-Anhalts darstellen.
G. Vom bildungspolitischen Antagonismus zur Großen Koalition Oder: Sind die Antagonisten nun Protagonisten in einem Boot?
Aus der Sicht der Bildungspolitik hatte die Verabredung einer Großen Koalition für Sachsen-Anhalt etwas Pikantes: Die bildungspolitischen Antagonisten, seit 1990 auf Konfrontationskurs, trauten sich plötzlich wechselseitig zu, kompromissfähig zu sein und dem Schulwesen des Landes eine Perspektive zu eröffnen, die gleichzeitig den Positionen beider Partner Rechnung tragen könne. Skeptiker unkten, das komme der Quadratur des Kreises gleich. Immerhin ist eines gewiss: Die Bildungspolitik war und ist das Spannungsfeld schlechthin der Koalition aus CDU und SPD – sieht man von dem Sonderfall der Gemeindegebietsreform einmal ab, auf den hier nicht eingegangen werden kann. Bemerkenswert ist, dass am Anfang der Zusammenarbeit eine Art Burgfrieden vereinbart wurde, der den von der CDU/FDP-Regierung geschaffenen und von der SPD zuvor heftig kritisierten status quo zunächst sichert, nachdem im Wahlkampf noch deutliche Abgrenzungsstrategien verfolgt worden waren.
1. Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006 Schaut man etwas genauer in die Wahlprogramme von CDU und SPD, fällt auf, dass beide Parteien auch auf dem Felde der Bildungspolitik vorsichtig formulierten und offenbar demoskopischen Daten, die eine Große Koalition nicht nur als wahrscheinlich, sondern gegebenenfalls sogar als die einzige Konstellation, die mit einer sicheren parlamentarischen Mehrheit rechnen konnte, ankündigten, Beachtung schenkten. Es sollten Brücken zum Ufer des (bildungs-)politischen Gegners gebaut werden können, die in das Bild der (Schul)
186 Vom bildungspolitischen Antagonismus zur Großen Koalition
landschaft passten, schon vorhandene Brücken sollten auf jeden Fall in ihrer Tragfähigkeit nicht unnötig gefährdet werden. Die Ergebnisse des Wahlabends bestätigten die demoskopischen Erhebungen insoweit, als tatsächlich nur eine Große Koalition die parlamentarische Mehrheit garantieren konnte, die notwendig war, um Sachsen-Anhalt mittel- und langfristig die Stabilität zu sichern, die dieses Bundesland voranbringen konnte. Eine unter diesem Aspekt durchgeführte Analyse der Wahlprogramme von CDU und SPD127 fördert tatsächlich auch gemeinsame Positionen und Berührungspunkte zutage. Unübersehbar bleiben allerdings die fundamentalen Festlegungen, die sich auf die basalen Strukturfragen beziehen, konträr und letzten Endes unvereinbar. Wenn denn schon eine Große Koalition nicht auszuschließen war, sollte wenigstens aus klaren Markierungen des je eigenen Standpunkts in die Koalitionsverhandlungen gegangen werden. Diese Einschätzung drängt sich immerhin auf. Anders ausgedrückt, dürfte folgende Überlegung beide Parteien geleitet haben: Ich will Dich nicht über Gebühr verletzen, denn wir könnten miteinander Politik zu gestalten haben, aber Du musst wissen, welches meine bildungspolitischen Setzungen, meine Wegweiser und meine die Schullandschaft prägenden Grundmuster sind, die mich vor allem auch dann leiten werden, wenn ich in einer anderen Konstellation mein Konzept ohne Abstriche zugunsten eines letzten Endes unbefriedigenden Kompromisses verwirklichen kann. Und wenn Du das weißt, wirst Du wohl eher geneigt sein, Dich auf Kompromisse einzulassen.
Politisches Agieren ist eben nicht nur Strategie und Programm, sondern häufig auch Psychologie! Die CDU betonte in der Langfassung ihres Wahlprogramms, die dem „Regierungsprogramm 2006–2011“, das auf dem 15. Außerordentlichen Parteitag am 25.02.2006 in Barleben beschlossen wurde, zugrunde lag, dass sich „die Bildungspolitik zu einem Reformschwer127 Die anderen Parteien müssen hier unberücksichtigt bleiben, da sie für die bildungspolitischen Weichenstellungen nicht unmittelbar wirksam werden konnten.
Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006 187
punkt in Sachsen-Anhalt entwickelt“ habe. Das diente natürlich in erster Linie der Abgrenzung gegenüber der SPD-Schulpolitik, wie das folgende Zitat unmissverständlich belegt: „Die CDU hat mit den Gesetzen zur Grundschule mit verlässlichen Öffnungszeiten, zur Reform der gymnasialen Oberstufe, zur Reform der Sekundarschule sowie zur inhaltlichen und qualitativen Ausgestaltung des Unterrichts maßgebliche und zukunftweisende Veränderungen des Schulwesens in SachsenAnhalt eingeleitet und gestaltet.“ Der Hinweis auf die Rückkehr zu einer Politik, die „das gegliederte Schulwesen durch geeignete Maßnahmen wieder eingeführt“ habe, ist nur die logisch abgeleitete Konsequenz. Es hieß dann, dass „an der Sekundarschule ...eigenständige Bildungsgänge für Hauptschüler und für Realschüler eingeführt“ worden seien. Das war eine etwas kühne Behauptung, denn im Schulgesetz von 2005 hatte die CDU/FDP-Koalition den Begriff „Bildungsgänge“ vermieden und zu der weicheren Formel der Abschlussbezogenheit Zuflucht genommen. Außerdem hatten die „kombinierten Klassen“, wie bereits dargestellt worden ist, das Bild der Sekundarschulen zu prägen begonnen und ihre bildungsgangspezifische Gliederung weiter beeinträchtigt – den demographischen Umständen Rechnung tragend, fürwahr, aber eben doch klare Bildungsganggrenzen aufhebend oder einebnend. Die „Umwandlung von Sonderschulen in Förderschulen“ wurde genauso herausgestellt wie die „Reform der gymnasialen Oberstufe bei gleichzeitiger Einführung des Abiturs nach 12 Schuljahren.“ Dass es sich dabei in Wirklichkeit um die Rückkehr zu den Anfangsjahren dieses Bundeslandes handelte, als in Anknüpfung an die DDR-Tradition die Gymnasien im Regelfall das Abitur nach 12 Schuljahren vergaben, blieb unerwähnt. Besonders betont wurde hingegen die „Rückkehr zum Unterricht im Klassenverband“ in der Oberstufe mit ihren „6 Kernfächern“.128 Das geschah mit Selbstbewusstsein: „Diese 128 Dass damit die aus der Oberstufenverordnung bekannten 3 Kernfächer und 3 Profilfächer, die durchgängig zu belegen und in die Gesamtqualifikation einzubringen sind, gemeint waren, sei hier um der begrifflichen Genauigkeit willen erwähnt.
188 Vom bildungspolitischen Antagonismus zur Großen Koalition
Veränderung hebt Sachsen-Anhalt aus der Reihe anderer Bundesländer, die diese Schritte erst noch vollziehen müssen, heraus und weist ihm eine zukunftweisende Rolle in der Diskussion um eine qualitative Verbesserung unseres Schulwesens zu.“ Die CDU erteilte, von einem eindeutigen Bekenntnis zum „gegliederten Schulwesen, das aufbauend auf der Grundschule Sekundarschule und Gymnasium sowie ein differenziertes Angebot an berufsbildenden Schulen umfasst“, getragen, „ideologisch verklärten Debatten über Schulstrukturen“ eine eindeutige Absage. Mit dem Satz „Wir brauchen keine Einheits- oder Gemeinschaftsschule“ war die strikte Abgrenzung gegenüber PDS und SPD kategorisch ausgesprochen, aber, wie schon angedeutet, sehr moderat im Ton, die eigene Position herausstreichend, die inhaltsbezogen in die Formulierung „Höchstmaß an individueller Förderung und an Chancengerechtigkeit“ gekleidet wurde. Die CDU war sich der Schlüsselfrage einer nachhaltigen Bildungspolitik für die kommenden Jahre stets bewusst: Wie kann das gegliederte Schulwesen mit dem Rückgang der Schülerzahlen in Einklang gebracht und gesichert werden? Ihre Antwort war gleichermaßen eindeutig wie gestaltungsoffen: „Diese Schulformen (des gegliederten Schulwesens) wollen wir unter allen Umständen in der Fläche halten. Die Schulentwicklungsplanung soll unter diesem Aspekt angepasst werden.“ Das war (Selbst-)Bindung und Gestaltungsauftrag an die eigene Adresse zugleich. Diese Aufgabe zu meistern, sollte für die CDU auch in der Großen Koalition Maßstab und Messlatte sein. In Übereinstimmung mit der bundesweiten Entwicklung „nach PISA“ wurde von der CDU auch betont, dass „der an Bildungsstandards orientierte Unterricht in allen Schulformen“ ein Qualitätsmerkmal ihrer Bildungspolitik geworden sei. Das war ebenso richtig, wie es inzwischen allgemein anerkanntes Instrument geworden ist, die im internationalen Vergleich tatsächlich oder vermeintlich festgestellten Defizite mittels Bildungsstandards zu reduzieren oder gar völlig zu beheben. Aus der Fülle der Aussagen zu den Schulformen und zu allgemeinen Kriterien einer guten, belastbaren Schulpolitik seien einige besonders herausgefiltert:
Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006 189
Im Einklang mit erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen, die u.a. auf Befunden von Vergleichsstudien basieren, wurde das Ziel formuliert, die Zusammenarbeit der Grundschulen „mit den vorschulischen Kindereinrichtungen in pädagogischen Fragen (zu) intensivieren“. Im Zusammenhang damit muss die Absicht gesehen werden, einerseits die „flexible Eingangsphase“, Resultat der Bildungspolitik der CDU/FDP-Koalition mit besonderem Rang, wie ich bereits herausgearbeitet habe, weiterzuentwickeln und „die Schullaufbahnempfehlungen auf der Grundlage bundesweiter Bildungsstandards (zu) qualifizieren.“ „Flexible Eingangsphase“ und „Schullaufbahnempfehlungen“ sind in der Tat zwei Schlüsselbegriffe der CDU-Bildungspolitik im Hinblick auf die Grundschule als Ort, wo „die Grundlagen für erfolgreiches Weiterlernen in allen weiterführenden Schulen“ gelegt werden sollen. Was die Sekundarschulen betrifft, machte sich die CDU Sorgen angesichts tatsächlicher oder vermeintlicher „Akzeptanzprobleme“ als Folge vieler struktureller Veränderungen, bereits erfolgter und erkennbar bevorstehender „Schulschließungen“ und hoher „Übergangsquoten zum bzw. vom Gymnasium“. Das Postulat war eindeutig: „Die Sekundarschule ist die Regelschule für den größten Teil der Kinder in den Schuljahrgängen 5 bis 10“. Man spürt, dass die CDU sich die zentrale Aufgabe zuschrieb, die Sekundarschule inhaltlich und in ihrer Präsenz in der Fläche zu konsolidieren. Kennzeichnungen der Sekundarschule als „ortsnahe weiterführende Schule“ sowie als Schulform mit „Leistungsorientierung für alle Schüler“ und dem gleichzeitigen Auftrag, durch ein „fest installiertes Förder- und Unterstützungssystem“ den „Anteil der Schüler ohne Schulabschluss ... deutlich (zu) senken“, legen dafür genauso Zeugnis ab wie das mindestens angedeutete Versprechen, „ an den feststehenden Sekundarschulstandorten attraktive Lehr- und Lernbedingungen durch ein Schulsanierungsprogramm (zu) schaffen“. Dass sich hier die Frage aufdrängt, mit welcher Verbindlichkeit auf welchen Zeitpunkt bezogen von „feststehenden“ Sekundarschulstandorten auszugehen sei, ist allerdings mehr als nur eine Marginalie. Für das Gymnasium wurde sein Charakter „als Leistungsschule“ dezidiert herausgestellt und in Verbindung gebracht mit „einer Schul-
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zeit von 12 Jahren“, die an die „Voraussetzung“ gebunden wurde, dass ein „ dem Aspekt der Qualität verpflichteter Unterricht“ stattfinde, die „in den unteren Klassen besonders (zu) fördern“ sei. Eine das tradierte Verständnis des Gymnasiums als der zur Hochschulreife führenden Schulform berührende, es geradezu aufweichende Formulierung springt förmlich ins Auge: Die CDU wolle „die Voraussetzungen für den Erwerb des Realschulabschlusses am Gymnasium qualifizieren“. Dieser Abschlusserwerb wurde traditionell als ein en passant erfolgender verstanden. Er erhielt nun im CDU-Wahlprogramm einen besonderen Stellenwert. Es wurde, ob beabsichtigt oder lediglich hingenommen, sei dahingestellt, damit zusätzlich für das Gymnasium, das auch ohne den Sekundarbereich II und sein Spezifikum Abitur gedacht werden könne, geworben. Dass das verständlich und auch ehrenvoll ist angesichts einer sehr hohen Quote des Übergangs von der Grundschule auf das Gymnasium, liegt auf der Hand, auch wenn nicht übersehen werden darf, dass der Systematik des gegliederten Schulwesens damit nicht unbedingt Reverenz erwiesen wurde. Denkbar ist auch, dass die Perspektive, in Zukunft mit Blick auf das gymnasiale Schulnetz an einer wachsenden Zahl von Gymnasien auf die gymnasiale Oberstufe verzichten zu müssen, die Feder geführt hat. Beim Blick auf den Komplex der sonderpädagogischen Förderung fällt auf, dass die CDU dem „individuellen Förderbedarf“ nicht nur an den Förderschulen, sondern „nach Möglichkeit integrativ“ entsprechen will, so dass auch eine allgemein bildende Schule Förderort „als Bestandteil eines regionalen Förderzentrums“ – in Fortsetzung eines bereits eingeleiteten Umstellungsprozesses – sein könne. Die „bedarfsgerechte Entwicklung von Förderzentren in den Regionen“ mit „qualifiziertem Personal für die Förderschwerpunkte“ und „angemessener Ausstattung“ wurde deshalb im Wahlprogramm in Aussicht gestellt. Die berufsbildenden Schulen sollten in die Lage versetzt werden, den Herausforderungen als Resultat einer „dynamische(n) Entwick-
Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006 191
lung der Berufs- und Arbeitswelt“ gewachsen zu sein. Dazu bedürfe es neben „einer größeren Selbständigkeit“ mehr „eigener Gestaltungsspielräume“. Diese Parallelstellung überrascht etwas, ist doch das eine ohne das andere gar nicht vorstellbar. Dennoch bleibt als übergeordnete Zielsetzung zu registrieren, dass die berufsbildenden Schulen (BBS), ausgestattet mit einem „eigenen Sach- und Personalmittelbudget“, den Anforderungen der Wirtschaft „als Dienstleistungseinrichtung in ihrer Region“ gerecht werden und ihre „Bildungsangebote an der individuellen und regionalen Nachfrage orientieren“. Neben der grundsätzlichen Positionierung der CDU zugunsten des dualen Systems der Berufsausbildung fällt auf, dass der „demographischen Entwicklung, die in Kürze auch die Berufsschulen erreicht“, besonderes Augenmerk geschenkt wurde. Das Wahlprogramm sah vor, dass „unterschiedliche Berufe eines Berufsfeldes in der Grundstufe gemeinsam beschult werden, um noch längere Schulwege zu vermeiden und um die Vielseitigkeit der Angebote nicht einzuschränken“. Dieses löbliche Unterfangen sollte begleitet werden, sozusagen als Auffanglinie für Situationen, die nicht anders gemeistert werden können, durch verstärkte Bildung von Fachklassen, „um ein ausgewogenes Angebot an den BBS im Lande vorzuhalten“. Es schimmert allenthalben die Sorge durch, dass die demographische Entwicklung die BBSen als nachhaltig verlässlichen ortsnahen Partner im dualen Ausbildungssystem in Gefahr bringen könne bzw. werde. Gleichzeitig wird die Rolle der BBSen hervorgehoben, bei einem Ausbildungsmarkt, der kein ausgewogenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage aufweist, eine ausgleichende (Ersatz-)Funktion zu übernehmen und durch „vollzeitschulische Bildungsgänge“, ergänzt um das Absolvieren zusätzlicher Praxisteile, „zu Abschlüssen durch Kammerprüfungen“ zu führen. In einem freiheitlichen demokratischen Staatswesen sind Schulen in freier Trägerschaft als Ergänzung und Herausforderung öffentlicher, in der Regel von den Kommunen getragener Schulen eine Selbstverständlichkeit – und in vielen Fällen ein Schmuckstück. Über ihre Anfänge gleich nach der „Wende“ und über ihre Entwicklung habe ich in dem einschlägigen Abschnitt würdigende Ausführungen gemacht.
