Scheitern: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2023, Heft 02 [1 ed.] 9783666800382, 9783412524425, 9783525310793, 9783525800386


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Scheitern: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2023, Heft 02 [1 ed.]
 9783666800382, 9783412524425, 9783525310793, 9783525800386

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 2 | 2023 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

SCHEITERN Jared Sonnicksen The Failed States of America

Max Roehl D ­ ürrenmatts Welt der Pannen ­ Judith Lutz Selbstwerden durch Scheitern Volker Best Volkes Herrschaft und

Fehler­teufels Beitrag 

Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Beiträge zur Migrationsforschung

Jeronim Perović Rohstoffmacht Russland

Agnes Bresselau v. Bressensdorf (Hg.) Über Grenzen

Eine globale Energiegeschichte 2022. 264 Seiten mit 3 farb. Karten, gebunden, € 39,00 D ISBN 978-3-412-52442-5 Auch als e-Book erhältlich.

Die Industrialisierung und der Aufstieg Russlands zur modernen Grossmacht waren wesentlich mit dessen Fähigkeit verbunden, sein enormes Ressourcenpotential zu nutzen. Dieses Buch zeigt auf, dass Energie die Dynamik der OstWest-Beziehungen weit stärker beeinflusst hat, als die bisherige Forschung dies vermuten lässt. Der Umgang Russlands mit seinem Rohstoffreichtum ist zentral, um den Entwicklungsweg des Landes und sein Verhalten zu verstehen.

Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945

2019. 418 Seiten, gebunden € 60,00 D ISBN 978-3-525-31079-3 Auch als e-Book erhältlich.

Die Beitrage des Sammelbandes bieten auf aktuellem Forschungsstand ein breites Panorama an zeithistorischen, politikund sozialwissenschaftlichen Beiträgen. Sie diskutieren kontroverse Begriffe wie »Arbeits- und Wirtschaftsmigration«, »Zwangsmigration« und »politische Flucht«, analysieren Netzwerke, Infrastrukturen und Akteure verschiedener Migrationsregime und fragen nach Konzepten und Praktiken politischer Steuerung.

EDITORIAL Ξ  Volker Best / Katharina Rahlf

Höher, schneller, weiter – moderne Gesellschaften und ihre Teilsysteme, ob Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder (Leistungs-)Sport, sind auf Erfolg ausgerichtet, feiern die Erfolgreichen und eifern ihrem Vorbild nach. Zumindest in der Wirtschaft und in Selbstoptimierungsworkshops hat (mittlerweile) auch Misserfolg durchaus seinen Platz und Sinn – allerdings als Lerngelegenheit und damit Sprungbrett für künftiges Gelingen. »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better«, so lieben Unternehmens- und Lifestylegurus ihren Beckett. Wenn jemals ein Zitat aus dem Kontext gerissen wurde, dann freilich dieses, denn Beckett versuchte sich in seinem schon sinnfällig Worstward Ho (»Aufs Schlimmste zu«) betitelten vorletzten literarischen Werk keineswegs auf einmal als Positivität versprühender Mindset Coach, sondern stellte einmal mehr so meisterlich wie niederschmetternd die Absurdität aller Existenz heraus. Im Weiteren heißt es dann etwa: »Try again. Fail again. Better again. Or better worse. Fail worse again. Still worse again. Till sick for good. Throw up for good. Go for good.« Ein ungleich düstereres Szenario. Wie also verhält es sich mit fundamentalem Scheitern, mit Misserfolgen und Fehlern, die sich auch mit größtmöglichem Optimismus nicht als »wertvolle Lernerfahrung« auf dem Weg zu letztlich noch besseren Ergebnissen – eben: Erfolg – (um)deuten lassen? Und ist nicht ebenso oft wie in der heutigen Niederlage das Gelingen übermorgen im Moment großen Erfolgs der Kern kommenden Niedergangs angelegt? »Noch so ein Sieg, und wir sind verloren«, wird König Pyrrhos I. von Epirus nach einem zu teuer erkauften Sieg über die Römer 279 v. Chr. in den Mund gelegt. Während es in Kultur oder Sport bei aller Überbietungslogik zumindest so etwas wie Sympathie für den Underdog gibt und Selling out zugunsten größeren wirtschaftlichen Erfolgs oftmals als Verrat an sportlichen und künstlerischen Idealen gescholten wird, gilt doch auch hier der Zweite als erster Verlierer beziehungsweise will niemand auf Dauer die sprichwörtliche zweite Geige spielen. In der Politik scheint Scheitern schlicht keine Option. Viel Erfolg etwa mit der Erklärung, dass sich aus einer aufgedeckten Steuerverschwendung zumindest Lerneffekte für einen optimierten Mitteleinsatz in der Zukunft ziehen lassen. Fehler werden hier oft besonders unbarmherzig geahndet

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und daher häufig in nebulöse Paraphrasen gehüllt – was wiederum das ohnehin große Misstrauen in Politiker:innen noch weiter steigert. Insbesondere das Scheitern in der Politik steht daher im Fokus unseres Inte­ resses; daneben interessieren uns aber auch Perspektiven auf Misserfolg in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur, Musik und Psychologie. Dafür, dass es sich bei Scheitern um ein omnipräsentes gesellschaftliches Phänomen handelt, wird ihm seitens der Sozialwissenschaften erstaunlich wenig Aufmerksamkeit zuteil. Beim Befahren wenig erforschter Routen Schiffbruch zu erleiden – daher nämlich stammt der Begriff des Scheiterns –, stimmt uns indes nicht bang, wissen wir bei unserer Unternehmung doch Seneca an unserer Seite: »Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt.« In diesem Sinne: Fall wieder. Fall besser. Oder noch tiefer.

P.S.: Die Redaktion von INDES geht mit gutem Beispiel voran, indem sie mit ihrem Vorsatz, den Anteil weiblicher Beitragender signifikant zu erhöhen, ein weiteres Mal krachend gescheitert ist. Vorbildlich sind wir aber auch, indem wir diesen Fuckup eingestehen und hiermit explizit Wissenschaftlerinnen, Publizistinnen und Journalistinnen aufrufen, uns positiv auf unsere Anfragen zu antworten – selbst wenn sie nicht ganz sicher sind, unsere Fristen halten und den allerbesten aller möglichen Texte zu einem Thema abliefern zu können. Oft genug gelingt letztlich doch beides. Auch sind wir jederzeit interessiert an – gern auch abseitigen – Beitragsvorschlägen oder -skizzen zu beliebigen Themen (für die »Perspektiven«). Oft sind es ja gerade die vermeintlich zum Scheitern verurteilten Vorhaben, die sich schließlich als besonders erfolgreich, sprich lesenswert erweisen.

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EDITORIAL

INHALT

1 EDITORIAL

Ξ Volker Best / Katharina Rahlf

>> ANALYSE

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Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag Zum Zusammenhang von Demokratie und Scheitern Ξ Volker Best

20 The Failed States of America? Zur wachsenden Fragmentierung der USA und dem (Miss-)Erfolg der Verfassung Ξ Jared Sonnicksen

29 Ausgedient Rücktritte von Ministerinnen und Ministern in der »Berliner Republik« Ξ Manuel Becker

38 Gescheitert am eigenen System Der politische Niedergang Walter Ulbrichts Ξ Alina Kröber

>> KOMMENTAR 46 Integration(spolitik) abermals gescheitert? Eine kritische Betrachtung Ξ Mahir Tokatlı

>> INTERVIEW 55  »Bei innovativer ­Forschung ist das Risiko für ein Scheitern natur­gemäß erhöht« Interview mit Michael Jungert

>> ANALYSE 61 Erfolgreich scheitern? Eine psychologische Standort­bestimmung Ξ Olaf Morgenroth

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69 »Fuckup Night« versus ChatGPT Ein Lehrstück zu den Grenzen sogenannter Künstlicher Intelligenz Ξ Guido Wolf

80 Selbstwerden durch Scheitern Grenzsituationen als Bildungsanlass bei Karl Jaspers Ξ Judith Lutz

88 Die Welt der Pannen Scheitern in Dürrenmatts Welttheater Ξ Max Roehl



>> PORTRÄT 97 The Man in Black is Back Johnny Cashs Karrierewende in den neunziger Jahren und sein erstaunlicher Nachruhm Ξ Frank Decker



PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 109 Le parti, c’est moi Die französischen Parteien LREM und LFI zwischen Bottom-up-Anspruch und Top-down-Wirklichkeit Ξ Simon Braun



>> KOMMENTAR 116 Über den lokalen ­Tellerrand hinaus Eine kritische Handlungsanweisung zum dreißigjährigen Bestehen der Tafel Deutschland e. V. Ξ Maximilian Blaeser

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SCHWERPUNKT: SCHEITERN

ANALYSE

VOLKES HERRSCHAFT UND FEHLERTEUFELS BEITRAG ZUM ZUSAMMENHANG VON DEMOKRATIE UND SCHEITERN Ξ  Volker Best

1  Vgl. Wilfried Nippel, Politische Theorien der griechisch-römischen Antike, in: Hans J. Lieber (Hg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2000, S. 17–46, hier S. 30.

Ganz in der Tradition klassischer Dekadenztheorien sah Polybios die Demokratie wie alle guten Herrschaftsformen – also auch die Monarchie und die Aristokratie – durch moralischen Verfall zum Scheitern und zur Degeneration verurteilt; im Fall der Demokratie hin zur Ochlokratie, der Pöbelherrschaft. Diese werde dann wieder durch eine Monarchie ersetzt und der Kreislauf der Verfassungen – Monarchie → Tyrannis → Aristokratie → Oligarchie → Demokratie → Ochlokratie – beginne von Neuem.1 Mit über zwei Jahrtausenden mehr historischer Empirie als Polybios hat die Menschheit dieser dialektischen Betrachtung der Weltgeschichte abgeschworen und rechnet zumindest keinesfalls mit einer Renaissance der Monarchie. Längst verklungen sind allerdings auch die Jubelgesänge über das »Ende der Geschichte«2, den im Nachgang des Kalten Kriegs vermeintlich unvermeidlichen globalen Siegeszug der liberalen Demokratie. Auf dessen Höhepunkt stufte das schwedische Forschungsinstitut V-Dem im Jahr 2012 42 Staaten als liberale Demokratien ein, mittlerweile sind es nurmehr 34 – so wenige wie zuletzt vor 26 Jahren. Das Demokratieniveau, in dessen Genuss ein:e durchschnittliche Erdenbürger:in gelangt, ist gar auf jenes des Jahres 1989 zurückgefallen. Im letzten Jahrzehnt hat eine Rekordzahl von 33 Ländern einen Autokratisierungstrend erlebt, einen Demokratisierungstrend durchliefen hingegen nur 15 – die niedrigste Zahl seit 1978.3 Zahlreiche Buchneuerscheinungen der letzten Jahre künden von Regression, Zerfall oder Sterben der Demokratie und dem Weg in die Unfreiheit.4 Leider sind viele Wähler:innen bereit, undemokratisches Gebaren von Politiker:innen in Kauf zu nehmen, wenn diese ansonsten die eigenen Positionen vertreten.5

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2  Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 3  Vgl. V-Dem Institute, Democracy Report 2022. Autocratization Changing Nature?, Gothenburg 2022, S. 12 f. 4  Vgl. Armin Schäfer & Michael Zürn, Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin 2021; Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018; Steven Levitsky & Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018; Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2018. 5  Vgl. Elena Avramovska u. a., Identity, Partisanship, Polarization. How democratically elected politicians get away with autocratizing their country, tinyurl. com/indes232a1; Marcel Lewandowsky & Michael Jankowski, Sympathy for the devil? Voter support for illiberal politicians, in: European Political Science Review, H. 1/2023, S. 39–56.

AUF DIE VERLIERER KOMMT ES AN Demokratie und Scheitern, Scheitern und Demokratie – welche Zusammenhänge lassen sich zwischen diesen beiden Konzepten herausarbeiten? Das Herrschaftssystem der Demokratie beruht auf freien und fairen Wahlen. Präziser lässt es sich definieren als »system in which parties lose elections«6 und braucht insofern in erster Linie gute Verlierer:innen. So wie jüngst die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, die, obwohl ihre Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen nicht einmal einen Prozentpunkt hinter den Konservativen gelandet waren, ihre Niederlage mit den feierlichen Worten kommentierte: »Die Demokratie hat gesprochen, das finnische Volk hat gewählt und die Feier der Demokratie ist immer eine wunderbare Sache.«7 Donald Trump weigerte sich hingegen, seine Niederlage gegen Joe Biden bei der US-Präsidentschaftswahl 2020 qua einer in den Vereinigten Staaten zum guten demokratischen Brauch gehörenden Concession Speech einzuräumen, und stachelte seine Anhänger:innen gegen einen vermeintlichen »Big Steal« auf. Rund tausend von ihnen stürmten schließlich das Kapitol. Was bringt Wahlverlierer:innen dazu, sich wie Marin und ihre Parteigänger:innen zu verhalten und nicht wie Trump und die Seinen? In einem empirischen Test schneidet von den drei theoretischen Erklärungen für den Loser’s Consent am besten diejenige ab, wonach die unterlegene 6  Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Econonmic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991, S. 10. 7  Zit. nach Alex Rühle, Finnland steht vor Regierungswechsel, in: Süddeutsche Zeitung, 04.04.2023.

Seite des Wahlvolks Chancen auf einen zukünftigen Sieg sieht, also der Charakter der Demokratie als einer »loser-friendly competition« befriedende Wirkung entfaltet. Die zweitbeste Erklärung liefert das Argument, dass die Besiegten die wirtschaftlichen Konsequenzen eines Abgleitens in die Autokratie bei einer Nichtakzeptanz ihrer Niederlage scheuen; am wenigsten überzeugt die Begründung, die Zustimmung der Verlierer:innen sei durch ihre geringen Aussichten auf Erfolg bei einem bewaffneten Konflikt mit dem Regime motiviert.8

8  Vgl. Ignacio Lago & Ferran Martinez i Coma, Challenge or Consent? Understanding Losers’ Reactions in Mass Elections, in: Government and Opposition, H. 3/2017, S. 412–436. 9  Vgl. Philippe Mongrain, Suspicious Minds. Unexpected Election Outcomes, Per­ ceived Electoral Integrity and Satisfaction With Democracy in American Presidential Elections, in: Political Research Quarterly 2023, tinyurl.com/indes232a2.

Die Anerkennung des Wahlsiegs nicht allein durch die Siegreichen ist eine große Errungenschaft, zumal wenn man bedenkt, dass Wahlen sehr komplexe Prozesse darstellen. Zeigte sich die österreichische Sozialdemokratie schon mit 600 Delegiertenstimmen heillos überfordert, kommt es in modernen Großflächenstaaten mit Millionen Wahlberechtigten angesichts der immensen logistischen Herausforderungen nahezu unweigerlich zu Unregelmäßigkeiten. Das bietet Narrativen eines Wahldiebstahls reichlich Angriffsfläche – vor allem, wenn der Wahlausgang den Erwartungen von Wähler:innen widerspricht, welche ihrerseits durch Narrative eines anstehenden sicheren Siegs manipuliert werden können.9 Nicht von Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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ungefähr gibt das Bundesverfassungsgericht Wahlbeschwerden nur insoweit statt, wie sie sich auf die Mandatszuteilung auswirken. Im regel­mäßig überzogen als »failed state« verspotteten Berlin kam es bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 zu hanebüchenen Zuständen in und vor den Wahllokalen. Der Wahlakt an sich scheiterte, was letztlich nur durch eine Wahlwiederholung (Februar 2023) behoben werden konnte. Diese produzierte keine größeren Unregelmäßigkeiten, aber ein Ergebnis, das mal wieder sehr plakativ die Frage aufwarf, was eigentlich unter der Voraussetzung von Vielparteiensystemen Sieg und Niederlage in der Demokratie ausmacht. Knapp ausgegangen war dabei nur das Rennen zwischen Platz 2 und 3 – am Ende lag die SPD gerade einmal 53 Stimmen vor den Grünen. Allein vorne lag klar die CDU; sowohl ihr Vorsprung als auch ihr Zugewinn betrugen fast zehn Prozentpunkte. Allerdings hatte sie ihren Wahlkampf konfrontativ gegen den bisherigen Senat aus SPD, Grünen und Die LINKE gerichtet, die trotz – wiewohl schmerzlichen – Verlusten aller drei Partner weiterhin gemeinsam über eine absolute Mehrheit verfügt hätten. CDU-Landesgeneralsekretär Stefan Evers machte sich das reißerische BILD-Raunen eines dräuenden »Wahl-Klau« zu eigen.10 Die Regierende Bürgermeisterin der SPD, Franziska Giffey, hätte sich durchaus für die Fortführung des rot-grün-roten Bündnisses und damit ihren eigenen Verbleib im Amt entscheiden können, zog dem aber letztlich die Juniorrolle unter CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner vor. AUF VERLIERER SETZEN ODER SIE ABSETZEN? Leichter wird ihr diese Entscheidung gemacht haben, dass ihre Partei nach wie vor auf sie als Zugpferd setzt, sie also zumindest als Senatorin weiterwirken kann. Nicht mit allen gescheiterten Spitzenkandidat:innen wird in der Demokratie so gnädig umgegangen. Während Willy Brandt 1969 ein drittes Mal in Folge als SPD-Kanzlerkandidat antreten durfte, nachdem er bei den beiden vorherigen Anläufen zumindest die Lücke zur Union sukzessive zu verringern imstande gewesen war, und Christian Wulff in Niedersachsen ebenfalls drei Mal ins Rennen geschickt wurde, obwohl die Versuche 1 und 2 die schlechtesten Ergebnisse für die CDU seit mehr als drei Jahrzehnten erbracht hatten, wird heute mit vor dem Auge des demokratischen Souveräns Scheiternden oft kurzer Prozess gemacht. Dabei kann es durchaus Sinn ergeben, achtbar gescheiterte Kandidierende nochmals aufzubieten – gerade auf der Landesebene, wo es für die He­ rausforder:innen schon eine große Aufgabe darstellt, überhaupt aus dem Schlagschatten herauszutreten, den der oder die Amtsinhaber:in auf die

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Scheitern — Analyse

10  Vgl. Lenz Jacobsen, Das war der falsche WahlKampf, in: Die Zeit, 13.02.2023, tinyurl.com/indes232a3.

spärlich beleuchtete Landesbühne wirft. Außer dem Amtsbonus bestimmt die dortigen Wahlergebnisse zudem regelmäßig der Bundestrend gewichtig mit; die Schuld für das Scheitern der Wahlziele einer Partei kann somit selten eindeutig der Person an der Spitze zugerechnet werden. Nachdem Norbert Röttgen versucht hatte, für sein desaströses Wahlergebnis als NRW-Spitzenkandidat der CDU 2012 die Politik der Bundesregierung in Mithaftung zu nehmen, wurde er von Angela Merkel sogar als Bundesumweltminister abgesägt.11 Offizielle Begründung: Es fehle ihm nach der Schmach an der nötigen Autorität, um die Energiewende durchzusetzen.12 Auf die Füße gefallen war Röttgen bei der Wahl unter anderem gerade, dass er sich, für den Fall des Scheiterns einer Ablösung von Rot-Grün an Rhein und Ruhr, die Rückkehr an seinen Schreibtisch im Umweltministerium an der Spree offengehalten hatte. Als zu karriereorientiert, als zu wenig NRW-patriotisch wurde ihm das Nichtbescheiden mit der Rolle des Oppositionsführers im Landesparlament angekreidet. Seither gehörte es zum Standardrepertoire von Spitzenkandidaten, jedwede »Rückfahrkarte« auszuschlagen, zuletzt bei Armin Laschet auch umgekehrt von Berlin nach Düsseldorf. Nancy Faeser brach elf Jahre nach Röttgens Niederlage erstmals mit dieser Gepflogenheit, wobei sie für ihre Haltung argumentativ anführte, dass sie ja bereits einige Jahre das Amt der Oppositionsführerin in Hessen bekleidet habe. Einerseits mutet der Verweis auf ein früheres Dienen an der Landtagsoppositionsfront kaum weniger karrieristisch an, andererseits überzeugt aber abseits wahltaktischer Erwägungen auch die AntiRückfahrkarten-Doktrin keineswegs: Wer würde sich schon als leitender Angestellter eines Großunternehmens, nachdem er von einem mittelständischen Unternehmen für die Geschäftsleitung abschlägig beschieden wurde, bei diesem im Controlling verdingen, anstatt auf seinem einflussreichen Posten zu verbleiben? In ungewohnt hohem Maße ließ sich das elektorale Scheitern von Parteien an das Scheitern ihrer Spitzenleute bei der letzten Bundestags11  Zu Rücktritten von Minister:innen aus – mehr oder weniger – freien Stücken in der Bundesrepublik und der Frage, inwiefern diese ein Scheitern bedeuten, vgl. den Beitrag von Manuel Becker in diesem Heft.

wahl rückbinden, als sich erst die grüne Spitzenfrau Annalena Baerbock als Lebenslaufaufhübscherin und Sachbuchplagiatorin entzauberte und dann CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Flutgebiet um Kopf und Kragen kicherte. Zum lachenden Dritten wurde so Olaf Scholz, keine zwei Jahre zuvor noch bei der Urwahl des SPD-Vorsitzes schmerzhaft gescheitert. Wahrscheinlich machte ihn gerade das für Ex-Merkel-Wähler:innen

12  Vgl. Ralph Bollmann, Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit, München 2021, S. 426 ff.

als Anlaufstation anschlussfähiger. Aber auch bei der Bundestagswahl sind die Gründe für Scheitern und Erfolg letztlich komplexer, als das Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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Reduzieren auf eine reine Personenwahl suggeriert: So konnte Laschet nichts für das stetige In-den-Rücken-Fallen von CSU-Chef Markus Söder und nicht mehr als andere für die programmatische Entleerung der CDU und die offenkundig werdenden Versäumnisse in der langen Merkel-Ära. Und ebenso wie Laschet war Baerbock ganz auf eine Auseinandersetzung – und ein anschließendes Zusammensetzen, insofern mehr Schaukampf als Showdown – zwischen Schwarz und Grün beim Thema Klimaschutz geeicht. Das ermöglichte Scholz, als Kandidat des Sowohlals-Auch (vermeintlich entschiedener Klimakanzler und Schutzpatron der zu große Veränderungen Fürchtenden in Personalunion) zu reüssieren. SCHEITERN VON REGIERUNGEN Nicht nur der Wahlkampf und der Wahlakt sind in Demokratien mit Scheitern verbunden, auch die anschließende Regierungsbildung kann missglücken. Die frisch gebildete Berliner GroKo schrammte jüngst nur haarscharf an der Katastrophe vorbei, als Kai Wegners Wahl zum Regierenden Bürgermeister gleich zwei Mal misslang; beim ersten Anlauf fehlten von den 86 Stimmen der Koalitionsparteien nicht weniger als 15. Ganze vier Mal war 2005 Heide Simonis’ Wahl zur schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin an die Spitze einer »Dänenampel« gescheitert, bevor sie aufgab; der berüchtigte »Heide-Mörder« wurde bis heute nicht gefasst. Während solche Landesdramen im Rest der Republik meist recht ungerührt zur Kenntnis genommen werden, wurde der Abbruch der XXLSondierungen zu einer Jamaika-Koalition nach der Bundestagswahl 2017 durch die lieber nicht als falsch regieren wollende FDP in der stabilitätsfixierten Bundesrepublik als gravierende Krise begriffen. Als der Bundespräsident schließlich SPD-Chef Martin Schulz überredete, seine wiederholte Absage an eine Fortführung der Großen Koalition zu revidieren, war ein kollektives Aufatmen zu vernehmen. Eine Minderheitsregierung gilt in der »Weimarer Verhältnisse« fürchtenden politischen Kultur auch nach Jahrzehnten stabilen demokratischen Regierens immer noch als unkalkulierbares Risiko. Neuwahlen hätten so bald nach der regulären Wahl wohl keine neuen Koalitionsmöglichkeiten eröffnet. Aber auch generell ist mit Blick auf vorgezogene Neuwahlen im internationalen Vergleich bei deutschen Wähler:innen eine ungewöhnliche Zurückhaltung gegenüber allzu häufigen Partizipationschancen und bei deutschen Parteien eine besondere Versessenheit, deren »Auftrag« bis zum letzten Tag der Legislaturperiode nachzukommen, festzustellen.13

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Scheitern — Analyse

13  Vgl. Erik Baltz, Do Too Many Cooks Spoil the Broth? How a Cabinet’s Internal Decision-Making Impacts Cabinets’ Survival, in: Ders. u. a. (Hg.), Parties, Institutions and Pref­ erences. The Shape and Impact of Partisan Politics, Wiesbaden 2022, S. 205–229, hier S. 206.