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Die CDU hatte von Anfang an ein positives Verhältnis zu den Schulen in freier Trägerschaft. Es verwundert deshalb nicht, dass sie im Wahlprogramm als „eine wesentliche Ergänzung zum staatlichen Schulwesen“ besonders genannt sind. Ihre Entwicklung soll „in allen Schulformen“ Unterstützung erfahren, die Finanzierung – gemeint ist wohl in erster Linie die Finanzhilfe – soll sich, was das Land betrifft, „an den Ausgaben der öffentlichen Schulen orientieren“. Die CDU ließ in ihrem Wahlprogramm, dem allgemeinen Trend folgend, die Gelegenheit nicht aus, ein „bedarfsgerechtes Ganztagschulangebot“ zu verheißen, sich auf „gesellschaftliche Entwicklungen“ beziehend, die – ob tatsächlich oder nur vermeintlich, sei hier dahingestellt – nach Schulen verlangten, „die ihre Angebote ganztägig unterbreiten und Familien in ihren sozialen und erzieherischen Aufgaben in besonderem Maße unterstützen“. Dabei fällt auf, dass die CDU ohne Wenn und Aber zusagte, sie werde „die erforderlichen Mittel für die Mehrkosten von Ganztagsschulen bereitstellen“. Angesichts der Haushaltsprobleme des Landes war das eine mutige und zugleich Optionen einengende Aussage, die sich auch aus der Konkurrenz erklärt, die seitens anderer Parteien, nicht zuletzt der SPD, aufgebaut worden war. Der allgemeinen Erwartungshaltung, die mit den „gesellschaftlichen Entwicklungen“ nur andeutungsweise erfasst wurde, konnte und kann sich keine Partei entziehen. Das Maß an Bindung, das durch die derart ausgelösten finanziellen Zusagen konstituiert worden ist, wird sich erst noch als vertretbar erweisen müssen. Der Altar, auf dem hier geopfert werden musste, ist auf jeden Fall groß. Neben den vielen Ankündigungen und Festlegungen, die auf die Entwicklung der Schulstrukturen bezogen waren, wandte sich die CDU in ihrem Wahlprogramm auch inhaltlichen Aspekten des Schulwesens zu. Das betraf vor allem den „Kern schulischer Arbeit: Qualität des Unterrichts“ in enger Verbindung mit „dem Wert und der Vergleichbarkeit schulischer Abschlüsse“, also mit den Resultaten dieser schulischen Arbeit im Blick auf ihre Funktion, für eine wie auch immer im einzel-
Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006 193
nen angelegte berufsbezogene Ausbildung zu qualifizieren. Die in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion im Vordergrund stehenden Begriffe „Qualitätskriterien“, „Professionalität“ und „Rechenschaftslegung“ tauchten deshalb wie selbstverständlich im programmatischen Kontext auf, in herausgestellter Abhängigkeit von „motivierte(n) und qualifizierte(n)“ Lehrkräften, die wiederum das Ergebnis hochwertiger universitärer Ausbildung sowie individueller und staatlicher „Maßnahmen berufsbegleitender Fort- und Weiterbildung“ seien. Die nicht nur, aber besonders Sachsen-Anhalt belastende Perspektive, dass die Unterrichtsversorgung in „Mangelfächern“ einer Kraftanstrengung bedarf, wurde von der CDU erkannt. Die damit einhergehende, von rückläufigen Schülerzahlen mitbestimmte allgemeine rechnerische Überversorgung mit Lehrerstunden blieb ausgeklammert. Das Dilemma dürfte gegenwärtig gewesen sein, es offen im Wahlprogramm anzusprechen, wurde wohl als inopportun eingeschätzt. Bemerkenswert ist das Bekenntnis zur „Werteerziehung“ einerseits und zur „Förderung von hochbegabten Kindern“ andererseits. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, war der Aufbau eines demokratischen Schulwesens in den neuen Ländern von Anfang an verbunden mit einer klaren Hinwendung zur Werteerziehung. Das äußerte sich zum einen in der Aufnahme des Faches Religionslehre in den Fächerkanon, zum anderen in der Einführung des Faches Ethik als Alternative dazu. Die CDU erinnerte sich ihrer Weichenstellung von 1990/1991 und versprach, „Religionsunterricht beziehungsweise Ethikunterricht als verbindliche Fächer an allen Schulformen durch(zu)setzen“. Das berufsbildende Schulwesen war dezidiert inbegriffen! Auf den Engpass im Bereich der Lehrkräfte wurde Bezug genommen: Man werde „die dafür notwendigen Lehrkräfte gezielt auswählen und gut qualifizieren“. Diese Selbstverpflichtung war nicht nur Botschaft, sondern auch Herausforderung, die zu meistern keine leichte Aufgabe sein sollte. Seit einigen Jahren ist bundesweit die Wiederentdeckung der Hochbegabung als förderungswürdiger Aktivposten einer zukunftsorien-
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tierten Gesellschaft zu beobachten. Deshalb erstaunt es nicht, dass die CDU hochbegabten Kindern „besondere Lern- und Förderangebote“ versprach. Es sei überhaupt „eine Beratungsmöglichkeit für Eltern hochbegabter Kinder“ aufzubauen, „Grundlagen für eine einheitliche Diagnostizierung“ seien zu schaffen, ein „Netzwerk von Schulen..., die über Kompetenzen zur Förderung hochbegabter Kinder verfügen“, sei anzustreben. Es ist zu erkennen, dass auf einen zusätzlichen, alles in allem neuen Schwerpunkt der Bildungspolitik aufmerksam gemacht wurde, nachdem Hochbegabung über einen längeren Zeitraum ein Nischendasein hatte fristen müssen. Auch hier wird PISA in besonderer Weise Grüße hinterlassen haben! Die SPD befand sich vor der Landtagswahl des Jahres 2006 in mehrfacher Hinsicht in einer durchaus vertrackten „Zwischenlage“. Einerseits war sie seit 2002 wieder Oppositionspartei, als die sie die Regierungskoalition aus CDU und FDP angreifen konnte. Andererseits lag die Zeitspanne von immerhin acht Jahren ihrer Verantwortung für die Bildungspolitik des Landes und ihre messbaren oder auch nur gefühlten Ergebnisse eben gerade mal vier Jahre zurück, so dass sich, zum Beispiel beim Bezug auf die PISA-Befunde, Schuld nicht überzeugend ausschließlich oder auch nur überwiegend vor der Fraktionstür der CDU abladen ließ. Zu bedenken hatte die SPD außerdem, dass gerade PISA II dem Lande Sachsen-Anhalt bei mehreren Messgrößen bescheinigte, zu den deutschen Aufsteigern zu gehören und sich bis in das gehobene Mittelfeld emporgearbeitet zu haben. Mit dem Pfund konnte die CDU eher wuchern als die SPD, wenn das denn überhaupt beabsichtigt war, lagen doch der internationalen Vergleichsstudie PISA II Erhebungen zugrunde, die zwar eine lang-, mindestens aber mittelfristige Entwicklung voraussetzten und eben auch an die Regierungszeit der SPD anknüpften – aber sie maßen Lernstände zu einem Zeitpunkt, der von der CDU/FDP-Bildungspolitik bereits geprägt war und den diese Koalition als Beweis richtiger Weichenstellungen reklamieren konnte. Dass sie das auch nur sehr zurückhaltend tat, dürfte damit zusammenhängen, dass derartige Testergebnisse nur selten ohne einen längeren Vorlauf zustande kommen. Aber das Bild des Aufsteigers war vielen vor Augen!
Die Wahlprogramme von CDU und SPD 2006 195
Und die Zwischenlage wurde schließlich auch geschaffen durch die ganz normale Erwartung, aus der Oppositionsrolle wieder in die der Regierungspartei, vielleicht sogar der führenden, wechseln zu können und dabei den Koalitionspartner CDU, nicht gerade die Wunschlösung, aber eine denk- und vertretbare Konstellation, an der Seite zu haben. Unausgesprochen dürfte bei der SPD stets gefragt worden sein: „Wie greife ich die CDU an, ohne mich selbst zu verletzen und ohne ihr Wunden zuzufügen, die nicht heilen können?“. Es fällt auf, dass das eine oder andere Eigentor dann doch geschossen wurde. So heißt es im Wahlprogramm der SPD: „Im Ergebnis der Pisa-Studien liegt Sachsen-Anhalt sowohl im internationalen als auch im nationalen Vergleich auf hinteren Positionen“. Der Hinweis der SPD auf die „hinteren Positionen“ war durch PISA II längst nicht mehr gerechtfertigt. Einmal abgesehen davon, dass die SPD pauschal von den „PisaStudien“ sprach und die für Sachsen-Anhalt ermutigenden und würdigenden Erkenntnisse von PISA II meinte vernachlässigen zu können – mit dem Hinweis auf den nationalen Vergleich erinnerte sie außerdem aufmerksame Leser ihres Wahlprogramms daran, wer denn national in den Spitzenpositionen rangierte, nämlich mit Bayern, Baden-Württemberg und auch Sachsen sowie Thüringen ausschließlich und seit längerer Zeit von der Union und ihrer Bildungspolitik geprägte Bundesländer mit Schulsystemen und -inhalten, die der CDU Sachsen-Anhalts immer auch Orientierung gaben und nicht selten konkret als Vorbild dienten, auch in bezug auf die Gestaltung von Lehrplänen und Stundentafeln. Und mindestens was PISA I betraf, durfte die SPD sich nicht aus der Pflicht entlassen, eigene Versäumnisse und falsche Weichenstellungen insbesondere im Sekundarbereich I einzuräumen. Es kam der SPD erkennbar auf eine grundsätzliche Aussage an: „Unser Schulsystem“, das sie 1994 vorgefunden hatte und das durch ein völlig anderes zu ersetzen immer ihr eigentliches Ziel gewesen sein mag, das sie aber in den Zeiten ihrer Regierungsverantwortung nur,
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wenn auch erheblich, zu modifizieren gewagt hatte, dieses Schulsystem also sei „weder gut noch gerecht“, es könne „dem Anspruch, die jungen Menschen vernünftig auf das Leben vorzubereiten, nicht gerecht“ werden. Das war die Brücke zu der Forderung, etwas völlig Neues, etwas ganz und gar Anderes, das bisherige System Sprengendes zu etablieren. In einem eigenartigen, fast kuriosen Widerspruch zu dieser Fundamentalposition steht ein Satz im Wahlprogramm der SPD, der es verdient, vollständig zitiert zu werden: „Dabei sehen wir von übereilten Strukturveränderungen an unseren Schulen ab“. Das musste die Frage auslösen, welche Funktion diese Zurückhaltung hatte, denn immerhin, so der doch wohl zulässige Umkehrschluss, wurde dann Schlechtes und Ungerechtes fortgesetzt. Über relativ plausible Vermutungen wird man als Außenstehender nicht hinauskommen. Sie anzustellen, dürfte gleichwohl nicht unbillig sein. Radikale Strukturveränderungen, das wird ein Leitgedanke der SPD gewesen sein, waren in der betroffenen Bevölkerung nach dem fundamentalen Umbau des Bildungswesens 1990/1991 und dem keineswegs geringen Hin und Her in den folgenden Jahren mit einigen Zumutungen für alle, die auf Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, und Kontinuität setzten, alles andere als willkommen. Die SPD brachte das selbst auf folgende Weise zum Ausdruck: „Ohne eine breite gesellschaftliche Akzeptanz sind unserer Überzeugung nach grundlegende Reformen des Bildungssystems in Sachsen-Anhalt nicht mehr möglich“. Das Ziel „einer grundlegenden Bildungsreform“ sollte stets vor Augen stehen, aber es bleibt natürlich die Ungewissheit, auf welchem Wege mit welchem Partner unter welchen KMK-Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt es zu erreichen sei. Deshalb war im Wahlprogramm von „Eckpfeiler(n)“ die Rede, die „öffentlich diskutiert und vorbereitet werden“ sollten. Bis zur „Umsetzung einer großen Bildungsreform“ seien „innerhalb des bestehenden Systems“, mit dem die SPD also vorübergehend, aber eben nur vorübergehend ihren Frieden schließen wollte, über eine „innere Schulreform .... Verbesserungen
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beim Lernen“ zu ermöglichen. Die drei „Zielstellungen“ waren dann so allgemein gehalten, dass sie auch in das CDU-Papier hätten Eingang finden können: – „Grundsätzliche Verbesserung des Wissens- und Kompetenzerwerbs bei Schülerinnen und Schülern“ – „ Reduzierung des Anteils von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss“ – „Erhöhung des Anteils der Studienberechtigten“. Mit dem klar formulierten Ziel einer „großen Bildungsreform“ und in kluger Abschätzung dessen, was der Bevölkerung bildungspolitisch nicht sofort zuzumuten war, setzte die SPD auf die Einrichtung eines Bildungskonvents, um „die Betroffenen schon in die Planung“ mit einzubeziehen und auf diese Weise das Akzeptanzproblem zu entschärfen. Im Konvent sollten „alle relevanten Vorschläge zur Verbesserung unseres Schulsystems öffentlich diskutiert“ werden, seine Arbeit sollte „Empfehlungen bzw. Vorschläge“ zeitigen, die dem Landtag „für notwendige Bildungsreformen“ zu unterbreiten sein würden. Das ließ zunächst völliges Offensein der SPD für Vorschläge vermuten. Von dieser Hoffnung gilt es aber umgehend Abschied zu nehmen, denn die SPD präsentierte, sozusagen nur einen Atemzug später, einen eigenen „Vorschlag“, der eine so radikale Veränderung des Schulsystems Sachsen-Anhalts zum Ziel hat, dass er als Maßstab für „alle relevanten Vorschläge“, zu denen eingeladen worden war, zu begreifen sein wird. Das Offensein, war zu vermuten, dürfte sich als ein relatives und taktisches erweisen, immer in Beziehung gesetzt zu der eigenen Position, die als „Vorschlag“, verbal meisterhaft garniert, offeriert wurde und in Wirklichkeit einer Setzung gleichkam, deren UmSetzung vorerst nur der geeigneten Bedingungen ermangelte, auf die aber unverkennbar gesetzt wurde. Von einer vertikalen Gliederung im Sekundarbereich I kann überhaupt keine Rede mehr sein. Das SPD-Modell, als „Allgemein bildende Oberschule (AOS)“ für alle angepriesen, ist gekennzeichnet
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durch seine Monostruktur, mit der organisatorischen Einbindung des Primarbereichs und der sich ergebenden Konsequenz: „Alle Schülerinnen und Schüler lernen bis mindestens zum Ende der 8. Klasse gemeinsam an der AOS“. Der Sekundarbereich I als Ort, wo die weiterführenden Schulen mit differenzierten Bildungsgängen und unterschiedlichen Zielsetzungen ihre Funktionen zu erfüllen haben, sollte im Orkus der Bildungsgeschichte verschwinden. Die Verwendung des Suffixes -stufe ist Programm, nicht nur Ordnungselement im Sinne eines konsequenten horizontalen Aufbaus! Nach der 8. Klasse sollen die Schülerinnen und Schüler, „die das Abitur anstreben“, an Oberstufenzentren wechseln. Als solche sind die „bestandsfähigen Gymnasien, die zukünftig nur noch die Klassenstufen 9 – 12 führen“, vorgesehen. Der Begriff Gymnasium ist, wie das mitgelieferte Modell des SPD-Wahlprogramms ausweist, ganz offensichtlich zu entsorgen, wohl wegen des Verdachts, es sei als Etikett einer schichtenspezifischen, Segregation fördernden Schulform kontaminiert und nicht länger präsentierbar. So ganz beiläufig wird aber in das Programm eingeschleust, was von der SPD längere Zeit bekämpft worden war – das Abitur nach 12 Schuljahren, als sei es auch für die SPD das Selbstverständlichste auf der Welt. Der Besuch der Oberstufenzentren soll, davon abgeleitet, vier Jahre dauern, aufgeteilt in eine zweijährige Eingangsstufe und eine zweijährige Kursstufe. Interessant ist, dass die Graphik neben der Einführungsstufe eine ebenfalls zweijährige „Berufsorientierungsstufe“ ausweist, von der ein Übergang auf die Oberstufenzentren nicht mehr vorgesehen ist. Berufsorientierung und Abiturorientierung sollen also nach der achten Klasse parallel angelegt sein, ohne dezidiert angesprochene bzw. vorgehaltene Übergangsstellen. Die Frage, ob die Trennung nach der achten Klasse eine endgültige sein soll, ob also Bildungsgänge mit Segregationscharakter geplant sind, dürfte nicht ganz abwegig sein. Immerhin: der SPD ist an der Stelle ein Überraschungscoup gelungen, von dem man nicht wissen kann, ob er gewollt war oder sich nur als Produkt einer Gedankenlosigkeit eingeschlichen hat.
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Ebenfalls eher beiläufig kündigte die SPD an, dass nicht alle Gymnasien mit einer Umwandlung in Oberstufenzentren würden rechnen können, sondern nur „die bestandsfähigen“. Wie Bestandsfähigkeit definiert sein sollte, blieb ungeklärt. Allem Anschein nach soll das Bestandteil der „Schlüsselaufgabe“ sein: „Schaffung eines stabilen Schulnetzes“. Es verdient Anerkennung, dass die SPD „Standortfragen jetzt und dann verlässlich für mindestens 10 Jahre geklärt“ haben wollte. Speziell im ländlichen Raum sollten auch „kleinere Sekundarschulen, die die Mindestschülerzahl und Mindestzügigkeit unterschreiten“, fortbestehen können, damit eine „Vertrauensgrundlage, die für eine inhaltliche und strukturelle Reform unserer Schullandschaft notwendig ist“, gegeben sei. Die „Schlüsselaufgabe“ wurde dadurch zwar zum Mittel eines Zweckes degradiert, es bleibt aber richtig, die Standortfragen als ein Kernproblem zu begreifen, das so oder so gelöst werden muss. Die Berührungspunkte mit den Intentionen der CDU auf diesem Gebiet liegen zutage. Das gilt auch für das Schulsanierungsprogramm und für die Entlassung der Schulen in ein höheres Maß der Eigenverantwortung, das bei der SPD als „Erweiterung der Schulautonomie“ auf einen etwas problematischen Begriff gebracht worden ist, aber inhaltlich weitgehend identisch sein dürfte mit Vorstellungen der CDU, was „weitgehende Personalhoheit“, „weitgehende Budgetfreiheit“ und „Erschließung zusätzlicher...Ressourcen“ anbelangt.
2. Die Koalitionsvereinbarung Die Parteien des demokratischen Spektrums verstehen sich grundsätzlich als untereinander koalitionsfähig. Wie die Praxis gezeigt hat, kommen Koalitionen auch dann zustande, wenn die plötzlich koalierenden Parteien über einen längeren Zeitraum aus einem antagonistischen Verhältnis heraus die politischen Intentionen und das davon bestimmte konkrete Agieren in Regierungs- oder Oppositionsfunktion des jeweiligen Kontrahenten, häufig „aus Prinzip“, öffentlich kri-
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tisierten, als Irrweg bezeichneten oder gar als Verhängnis. Attribute wie ungerecht, unsozial, diskriminierend, privilegierend waren dann immer schnell bei der Hand. Die im Frühjahr 2006 in Sachsen-Anhalt von CDU und SPD gebildete Koalition hat genau diesen Hintergrund. Die aus den Landtagswahlen am 26. März 2006 sich ergebende Konstellation ließ angesichts der Mandatszahlen ( CDU: 40, SPD: 24, Die Linke: 26, FDP: 7) rechnerisch eine Koalition aus SPD und PDS zu, aber mit einem so geringen Vorsprung, dass ihre Instabilität mit ihrer Vereinbarung programmiert gewesen wäre. Dass die SPD als der kleinere Koalitionspartner den Ministerpräsidenten hätte stellen wollen, wäre ein zusätzliches Handicap gewesen, weil die PDS es inhaltlich hätte nutzen können – um es vorsichtig zu formulieren. Es kann hier nicht darum gehen, die Beweggründe zu eruieren, die die SPD von einer förmlichen Koalition mit der PDS (nach den nicht besonders erfreulichen Erfahrungen mit einer Duldung der SPD-Minderheitsregierung durch die PDS von 1998 bis 2002) abgehalten haben könnten. Ein wesentlicher Faktor dürfte die erst wenige Monate zuvor gebildete Große Koalition in Berlin gewesen sein, die es zu dem Zeitpunkt auf jeden Fall zu stützen, keineswegs zu gefährden galt. Ein zweiter Faktor wird die desolate Haushaltslage des Landes gewesen sein, die zu Konsolidierungsmaßnahmen zwang, die nur von einer breiten parlamentarischen Mehrheit mit einer soliden Verankerung in der Bevölkerung geschultert werden konnten – und können! Bildungspolitisch hätten SPD und PDS gewiss relativ schnell einen gemeinsamen Nenner finden können. Die von der PDS geforderte Einheitsschule war, aufs Ganze gesehen, eher eine Variante der AOS, wie sie die SPD in ihrem Programm angekündigt hatte, als ein Gegenmodell, wie es das von der CDU vertretene gegliederte Schulwesen darstellte. SPD und PDS hatten Gesamtschulen im bildungspolitischen Gepäck, die sie nur nicht so nannten, wahrscheinlich auch aus der Erwägung heraus, dass der Begriff weithin negativ besetzt war und nicht als innovativer Ansatz werbewirksam zur Geltung gebracht werden konnte.
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Aber die Nähe – um die Vokabel Gemeinsamkeit zu vermeiden – auf dem Felde der Bildungspolitik reichte der SPD offenbar nicht aus, eine darauf gegründete Koalition als generell belastbar und perspektivisch als wohlbegründet und bei Wahlen präsentierbar erscheinen zu lassen. Die SPD wird das so auch antizipiert haben, als sie, wie bereits im einzelnen erläutert, sofortigen Eingriffen in die vorhandenen Schulstrukturen eine Absage erteilte und auf einen Bildungskonvent setzte, der, das war ihre Erwartungshaltung, ihr Modell, nämlich die AOS, legitimieren sollte, das dann bei weniger Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen aussichtsreich erschien. Die verbleibende Alternative war für die SPD, wenn sie denn wieder Regierungspartei sein wollte, eine Koalition mit der CDU – die übrigens keine Alternative dazu hatte, will man von der Bildung einer letzten Endes nicht vertretbaren Minderheitsregierung absehen. Die CDU, auf eine Koalition mit der SPD mehr oder weniger zwingend verwiesen, hatte denn auch in den Koalitionsgesprächen manche Kröte zu schlucken, die an dem Verhandlungstisch als Koalitionskost serviert wurde. Das betrifft zum Beispiel die Gemeindegebietsreform, die von der SPD gefordert und forciert wurde. Diese Kröte hat sich inzwischen immer häufiger als kaum verdaubar erwiesen. Das betrifft viel weniger, als ursprünglich vermutet, ist aber für uns hier von besonderem Interesse, die Bildungspolitik. Was nämlich zur Quadratur des Kreises zu werden drohte, erwies sich in den Verhandlungen zwar als ein inhaltlicher und verbaler Balanceakt beider Partner über einer ziemlich tiefen Schlucht, wurde dennoch zu Vereinbarungen geführt, die erwarten ließen, dass sie die Legislaturperiode über halten würden. Dem Do-ut-des-Prinzip wurde in einem Maße Genüge getan, das es verbietet, davon zu sprechen, der eine Koalitionär habe zu Lasten des anderen deutlich die Oberhand gewonnen. Über den Koalitionstisch wurde auf dem Gebiet der Bildungspolitik wohl keiner gezogen. An zu großen Kröten im eigenen Hals muss auch keiner der Partner ersticken. Die Koalitionsvereinbarung vom 26. April 2006, die von den jeweils befassten Parteigremien mit breiter Mehrheit gebilligt wurde,
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lässt bereits optisch erkennen, dass die Bildungspolitik einen, wenn nicht überhaupt den Schwerpunkt bildete. Unter den zahlreichen Zielsetzungen und Aufgabenbeschreibungen seien hier die wichtigsten vorgestellt: „In der kommenden Legislaturperiode wird es daher keine grundlegenden Strukturveränderungen im Schulwesen geben“. Zum einen entsprach das dem, was die SPD in ihrem Wahlprogramm bereits angekündigt hatte: Kontinuität und Sicherheit sollten „nach den vielfältigen Strukturveränderungen der letzten Jahre und den durch die dramatischen Rückgänge der Schülerzahlen notwendigen Eingriffen in das Schulnetz“ die Bildungspolitik in ein ruhiges Fahrwasser führen und inhaltlichen, unterrichtlichen Aspekten Vorfahrt geben. Die CDU konnte das als, wenngleich limitierte, Bestätigung des strukturellen status quo verbuchen, den sie zusammen mit der FDP herbeigeführt hatte. Ein „Bildungskonvent“ wurde vereinbart, der „ergebnisoffen unter anderem über die Fragen der Chancengerechtigkeit in der Bildung, über Schulqualität und Schulstruktur sowie über die Fortentwicklung der Eigenständigkeit allgemeinbildender und berufsbildender Schulen beraten“ solle. Die SPD konnte sich in dieser für sie zentralen Frage grundsätzlich durchsetzen, musste aber einige relativierende Formulierungen hinnehmen: Sie werde „ihr Bildungskonzept der AOS (Allgemeinbildende Oberschule) in diesem Konvent ergebnisoffen zur Diskussion stellen“, „die Ergebnisse und Empfehlungen“ würden dem Landtag „zur weiteren Beratung vorgelegt“. Einen ersten Schritt zur Verwirklichung ihres Konzepts glaubte sie wohl mit dem Zusatz zu erzielen, dass „die Ergebnisse des Bildungskonvents ... im Modellversuch erprobt“ werden könnten. Die im Zusammenhang mit dem Rückgang der Schülerzahlen sich ergebenden Schulstandortentscheidungen erhielten einen hohen Rangplatz. Die Koalitionspartner einigten sich auf eine Linie, die zu beachten beiden nicht schwer fallen sollte. In den Mittelpunkt ihrer Schulentwicklungsplanung stellten sie das Ziel, das bis 2009 entstehende Schulnetz dauerhaft zu erhalten. Es sollte geknüpft wer-
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den durch Maßnahmen im Zuge der Umsetzung der mittelfristigen Schulentwicklungspläne 2004/05 bis 2008/09, und zwar „wie beschlossen“. Ein gewiss aufmerksam registriertes Versprechen, dessen Bindungswirkung mit (wahl-)politischer Relevanz nicht unterschätzt werden sollte, verstärkte den prinzipiellen Ansatz: „Dies bedeutet, dass darüber hinaus möglichst keine weiteren Schulen geschlossen werden sollen“. Also wurde auch hier der von der Vorgängerregierung aus CDU und FDP geschaffene status quo zum Fundament der zukünftigen Entwicklung. Der Bezug auf „Möglichkeiten der verstärkten Kooperation zwischen verschiedenen Schulen und Schulformen im ländlichen Raum“ war naheliegend, weil er die Fortsetzung eines bereits angelegten Weges („Kombi-Klassen“) verhieß. Interessant ist eine Positionierung der Koalitionspartner in einem einzigen Satz, der so beiläufig daherkommt, dass seine Bedeutung übersehen werden könnte. Worüber CDU und SPD einst heftig gestritten hatten, das war urplötzlich keine Kontroverse mehr wert: „Das bestehende Lernmittelverfahren soll in bewährter Weise ... fortgeführt werden“. Der relativierende Hinweis auf die „Beachtung aktueller schulfachlicher Entwicklungen und eventueller Veränderungen der Rahmengesetzgebung“ hat nur kosmetische Funktion, denn er drückt etwas geradezu Selbstverständliches aus – allerdings mit verbaler Bedeutungsschwere! Die Haushaltslage des Landes dürfte hier die Feder geführt haben. Der gesamte Komplex „Unterrichtsversorgung und -gestaltung“ erfuhr viel Aufmerksamkeit. Das zentrale Problem des Landes, dass eine relativ große Zahl von Lehrkräften einer immer geringer werdenden Zahl von Schülern gegenüberstehen wird, also von einer wie auch immer zu erklärenden und zu verkraftenden rechnerischen Überversorgung mit erheblicher Belastung für den Haushalt auszugehen sein werde, war natürlich den Koalitionspartnern präsent. Es mit seiner ganzen Wucht vor aller, vor allem aber der Lehrkräfte Augen treten zu lassen, schien gleichwohl nicht opportun zu sein. Es wurde „weich“ formuliert! Der folgende Satz belegt das auf kaum zu
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überbietende Weise: „Die Koalitionspartner wollen den Lehrkräften im Land langfristig eine Beschäftigungsperspektive geben“. Auf welche rechtlichen und praktischen Schritte verwiesen sein sollte, blieb unausgesprochen. Eingeweihte mussten sich allerdings erinnert fühlen an das Absenken des Deputats mit analogem Absenken des Gehalts. Dieses Damoklesschwert hatte bereits seit einiger Zeit über den im Dienst befindlichen Lehrkräften gehangen, und es wurde geschliffen durch die unabdingbar vorzunehmende Öffnung eines „jährlichen Einstellungskorridors“, um Engpässe in der fach- und lehramtsspezifischen Unterrichtversorgung gering zu halten und der Altersstruktur der Lehrkörper eine mittel- und langfristig verantwortbare Basis zu sichern. Es hieß dann wenig spektakulär, aber mit erheblicher Aussagekraft: „Das bestehende Verbeamtungskonzept soll in Abstimmung mit dem bestehenden Arbeitsplatzsicherungstarifvertrag fortgeschrieben werden“. Dazu sind im Kapitel D („Personalentwicklung und Unterrichtsversorgung“) Ausführungen im Detail vorgelegt worden. Aus der Fülle der Verabredungen zu einzelnen bildungspolitischen Themen seien noch einige markante Sätze zitiert, die zeigen, dass der erzielte Konsens sich auch auf Bereiche erstreckt, die in der Vergangenheit konfliktträchtig gewesen waren und eine Einigung in der nun vorliegenden Weise nicht erwarten ließen, mindestens nicht in der Präzision der Aussage, die Zweifel am konsensualen politischen Handeln nicht begründet, vielmehr ausschließt: „In der kommenden Legislaturperiode sollen Religions- und Ethikunterricht ....an allen Schulformen durchgesetzt werden“. „Es wird angestrebt, dezentral besondere Lerngruppen von Hochbegabten zu bilden“. „Die Schullaufbahnempfehlungen sollen auf der Grundlage bundesweiter Bildungsstandards qualifiziert werden“. „Die flexible Eingangsphase der Grundschule soll weiterentwickelt (!) werden“. „Die Sekundarschule soll als eigenständiger (!) Bildungsgang und ortsnahe weiterführende Schule profiliert werden“. Dieser Satz dürfte den Übergang zum reinen Zwei-Säulen-Modell einleiten und die
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Fiktion eigenständiger Hauptschul- bzw. Realschulbildungsgänge im Nebel der Bildungsgeschichte verschwinden lassen. Die Beiläufigkeit des Satzes kann nicht verschleiern, dass er strukturverändernde Kraft mitführt. „In den Gymnasien werden die eingeleiteten (!) Reformen kontinuierlich umgesetzt und weiterentwickelt“. „Darüber hinaus soll das Angebot an Ganztagsschulen kontinuierlich ausgebaut werden“. „Die Koalition bekennt sich ausdrücklich (!) zu den Schulen in freier Trägerschaft“. „Mit dem Ziel der Bündelung von Kompetenzen sollen die Aufgaben der Evaluation und Inspektion, der Schul- und Curriculumentwicklung, der Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung, der Studienseminare und die Aufgaben des Landesprüfungsamtes für Lehrämter in einer Qualitätsagentur im Verbund mit dem LISA verknüpft werden“. Betrachtet man diese Liste, die durchaus ergänzt werden könnte, unter Berücksichtigung der heftigen parteipolitischen Auseinandersetzungen, die bis zur Bildung der Großen Koalition die Szene beherrschten und in der bereits zitierten Anklage der SPD gipfelten, das Schulwesen Sachsen-Anhalts sei weder gut noch gerecht, dann fällt auf, dass der Wille zu einer gedeihlichen und das Land Sachsen-Anhalt voranbringenden Zusammenarbeit artikuliert worden ist. Ganz so schlecht und ungerecht kann das nicht gewesen sein, was jetzt „weiterentwickelt“, „ausgebaut“ und „qualifiziert“ werden sollte. Inwieweit wahre Absichten lediglich hinter einem Schutzwall schöner Formulierungen versteckt worden sind, wird die Endphase der Koalitionsregierung aus CDU und SPD erweisen, mehr noch allerdings die Vorbereitung auf die turnusmäßig 2011 durchzuführende Landtagswahl. Die Schlüsselfunktion des Bildungskonvents wird dabei besonders zu beobachten sein. Der Arbeit des Bildungskonvents und seinen Ergebnissen ist deshalb ein besonderes Kapitel gewidmet. In der Koalitionsvereinbarung wurde der gesamte Komplex der „Berufsausbildung“ in dem Kapitel „Arbeit“ verankert. Dort finden wir auch die einschlägigen Festlegungen für das berufsbildende Schulwesen. Auf sie soll im folgenden noch ein Blick geworfen werden.
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Der Ausbildungsmarkt ist der Ort, wo die wirtschaftliche und damit auch die finanzielle Zukunft eines (Bundes)Landes gesichert wird. Gerade in einer Zeit, in der die Nachfrage nach qualifizierten Ausbildungsplätzen das Angebot noch übersteigt und vollzeitschulische Bildungsgänge als Ausgleich und in ihrer Ersatzfunktion bereitgestellt werden müssen, ist es notwendig, die Umkehrung der Verhältnisse zu antizipieren, die durch die demographische Entwicklung und die dadurch verstärkten Verwerfungen in der Altersstruktur der Arbeitnehmerschaft eintreten wird. Viele Standorte berufsbildender Schulen werden aufgegeben werden müssen. Das wies erst jüngst eine Studie nach, die für das ähnlich strukturierte Bundesland Thüringen in Auftrag gegeben worden war. Gleichzeitig wird es darum gehen, das Netz berufsbildender Schulen in der Vielfalt ihrer Angebote nicht zu grobmaschig werden zu lassen, weil sonst Umstände entstehen werden, die die Attraktivität bestimmter Ausbildungsgänge erheblich einschränken könnten. Das wäre angesichts des mittelfristig zu erwartenden Fachkräftemangels nicht zu verantworten.129 Die Koalitionspartner hatten sich in ihren Wahlprogrammen bereits auf diese Konstellation vorbereitet und konnten deshalb verhältnismäßig problemlos die gebotenen Antworten finden. Der zentrale Satz lautete deshalb: „Im berufsbildenden Bereich soll landesweit ein differenziertes Angebot in der dualen Ausbildung und in den vollzeitschulischen Bildungsgängen gewährleistet werden“. Er wurde ergänzt durch ein eindeutiges Bekenntnis: „Dabei hat die duale Ausbildung Vorrang gegenüber überbetrieblichen und außerbetrieblichen Angeboten“. Gleichwohl, und der konkreten Situation sinnvoll Rechnung tragend, wurde die vollzeitschulische Ausbildung in ihrer Komplementärfunktion besonders beachtet.
129 In der FAZ vom 14. Mai 2007 hieß es dazu plakativ: „Deutschland gehen die Fachkräfte aus.“
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Unter Bezugnahme auf das Berufsbildungsgesetz vereinbarten CDU und SPD dessen Umsetzung „im Hinblick auf Zulassung zur Kammerprüfung und Anerkennung vollzeitschulischer Abschlüsse“. Dem allgemeinen Trend folgend, betonten die Koalitionspartner ihren Willen, den berufsbildenden Schulen „größere Eigenständigkeit“ zu gewähren und „schrittweise ein eigenes Sach- und Personalkostenbudget zur Verfügung“ zu stellen. Auf die Zukunft bezogen, war eine andere Passage der Koalitionsvereinbarung jedoch von größerer Bedeutung: „Vor dem Hintergrund sinkender Schülerzahlen und einer sich verändernden Kreisstruktur sollen den Schulträgern Möglichkeiten eröffnet werden, das Aufgabenprofil der Berufsbildenden Schulen zu erweitern, um deren umfangreiche Ressourcen in Kooperation mit anderen Trägern der Aus-, Fort- und Weiterbildung und der Wirtschaft auch weiterhin effektiv zu nutzen. Die durch die Kultusministerkonferenz eröffneten Möglichkeiten eines doppelqualifizierenden Abschlusses (gleichzeitiger Erwerb einer Berufsqualifikation und der Studienzugangsberechtigung in bestimmten Berufen) sollen auf Umsetzbarkeit im Land Sachsen-Anhalt geprüft werden“.
Das Land Sachsen-Anhalt hat seit 1991 erhebliche Beträge in den Ausbau und in die Modernisierung des berufsbildenden Schulwesens investiert. Es klingt die völlig berechtigte Sorge durch, es könnten Kapazitäten geschaffen worden sein, die brachliegen würden, käme es nicht zu ihrer sinnvollen Verwendung gerade auch unter dem Aspekt der Qualitätsverbesserung der Ausbildung die Wirtschaft tragender und voranbringender Fachkräfte. Ein gemeinsamer Antrag von CDU und SPD, der im Landtag am 23. März 2007 abschließend beraten und beschlossen wurde, war der erste konkrete Ausdruck der im Koalitionspapier verankerten Intentionen. Es handelte sich um das „Konzept der Weiterentwicklung der berufsbildenden Schulen“, an dem die Landesregierung seit dem 23. März 2007 im Auftrage des Landtags zu arbeiten hatte. Dieses Konzept ist im Kapitel C 2 bereits im einzelnen vorgestellt worden.
H. Der Bildungskonvent − Alibiveranstaltung oder Stellwerk? Aufgabenstellung − Arbeit − Ertrag In seiner 13. Sitzung am 15. Dezember 2006 beschloss der Landtag von Sachsen-Anhalt, wie es die Koalitionsvereinbarung von CDU und SPD vorgesehen hatte, einen Bildungskonvent einzurichten: „Der Landtagspräsident beruft einen Bildungskonvent für SachsenAnhalt ein“. Es sei daran erinnert, dass das auf Drängen der SPD geschah. Die Aufnahme dieser SPD-Forderung in die Koalitionsvereinbarung war bis zuletzt strittig gewesen, da mit ihr die Hoffnung der Sozialdemokraten verbunden war, wesentliche Änderungen der gegebenen Schulstruktur, auf die sie sich vorläufig hatten einlassen müssen, von einem gegliederten Schulwesen hin zu einem „längeren gemeinsamen Lernen“ im Rahmen einer Einheitsschule durchsetzen zu können. Das hatte die SPD, wie gezeigt worden ist, mit Nachdruck in ihrem Landtagswahlkampf 2006 propagiert – ohne es dann in ihrem Regierungshandeln sofort wirksam werden lassen zu können. Die CDU war nämlich auf Grund ihrer traditionellen bildungspolitischen Programmatik strikt dagegen, erklärte sich aber schließlich bereit, den Konvent als Ausdruck eines Kompromisses ins Leben zu rufen, damit dann „ergebnisoffen“ – eine der in der Politik geläufig gewordenen Floskeln – gestritten werden könne. Der Landtagsbeschluss nennt den Auftrag ohne Umschweife: „Die Aufgabe des Bildungskonvents besteht darin, vor dem Hintergrund internationaler Vergleichsstudien sowie der demografischen Situation in Sachsen-Anhalt Empfehlungen für ein dauerhaft tragfähiges, international ausgerichtetes, chancengerechtes und leistungsfähiges allgemein bildendes und Berufsbildendes Schulsystem zu erarbeiten“.130 130 Landtagsdrucksache 5/13/389B v. 15.12.2006. Ich kann mir an dieser Stelle den Kommentar nicht verkneifen, dass die der Rechtschreibreform geschuldete Schreibweise „allgemein bildend“ in dem zitierten Satz im unmittelbaren Kontext mit „Berufsbildendes Schulsystem“ besonders kurios, um nicht zu sagen skurril wirkt. Aber: Zitat ist Zitat!