Besser nicht regieren als nicht zu Ende regieren, lautet die Devise, so bitter dieses Ende auch ausfallen mag. Wer vorzeitig hinschmeißen will, braucht unabweisbare Gründe, weswegen die SPD-Verhandler:innen extra eine Halbzeitbilanz als Sollbruchstelle im Koalitionsvertrag der 2018 dann doch widerwillig eingegangenen GroKo verankerten. Gerade rechtzeitig zur großen Abrechnung täuschte die Union dann doch noch Entgegenkommen im langwierigen Streit um das sozialdemokratische Herzensthema Grundrente an. Nach der entsprechend positiv ausgefallenen Halbzeitbilanz zogen die Christdemokrat:innen doch wieder wesentliche Teile des Kompromisses in Zweifel, aber die Gelegenheit zum wohlbegründeten Koalitionsausstieg war unwiederbringlich verstrichen.14 Im internationalen Vergleich lassen sich hiervon stark abweichende Einstellungsmuster finden. In Italien etwa ist das vorzeitige Scheitern von Regierungen an der Tagesordnung und wird entsprechend abgeklärter hingenommen.15 Auch in den Niederlanden finden zahlreiche Kabinette ein vorzeitiges Ende. Von den vier Kabinetten des scheidenden Premiers Mark Rutte hielt nur eins die volle Legislatur durch. Spätestens seit Mitte der 1960er Jahre ist es dort zur Usance geworden, dass auf das 14  Gregor Waschinski, Union zweifelt an Finanzierbarkeit der Grundrente – und bremst das Vorhaben, in: Handelsblatt, 21.04.2020, tinyurl.com/indes232a4. 15  Vgl. Marco Improta, Unpacking government instability. Cabinet duration, innovation, and termination events in Italy between 1948 and 2021, in: Quaderni di scienza politica, H. 2/2022, S. 151–180.

verfrühte Abtreten einer Koalition vorgezogene Neuwahlen folgen16 – so auch nun wieder. Generell stellen viele parlamentarische Systeme durch ein Recht der Regierung, vorgezogene Neuwahlen anzusetzen, ein gewisses Maß an »Waffengleichheit« zwischen dieser und dem mit dem Abberufungsrecht bewehrten Parlament her. Jede siebte Parlamentswahl in Europa zwischen 1945 und 2013 war eine so ausgelöste »snap election«. Auch wenn dieser ein machtstrategisches Kalkül zugrunde liegt – zu einem für die eigene Seite günstig erscheinenden Zeitpunkt eine Verlängerung des Wähler:innenmandats zu erreichen –, kann dieses doch fehlgehen. Im Vereinigten Königreich werden »snap elections« daher als Bereitschaft,

16  Vgl. Tom Louwerse & Arco Timmermans, The Netherlands: Old Solutions to New Problems, in: Torbjörn Bergman u. a. (Hg.), Coalition Governance in Western Europe, Oxford 2021, S. 448–481, hier S. 473 ff. 17  Vgl. Stuart J. TurnbullDugarte, Do opportunistic snap elections affect political trust? Evidence from a natural experiment?, in: European Journal of Political Research, H. 1/2023, S. 308–325.

die eigene Macht aufs Spiel zu setzen, aufgefasst und damit als Ausweis von Responsivität sowie als zusätzliche Chance »to have a say«. Zumindest kurzfristig kann das zu einer deutlichen Zunahme des Vertrauens in die Regierung führen.17 Problematisch wird es indes, wenn Wahlen wiederholt keine klare Entscheidung bringen. In Israel endeten zwischen April 2019 und März 2020 drei Wahlen in einem Patt zwischen dem Netanjahu- und dem Anti-­ Netanjahu-Block, eine blockübergreifende Regierung scheiterte nach einem halben Jahr. Eine weitere Neuwahl brachte eine hauchdünne Mehrheit für eine heterogene Anti-Netanjahu-Koalition aus acht Parteien, die nur ein Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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Jahr hielt. Die fünfte Wahl binnen dreieinhalb Jahren brachte schließlich eine ebenfalls knappe, aber kohärente, nur leider nicht besonders demokratisch gesinnte Mehrheit hervor, die sich nun anschickt, die rechtsstaatlichen Beschränkungen ihrer Macht einzureißen – und die einzige Demokratie im Nahen Osten gleich mit.18 NOCH SO EIN JAHR, UND WIR SIND VERLOREN Derweil brütet die von der Ampel eingesetzte »Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit« – neben Vorschlägen zur Geschlechterparität und zur Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre, für die es keine Mehrheit geben wird – über einer Verlängerung der Legislatur auf fünf Jahre. Begründet wird dies mit der schwieriger und damit auch zeitraubender gewordenen Koalitionsbildung, hatte die Regierungsbildung 2013 doch mit 86 Tagen knapp dreimal so lange gedauert wie die bis dahin meist üblichen rund dreißig Tage und 2017 mit 171 Tagen nochmal doppelt so lange; auch die Bildung der Großen Koalition 2005 mit 65 und jene der Ampel 2021 mit 73 Tagen hatten in diesem Sinne »Überlänge«.19 Sinnlos ist der Plan trotzdem, denn die Schwierigkeit der seit 2005 fast durchgängig erforderlich gewordenen lagerübergreifenden Koalitionen, mittlerweile darüber hinaus noch im Dreierformat, besteht ja gerade darin, dass ihre Gemeinsamkeiten übersichtlich ausfallen. Die letzte Große Koalition hatte unter dem Druck der anstehenden Halbzeitbilanz bereits nach anderthalb Jahren zwei Drittel der vereinbarten Projekte abgehakt oder zumindest angegangen. Am Ende setzte sie aber mit knapp achtzig Prozent kaum mehr um als die Vorgängerkoalition, die zur Halbzeit bloß die Hälfte ihrer Vereinbarungen geschafft hatte. Die Interpretation, die Pandemie hätte die Koalition gehindert, eine noch bessere Bilanz vorzulegen,20 scheint nicht sonderlich schlüssig. Eher wird umgekehrt ein

18  Bei der Einordnung Israels als Demokratie muss auf die Schwäche der fehlenden Demokratie in den besetzten Gebieten und der Diskriminierungen gegen arabische Staatsbürger:innen hingewiesen werden. Vgl. Suzie Navot, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Israel. Ein Blick in Israels Verfassungsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 18–19/2023, S. 18–24, hier S. 22 ff. 19  Vgl. Michael F. Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Kap. 6.7, tinyurl. com/indes232a5, S. 2. 20  Vgl. Theres Matthieß & Robert Vehrenkamp, Bilanz der Großen Koalition von 2018 bis 2021. Versprechen, Umsetzung und Wahrnehmung des Regierungsprogramms, in: Karl-Rudolf Korte u. a. (Hg.), Die Bundestagswahl 2021. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden 2022, tinyurl.com/indes232a6, S. 14.

Schuh daraus: Hätte Corona der GroKo nicht unverhofft eine neue raison d’être beschert, wäre in den zwei verbleibenden Jahren außer einem ständigen Beharken der Partner wohl kaum noch etwas passiert. Einen solchen Koalitionskrampf weiter auszudehnen, wäre nicht nur für das Land schlecht, sondern vermutlich auch für das Ergebnis der Koalitionsparteien bei der Folgewahl – es sei denn, eine rettende Krise bricht herein. Dass einer der beiden Stränge der vergleichen Forschung zur Kabinettsstabilität auf deren Bedrohung durch kritische Ereignisse abhebt,21 scheint aus deutscher Perspektive mittlerweile fast kontraintuitiv. Wie wäre es statt einer Verlängerung der Legislaturperiode mit der Schaffung eines Rechts

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Scheitern — Analyse

21  Vgl. Eric C. Browne u. a., An »Events« Approach to the Problem of Cabinet Stability, in: Comparative Political Studies, H. 2/1984, S. 167–197; Thomas Saalfeld, Economic Performance, Political Institutions and Cabinet Durability in 28 European Parliamentary Democracies, 1945–2011, in: Wolfgang C. Müller & Hannemarthe Narud (Hg.), Party Governance and Party Democracy, New York 2013, S. 51–79.

des Bundestags zur Selbstauflösung – gerne mit Zweidrittelmehrheit –, ohne welches nur der Weg einer »unechten«, da absichtlich verlorenen, Vertrauensfrage beschritten werden kann, wenn eine Regierung an die Grenzen ihrer Gestaltungsfähigkeit gelangt ist? SCHEITERN »GROSSER WÜRFE« Die Demokratie ist die Herrschaft der Vielen, und viele Köche verderben den Brei, so sagt das Sprichwort, und impliziert damit sowohl das Scheitern der handelnden Akteure (Köche) als auch das Scheitern des Outputs (Brei). Insbesondere scheint Demokratie das Scheitern des »großen Wurfs« zu bedeuten. Vielfach wird dies im Anschluss an Karl Popper, der, von der Fehlbarkeit des menschlichen Verstandes überzeugt, inkrementelles, leicht revidierbares und damit fehlerfreundliches piecemeal engineering als positives Gegenmodell zu einer holistischen und diktaturaffinen Gestaltungshybris propagierte,22 als positiv bewertet: »Die liberale Demokratie ist die einzige Utopie, die das Heil im Prozess, im Wandel sucht, in der Korrektur begangener Fehler – und nicht im finalen Zustand der irreversiblen paradiesischen fehlerlosen Vollkommenheit. […] Das eigentliche Wesen der Demokratie liegt […] in der Offenheit des politischen Systems, im Mut zur Unvollkommenheit. Wir nennen die liberale Demokratie Utopie der Unvollkommenheit.«23 Diesem Denken zufolge manifestieren sich gerade in »der oft mühsamen Suche nach einem belastbaren Kompromiss […] die Würde des politischen Handelns und das Ethos der Demokratie«24. Teilweise wird dies noch dahin22  Vgl. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber Platons, Bern u. a. 1970, S. 217.

gehend übersteigert, dass Kompromisse nur dann als gut gelten könnten, wenn alle gleich unzufrieden mit ihnen seien. Und natürlich müssen immer alle, alle, alle »mitgenommen« werden. Solcherlei Konsensfetischismus verkennt indes, dass erstens die (Wahl-)Bürger:innen seit Poppers

23  Emil Kowalski, Dummheit. Eine Erfolgsgeschichte, Rieden bei Baden 2022, hier S. 82. 24  Günther Rüther, Vertrauen, Verantwortung und die Würde des Kompromisses, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 38/2009, S. 21–26, hier S. 26.

Zeiten unduldsamer geworden sind. Sie sind aus anderen Lebensbereichen eine schnellere Taktung von Ankündigung und Umsetzung gewöhnt, was wahrscheinlich kein Ausmaß an politischer Bildungsarbeit zurückdrehen kann. Sie fühlen sich immer weniger fest an bestimmte Parteien gebunden, auch das wird sich kaum mehr umkehren. So sind sie »anspruchsvoller, urteilsfreudiger und mitunter verurteilungsfreudiger geworden«25, und damit auch geneigter, das Versagen einzelner Parteien und Politiker:in-

25  Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, S. 503.

nen bei der Umsetzung ihrer Versprechungen als Scheitern der repräsentativen Demokratie insgesamt zu deuten. Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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Mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland erklären sich nurmehr weniger als die Hälfte der Befragten zufrieden. 82 Prozent befinden dabei als ein großes (darunter 35 Prozent sogar als ein sehr großes) Problem, dass zentrale Wahlversprechen oft nicht umgesetzt werden.26 Ein Teil der Wahlversprechen ist von vornherein unrealistisch – das ist in einem System, das die Macht in einem kompetitiven Verfahren vergibt, kaum zu verhindern. Überdies bleibt aber ein weiterer – unter den Rahmenbedingungen lagerübergreifender Koalitionen gewachsener – Teil bei den Koalitionsverhandlungen auf der Strecke. Ein dritter Teil scheitert am Bundesrat, in dem die Bundesregierungen seit zehn Jahren nicht einmal mehr zu Beginn ihrer Amtszeit eine eigene Mehrheit haben und angesichts einer zunehmend bunt aufgefächerten Koalitionslandschaft in den Ländern weniger Stimmen denn je »kontrollieren«. Auch wenn im Sinne der Gesetzgebungsstatistik nur wenige Entwürfe »endgültig scheitern«, werden im Bundesrat doch etliche »große Würfe« kleingestückelt, bis man den Fortschritt mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen vermag (jüngst etwa beim Gebäudeenergiegesetz). Politische Projekte, die auch diese Hürde genommen haben, unterliegen dann immer noch dem verfassungsrechtlichen Risiko, in Karlsruhe kassiert zu werden. Dabei scheinen beim Bundesverfassungsgericht die Einsicht in die »Grenzen der eigenen begrenzten Rationalität«27 und die darauf fußende richterliche Selbstbeschränkung im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Recht nachzulassen. Stattdessen greift offenbar eine stärker aktivistische Entscheidungspraxis zu Lasten des politischen Gestaltungsanspruchs von Regierung und Parlament Raum. Dass »[s]elbst eminent politische Entscheidungen des Gerichts […] mit völliger Selbstverständlichkeit allgemein akzeptiert«28 werden, dürfte an mehreren Facetten der politischen Kultur in Deutschland liegen: »An einer nach wie vor tiefen Sehnsucht der Deutschen nach überparteilichen Entscheidungen? An einem ebenfalls sehr deutschen […] Glauben an das Recht? Oder an einem tief in der Mentalitätsgeschichte eines konfessionell gespaltenen Landes verwurzelten Misstrauen gegen das Mehrheitsprinzip, dessen Grenzen im Bundesverfassungsgericht institutionalisiert sind?«29 PILLEPALLE VS. POLYKRISE Neben dem »Problem, […] dass jede Entscheidung in Koalitionen und einer föderal verflochtenen Struktur zu Staub zermahlen«30 und das Übriggebliebene dann auch noch in Karlsruhe kritisch beäugt wird, stellt der

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Scheitern — Analyse

26  Vgl. Volker Best u. a., Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft?, Bonn 2023, tinyurl. com/indes232a7, S. 17 f., 31 f. 27  Udo Di Fabio, Coronabilanz. Lehrstunde der ­Demokratie, München 2021, S. 85. 28  Florian Meinel, Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München 2019, S. 147 f. 29 

Ebd., S. 147.

30  Felix Heidenreich, Demokratie als Zumutung. Für eine andere Bürgerlichkeit, Stuttgart 2022, S. 57.

Konsensfetischismus zweitens nicht in Rechnung, dass mit der »Polykrise«, und insbesondere der Klimakrise, Herausforderungen im Raum stehen, die sich nicht scheibchenweise abtragen lassen und bei denen es nicht zur Not auch etwas länger dauern darf. Alle mitnehmen heißt da im Zweifel: alle mitnehmen in die Klimakatastrophe. Unter diesen Voraussetzungen gerät Konsens zu Nonsens und eine ungerührt fortgeführte pragmatische Konsenssuche zur problematischen Konsensseuche: »Suppose that society is under some sort of ecological or nuclear threat which may have disastrous consequences. In such a case, [piecemeal engineering] ›would be like trying to save a sinking ship by experimenting in a bucket of water‹. Since there is simply no time to look out for conseqences, the only 31  Gürol Irzik, Popper’s Piecemeal Engineering. What Is Good for Science Is not Always Good for Society, in: The British Journal for the Philosophy of Science, H. 1/1985, S. 1–10. 32  Vgl. o. V., »Kein Pillepalle mehr« in der Klimapolitik. Merkel kündigt Kurswechsel an, in: bild.de, 05.06.2019, tinyurl.com/indes232a8. 33  Zit. nach o. V., Merkel präsentiert Klimapaket: »Politik ist das, was möglich ist«, in: Die Welt, 21.09.2019, tinyurl.com/indes232a9. 34  Michael Mertes, Zyklen der Macht. Dynamik und Stagnation, Aufstieg und Niedergang in der Politik, Bonn 2021, S. 80. 35  Vgl. Michael Bauchmüller, Blinder Fleck, in: Süddeutsche Zeitung, 19.04.2023, tinyurl.com/indes232a10. 36  Vgl. Charles E. Lindblom, The Science of Muddling Through, in: Public Administration Review, H. 2/1959, S. 79–88. 37  Vgl. R. Kent Weaver, The Politics of Blame Avoidance, in: Journal of Public ­Policy, H. 4/1986, S. 371–398.

thing to do is to take a quick and radical measure.«31 Angela Merkel – immerhin von Hause aus Physikerin, aber dann doch zuvorderst »Physikerin der Macht« – fand erst im 14. Jahr ihrer Kanzlerschaft, den Abschied vom Amt bereits im Blick, und erst in Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und den Erfolg der Grünen bei der Europawahl 2019, bei einer Fraktionssitzung zu der markigen Erkenntnis, man dürfe in der Klimapolitik kein »Pillepalle mehr« machen, schließlich sei seit 2012 nichts mehr passiert.32 Das einige Monate später verabschiedete Maßnahmenpaket verteidigte sie dann dennoch schwachbrüstig: »Politik ist das, was möglich ist«33 – heute also, könnte man ergänzen, »nicht mehr das Bohren harter Bretter (Max Weber), sondern das endlose Drehen an Stellschrauben – also eigentlich keine Politik mehr, sondern nur noch Management.«34 Und 16 Milliarden Euro Subventionen für Klimaschutz standen 2021 laut Umweltbundesamt das Vierfache an klimaschädlichen Subventionen gegenüber.35 Damit sich auch alle schön mitgenommen fühlen. Vielfach akzeptieren Regierende schlicht ihr beschränktes Aktionsfeld: Sie schwören großen Visionen ab und verlegen sich aufs Durchwursteln (muddling through),36 setzen auf Symbol- statt Reformpolitik und priorisieren die Vermeidung von Schuldzuweisung (blame avoidance) gegenüber dem Reklamieren von Erfolgen (credit-claiming). Wahlpolitisch sind sie damit auf dem richtigen Dampfer, gewichten doch Wähler:innen bei ihrer Entscheidung die Fehlleistungen einer Regierung stärker als ihre Erfolge.37 Mit Reformen von geringer Reichweite und dem Verzicht auf gegenwärtige Zumutungen, deren zukünftige positive Auswirkungen sich vielleicht gar nicht mehr rechtzeitig zum nächsten Urnengang Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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einstellen,38 können Regierende somit hoffen, möglichst unter dem Radar der Regierten zu fahren, immer schön auf Sicht. Geraten die Zeitläufte aber zu Stromschnellen, droht ein so wenig vorausschauend navigiertes Staatsschiff jedoch an Klippen oder – solange der Vorrat reicht – Eisbergen zu zerschellen. Je mehr sich die Problemlage zuspitzt, desto dringender wird eine umfassende Reform – desto enger werden indes auch die Grenzen der Reformfähigkeit: »Komplexität schlägt Rationalität, und infolgedessen bleibt das Gestaltungsvermögen der politischen Entscheidungsträger notorisch hinter dem eigentlich gegebenen Gestaltungsbedarf zurück.«39 AMPELAUSFALL Auch bei der Ampel lief es nur so lange gut, wie die Krise, in diesem Fall

38  Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Können Demokratien zukunftsverantwortlich handeln?, in: Merkur, H. 651 (2003), S. 583–594.

in Form und infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, kaum abweisbare Handlungsimperative (Verteidigungspolitische Zeitenwende! Energiepolitische Diversifizierung!) gebar und Geld keine Rolle spielte. Nun sind wir schon längst wieder zurück im Modus der »Ruckelpolitik«. Dass inzwischen nicht mehr nur die FDP grüne Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ausbremst, sondern oft auch die SPD, ist dabei eher eine graduelle Verschiebung. Zumeist reicht das freidemokratische Blockieren, um die Grünen bei ihrem klimapolitischen Schaulaufen auflaufen zu lassen, vollauf aus. Für die SPD und ihren Klimakanzler in spe ist es dann auf Dauer schlicht geschickter, sich an die Seite der FDP zu stellen: Erstens fühlt diese sich dann weniger fremd im linkslastigen Am-

39  Uwe Schimank, Nur noch Coping. Eine Skizze postheroischer Politik, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, H. 3/2011, S. 455–463, hier S. 457. 40  Vgl. Volker Best, Klipp und unklar. Merkels merkwürdige Ent-Schuldigung zur Osterruhe, in: INDES, H. 3–4/2022, S. 117–126, hier S. 121 f. 41  Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer März III 2023, tinyurl.com/indes232a11.

pelbündnis und lässt sich 2025 eher nochmals dafür einspannen. Zweitens überlässt man den Liberalen so nicht allen Applaus der Wärmepumpenpanikschiebenden. Drittens steht man so selbst auf der Siegerseite, wo es sich stets besser steht als auf der Verliererseite. Viertens haben die Sozialdemokraten ein eigenes Interesse daran, zwecks Wiederherstellung der natürlichen Hackordnung im linken Lager die grünen Gernegroße straucheln zu sehen. Fünftens haben sie rein gar kein Interesse daran, vorzuführen, wie wenig die Richtlinienkompetenz des Kanzlers unter den Bedingungen der Koalitionsdemokratie wirklich wert ist.40 Die moderierende Leisetreterei verhindert nicht, dass zwei Drittel der Bürger:innen beim Bundeskanzler Führungsstärke vermissen41 und nur 21 Prozent seine Partei für die durchsetzungsstärkste in der Regierung halten (Grüne: 26 Prozent, FDP: 30 Prozent).42 Immerhin wird den Sozialdemokraten aber so deutlich weniger Schuld für das mühsame Fortschleppen der Fortschrittskoalition43 zugewiesen als ihren Partnern: Nur

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Scheitern — Analyse

42  Vgl. infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND April 2023, tinyurl.com/indes232a12, S. 15. Auch wenn jede Partei einzeln abgefragt wird, geben nur 22 Prozent an, die SPD setze ihre politischen Vorstellungen in der Koalition stark durch; von der FDP meinten dies 42, von den Grünen 51 Prozent (unter den Grünen-Anhänger:innen allerdings nur 39 Prozent). Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Mai I 2023, tinyurl.com/indes232a13. 43  Vgl. Volker Best, Fällt der Aufbruch dem Umbruch zum Opfer? Vom Fortschleppen einer »Fortschrittskoalition«, in: INDES, H. 1–2/2022, S. 159–166.

4 Prozent machen hauptsächlich die SPD verantwortlich; 19 Prozent die Grünen und 29 Prozent die FDP (40 Prozent alle drei gleichermaßen).44 So lässt sich der Blame wenigstens ein Stück weit shiften, wenn er schon nicht zu avoiden ist. Dafür war das jüngste tagelange Ampel-Gestrampel schlicht eine zu offensichtliche Plackerei: »Mit der Tagung ihres Koalitionsausschusses in Überlänge […] haben sich SPD, Grüne und FDP einen honorigen Mittelweg verbaut. Ein Resultat, das

als irgendwie okay gewertet werden könnte, durfte eigentlich nicht mehr herauskommen. Zur Auswahl schien nur noch der große Wurf zu stehen oder die große Blamage.«45 Nun – der große Wurf wurde es nicht, konnte es gar nicht werden, darauf wurde schon eingegangen. Selbst der kleine Wurf wurde noch mal verworfen, insgesamt brauchte es damit nicht weniger als vier Einigungen zum »Heizungsgesetz«, bis dieses überhaupt ins parlamentarische Verfahren gelassen wurde. »Bereit, weil Ihr es seid«, hatten die Grünen im Bundestagswahlkampf zweckoptimistisch plakatiert. Aber das Meinungsbild im Land ist geteilt: 35 Prozent gehen die Klimaschutzmaßnahmen nicht weit genug, 37 Prozent zu weit.46 Wenn es schon bei den Regierungspartnern an Bereitschaft mangelt und viele bereits ein »Brötchentasten«-Aus als 44  Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer März III 2023. 45  Vgl. Daniel Brössler, Bündnis für Arbeit, in: Süddeutsche Zeitung, 29.03.2023. 46  Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Juni I 2023, tinyurl.com/indes232a14.

»Brechstangen«-Attacke auf ihren Way of Life erachten, greift die Habeck’sche Umarmungsstrategie ins Leere.47 Bei der Frage, welche Partei die beste Klima- und Umweltpolitik betreibt, nennt nicht einmal mehr jeder Dritte die Öko-Partei, 15 Prozentpunkte Rückgang seit September 2022. Die Kompetenzvermutung ist freilich nur teilweise Richtung der allen wohl und keinem wehe suggerierenden SPD (+4 Punkte auf 9 Prozent) und der Technologieoffenheit beschwörenden Union (+3 Punkte auf 13 Prozent) abgewandert, die fleißig blockierende FDP verharrt bei einer Kompetenzzumessung von vier Prozent. Um acht Prozentpunkte hat sich

47  Vgl. Robert Pausch & Bernd Ulrich, Geht’s denn noch?, in: Die Zeit, 16.05.2023. 48  Vgl. infratest ­dimap, ARD-DeutschlandTREND April 2023, S. 16. 49  Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Juni I 2023; infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND Juni 2023, S. 9.

demgegenüber der Anteil derer vergrößert, die keiner Partei eine gute Klimapolitik zutrauen, auf über ein Drittel.48 Beim Gezerre um das »Heizungsgesetz« ist mit 47 Prozent sogar die relative Mehrheit von keiner der drei Regierungsparteien überzeugt, drei Viertel sehen alle Parteien inklusive der Opposition mehr an der eigenen Wirkung als an einer guten Lösung interessiert. Die Popularität der Spitzenpolitiker:innen sowohl der Regierungs- als auch der Oppositionsseite ist gering und rückläufig, mit Boris Pistorius als einziger Ausnahme.49 Die AfD klettert in der Sonntagsfrage auf 18 Prozent. Mit der Ampelregierung zufrieden ist Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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nur noch jede:r Fünfte, noch jede:r Dritte sieht das Land bei ihr alles in allem zumindest in guten Händen,50 73 Prozent attestieren ihr ein eher schlechtes Koalitionsklima.51 STETER TROPFEN HÖHLT DIE GRUNDFESTEN Bedenklicher als die bröckelnde spezifische Unterstützung für eine spezifische Regierung ist das allmähliche Abfärben des grassierenden Unmuts auf die diffuse Unterstützung der repräsentativen Demokratie. Mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, erklärt sich die Mehrheit weniger oder überhaupt nicht zufrieden, und sie stimmt eher oder voll und ganz zu, dass es jenseits der politischen Ränder keinen Unterschied mache, wer an der Regierung ist. Unter diesen Rahmenbedingungen hält es nur noch ein Viertel für am besten, dass gewählte Abgeordnete und Regierungsvertreter:innen die Gesetze beschließen; ein Drittel möchte stattdessen Expert:innen im jeweiligen Themengebiet am Werk sehen und mehr als 40 Prozent übernähmen das am liebsten selbst per Volksabstimmung. Für insgesamt 46 Prozent rangiert die repräsentative Demokratie unter den alternativen Regierungsmodellen noch nicht mal auf Platz 2. Auf Platz 1 der Probleme der deutschen Demokratie aus Sicht der Befragten: Die häufige Nichtumsetzung zentraler Wahlversprechen. 82 Prozent sehen hierin ein großes oder gar sehr großes Problem. Ebenfalls mehrheitlich als solches eingestuft werden unter anderem die Schwerfälligkeit des politischen Systems (73 Prozent) und die Ungewissheit bezüglich der Koalitionsbildung im Moment der Stimmabgabe (57 Prozent).52 SCHURKENSTÜCKWERK So sehr einerseits zu kritisieren ist, wenn Regierungschefs wie Trump, Erdogan, Orbán oder Netanjahu die demokratischen Systeme ihrer Staaten nach egoistischem Machtkalkül zurechtbiegen, so sehr ist andererseits der ideenlose Fatalismus der politischen Akteure in der Bundesrepublik angesichts der Rahmenbedingungen, die ihre Handlungsmöglichkeiten minimieren, zu monieren. Die Wahlsystemreform der Ampelkoalition, die ihr den Vorwurf von »Wahlmanipulation« und einem »großen Schurkenstück« einbrachten,53 mag hier auf den ersten Blick als Ausnahme erscheinen. In der zweiten Lesung plötzlich die noch in der ersten Lesung als essenziell gepriesene Grundmandatsklausel zu kippen, die eine Ausnahme von der Fünf-Prozent-Sperrklausel für mindestens in drei Wahlkreisen erfolgreiche Parteien bedeutet, und es damit auf ein Herausfallen

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Scheitern — Analyse

50  Vgl. infratest dimap, ARDDeutschlandTREND Juni 2023, tinyurl.com/indes232a15, S. 5 ff. 51  Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer März III 2023. 52  Vgl. Volker Best u. a., Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft, Bonn 2023, tinyurl.com/indes232a16. 53  Zit. nach Robert Roßmann, Auch in der Ampel gibt es Kritik am neuen Wahlrecht, in: Süddeutsche Zeitung, 20.03.2023.

der Partei DIE LINKE und eventuell sogar der CSU – oder zumindest die Selbstverzwergung Letzterer als Add-on in einer Listenverbindung mit der CDU – anzulegen, zeugt allemal von Chuzpe. Aber diese durchschaubare kurzfristige Machttaktik beseitigt, indem sie mit der größten Wahrscheinlichkeit linke Wählerstimmen tilgt, vorhersehbar nicht das lagerübergreifende Koalitionskorsett, in das sich SPD und vor allem die 54  Vgl. Volker Best, Wahl­ system und Parteiensystem – ein Reformvorschlag, in: Robert Grünewald, Sandra Busch-Janser & Melanie Piepenschneider (Hg.), Politische Parteien in der modernen Demokratie. Beiträge zur politischen Bildung, Berlin 2020, S. 368–389; Peggy Matauschek, Wahlsystemreform in Deutschland. Plädoyer für ein Prämienwahlsystem mit Koalitionsbonus, Baden-Baden 2021; Eckhard Jesse, Wie lässt sich der Einfluss des Wählers auf die Regierungsbildung steigern?, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, H. 2/2021, S. 155–163. 55  Venice Commission, Parameters on the relationship between parliamentary majority and the opposition in a democracy – A checklist, Opin­ ion Nr. 845/2016, 24.06.2019, tinyurl.com/indes232a17.