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Die erwarteten Empfehlungen – das war das Äußerste, worauf sich die CDU meinte einlassen zu dürfen – sollten auf vier „Schwerpunkte“ Bezug nehmen: – Innere Schulreform und Qualitätsentwicklung, – Verbesserung der Bildungschancen, – Schulentwicklungsplanung, – Schulstruktur. Außerdem war es dem Konvent freigestellt, weitere Themenschwerpunkte zur Behandlung aufzugreifen. Die den Antrag einbringenden und den Beschluss tragenden Fraktionen von CDU und SPD versprachen sich (oder beschworen) als Resultat der Arbeit des Bildungskonvents „eine breite gesellschaftliche Akzeptanz“, ohne die „grundlegende Reformen des Bildungssystems ... in Sachsen-Anhalt nicht mehr möglich“ seien. Es wurde also nicht primär danach gefragt, ob es die, noch dazu grundlegenden, Reformen überhaupt geben müsse. Das Erfordernis in der Sache, so scheint es, hatte hinter dem Erfordernis der Akzeptanz, wie auch immer diese ermittelt werden konnte, zurückzustehen. Für den politischen Prozess scheint das ein Kennzeichen geworden zu sein. Inwieweit er dadurch an Sinnhaftigkeit und Überzeugungskraft hat gewinnen können, soll hier aber nicht untersucht werden. Dem Konvent haben 37 ständige und stimmberechtigte Mitglieder angehört. Neben je zwei Abgeordneten der vier Landtagsfraktionen und zwei Vertretern der Landesregierung (zusammen also 10) sind das 27 Vertreter „verschiedener gesellschaftlicher Institutionen“ gewesen: – Je ein Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche (also 2), – je ein Vertreter der kommunalen Spitzenverbände (2), – je ein Vertreter der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Sachsen-Anhalt (AWSA) sowie der Industrie- und Handelskammern Magdeburg und Halle-Dessau und der Handwerkskammern Magdeburg und Halle (2),
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– je ein Vertreter der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, des Verbandes Bildung und Erziehung, des Philologenverbandes, des Sonderschulverbandes, des Berufsschullehreverbandes und des Verbandes deutscher Privatschulen (6), – je ein weiterer Praxisvertreter der Schulformen Grundschule, Sekundarschule, Gymnasium, Gesamtschule, Förderschule und Berufsbildende Schule (6), – je zwei Vertreter des Landeseltern- und des Landesschülerrates (2), – ein Vertreter der Landesrektorenkonferenz (1), – vier Sachverständige bzw. Vertreter aus der Wissenschaft, vorgeschlagen von den im Landtag vertretenen Fraktionen (4). Die so häufig bemühten „gesellschaftlich relevanten Gruppen“, sie sind auf kaum überbietbare Weise repräsentiert gewesen. Mit welchen bildungspolitischen Präferenzen sie teilnahmen, erschließt sich in den meisten Fällen von selbst. Ferner haben zwei – nicht stimmberechtigte – Moderatoren, vornehmlich die Sitzungen leitend, gewirkt, die weder Mitglieder des Landtages noch der Landesregierung bzw. deren Mitarbeiter sein durften und die vom Ausschuss für Bildung, Wissenschaft und Kultur vorzuschlagen waren: Der frühere Landtagspräsident Prof. Dr. Adolf Spotka, der der CDU zuzurechnen war, und Stefan Dorgerloh, der von der SPD benannt worden war. Außerdem hat der Konvent zu einzelnen Themen Experten hinzuziehen dürfen. Von diesem Recht hat er ausgiebig Gebrauch gemacht. Der Dualismus der beiden immerhin in einer Koalition verbundenen Parteien überlagerte von Anfang an die Beratungen im Konvent, denn es wurde umgehend deutlich, dass die SPD ihr im Wahlkampf propagiertes Modell der Einheitsschule AOS (Allgemein bildende Oberschule) durchsetzen wollte.131 Selbst in Geschäftsordnungsange131 Inwieweit hier eine terminologische Anlehnung, gewollt oder zufällig, an die POS als allgemeinbildende polytechnische Oberschule, Reminiszenzen weckend, erfolgte, bleibe als Frage stehen.
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legenheiten trat der Gegensatz zutage. Während die CDU für eine grundsätzliche Nicht-Öffentlichkeit der Sitzungen des Konvents und seiner Arbeitsgruppen plädierte, sprach sich die Mehrheit der Anwesenden in der konstituierenden Sitzung am 11. Juli 2007 für eine Praxis aus, die eng an die Geschäftsordnung des Landtages angelehnt war: Sitzungen des Konventsplenums sollten öffentlich, die der Arbeitsgruppen nichtöffentlich sein.132 Nach einer Reihe von Sitzungen, in denen die Geschäftsordnung kontrovers erörtert und dann beschlossen wurde, kam man schließlich überein, zunächst die umstrittenen Sachfragen in den Beratungen „außen vor“ zu lassen – dazu zählte auch und maßgeblich die zukünftige Schulstruktur – und die Themen in den Vordergrund zu stellen, bei denen die größten Gemeinsamkeiten wahrscheinlich waren. In den Arbeitsgruppen sollten Empfehlungen an den Gesamtkonvent verabschiedet werden, die mit einfacher Mehrheit getroffen werden konnten. Für die Verabschiedung durch den Gesamtkonvent wurde dagegen das Zwei-Drittel-Quorum festgelegt. Das war eine, wie sich angesichts der angedeuteten bildungspolitischen Dispositionen der Konventsmitglieder kalkulieren ließ, nicht zu unterschätzende, man könnte auch sagen nicht von einer Koalitionsseite dominierbare Hürde. Der politische Prozess ist eben nicht nur hehre Auseinandersetzung um sachgerechte, möglichst das Optimum darstellende Lösungen oder auch nur das Ringen um allseits vertretbare Kompromisse, sondern auch das Gerangel um Startvorteile und das Feilschen um Mechanismen, die, wenn schon nicht das eigene Ziel erreicht werden kann, dem politischen Gegner Schranken setzen sollen. Schließlich wartet im parlamentarischen System der nächste Wahltermin, für den man, um es etwas martialisch auszudrücken, gerüstet sein will, gewappnet, munitioniert und dergleichen mehr. Manchmal hat man das Gefühl, dass Gräben nicht zugeschüttet, sondern ausgehoben werden müssen, um auf die politischen Grabenkämpfe vorbereitet 132 Stenografischer Bericht über die 1. Sitzung des Bildungskonvents für das Land Sachsen-Anhalt am 11. Juli 2007, S. 17ff.
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zu sein, ohne die manche Akteure sich das politische Kräftespiel gar nicht mehr vorstellen können. Um die Arbeit des Konvents und seiner Arbeitsgruppen nicht ausufern zu lassen, wurden zunächst nur zwei Arbeitsgruppen gebildet, deren Mitglieder fast mit den Personen des Gesamtkonvents identisch waren. Dies war möglich geworden, weil nach der Geschäftsordnung jedes Mitglied des Konvents auch Mitglied einer Arbeitsgruppe sein konnte. Damit war ein Problem der effizienten Arbeitsorganisation entstanden, denn es konnte auch den Institutionen, die nur ein Mitglied im Konvent hatten, nicht vorenthalten werden, in den Arbeitsgruppen mitzuwirken.133 Man verständigte sich auf die Bildung der Arbeitsgruppen „Schulentwicklungsplanung“ und „Verbesserung der Bildungschancen“, die je einmal im Monat zu Sitzungen zusammentraten. Das Konventsplenum seinerseits sollte in unregelmäßigen Abständen von mehreren Monaten einberufen werden. Es ist unschwer zu erkennen, welche zusätzliche zeitliche Belastung für nicht wenige der Konventsmitglieder mit dieser Zeitstruktur verbunden war. Aufgabe der Arbeitsgruppen war es, sogenannte Handlungsempfehlungen zu formulieren, die als Grundlage der Beratungen und der Beschlussfassungen im Gesamtkonvent kurz vor Abschluss seiner Arbeit dienen sollten. Der Landtag hatte am 15. Dezember 2006 mit der Einrichtung des Bildungskonvents einen klaren Zeitrahmen vorgegeben: „Die Arbeit des Bildungskonvents soll im I. Quartal 2007 aufgenommen und nach zwei Jahren beendet werden. Bei Bedarf kann die Arbeit des Konvents um maximal ein Jahr verlängert werden“. Demnach war davon auszugehen, dass der Bildungskonvent spätestens zum 31. März 2010 seine Arbeit beenden und seine Ergebnisse vorlegen werde. Dieses Datum wurde denn auch neben anderen Aspekten zur Vorgabe für die Fertigstellung des Manuskripts dieses 133 Stenografischer Bericht über die 2. Sitzung des Bildungskonvents für das Land Sachsen-Anhalt am 7. September 2007, S. 18.
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Buches. Zwar hat der Bildungskonvent sich nicht ganz an die vom Landtag gesetzte Frist gehalten, aber mit seiner am 26. April 2010 durchgeführten Sitzung die eigentliche Arbeitsphase beendet. Nachdem die Arbeitsgruppe „Schulstruktur“ an diesem Tage ihre Handlungsempfehlung abgegeben hatte, tagte unmittelbar danach der Bildungskonvent und bestätigte diese Empfehlung ohne Abstriche. Doch zunächst der Reihe nach: In der Arbeitsgruppe „Verbesserung der Bildungschancen“ drehte sich die Diskussion um die „Frühkindliche Bildung und Erziehung“ und um das pädagogische Prinzip des „Förderns und Forderns“. Die dazu ausgearbeiteten Handlungsempfehlungen wurden bereits am 10. März 2008 bzw. am 08. September 2008 von der Arbeitsgruppe mit breiter Mehrheit beschlossen. Allerdings erhielt die Handlungsempfehlung zur frühkindlichen Bildung und Erziehung seitens der CDU keine Zustimmung, da in ihr Folgendes propagiert wurde: „Alle Kinder sollten – unabhängig von sozialer Herkunft und Beschäftigungsstatus ihrer Eltern – einen Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung in einer Kindertagesstätte erhalten ...Der Bildungskonvent empfiehlt, die Betreuung und Förderung von Kindern in integrativen Einrichtungen weiter auszubauen.“134 Die CDU begründete ihre ablehnende Haltung mit Verweis auf die angespannte Lage des Landeshaushalts und die ausufernden Kosten einer solchen Maßnahme. DIE LINKE und die SPD befürworteten, genauso wie übrigens auch die FDP, hingegen diese Position. Damit war ein Grundzug der Beratungen in allen Arbeitsgruppen offengelegt, der einerseits eine eher zögerliche und abwartende, eben konservative Haltung bei der CDU und ihr nahestehenden Mitgliedern und der andererseits forsches Argumentieren der LINKEN, der SPD und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ohne Rücksichtnahme auf den Landeshaushalt erkennen ließ. Die SPD-Frak134 Bildungskonvent für das Land Sachsen-Anhalt, Handlungsempfehlungen zur Frühkindlichen Bildung und Erziehung, S. 1.
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tionsvorsitzende Katrin Budde verteidigte ihre Haltung gegenüber ihrem Koalitionspartner u.a. mit dem Argument, dass im Konvent die Koalitionsdisziplin aufgehoben sei. Jeder könne die Positionen einnehmen, die er oder sie für richtig erachte. Dies führte nicht selten zu direkten Konfrontationen mit dem Kultusminister und dem Koalitionspartner CDU. Es bleibt an dieser Stelle anzumerken, dass die Frontlinien im Konvent – parteipolitisch betrachtet – im allgemeinen eher zwischen der SPD und der LINKEN auf der einen Seite und der CDU und der FDP auf der anderen Seite verliefen. Damit bot der Konvent ein Bild, welches im Parlament keine Entsprechung hatte. Für den politischen Prozess ist das immerhin eine aufschlussreiche Erkenntnisquelle. In der Arbeitsgruppe „Schulentwicklungsplanung“ wurden die beiden Handlungsempfehlungen „Berufsbildende Schulen“ und „Schulbau/Schulsanierung“ ohne größere Kontroversen gebilligt. Das hing auch oder sogar entscheidend damit zusammen, dass die Empfehlungen extrem allgemein, man könnte auch sagen relativ substanzlos gehalten waren. Im nachhinein wird sich mancher Beobachter, vielleicht sogar mancher Teilnehmer des Bildungskonvents fragen, ob es des beträchtlichen Aufwands bedurfte, Handlungen zu empfehlen, deren Notwendigkeit sowohl die Exekutive als auch die Legislative ohne die langwierigen Beratungen des Sondergremiums selbst erkannt hätten. Je ein Beispiel sei geliefert, um diese harsche Kritik zu rechtfertigen: „Der Bildungskonvent empfiehlt der Landesregierung: Die Sanierung bestandsfähiger und stark sanierungsbedürftiger Schulen in SachsenAnhalt sollte nach Vorlage förderfähiger Schulkonzepte und gemäß Prioritätenliste der Landkreise und kreisfreien Städte bis zum Ende der EU-Förderperiode 2013 abgeschlossen sein.“ Und: „Die Bandbreite für die Klassenbildung sollte in Abhängigkeit von der demografischen Entwicklung regelmäßig angepasst werden. Dies sollte auch für den Klassendurchschnitt gelten. Vor dem Hintergrund rückläufiger Schülerzahlen wird empfohlen, die Konzentration von Fachgymnasium, Fachschule, Fachoberschule und ggf. Berufsfachschule an ausgewählten gemeinsa-
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men Standorten voranzutreiben, um eine effiziente Klassenbildung und guten Unterricht in Kooperation zu ermöglichen.“
Dem Komplex „Lehrerbildung“ wurde eine Handlungsempfehlung gewidmet, die am 20. April 2009 bei nur zwei Gegenstimmen beschlossen wurde. Der umfangreiche Text befasst sich mit so allgemeinen Subthemen wie „Steigerung der Attraktivität des Lehrerberufs“, „Kompetenzorientierte Lehrerbildung“, „Stärkere Praxisorientierung der Ausbildung“, „Stärkung der Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften“, „Kooperation von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft“, „Fort- und Weiterbildung“ sowie „Schulleiterqualifizierung“. Bei wohlwollender Betrachtung kommt man zu dem Ergebnis, dass viele isolierte Selbstverständlichkeiten hier systematisch zusammengefasst worden sind. Dieses Verdienst sollte unbestritten bleiben, auch wenn manche Formulierungen nicht über die Qualität von Allgemeinplätzen hinausgekommen sind, wie die folgenden Beispiele belegen können: – „Die Voraussetzungen für eine Verbesserung der Fort- und Weiterbildungsangebote sind zuvorderst vom Kultusministerium zu schaffen.“ – „Fortbildungen sollen möglichst in der unterrichtsfreien Zeit angeboten werden.“ – „Der Bildungskonvent empfiehlt weiterhin, geeignete Lehrangebote der Hochschulen des Landes – auch außerhalb von Lehramtsstudiengängen – für die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften anzubieten.“ – „Der Bildungskonvent empfiehlt den Ausbau spezifischer berufsbegleitender Fortbildungsprogramme für interessierte und geeignete Lehrerinnen und Lehrer, die systematisch auf die Führung einer Schule nach modernsten Gesichtspunkten vorbereiten und sie für diese Tätigkeit optimal qualifizieren. Allerdings kann die Teilnahme an einem solchen Programm nicht das alleinige Kriterium für die Bestellung eines Schulleiters bzw. einer Schulleiterin sein.“ Wer wollte all dem wirklich widersprechen und, in die bildungspolitische Verantwortung gestellt, nicht entsprechend handeln? Aber so
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richtig und wichtig der letzte zitierte Satz ist, darf doch wohl gefragt werden, welchen Sinn es hat, dass „interessierte und geeignete“ Lehrkräfte „optimal“ qualifiziert worden sind und dann doch nicht zum Zuge kommen – aus welchen Gründen auch immer. Gewiss ist: Unterhalb des „Optimalen“ läuft heutzutage kaum noch etwas, deshalb kann es wohl auch sein, dass selbst das Optimale nicht ausreicht. Am Ende des Jahres 2008 wurde schließlich die Arbeitsgruppe „Schulstruktur“ ins Leben gerufen. Damit kam man sozusagen zur Sache, spät zwar, aber man kam! Es wurde schnell deutlich, dass hier die Bereitschaft der beiden „Lager“, Kompromisse einzugehen, am geringsten ausgeprägt war. Man einigte sich darauf, zunächst externe Gutachter in die Arbeitsgruppe einzuladen, um so ein abgerundetes Bild der beiden gegensätzlichen Grundpositionen zu erhalten. Die SPD lud einen Wissenschaftler ein, der das „längere gemeinsame Lernen“ unterstützte, während die CDU einen Wissenschaftler benannte, der ein vielfältig gegliedertes, plurales Schulwesen favorisierte. Darf man es einen eigenartigen Zufall nennen, dass beide Wissenschaftler an der Universität Lüneburg lehren? Es handelt sich um die Professoren Mathias von Saldern, der die SPD unterstützte, und Dieter Neumann, der der CDU zur Seite stand. Da erkennbar war, dass sich an den grundsätzlich unvereinbaren Positionen von CDU und SPD sowie ihrer jeweiligen „Gefolgschaft“ nichts werde ändern lassen, versuchte die CDU die Diskussion möglichst schnell „auf den Punkt“ und zu einer Entscheidung zu bringen. Das wurde jedoch sowohl von der SPD und der LINKEN als auch vom ihnen inhaltlich zugeneigten vorsitzenden Moderator Stefan Dorgerloh verhindert. Man wolle sich Zeit lassen, um alle Aspekte zu beleuchten. Diese Haltung wiederum rief den Argwohn der CDU hervor, die dahinter eine gewisse Ermattungsstrategie vermutete. Schließlich einigte man sich im Sommer 2009 auf eine erste Generalaussprache im Herbst 2009. Ihr sollte aber noch einmal ein umfassender Schlagabtausch folgen: Die SPD-Fraktion stellte im Oktober 2009 ihr (vorläufig?) abschließendes Modell der Allgemein bilden-
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den Oberschule (AOS) unter der anheimelnden, offensichtlich dem Prinzip der von Josef Kraus so bezeichneten „Wohlfühlpolitik“135 verpflichteten Überschrift „Länger gemeinsam lernen“ vor.136 Es sieht vor, alle Schüler (wohl mit Ausnahme derjenigen, die einen besonderen Förderbedarf haben) von der 1. bis zur 8. Klasse gemeinsam zu beschulen und erst danach eine Trennung eintreten zu lassen, nämlich zum Übergang auf das nun nur noch die Jahrgangsstufen 9–12 führende Gymnasium zum Zwecke des Erwerbs des Abiturs einerseits und zur Fortsetzung des Bildungswegs in der AOS, der für die Schuljahrgänge 9 und 10 das Etikett „Berufsorientierungsstufe“ aufgeklebt werden soll. Die AOS gliedert sich demnach in die Primarstufe (1. bis 4. Schuljahrgang) und in die Sekundarstufe (5. bis 10. Schuljahrgang „mit integrierter Berufsorientierungsstufe im 9. und 10. Schuljahrgang“). Bisher bestehende Grundschulen sollen also ihre Selbständigkeit verlieren und „den bisherigen Sekundarschulen und Gesamtschulen (!) im Rahmen der Schulentwicklungsplanung der Schulträger ... als Primarstufen organisatorisch und strukturell zugeordnet werden.“ Organisationsprobleme meinte die SPD mit leichter Hand meistern zu können: „Überall dort, wo das möglich ist, soll die Primarstufe am AOS-Standort der Sekundarstufe geführt werden. Wo dies nicht möglich ist, entwickeln sich stabile Kooperationsbeziehungen zwischen der AOS-Sekundarstufe und den räumlich getrennten Primarstufen. Dabei wird die weitgehende pädagogische und organisatorische Eigenständigkeit der Primarstufen gewährleistet. Die einzelnen Schulteile verbleiben im Regelfall am bisherigen Standort.“ Im Blick war hier offenkundig der Schulträger, der eine AOS mit einer Sekundarstufe 135 Josef Kraus, Ist die Bildung noch zu retten?, Herbig Verlag, München, 2009, S. 20. 136 SPD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt, Länger gemeinsam lernen in der AOS, Magdeburg im Oktober 2009. (Die sprachliche Gestaltung des Textes wurde unverändert übernommen. Das gilt auch für die folgenden Zitate. Die Verwendung nur männlicher Funktionsbezeichnungen fällt besonders ins Auge. Den bildungspolitisch anders gepolten Konkurrenten wäre das wohl bei passender Gelegenheit heftig um die Ohren geschlagen worden.)
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und einer Primarstufe führte. Für den komplizierteren Fall „der Zusammenarbeit von in der Regel mehreren Primarstufen mit einer Sekundarstufe in den künftigen Allgemeinbildenden (sic!) Oberschulen“ wurden zwei „grundlegende Modelle“ bereitgestellt: – „Integrationsmodell: Es wird eine gemeinsame Schulleitung bestellt, zu der neben dem Schulleiter und seinem Stellvertreter eigene Funktionsstellen (z. B. Pädagogischer Leiter einer eigenständigen Primarstufe/Primarstufenkoordinator) für jede eigenständige Primarstufe gehören. – Kooperationsmodell: Es besteht die Möglichkeit, dass Primarstufen weiterhin eigene Schulleitungen haben, die aber in verbindlicher Weise mit der Sekundarstufe ihrer AOS kooperieren (schulgesetzliche Regelung)“. Wie unausgegoren gerade das Kooperationsmodell ist, lässt sich an der terminologischen Widersprüchlichkeit zeigen: Wie kann eine „Primarstufe“ als Bestandteil „ihrer AOS“, also ohne selbst noch „Schule“ zu sein, eine „eigene Schulleitung“ haben? Die SPD erinnerte sich natürlich auch einiger Prachtstauden der Schullandschaft Sachsen-Anhalts, der Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten( vgl. Kapitel D 6), die sich der Vereinheitlichungsmanie nicht recht (und schon gar nicht billig) einfügen wollten. Für sie wurde denn auch ein Sonderfall konstruiert: „Allgemeinbildenden Oberschulen mit von der obersten Schulbehörde genehmigten inhaltlichen Schwerpunkten ( diese werden dann aufgeführt) sowie mit festgelegten Kapazitäten, landesweiten Einzugsbereichen, einer Eignungsfeststellung und Internatsanbindung werden in der Regel keine Primarstufen zugeordnet. Sie führen somit die Klassenstufen 5 bis 10 bzw. 5 bis 12“. An dieser Stelle durfte sich die CDU, die soeben zitierte Passage wörtlich nehmend, da es sich, abgesehen von zwei Sekundarschulen mit dem Schwerpunkt Sport, ausschließlich um Gymnasien handelt, fragen: Sollen diese Gymnasien, z.B. auch die in der Landesträgerschaft geführten renommierten Schulen Latina in Halle, Schulpforta bei Naumburg und Musikgymnasium in Wernigerode,
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nach SPD-Konzept zu Allgemeinbildenden Oberschulen umfirmiert werden? Bis zum sinnsichernden Ende schien da nicht gedacht worden zu sein. Wahrscheinlich nur „angedacht“, was schließlich heutzutage zu den bevorzugten Weisen des Denkens gehört. Auch die Schulen in freier Trägerschaft sind unter dem Aspekt der Einheitsschule ein Fremdkörper. Ihrer weitgehenden verfassungsrechtlichen Unantastbarkeit eingedenk, die auch die grundsätzliche Organisationshoheit einschließt, wurde weich, aber erkennbar zielführend argumentiert: „Schulen in freier Trägerschaft sollen unter Berücksichtigung ihrer Spezifika den Gedanken des längeren gemeinsamen Lernens nach der Primarstufe in ihren Konzepten abbilden. Dazu zählt auch die Möglichkeit der Erlangung aller Abschlüsse.“ Aus der Sicht der CDU hatte sich hier Wunschdenken artikuliert. Sie fragte (sich), ob man bei der SPD wirklich meinte, die hochgeschätzten Gymnasien in freier Trägerschaft würden die ihren Bildungsgang prägenden und sie für eine wachsende Klientel nun umso attraktiver machenden Schuljahrgänge 5 bis 8 mit dezidiert gymnasialer Inhaltlichkeit einem Einheitsschulkonzept opfern oder auch nur anpassen, dessen breite Akzeptanz nur vermutet werden könne und dessen behauptete Leistungsfähigkeit eher einer Illusion als empirisch gesicherten Erkenntnissen zuzuschreiben sein dürfte? Immerhin scheint durch, dass die SPD sehr wohl nicht frei von der Furcht war (und ist), die Schulen in freier Trägerschaft könnten die großen Nutznießer ihrer vom Beglückungsgedanken beseelten großen Schulstrukturreform sein. Zu den zu erwerbenden Abschlüssen heißt es im Modell: „Nach Ende des 10. Schuljahrgangs kann der Realschul- bzw. bei entsprechenden Leistungen der erweiterte Realschulabschluss erreicht werden. Weiterhin besteht die Möglichkeit nach Ende des 9. Schuljahrganges den Hauptschulabschluss zu erwerben.“ Wozu insbesondere der Erweiterte Realschulabschluss berechtigen soll, bleibt unerwähnt. Soll er (und wie?) den Übergang auf das Gymnasium ohne Wiederholung zum Beispiel des 10. Schuljahrgangs ermöglichen?
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Zur zukünftigen Arbeit der Gymnasien wird erklärt: „Die Gymnasien werden an den bisherigen Standorten fortgeführt, führen aber künftig nur noch die Klassenstufen 9 bis 12 (im Übergangszeitraum auslaufend die Klassenstufen 6 bis 8). Dabei wird die Anerkennung der Abschlüsse gesichert. Die Gymnasien kooperieren mit den Allgemeinbildenden (sic!) Oberschulen ihres Einzugsbereiches indem sie für Schülerinnen und Schüler des 5. bis 8. Schuljahrganges zusätzlich zu den Förderangeboten der AOS spezielle Kurse zur Förderung von Neigungen und Begabungen anbieten. Dafür erhalten die Gymnasien ein spezielles Stundendeputat.“ Kooperationsmodelle haben stets etwas Gewinnendes an sich. Sie lassen sich auch flott ankündigen. Wie in den dünn besiedelten Räumen, sagen wir der Altmark, die avisierte Kooperation konkret, man denke an die Schülertransport(kosten)frage und an die Kompatibilität der Stundenpläne, organisiert werden kann, bleibt unausgesprochen. Ebenso rätselhaft verhält es sich mit der sinnvollen Nutzung bestehender, zum Teil mit erheblichem Kostenaufwand erst jüngst geschaffener oder sanierter Gebäudebestände der bisher für acht zwei-, drei- oder gar mehrzügige Schuljahrgänge ausgelegten Gymnasien. Es verwundert deshalb nicht, dass seitens der kommunalen Spitzenverbände an dieser Stelle gravierende Einwände artikuliert wurden. Für den Städte- und Gemeindebund mahnte Bernd Kregel: „Eine erneute Schulreform riecht sehr nach Kostenträchtigkeit.“ Noch bemerkenswerter sind allerdings die Warnungen, die von ranghohen SPD-Kommunalpolitikern ausgesprochen wurden. Die Magdeburger Volksstimme zitierte den dortigen Oberbürgermeister Lutz Trümper mit den Worten: „Es darf nicht passieren, dass Schulen halb leerstehen – zumal wir die Gebäude derzeit für viel Geld sanieren.“ Er wurde von seiner Hallenser Amtskollegin Dagmar Szabados unterstützt: „Wir können die Gebäude nicht nach einer Ideologie ausrichten“.137 Dass sie den Mut hatte, den ideologischen Hintergrund der Schulreformbemühungen als solchen klar zu benennen, spricht besonders für sie. Sie fügte hinzu: „Mit dem Thema Schulreform sollten wir sehr, 137 Magdeburger Volksstimme vom 29.12.2009.
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sehr sensibel umgehen.“ Allerdings war die Resonanz der Bildungspolitiker der SPD-Fraktion negativ. Die Abgeordnete Rita Mittendorf, bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, ließ sich nicht beeindrucken und hielt an ihrem Konzept fest: „Wir stehen mit dem Reformprozess ja erst ganz am Anfang... Die Gebäude sind da, die Schüler sind da, es müssen nur die Ströme neu organisiert werden.“ Nur! Die Gebäudesituation sei erst die dritte Frage, die später gelöst werden müsse.138 Der den politischen Prozess so häufig kennzeichnende und bestimmende Gegensatz von Ideologie und Pragmatismus wird hier lehrbuchträchtig evident. Grundsätzlich wurde durch die SPD angemerkt, dass die vorgestellte Struktur im Zusammenhang mit der durchzuführenden Gemeindegebietsreform zu sehen sei. Nach deren Abschluss solle „für jede Einheitsgemeinde bzw. Verbandsgemeinde die Möglichkeit bestehen, mindestens ein Schulangebot für die Schuljahrgänge 1 bis 10 vorzuhalten“.139 Begründet wurde die Forderung nach einem längeren gemeinsamen Lernen mit der zur Zeit noch – so sieht es jedenfalls die SPD – vorherrschenden mangelhaften Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten „am Leben in einer demokratischen Gesellschaft“, weil „Menschen ohne ausreichend hohe Bildung“ nun einmal „objektiv schlechter oder überhaupt nicht in der Lage (seien), ein selbst bestimmtes Leben zu führen.“ Eine anthropologische Auseinandersetzung mit dem durchscheinenden Menschenbild muss hier leider unterbleiben. Das geschieht allerdings auch in der Gewissheit, dass es sich im Grunde selbst disqualifiziert. Für die SPD, so wurde formuliert, sei es „ein Gebot humanistischer und demokratischer Grundüberzeugungen“, „allen Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu ermöglichen“. Das ist die perfekte An138 Ebenda. 139 SPD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt, Länger gemeinsam lernen in der AOS, a.a.O. , S. 8.
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lehnung an das Schlagwort von der „Chancengerechtigkeit“, mit dem geschickt vermieden wird, die – im Kern von allen unbestritten – anzustrebende und weitgehend zu sichernde „Startchancengleichheit“ noch von der illusionären „Zielchancengleichheit“ zu unterscheiden. Dem „Gebot“, wurde dann behauptet, stehe die „frühzeitige Zuordnung der Kinder und Jugendlichen zu unterschiedlich anspruchsvollen Bildungsgängen grundsätzlich“ entgegen.140 Die Frage, ob denn Kinder und Jugendliche nicht einen (Rechts) Anspruch anmelden dürften, unterschiedlich anspruchsvoll, also begabungs-, neigungs- und leistungsgerecht unterrichtet zu werden, blieb wohlweislich ausgeklammert. Spätestens an dieser Stelle war überaus deutlich geworden, dass die CDU dem SPD-Modell der AOS nicht nur nicht folgen, sondern sich auch nicht auf substantiell beachtenswerte Kompromisse einlassen konnte. Die bildungspolitischen „Verortungen“, wie sie heute gern genannt werden, waren nicht überbrückbar, jedenfalls nicht mit dauerhaft belastbarer Statik. Dennoch seien einige weitere SPD-Positionen referiert. Im Hinblick auf den sich abzeichnenden Fachkräftebedarf seien insgesamt mehr Schulabgänger mit höheren Bildungsabschlüssen nötig. Der Anteil der Hochschulzugangsberechtigten sei mit 37,6% zu niedrig. Das Ziel der avisierten Schulstruktur werde es sein, zu einer geringeren Streuung der Leistungen unter den Schülern und zu einer schwächeren Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu kommen. Man ist versucht anzumerken, dass das Mittelmaß den Maßstab zu bilden habe. Spitzenleistungen zu fördern, sei wohl eher nicht dezidiert Aufgabe der Schule. Als Zufallsprodukt dürften sie aber willkommen sein, wo doch Spitzenforschung, heutzutage als Exzellenz in aller Munde, gern auch von der SPD in Sachsen-Anhalt angesiedelt wird.
140 Ebenda, S. 3.
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Als Zeithorizont für die Umsetzung des AOS-Modells wird von der SPD das Schuljahr 2017/2018 vorgesehen, nach dem die Umstrukturierungsmaßnahmen abgeschlossen sein sollen. DIE LINKE wiederum stellte ihr Modell der „Allgemeinen Gemeinschaftsschule“ (AGS) vor, das eine schrittweise Reform der Schulstrukturen vorsieht. Die Sekundarschulen stehen im Zentrum dieser Reform: „Alle Schülerinnen und Schüler lernen auf der Grundlage von Bildungsstandards, die mindestens den Realschulabschluss ermöglichen und den Übergang in das Gymnasium nach dem neunten Schuljahrgang bei entsprechenden Leistungen eröffnen...Alle Sekundarschulen kooperieren mit einem oder mehreren Gymnasien oder Fachgymnasien ... Der Übergang nach der neunten Klasse wird zum Regelübergang zum Gymnasium.“141 Mindestens den Realschulabschluss! Darunter wollte man es nicht haben. Auf die Idee, zu fragen, ob das denn den einen oder den anderen Schüler auch überfordern könne, wollte man sich also gar nicht erst einlassen. Oder war mit den Bildungsstandards etwas gemeint, was unabhängig von einem angemessenen Niveau gedacht werden sollte? Diesem Verdacht gibt das folgende Zitat durchaus Nahrung: „Die verbindlichen Schullaufbahnempfehlungen am Ende der vierten Klasse der Grundschule werden abgeschafft ... In der ersten Stufe der Reform werden die Gymnasien noch ab der fünften Klasse geführt.“ Im Unterschied zur SPD trifft DIE LINKE umfassende Aussagen zur gemeinsamen – inklusiven – Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern. Es heißt deshalb: „Der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, mit und ohne Behinderung soll deutlich vorangebracht werden. In der Grundschule werden umgehend die Voraussetzungen geschaffen, dass alle Kinder gemeinsam lernen kön-
141 Eine Schule für alle Kinder – Die schulpolitische Strategie „Step by Step“ der Fraktion DIE LINKE auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule, hrsg. von: Fraktion DIE LINKE, Magdeburg im Oktober 2009, S. 1.
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nen. Bis auf wenige Ausnahmen entfallen schrittweise alle Förderschulen in den Schuljahrgängen eins bis vier.“142 Äußerst bemerkenswert ist eine Aussage, nach der davon ausgegangen wird, „dass es in diesem ersten Reformschritt gelingt, die Bildungsangebote in den fünften bis neunten Klassen in den Sekundarschulen, den Gymnasien und den Gesamtschulen mehr und mehr im Niveau anzugleichen ...Damit wäre ein erster wichtiger Schritt hin zu mehr sozialer Bildungsgerechtigkeit getan.“143 Dass die CDU spätestens an dieser Stelle nur noch mit Widerstand reagieren konnte, bedarf wohl keiner Erläuterung. Gleichwohl ist ein kurzer Blick auf das Verständnis von „sozialer Bildungsgerechtigkeit“ aufschlussreich. Angleichung „im Niveau“ kann ja nur heißen, dass so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner gefunden und angestrebt werden soll. Gemeinhin nennt man das Gleichmacherei unter Missachtung der legitimen Ansprüche derjenigen, die mehr zu leisten vermögen, auch mehr leisten wollen und im Sinne des Gemeinwohlbeitrags sogar mehr leisten sollten. Die zweite Reformstufe soll, so will es DIE LINKE, mit dem Schuljahr 2017/2018 beginnen. Sie sieht vor, dass die Verankerung der (differenten) Bildungsangebote in den Schuljahrgängen fünf bis zehn in unterschiedlichen Schulformen aufgehoben wird: „Alle Schulen, die diese Schuljahrgänge führen, tragen den Namen Allgemein bildende Gemeinschaftsschule (AGS). ... Gymnasien und Fachgymnasien halten ihr Bildungsangebot in der Regel in den Schuljahrgängen 10, 11 und 12 vor ... Förderschulen werden in der Primarstufe vollständig aufgehoben und in der Sekundarstufe schrittweise weiter zu Gunsten gemeinsamen Unterrichts in den Allgemein bildenden Gemeinschaftsschulen eingeschränkt.“144 Hatte die SPD dem Gymnasium immerhin noch vier eigene Schuljahrgänge zugebilligt, will also DIE LINKE den gymnasialen Bildungsgang auf drei Jahre verkürzen, ohne noch, auch das verdient 142 Ebenda, S. 2. 143 Ebenda. 144 Ebenda, S. 3.
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hervorgehoben zu werden, zwischen Gymnasium und Fachgymnasium bezüglich des Übergangs auf diese Schulformen und des Zeitpunkts des Erwerbs der Hochschulreife zu unterscheiden. Darf man auch hier fragen, wie es um die Qualität und die sich aus ihr ergebenden Berechtigungen des Erweiterten Realschulabschlusses bestellt sein soll? Es ist unschwer zu erkennen, dass die Modelle von SPD und DIE LINKE in nicht wenigen Punkten fast deckungsgleich sind. Lediglich bei der inklusiven Beschulung vertritt DIE LINKE Positionen, die von der SPD nicht propagiert und auch nicht akzeptiert werden. Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, dass die CDU das vielfältig gegliederte Schulwesen mit Nachdruck verteidigte. Ihr Ausgangs- und Bezugspunkt blieb der differenzierte Begabungsbegriff. Danach hat die Bildungspolitik von den unterschiedlichen individuellen Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten eines jeden jungen Menschen auszugehen, die eine Aufteilung nach der vierten Klasse der Grundschule auf die weiterführenden Schulformen Sekundarschule und Gymnasium nicht nur rechtfertigen, sondern im Sinne einer so verstandenen Bildungsgerechtigkeit sogar gebieten. Nach den Vorstellungen der CDU soll es aufgrund der demographischen Entwicklung mit den sich verändernden Schülerzahlen in den Flächenregionen Sachsen-Anhalts zu unkonventionellen Lösungen kommen: Auch einzügige Schulen sollen in Zukunft so etwas wie den Regelfall darstellen und entsprechend vorbehaltlos genehmigt werden. Exemplarisch konnte die CDU auf ein Ausnahmemodell in der Stadt Havelberg verweisen, in der eine gymnasiale Beschulung in Kooperation mit einer Sekundarschule seit der 4. Legislaturperiode existierte, obwohl die Schülerzahlen dies eigentlich nicht zuließen. Da aber die besondere geographische Lage im ehemaligen Landkreis Havelberg keine andere Lösung nahelegte, wird das Gymnasium in Havelberg nun als Außenstelle des Gymnasiums in Tangermünde bis Klasse 12 geführt. In anderen dünn besiedelten Regionen des Landes könnten ähnliche Lösungen zum Zuge kommen.