Grünen eingesperrt sehen. Stattdessen sollte der Trend zum immer perfekteren Proporz umgekehrt und das Wahlsystem in Richtung einer Koalitionswahl umgebaut werden, indem man dem stärksten Vorwahlbündnis – sagen wir: Team Technologieoffenheit versus Team Klimatologieoffenheit (versus Team Rechtsoffenheit a.k.a. AfD) – eine Mehrheit der Sitze zugesteht.54 Die Venedig-Kommission hat vor einigen Jahren die schöne Formel geprägt: »­[T]he minority should have its say, and the majority should have its way.«55 Frei übersetzt: Die Minderheit soll ihre Meinung sagen, die Mehrheit das Sagen haben. Für Ersteres ist das Parlament da, für Zweiteres die Regierung. Zumindest sollte sie eine Chance bekommen, ihren Way durchzusetzen, ihren politischen Weg zu beschreiten. Scheitern und Vertrauen verspielen könnte sie unterwegs immer noch. Aber vielleicht wäre schon viel gewonnen, wenn dies nicht schon im Moment der Regierungsbildung geschehen würde. Dies sehenden Auges weiter hinzunehmen und sich mit Stückwerk zu begnügen, wäre das eigentliche Schurkenstück: Schurkenstückwerk.

Dr. habil. Volker Best, geb. 1981, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2022 Mitglied der Redaktionsleitung der INDES. Seine Interessenschwerpunkte sind Parteien- und Koalitionsforschung sowie Demokratiereform.

Volker Best  —  Volkes Herrschaft und Fehlerteufels Beitrag

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THE FAILED STATES OF AMERICA? ZUR WACHSENDEN FRAGMENTIERUNG DER USA UND DEM (MISS-)ERFOLG DER VERFASSUNG Ξ  Jared Sonnicksen

Die USA gelten als die älteste bestehende Republik der Welt und ihre Verfassung genießt bis heute hohes Ansehen. Das ist aber weder Erfolg noch Verdienst der Verfassung selbst – sie ist schließlich nur ein altes Stück Papier. Generell können Verfassungen nicht reüssieren. Sie können aber eigentlich auch nicht scheitern. Das ist Menschen vorbehalten. Irren ist menschlich. Es ist ebenfalls staatlich. Auch Staaten können versagen. Nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass sich Fehler und Irrtümer wiederholen, bleibt es wichtig, aus den entsprechenden ­Erfahrungen zu lernen. Vor diesem Hintergrund könnte man mit Blick auf die USA meinen: Die Politik und eine Vielzahl politischer Ereignisse der letzten Jahre bieten reichlich Lernmaterial. Sie reichen von dem an einen Staatsstreich grenzenden ›Sturm auf das US-Kapitol‹ (6. Januar 2021) durch eine radikalisierte Anhängerschaft des ehemaligen Präsidenten Trump, die obendrein von ihm selbst angestachelt wurde, über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization vom 24. Juni 2022, welche das Urteil Roe v. Wade (1973) kippte und damit die fünfzig Jahre lang geltende Präzedenz eines verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung revidierte sowie die entsprechende Regulierung nun den Einzelstaaten überließ, und das Anfang 2023 schier endlos lange Ringen von Kevin McCarthy um den Vorsitz im Repräsentantenhaus, der im Gefolge einer für die Republikaner enttäuschend knapp gewonnenen Mehrheit bei den Zwischenwahlen von November 2022 erst im 15. Wahlgang gewählt werden konnte, bis hin zur nahezu exponentiell wachsenden Anzahl von Schießereien und Amokläufen. Letzteres könnte wohl am allerdeutlichsten als Beispiel wahrhaften Staatsversagens gedeutet werden, wobei selbst diese Sichtweise gerade in den USA umstritten bleiben dürfte – und zwar nicht wegen des Einflusses der Waffenlobby, sondern weil ein Großteil der Bevölkerung trotz endemischer Waffengewalt am (Aber-)Glauben eines verfassungsmäßigen Verbots staatlicher Regulierung festhält. Noch ambivalenter indes erscheinen der tumultartige Wechsel im Weißen Haus vom

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6. Januar 2021, die zunehmende Politisierung der Bundesgerichtsbarkeit, die Zwischenwahlen 2022 und die Radikalisierung von Teilen der Republikanischen Partei. Sie reflektieren zwar ohne Zweifel eine mannigfache Polarisierung in den Vereinigten Staaten. Ob solche Ereignisse aber als Zeichen für Fehler, Scheitern oder sonstige Mängel gelten können oder sollen, lässt sich nur schwerlich beantworten – nicht nur in politischen Debatten, sondern auch aus politikwissenschaftlicher Sicht. WIEDERKEHRENDE POLARISIERUNG IN DEN USA Die problematische, womöglich pathologisch gewordene Polarisierung in den USA war bereits Gegenstand vieler sozialwissenschaftlicher Analysen. Im Kontext von Tendenzen der Autokratisierung (oder des ›democratic ­backsliding‹) in einigen Ländern wird die älteste bis heute existierende Republik der Welt als beispielhafter Fall beziehungsweise gar als Aufhänger für die Auseinandersetzung mit Potenzialen und Risiken von Rückfällen in die Autokratie behandelt.1 Die politischen Spannungen, die unter anderem zu Entscheidungsblockaden im US-amerikanischen politischen System führen, schränken zum einen die Regierungsfähigkeit auf Bundesebene ein und betreffen zum anderen auch vertikal die Verhältnisse zwischen Bund und Einzelstaaten sowie horizontal zwischen den Einzelstaaten untereinander.2 Damit geht eine Fragmentierung der politischen 1  Vgl. etwa Barbara Walter, How Civil Wars Start and How to Stop Them, New York 2022; Steven Levitsky & Daniel Ziblatt, How Democracies Die, New York 2018. 2  Vgl. Jacob Grumbach, Laboratories against Democracy. How National Parties Transformed State Politics, Princeton 2022; Donald Kettl, The Divided States of America. Why Federalism Doesn’t Work, Princeton 2020. 3  Vgl. Timothy Conlan, Intergovernmental Relations in a Compound Republic. The Journey from Cooperative to Polarized Federalism, in: Publius, H. 2/2017, S. 171–187; Greg Goelzhauser & David Konisky, The State of American Federalism 2019–2022. Polarized and Punitive Intergovernmental Relations, in: Publius, H. 3/2020, S. 311–343.

Landschaft in mehrfacher Hinsicht einher, die sich nicht nur in einer binären elektoralen Landkarte à la blue und red states äußert. Diese Fragmentierung kommt auch in divergierenden Policies und Policy-Konflikten zum Ausdruck, etwa in Fragen des Abtreibungsrechts oder des Klimaschutzes, der Einwanderungs- und Bildungspolitik oder (Nicht-)Regulierung von Waffen, zunehmend aber auch bei der (Neu-)Regulierung von Wahlrechtsfragen.3 Gleichzeitig sind diese Entwicklungen keineswegs völlig neu. Die Präsidentschaft von Barack Obama (2009–2017) wurde zu einem Paradebeispiel für eine dysfunktional gewordene Staatstätigkeit. Schon seine erste Amtszeit war von zunehmender Polarisierung und wiederholten Blockaden (gridlock) zwischen Kongress und Weißem Haus gekennzeichnet, erst recht nach dem Verlust der Mehrheit der Demokraten im Repräsentantenhaus bereits bei den Zwischenwahlen 2010, womit das divided government eintrat – eine Konstellation gegenläufiger Mehrheiten zwischen Exekutive und Legislative. Dabei entstand die Tea-Party-­ Bewegung, die nicht nur die Bemühungen um eine weitreichende Gesundheitsreform des Präsidenten, sondern auch das politische Establishment generell – einschließlich der Republikanischen Partei – herausforderte. Jared Sonnicksen  —  The Failed States of America?

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Somit war schon die erste Amtszeit Obamas geprägt von politischen Zerwürfnissen, die eine Zementierung hoffnungsloser Kompromisslosigkeit zwischen den parteipolitischen Lagern befürchten ließen.4 Diese Spannungen wurden auch in der zweiten Amtszeit Obamas nicht überwunden. Im Gegenteil: Die Konfrontation zwischen Demokraten und Republikanern spitzte sich weiter zu. Die Gräben zwischen Teilen der Bürgerschaft vertieften sich unter der außergewöhnlich umstrittenen – und auch skandalgeplagten – Präsidentschaft Trumps nurmehr.5 Hier zeigte sich ein ähnliches Muster wie beim Vorgänger Obama: wiederholtes Scheitern mehrerer Gesetzgebungs- und Reformvorhaben, ein divided government in Folge der Zwischenwahlen (2018), reaktiver und zunehmender Rekurs auf unilaterales exekutives Regieren (beispielsweise durch Exekutivverordnungen), um den ›gegnerischen‹ Kongress zu umgehen. Doch die derzeitige politische Lage in den USA stellt nicht nur eine Wiederkehr polarisierter Verhältnisse dar. Es handelt sich sogar um eine Art ›erneutes Déjà-vu‹. Denn zunehmende Entscheidungsblockaden waren bereits ein prominentes Thema unter der Demokratischen Präsidentschaft Clintons (1993–2001): Damals hatte der Präsident vorerst eine Mehrheit der eigenen Partei in beiden Kammern des Kongresses; versprochene große Reformen (inklusive einer grundlegenden Gesundheitsreform) konnten dennoch nicht durchgesetzt werden; bereits bei den Zwischenwahlen für den US-Kongress 1994 während der ersten Amtszeit Clintons verloren die Demokraten ihre Mehrheit; es kam danach zu mehreren harten Konfrontationen mit den Republikanern, die von wiederholten Haushaltsperren (1995/96) bis zu einem Amtsenthebungsverfahren (1998/99) reichten.6 Außerdem dürften einem heute – nach der Präsidentschaft Trumps und während der gegenwärtigen Biden-Präsidentschaft – einige der aktuellen politischen Streitfragen vertraut vorkommen: Waffenregulierung, Einwanderung, Umwelt- und Klimapolitik; man denke etwa an das jüngere ›Hin und Her‹ mit dem Ein- (Obama), Aus- (Trump) und Wiedereinstieg (Biden) in das Paris-Abkommen, dabei gab es bereits während Clintons Präsidentschaft die hochumstrittenen Verhandlungen um das Kyoto-Protokoll (1997), dessen Ratifizierung im von den Republikanern geführten US-Senat scheiterte. Aktueller denn je bleiben auch die Debatte um das Abtreibungsrecht und generell viele spannungsgeladene Streitigkeiten zwischen Bund und Einzelstaaten, die sich außerdem entlang einer fundamentalen gesellschaftspolitischen Konfliktlinie zwischen unterschiedlichen Auslegungen der Verfassung zunehmend verschärfen.

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Scheitern — Analyse

4  Thomas Mann & Norman Ornstein, It’s Even Worse Than It Looks. How the ­American Constitutional System Collided with the New Politics of Extremism, New York 2012. 5  Vgl. Patrick Horst u. a. (Hg.), Die USA – eine scheiternde Demokratie?, Frankfurt a. M. 2018. 6  Vgl. Richard Conley, President Clinton and the Republican Congress, 1995–2000. Political and Policy Dimensions of Veto Politics in Divided Government, in: Congress & The Presidency, H. 2/2004, S. 133–160.

Die USA haben es also nicht nur mit einer aktuellen Herausforderung an das Regieren zu tun, welches hauptsächlich einem wachsendem Populismus oder der Radikalisierung der Republikanischen Partei entspringt. Die Gründe für die wiederkehrende Polarisierung sowie die Konfrontation und Blockaden zwischen den verschiedenen Gewalten und Ebenen des politischen Systems hängen zudem mit der Verfassung selbst zusammen. Einerseits hat sie mit ihrem über 230-jährigen Bestehen eine durchaus ansehnliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Genau darin liegt andererseits auch ein Teil des Problems. VON DER KOMPLEXEN VERFASSUNG ZUR FRAGMENTIERTEN REPUBLIK Die US-Verfassung ist seit Langem als Lehrbuchbeispiel dafür bekannt, verschiedene Formen der Gewaltenteilung miteinander verbunden zu haben. Dies gilt sowohl für die Trennung zwischen Institutionen und Ebenen des Staates (separation of powers) als auch für die Verschränkung beziehungsweise die gegenseitige Kontrolle und Mitbestimmung (checks and balances). Seit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung 1789, die bis heute gilt und kaum verändert worden ist, haben die USA eine Republik als Regierungsform und den Föderalismus als Staatsorganisationsprinzip.7 Die im späten 18. Jahrhundert etablierte Gewaltenteilung ist auf institutionelle Trennung angelegt, und dies sowohl in den Verhältnissen zwischen Regierungsgewalten, das heißt zwischen den exekutiven, legislativen und judikativen branches, als auch auf den Regierungsebenen, das heißt zwischen dem föderalen bzw. nationalen government und den einzelstaatlichen governments. Es handelt sich somit dabei nicht nur um eine, sondern um mehrere – horizontale und vertikale – Gewaltenteilungen. Die Regierungsform der USA ist ein Prototyp der präsidentiellen Demokratie, während der US-Föderalismus einen Prototyp des ›dualen‹ Föderalismus darstellt. Allerdings wurden die USA erst nachträglich zum ent7  Es gibt insgesamt 27 Zusatz- bzw. Änderungsartikel (amendments). Die ersten zehn Zusatzartikel, alias »Bill of Rights« (wobei sie formal so nicht heißen), wurden kurz nach Inkrafttreten der Verfassung zusammen angenommen. Nach Abzug dieses faktischen Grundrechtekatalogs (Zusatzartikel 1 bis 10) kam es also in den letzten rund 230 Jahren zu lediglich 17 weiteren amendments.

sprechenden Grundtypus oder Modell konzipiert: Die Verfassung wurde zu einem Zeitpunkt angenommen, als es beispielsweise noch gar keinen kooperativen Föderalismus oder parlamentarische Demokratien gab und die Etablierung zahlreicher weiterer Institutionen und Verfahren moderner Demokratie und Staatstätigkeit erst noch bevorstand – beispielsweise politischer Parteien, Interessengruppen und -Verbände, der modernen Verwaltung, intergouvernementaler Beziehungen und verfassungsrechtlicher Normenkontrolle, überhaupt des Wahlrechts für alle erwachsenen Staatsangehörigen etc. Dass die Geburtsstunde der US-föderalen Demokratie Jared Sonnicksen  —  The Failed States of America?

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bereits auf das späte 18. Jahrhundert datiert, mag immer wieder Beachtung oder gar Bewunderung auslösen. Dieses kon­stitutionelle Vermächtnis hat aber auch fundamentale Bedeutung für die gegenwärtige Lage der Nation. Mehrere Faktoren und Mechanismen tragen dazu bei, dass die US-amerikanische föderale Demokratie fragmentiert, und sie hängen mit der Verfassung, ihrer Entwicklung, aber auch ihrer Auslegung zusammen. Nahezu alle wesentlichen Änderungen im politischen System der USA vollzogen sich innerhalb desselben Verfassungsrahmens beziehungsweise ohne formale Verfassungsänderungen: so zum Beispiel die Entstehung von politischen Parteien und die Plebiszitarisierung der US-Präsidentschaftswahl seit 1800,8 oder der Ausbau von Kooperationen zwischen Bundesebene und Einzelstaaten, um die wachsenden Aufgaben und Anforderungen der modernen Staatstätigkeit bewältigen zu können.9 Die US-Verfassung sollte ursprünglich verschiedene, teils widersprüchliche Ziele verfolgen: Einerseits ging es darum, eine effektive Regierung zu ermöglichen, welche die erlebte Handlungsunfähigkeit der Konföderationsregierung10überwinden könne, andererseits sollte der Bund in seinen Kompetenzen begrenzt werden, um die bürgerliche Freiheit und die einzelstaatliche Autonomie zu schützen.11 Dieser Zielkonflikt kommt freilich auch in der mehrfachen Gewaltenteilung der checks and balances zum Ausdruck. Von der Gegenwart ausgehend die Geschichte rückwärts lesend, könnte man nun den Eindruck gewinnen, dass die Verfassung also ihre Zwecke erfüllt. Diese verfassungstreue Lesart ist recht verbreitet in den USA – und zweifellos ein Problem. Denn diese Perspektive verkennt Widersprüche und zum Teil Entwicklungspathologien im US-Verfassungssystem. Die Vereinigten Staaten haben sich zu einer modernen föderalen Demokratie entwickelt – mit einer Verfassung, die vor der Entwicklung der meisten zentralen Institutionen, Funktionsmerkmale und Praktiken der modernen repräsentativen Demokratie, des Föderalismus und des Staates im Allgemeinen eingeführt wurde und die sich seitdem kaum geändert hat. Wie diese Verfassung als Maßstab modernen demokratischen Regierens in einem komplexen Mehrebenensystem fungieren sollte, müsste im wahrsten Sinne des Wortes fragwürdig erscheinen. POLITIKWANDEL OHNE VERFASSUNGSANPASSUNG Dieses Verfassungserbe spiegelt sich in mehreren Änderungen und Anpassungen der Verfassungspraxis wider, die im Laufe der Zeit vorgenommen wurden und die durchaus zu institutionellen und funktionalen Spannungen beitragen können. So gibt es etwa einige institutionelle

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Scheitern — Analyse

8  D. h. die Wahl durch das Volk und die Kopplung der Stimmabgabe der Wahlleute in den Einzelstaaten an die jeweilige pop­ ular vote. Vgl. Bruce Ackerman, The Failure of the Founding Fathers. Jefferson, Marshall, and the Rise of Presidential Democ­ racy, Cambridge (Mass.) 2005. 9  Vgl. Daniel Elazar, American Partnership. Intergovernmental Co-Operation in the Nineteenth Century United States, Chicago 1962. 10  Die erste Verfassung der USA, die Konföderationsartikel (Articles of Confederation), währte nur wenige Jahre von der Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien Anfang 1780 bis zum Inkrafttreten der bis heute geltenden US-Verfassung 1789. 11  Vgl. Roland Lhotta (Hg.), Die hybride Republik. Die Fed­ eralist Papers und die politische Moderne, Baden-Baden 2010.

Vorkehrungen, die ursprünglich als Schutzmechanismen im Sinne der Einzelstaaten – teils zum Zweck der Autonomiewahrung und teils zum Zweck der Mitbestimmung im Bund – konzipiert wurden: das eigens für die Wahl des Präsidenten angelegte Bestellungsverfahren mittels der Bundesstaaten (alias Electoral College), die Ernennung der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente und das Verfassungsänderungsverfahren. Alle drei Mechanismen hatten einst einen gegenmajoritären Charakter, haben sich mittlerweile jedoch entweder gewandelt oder sind gar obsolet geworden. Die Präsidentschafts- sowie die Senatorenwahlen haben längst majoritäre Demokratisierungen erfahren: Erstere werden zwar durch die Einzelstaaten entschieden, aber vorher entscheidet in diesen jeweils das Volkswahlergebnis (popular vote), während Senatoren direkt vom Volk gewählt werden – eine der seltenen Änderungen im Übrigen, denen eine formale Verfassungsänderung (17. Zusatzartikel von 1913) zugrunde liegt. Beide Verfahren stehen für das komplexe ›Knäuel‹ föderaler und demokratischer Entwicklungsstränge, die sich verheddern: Sowohl Präsidenten- als auch Senatorenwahlen unterstreichen den trennföderalen Charakter (die Wahlleutestimmen für den Präsidenten werden jeweils staatsweise abgegeben und jeder Einzelstaat entsendet unabhängig von der Bevölkerungszahl zwei Senatoren in den Kongress), folgen aber einfach-mehrheitsdemokratischen Regeln, welche obendrein die Zweiparteiendominanz auf allen Ebenen und in allen Institutionen begünstigen.12 Das Verfassungsänderungsverfahren findet hingegen kaum Anwendung, 12  Vgl. William Connelly, American Politics: »Broken« Since 1885, in: The Forum, H. 3/2015, S. 507–524; Jared Sonnicksen, Tensions of Federal Democracy. Fragmentation of the State, London 2022. 13 

Vgl. Art. 5, US-Verfassung.

14  Vgl. Sanford Levinson, Constitutional Faith, Princeton 1988; Jared Sonnicksen, Sola Scriptura: Amerikanische Verfassungstreue und die Textimmanenz als politische Leitidee. Ein Konzeptualisierungsversuch, in: Eva Frick u. a. (Hg.), Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, Baden-Baden 2017, S. 197–213.

sicherlich aus mehreren Gründen. Ein Grund ist offensichtlich; er liegt in den im Vergleich hochgradig rigiden Regeln für formale Verfassungsänderungen, die nämlich einer Zweidrittelmehrheit in Repräsentantenhaus und Senat und anschließend der Ratifizierung durch drei Viertel der Einzelstaaten bedürfen.13 Diese Hürde war bereits zum Zeitpunkt der Gründung der USA mit dreizehn Staaten recht hoch, hat sich aber durch die kolossale Ausdehnung des Territoriums und die Vervierfachung der Zahl der Staaten auf fünfzig noch wesentlich erhöht. Allerdings stehen Verfassungsänderungen auch gesellschaftspolitische Schranken entgegen, denn die US-Verfassung genießt ein enormes, bisweilen sakral anmutendes Ansehen.14 Gewiss ist die Verfassungstreue ein hohes Gut für ein politisches Gemeinwesen. Eine Überhöhung der Verfassung kann jedoch die Anpassung von tradierten – und womöglich überholten – institutionellen Regeln gewaltig erschweren und sogar zur exzessiven Verflechtung von politischen und konstitutionellen Fragen beitragen. Jared Sonnicksen  —  The Failed States of America?

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EIN AUSWEG AUS DER FRAGMENTIERUNGSFALLE? Das politische System der USA befindet sich in einem institutionellen und funktionalen Dilemma. Dieses ist in der ursprünglichen Verfassung angelegt und hat sich im Laufe der Zeit verschärft durch eine Vielzahl von Entwicklungen und Anpassungen im Laufe der Zeit, die aber innerhalb des konstitutionellen Rahmens erfolgten – sprich, ohne Änderung der Verfassung, sondern durch deren Auslegung. Ein wesentlicher Grund für dieses Dilemma ist der institutionelle Verfassungsrahmen. Institutionen und Ebenen des Regierens sind mit einer strikten horizontalen beziehungsweise vertikalen Gewaltenteilung versehen. Dies führt in der Kombination einerseits zu einem hochgradig gegenmajoritären System. Andererseits bestehen zahlreiche separate elektorale Verbindungen zu den verschiedenen Ämtern und Organen, kurzum: Es gibt zahlreiche Ämter und Mandate, die je für sich in getrennten Wahlprozessen gewählt werden, zum Beispiel die einzelnen Sitze im Repräsentantenhaus und im Senat sowie das separat gewählte Präsidentenamt; das gleiche Muster findet sich auf Einzelstaatenebene bei den Gouverneuren und bikameralen Landesparlamenten und so weiter. Sämtliche dieser Wahlen folgen einer Mehrheitslogik, und mit wenigen Ausnahmen – für das Präsidentenamt ist beispielsweise eine absolute Mehrheit der Elektorenstimmen erforderlich – gilt die einfache Mehrheitsregel; das heißt, es gewinnt, wer die meisten Stimmen erhält. Damit ergibt sich eine Art Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: ein eigentlich entkoppeltes Regieren zwischen entgegengesetzten Institutionen, die jeweils in ihrer vereinzelten Veranlagung äußerst majoritär ausgerichtet, aber im Verhältnis zueinander auf Trennung angelegt sind und damit nur gegenmajoritär zusammenwirken können. Ein solches Arrangement ist per se anfällig für Fragmentierung – das heißt für Divergenzen und Friktionen, aber auch für Blockaden und ›Pattsituationen‹. Unter diesen Rahmenbedingungen kann letztlich nur durch Konsenssuche und Kompromissfindung regiert werden. In der gegenwärtigen politischen Lage zeigt sich umso deutlicher ein verfassungsrechtliches und -politisches Dilemma der Vereinigten Staaten, welches auch in der Vergangenheit mehrfach und in den letzten Jahren mit besonderer Brisanz zu beobachten war. Die US-föderale Demokratie mit

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Scheitern — Analyse

mehrdimensionaler Gewaltenteilung, die, wenn sie funktionsfähig und stabil bleiben soll, immer wieder Kompromisse erfordert – seien es Einigungen in der institutionen- und ebenenübergreifenden Entscheidungsfindung oder auch die Übereinkunft, dass sich Institutionen bzw. Ebenen gegenseitig ›in Ruhe lassen‹ –, ist gekoppelt mit einer Vielzahl von getrennten Mandaten und Wählerschaften, die jeweils nach einer einfachen majoritären »the winner takes it all«-Logik konstituiert werden und deren Wettbewerbslogik und Polarisierungsdynamiken sich durch die Konsolidierung des Parteiensystems intensiviert haben. Die Konsolidierung der Parteien könnte für sich genommen sogar ein positives Zeichen für eine Jared Sonnicksen  —  The Failed States of America?

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repräsentative Demokratie sein. Die institutionellen Bedingungen der präsidentiellen Demokratie gepaart mit einem dualen Föderalismus, oder jedenfalls deren Zusammenspiel in den USA, scheinen jedoch die Impulse der parteilichen Polarisierung zu verstärken, anstatt sie zu absorbieren. Kurzum: Die Veranlagung des politischen Systems verursacht die Polarisierung nicht, aber sie verzerrt und verstärkt sie und verhindert zum Teil deren Überwindung. Diese Problemlage wird allerdings noch vertrackter, weil politische Auseinandersetzungen zusätzlich in Verfassungskonflikte übersetzt und mit konkurrierenden Verfassungsauslegungen gekoppelt werden. Dieses US-spezifische Dilemma resultiert zu einem Gutteil aus der überalterten Verfassung, die ohnehin schwer revidierbar ist und bisher so gut wie ausschließlich mittels Normenkontrolle und sonstigen Formen der Verfassungsauslegung aktualisiert wurde. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Politik, die auf die originalgetreue und gar wörtliche Auslegung der Verfassung setzt, kaum Schwierigkeiten hat, bestimmte Kompetenzen politischer Akteure oder Organe – zum Beispiel in der Gesundheits- oder Umweltpolitik – und Rechte von Individuen – zum Beispiel auf körperliche Selbstbestimmung – abzulehnen, die bei einer derart strikten Lektüre so im Verfassungstext nicht zu finden sind. Es bleibt die Möglichkeit, über eine grundlegende Verfassungsrevision nachzudenken. Indikatoren, Fehler und Defizite, die darauf hinweisen, dass dies eine sinnvolle, wenn nicht sogar notwendige Option wäre, finden sich reichlich: Um überhaupt auf zahlreiche Herausforderungen antworten zu können, gilt es, bestimmte Rechte zu klären und schützen, ein repräsentativeres Wahlsystem zu etablieren, die Polarisierung abzumildern und Kompetenzen einzuführen beziehungsweise klarer aufzuteilen. Die derzeitige politische Lage in den USA gibt allerdings wenig Anlass zu erwarten, dass solche Verfassungsreformen tatsächlich stattfinden werden. Dafür wird die Verfassung zu hochgeschätzt, und dies über Parteienund Lagergrenzen hinweg. Die Langlebigkeit der US-Verfassung ist durchaus als Erfolg zu sehen – sie kommt indes zu einem hohen Preis.

Prof. Dr. Jared Sonnicksen ist Professor für Politische Systeme am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören europäische und nordamerikanische politische Systeme sowie Föderalismus und das demokratische Regieren in Mehrebenensystemen.

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Scheitern — Analyse

AUSGEDIENT RÜCKTRITTE VON MINISTERINNEN UND MINISTERN IN DER »BERLINER REPUBLIK« Ξ  Manuel Becker

»Klug ist, wer stets zur rechten Stunde kommt, doch klüger, wer zu gehen weiß, wann es frommt.« (Emanuel Geibel, 1815–1884) Der Aufstieg von Politikerinnen und Politikern in höchste Staatsämter wird in der Politikwissenschaft umfassend erforscht. Weniger im Blick ist demgegenüber das Ende politischer Laufbahnen. Mitunter werden diese sehr unspektakulär mit dem Auslaufen der Amtsperiode besiegelt. Medial und Vgl. Pascal Beucker & Frank Überall, Endstation Rücktritt. Warum deutsche Politiker einpacken, Bonn 2016; Moritz Küpper, Rücktritte. Über die Kunst ein Amt zu verlassen, Baden-Baden 2017; Michael Philipp, Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen. Politische Rücktritte in Deutschland von 1950 bis heute, München 2007.

1 

2  Ausnahmen sind etwa Jörn Fischer & André Kaiser, Wahlentscheidende Ministerrücktritte in der Ära Merkel? Ursachen, Bestandsaufnahme, Folgen, in: Eckhard Jesse & Roland Sturm (Hg.), Bilanz der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2014, S. 421–448; Dies., Wie gewonnen, so zerronnen? Selektionsund Deselektionsmechanismen in den Karrieren deutscher Bundesminister, in: Michael Edinger & Werner Patzelt (Hg.), Politik als Beruf (Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft), Wiesbaden 2011, S. 192–212; Jörn Fischer, Deutsche Bundesinnenminister. Wege aus dem Amt und wieder hinaus. Selektions- und Deselektionsmechanismen unter besonderer Berücksichtigung von Push-Rücktritten, Köln 2011.

politisch-kulturell interessanter sowie wissenschaftlich relevanter hingegen ist es, wenn Karrieren mit einem Rücktritt enden. Rücktritte stellen zumeist sehr besondere, häufig emotional aufgeladene Momente im politischen Leben dar. Der Anlass für sowie die Art und Weise von Rücktritten offenbaren etwas über die Personen, die zurücktreten – und zwar in doppelter Perspektive: sowohl darüber, wie sie sind, als auch darüber, wie sie gesehen werden möchten. Es ist daher verwunderlich, dass Rücktritte publizistisch bislang eher von Journalistinnen und Journalisten aufgearbeitet worden sind,1 in der Politikwissenschaft hingegen nur selten Forschungsthema waren.2 Sich mit dem Thema Rücktritte zu beschäftigen, ist noch aus einem weiteren Grund interessant. Medial werden Rücktritte in der nach Kategorien von Machtgewinn und Machterhalt beurteilten Politik in der Regel als Scheitern oder politische Niederlage beschrieben. Dies muss aber nicht zwangsläufig der Fall sein, wie noch zu zeigen sein wird. Im Folgenden sollen die Rücktritte einer spezifischen Amtskategorie, nämlich von Bundesministerinnen und Bundesministern, im Fokus stehen. Diese Personen sind an das Amtsprinzip gebunden, das wesentlich älter ist als die moderne Demokratie: Seine Wurzeln liegen in der altrömischen Republik. Darüber hinaus existiert es auch außerhalb der modernen Demokratie, beispielsweise in der Katholischen Kirche. Das Amtsprinzip geht mit einer spezifischen Verantwortung für den jeweiligen Geschäftsbereich der Ministerin oder des Ministers einher. Nicht zuletzt durch Amtsprinzip und

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Amtsverantwortung ist politische Herrschaft in der liberalen Demokratie möglich, da es Politik und Person voneinander trennt. Ohne Amtsprinzip wären weder Rechtsstaatlichkeit noch Gewaltenteilung geschweige denn eine effektive Grundrechtsgeltung möglich. Diese Bedeutung des Amtsprinzips spielt auch für das Thema Rücktritte eine wichtige Rolle. Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland nicht weniger als 43 Personen von der Spitze eines Bundesministeriums zurückgetreten. Jeder dieser 43 Rücktritte ist als Einzelfall zu betrachten; dennoch soll versucht werden, diesem Phänomen mittels eines zeithistorischen Streifzugs durch die Kabinette und einer systematische Analyse näher auf den Grund zu gehen.3 WAS IST EIN RÜCKTRITT? Streng genommen sieht die Verfassungsordnung des Grundgesetzes den Rücktritt eines Ministers oder einer Ministerin gar nicht vor. Rücktritte haben sich erst gewohnheitsrechtlich in der politischen Praxis durchgesetzt. Formal kann das Amtsverhältnis nur mit der Entlassung enden, die auf Verlangen des Ministers oder der Ministerin auf Vorschlag des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten vollzogen wird und mit der Entlassungsurkunde wirksam wird. Obgleich Entlassung und Rücktritt demnach juristisch im Grunde identisch sind, empfiehlt sich für die politikwissenschaftliche Analyse doch, beides voneinander zu trennen. Da gerade der Aspekt der Freiwilligkeit bei vielen Rücktritten ausgesprochen heikel ist, viele Rücktritte eben nicht freiwillig im Sinne von eigenständig und souverän erfolgen, unterscheidet Manfred G. Schmidt zwischen einem Rücktritt in einem engeren Sinne als »vor Ablauf der Amtsperiode durch einseitige Willenserklärung des Amtsinhabers erfolgende Lossagung vom Amt« und einem Rücktritt im weiteren Sinne als »gegen den Willen des Amtsinhabers erzwungene Amtsbeendigung«4.  Als Rücktritt wird daher im Folgenden verstanden, dass eine Person aus einem (partei-)politischen Amt vor Ende der Amtszeit dieses Amt aktiv niederlegt oder abgibt, gleich aus welchen Gründen. Nicht unter die hier vertretene Definition von Rücktritt fallen die beiden Fälle einer Ministerentlassung: SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping 2002 und CDU-Umweltminister Norbert Röttgen 2012. RÜCKBLICKE AUF RÜCKTRITTE

3  Eine Übersicht über die Ministerinnen- und Ministerrücktritte samt Zuordnung zu verschiedenen (primären) Rücktrittsgründen findet sich unter tinyurl.com/indes232c1. Da diese im Einzelfall diskutabel sein mögen, freut sich der Autor über Feedback und gerne auch Widerspruch zu diesen Zuordnungen und den darauf basierenden Forschungsergebnissen.

Vergleicht man die acht abgeschlossenen und die angebrochene neunte Regierungsperiode seit der Deutschen Einheit, kommt das Kabinett Kohl IV mit vierzehn Rücktritten auf die mit Abstand höchste Anzahl. Helmut

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Scheitern — Analyse

4  Manfred G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 2010, S. 701.

Kohl pflegte eine Kultur der Kabinettsumbildungen als Kennzeichen der Kanzlerdemokratie5 – eine Praxis, die unter Gerhard Schröder, Angela Merkel und bislang auch unter Olaf Scholz aus der Mode gekommen zu sein scheint. Waren sechs dieser vierzehn Fälle vergleichsweise geräuschlose Amtswechsel beziehungsweise gesundheitlich bedingte Rückzüge, so hatten immerhin acht Rücktritte einen mehr oder minder kontroversen Anlass. Hier stechen insbesondere die skandalbedingten Rücktritte von Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) wegen der sogenannten »Briefbogen­affäre« sowie von Verkehrsminister Günther Krause (CDU) 1993 hervor, bei dem gleich mehrere Skandale und Affären zu Buche schlugen: finanzielle Unregelmäßigkeiten und unsaubere Vergabepraktiken beim Verkauf von Autobahnraststätten und beim Autobahnbau sowie die unrechtmäßige Beantragung von Zuschüssen für eine langzeitarbeitslose Reinigungskraft (»Putzfrauenaffäre«). Ein weiterer skandalinduzierter Fall war der Rücktritt von Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU), der 1992 die politische Verantwortung für illegale Panzerlieferungen aus Bundeswehrbeständen an die Türkei gegen einen ausdrücklichen Beschluss des Haushaltsausschusses übernahm. Im Kabinett Kohl V gab es hingegen nur zwei Rücktritte: Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nahm 1995 wegen des sogenannten »Großen Lauschangriffs« ihren Hut, Bundesbauminister Klaus Töpfer (CDU) wechselte 1998 in das Amt des Exekutivdirektors des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Auch das Kabinett Schröder I verließen viele Ministerinnen und Minister vorzeitig. Nur zwei der sechs Rücktritte waren indes die Folge von nüchternen Amtswechseln. Die anderen vier Fälle waren alle mehr oder weniger aufsehenerregend: Hierunter fallen der spektakuläre Rücktritt von Finanzminister Oskar Lafontaine (SPD) 1999 kein halbes Jahr nach dem rot-grünen Wahlsieg wegen persönlicher und politischer Differenzen mit Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sowie der einzige Fall eines »Doppelrücktritts« seit 1990 von Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) und Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) wegen administrativer Fehler und Mängel beim Management der BSE-Krise. Gegenüber diesen viel beachteten Fällen ist der Rücktritt von Verkehrsminister Reinhart Klimmt (SPD) wegen der Fußballaffäre rund um den 1. FC Saarbrücken, die zu einer Verurteilung wegen Beihilfe zur Untreue führte, fast schon in Vergessenheit geraten. Nach der wechselvollen ersten rot-grünen Amtsperiode, in die auch die Entlassung von 5  Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 720.

Verteidigungs­minister Rudolf Scharping fiel, gab es im Kabinett Schröder II nur einen einzigen, gleichsam geschäftsmäßigen Rücktritt, nämlich den Manuel Becker — Ausgedient

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Amtsverzicht von Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), die nach der verlorenen Bundestagswahl 2005 zur Fraktionsvorsitzenden ihrer Partei gewählt wurde und daher ihr Amt nur wenige Tage vor Antritt der neuen Regierung vorzeitig abgab. Im Kabinett Merkel I kam es zu drei Rücktritten: 2007 dankte Franz Müntefering (SPD) wegen der Krebserkrankung seiner Ehefrau ab. Landwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) wechselte 2008 in das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten. Der CSU-Politiker Michael Glos zog sich aus persönlichen Gründen neun Monate vor der Bundestagswahl von seinem Amt als Bundeswirtschaftsminister zurück – ein Fall, der in der Öffentlichkeit vielfach zunächst einer Amtsmüdigkeit zugeschrieben wurde, bei dem aber vor allem das angespannte Verhältnis zu Horst Seehofer (CSU) die entscheidende Rolle gespielt haben dürfte.6 Das Kabinett Merkel II brachte es auf neun Rücktritte, von denen vier schlichten Amtswechseln geschuldet waren, zwei davon im Zuge der personellen Neuaufstellung der glücklosen FDP 2011. Unter den anderen fünf Fällen stechen die beiden »Plagiatsaffären« um Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) 2011 und Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) 2013 hervor. Franz-Josef Jung (CDU) übernahm die politische Verantwortung für die Kunduz-Affäre 2009, im Rahmen derer Unklarheiten und Fehleinschätzungen dazu führten, dass bei einem vom deutschen Oberst Georg Klein von den US-amerikanischen Streitkräften angeforderten Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster knapp 150 Personen, darunter Frauen und Kinder, getötet wurden. Auch die Entlassung von Umwelt­ minister Norbert Röttgen im Jahr 2012 fällt in diese personalpolitisch sehr bewegte Legislaturperiode. Im Kabinett Merkel III wurde es etwas ruhiger: Zwar traten hier fünf Ministerinnen und Minister zurück, vier von ihnen allerdings aufgrund einvernehmlicher Amtswechsel. Alle vier ereigneten sich 2017, im letzten Jahr der Legislaturperiode, und betrafen die SPD: Außenminister Frank-Walter Steinmeier verließ für das Schloss Bellevue den Werderschen Markt, Sigmar Gabriel folgte ihm dort nach und gab dafür das Wirtschaftsministerium auf, Familienministerin Manuela Schwesig wechselte in die Staatskanzlei in Schwerin und Sozial- und Arbeitsministerin Andrea Nahles übernahm nach der Bundestagswahl noch vor dem Amtsantritt der neuen Regierung den SPD-Fraktionsvorsitz. Pikant war der Rücktritt von Landwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich (CSU) 2014. Hier ging es um Geheimnisverrat bezüglich der Ermittlungen gegen den SPDBundestagsabgeordneten Sebastian Edathy, der im Verdacht stand, sich

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Scheitern — Analyse

6  Vgl. Michael Weigel, Mission Comeback. Die CSU auf dem Weg zu neuer bundespolitischer Stärke, in: Reimut Zohlnhöfer & Thomas Saalfeld (Hg.), Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009–2013, Wiesbaden 2015, S. 94–112, hier S. 95; Manuela Glaab, Political Leadership in der Großen Koalition. Führungsressourcen und -stile von Bundeskanzlerin Merkel, in: Christoph Egle & Reimut Zohlnhöfer (Hg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005 bis 2009, Wiesbaden 2010, S. 123–155, hier S. 135.

kinderpornographische Filme und Bilder beschafft zu haben. Über diese Vorgänge hatte Friedrich den damaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel während der Sondierungen für eine Koalition nach der Bundestagswahl 2013 in Kenntnis gesetzt. Das letzte von Angela Merkel (CDU) gebildete Kabinett verlor drei Mitglieder: Justizministerin Katharina Barley (SPD) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wechselten auf die europäische Ebene. Der Amtsverzicht von Familienministerin Franziska Giffey (SPD) erfolgte sowohl wegen anhaltender Plagiatsvorwürfe als auch wegen ihres Wunsches nach einem Amtswechsel – sie kandidierte als Regierende Bürgermeisterin von Berlin.  In der noch jungen Amtsperiode des Kabinetts Scholz I schlagen immerhin bereits zwei skandalumwitterte Rücktritte zu Buche: Der grünen Familienministerin Anne Spiegel blieb wegen des desaströsen Umgangs mit der eigenen Rolle als rheinland-pfälzischer Umweltministerin bei der Flutkatastrophe im Ahrtal kein anderer Ausweg als die Demission. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) zwang eine sich immer weiter zuspitzende Kritik an ihrer der »Zeitenwende« nicht gerecht werdenden Amtsführung zum Rücktritt. Bei beiden Ministerinnen gaben am Ende mediale Fehltritte den Ausschlag, obwohl zumindest Lambrecht nach derzeitigem Kenntnisstand bis zum Schluss das Vertrauen von Bundeskanzler Scholz genossen hatte. AUS WELCHEN GRÜNDEN TRETEN MINISTERINNEN UND MINISTER ZURÜCK? Um sich nun der eingangs erwähnten Frage zu nähern, ob Rücktritte – wie überlicherweise medial unterstellt – zwangsläufig ein Scheitern bedeuten müssen, lohnt es sich, deren Gründe etwas genauer zu thematisieren. In der Literatur wurde vereinzelt versucht, die vielfältigen Gründe für Rücktritte systematisch zu erfassen. Michael Philipp nennt derer acht: (1) biografische Entwicklung, (2) politische Entwicklung, (3) Protest, (4) Verantwortung, (5) politisches Vorleben, (6) persönliche Verfehlung, (7) politische Vgl. Michael Philipp, Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen. Politische Rücktritte in Deutschland von 1950 bis heute, München 2007, S. 57–234.

7 

8  Vgl. Jörn Fischer u. a., The Push and Pull of Ministerial Resignations in Germany 1969–2005, in: West European Politics, H. 4/2006, S. 709–735.

Verfehlung und (8) Geldgeschichten.7 Jörn Fischer, André Kaiser und Ingo Rohlfing unterscheiden in Anlehnung an Terminologien aus der Migrationsforschung zwischen Push- und Pull-Rücktritten.8 Push-Rücktritte würden durch Pannen oder Skandale ausgelöst, unter Pull-Rücktritten verstehen sie die Übernahme eines anderen politischen Mandats. Neben diesen beiden Varianten ergänzen sie noch den Protest-Rücktritt und den neutralen Rücktritt, wozu sie alters- und gesundheitsbedingte Rücktritte zählen. Allerdings weisen sie daraufhin, dass die Zuordnung nicht immer Manuel Becker — Ausgedient

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eindeutig sei und es für manche Rücktritte verschiedene Gründe und daher auch Mischformen der vier Typen gebe. Ausgehend von der Analyse der 43 Rücktritte von Bundesministern und Bundesministerinnen seit der Deutschen Einheit soll hier ein weiterer Typologisierungsvorschlag unterbreitet werden. Leitend ist dabei die Unterscheidung zwischen konsensualen und konfliktuösen Rücktritten. Konsensuale Rücktritte sind solche, die die weitere politische Karriere der Zurückgetretenen oder ihre Laufbahn als Privatier nicht weiter belasten; als konfliktuös sind Demissionen zu bezeichnen, die zumindest potenziell einen Schatten auf die weitere politische oder anderweitige Laufbahn beziehungsweise den Nachruhm werfen. Beide Typen lassen sich jeweils in zwei Unterkategorien ausdifferenzieren: die konsensualen Rücktritte zum einen in den Amtswechsel und zum anderen in den Rücktritt aus persönlichen oder gesundheitlichen Gründen; die konfliktuösen Rücktritte einerseits in skandal- oder affärenbedingte und andererseits in kontroverseninduzierte Demissionen. Die hier untersuchten Rücktritte lassen sich diesen vier Kategorien wie folgt zuordnen: (a) Amtswechsel: Mit 20 von 43 Fällen sind schlichte Amtswechsel die mit Abstand häufigste Kategorie. In der überwiegenden Zahl der Fälle traten die Zurückgetretenen unmittelbar anschließend eine mindestens gleichwertige, wenn nicht gar bessere Position an, wenn man Kriterien wir Gehalt, Einfluss oder Prestige zu Grunde legt. Sechs Personen übernahmen ein anderes Ressort im Bundeskabinett (Seiters 1991, Kinkel 1992, Wissmann 1993, de Maizière 2011, Rösler 2011, Gabriel 2017), vier den Fraktionsvorsitz (Schäuble 1992, Künast 2005, Brüderle 2011 und Nahles 2017). Vier Personen traten auf die europäische oder internationale Bühne (Töpfer 1998, Hombach 1999, Barley 2019, von der Leyen 2019). Drei Kabinettsmitglieder wechselten auf die Landesebene (Seehofer 2008, Aigner 2013, Schwesig 2017). Mit Müntefering tauschte nur einer sein Minister- für ein Parteiamt ein, nämlich das des SPD-Generalsekretärs. Mit Steinmeier avancierte ein Minister zum Bundespräsidenten. Nur in einem von zwanzig Fällen kam es zu einer karrieretechnischen Verschlechterung, nämlich Wissenschaftsminister Heinz Riesenhuber (CDU), der 1993 aus dem Ministeramt gedrängt und zum einfachen Abgeordneten degradiert wurde. (b) persönliche/gesundheitliche Gründe: Diesen Gründen waren vier Rücktritte geschuldet. Eigene gesundheitliche Probleme gaben CSU-Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle 1993 und FDP-Wissenschaftsminister Rainer Ortleb 1994 als Rücktrittsgründe an. Im erstgenannten Fall traten das Alter des Ministers und Kabinettsumbildungswünsche von Kohl hinzu,

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Scheitern — Analyse

im zweiten Fall waren es offenkundig Alkoholprobleme, die den Rücktritt unausweichlich machten. Müntefering (SPD) wollte 2007 seine krebskranke Frau auf der letzten Etappe ihres Lebenswegs begleiten. Auf die angegebenen persönlichen, tatsächlich jedoch gemischten Motive beim Rückzug von Glos (CSU) 2009 wurde bereits hingewiesen. (c) Skandale/»Affären«: Vierzehn der untersuchten Rücktritte sind dieser Kategorie zuzuordnen. Stoltenberg (CDU), A. Fischer (Grüne) und Funke (SPD) mussten wegen Fehler in ihrer Ressortverantwortung gehen. Seiters (CDU) und Jung (CDU) übernahmen mit ihren Rücktritten die politische Verantwortung für Vorgänge außerhalb ihrer persönlichen Verantwortung. Möllemann (FDP), Krause (CDU), Klimmt (SPD), Friedrich (CDU) und Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen) hatten sich jeweils persönlich etwas zu Schulden kommen lassen, bei Guttenberg (CDU), Schavan (CDU) und Giffey (SPD) bezog sich diese persönliche Schuldhaftigkeit jeweils auf Dissertationsplagiate. Bei Lambrecht (SPD) waren es sowohl persönliche als auch amtsbezogene Fehler. (d) politische Differenzen: Schlussendlich bleiben fünf Rücktritte als Resultat politischer Differenzen. Der Rücktritt von Hans-Dietrich Genscher (FDP) war sicher auch auf dessen Alter und eine gewisse Amtsmüdigkeit zurückzuführen. Die Differenzen mit Kanzler Kohl erleichterten ihm aber den Abschied, selbst wenn er sich in seinen Memoiren darum bemüht, seinen Rücktritt als selbstbestimmten Entschluss nach auf den Tag genau 18 Jahren im Amt darzustellen.9 Ähnlich lagen die Dinge bei Gerda Hasselfeldt (CSU), die zwar offiziell gesundheitliche Gründe als Rücktrittsgrund angab, bei der aber ebenfalls die zermürbenden Differenzen mit Kohl und Vorwürfe gegen einen ihrer engsten Vertrauten der eigentliche Rücktrittsanlass gewesen sein dürften.10 Postminister Christian Schwarz-Schilling (CDU) trat zurück, um ein deutliches Signal gegen die passive Haltung der Bundesregierung in den Jugoslawienkriegen im Dezember 1992 zu setzen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) pro9  Vgl. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 1003–1007. 10  Vgl. o. V., »Der Eimer ist voll«, in: Der Spiegel, 03.05.1992; Paul Noack, Gerda Hasselfeldt, in: Udo Kempf & Hans-Georg Metz (Hg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Opladen 2001, S. 296–298, hier S. 297.

testierte 1995 mit ihrer Demission gegen den »Großen Lauschangriff«. Auch der fünfte Fall neben diesen vier Rücktritten in der Ära Kohl fällt in die 1990er Jahre: Die Demission des Finanzministers Oskar Lafontaine (SPD) wegen unüberbrückbarer Differenzen zu Kanzler Schröder war ein Paukenschlag zu Beginn von dessen Amtszeit. MÜSSEN RÜCKTRITTE STETS EIN SCHEITERN BEDEUTEN? Kann es nicht auch »erfolgreiche« Rücktritte geben? In der jüngeren Vergangenheit war es interessant zu beobachten, dass Politikerinnen Manuel Becker — Ausgedient