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Nachdem die beiden „Lager“ ihre Grundpositionen in der Arbeitsgruppe Schulstruktur des Bildungskonvents vorgestellt hatten, kam anschließend – für das Frühjahr 2010 – die nicht einfach zu beantwortende Frage näher, wie die vollkommen gegensätzlichen Modelle von CDU einerseits und von SPD (und DIE LINKE) andererseits in eine gemeinsame Handlungsempfehlung der Arbeitsgruppe an den Gesamtkonvent zusammengeführt werden könnten. Ein erster Versuch des leitenden Moderators Dorgerloh, der in seinem Entwurf durchaus parteiergreifend die Positionen der SPD und der LINKEN bevorzugt hatte, scheiterte an der Mehrheit der Mitglieder der Arbeitsgruppe. Während die CDU verhältnismäßig komfortabel auf Vorschläge warten konnte, musste die Gegenseite stets erläutern, warum sie gerade diese oder jene Veränderung an den Schulstrukturen wollte. Der CDU kam in dieser Phase der Verhandlungen entgegen, dass in mehreren Zeitungsbeiträgen, u.a., wie bereits erwähnt, von den SPD-Oberbürgermeistern von Magdeburg und Halle, aber auch vom Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Sachsen-Anhalt, Klemens Gutmann, unionsnahe Stellungnahmen abgegeben wurden, die auf die Gefahren, vornehmlich in Gestalt von Kosten, der angestrebten Strukturveränderungen hinwiesen. Ein weiterer Versuch des Moderators Dorgerloh, eine sogenannte Erweiterte Sekundarschule – die Klassenstufen 5–12 umfassend und parallel zum Gymnasium gestellt – als Kompromiss ins Spiel zu bringen, scheiterte am Widerstand der Mehrheit der Arbeitsgruppe. Man vergegenwärtige sich zum Beispiel die Konkurrenzsituation in den Schuljahrgängen 11 und 12 in den dünn besiedelten Räumen, wo doch die Gymnasien bereits erhebliche Probleme haben, über die Zweizügigkeit hinauszukommen! In der Februar-Sitzung der Arbeitsgruppe wurde schließlich von den CDU-Abgeordneten Eva Feußner und Dr. Gunnar Schellenberger mit Unterstützung des Kultusministers Prof. Dr. Olbertz der Vorschlag unterbreitet, ein Konsens-Dissens-Papier zu erstellen, um
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so den drohenden Stillstand der Verhandlungen zu vermeiden. Die Mehrheit der Arbeitsgruppe stimmte zu, alles schien zur Zufriedenheit der meisten Beteiligten gelöst zu sein. Doch dann traten Akteure auf den Plan, die sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatten. Es kam die Vermutung auf, dass sich darunter auch Mitglieder der Parteiführung der CDU befanden, deren Blick auf die denkbaren Konstellationen nach der Landtagswahl im März 2011 fixiert war: Eine Fortsetzung der Koalition mit der SPD könnte sich erneut, das war die schließlich auch nicht von der Hand zu weisende Sorge, als die im Sinne des kleineren Übels zu schluckende Kröte erweisen. Mit einem bildungspolitischen Kompromiss dafür den Boden zu bereiten, schien das Anliegen zu sein. Der schon einige Male beschworene politische Prozess, hier tauchte er wieder, Sachfragen hintanstellend, als Faktor einflussnehmend auf. Hinzu kam, dass drei namhafte Vertreter der Arbeitsgruppe plötzlich den Drang verspürten, doch noch einen Kompromiss „hinbekommen“ zu sollen: Der Vertreter der Katholischen Kirche, der Vertreter der Evangelischen Kirche und der schon genannte Präsident der Arbeitgeberverbände Sachsen-Anhalt. Sie legten in der März-Sitzung einen Kompromissvorschlag vor, in dem sich im Grunde genommen jeder der Beteiligten irgendwie irgendwo wiederfinden konnte – wenn er denn wollte. Die Gymnasien sollten „ihren profilierten Platz im Bildungssystem“ behalten. Die Sekundarschule sei „qualitativ deutlich und nachhaltig aufzuwerten“. Was darunter zu verstehen sei, verpackten sie in einen Auftrag, der so etwas wie die Quadratur des Kreises zustande bringen sollte: Diese Aufwertung der Sekundarschule sei zu verbinden „auch mit einer inhaltliche(n) Annäherung an die gymnasiale Schulausbildung, ohne jedoch ihr eigenes und praxisorientiertes Profil aufzugeben.“ Ironisch ließe sich anmerken: Das ist eine der ganz einfachen Aufgaben der Bildungspolitik, sie ist längst viele Male erprobt worden. Darüberhinaus sei „die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und -laufbahnen in alle Richtungen deutlich zu verbessern, insbesondere für Schüler, die aus der Sekundarschule heraus einen Abschluss mit
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Hochschulbefähigung anstreben.“ Es wurde also behauptet, es gebe im bisherigen System irgendwo Sackgassen. Dass das objektiv nicht der Fall ist, meine ich im entsprechenden Kapitel nachgewiesen zu haben. Jeder Schüler hat nach Maßgabe seiner schulischen Leistungen die uneingeschränkte Möglichkeit, „einen Abschluss mit Hochschulbefähigung anzustreben.“145 Die Initiatoren hielten es schließlich für „angemessen, das Bildungssystem Sachsen-Anhalts auch für Schulformen (Plural!) mit einem längeren gemeinsamen Lernen zu öffnen.“ Also für jeden etwas. Wie aber das ohnehin aus demographischen und damit originär zusammenhängenden infrastrukturellen Gründen äußerst strapazierte Schulnetz das alles aushalten sollte, ohne seine Reißfestigkeit und seine gerade noch vertretbare Maschengröße aufzugeben, das blieb wohlgehütetes Geheimnis. Schließlich meldete sich mit Finanzminister Jens Bullerjahn, dem wahrscheinlichen Spitzenkandidaten der SPD für die Landtagswahl 2011, mit großem Medienecho zu Wort. Er, dessen Pragmatismus über jeden Zweifel erhaben ist, griff seinen ideologiegesteuerten Bildungspolitikern kräftig in die Speichen. Die Magdeburger Volksstimme befasste sich im April 2010 erneut mit dem Bildungskonvent und zitierte den Finanzminister: „Ich bin gegen allzu radikale Schnitte... Einen Systemwechsel komplett zur AOS hin wird es kurzfristig nicht geben.“ Das war Flankenschutz für die bereits vorgestellten SPD-Oberbürgermeister und sehr konkreter Ausdruck seines finanzpolitischen 145 Wie heiß die Nadel gewesen sein muss, mit der genäht wurde, zeigt sich gerade auch in missratenen Formulierungen. Kein schulischer Abschluss bescheinigt eine „Hochschulbefähigung“, allenfalls eine Hochschulzugangsberechtigung als Resultat von Leistungen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Befähigung wird sich dann an der Hochschule herausstellen – wenn denn überhaupt! Schließlich sind Fähigkeiten etwas anderes als Befähigungen. Noch schludriger hieß es dann, „dass die Frage des angemessenen Zeitpunktes der Bildungswegetrennung und der Länge des gemeinsamen Lernens in Deutschland mit einiger Regelmäßigkeit in Politik, Medien und Gesellschaft hinterfragt wird – so auch zurzeit.“ Etwas hinterfragen, das macht sich neudeutsch gut. Aber eine Frage hinterfragen, das macht sich weniger gut.
Der Bildungskonvent 229
Kurses des sorgsamen Umgangs mit den verfügbaren Haushaltsmitteln. Ihm war aber auch klar, dass der CDU-Spitzenkandidat, Wirtschaftsminister Reiner Haseloff, also sein potentieller Hauptkonkurrent, mit seiner Einschätzung richtig lag: „Wer die Schulreform zum entscheidenden Wahlkampfthema macht, wird abgewählt. Die Leute wollen keine Schulreform, die wieder alles auf den Kopf stellt.“ Das war eine Anlehnung an den Vorschlag des Ministerpräsidenten Dr. Böhmer, eine langjährige Pause bei den Schulreformen einzulegen. Finanzminister Bullerjahn nahm diese Vorlagen auf, indem er bekundete: „Die SPD ist daran interessiert, im Bildungskonvent einen Kompromiss zu finden. Wir brauchen eine nach vorn gerichtete Einigung, die zum Beispiel ein längeres gemeinsames Lernen von sechs Jahren beinhalten könnte. Es will doch keiner eine endlose Bildungsdebatte in Sachsen-Anhalt haben.“146 Auch der Bildungskonvent wollte keine endlose Bildungsdebatte mehr. Es kam zu der bereits erwähnten letzten eigentlichen Arbeitssitzung am 26. April 2010. Die CDU knüpfte mit Änderungsanträgen an die Vorschläge der Kirchen, die diese in Verbindung mit dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes erarbeitet hatten, an – und setzte sich im Bildungskonvent durch. Die Mitteldeutsche Zeitung (MZ) titelte am 27. April: „Einigung im Schulstreit“. Das Ergebnis beschrieb die Zeitung wie folgt: „Der nun getroffene Kompromiss beruht auf einem von Kirchenvertretern und Arbeitgeberverband vorgeschlagenen Papier, welches neben der Aufwertung der Sekundarschulen auch eine Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen den Schulformen vorsieht. Zugleich soll das Gymnasium seinen Platz im Bildungssystem behalten und längeres gemeinsames Lernen ermöglicht werden.“147 Wenn man das Ergebnis genau betrachtet, besteht es weitgehend aus Formelkompromissen. Im Grunde hatte sich die CDU durchgesetzt: Die bestehenden Schulstrukturen sollen unangetastet bleiben. Lediglich „im System“, das sich in den beiden Säulen Sekundarschule 146 Magdeburger Volksstimme vom 12.04.2010. 147 Mitteldeutsche Zeitung vom 27.04.2010.
230 Der Bildungskonvent
und Gymnasium manifestiert, soll so etwas wie mehr Bewegung ermöglicht sein. So sieht denn auch die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, Eva Feußner, mit den Empfehlungen „die notwendige Kontinuität für das Schulwesen Sachsen-Anhalts gesichert.“ Damit ist der Bildungskonvent wohl eher eine Alibiveranstaltung, wessen auch immer, als ein in neue Richtungen lenkendes Stellwerk gewesen. Ob die SPD sich angesichts des enormen Aufwands an Energie, Zeit und Kosten, den der von ihr verlangte Bildungskonvent ausgelöst hat, gegenüber dem Wahlvolk wird rechtfertigen können, muss hier nicht weiter betrachtet werden. Bei der für sie objektiv eher mageren Bilanz wird man aber fragen dürfen, ob der sprichwörtlich berühmte Ort Hornberg nicht vielleicht doch inzwischen nach Sachsen-Anhalt umgesiedelt worden ist.
I. Rückblick und Ausblick
Braucht Sachsen-Anhalt einen Systemwechsel? Spätestens seit Wilhelm von Humboldts Reformen in Preußen ist das gegliederte Schulwesen eine Konstante der deutschen Bildungslandschaft. Es hat bis in die jüngste Vergangenheit hinein alle Veränderungen und Ergänzungen, alle Anfeindungen und Anfechtungen weitgehend schadlos überstanden. Als mit besonderer Lebens- und Abwehrkraft ausgestattete Schulform erwies sich dabei das Gymnasium, getragen von breiter Anerkennung, die sich zunehmend in der wachsenden Nachfrage nach diesem Ort „höherer“ Bildung als Startrampe für bessere berufliche und soziale Chancen und sichere, gleichzeitig profitablere Positionen im Beschäftigungssystem manifestierte (1965 6% mit Abitur, 1990 ca. 25%, gegenwärtig bereits etwas über 30%, angestrebt werden 40%). Aber auch die „Mittelschule“, die seit der Zeit Bismarcks ein die Schullandschaft mitgestaltender Faktor gewesen ist, hat eine Erfolgsgeschichte aufzuweisen, die in der Realschule, wie wir sie seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland etabliert sehen, ihre Fortsetzung und ihre Steigerung gefunden hat. Über einen langen Zeitraum gehörte auch die „Volksschule“ zu den anerkannten und angenommenen Elementen des mehrgliedrigen Schulwesens. 148 In den 60er Jahren, zur Zeit des die deutsche Schullandschaft prägenden Hamburger Abkommens, konnte sich die Volksschule als Hauptschule tatsächlich noch als die Haupt-Schule begreifen. Um 1960 erwarben etwa 70% aller deutschen Schülerinnen und Schüler den „Volkschulabschluss“, gut vorbereitet auf die Anforderungen des damaligen Ausbildungs- und auch Arbeitsmarkts. 148 Es soll hier wiederholt werden: Im Grunde ist das hochdifferenzierte Sonderschulwesen (mit den Förderschulen und Förderzentren als seinen jüngsten Ausformungen) stets Bestandteil und so etwas wie die vierte Säule des gegliederten Schulwesens gewesen. Dazu habe ich im Kapitel C 1 b Ausführungen gemacht.
232 Rückblick und Ausblick
Es muss aber festgehalten werden, dass die drei Schulformen über einen längeren Zeitraum hinweg weitgehend hermetisch abgeschlossene Subsysteme des gegliederten Schulwesens waren, die Durchlässigkeit nur als Ausnahme kannten. Spätestens seit etwa 1980 begann der quantitative Niedergang der Hauptschule, der die Qualität ihrer Arbeit nicht unberührt lassen konnte und diese Schulform zunehmend in Misskredit brachte. In manchen Bundesländern spielte dabei die Einführung von Gesamtschulen die entscheidende Rolle. Diese vermochten den Gymnasien in der Substanz kaum etwas anzuhaben, den Realschulen nur relativ wenig. Den Hauptschulen aber wurden sie zur Gefahr, überall dort jedenfalls, wo die Gesamtschulen in breiter Front, politisch gewollt und entsprechend gefördert, errichtet wurden und die Hierarchie der Schulformen aufzuheben versprachen, die im Zuge egalitären Denkens als Übel hingestellt wurde. Die in der Zwischenzeit hergestellte und praktizierte Durchlässigkeit im gegliederten Schulwesen änderte daran verhältnismäßig wenig. Nur in Bayern und mit Abstrichen in Baden-Württemberg hat sich die Hauptschule neben Realschule und Gymnasium und ohne die Konkurrenz von Gesamtschulen in einer bemerkenswert stabilen Position halten können, wie die Verteilung der Schülerpopulation dort erkennen lässt. Und dann kam die deutsche Einheit
Das gegliederte Schulwesen mit seinen drei Hauptsäulen war 1990 vielerorts bereits so sehr aus der Balance geraten, dass für die neuen Bundesländer die Übernahme aller drei eigenständigen Schulformen Hauptschule – Realschule – Gymnasium mindestens fragwürdig, in vieler Hinsicht auch inopportun wurde, zumal die Hauptschule als „Restschule“ verunglimpft worden war und erkennbar an Akzeptanz verloren hatte. Zusätzlich erwies sich das abzulösende Schulsystem der DDR als ein wichtiger, ernstzunehmender Faktor. Es war ein lupenreines Ein-
Rückblick und Ausblick 233
heitsschulsystem gewesen, das sich noch dazu, jeder sprachlichen und auch inhaltlichen Logik Hohn sprechend, mit dem Etikett „Oberschule“ geschmückt hatte. Wo die „Oberschule“ die Regelschule war, verbot sich fast zwangsläufig die Einführung einer „Restschule“. Es überrascht deshalb nicht, dass die meisten neuen Bundesländer mehr oder weniger identisch beim Zwei-Säulen-Modell Zuflucht nahmen, nicht zuletzt auch von der Sorge geleitet, dass die zahlreichen dünn besiedelten Räume nicht alle drei Schulformen nebeneinander ohne Inkaufnahme langer Schulwege gerade für die Schwächsten, hier die potentiellen Hauptschüler, oder sehr kleiner, dafür aber kostenintensiver Schulstandorte geführt werden konnten. Für Sachsen-Anhalt bedeutete das konsequent die Einführung von „Sekundarschulen“ (mit Hauptschul- und Realschulbildungsgang) und Gymnasien als den Vertretern des gegliederten Schulwesens unter fast vollständigem Verzicht auf Gesamtschulen. Das ZweiSäulen-Modell ließ bereits grüßen. Und dann kam PISA
Es mussten Schuldige gefunden werden für das schlechte, z.T. miserable Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler. Die Diskussion um das richtige Schulsystem flammte wieder auf, die heftige Schulstrukturdebatte der 70er Jahre wurde und wird erneut geführt. Aufgrund sehr eigenwilliger Analysen und Interpretationen der PISA-Ergebnisse glaubten die Anhänger von Gesamtschulen einen neuen Anlauf riskieren zu können, um das integrierte Schulwesen nun doch noch zum Sieg zu führen. Die Befürworter des mehrgliedrigen Schulwesens hielten dagegen und sahen zum Beispiel in dem guten Abschneiden der Bundesländer mit ausgeprägtem gegliederten Schulwesen einschließlich einer relativ starken Hauptschule – also vornehmlich Bayern und Baden-Württemberg – eine Bestätigung ihrer Position, zumal die Gesamtschulen sich für den objektiven Betrachter ausweislich der ermittelten Werte als besonders leistungs-
234 Rückblick und Ausblick
schwach erwiesen hatten und alles in allem lediglich zwischen Hauptschule und Realschule rangierten – und das bei dem vollmundigen Anspruch, das gesamte Spektrum des gegliederten Schulwesens abzudecken. Ihre, wie die Verfechter der Gesamtschulidee das empfanden, „Diskreditierung“ als wenig leistungsstarke Bildungseinrichtungen war bestätigt worden und spätestens jetzt erwiesen. Der genannte erneute Anlauf der Befürworter eines integrierten Schulwesens erfolgte deshalb auch nicht hinter dem Transparent, auf dem „Gesamtschule“ stand, sondern auf raffinierte Weise hinter einer Fahne, auf der plakativ-verführerisch das scheinbar unverfängliche Wort „Einheitsschule“ mit dem anheimelnden Schlagwort des „längeren gemeinsamen Lernens“ leuchtet. Und dann kam der demographische Einbruch
Hatte schon zur Zeit der Gründung der neuen Bundesländer der quantitative Aspekt in Verbindung mit den topographischen und infrastrukturellen Gegebenheiten eine Rolle gespielt, von dem klaren Drei-Säulen-Modell Abstand zu nehmen, verstärken die dramatisch zurückgegangenen bzw. sich mittel- und langfristig reduzierenden Jahrgangszahlen den Zwang, über die unvermeidbare Schulnetzdiskussion hinaus erneut die Schulstrukturfrage zu erörtern. Die Dramatik der Entwicklung verdeutlichen die Zahlen, die für die Grundschulen ermittelt bzw. prognostiziert worden sind. Im Schuljahr 1991/1992 besuchten insgesamt 146.892 Schülerinnen und Schüler die Grundschulen des Landes Sachsen-Anhalt, im Schuljahr 2008/2009 sind es nur noch 66.394 gewesen. Das bedeutet, dass nur noch 45,2% des Ausgangswertes für die Verteilung auf die Schulformen des gegliederten Schulwesens zur Verfügung gestanden haben. Das wiederum bedeutet, dass das schwächste Glied, selbst wenn es seinen Anteil zu halten vermag, wegen des Rückgangs der absoluten Zahlen in Existenznot geraten kann oder gar muss, weil es eine kritische Grenze gibt, die aus Verantwortung vor übergeordneten Aspekten (Haushalt, Stellenplan, Infrastruktur) nicht unterschritten
Rückblick und Ausblick 235
werden darf. Diese Entwicklung ist in Sachsen-Anhalt erkennbar eingetreten. Ablesen lässt sich das zum Beispiel an dem stark gewachsenen Anteil, den die Gymnasien des Landes an einem Schülerjahrgang inzwischen absorbiert haben. Besuchten 1991/1992 21,14% aller Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden Schulen die Gymnasien, waren es 2008//2009 26,2%. 149 Das ging selbstverständlich zu Lasten der Sekundarschule (33,78% zu 24,72%) im allgemeinen und des Hauptschulbildungsgangs im besonderen, denn es hat eine Verschiebung innerhalb des Systems mit dem Gymnasium als Nutznießer und dem Hauptschulbildungsgang als Verlierer gegeben. Wegen der Veränderungen in der Sekundarschule ist es allerdings schwierig, aussagekräftige Vergleichszahlen über den gesamten Zeitraum von 1991 bis 2010 hinweg für den Hauptschulbildungsgang zu ermitteln, den es ja in der ursprünglichen Eindeutigkeit und per definitionem nicht mehr gibt. Verallgemeinernd kann festgestellt werden, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die an den Sekundarschulen hauptschulabschlussbezogen unterrichtet werden, ständig zurückgeht. Im Schuljahr 2009/2010 betragen die Quoten im Schuljahrgang 7 25,5%, im Schuljahrgang 8 27,2% und im Schuljahrgang 9 28,7%, wobei der Anteil mit höherem Schuljahrgang natürlich etwas durch „Umsteiger“ aus dem Realschulbildungsgang wächst. Dennoch ist die Tendenz nicht zu übersehen. Bedenkt man, dass annähernd 45% eines Jahrgangs im Gymnasium beschult werden, ergibt sich eine Hauptschulklientel von maximal 15% – was den Werten in den westlichen Flächenländern sehr nahe kommt. 150 Der Blick in die Zukunft bestätigt dieses Bild, er verstärkt es sogar. Das Schuljahr 2009/2010 meldet einen (ersten?) Tiefpunkt der Gesamtschülerzahl: ca. 174.000. Gleichzeitig zeichnet sich ein Hoffnungsschimmer ab, denn die Zahl der Grundschüler ist um 300 auf 149 Dass die sogenannte Übergangsquote eines Schülerjahrgangs für das Gymnasium in dem hier behandelten Zeitraum zunächst bei 35%, ab 2004/2005 zwischen 42 und 45% oder sogar darüber gelegen hat, sei in Erinnerung gerufen. 150 Die Zahlen sind einem Arbeitspapier vom 05.08.2009 entnommen worden, das noch mit „voraussichtlichen“, aber dennoch zuverlässigen Daten aufwartete.