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wie Jacinda Ardern oder Nicola Sturgeon durchaus Respekt dafür gezollt wurde, dass sie nicht an ihrem Amt klebten. Es bleibt bis auf weiteres abzuwarten, ob dies nur situationsbezogene Ausnahmen bleiben oder ob sich hier tatsächlich eine Art Kulturwandel in der Beurteilung von Rücktritten in der Politik abzeichnet. Bis auf Weiteres ist es – insbesondere mit Blick auf Deutschland – weiterhin so, dass Rücktritte in der Regel von politischen Beobachterinnen und Beobachtern als Scheitern kommentiert und auch von der politischen Klasse so wahrgenommen werden. Je höher die Stufe, die eine Amtsinhaberin oder ein Mandatsträger auf der politischen Karriereleiter erklommen hat, desto wichtiger werden ihr beziehungsweise ihm der Nachruhm und der Platz in den Geschichtsbüchern. Nach den Gepflogenheiten des politischen Geschäfts und besonders unter den Bedingungen der modernen Mediendemokratie sind Politikerinnen und Politiker in ihrer Außendarstellung stets um die Inszenierung von Perfektion bemüht. Entgegen dem, was skandalorientierte Betrachtungen von Rücktritten nahelegen, lassen sich die Kategorien Rücktritt und Erfolg gedanklich durchaus zusammenbringen. Der Amtswechsel ist nahezu immer ein Erfolg. In 19 von 20 Fällen handelte es sich wie gesehen entweder um solche Aufstiege oder um einen zumindest gleichwertigen Ämtertausch. Der Rücktritt aus persönlichen Gründen wird zumeist von der Öffentlichkeit respektiert – vor allem, wenn dies zur Pflege eines kranken Angehörigen geschieht. Im Falle von Franz Müntefering 2007 hat der Rücktritt vom Parteivorsitz der späteren Wiederaufnahme der Karriere sicher nicht geschadet. Zwar sträubt man sich, dies als »Erfolg« zu bezeichnen, da dahinter ein tragisches persönliches Schicksal steht. Aber auch hier handelt es sich um Rücktritte, die einem Verantwortungsgefühl entspringen und deshalb mit dem Begriff des Scheiterns unpassend bezeichnet sind. Solche Rücktritte müssen nicht zwangsläufig das Karriereende bedeuten, wie man erneut am Beispiel von Franz Müntefering sieht, der später abermals ein Ministeramt innehaben sollte. Beim Rücktritt aus Altersgründen erscheint es überhöht, diesen als Erfolg zu bezeichnen – allerdings ist Altern sicherlich kein Scheitern und der Rücktritt zur rechten Zeit ermöglicht, in Würde aus dem Amt zu scheiden. Doch selbst wenn man all diese Rücktritte außen vor lässt, bleiben auf dem Feld der Skandale und Kontroversen einige Rücktritte übrig, die man ebenfalls als erfolgreich beschreiben kann. So gibt es etwa Rücktritte aus politischer Verantwortung. Wer ein politisches Amt antritt, übernimmt die politische Verantwortung für Vorgänge außerhalb des eigenen persönlichen

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Scheitern — Analyse

Einflusses. Tritt man aus einem solchen Anlass zurück, zeugt dies zwar nicht unbedingt von Erfolg im Amt, aber jedenfalls von gelebtem Amtsethos. Beispiele sind die Rücktritte von CDU-Innenminister Rudolf Seiters 1993 nach dem Polizeieinsatz mit Todesfolge in Bad Kleinen sowie von CDU-Arbeitsminister Franz-Josef Jung 2009 im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster. Beide hatten nach heutigem Wissensstand keine persönliche Kenntnis von den Vorgängen, für die sie qua Rücktritt die Verantwortung übernahmen. Jungs Rücktritt als Arbeitsminister für Vorgänge aus seiner Zeit als Verteidigungsminister zeigt, dass der lange Schatten der ministeriellen Verantwortung einen auch nach Ende der Amtsperiode einholen kann.  Daneben könnte man in einigen Fällen von »Rücktritten aus Rückgrat« sprechen. Hierbei nehmen Personen aus persönlichem Wertegefühl Karrierenachteile in Kauf. So ordnete etwa Schwarz-Schilling mit seinem Rücktritt aufgrund der Teilnahmslosigkeit der Bundesregierung gegenüber dem Konflikt auf dem Balkan sein Ministeramt den eigenen Überzeugungen unter. Er setzte seine politische Existenz aufs Spiel, um ein Zeichen in einer ihm wichtigen politischen Angelegenheit zu setzen. Später wirkte er als Schlichter in Bosnien und wurde Hoher UN-Repräsentant und EU-Sonderbeauftragter auf dem Balkan, was dem Rücktritt im Rückblick zusätzliche Glaubwürdigkeit verleiht. Gleiches gilt für den Rücktritt Leutheusser-Schnarrenbergers, die den »Großen Lauschangriff« aus innerer Überzeugung nicht mittragen konnte und nach ihrer Amtszeit erfolgreich gegen dieses Maßnahmenpaket vor dem Bundesverfassungsgericht klagte. Der Unterschied zwischen beiden Fällen besteht darin, dass der Rücktritt der Liberalen aus einem ihr eigenes Ressort betreffenden Vorgang resultierte, während bei Schwarz-Schilling ein ressortfremdes Thema zum Stein des Anstoßes wurde. Was beide Fälle eint, ist die Tatsache, dass die Rücktritte die persönliche Glaubwürdigkeit der Zurückgetretenen dokumentieren sollten. Zugegeben: Unter den 43 Beispielen muss man diese honorigen Rücktritte schon mit der Lupe suchen. Sie sind ausgesprochen selten – indes: Es gibt sie und sie sind durchaus ein Merkmal für die demokratische Qualität eines Gemeinwesens. PD Dr. Manuel Becker (geb. 1984) ist Leiter des Wissenschaftlichen Programms an der Academy of International Affairs NRW und Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der Theorie und Praxis der Geschichtspolitik, in der Bildungs- und Hochschulpolitik sowie in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.

Manuel Becker — Ausgedient

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GESCHEITERT AM EIGENEN SYSTEM DER POLITISCHE NIEDERGANG WALTER ULBRICHTS Ξ  Alina Kröber

Was braucht es in einer Diktatur, um sich störender Parteimitglieder zu entledigen? In einem Staat, in dem die politische Praxis jederzeit so modifiziert werden konnte, dass sie dem Willen und den Zielen der Einheitspartei entsprach, liegt die Annahme nicht fern, dass eine rechtliche Argumentation wohl nicht von Nöten war. Für diese Hypothese spricht der Fall des Rücktritts des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees (ZK) der SED, Walter Ulbricht. Getrieben von Machthunger und Antipathien versuchte die Ulbricht-Opposition um Erich Honecker und seine Frau Margot ab Mitte der 1960er Jahre, Ulbricht vor allem durch die Diskreditierung seiner engsten Vertrauten in der Partei langsam zu entmachten. Lange Zeit wurde keinerlei direkte Kritik am Parteiführer geübt. War das eine vertane Chance? Hätten sich die Ulbricht-Kritiker nicht doch auch auf eine rechtliche Grundlage stützen können, um so kurzen Prozess mit dem ihnen so verhassten Politiker zu machen? GESCHICKTER MACHTPOLITIKER MIT DEM NÖTIGEN QUÄNTCHEN GLÜCK Der politische Werdegang des am 30. Juni 1893 in Leipzig geborenen Sozialisten ist vor allem in der Zeit nach 1945 von inneren Machtkämpfen und Krisen gezeichnet. Umso bemerkenswerter, dass diese in den allermeisten Fällen seine Macht festigten und viele seiner Konkurrenten von der politischen Bühne vertrieben. So sicherte beispielsweise der Volksaufstand am 17. Juni 1953, der sich nicht zuletzt auch gegen den Generalsekretär selbst richtete, ironischerweise wahrscheinlich sogar dessen Macht, da eine drohende Entmachtung durch die Krisensituation verzögert wurde. Am Ende konnte Ulbricht seine Position stärken und fand neben sich auch keinen politischen Gegner mehr, der ihm das Wasser reichen konnte.1 Generell fand sich in der ersten Hälfte des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik kaum ein zweiter Politiker, der Macht derart akkumulieren und den Parteiapparat so geschickt für sich nutzen

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1  Vgl. Mario Frank, Walter Ulbricht. Eine deutsche Biografie, Berlin 2001, S. 248.

konnte wie der Kommunist aus Leipzig. Dabei war sein wenig kooperativer, eher diktatorischer Führungsstil klar zu verurteilen. Dennoch ist dem Sachsen auch zuzugestehen, dass er sich seine Stellung in der Partei hart erarbeitete. Walter Ulbricht scheint ein nie ermüdendes Arbeitstier und durch seinen regen Austausch mit Erich Mielke, seinem Mann fürs Grobe in allen Fragen der inneren Sicherheit, immer über alle Vorgänge in Staat und Regierung im Bilde gewesen zu sein. In seiner von innerparteilichen Konflikten geprägten Amtszeit behauptete er sich mit verbissenem Durchsetzungsvermögen und ausgeprägtem Machtbewusstsein. Mit Hilfe einer geschickten Personalpolitik und durch zahlreiche Kontakte in die Sowjetunion schuf er sich einen Thron, von dem er nur schwer zu stürzen war.2 Zudem war seine Politik von einem gewissen Pragmatismus gekennzeichnet, der es ihm erlaubte, flexibel auf Stimmungsänderungen unter den Genossen zu reagieren. So schaffte er es etwa, in der Folge des XX. Parteitags der KPdSU im Jahr 1956, auf dem Chruschtschow mit der Ära des Personenkults unter Stalin abrechnete, sich an die Spitze der Rehabilitierungskommission zu setzen. Stellt man in Rechnung, dass auch Ulbricht in der DDR einen Personenkult zumindest anstrebte und als großer Befürworter Stalins galt, wird deutlich, dass er niemals an dessen Erbe gerüttelt hätte, wenn es nicht seiner eigenen Machtsicherung dienlich gewesen wäre.3 Nachdem sich jedoch über die Jahre ein immer größer werdender Kreis von Ulbricht-Kritikern bildete, weil er mit seiner zum Teil sehr progressiven Herangehensweise bei vielen alteigesessenen SED-Mitgliedern Verwunderung und Ablehnung hervorrief, geriet sein Thron im Jahr 1964 das erste Mal tatsächlich ins Wanken. Nach dem Sturz Chruschtschows am 15. Oktober verlor Ulbricht seinen Rückhalt in Moskau, denn mit dessen 2  Vgl. ebd., S. 218 ff.; Carola Stern, Ulbricht: eine politische Biographie, Köln 1963, S. 156. 3  Vgl. Frank, S. 250 ff.

Nachfolger, Leonid Iljitsch Breschnew, fand er nur wenig Übereinstimmung. Dieser sympathisierte eher mit dem zweiten Mann in der Partei, Erich Honecker, da beide nicht an einen deutschen Sonderweg glaubten und die sowjetische Unfehlbarkeit als oberstes Regierungsprinzip verinnerlicht hatten.4 Anders als noch zuvor nutzte die Opposition gegen Ulbricht

4  Vgl. Monika Kaiser, ­Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962–1972, Berlin 1997, S. 390. 5  Vgl. Frank, S. 362. 6  Vgl. ebd., S. 365 ff.

dieses Mal das Momentum und begann, mit einer Reihe von Initiativen seinem Kurs entgegenzusteuern. Viele Aspekte seiner Jugend- und Kulturpolitik wurden revidiert und seine Wirtschaftsreformen zum größten Teil ausgebremst.5 Um seine Macht zu retten, »opferte« er Verbündete, wie den von ihm eingesetzten Leiter der Jugendkommission Kurt Turba oder Erich Apel, der maßgeblich an der Umsetzung seines Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) beteiligt war.6 Alina Kröber  —  Gescheitert am eigenen System

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DER STURZ ULBRICHTS Als die DDR Anfang der 1970er Jahre in eine der schwersten Wirtschaftskrisen ihres 40-jährigen Bestehens rutschte, ließ der Altersstarrsinn7 Ulbrichts nicht zu, dass er sich von seinem bisherigen Kurs abwandte und an die aktuellen Gegebenheiten anpasste. Seinen Kritikern aus dem Politbüro hätte nichts Besseres passieren können. Der immer offensichtlicher werdende Gegenwind aus der Partei zehrte nun auch merklich an Ulbrichts Gesundheit, der daraufhin gezwungenermaßen kürzertrat und die Attacken seiner Genossen fast widerstandlos über sich ergehen ließ.8

40

Scheitern — Analyse

7 

Vgl. ebd., S. 386.

8  Vgl. u. a. Kaiser, S. 452; Frank, S. 421.

Anfang 1971 unterschrieben 13 von 21 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros der SED einen Brief an das Politbüro der KPdSU mit der Forderung, Ulbricht aus seinem Amt abzulösen. Es wurden vor allem seine persönlichen Angriffe und seine Alleinregierungspraxis kritisiert. Ein Verständnis der aktuellen, realen Umstände in der DDR wurde ihm abgesprochen und die Klage erhoben, dass er mit unnötigen Diskussionen das Politbüro von der Arbeit abhalte. Fast schon fürsorglich endeten die Unterzeichner mit einem Verweis auf Ulbrichts gesundheitlichen Zustand. Er sei nicht mehr in der Lage, seinen Aufgaben als Erster Sekretär vollumfänglich nachzukommen. Dabei wurde auch auf den Rat seiner Ärzte verwiesen, er solle sich mehr schonen.9 Am 27. April 1971 schließlich beugte sich Ulbricht dem Widerstand des Politbüros und erklärte offiziell seinen Rücktritt als Erster Sekretär des ZK der SED. Er war mittlerweile so mürbe gemacht worden, dass er sogar den Wortlaut seiner Rücktrittserklärung von Breschnew absegnen ließ. Eine Woche später bat Ulbricht dann auch vor dem ZK der SED um seine Entlassung. Er erklärte, dass er so eine wichtige Aufgabe nicht mehr stemmen könne, und schlug gleichzeitig Honecker als seinen Nachfolger vor. Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Um sicherzustellen, dass Ulbricht auch wirklich entmachtet wurde, löste sein Nachfolger dessen Strategischen Arbeitskreis auf und ließ sich von der Volkskammer zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates wählen, ohne dass Ulbricht von diesem vorher abgewählt worden oder zurückgetreten wäre.10 WÄRE EIN ANDERER WEG MÖGLICH GEWESEN? Wie an diesem kurzen chronologischen Überblick zum Niedergang der politischen Karriere Walter Ulbrichts deutlich wurde, stützte sich die Argumentation gegen den SED-Parteiführer wenig auf parteipolitische Verhaltensregeln, die missachtet wurden. Vielmehr war der Oppositionskreis um Honecker generell unzufrieden mit dem politischen Kurs Ulbrichts. Sicherlich löste auch der stark ausgeprägte Machtunterschied zwischen dem ersten und zweiten Mann in der Partei Argwohn aus. Heißt dies im Umkehrschluss, dass es an Ulbrichts politischer Praxis aus innerparteilicher Sicht nichts zu beanstanden gab? Warum diese Frage entschieden verneint werden kann, wird im Folgenden erörtert. Als Verhaltenskodex, dessen Befolgung von allen Parteimitgliedern ge-

9  Vgl. Peter Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 297–303.

fordert wurde, kann das Statut der SED herangezogen werden. Bereits in

Vgl. Frank, S. 426 f.

gesetz« zahlreichen Adaptionen. In den ersten Fassungen wurde der Fokus

10 

den Anfangsjahren des Bestehens der SED unterlag das »Partei-Grund­

Alina Kröber  —  Gescheitert am eigenen System

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noch auf die Etablierung als gesamtdeutsche Partei gelegt. Später verzichtete die Partei offen auf verbale Bekenntnisse zu einem gesamtdeutschen Staat und gebar sich somit stärker als Staatspartei.11 Im Rahmen der nachfolgenden Analyse wird mit dem vierten Statut der Partei, welches auf dem VI. Parteitag im Januar 1963 verabschiedet wurde, gearbeitet. Mit der Radikalisierung der Politik Ulbrichts ab Mitte der 1950er Jahre ging auch eine persönliche Radikalisierung einher.12 Alles, was Ulbricht vor Augen hatte, war der Aufbau des Sozialismus. Für die Erreichung dieses Ziels traf er immer häufiger alle wichtigen Entscheidungen allein. Die zuständigen Gremien wurden übergangen und teilweise nicht einmal über die Vorgänge informiert. So besprach Ulbricht in seinen täglich bis zu acht Besprechungen mit führenden Funktionären die akuten Probleme der DDR-Kultur, -Wirtschaft und -Politik und fasste auf dieser Basis Beschlüsse, die im Politbüro nie zur Diskussion kamen.13 Seine Bereitschaft zu echten politischen Diskussionen nahm immer mehr ab. Infolgedessen kam es immer häufiger zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen im Politbüro.14 Diese politische Praxis des obersten SED-Politikers stellt einen Bruch mit einem der wichtigsten Leitsätze des Statuts dar: »Das höchste Prinzip der Arbeit der leitenden Pateiorgane ist die Kollektivität. Alle Leitungen haben die vor der Partei stehenden Probleme, die Aufgaben und die Planung der Arbeit im Kollektiv zu beraten und zu entscheiden. Der Grundsatz der Kollektivität hebt die persönliche Verantwortung nicht auf. Personenkult und die damit verbundene Verletzung der innerparteilichen Demokratie sind unvereinbar mit den Leninschen Prinzipien des Parteilebens und können in der Partei nicht geduldet werden.«15 Neben seiner offenkundigen Missachtung des Kollektivitätsgrundsatzes setzte sich Ulbricht über das Prinzip des Demokratischen Zentralismus hinweg. Dieser umfasst unter anderem, dass die gewählten Parteiorgane dazu verpflichtet sind, regelmäßig das Gremium, von dem sie gewählt wurden, über ihren Arbeitsstand und die zukünftigen Pläne in Kenntnis zu setzen.16 Kritisch-saloppe Bemerkungen wie: »Hoffentlich erfahren wir von Walter, wenn wir uns im Krieg befinden«17 von dem sonst Ulbricht treuen Hermann Matern zeigen anekdotisch, dass der Generalsekretär dafür bekannt war, diese Informationspflicht zu ignorieren. Ein weiterer fraglicher Aspekt des politischen Agierens Ulbrichts betrifft seine Personalpolitik. Hierzu wurde in Art. 2 des Statuts von 1963 folgende Vorgabe gemacht:

42

Scheitern — Analyse

11  Vgl. Alois Riklin & Klaus Westen, Selbstzeugnisse des SED-Regimes, Köln 1963, S. 163 f. 12 

Vgl. Frank, S. 243.

13 

Vgl. Stern, S. 152.

14 

Vgl. Frank, S. 244.

15  Art. 24 des Statuts der SED i. d. F. v. 1963. 16  Vgl. Art. 23b des Statuts der SED i. d. F. v. 1963. (Im Kommenden immer diese Fassung.) 17 

Zit. nach Stern, S. 151.

»Das Parteimitglied ist verpflichtet: […] überall, in jeder Stellung die Weisungen der Partei über die richtige Auswahl und Förderung der Parteiarbeiter nach ihrer politischen und fachlichen Eignung unbeirrbar zu befolgen […]. Wer die Parteiprinzipien bei der Auswahl und Förderung der Parteiarbeiter verletzt, nicht die notwendige Wachsamkeit übt, Mitarbeiter auf Grund freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher Beziehungen oder persönlicher Ergebenheit auswählt, ist zur Verantwortung zu ziehen.«18 Ein besonders bezeichnendes Beispiel für eine solche Personalentscheidung Ulbrichts war die Ernennung Kurt Turbas, Chefredakteur der Studentenzeitschrift Forum, zum Leiter sowohl der Jugendkommission als auch der Abteilung Jugend im ZK. Nun kann argumentiert werden, dass Turba als Chef einer für DDR-Verhältnisse recht liberal ausgerichteten Zeitschrift der passende Mann für seine angestrebte Jugendpolitik war, in der beispielsweise der FDJ eine weniger entscheidende Rolle zukommen sollte. Dagegen spricht aber, dass sich Turba selbst nicht befähigt sah, dieses Amt auszufüllen, was er gegenüber Ulbricht auch kommunizierte. Es wird mithin deutlich, dass es Ulbricht weniger um Eignung und Talent ging. Vielmehr wählte er Kurt Turba aus, weil dieser aus seiner früheren Position als Abteilungsleiter im Zentralrat der FDJ (1950–1953) mit der Begründung entlassen worden war, er hätte eine zu »bürgerliche Herkunft« und eine zu »kritische Haltung« gehabt. Da diese Entscheidung von Erich Honecker getroffen wurde, war die Wahl Turbas wohl nicht zuletzt auch ein veritabler Seitenhieb Ulbrichts gegen seinen Rivalen.19 Walter Ulbricht missachtete jedoch nicht nur die Verhaltensregeln der SED, sondern auch die Rechte seiner politischen Wegbegleiter. So hatte laut Statut jedes Parteimitglied ein Anrecht darauf, »[…] seine Anwesenheit zu verlangen, wenn in der Parteiorganisation zu seinem Verhalten und seiner Tätigkeit Stellung genommen wird oder Beschlüsse über seine Person gefaßt werden«20. Eine Beschneidung dieser Berechtigung erfuhr unter anderem der Leiter des Ministeriums für Staatssicherheit 18 

Art. 2k des Statuts der SED.

(MfS) Ernst Wollweber im Jahre 1957. Am 9. Juli wurde in einer PolitbüroSitzung, auf welcher Wollweber nicht anwesend war, Erich Mielke zum

19 

20 

Vgl. Frank, S. 358 f.; Kaiser, S. 146.

Art. 3d des Statuts der SED. 21  Vgl. Frank, S. 266.

»kommissarischen Leiter« des MfS ernannt. Wollweber, der trotz ständiger Angriffe durch Ulbricht noch immer im Amt war, wusste von all dem nichts. Dieses Vorgehen sorgte jedoch dafür, dass er schließlich aufgab und im Oktober 1957 vor dem Politbüro um seine Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen bat.21 Alina Kröber  —  Gescheitert am eigenen System

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WAHRUNG DES PARTEI-IMAGES Ulbrichts innerparteiliche Praxis hätte also zahlreiche Ansatzpunkte geliefert, ihn aufgrund der Missachtung des Parteistatuts zur Rechenschaft zu ziehen. Bevor abschließend eine Vermutung angestellt wird, weshalb genau das nicht passiert ist, soll kurz erläutert werden, was in einem solchen Fall hätte folgen können. Die Verfasser des Statuts blieben reichlich unspezifisch bei der Formulierung von Konsequenzen. So ist in mehreren Artikeln nur die Rede davon, die betreffende Person »zur Verantwortung zu ziehen«22. Ein genauerer Aufschluss über die Parteistrafen findet sich in den Artikeln 7 bis 17, wobei vor allem die Rüge, die strenge Rüge, die Versetzung in den Kandidatenstatus für ein Jahr oder der Parteiausschluss angeführt werden. Diese härteste Bestrafung konnte nur mit einer Zweidrittelmehrheit umgesetzt werden.23 Zur langfristigen Entmachtung Ulbrichts wäre für seine Kritiker nur der Parteiausschluss zielführend gewesen. Mit Rückblick auf die Briefaktion der Honecker-Fraktion, bei der nur knapp mehr als die Hälfte der Mitglieder beziehungsweise Kandidaten des Politbüros die Forderung nach Ulbrichts Rücktritt unterzeichneten, ist fraglich, ob es im Falle einer Abstimmung im ZK der SED zu der benötigten Mehrheit gekommen wäre. Zudem wäre eine Aufzählung der Vergehen Ulbrichts in vielen Aspekten heuchlerisch gewesen, da auch Honecker und seine Vertrauten gegen das Parteirecht verstießen. So nutzten diese unter anderem die krankheitsbedingte Abwesenheit des Ersten Sekretärs im Jahre 1970, um im Politbüro Beschlüsse zur Revidierung des neuen Wirtschaftskurses durchzusetzen.24 Eine genaue Fehleranalyse, vor der sich SED-Politiker generell sträubten, hätte überdies auch Eigenverantwortlichkeiten derer aufgedeckt, die Ulbrichts Aufstieg möglich gemacht hatten. Zuvorderst hätte dabei Erich Honecker mit einem Imageverlust rechnen müssen.25 Generell waren es sicherlich nicht die Methoden, die Walter Ulbricht nutzte, um so viel Macht in seiner Person zu zentrieren, die Honecker und seinen Gefolgsleuten missfielen. Vielmehr wird es im innerparteili-

22  Vgl. Art. 3b, 2k, 7 des Statuts der SED.

chen Kampf um die Macht die naheliegende Tatsache gewesen sein, dass ihnen größerer Einfluss verwehrt blieb. Mit Blick auf die eigenen Machtansprüche hätte es für Honecker zum Hindernis werden können, die faktischen Funktionsmechanismen der Partei zu kritisieren, von denen er später selbst am meisten profitieren könnte. Dass Honecker nach seiner Ernennung zum Ersten Sekretär des ZK der SED schnell in das Muster einer »Ein-Mann-Herrschaft«26 zurückfiel, verdeutlicht dies nur allzu gut.

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Scheitern — Analyse

23  Art. 8, 11 des ­Statuts der SED. 24  Vgl. Kaiser, S. 425 f. 25  Vgl. ebd., S. 418. 26 

Ebd., S. 444.

Des Weiteren war es ein Merkmal sich streng am sowjetischen Vorbild orientierender kommunistischer Satellitenstaaten, dass nichts über die Weisheit und Integrität der führenden Kommunistischen Partei ging und alles in der Macht der Politiker Stehende getan wurde, um deren Ansehen reinzuhalten. Mit einer Anklage der Vergehen Ulbrichts wäre für die DDR-Bevölkerung, aber auch das Ausland offensichtlich geworden, wie stark die angeblich demokratisch-zentralistische Funktionsweise der Partei untergraben und zu einem diktatorischen Herrschaftsinstrument umgeformt wurde. Durch eine ausschließliche Anprangerung der politisch-ideologischen Haltung Ulbrichts konnte eine allgemeine Kritik an der Partei so leise wie möglich gehalten werden. Den unbeliebten politischen Kurs des Parteiführers anzuführen, um die Notwendigkeit von dessen Rücktritts zu begründen, half ebenfalls dabei, sich auch seiner übriggebliebenen Unterstützer zu entledigen. So fiel beispielsweise Wolfgang Berger der seit Stalin üblichen Tradition zum Opfer, dass die Helfer des Verlierers eines innerparteilichen Machtkampfes ebenfalls mit der eigenen Entmachtung rechnen mussten. Dabei war es üblich, dass diese Entscheidung auch nicht im entsprechenden Gremium fiel.27 »Zum Ende seiner politischen Laufbahn erfuhr Ulbricht am eigenen Leibe den erniedrigenden Umgang eines Systems, das er maßgeblich mit geschaffen hatte, und die skrupellose, verlogene und menschenverachtende Art der ›Kader‹, die durch seine politische Schule gegangen waren.«28 Auch er blieb nicht verschont von der vollen Härte eines der Funktionsmechanismen des DDR-Herrschaftssystems: Dem auserkorenen 27  Vgl. ebd., S. 440; zum analogen Vorgehen in der Komintern und KPD seit den zwanziger Jahren vgl. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bd., Frankfurt a. M. 1969. 28 

Kaiser, S. 454.

Sündenbock durfte keine Möglichkeit gegeben werden, sich zu rehabilitieren. Und so mag es überraschend wirken, dass Walter Ulbricht nach seinem Tod am 1. August 1973 mit einem pompösen Staatsbegräbnis geehrt wurde, welches aus Moskau angeordnet wurde. Zur Trauerfeier im Staatsratsgebäude am Marx-Engels-Platz in Ost-Berlin erwiesen dem ersten Parteiführer der SED Delegationen aus allen Staaten des Warschauer Pakts die letzte Ehre.

Alina Kröber studiert Politikwissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität in Bonn. Aufgrund ihres biografischen Einflusses setzt sie sich mit unterschiedlichsten Aspekten der DDR-Geschichte auseinander.

Alina Kröber  —  Gescheitert am eigenen System

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KOMMENTAR

INTEGRATION(SPOLITIK) ABERMALS GESCHEITERT? EINE KRITISCHE BETRACHTUNG Ξ  Mahir Tokatlı

Alle Jahre wieder scheint Deutschland über die Integration von Zugewanderten zu debattieren, erklärt sie dann aber recht schnell und regelmäßig für gescheitert. Zunächst sei der zu Tage tretende dezisionistische Charakter und die damit verbundene Nicht-Logik, einen Prozess immer wieder für gescheitert zu erklären, einmal ausgeklammert, da die Anlässe für den Redebedarf wichtiger erscheinen. Solchen Debatten liegen für gewöhnlich gesellschaftspolitische Ausnahmeerscheinungen zugrunde: Hierzu zählen die Silvesterkrawalle in Neukölln 2022, die Vorkommnisse zum Jahreswechsel in Köln 2016 oder aber auch Wahlen in der Türkei und somit die Rolle türkischer Stimmberechtigter und damit verflochtene ­Loyalitätsfragen zwischen Ankara und Berlin. In diesen Debatten erklären Gazetten, Politiker:innen und auch sogenannte Integrationsexpert:innen die Integration vergleichsweise schnell für gescheitert. Das lässt den Eindruck entstehen, Emotionen oder sogar politisches Kalkül spielten eine gewichtige Rolle und seien bedeutender als eine an dieser Stelle gebotene nüchtern-sachliche politische Analyse. Integration ist keine Einbahnstraße. Zwar ist dies eine Binsenweisheit und inzwischen ein geflügeltes Wort, dennoch bedarf es hier einer Erinnerung: Obwohl beide Seiten (die Integrierenden und die zu Integrierenden) gleichermaßen zu einem Gelingen oder einem Scheitern beitragen, betrachten und bewerten Politiker:innen sowie Medien beide Seiten nach unterschiedlichen Maßstäben. Wenn klar rechtsextremistische Anschläge auf Personen mit Zuwanderungsgeschichte zu verzeichnen sind, nimmt die Bereitschaft, über Integrationsdefizite zu sprechen, deutlich ab beziehungsweise ist nicht existent und unterstreicht eine deutlich asymmetrische Betrachtung sowie Analyse von Integrationsbemühungen. Will

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sagen: Die Debatten laufen einseitig über die vermeintlich mangelnde Integrationsbereitschaft oder sogar -fähigkeit der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, aber selten bis kaum über den defizitären Inte­ grationswillen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Nach dem rechtsextremen ­Attentat auf neun1 Personen in Hanau wurden diskussionslos die alljährlichen Karnevalsfeierlichkeiten begonnen; der rechtsextreme Mord an Oury Jalloh in Dessau bleibt unaufgeklärt und wird nicht weiterermittelt; als die Polizei feststellte, deutsche Staatsbürger seien mehrheitlich an den Krawallen um den Jahreswechsel in Berlin beteiligt, stellte die dortige CDU eine parlamentarische Anfrage mit der Absicht, die Vornamen der Randalierer in Erfahrungen zu bringen. Es genügt also nicht, die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen und gegebenenfalls auch in diesem Land geboren zu sein, um als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden, wenn die Berliner Christdemokrat:innen sich das Recht vorbehalten, etwaige Ahmets und Erkans als Integrationsverweigerer aus der Mitte der Antons und Emils herauszufischen. Zweifellos ist das Thema so brisant wie vielschichtig, sodass dieser Beitrag – der sich bewusst als Kommentar oder Zwischenruf versteht – zunächst in aller Kürze das Konzept »Integration« skizziert. Das Ziel liegt hierbei darin, diesen Begriff als deplatziert zu verwerfen, da er weder zeitgemäß noch konzeptionell dazu in der Lage ist, die gegenwärtigen Herausforderungen vollständig zu erfassen. In diesem Zusammenhang ist eine Klärung des Begriffs »Scheitern« ebenfalls unerlässlich und wird den Ausführungen vorangestellt. Erst hierdurch lassen sich Aussagen einiger Politiker:innen besser verstehen sowie in einen horizontal exkludierenden Rechtspopulismus einordnen. Um die Komplexität der Materie zu reduzieren, konzentriert sich der Beitrag auf die Zugewanderten, die mindestens in zweiter Generation hier leben und sich somit nur qua Herkunft ihrer (Groß-)Eltern und/oder ihrer Namen von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, sich aber dennoch permanent mit Integrationsfragen konfrontiert sehen. Schließlich sollen migrationsspezifische Problemlagen nicht verschwiegen, indes in einen übergeordneten Kontext gesetzt werden, der sie nicht relativiert, sondern als gesamtgesellschaftliche Probleme identifiziert. 1  Die Mutter des Attentäters ist das zehnte Opfer, wird hier aber bewusst nicht unter die Betroffenen eines rechtsextremistischen Attentates subsumiert. Die Motive waren hier anders gelagert.

EIN UNANGENEHMES BEGRIFFSPAAR: SCHEITERN UND INTEGRATION Was heißt »scheitern« und wie unterscheidet sich das Verb von ähnlichen Worten wie »versagen« oder »misslingen«? Etymologisch entstammt es dem Wort »Scheit« (Holz) und meint später als Verb »in Trümmern Mahir Tokatlı  —  Integration(spolitik) abermals gescheitert?

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auseinanderbrechen«; schon im 17. Jahrhundert wurde es verwendet, wenn Schiffe Schiffbruch erleiden und zerschellen. Anders als beispielsweise »versagen«, meint also »scheitern« einen Fehlschlag, der nicht zu revidieren ist. Um im Bild zu bleiben, lässt sich der Kurs bei einem Scheitern nicht zwischenzeitlich korrigieren; um das Ziel zu erreichen, braucht es stattdessen (nicht weniger als) ein neues Schiff. Gleiches gilt auch für Prozesse in der Politikwissenschaft: Wenn beispielsweise eine Koalitionsregierung versagt, dann ist ihr etwas misslungen oder sie erhält negative Kritik, aber sie existiert fort. Anders verhält es sich bei einem Scheitern der Koalitionsregierung, denn das bedeutet das Ende und folglich den Koalitionsbruch. Eine Neuauflage mag denkbar erscheinen, aber nur unter der Voraussetzung einer grundsätzlichen Neuorientierung. Wenn Politiker:innen oder auch Teile der Gesellschaft die Integrationspolitik für gescheitert erklären, ist dies ein Eingeständnis des Versagens einer Strategie, die benutzt wurde, um einen unerfreulichen Zustand in einen neuen Zustand zu transformieren, also ein Ziel zu verfolgen und es zu realisieren. Wenn die ursprüngliche Strategie gescheitert – also unumkehrbar – ist, dann bedarf es einer neuen Strategie, um das Ziel zu erreichen. In der Integrationspolitik, so scheint es, ändern die mannigfaltigen und wiederholten Feststellungen des Scheiterns jedoch nichts an der Strategie. Insbesondere Politiker:innen konservativer Parteien deklarieren häufig die Integration für gescheitert, ohne Anstrengungen zu unternehmen, Fehler zu korrigieren. Dieses inkonsistente Verhalten folgt einer Nicht-Logik; häufig geht es einzig darum, populistisch Sanktionen zu fordern und mit Verallgemeinerungen die Fronten zu verschärfen. Wenn der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die »Zugewanderten« als »kleine Paschas« bezeichnet, eine Gefahr für insbesondere weibliche Lehrkräfte zeichnet und andeutet, dass die Integration gescheitert sei, dann betrachtet er nicht nur ein allgemeines Problem einseitig. Wichtiger ist noch, wie absolut argumentiert und die Integration dezisionistisch abermals für gescheitert erklärt wird, ohne eigene Lösungsvorschläge anzubieten. In diesem Beitrag geht es nicht darum, Integration soziologisch zu definieren oder unterschiedliche Konzepte, Zugänge und Praktiken auszudifferenzieren und vorzustellen, sondern Vorstellung(en) der Integration zu dekonstruieren. Auf der Website des »Bundesministeriums für Inneres und Heimat« heißt es: »Die Integration von Zugewanderten soll Chancengleichheit und die tatsächliche Teilhabe in allen Bereichen ermöglichen, insbesondere am ge-

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Scheitern — Kommentar

sellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. […] Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen, die mit einer dauerhaften Bleibeperspektive zu uns kommen, die deutsche Sprache lernen und sich um Grundkenntnisse unserer Geschichte und unseres Staatsaufbaus bemühen.«2 Dies sind durchaus erstrebenswerte Ziele, wirken in den tatsächlich geführten Debatten jedoch teilweise deplatziert, da die Beschreibung »Zugewanderte« durchaus unterschiedlichen Personen zugeordnet wird. So ist es üblich, hier geborene Menschen, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, aber einen »falschen« Vornamen tragen, unter »Zugewanderte« zu subsumieren und ihnen die Gretchenfrage der »guten Integration« zu stellen beziehungsweise sie dem Vorwurf mangelnder Integrationsbereitschaft auszusetzen. Nun impliziert der Begriff der Integration aber, dass Personen von außerhalb neu hinzukommen. Hier Geborene indes sind, ganz gleich welchen Vornamen sie tragen, in der Regel durch staatliche Institutionen bereits seit früher Kindheit in Deutschland sozialisiert. Sie unterscheiden sich von »autochthonen« Deutschen lediglich in ihrer ethnischen Herkunft und eventuell auch in ihrer sprachlichkulturellen Erziehung im Elternhaus – wobei letztere zusätzlich zur Sozialisation in deutschen Institutionen geschieht. Wenn verstärkt Einfluss auf die Sozialisation ausgeübt werden soll, ließen sich beispielsweise Betreuungsplätze für Kinder ausbauen. Bestenfalls gäbe es also eine staatlich geschaffene solide Grundlage und eine darüber hinaus gewonnene zusätzliche Erfahrung (zum Beispiel weitere Sprache) beziehungsweise Werte der zu »Integrierenden«. Einseitige Vorwürfe, gerade in muslimischen oder vermeintlich3 muslimischen Elternhäusern würde eine pa­ triarchale Erziehung stattfinden, weswegen eine Integration unmöglich sei, ignoriert die allgemein patriarchale Prägung der Gesellschaft, die sich auch in Deutschland nach wie vor stark zeigt. In seinem Buch »Das Integrationsparadox« erstellt Aladin El-Mafa­ alani die kluge Diagnose, dass eine gelungene Integration dann erfolgt sei, wenn eine Gesellschaft über sie spricht und Defizite benennt. Wortwörtlich genommen, wäre ironisch festzustellen, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Integration eine Erfolgsstory sei. Schließlich führen wir 2 

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3  Alevitische, jezidische oder armenische Familien, die aus der Türkei kommen, sind in der Regel nicht muslimisch, aber werden häufig so gelesen.

in nahezu regelmäßigen zeitlichen Abständen (einseitige) Integrationsdebatten. Was El-Mafaalani meint, ist die Fähigkeit der nunmehr hier in dritter Generation lebenden Zugewanderten, offen Probleme sowie negative Erfahrungen zu benennen und damit einhergehend Verbesserungen einzufordern. Allerdings zeigt sich hier ein logischer Fehler, denn die dritte Mahir Tokatlı  —  Integration(spolitik) abermals gescheitert?

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Generation besteht nicht mehr aus Zugewanderten, sondern entweder aus Nachkommen ohne aktive Zuwanderungsgeschichte oder Personen, die hier in Deutschland geboren sind. Qua Geburt sollten diese Personen bereits als Teil der Gesellschaft gelten. Dies würde ein Inte­grationsbedürfnis überflüssig machen, da sie nicht von »außerhalb« hinzugekommen sind und somit auch keiner anderen Gesellschaft angehören. Sie kennen in der Regel nur das Leben hier und ihre vermeintliche Heimat meist nur aus dem gemeinsamen Familienurlaub. Somit ist es begrifflich schlicht falsch, von einer Integration zu sprechen, vielmehr wäre Inklusion (und somit Teilhabe) der richtige Terminus. Die deutsche Staatsbürgerschaft für ab dem Jahr 2000 Geborene und somit das Recht beziehungsweise das

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Privileg, an politischen Prozessen teilzunehmen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer solchen Inklusion. Ferner lässt sich Integration schwerlich messen, auch weil es keinen Standard an guter, schlechter oder erfolgreicher Integration gibt. Ist es eine dichotome oder graduelle Frage: (Ab) Wann bin ich integriert? Wenn ich zum Bier einen Korn bestelle, zur Karnevalszeit bayerische Leder­hosen trage oder ein Schweineschnitzel esse? Wenn ich anfange, sonntags in die Kirche zu gehen, oder aufhöre, die Moschee zu besuchen? Wenn mein Antisemitismus sich nicht länger auf den Nahost-Konflikt bezieht, sondern stattdessen ein »sekundärer Antisemitismus« ist, indem ich den Jüdinnen und Juden den Holocaust nicht verzeihe und mich über den sogenannten Mahir Tokatlı  —  Integration(spolitik) abermals gescheitert?

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Schuldkult beschwere? Gerade das Antisemitismusbeispiel eignet sich hervorragend für die ungleich behandelte Frage der Integration, denn hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Im Land der selbsternannten Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung müsste im Sinne einer erfolgreichen Erinnerungskultur die Wortschöpfung »importierter Antisemitismus« zu einem handfesten Skandal führen. Etwas polemisch ließe sich Deutschland sogar als »Mutterland des Antisemitismus« bezeichnen, sodass eine Internalisierung des Antisemitismus als »gute Integration« betrachtet werden könnte. Freilich haben sich die Zeiten geändert und Deutschland durchlebt einen Wandel. Zu Recht gilt heute die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson, dennoch ist der Antisemitismus in Deutschland weiterhin präsent. Antisemitische Einstellungen sind in allen Gesellschaftsteilen verbreitet: unter Linken, Rechten, in der politischen Mitte und bei den sogenannten Zugewanderten. Letztere sind sicherlich anders vorgeprägt und aufgrund (pop)kultureller Instrumente wie Serien, TV-Formate oder Social Media auch anfälliger, weil sie häufiger damit konfrontiert sind. Aber wenn man sich die neuerlichen Protest­ bewegungen in der Bundesrepublik anschaut (Pegida, Reichsbürger:innen und Spaziergänger:innen), dann ist ebenfalls ein extrem hohes antisemitisches Potential zu erkennen. Statt von einem »importierten« Antisemitismus zu sprechen, wäre es zielführender, das spezifische antisemitische Potential der »Zugewanderten« mit darauf zugeschnittenen Projekten zu reduzieren. Hier lassen sich Beispiele wie »HEROES«, »Junge Muslime in Auschwitz« etc. aufführen, die jedoch teilweise nicht länger existieren. Ein mangelhaftes Interesse deutscher Politik und Bildungsarbeit trägt zu diesem traurigen Befund bei. MIGRATIONSSPEZIFISCHE SCHIEFLAGEN Wenn in Neukölln jüdische Personen Angst haben müssen, mit einer Kippa auf die Straße zu gehen, dann stellt das ein großes gesellschaftliches Problem dar, das unbedingt angegangen werden muss. Allerdings nicht, indem eine vermeintlich identifizierte homogene Gruppe4 bezichtigt wird, den Antisemitismus nach Deutschland importiert zu haben. In Deutschland finden Angriffe auf jüdische Personen nicht ausschließlich seitens muslimischer Personen statt und diese sind auch nicht verantwortlich für »deutschen« Antisemitismus, den es länger gibt als Zuwanderung aus muslimischen Ländern. Auch wenn Politiker:innen das Problem scheinbar identifiziert haben und mit den Fingern auf vermeintlich Schuldige zeigen, tragen sie keinesfalls zur Problemlösung bei. Wertvoller

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Scheitern — Kommentar

4  Auch nicht-muslimische Personen werden als solche gelesen und müssen sich dann für den »Import« rechtfertigen.

als populistische Aussagen wären konkrete Handlungen, die mittel- bis langfristig ein solch erhöhtes Antisemitismuspotenzial reduzieren würden, indem politische Bildungsangebote geschaffen werden, die insbesondere diese Personen ansprechen. Freilich verlieren Menschen nicht automatisch ihre Bindung zum Heimatland, sobald sie die Grenzen überqueren. Auch ist es wenig verwunderlich, wenn sie Erfahrungen, Werte und Normen an ihre Nachkommen weitergeben, die allerdings mit den Erfahrungen, Werten und Normen der neuen Heimat synthetisiert werden. In vielen Fällen werden gesellschaftliche, soziale und politische Konflikte aus den Herkunftsländern exportiert und auch weitervererbt. Eine wichtige Aufgabe wäre es, diese Konfliktfelder zu minimieren und die negativen Implikationen erfolgreich zu kanalisieren. Gerade der Antisemitismus wäre hierfür geeignet, denn aufgrund der deutschen Geschichte gäbe es Ansätze, Ungerechtigkeiten zu erkennen und Raum für Empathie zu schaffen. Ein anderer Vorwurf sind die patriarchalen Einstellungen der Zugewanderten, der wiederum eng mit den »Pascha«-Ausführungen des CDUVorsitzenden verbunden ist. Hier führen zwar Vorurteile und die damit verbundene Überlagerung eigener Probleme zu einer asymmetrischen Betrachtung, dennoch lassen sich Tendenzen auch in diesem Falle nicht leugnen. Mag das Patriarchat ein gesamtgesellschaftliches Problemfeld bilden, so scheinen doch bestimmte patriarchale Einstellungen durchaus migrationsspezifisch zu sein. Parallel zum Antisemitismus müssen Projekte gestartet und gefördert werden, die das Männlichkeitsbild, sowohl in migrantischen Communities als auch in der Mehrheitsgesellschaft, kritisch hinterfragen. Nicht vergessen werden darf ferner, dass migrationsspezifische Schieflagen eng mit sozio-ökonomischen Ungleichheiten verbunden sind. Wenn über Konflikte in sogenannten Brennpunkten wie Duisburg-Marxloh, Dortmund-Nordstadt oder Bonn-Tannenbusch gesprochen wird, sollte die ökonomische Dimension mitbedacht werden, nicht im Sinne einer Relativierung, sondern einer ganzheitlichen Problemanalyse. Nun scheint aber die (vermeintliche) Identifikation des Problems, die Benennung einer kulturellen Andersartigkeit und in Konsequenz eine attestierte Integrationsunfähigkeit wichtiger zu sein als Versuche, Probleme politisch zu lösen. Denn während vermehrt Stimmen zu vernehmen sind, die von gescheiterter Integration sprechen, bieten sie keinerlei konstruktive Lösungsvorschläge an. Auch wenn sie die Gelegenheit haben, bildungspolitisch beispielsweise als Teil einer Landesregierung Einfluss auszuüben, verharren Mahir Tokatlı  —  Integration(spolitik) abermals gescheitert?

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diese Stimmen für gewöhnlich in der rechtspopulistischen Rhetorik der horizontalen Exklusion aufgrund ethnischer Merkmale, sogar, wenn die angesprochenen Personen Teil des gleichen Demos sind, sie also die gleiche Staatsbürgerschaft besitzen. Diese oberflächliche, an der kulturellen Andersartigkeit orientierte Kritik weist so viele Unzulänglichkeiten auf, dass man sich die Frage stellen muss, ob sie seriöser Natur ist – vor allem, wenn man die Bedeutung des Wortes »Kultur« kennt und einsieht, dass hier nichts Festes bzw. Starres gemeint ist, sondern Wertvorstellungen, Normen und Verhaltensweisen, die kultiviert werden und somit stets im Wandel begriffen sind. SCHLUSSFOLGERUNGEN Letztlich bedarf es einer differenzierten Debatte, die offensichtliche Defizite klar benennt, ohne jedoch diese verallgemeinernd und ausschließlich auf Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu reduzieren. Sowohl antisemitische als auch patriarchale Einstellungen sind in der Mehrheitsgesellschaft alles andere als unbekannt. Entscheidend sind bildungspolitische Angebote, die spezifisch auf das Ziel einer guten und diskriminierungsärmeren Gesellschaft ausgerichtet sind. Auch sollte der Begriff der Integration bei Menschen, die hier geboren sind und das Leben nur hier kennen, verworfen und durch gleichberechtigte Teilhabe ersetzt werden. Qua Geburt oder Vorname ist nicht zwangsläufig ein »Integrationsbedarf« zu unterstellen. Vielmehr müssen in einer gut funktionierenden Gesellschaft alle Mitglieder – unabhängig der Vornamen, der Herkunft etc. – inkludiert und, sofern sie sich durch eigenes Handeln außerhalb des Rahmens der Gesellschaft bewegen – eventuell integriert werden. In jüngerer Vergangenheit haben sich Reichsbürger:innen derartig außerhalb der Gesellschaft bewegt; diese gilt wieder zu integrieren, und nicht präventiv die Ebrus, Ahmets, Erkans und Fatmas unserer Gesellschaft. Dies gilt umso mehr, da es keine exakten Indikatoren zur Messung gelungener Integration sogenannter Zugewanderter gibt, wohl aber demokratische Spielregeln und Grundprinzipien, die eben für den abstrakten Anderen gelten – also alle.

Dr. Mahir Tokatlı ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Seine Forschungsinteressen liegen in der Regierungsforschung, der Demokratie- und Autokratieforschung sowie der Türkeiforschung.

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Scheitern — Kommentar

INTERVIEW

»BEI INNOVATIVER ­FORSCHUNG IST DAS RISIKO FÜR EIN ­SCHEI­­TERN NATUR­GEMÄSS ERHÖHT« Ξ  Interview mit Michael Jungert

In dem Projekt »Scheitern in den Wissenschaften«, das Sie am Kompetenzzentrum für interdisziplinäre Wissenschaftsreflexion (ZIWIS) der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) leiten, geht es – laut Projektbeschreibung – darum, die »Bedingungen für einen produktiven Umgang mit dem Scheitern zu verbessern«. Doch sobald ein vermeintliches Scheitern fruchtbare Effekte zeitigt, lässt sich doch kaum noch von »Scheitern« sprechen. Ist »produktives Scheitern« nicht ein Widerspruch in sich? Ein Widerspruch wäre das nur, wenn man von einem sehr engen Scheiternsbegriff ausgeht. In der Projektbeschreibung beziehen wir uns auf den Umgang mit dem Scheitern innerhalb der Wissenschaft. Es liegt zunächst also ein Scheitern vor, etwa in Form eines nicht erfolgreichen Experiments. Gemessen am vorab gesetzten Ziel handelt es sich hier um ein tatsächliches Scheitern. Der Umgang mit diesem Scheitern kann aber durchaus produktiv sein und produktive Folgen haben. Ich kann aus dem Scheitern Schlüsse ziehen, die später beispielsweise zu einem gelingenden modifizierten Experiment führen oder zu Erkenntnissen, auf die ich ursprünglich gar nicht gezielt habe, weil mich das initiale Scheitern und dessen Verstehen zu einem Wechsel der Perspektive oder Methode veranlasst haben. In anderer Hinsicht ermöglichen die Offenlegung und Kommunikation des Scheiterns innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft einen kon­struktiven Dialog über dessen Gründe und können so einen epistemischen Mehrwert schaffen, indem das Scheitern aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert und Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungskontexten zusammengetragen werden.