236 Rückblick und Ausblick
ca. 66.700 gestiegen. Die Hoffnung ist aber eine sehr trügerische. Zwar wird die Gesamtschülerzahl im Schuljahr 2013/2014 voraussichtlich auf ein Zwischenhoch von ca. 176.000 klettern, aber parallel dazu beginnt der Rückgang der Zahlen an den Grundschulen auf prognostizierte 58.000 im Schuljahr 2020/2021. Das sind dann nur noch 39,5% des Bestandes, den Sachsen-Anhalt in „seinem“ ersten Schuljahr 1991/1992 aufwies. Und die Gesamtschülerzahl wird nur noch ca. 166.800 betragen, 44.9% des Ausgangswertes von 1991/1992 (371.644). Für die Sekundarschulen wird ein Anstieg von 43.634 Schülerinnen und Schülern im Schuljahr 2008/2009 auf ca. 51.700 im Schuljahr 2020/2021 als Resultat des Zwischenhochs an den Grundschulen in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts vorhergesagt. Dabei wird unterstellt, dass der Anteil der Gymnasiasten an der Gesamtschülerzahl der allgemeinbildenden Schulen nur noch etwa 24% ausmachen werde. Diese Annahme scheint wenig plausibel zu sein, weil einerseits der Trend zum Gymnasium bundesweit und auch in den neuen Bundesländern ungebrochen ist und weil andererseits die Werbung für „höhere“ Bildungsabschlüsse sogar noch verstärkt worden ist. Es darf eher vermutet werden, dass der gegenwärtige Anteil von ca.30% (Gymnasialzweige an Gesamtschulen inbegriffen) in Zukunft nicht unterschritten wird. Das wird dann allerdings die quantitativen Probleme der Sekundarschule im Blick auf die Abschlussbezogenheit des Unterrichts verstärken. Schulstrukturdebatten sind in erster Linie als Funktion von Qualitätserwartungen geführt worden – wie auch immer diese definiert und begründet waren. Angesichts des demographischen Einbruchs werden nun veränderte Quantitäten Schulstrukturdebatten auslösen, nicht zuletzt bei denjenigen, die sich damit einen Systemwechsel versprechen, den sie bisher ohne durchschlagenden Erfolg erstrebt haben.
Rückblick und Ausblick 237
Und dann kam die Große Koalition
Seit der Wiederbegründung des Landes Sachsen-Anhalt war seine Bildungspolitik durch den Antagonismus von CDU und SPD gekennzeichnet. Abhängig von der Regierungsverantwortung der einen oder der anderen Partei erfolgten Weichenstellungen entweder zugunsten des gegliederten Schulwesens oder in Richtung auf ein integriertes System, wobei den Schuljahrgängen 5 und 6 eine Schlüsselrolle zufiel, die dazu führte, dass mit diesen beiden Jahrgängen am meisten experimentiert wurde. Die Entscheidungen und Entwicklungen werden hier als bekannt vorausgesetzt. Mit der Landtagswahl 2006 fanden sich die beiden bildungspolitisch kontrovers agierenden Parteien plötzlich in einer Koalition wieder, die gemeinsames und gemeinsam zu verantwortendes. Regierungshandeln verlangte, das jeden rigiden Antagonismus verbot. Die bereits skizzierten Herausforderungen mussten gemeinsam erkannt und gemeistert werden. Von entgegengesetzten Polen herkommend, werden die Koalitionspartner in der Bildungspolitik auch am Ende der Legislaturperiode eine Linie finden müssen, die beide Parteien das Gesicht wahren lässt. Dabei wird der Anerkennung von Fakten und übergeordneten Aspekten besondere Bedeutung zukommen. Und dann kam der Bildungskonvent
In der Koalitionsvereinbarung wurde die Einrichtung eines Bildungskonvents verankert. Seine übergeordnete Funktion bestand darin, den beschriebenen bildungspolitischen Antagonismus von CDU und SPD so weit wie möglich ruhen zu lassen. Das hat immerhin zur Folge gehabt, dass die konkret vorhandenen Schulstrukturen zunächst unangetastet geblieben sind. Es ist aber nie ein Geheimnis gewesen, dass die SPD sich von dem Bildungskonvent Empfehlungen versprach, die es ihr gestatten würden, ihr Konzept einer Allge-
238 Rückblick und Ausblick
meinen Oberschule (AOS) im Sinne einer Einheitsschule mit Nachdruck voranzutreiben. Schließlich liegt dieses Konzept seit einiger Zeit bereits vor. Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt worden ist, hat die SPD erkennen müssen, dass ihre Hoffnung unerfüllt geblieben ist. Sie ist – das wird man sagen dürfen, ohne schon das Abschlusspapier des Bildungskonvents zu kennen – zurückgeworfen auf ihre Ausgangsposition. Ihr Dilemma ist offenkundig: Entweder die AOS als bildungspolitisches Ziel weiterhin propagieren oder einschwenken auf eine Linie, die auch ab 2011 eine Koalition mit der CDU zulässt. Und was kommt 2011?
Für die CDU kann das nur bedeuten, die aus der demographischen Entwicklung sich aufdrängenden Schlüsse für die zukünftigen Schulstrukturen zu ziehen, ohne das gegliederte Schulwesen als das bewährte Paradigma ihrer Bildungspolitik in seinem Kern aufzugeben. Anders formuliert: Wo veränderte Quantitäten ein starres Festhalten an Positionen, die unter anderen Voraussetzungen ihre Berechtigung hatten, fragwürdig erscheinen lassen, ist Bewegung hin zu „dauerhaft tragfähigen“ Veränderungen angezeigt. Es darf unterstellt werden, dass das Gymnasium auch in Zukunft einen hohen Stellenwert haben und eine große Wertschätzung genießen wird. Seine Verankerung im Bewusstsein der Bevölkerung als ein leistungsfähiges Subsystem des gegliederten Schulwesens kann deshalb genutzt werden, um dieses insgesamt als vorteilhaft und zukunftsfähig zu präsentieren. Wie schon angedeutet, wird die Sekundarschule mit ihren zwei einst eigenständigen Bildungsgängen der Ort sein müssen, wo strukturelle und damit verbundene inhaltliche Veränderungen angeboten werden können. Die zu erwartenden extrem niedrigen absoluten Zahlen eines auf den originären Hauptschulabschluss ausgerichteten Bildungsganges werden jede Argumentation zu seinen Gunsten schwierig gestalten. Haushaltspolitiker werden ebenso auf den Plan
Rückblick und Ausblick 239
treten wie Ideologen, die von gezielter Separation und Selektion sprechen werden, und Bildungstheoretiker, die eingeschränkte Differenzierungsmöglichkeiten geißeln werden. Von Kommunalpolitikern ist das Argument des relativ hohen Sachmittelaufwands für kleine Lerngruppen zu erwarten. Es dürfte nicht zu leugnen sein, dass eigenständige Hauptschulbildungsgänge mit geringen Jahrgangsstärken für das Land einen höheren Lehrerstundeneinsatz und für die Schulträger in der Summe das Vorhalten von zusätzlichen Ressourcen (Klassenräume, Sachmittel etc.) bedeuten werden. Andererseits würde das Zusammenlegen von bisher an getrennten Orten eingerichteten Hauptschulbildungsgängen zu größeren Einheiten für viele Schülerinnen und Schüler mit längeren Schulwegen und für die Träger mit höheren Schülerbeförderungskosten verbunden sein. Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet der grundsätzliche Verzicht auf getrennte Bildungswege in der Sekundarschule. Das wäre aus der Sicht des gegliederten Schulwesens ein erhebliches Zugeständnis an die Befürworter integrierter Systeme. Dennoch wird das Opfer angesichts der skizzierten Umstände und in Anbetracht dessen, was eine Einheitsschule in Gestalt der AOS bedeuten würde, auf dem Altar einer Koalition mit der SPD und wahrscheinlich nicht nur dort zu hinterlegen sein. Das kann und darf aber nur erfolgen mit der eindeutigen Maßgabe, dass in der Sekundarschule differenzierte Abschlüsse erworben werden, um einerseits nicht zu unterfordern und andererseits nicht zu überfordern. Dies könnte geschehen mittels eines Sekundarschulabschlusses als Regelfall mit dem Merkmal des Zugangs zu bestimmten Ausbildungsberufen und eines Qualifizierten Sekundarschulabschlusses, der zusätzliche Berufszugänge eröffnet und auch nach Maßgabe seiner Qualität zum Besuch von Gymnasialer Oberstufe, Fachgymnasium, Fachoberschule etc. berechtigt. Über ein AbschlussZeugnis nach erfolgreichem Besuch der 9. Klasse wäre ebenfalls nachzudenken. Da zu erwarten ist, dass mehrere Bundesländer sehr bald das ZweiSäulen-Modell realisieren werden, wäre die KMK der Ort, wo über
240
Rückblick und Ausblick
die.Defi.nition.und.die.Anerkennung.der.Abschlüsse.im.Sekundarbereich.I.abschließend.zu.befi.nden.wäre.151 Ferner.kann.und.darf.das.nur.geschehen.mit.der.weiteren.Maßgabe,.dass.die.Schuljahrgänge.5.und.6.auch.in.Zukunft..Bestandteile. der.Sekundarschule.einerseits.und.des.Gymnasiums.andererseits.sein. werden.. Beide. Schulformen. sind. durch. Langzeitbildungsgänge. gekennzeichnet,.deren.curricularer.Aufbau.in.seiner.Stringenz.nicht.auf. die.Jahrgänge.5.und.6.verzichten.kann. Wenn. das. sichergestellt. werden. kann,. ist. die. Einheitsschule. abgewehrt.und.das.gegliederte.Schulwesen.in.seiner.Substanz.erhalten. geblieben. Um.die.Eingangsfrage.dieses.Schlusskapitels.zu.beantworten:.Einen. Systemwechsel. braucht. Sachsen-Anhalt. nicht.. Das. gegliederte. Schulwesen.kann.fl.exibel.auf.neue.Herausforderungen.reagieren.und. sich.auch.in.Zukunft..als.das.überlegene.System.erweisen.–.überall.in. Deutschland.und.damit.auch.in.Sachsen-Anhalt. Die.Frühaufsteher.von.heute,.das.ist.zu.hoff.en,.werden.sich.nicht. als.die.Schlafmützen.von.morgen.begreifen.wollen..
151. Auf.diesen.Weg.hat.sich.jüngst.auch.die.CDU/FDP-Koalition.in.Niedersachsen.begeben.
J. Anhang Hinweis:.Alle.Grafi.ken.und.Tabellen.im.Anhang.sind.Quellenangaben. des. Kultusministeriums. Sachsen-Anhalt. oder. des. Statistischen. Landesamtes.Sachsen-Anhalt.
242 Anhang
Anzahl der allgemeinbildenden Schulen
1742 1723 1605 1559 1559 1544 1521 1476 1419 1374 1319 1294 1208 1100 1020 978 954 954 949
1731 1711 1593 1547 1544
Schuljahr
1991/92 1992/93 1993/94 1994/95 1995/96 1996/97 1997/98 1998/99 1999/2000 2000/01 2001/02 2002/03 2003/04 2004/05 2005/06 2006/07 2007/08 2008/09 2009/10
1991/92 1992/93 1993/94 1994/95 1995/96
851 850 836 822 819
851 851 837 823 822 813 799 764 717 680 644 636 620 592 576 559 557 559 555
Grundschule
604 585 484 455 456
604 585 484 455 456 449 445 439 432 426 412 395 339 267 208 188 179 178 179
Sekundarschule
137 137 134 132 131
142 142 139 137 137 135 129 125 122 121 118 117 108 100 95 91 79 82 80
Gymnasium
Davon Schule KooperaFreie Integrierte des tive SchulFörderWaldorf- Zweiten Kolleg1) GesamtGesamt- verbund schulen schule Bildungsschule schule weges Insgesamt 135 2 2 2 3 1 135 2 2 2 3 1 135 2 2 2 3 1 134 2 2 2 3 1 134 2 2 2 3 1 136 3 2 2 3 1 137 3 2 2 3 1 136 3 2 1 2 3 1 135 3 2 3 2 3 135 3 2 3 2 2 (1) 133 3 2 3 2 2 (1) 134 3 2 3 2 2 (1) 129 3 2 3 2 2 (1) 129 3 3 2 2 2 (1) 129 4 3 3 2 (1) 128 4 3 3 2 (1) 127 4 3 3 2 (1) 121 6 3 3 2 (1) 121 6 3 3 2 (1) öffentliche Schulen 132 2 2 3 132 2 2 3 132 2 2 3 131 2 2 3 131 2 2 3 -
Allgemeinbildende Schulen nach Schulformen und Rechtsstatus seit dem Schuljahr 1991/92 Schulen nach Schulformen und Rechtsstatus 21111,1240383 21111
(22) (9) (9) (5) (3)
(22) (9) (9) (5) (3) (3) (3) (3) (4) (2) -
(5) (3) (2) (3)
(5) (3) (2) (3) (4) (3) (3) (3) (3) (3) (3) (3) (3) (3) (3) (4) (4) (4)
Abend- Abendgymna- sekundarsium2) schule2)
Anhang 243
244 Anhang
9 Tabellen unter Punkt 1 dieses Berichtes enthalten.
Vorbemerkungen Der vorliegende Bericht enthält überwiegend Angaben aus der am 03.09.2008 an allen öffentlichen Schulen und Ersatzschulen des Landes Sachsen-Anhalt durchgeführten Schuljahresanfangsstatistik des Schuljahres 2008/09. Rechtliche Grundlage dafür ist die Verordnung über die statistische Erhebung von Daten im Schulbereich vom 18.09.1995 (GVBl. LSA S. 251), zuletzt geändert durch Verordnung vom 15.05.2002 (GVBl. LSA S. 267).
Für das Schuljahr 2008/09 wurden die erhobenen Merkmale nach unterschiedlichen Gliederungen in der Summierung für das Land und die Kreise dargestellt. Im Schuljahr 2008/09 besuchten 176 469 Kinder und Jugendliche die 954 allgemeinbildenden Schulen im Land. Im Schuljahr 1994/95, dem Jahr mit der höchsten Schülerzahl nach der Wende, wurden 392 391 Kinder und Jugendliche in 1 559 Schulen unterrichtet. Seit Mitte der 1990er Jahre ging die Schülerzahl kontinuierlich zurück und hat sich bis zum Berichtsjahr mehr als halbiert.
Das Statistische Landesamt führt die amtliche Schulstatistik seit 1991 durch. Vergleichbare Zeitreihen über ausgewählte Merkmale sind in den
1. Anzahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen seit 1991 400000
Schülerinnen und Schüler
350000 300000 250000 200000 150000 100000 50000
8
7
09 20 08 /
20 07 /0
20 06 /0
20 05 /0 6
20 04 /0 5
3
2
20 03 /0 4
20 02 /0
20 01 /0
00 0
20 00 /0 1
19 98 /9 9
19 99 /2
7
6
98 19 97 /
19 96 /9
19 94 /9 5
19 95 /9
19 93 /9 4
92 19 91 /
19 92 /9 3
0
Schuljahr
Die Anzahl der Schulen verringerte sich um knapp 40 %. Im Bundesvergleich beträgt der Anteil der Schülerinnen und Schüler aus Sachsen-Anhalt zurzeit knapp 2 %, während er im Schuljahr 1994/95 noch 4 % betrug. Die Ursache für diese Entwicklung lag im demografisch bedingten Einschulungsrückgang, hervorgerufen durch den Geburtenknick von
1991. Einer Einschulungszahl von fast 38 000 Kindern im Schuljahr 1992/93, dem ersten Jahr der statistischen Erfassung, stand z.B. im Jahr 2001/02 nur noch eine Einschulungszahl von rd. 14 200 Kindern gegenüber. Allein in den Schuljahren 1997 und 1998 wurden mehr als 6 000 bzw. 8 000 Kinder weniger eingeschult als im jeweiligen Jahr zuvor.