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Auch das »Lernen aus dem Scheitern« ist ein populärer Topos und Gegenstand von zahlreichen »Coachings«, sei es in Bezug auf den Beruf oder das Privatleben, und wird in »Fuckup Nights« sowie Publikationen wie dem »Journal of Unsolved Questions« selbstironisch gefeiert. Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass wir so offensichtlich versuchen, auch dem Scheitern noch eine »verwertbare« Seite abzugewinnen? In Unternehmen und in den Bereichen Coaching, Ratgeberliteratur und Populärpsychologie lässt sich tatsächlich eine starke Zunahme dieser Art des Umgangs mit dem Scheitern beobachten. Das hat einerseits positive Seiten: Ein Phänomen, das lange Zeit eher tabuisiert, als karriereschädlich angesehen und vermieden wurde, kann nun viel offener thematisiert werden. Daraus kann beispielsweise in Wirtschaftskontexten viel Produktives entstehen und eine Lern- oder Fehlerkultur etabliert oder verbessert und Kreativität gefördert werden, indem die Angst vor dem Scheitern in den Hintergrund gerückt und zur offenen Auseinandersetzung damit ermutigt wird. Andererseits besteht die Gefahr, dass an die Stelle einer differenzierten Betrachtung von Scheitern, seiner unterschiedlichen Spielformen und Ursachen ein eher banales, achselzuckendes »Hauptsache, wir lernen daraus« tritt. Wie sieht es demgegenüber aus mit dem »fundamentalen« Scheitern, d. h. mit Misserfolgen, die sich bei bestem Willen nicht positiv deuten lassen? Braucht es auch da – generell und speziell in der Wissenschaft – einen anderen Umgang, weg vom »top oder flop«? Das scheint mir eine ganz entscheidende Frage zu sein und ja, ein Umdenken ist hier dringend notwendig. An die Stelle des Verwertbarkeitsgedankens müsste eine Mischung aus Transparenz und kollektiver Diskussion treten, die dazu führt, ein kritisches Bewusstsein für das Scheitern, seine Bedingungen und Folgen auf gesellschaftlicher Ebene zu schaffen. So könnte man auch einer gesellschaftlichen Tendenz zur einseitigen Optimierung entgegenwirken. Neben die produktiven Aspekte bestimmter Formen des Scheiterns beispielsweise bestimmter Formen des Umgangs mit dem Scheitern würde dann auch das Anerkennen wirklichen, dramatischen Scheiterns treten, das nicht mehr durch eine (einfache) Wendung ins Positive gedreht werden kann. Gegenwärtig sind unsere Wissenschaftspraxis und insbesondere das Karriere- und Publikationssystem jedoch noch sehr stark und einseitig auf das Hervorbringen positiver, möglichst origineller, oft kleinteiliger und schnell publizier- und verwertbarer Ergebnisse ausgerichtet. Dies

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Scheitern — Interview

bedeutet unter anderem, dass Studien oder Experimente, die keine Ergebnisse dieser Art erzeugen, in der Regel nicht publiziert und auch innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht kommuniziert werden. Das hat sowohl auf der Erkenntnis- als auch auf der Karriereebene Folgen: Sogenannte »Nullergebnisse« oder negative Resultate können, weil sie zumeist nicht veröffentlich werden, keine Wirkung für den wissenschaftlichen Fortschritt entfalten. Dabei haben sie das Potential, aufzuzeigen, was auf welche Weise versucht wurde, Kritik, Modifikation und Revision zu provozieren und unproduktive Wiederholungen zu vermeiden. Seit Kurzem gibt es aber Anzeichen dafür, dass ein solches Umdenken begonnen hat. Es gibt zwischenzeitlich mehrere Journals – etwa das Journal of Unsolved Questions, Positively Negative und The Missing Pieces (beide PLOS One). Auch Nature hat in seinen Scientific Reports seit Kurzem die Kategorie »Negative Results«. Andere, in dieser Hinsicht vielversprechende Journals wie Experimental Results oder das Journal of Negative Results in Biomedicine wurden jedoch nach vergleichsweise kurzer Zeit wieder eingestellt. Es bleibt also noch viel zu tun, um die Sichtbarkeit solcher Ergebnisse zu erhöhen und dafür zu sorgen, dass auch sie in der wissenschaftlichen Karrierelogik als anrechenbar und wertvoll wahrgenommen werden. Und wie hat sich der Umgang mit (wissenschaftlichem) Scheitern historisch entwickelt? Historisch lässt sich zeigen, dass der Umgang mit wissenschaftlichem Scheitern einem Wandel unterliegt. Hierzu gibt es in unserem Band einen aufschlussreichen Beitrag des Wissenschaftsphilosophen Martin Carrier. Dort zeigt Carrier, dass das Scheitern in den Wissenschaften vom 17. bis ins 19. Jahrhundert sehr stark negativ konnotiert war und häufig mit einem Versagen gleichgesetzt wurde. Carrier spricht für diesen Zeitraum von der »Maxime der Irrtumsvermeidung« in den Wissenschaften. Die Vorstellung, dass Irrtümer von grundlegender Bedeutung für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt sind und vielfach produktive Wirkung haben, ist nach Carrier dagegen dezidiert eine Vorstellung der Moderne, die er vor allem mit den Ansätzen von Pierre Duhem und Karl Popper verbindet und anhand derer er aufzeigt, dass erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine systematische Untersuchung der Rolle von Fehlern und Irrtümern in den Wissenschaften begann.

Interview mit Michael Jungert

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In den Sozialwissenschaften hat sich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren Einiges verändert (Bologna-Reform etc.). Unter anderem sind jene langfristigen Stellen im sogenannten akademischen Mittelbau wie Akademische Ratsstellen weitestgehend weggefallen, so dass es auch bei der Planung einer wissenschaftlichen Karriere nurmehr ums »ganz oder gar nicht« geht. Die Anzahl der Professuren ist begrenzt, der Konkurrenzdruck hoch, fast alle anderen Stellen befristet. Wie hat sich das auf die »Kultur des Scheiterns« ausgewirkt? Ja, dieser Karrieredruck und die Tatsache, dass Wissenschaftler:innen oft bis in das fünfte Lebensjahrzehnt in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, befördern die Tendenz, möglichst viel, möglichst schnell und möglichst hochrangig zu publizieren und auch kleine »Erkenntnisportionen« als eigene Artikel zu veröffentlichen, denen möglicherweise eine längere Reifezeit oder das Einordnen in einen breiteren theoretischen Rahmen gutgetan hätte. Unter diesen Bedingungen lässt sich eine »Kultur des Scheiterns« in den Wissenschaften freilich schwer realisieren, da es bestenfalls karriereneutral ist, sich mit dem Scheitern von Ansätzen zu befassen oder dies mit Blick auf die eigenen Arbeiten transparent zu machen. Lassen sich Unterschiede zwischen den Disziplinen erkennen? Ist der Umgang mit wissenschaftlichen Misserfolgen in den Naturwissenschaften ein anderer als in den Sozial- und Geisteswissenschaften? Ja, es gibt teils große Unterscheide zwischen den Fach- und Wissenschaftskulturen, was die Definition von und den Umgang mit Scheitern angeht. Im Rahmen unseres Projekts und des dazugehörigen Buches haben wir Einblicke unter anderem in Physik, Mathematik, Medizin, Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaften und Verhaltensbiologie erhalten. Diese Unterschiede betreffen nicht nur den Umgang mit dem Scheitern, sondern zuallererst das Verständnis dessen, was es bedeutet beziehungsweise nicht bedeutet, in der jeweiligen Disziplin zu scheitern – und eng damit zusammenhängend das, was die jeweilige Disziplin als Kriterien für wissenschaftlichen Erfolg erachten. Hinzu kommt, dass das Scheitern in den Wissenschaften auf verschiedenen Ebenen beurteilt werden kann, etwa auf der von einzelnen Erkenntnissen, Projekten, individuellen Karrieren oder Institutionen. Eine Wissenschaftlerin kann erfolgreich bei der Erkenntnisproduktion sein, aber in ihrer wissenschaftlichen Karriere scheitern. Und wichtig ist hier auch der Unterschied zwischen Fehlern, an denen man scheitert, und Irrtümern, die zu einem Scheitern führen. Das Scheitern

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Scheitern — Interview

an Fehlern betrifft gewissermaßen den handwerklichen Aspekt von Wissenschaft. Man bewegt sich auf bekanntem wissenschaftlichem Gebiet und kennt im Prinzip alle wichtigen Parameter und Bedingungen. Scheitern bedeutet hier ein Fehlgehen trotz vorhandenem Wissen. In den Naturwissenschaften gibt es zur Vermeidung dieser Form des Scheiterns zahlreiche Routinen und standardisierte Abläufe, etwa Laborprotokolle und präzise methodische Standards. Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es entsprechende Verfahren, beispielsweise in Form logischer Überprüfungen, anhand derer handwerkliche Fehler erkannt werden können. Auch beim Scheitern aus Irrtum gibt es Unterschiede. Hier bewegt man sich auf wissenschaftlichem Neuland und arbeitet unter epistemischer Unsicherheit. Unsere ersten, nur stichprobenartigen Erfahrungen im Rahmen des Projekts sind, dass Scheitern durch Irrtum beispielsweise in der Physik häufig gar nicht als Scheitern gesehen wird – insofern nicht auch zusätzlich Scheitern durch Fehler involviert ist. Wenn aber wissenschaftlich solide gearbeitet wurde, das Experiment jedoch ohne Ergebnis beziehungsweise ohne Bestätigung der Hypothese endet, wird dies oft als eine wertvolle Erfahrung und als ein wissenschaftlicher Lernprozess angesehen, der in der Regel zu kollegialem Diskurs, Verfeinerungen und eventuell später zu erfolgreichen neuen beziehungsweise modifizierten Experimenten führt. Führt die ausgeprägte Befristungs-, Peer-Review- und Drittmittelantragspraxis zu einer Mainstreamorientierung, die letztlich ein Scheitern innovativer Ansätze bedeutet? Das ist zumindest in vielen Fällen möglich. Denn bei innovativer Forschung ist das Risiko für ein Scheitern durch Irrtum naturgemäß erhöht, da viele unbekannte Faktoren und Bedingungen eine Rolle spielen – anders als bei Formen der »Mainstreamforschung«, wo diese Faktoren häufig durch bereits erfolgte Forschung deutlich reduziert sind. Die nötige Zeit und die Ressourcen, um innovative, explorative Forschung zu betreiben und dabei auch aus Sackgassen wieder herauszufinden, Umwege zu gehen, Methoden zu variieren etc., ist jedoch mit Blick auf die genannte Praxis bei Befristungen, Reviews und Finanzierung häufig nicht gegeben. Allerdings wird dies in letzter Zeit von manchen Wissenschaftsfördereinrichtungen als Desiderat erkannt, weshalb neue Programme entstehen, die Räume für solche »riskante Forschung« schaffen sollen – und damit auch für die Möglichkeit, produktiv mit dem (temporären) Scheitern in der Wissenschaft umzugehen. Interview mit Michael Jungert

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Scheitern und Misserfolge lassen sich keineswegs immer »objektiv« bestimmen, sondern werden von außen zugeschrieben. Wer also entscheidet darüber und hat sich hier womöglich ein vermeintlich »neutrales« Bewertungssystem verselbstständigt (Stichwort: Peer Review), das selbst ebenfalls auf sein Gelingen überprüft werden müsste? Es stellt sich sogar die Frage, ob Scheitern jemals objektiv bestimmt werden kann. Nach unserem Ansatz ist das nicht der Fall, weil Scheitern immer und notwendigerweise auf Zuschreibungen beruht. Hierzu formulieren mein Kollege Sebastian Schuol und ich in unserem Band folgende Charakterisierung: »Scheitern findet nämlich nicht einfach statt, sondern ist das Ergebnis eines mentalen und oft auch sozialen Prozesses – es handelt sich um eine Zuschreibung. Unabhängig davon, ob es die betroffene Person selbst ist oder es sich um andere Personen handelt, stets bedarf es der Feststellung, dass im konkreten Fall ein Scheitern vorliegt, also eines Werturteils. Dieses Moment ist in vielerlei Hinsicht interessant. So stellt es nämlich ein mögliches ›Einfallstor‹ gegen das Scheitern dar. Wenn Scheitern kein Fakt ist, sondern eine menschliche Zuschreibung, und wenn Menschen nun mal fehlbare Wesen sind, dann kann Scheitern nicht nur zugeschrieben, sondern auch mit einigem Recht abgestritten werden. Somit kann die Zuschreibung von Scheitern auch Startpunkt eines weiteren Aushandlungsprozesses sein und es können Abstreitungsstrategien zur Anwendung kommen.«1 Auch im Fall der wissenschaftlichen Beurteilung und Qualitätssicherung, also etwa beim Peer Review und anderen Begutachtungen, sollten dieser Zuschreibungsaspekt und seine Kriterien stets mitgedacht und möglichst transparent gemacht werden. Das Interview führten Katharina Rahlf und Volker Best. Dr. Michael Jungert  leitet das Kompetenzzentrum für interdisziplinäre Wissenschaftsreflexion (ZIWIS) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-­Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsreflexion, der Philosophie des Geistes und der Psychologie sowie in der Angewandten Ethik und Metaethik. Aktuelle Publikationen: Scheitern in den Wissenschaften. Perspektiven der Wissenschaftsforschung (hg. mit Sebastian Schuol, Mentis/Brill 2022) sowie Wissenschafts­reflexion. Interdisziplinäre Perspektiven ­zwischen Philosophie und Praxis (hg. mit ­Andreas Frewer und Erasmus Mayr, ­Mentis/Brill 2020).

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Scheitern — Interview

1  Michael Jungert & Sebastian Schuol, Scheitern in den Wissenschaften – Begriff, Geschichte und Aktualität eines vielschichtigen Phänomens, in: Dies. (Hg.), Scheitern in den Wissenschaften. Perspektiven der Wissenschaftsforschung, Paderborn 2022, S. 1–25, hier S. 10 f.

ANALYSE

ERFOLGREICH SCHEITERN? EINE PSYCHOLOGISCHE STANDORT­BESTIMMUNG Ξ  Olaf Morgenroth

Handeln ist immer ein Wagnis. Indem wir handeln, gestalten wir unser Leben und kommen mit anderen zusammen in einer gemeinsam geteilten Welt. Durch Handeln kann im Idealfall Neues entstehen. Zugleich trägt jedes Handeln das potenzielle Scheitern in sich. Man kann selbst dann scheitern, wenn man nicht handelt, denn Leben ist Veränderung. Wer darauf nicht reagiert, hat schon verloren.1 Man kann also annehmen, dass Scheitern universell ist. Scheitern kann sich an jedem Ort zu jeder Zeit ereignen. Variabel hingegen sind die sozial konstruierten Bedeutungen, die dem Scheitern zugeschrieben werden und die beeinflussen, mit welchen Konsequenzen es verbunden ist, biologisch, psychisch und sozial. Darüber hinaus existieren beträchtliche individuelle Freiheitsgrade im Umgang mit Scheitern. Für eine Person stellt die Ablehnung der Bewerbung auf einen begehrten Job den gesamten Lebensentwurf infrage. Für eine andere Person ist dieses Scheitern ein zwar unerfreuliches, aber dennoch »normales« Ereignis auf ihrem Lebensweg. Manche Bewältigungsstrategien sind adaptiv, andere intensivieren das Leiden am Scheitern. Damit sind zugleich die Optionen der Psychologie in Bezug auf das Scheitern zumindest grob umrissen. Zum einen kann Psychologie kulturell geprägte Bedeutungen und Handlungsweisen des Scheiterns kritisch hinterfragen 1  Das Gorbatschow gerne zugeschrieben Zitat »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« ist nicht belegt. Öffentlich äußerte dieser nur: »Ich glaube, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.« Vgl. Christoph Bock, Gorbatschow hat den berühmten Satz nie gesagt, in: Die Welt, 16.10.2014, tinyurl.com/indes232f1.

und so langfristig zu einem kulturellen Wandel beitragen. Zugleich steht Psychologie als professionelles, das heißt wissenschaftlich begründetes Handeln in der ethischen Pflicht, Unterstützung anzubieten, wenn Scheitern Leid verursacht. Die hohe soziale wie individuelle Bedeutsamkeit von Erfolg und Misserfolg zeigt sich anhand der sie begleitenden emotionalen Reaktionen. Erfolg zieht Freude und Stolz nach sich und stärkt das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit. Misserfolge gehen einher mit Frustration,

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Ärger, Depression, Reue, Scham- oder Schuldgefühlen und dem Erleben von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Das Bereuen, nicht oder falsch gehandelt zu haben, scheint eine der am häufigsten vorkommenden Emotionen überhaupt zu sein.2 Nicht nur das eigene Scheitern berührt uns, sondern auch das Scheitern anderer, wobei die emotionalen Reaktionen von Mitgefühl bis Schadenfreude reichen. Erfolg zieht Publikum magisch an, beseelt von der Möglichkeit, an den positiven Emotionen teilzuhaben. Gehört der Erfolg einer Person, zu der wir uns in Konkurrenz sehen, reagieren wir hingegen eher missgünstig. PSYCHOLOGISCHE IMPLIKATIONEN VON SCHEITERN Psychologisch erklärt sich die emotionale Brisanz des Scheiterns aus dessen Bedeutsamkeit für zentrale menschliche Bedürfnisse. Erstens können Misserfolge das Erleben von Selbstwirksamkeit – das heißt die Überzeugung, Aufgaben aus eigener Kraft erfolgreich bearbeiten und Ziele erreichen zu können – infrage stellen. Dies ist umso mehr der Fall, je stärker

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Scheitern — Analyse

2  Vgl. Daniel H. Pink, Die Kraft der Reue. Wie der Blick zurück uns hilft, nach vorne zu schauen, Berlin 2022.

die Gründe für das Scheitern in einem selbst vermutet werden. Selbstwirksamkeit ist wiederum mit der Wahrnehmung verbunden, in einer verstehbaren und kontrollierbaren Welt zu leben, in der Wünsche und Bedürfnisse befriedigt werden können. Magisches Denken und die daraus abgeleiteten Rituale können als Versuch betrachtet werden, Kontrolle in einer objektiv betrachtet unkontrollierbaren Situation zu erleben. Wer hat nicht schon einmal eine Münze gerieben, damit sie nicht mehr durch einen Automaten durchfällt? Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse psychologischer Studien, die zeigen, dass experimentell induzierter Kontrollverlust sogar Wahrnehmungsprozesse dahingehend beeinflussen kann, dass Muster und Zusammenhänge bemerkt werden, wo keine sind.3 Derartige Illusionen können als Versuch interpretiert werden, das bedrohte Kontrollerleben wiederherzustellen. Mindestens ebenso interessant ist, dass mental gesunde Menschen die Welt und sich selbst oftmals durch eine Brille optimistisch verzerrter Kontrolle wahrnehmen, statt realistisch, das heißt objektiv zu urteilen.4 Ein gewisser Überschuss an Selbstwirksamkeit und wahrgenommener Kontrolle scheint demnach nicht nur funktional für das Erreichen herausfordernder Ziele zu sein, sondern als Teil des psychischen Immunsystems psychisches Wohlbefinden zu stärken und die mentale Gesundheit zu schützen. Zweitens hat Scheitern den Entzug sozialer Anerkennung zur Folge. Menschen identifizieren sich mit Gewinner:innen und distanzieren sich von Verlierer:innen. Der:die Gescheiterte ist in der sozialen Zuschreibung als »Loser« nicht nur Verlierer:in, sondern zugleich auch Außenseiter:in und erfährt Einsamkeit. Soziale Anerkennung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl und dem Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung. Das Streben nach einem positiven Bild von sich selbst als kompetent, wertvoll und geliebt ist wesentlich abhängig von der sozialen 3  Vgl. Jennifer A. Whitson & Adam D. Galinski, Lacking control increases illusory pattern perception, in: Science, H. 5898 (2008), S. 115–117. 4  Vgl. Shelley E. Taylor, Positive illusions: Creative self-deception and the healthy mind, New York 1989. 5  Vgl. Kipling D. Williams, Ostracism, in: Annual Review of Psychology, H. 1/2007, S. 425–452.

Validierung, die wir durch andere erhalten. Ist diese negativ oder bleibt sie ganz aus, hat dies gravierende Konsequenzen für das Selbstwertgefühl.5 Was auf interpersonaler Ebene stattfindet, ist auch in sozialen Gruppen zu beobachten. Die Identifikation mit dem Erfolg der eigenen Gruppe stärkt die soziale Identität. Verliert die eigene Gruppe, geht man lieber auf Distanz. Einsamkeit im Scheitern ist nicht nur ein psychologisches Problem, es trägt auch auf sozialer beziehungsweise gesellschaftlicher Ebene zur Unsichtbarkeit des Scheiterns bei. Den Erfolgreichen gehört die Bühne. Es gibt empirische Hinweise, dass die dargestellten psychologischen Implikationen von Scheitern in individualistisch orientierten Gesellschaften stärker greifen könnten, beziehungsweise kulturspezifische Reaktionen Olaf Morgenroth   —  Erfolgreich scheitern?

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zu deren Kompensation auslösen. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass nach einer fingierten negativen Rückmeldung in einem Persönlichkeitstest Personen aus einer Kultur, die ein autonomes Selbstkonzept begünstigt, häufiger die Gelegenheit zu einer selbstaffirmativen Reaktion wahrnehmen, welche den bedrohten Selbstwert wieder herstellt.6 Die Individualisierung als ein zentraler Bestandteil der Moderne entwirft den Menschen als autonomes Subjekt, welches im Handeln frei und zugleich verantwortlich ist. Mit der Emanzipation von traditionellen Bindungen erhält das Handeln eine neue Basis. Das Individuum muss selbst die Initiative ergreifen und dabei zunehmend auf seine inneren Ressourcen vertrauen, um sich selbst zu (er)finden – und zugleich seinen Platz in der Gesellschaft. Damit gerät Handeln unter einen stärkeren Rechtfertigungsdruck. Intensivieren sich zudem die Anforderungen an erfolgreiches Handeln aufgrund der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse, droht ein eskalierendes Engagement im Hamsterrad, welches für das erschöpfte Selbst in der Depression enden kann.7 Scheitern wird häufig als Gegenteil von Erfolg betrachtet. Diese Entgegensetzung übersieht qualitative Unterschiede zwischen beiden Ereignissen. Erfolg bei der Bearbeitung von Aufgaben ermutigt, zukünftige Probleme mit denselben Methoden zu lösen. Scheitern hingegen wird als Widerstand erfahren, der vorhandenes Wissen infragestellt. Damit liegt es nahe zu vermuten, dass Scheitern Lernprozesse anregen kann. Akzeptiert man diese Annahme, dann bestünde eine Aufgabe psychologischer Praxis darin, ein solches Lernen zu unterstützen und zu begleiten. Gegenstand dieses Lernens wäre zum einen, Ursachen für das Scheitern zu erkennen, um diesen, soweit möglich, bei zukünftigem Handeln durch ein verbessertes »Barrieremanagement« begegnen zu können. Neben diesem auf Problemlösen fokussierten Lernen wäre zum anderen die Regulation der negativen Emotionen, die das Scheitern hervorruft, ein zweites, nicht minder wichtiges Lernziel. Beide Lernfelder sind als interdependent zu betrachten, denn sich bedrohlichen Inhalten zuzuwenden ist eine Anstrengung, die Kraft erfordert. Wenn man hingegen annimmt, dass einem solchen, auf Prävention ausgerichteten Lernen existenzielle Grenzen gesetzt sind, so dass Scheitern der Verfügbarkeit zumindest partiell entzogen ist, dann wird die Aufgabe zentral, eine »weise«, das heißt das Scheitern akzeptierende Haltung zu entwickeln. Auch dabei könnten psychologische Ansätze nützlich sein. Auf beide Optionen möchte ich kurz eingehen, bevor ich abschließend einige selbstkritische Anmerkungen zu psychologischen Perspektiven auf das Scheitern diskutieren werde.

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Scheitern — Analyse

6  Vgl. Steven Heine & Darrin Lehman, Culture, dissonance, and self-affirmation, in: Personality and Social Psychology Bulletin, H. 4/1997, S. 389–400. 7  Vgl. Allan Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004.

AUS SCHEITERN LERNEN Lernen ist für uns Menschen vielleicht der wirkmächtigste psychologische Prozess. Lernen ermöglicht dem Individuum, aber auch der sozialen Gruppe eine bessere Anpassung an Umweltbedingungen einschließlich deren Transformation zum Zweck des Überlebens und der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse. Lernen findet zudem in der Regel im sozialen Austausch statt und die Resultate können als Wissen sozial geteilt und an folgende Generationen weitergegeben werden. Warum also nicht versuchen, aus Scheitern zu lernen? Ein zentrales Lernziel in Bezug auf Scheitern besteht darin, dass Misserfolge das Handlungspotenzial einer Person möglichst wenig angreifen und langfristig nicht in Resignation und Hoffnungslosigkeit münden. Dies kann zum einen dadurch erreicht werden, dass man die Ursachen für das Scheitern erhellt, um in Zukunft besser mit ihnen umgehen zu können. Potenzielle Ursachen können sowohl in der Umwelt, der Person als auch dem Zusammenwirken beider liegen. Relevante Umweltmerkmale lassen sich dabei nicht immer beeinflussen oder verändern. Durch die Auswahl von Zielen bestimmt man jedoch zumindest mit, in welchen Umwelten man sich aufhält. Es kann auch gelingen – manchmal mit externer Unterstützung –, für einen selbst ungünstige Entscheidungen zu überdenken und zu revidieren. Adäquate Zielsetzungen sind eine wesentliche, aber keine hinreichende Ursache von erfolgreichem Handeln. Handlungssteuerung ist ein komplexes psychologisches Prozessgeschehen der Balance von ausdauernder Zielverfolgung und flexibler Zielanpassung.8 Manche Ziele erfordern zudem umfangreiches Wissen und Fertigkeiten, die zunächst durch jahrelanges Lernen und Üben – Scheitern inklusive – erworben werden müssen. Damit ist ein weites psychologisches Lernfeld umschrieben. Durch Scheitern kann also Wissen generiert werden, wie etwas nicht funktioniert. Dieses Wissen könnte auf lange Sicht für Erfolg unentbehrlich sein. Empirische Studien weisen allerdings darauf hin, dass ein sol8  Vgl. Jochen Brandt­ städter, Das flexible Selbst, München 2007. 9  Vgl. Laurien Eskreis-Winkler & Ayelet Fishbach, Not learning from failure – The greatest failure of all, in: Psychological Science, H. 12/2019, S. 1733–1744. 10 

Epiktet, Handbüchlein der Moral, Stuttgart 2014, S. 13.

ches Lernen schwieriger ist als erwartet.9 Insbesondere das Lernen aus eigenem Scheitern wird behindert durch die Motivation, den Selbstwert zu schützen. Aus den Fehlern anderer zu lernen, fällt indes leichter. Die subjektiv empfundene Bedrohung durch Scheitern resultiert aus kulturell überformten Bedeutungszuschreibungen. Schon im antiken stoischen Denken ist die Beobachtung zu finden, dass »nicht die Dinge selbst die Menschen beunruhigen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge«.10 Diese Feststellung ist in der heutigen Psychologie vielfach empirisch bestätigt worden. In der kognitiven Verhaltenstherapie spielen Olaf Morgenroth   —  Erfolgreich scheitern?