Anhang 245
17
2. Anzahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen nach Schulformen seit 1991
160000
Schülerinnen und Schüler
140000
120000
100000
1991/92 1995/96 2000/01
80000
2005/06 2007/08 2008/09
60000
40000
20000
0
1)
Gundschule
Sekundarschule
Gymnasium
Förderschulen
sonstige Schulen 1)
Integrierte Gesamtschule, Kooperative Gesamtschule, Schulverbund, Freie Waldorfschule, Bildungsangebote des zweiten Bildungsweges
246 Anhang
22 1.6 Klassenfrequenzen an allgemeinbildenden Schulen nach Schulformen bzw. Organisationsformen seit 1991 Schulform Organisationsform
1991/92
1995/96
2000/01
2005/06
2006/07
2007/08
2008/09
Grundschule
20,0
20,6
18,1
17,6
17,8
17,8
17,8
Sekundarschule davon - Schuljahrgänge 5 und 6 - Sekundarschulbildungsgang - hauptschulabschlussbez. Klassen - realschulabschlussbez. Klassen - kombinierte Klassen - Produktives Lernen
18,8
20,0
21,0
19,7
19,6
19,4
19,3
19,9 -
21,7 -
21,8 21,1
19,9 -
19,9 -
20,4 -
20,7 -
15,2
15,1
14,3
14,8
14,3
14,4
14,0
18,2 19,2 -
20,2 20,7 -
20,1 21,1 -
21,1 20,8 -
21,2 20,1 19,2
20,3 19,6 19,3
20,1 19,0 17,9
Gymnasium
1)
Integrierte Gesamtschule
1)
Kooperative Gesamtschule davon - Schuljahrgänge 5 und 6 - Sekundarschulzweig - Gymnasialzweig 1)
Schulverbund davon - Schuljahrgänge 5 und 6 - Sekundarschulzweig - Gymnasialzweig Freie Waldorfschule
1)
Abendklassen an Sekundarschulen Förderschulen davon - für Lernbehinderte - für Geistigbehinderte - mit Ausgleichsklassen - für Sprachentwicklung - für Körperbehinderte - für Blinde und Sehgeschädigte - für Gehörlose und Hörgeschädigte - für Körperbehinderte und Sehgeschädigte Insgesamt
1) ohne Sekundarstufe II
1)
23,2
23,8
23,8
23,6
23,1
23,0
23,6
24,4
24,9
24,1
24,4
24,1
23,5
23,0
22,9
23,0
22,8
23,2
22,6
22,8
23,1
23,4 22,3 23,2
23,4 22,3 23,4
25,1 21,9 21,2
23,8 22,8 23,3
24,9 22,0 22,1
24,9 21,8 22,3
25,5 22,3 22,1
-
-
16,8
-
-
-
-
-
-
20,6 14,5 16,2
-
-
-
-
19,5
19,6
16,8
18,6
17,1
20,6
22,3
-
15,0
18,3
17,1
19,6
20,4
19,0
8,6
10,0
9,8
9,1
8,9
8,9
8,8
9,5 6,3 7,3 10,3 6,8
11,5 7,3 7,7 10,5 7,3
11,6 7,1 7,6 10,2 7,1
10,8 7,1 7,3 10,4 6,9
10,6 7,1 7,2 10,3 6,8
10,5 7,1 7,3 10,5 7,1
10,5 7,0 7,2 10,3 7,0
7,0
6,5
6,0
6,5
6,3
7,6
7,0
6,6
6,5
6,2
5,8
5,9
6,1
6,2
/
/
/
/
/
/
6,1
17,8
17,6
17,6
18,9
19,7
19,1
18,0
Anhang 247
23
4. Anteil der Schülerinnen und Schüler je Schulform an den Schülerinnen und Schülern insgesamt im Schuljahr 2008/09
Gymnasium 26,2% Sekundarschule 24,7%
übrige Schulen 3,2% Förderschulen 7,8%
Grundschule 37,6%
Bildungsangebote des zweiten Bildungsweges 0,5%
Anteil der Schüler je Schulform an den Schülern insgesamt im Schuljahr 2008/09
Gymnasium 23,6% Sekundarschule 25,8% übrige Schulen 3,0%
Förderschulen 9,6% Grundschule 37,6%
Bildungsangebote des zweiten Bildungsweges 0,4%
Anteil der Schülerinnen je Schulform an den Schülerinnen insgesamt im Schuljahr 2008/09 Sekundarschule 23,6% Gymnasium 28,8%
übrige Schulen 3,3% Förderschulen 6,0% Grundschule 37,7%
Bildungsangebote des zweiten Bildungsweges 0,6%
248 Anhang 61 1.14 Lehrkräfte an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen 1.14.1 Anzahl der Lehrkräfte, die sich im Landesdienst befinden, an öffentlichen Schulen nach Beschäftigungsumfang und Schulformen im Schuljahr 2008/09 Vollbeschäftigte 1) Lehrkräfte
Schulform
insgesamt
weiblich
Teilbeschäftigte Lehrkräfte mit einem Beschäftigungsumfang über 50%
Teilbeschäftigte Lehrkräfte mit einem Beschäftigungsumfang bis zu 50%
insgesamt
insgesamt
weiblich
weiblich
Grundschule
3907
3642
803
785
618
609
Sekundarschule
3793
2947
1099
914
852
594
Gymnasium
3156
2223
907
748
494
360
Gesamtschule
358
284
88
69
34
24
Förderschulen
2078
1756
328
289
217
183
42
29
9
8
7
7
13334
10881
3234
2813
2222
1777
Schulen Zweiter Bildungsweg Insgesamt
1) Hierunter fallen auch alle angestellten Lehrkräfte, die vom Tarifvertrag zur Arbeitsplatzsicherung betroffen sind und mit einer festgelegten bedarfsbedingten Arbeitszeit vergütet werden.
1.14.2 Anzahl der Lehrkräfte, die sich im Landesdienst befinden, an öffentlichen Schulen nach Altersgruppen und Schulformen im Schuljahr 2008/09 Anzahl der Lehrkräfte im Alter von ... bis unter ... Jahren Schulform
unter 30
30-35
35-40
40-45
45-50
50-55
55-60
60-65
65 und mehr
ohne Angabe
Grundschule insgesamt darunter weiblich
75 70
58 54
461 435
1092 1029
1021 938
1004 946
1177 1146
440 418
-
-
Sekundarschule insgesamt darunter weiblich
3 2
17 16
178 153
1054 886
1292 1004
1440 1147
1307 1004
453 243
-
-
Gymnasium insgesamt darunter weiblich
10 9
75 57
287 229
749 587
1083 782
1127 815
915 676
311 176
-
-
Gesamtschule insgesamt darunter weiblich
1 -
15 11
39 33
124 103
110 90
88 69
73 55
30 16
-
-
Förderschulen insgesamt darunter weiblich
53 48
142 123
315 279
476 404
492 412
499 423
451 385
195 154
-
-
-
1 -
4 4
6 3
9 6
15 10
15 15
8 6
-
-
Schulen Zweiter Bildungsweg insgesamt darunter weiblich
Anhang 249
58 1.12.3
Anzahl der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien nach Schuljahrgängen und schulischer Herkunft im Schuljahr 2008/09
Schulische Herkunft der Schüler/-innen
Im vergangenen Schuljahr besuchten Grundschulen Sekundarschulen Gymnasien
5. Schuljahrgang
6. Schuljahrgang insgesamt
7. Schuljahrgang
weiblich
insgesamt
8. Schuljahrgang
insgesamt
weiblich
weiblich
insgesamt
weiblich
6598
3463
-
-
-
-
-
-
-
-
5
3
84
39
4
1 2857
22
10
6590
3440
5909
3160
5518
Integrierte Gesamtschulen
-
-
2
-
2
-
-
-
Kooperative Gesamtschulen
-
-
1
-
-
-
-
-
Freie Waldorfschulen
3
1
1
1
-
-
2
1
Förderschulen für Sprachentwicklung
1
-
-
-
-
-
-
-
Förderschulen für Körperbehinderte
-
-
-
-
-
-
-
-
Ohne Angabe
5
2
5
3
1
-
-
-
6629
3476
6604
3447
5996
3199
5524
2859
Insgesamt
Noch 1.12.3
Anzahl der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien nach Schuljahrgängen und schulischer Herkunft im Schuljahr 2008/09
Schulische Herkunft der Schüler/-innen
Im vergangenen Schuljahr besuchten Grundschulen Sekundarschulen Gymnasien
9. Schuljahrgang insgesamt
10. Schuljahrgang
weiblich
Insgesamt
11. Schuljahrgang
Weiblich
insgesamt
12. Schuljahrgang
weiblich
insgesamt
weiblich
-
-
-
-
-
-
-
-
12
7
29
17
-
-
-
3797
5063
2777
4518
2482
4805
2661
6750
Integrierte Gesamtschulen
4
4
-
-
1
1
-
-
Kooperative Gesamtschulen
5
5
-
-
1
-
-
-
Freie Waldorfschulen
1
1
-
-
-
-
-
-
Förderschulen für Sprachentwicklung
-
-
-
-
-
-
-
-
Förderschulen für Körperbehinderte
-
-
1
1
-
-
-
-
Ohne Angabe
2
1
14
9
129
70
-
-
5087
2795
4562
2509
4936
2732
6750
3797
Insgesamt
35.751
BW
70.552
BY
891
BE
29.480
BB
185,0
Schüler pro Schule
21,43
km² pro Schule
176.469
954
Schüler allg. bild. Schulen ges.
116
Anzahl allgemein bildende Schulen
17,24
4.092
177
349,8
1.269.084 1.431.280
(5.883)
301
407,7
327.830
1,11
804
3.851
251,3
218.412
33,92
869
86
2.381.872 10.749.506 12.519.728 3.431.675 2.522.493
20.447
Bevölkerung je km²
Bevölkerung gesamt
Fläche in km²
ST
HB
23.185
MV
47.625
NI
34.086
NW
19.853
RP
2.569
SL
18.418
SN
15.799
SH
16.172
TH
456,7
182.222
1,89
399
2.347
360,2
678.631
11,21
1.884
287
216,7
128.295
39,16
592
72
308,7
954.410
15,40
3.092
167
356,4
2.205.459
5,51
6.189
526
290,0
469.174
12,27
1.618
203
334,2
105.600
8,13
316
401
204,2
304.331
12,36
1.490
228
315,8
330.299
15,10
1.046
179
189,5
172.299
17,79
909
140
1.772.100 6.064.953 1.664.356 7.947.244 17.933.064 4.028.351 1.030.324 4.192.801 2.834.260 2.267.763
21.115
HE
338,6
6.174.853
11,60
18.237
247
52.357.924
211.599
alte Flächenländer ohne BW
319.301
Flächenländer; mit ST, ohne BW
213,3
823.337
22,60
3.860
122
311,3
7.174.659
13,85
23.051
205
10.647.413 65.387.209
87.255
neue Flächenländer ohne ST
12.11.2009
H:\Produktion\Beenken\Produktion Buch\412_20657_Weilandt_Schule\00 Manuskripte\Dokumentenanhang\Daten zum Satz\VGLA Schuldichte BL.xls\alle BL 0809
210,2
69.777
1,22
332
1.638
661.866
755
HH
(allgemein bildende Schule)
Schuldichte nach Bundesländern - Schuljahr 2008/2009
404
(Quelle: Statistisches Landesamt/Statistisches Jahrbuch 2009)
MK, 16.111
250 Anhang
Anhang 251 03.08.2010
16.111-8100
Übergänge an Gymnasien nach dem 4. Schuljahrgang Quelle: Statistische Berichte "Allgemein bildende Schulen" - Schuljahresanfangsstatistik -
Schuljahr
Schüler im 5. Sjg. Gymnasium mit schulischer Herkunft Grundschule
Schüler 4. Sjg. Grundschule Vorjahr
%
1995/96
11.963
35.319
33,9
1996/97
12.058
35.026
34,4
1997/98
768
34.248
2,2
1998/99
756
33.797
2,2
1999/2000
714
32.016
2,2
2000/01
744
30.619
2,4
2001/02
704
24.460
2,9
2002/03
680
17.082
4,0
2003/04
5.723
14.614
39,2
2004/05
5.875
13.766
42,7
2005/06
5.868
13.034
45,0
2006/07
5.864
13.592
43,1
2007/08
6.633
14.795
44,8
2008/09
6.598
15.037
43,9
2009/10
6.617
15.412
42,9
2010/11
6.832
16.138
42,3
(voraussichtlich)
Bemerkung
Wechsel zum 5. Sjg.
Wechsel erst zum 7. Sjg.
Wechsel zum 5. Sjg.
252 Anhang 21
2. S chulabgängerinnen und Schulabgänger s eit dem Schuljahr 1991/92 nach Abschlussarten
17000
Schulabgä nger/-innen
16000
15000
14000
13000
12000
11000
10000
9000
8000
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0 Hoch-und Fachhochschulreife
1991/92
erweiterter Realschulabschluss
1995/96
2000/01
Realschulabschluss
2 005/06
Hauptschul- und qualifizierter Hauptschulabschluss
2006/07
2007/08
ohne Hauptschulabschluss
20 08/09
K. Hinweise auf die benutzte Literatur Vorbemerkung 1: Es wird nur die Literatur genannt, auf die im Buch direkt Bezug genommen worden ist. Das ungewöhnlich reichhaltige Schrifttum zum deutschen Bildungswesen ist zuverlässig in den sechs Bänden des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte (Verlag C.H.Beck, München) dokumentiert worden. Für die ersten Jahre des hier behandelten Zeitraums von 1990 bis 2010 sei auf die Überblicksbibliographie in Band VI, 2. Teilband, Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, hrsg. von Christoph Führ und CarlLudwig Furck, München 1998, S. 439–444, besonders hingewiesen. Vorbemerkung 2: Zitate, die aus Artikeln in Zeitungen oder Zeitschriften stammen, sind im Text direkt oder in den Fußnoten belegt worden.
1. Primärquellen: 1. Die für dieses Buch fundamentalen Quellen sind die verschiedenen Fassungen des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt (SchulG LSA). Ihre Geschichte beginnt mit dem Schulreformgesetz vom 24.05.1991, das als Vorschaltgesetz konzipiert war, und hat in der Zwölften Novelle zur Änderung dieses Schulgesetzes vom 14.07.2009 (GVBl. LSA S. 358f.) ihr vorläufiges Ende gefunden. 2. Kaum weniger bedeutsam sind grundlegende Verordnungen gewesen, die als Rechtsvorschriften der Schullandschaft SachsenAnhalts ihre konkrete Gestalt verliehen haben. Zu nennen sind neben anderen in erster Linie – die Verordnung zur Schulentwicklungsplanung (VO SEPl), – die Verordnung über die gymnasiale Oberstufe (Oberstufenverordnung), – die Verordnung über berufsbildende Schulen (BBS VO),
254 Hinweise auf die benutzte Literatur
– die Verordnung über die Übergänge zwischen den Schulformen in der Sekundarstufe I, – die Verordnung über die Abschlüsse in der Sekundarstufe I und – die Verordnung über die sonderpädagogische Förderung. Auch diese Verordnungen sind mehrfach novelliert worden. Oft sind zudem Erlasse, Arbeitspapiere, Statistiken und Informationsschriften wichtige Quellen gewesen. Genannt seien besonders die Statistischen Berichte des Statistischen Landesamtes sowohl für das allgemeinbildende als auch für das berufsbildende Schulwesen. Hohen Rang haben auch Landtagsdrucksachen gehabt. Erwähnt seien neben Protokollen von Plenarsitzungen vor allem diverse Antworten der Landesregierung auf sogenannte Kleine Anfragen von Abgeordneten. Für den (bildungs)politischen Prozess, den zentralen Gegenstand dieses Buches, waren auch die Wahlprogramme der Protagonisten – also besonders von CDU und SPD – für die Landtagswahl 2006 sowie die darauf aufbauende Koalitionsvereinbarung von großer Bedeutung. Für das Kapitel G sind sie die Quellengrundlage gewesen: – Regierungsprogramm 2006–2011 der CDU, beschlossen auf dem 15. Außerordentlichen Parteitag der CDU Sachsen-Anhalt am 25.02.2006 in Barleben, – SPD-Wahlprogramm, beschlossen am 14. Januar 2006 in Halle, – Sachsen-Anhalt – Land mit Zukunft. Vereinbarung zwischen der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, Landesverband Sachsen-Anhalt, und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Landesverband Sachsen-Anhalt, über die Bildung einer Koalition in der fünften Legislaturperiode des Landtages von Sachsen-Anhalt 2006–2011 vom 26. April 2006. Auf diese Quellen ist häufig zurückgegriffen worden. Die Belegstelle ist stets im Text dieser Abhandlung oder in eigens ausgebrachten Fußnoten genannt.
Hinweise auf die benutzte Literatur 255
Über diese zahlreichen Primärquellen hinaus, die alle ihre Verwurzelung oder ihren Ursprung in Sachsen-Anhalts konkreter, sowohl grundsätzlicher als auch tagesaktueller, Bildungspolitik haben, sind folgende Einzeldokumente oder Dokumentensammlungen benutzt worden: – Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III, Bände 8a und 8b – 1990, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1991. In den beiden Bänden sind u.a. der Einigungsvertrag, der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, das Ländereinführungsgesetz, das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der DDR-Verfassung und die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere vom 19.04.1990 abgedruckt. – Bildungspolitik seit der Wende, Dokumente zum Umbau des ostdeutschen Bildungssystems (1989–1994), Hrsg. von HansWerner Fuchs und Lutz R. Reuter, Leske + Budrich, Opladen 1995. Im Buch zitiert unter Fuchs/Reuter. – Vereinbarung über die Anerkennung und Zuordnung der Lehrerausbildungsgänge der ehemaligen DDR zu herkömmlichen Laufbahnen, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 7.5.1993, KMK-Erg.-Lfg 79, September 1994. – PISA 2003: Ergebnisse des zweiten Ländervergleichs. Zusammenfassung. Hrsg. vom PISA-Konsortium Deutschland, 2004. Auf diese Veröffentlichung ist in diesem Buch konkret Bezug genommen worden. Selbstverständlich habe ich auch die zahlreichen weiteren Publikationen zu den PISA-Studien eingesehen und berücksichtigt. – Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG) in der Fassung vom 01.08.2003, hrsg. vom Niedersächsischen Kultusministerium, Hannover 2003. – Personalentwicklungskonzept des Landes Sachsen-Anhalt 2009–2025, Drucksache 5/2177 vom 17.09.2009. – Arbeitsplatzsicherungstarifverträge, die am 01.08.1997 bzw. am 01.08.2008 in Kraft traten.
256 Hinweise auf die benutzte Literatur
2. Sekundärquellen: – Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band VI, 2. Teilband, Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, hrsg. von Christoph Führ und Carl-Ludwig Furck, Verlag C.H.Beck, München 1998. Die Autoren der Einzelbeiträge, auf die Bezug genommen worden ist, sind in den Fußnoten genannt. – Die Gestaltung der deutschen Einheit, Geschichte – Politik – Gesellschaft, hrsg. von Eckhard Jesse und Armin Mitter, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 308, Bonn 1992. Auch in diesem Falle sind die Autoren mit ihren Beiträgen in den Fußnoten ausgewiesen worden. – Decker, W. / Frühauf, Th., Zwischen Verdrängtwerden und Verdrängen, in: Geistige Behinderung 36/1993, S. 1–15. – Schmidt, Wolfgang, Lehrerüberprüfungen und Stellenreduzierungen in den neuen Bundesländern, in: Pädagogik und Schulalltag 47/1992, S. 67ff. – Kraus, Josef, Der PISA-Schwindel, Signum Verlag Wien, 2005. – Weilandt, Markus, Der Aufbau eines demokratischen Schulwesens in Sachsen-Anhalt, Böhlau Verlag Köln, 1997.