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stressverschärfende Gedanken, kognitive Verzerrungen und irrationale Denkmuster eine zentrale Rolle für die Ätiologie psychischer Störungen und deren Behandlung. Ein zweites zentrales psychologisches Lernziel läge also darin, Scheitern selbstwertschonend zu rahmen und zu bewerten, das heißt nicht als persönliche Katastrophe, sondern zum Beispiel als ein natürlich vorkommendes Ereignis auf dem Weg des Lernens und Übens.11 Die Veränderung dysfunktionaler Bewertungen ist eine zen­trale Strategie zur Regulation der negativen Emotionen, die das Scheitern begleiten und die es uns erschweren, uns konstruktiv mit dem eigenen Scheitern auseinanderzusetzen. EINE HALTUNG ZUM SCHEITERN ENTWICKELN Im existenzialistischen Denken von Karl Jaspers nimmt Scheitern eine zentrale Stellung als conditio humana ein.12 Scheitern gehe aus Grenzerfahrungen von Tod, Leid, Schuld etc. hervor, zugleich transzendiere Scheitern menschliches Dasein und ermögliche so die Erfahrung von Existenz. Diese und ähnliche philosophisch-anthropologische Bestimmungen des 20. Jahrhunderts stellen psychologische Vorstellungen des Lernens aus Scheitern beziehungsweise der Bewältigung von Scheitern grundsätzlich infrage. Nach Jaspers kann man sich zum Scheitern nur unterschiedlich verhalten, indem man es entweder »verschleiert« oder »klärt«. Sofern psychologische Konzepte und Praktiken sich darauf beschränken, Scheitern als Durchgangsstation auf dem Weg zum Erfolg zu behandeln, könnten sie nach Jaspers als Form der Verschleierung bezeichnet werden, da sie die existenzielle Dimension, die im Scheitern liege, ignorierten. Für ihn besteht die Chance des Scheiterns darin, zu sich selbst als Individuum und Mensch kommen zu können. Dazu gehört zunächst, dass man erkennt, dass Scheitern eine Grenzsituation darstellt, die sich von Alltagssituationen grundlegend dadurch unterscheidet, dass in ihr die Widersprüchlichkeit und Nichtverfügbarkeit des Lebens aufscheinen und zu einer distanzierten Perspektive auf das eigene Dasein herausfordern. Dadurch kommt ein Nachdenken über Möglichkeiten menschlicher Existenz zustande, welches einen ergreift und zum Handeln anregt. Dies geschieht jedoch in dem Bewusstsein, dass es keinen Zustand ganzheitlicher Harmonie und Vollkommenheit geben kann, der sich

11  Vgl. Malte Brinkmann, Die Wiederkehr des Übens. Praxis und Theorie eines pädagogischen Grundphänomens, Stuttgart 2021.

im Lebensvollzug herstellen ließe. Dieses Selbstsein ist für Jaspers nicht in der Isolation, sondern nur in der Kommunikation mit anderen möglich. Interessanterweise finden sich ähnliche Überlegungen auch in psychologischen Konzepten, beispielsweise in dem dem buddhistischen Denken entlehnten Konzept des selbstbezogenen Mitgefühls, nicht zu verwechseln

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Scheitern — Analyse

12  Vgl. Karl Jaspers, Was ist der Mensch? Philosophisches Denken für alle, München 2000; siehe hierzu auch den Beitrag von Judith Lutz in diesem Heft.

mit Selbstmitleid. Selbstmitgefühl beschreibt eine freundlich-akzeptierende, aber zugleich dezentrierte, das heißt Überidentifikation überwindende Haltung gegenüber den eigenen Fehlern und Schwächen und den damit verbundenen negativen Emotionen und Gedanken. Zugleich wird betont, dass diese negativen Erfahrungen etwas sind, was Menschen miteinander verbindet und nicht voneinander isoliert.13 Selbstmitgefühl ist daher eng verbunden mit dem Mitgefühl für Andere. Im Rahmen der sogenannten dritten Welle der Verhaltenstherapie sind verschiedene psychotherapeutische Verfahren entwickelt und validiert worden, die derartige achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Konzepte integrieren.14 Darüber hinaus stehen wirksame Programme zur Kultivierung von Selbstmitgefühl zur Verfügung. Selbstbezogenes Mitgefühl soll hier nur beispielhaft stehen für mögliche existenzielle Haltungen und lebenspraktische Kompetenzen, die zum Beispiel auch in der psychologischen Forschung zu Weisheit thematisiert werden.15 FÜR EINE HUMANE KULTUR DES SCHEITERNS Aus psychologiekritischer Perspektive lassen sich die vorangegangenen Überlegungen als Psychologisierung beziehungsweise Psychotherapeutisierung, das heißt als Durchdringung alltäglicher Lebenswelten mit 13  Vgl. Kristin Neff, Selbstmitgefühl, München 2012.

psychologischen Konzepten und Praktiken verstehen und kritisch hinterfragen.16 Negative Folgen von Psychologisierung werden in der damit einhergehenden Individualisierung und Entpolitisierung lebensweltlicher

14  Vgl. Thomas Heidenreich u. a., Balance von Veränderung und achtsamer Akzeptanz, in: Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, H. 12/2007, S. 475–486. Vgl. Ursula M. Staudinger & Paul Baltes, Weisheit als Gegenstand psychologischer Forschung, in: Psychologische Rundschau, H. 2/1996, S. 57–77. 15 

Zusammenhänge gesehen. Politische beziehungsweise soziale Problemlagen würden als individuell zu bearbeitende Aufgaben reformuliert und mit rein psychologischen Mitteln zu lösen versucht. Individuelles Handeln degeneriere dabei zur einseitigen Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen, verbunden mit der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Als Beispiel kann die Praktik des sogenannten positiven Denkens angeführt werden, welche auch innerhalb der Psychologie durchaus kritisch gesehen wird.17 Sie basiert auf einer Übergeneralisierung empirischer Befunde, übersieht die Funktionalität negativer Emotionen,

16  Vgl. Lisa Malich & Viola Balz, Psychologie und Kritik. Formen der Psychologisierung nach 1945, in: Dies. (Hg.), Psychologie und Kritik. Formen der Psychologisierung nach 1945, Wiesbaden 2020, S. 3–22. 17 

Vgl. Astrid Schütz & Lasse Hoge, Positives Denken, Vorteile – Risiken – Alternativen, Stuttgart 2007.

blendet real bestehende Lebenszusammenhänge und Handlungsbedingungen weitestgehend aus und bürdet dem Individuum die alleinige Verantwortung für Erfolg und Wohlbefinden auf. Problematisch wiederum wird die Kritik der Psychologisierung von Lebenswelten jedoch, wenn die Anwendung psychologischer Konzepte in einen Gegensatz zum politischen Bewusstsein gerückt wird und in der Folge zu einer prinzipiellen Ablehnung jeder Form von Psychologie führt. Auch politisches Handeln verlangt von Akteuren, »Herr im eigenen Haus Olaf Morgenroth   —  Erfolgreich scheitern?

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zu sein«18, das heißt, sich im Kontext der Handlungssteuerung selbst zu regulieren. Äußere Freiheit und politische Selbstbestimmung einerseits und nach Innen gerichtete Selbstregulation andererseits können auch als einander ergänzend betrachtet werden. Indem Psychologie Wissen bereitstellt, trotz Scheitern handlungsfähig zu bleiben, kann sie durchaus einen Beitrag zum Empowerment von Individuen und sozialen Gruppen leisten. Der Verweis auf das selbstbezogene Mitgefühl sollte zudem deutlich machen, dass Psychologie auch jenseits einer Selbstoptimierungs­ logik darin unterstützen kann, eine Haltung gegenüber dem Scheitern zu entwickeln, die beispielsweise dem Denken von Jaspers durchaus nahe kommt. Darüber hinaus kann und sollte Psychologie die kulturell geprägten Umgangsweisen mit Scheitern hinterfragen, die dahinter liegenden Bedeutungszuschreibungen überprüfen und sich für eine humane Kultur des Scheiterns einsetzen. In der Bestimmung dieser Humanität liegt vielleicht ein bisher erst in Ansätzen genutztes Potenzial psychologischen Denkens. Damit Psychologie diesen Aufgaben gerecht werden kann, sollten Psycholog:innen geistes- und kulturwissenschaftliche Ansätze und Methoden stärker in der Selbstreflexion über ihre Theorien, methodische Zugangsweisen und Praktiken berücksichtigen.19 Eine Lebensgeschichte, die nur Erfolge auflistet, wäre nicht nur unglaubwürdig, sondern auch schnell langweilig. Umwege, Sackgassen und andere Widrigkeiten wecken nicht nur unser Mitgefühl, sondern auch das Bedürfnis, zu verstehen. Psychologie kann und sollte dazu beitragen, Aspekte einer »gelingenden Lebensführung« aufzuzeigen, welche Scheitern als menschliche Grenzerfahrung ernst nimmt, aber auch dessen Wachstumspotenziale erkennt und erschließt. Ein solches Wachstum muss sich nicht notwendigerweise auf die Optimierung der Erfolgsbilanz und die Maximierung von Glücksmomenten beschränken. Wachstum ist in der Psychologie oft mit Differenzierung und Integration verbunden. Im Kontext einer solchen psychologischen Perspektive wäre Scheitern mehr als nur die Schattenseite des Erfolges.

Prof. Dr. Olaf Morgenroth ist seit 2010 Professor für Gesundheitspsychologie an die Medical School Hamburg. Aktuell forscht er dort zu selbstbezogenem Mitgefühl und zu metakognitiven temporalen Bewältigungsstrategien. Weitere Interessensgebiete sind die kulturvergleichende und Kulturpsychologie sowie die Geschichte der Psychologie.

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Scheitern — Analyse

18  Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, H. 1/1917, S. 1–7. 19  Vgl. Lisa Malich & David Keller, Die Psychological Humanities als reflexives Moment der Psychologie, in: Viola Balz & Lisa Malich (Hg.), Psychologie und Kritik. Formen der Psychologisierung nach 1945, Wiesbaden 2020, S. 87–116.

»FUCKUP NIGHT« VERSUS CHATGPT EIN LEHRSTÜCK ZU DEN GRENZEN SOGENANNTER KÜNSTLICHER INTELLIGENZ Ξ  Guido Wolf

Was weiß die seit November 2022 kostenlos verfügbare Anwendung »ChatGPT«, die Stand März 2023 als derzeit leistungsfähigster Chatbot aus dem Bereich der sogenannten »Künstlichen Intelligenz« gilt, über Fuckup Nights?

Dialog mit ChatGPT am 28.02.2023.

Eine respektable Zusammenfassung, die der Chatbot liefert, wie gleich zu sehen ist. Sogar die vergleichsweise derbe Bezeichnung von Scheitern mit dem Pejorativum »Fuckup« ist der Anwendung möglich, obgleich sie in den USA programmiert wird. Auch die nächsten beiden Antworten sind alles andere als Fuckup-verdächtig:

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Fortsetzung des Dialogs mit ChatGPT am 01.03.2023.

Eine eigene Fuckup-Erinnerung hat ChatGPT allerdings nicht – die erste Antwort zeigt, dass ChatGPT eigenes Scheitern nicht als solches zu reflektieren weiß. Es mangelt also an der Fähigkeit der Selbstreflexion, die Voraussetzung ist für Lernprozesse aus eigenem Erleben und daraus destillierten Erfahrungen. Ebenso mangelt es an erlebbarer Rezeption durch ein Publikum unter geteilten raum-zeitlichen Bedingungen. Die beiden Konzepte ›Selbstreflexibilität‹ und ›Resonanz‹ seien hier in einem alltagsweltlich-vortheoretischen Sinne mitgeführt: • ›Selbstreflexibilität‹ sei verstanden als die Fähigkeit eines Individuums, das eigene Selbst als Gegenstand eigener Beobachtung zu etablieren. Dieses ›Selbst‹ ist als Summation konkreter Erfahrungen zu verstehen in einem Spektrum von induktiv-empirisch erworben bis hin zur übersituativen Reflexion der applizierten Erfahrungs- und Bewertungsschemata, ihrer Herkunft und Viabilität sowie der zugrundeliegenden Methodologie. Selbstreflexibilität stellt sich demnach als graduell gestufte Fähigkeit dar. Am Beispiel der Fuckup Night lässt sich zeigen, dass ChatGPT höhere Formen der Selbstreflexibilität, also solche, die die Reflexion induktiv-empirisch gewonnener Erkenntnisse zu reflektieren vermögen, nicht eingeschrieben sind.

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Scheitern — Analyse

• ›Resonanz‹ sei verstanden als ein dynamischer Zustand, der zwischen Sprechenden und Rezipienten in situ entstehen kann, wenn sich auf beiden Seiten der Eindruck von Übereinstimmung mit gegenseitig verstärkender Wirkung einstellt. Dieser Eindruck hat kognitive wie emotionale Anteile. Der Erfolg des Formats Fuckup Night ist wesentlich auf Resonanz zurückzuführen – ein Zustand, der einem Chatbot wie ChatGPT naturgemäß verwehrt bleibt. Ausgehend von einer Betrachtung der Fuckup Night werde ich zeigen, wie ein solches Format durch Aktivierung dieser Ressourcen eigenes Scheitern verhandel- und bewältigbar macht. Kontrastierend dazu wird sich zeigen, dass ebendies einer unter »Intelligenz« firmierenden interaktiven Datenbank wie ChatGPT nicht möglich ist. DAS SCHEITERN FEIERN: EINLEITUNG #2 Im Jahr 2012 erfanden fünf junge Mexikanerinnen und Mexikaner aus der Startup-Szene in Mexico-City die »Fuckup Night«. Aus Überdruss über endlos gehörte Erfolgsgeschichten wurde im Rahmen eines Partybesuchs und, wie die Berichterstatterinnen hervorheben, unter Alkoholeinfluss begonnen, eine Art Event zu konzipieren, das Berichte über persönliches Scheitern, Letzteres kurz, bündig und in beeindruckend markanter Tonalität als »Fuckup« etikettiert, in den Mittelpunkt stellt.1 Angesichts zahlloser Geschichten über Erfolge schien es ihnen an der Zeit, sich offen, ehrlich und wahrhaftig mit Fehlern, Misslingen und Scheitern aus1  Vgl. The Failure Institute, About Us, tinyurl. com/indes232 g1. Meine Darlegungen setzen die Auseinandersetzung mit dem Thema in früheren Arbeiten fort. Vgl. insbesondere Guido Wolf, »Fuckup Night«: Zur Aushandlung von Scheitern und Erfolg, in: Robin Kurilla u. a. (Hg.), Sine ira et studio. Disziplinenübergreifende Annäherungen an die zwischenmenschliche Kommunikation, Wiesbaden 2020, S. 329–357. 2 

3  Vgl. u. a. Sighard ­Neckel, Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a. M. & New York 2008, S. 108.

einanderzusetzen.2 Bekanntermaßen leben wir in einer Erfolgsgesellschaft.3 Reichtum, Prominenz, beruflicher Erfolg, privates Glück in ganz besonderer Ausprägung: Heldengeschichten scheinen immer wieder zu belegen, dass jede es schaffen kann. Fehler finden nicht statt; und wenn doch, dann waren es immer die anderen – jene, die keinen Erfolg haben. Und dann hören wir plötzlich so etwas: »Da habe ich wirklich einen riesengroßen Mist gebaut!« Oder: »Das war einzig und allein mein Fehler, für den ich niemanden sonst verantwortlich machen kann.« Ein traditionsreiches Unternehmen vor die Wand gefahren, den Markt vollkommen falsch eingeschätzt oder der eigenen Eitelkeit zum Opfer gefallen: Wer bekennt sich wirklich dazu und übernimmt Verantwortung? Wer überwindet die eigene Scham und spricht freimütig darüber – vor einer großen Zuhörerschaft, fast ausschließlich bestehend aus unbekannten Menschen? Wer macht sich derart verletzlich? Und wozu? Guido Wolf  —  »Fuckup Night« versus ChatGPT

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Antwort: ziemlich viele Menschen, weltweit, seit Jahren. Sie tun das, um ihre persönliche Geschichte als Lehrstück zu präsentieren und um aufzuzeigen, was sie aus ihrem persönlichen Scheitern gelernt haben. Zuweilen wirkt es fast wie eine Selbsttherapie, wie sie vor einem interessierten und freundlich gesonnenen Publikum über ihr Scheitern sprechen. Und sie wollen anhand ihres eigenen Beispiels andere auf mögliche Flops und Fehler hinweisen, denn das, was sie falsch gemacht haben, müssen andere nicht unbedingt wiederholen. Aus solchen Motiven treten sie auf – und zwar im Rahmen jenes Formats, das im Jahr 2012 in Mexico-City erfunden wurde: auf einer »Fuckup Night« (häufig abgekürzt als »FUN«, was als Akronym fraglos Teil der Botschaft ist). Fuckup Nights folgen einer verbindlichen Dramaturgie. Initial werden die Teilnehmenden von einer Moderatorin begrüßt, die in das Format einführt und die »Fuckup Stories« ankündigt. Typischerweise treten drei bis vier Sprecher oder Sprecherinnen auf, die jeweils ca. 15 bis 20 Minuten lang über ihr persönliches Scheitern berichten, nicht selten im Format einer Präsentation. Nach jedem Auftritt kann das Publikum Fragen stellen oder die Geschichte kommentieren. Mit einer abschließenden Zusammenfassung und gegebenenfalls Ankündigung neuerlicher Fuckup Nights endet die Veranstaltung. Ich selbst war Teilnehmer mehrerer Fuckup Nights, habe Fuckup Nights moderiert und im Rahmen universitärer Lehre kommunikationswissenschaftlich untersucht. Durchgängig kann ich bestätigen, was allerorten zu lesen ist: Es emergiert eine besondere Atmosphäre, denn es geht spürbar um »echtes« Scheitern. Weitgehend ungeschützt und authentisch geben Rednerinnen und Redner oftmals sehr persönliche, fast intime Erfahrungen und Erlebnisse preis. Ein solcher Auftritt findet Anerkennung, insbesondere, wenn es sich erkennbar um nicht-professionelle Redner handelt, die womöglich zum ersten Mal vor einer größeren Gruppe offen und öffentlich sprechen – und dann noch über ein gravierendes, einschneidendes, maßgeblich selbst herbeigeführtes Scheitern. EIN BEISPIEL Nicht nur junge Menschen gehen dieses Wagnis ein. In einem Bericht über seinen eigenen Auftritt auf einer Fuckup Night in Stuttgart im Jahr 2015 und damit immerhin rund vier Jahre nach der Insolvenz seines Unternehmens hebt Bert Overlack »die offene und entspannte Atmosphäre« hervor.4 Nach der Insolvenz seines mittelständischen Unternehmens sei der direkte und persönliche Kontakt mit den Teilnehmern für ihn eine

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Scheitern — Analyse

4  Bert Overlack, FuckUp. Das Scheitern von heute sind die Erfolge von morgen, Weinheim 2019, S. 200.

neue und wohltuende Erfahrung gewesen. Bereits hier deutet sich eine wichtige Dimension der Fuckup Night an: Der Mut, eigenes Scheitern öffentlich zu machen und dadurch verletzlich zu werden, wird durch das Erlebnis einer beinahe liebevollen Resonanz auf die Vergemeinschaftung eigenen Scheiterns belohnt. Overlack sprach als 48-Jähriger vor halb so alten Studierenden sowie Startup-Interessierten und beschreibt seinen Auftritt dennoch als Wendepunkt: »Es war ein Erlebnis, das zeigte, dass meine Reflexionen und die Erkenntnisse über mein Scheitern für diese jungen Menschen interessant und wertvoll waren.«5 Von Relevanz ist hierbei auch die Vorbereitung des Auftritts. Overlack attestiert dem Geschehen rund um seinen Auftritt auf der Fuckup Night beinahe therapeutische Wirkung, galt es doch, die eigene Geschichte für den Auftritt zu strukturieren, »[…] die Gründe für die Insolvenz zu reflektieren und meine Erkenntnisse zu klären und zusammenzufassen […]«6. All dies betrachtet er als wichtigen Schritt im Zuge der eigenen Aufarbeitung seines Scheiterns. Festzuhalten ist, dass in Overlacks Darlegungen beide oben vortheoretisch eingeführten Termini durchscheinen: seine Selbstreflexibilität sowie die wohlwollende Resonanz des Publikums. Auch wenn überwiegend jüngere Menschen auf Fuckup Nights auftreten, so ist Overlack keineswegs der einzige Vertreter älterer Generationen. Hingewiesen sei auf Thomas Middelhoff, für dessen Auftritt auf der Frankfurter Fuckup Night sogar das Format geändert wurde. Er wurde interviewt und hatte rund sechzig Minuten Zeit, um über seinen Werdegang und sein Scheitern zu sprechen. Mögen auch Zweifel aufkommen über die Authentizität dieses Auftritts, in dem trotz aller demonstrierter Verletzlichkeit die Professionalität eines Mannes durchscheint, der immer schon vor großem Publikum aufgetreten ist: Sein Auftritt wie auch die Resonanz des Publikums bestätigen die Idee der Fuckup Night, das Scheitern aus der Tabu-Zone zu holen.7 Es hängt also immer auch vom Publikum und seiner Resonanz ab und eben nicht allein vom Auftritt der Protagonistin, die mit ihrer Erzählung die spezifische Ausrichtung der Fuckup Night prägt. Das Publikum in einer 5  Ebd., S. 18 f. 6  Ebd., S. 200.

Fuckup Night reagiert gerade nicht mit Zurückweisung, Häme und Spott auf Scheitern und Gescheiterte. Das ist der wesentliche Unterschied zu Erniedrigungsformaten wie dem Dschungel-Camp, diversen Casting-Shows oder Promi-Big-Brother-Staffeln, die beträchtliche Fernsehzuschauer-

7  Thomas Middelhoffs Auftritt findet sich unter: tinyurl.com/indes232 g2.

quoten generieren. Die Resonanz des Publikums einer Fuckup Night ist von Empathie und Anteilnahme geprägt. Schon die Ankündigung der Guido Wolf  —  »Fuckup Night« versus ChatGPT

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Veranstaltung, spätestens aber die Anmoderation etabliert diesen Modus als geteiltes Deutungsschema bei Auftretenden wie Publikum. Die zunächst vorausgesetzte, später in actu erlebte Haltung des Publikums ermutigt die Sprecherinnen und Sprecher und lässt Erfahrungen zu, wie sie beispielsweise Overlack berichtet. OFFENE FEHLERKULTUR FÖRDERT INITIATIVE, AGILITÄT UND GRÜNDERGEIST Das hilft auch in einer weiter gefassten Perspektive, denn jedes Scheitern, jeder Fehler bietet Potentiale. Dies sind Potentiale, aus denen sich für die Zukunft lernen lässt. Ich habe in meinem Blog bereits vor einigen Jahren über meinen Besuch im Silicon Valley und die dort herrschende StartupKultur berichtet.8 Ein wesentliches Merkmal dieser Kultur ist der Umgang mit Scheitern: Wer in Kalifornien ein Startup-Projekt vor die Wand gefahren hat und nun mit einem neuen Versuch bei einer Bank zwecks Kredit vorspricht, erhält einen solchen – und zwar zu besseren Konditionen als bei seinem ersten Abenteuer. Denn die Bank weiß, dass dieser Gründerin einige Fehler nicht noch einmal unterlaufen werden. Wie würde wohl eine deutsche Bank bei identischer Gemengelage reagieren? Neue Zeiten, neue Einstellungen: Seit einigen Jahren wird allerorten eine schnelle und flexible, vielerorts als »agil« attribuierte Organisation eingefordert. Angesichts der sich immer rascher ändernden Rahmenbedingungen kann es nicht mehr durchgängig gelingen, jede Entscheidung umfangreichen Bewertungs- und Genehmigungsschleifen auszusetzen. Damit steigt jedoch auch das Fehlerrisiko. Konsequenterweise fordert das gängige Postulat, dass es einer Veränderung im »Mindset« bedürfe, indem Fehler, wenn sie denn passieren, offen verhandelbar sein sollen, um daraus lernen zu können. »Schnell scheitern« lautet daher ein neuer Imperativ in Organisationen vom Typ »Wirtschaftsunternehmen«. »SOMETIMES YOU WIN. SOMETIMES YOU LEARN«9 Nun ist es keineswegs so, als wären Fehler jederzeit und allerorten begrüßenswert. Bremsbeläge aus Serienfertigung, Medikamente, Nahrungsmittel, ärztliche Eingriffe, Trinkwasserentnahme, Flugzeugstarts und unzählige andere alltäglich genutzte Objekte oder an uns praktizierte Vorgänge müssen fehlerfrei funktionieren. Anderenfalls bricht das Grundvertrauen zusammen, das uns handlungsfähig macht und eine moderne Gesellschaft stabil hält. Sind also die Fuckup Nights eben doch eine schlechte Idee?

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Scheitern — Analyse

8  Vgl. Guido Wolf, App in die Zukunft. Ein Besuch im Silicon Valley, 15.05.2014, tinyurl.com/indes232g3. 9  Website der Fuckup Nights Berlin, tinyurl.com/indes232g4.

Sind sie nicht: Niemand verfolgt Scheitern als primäres Ziel. Wenn aber Fehler passieren, dann müssen diese möglichst schnell identifiziert, offen kommuniziert und sofort behoben werden, um (noch größeren) Schaden zu vermeiden. Ist die Kuh vom Eis, kommt die Zeit der Analyse. Spätestens jetzt bietet sich die Chance zu lernen: Woran lag es? Was wurde übersehen, wo stand was bzw. wer im Weg? Fuckup Nights und daraus abgeleitete, auf die Unternehmenswirklichkeit zugeschnittene Formate sind geeignete Möglichkeiten, um offen und vertrauensvoll über Fehler, Misslingen und Scheitern zu sprechen. Nur so entsteht eine Fehlerkultur, auf deren Grundlage exzellente Qualität entstehen kann. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, weshalb das Format der Fuck­ ­up Night einen Nerv trifft. Mittlerweile werden rund um den Globus in 215 Städten aus 62 Ländern Fuckup Nights veranstaltet.10 Dabei ist aus der Idee längst ein ökonomisch orientiertes Geschäftsmodell entstanden. Bewirtschaftet über das »FailureInstitute« werden verschiedene Dienstleistungen angeboten, die von unternehmensintern ausgelegten Workshop-Formaten im Stile der Fuckup Night11 bis zu eLearning-Kursen und Video-Podcasts reichen12. Kern der Angebotspalette ist jedoch die Fuckup Night selbst als definiertes Format, das pro Stadt nur einen Veranstalter vorsieht. Wer Fuckup Nights in der eigenen Stadt ausrichten will, muss eine Lizenz für 480 $ pro Jahr erwerben.13 MUT, SELBSTREFLEXIVITÄT UND RESONANZ Wie oben bereits erwähnt, braucht es für den Auftritt auf einer Fuckup Night zuallererst Mut. Der Sprecher oder die Sprecherin unternimmt mit seiner oder ihrer Erzählung den ersten Schritt, legt also gleichsam vor. Die beschriebene Atmosphäre anteilnehmender Wertschätzung emergiert erst im Verlauf der Interaktion mit dem Publikum, das sich beispielsweise mit Zwischenapplaus, zustimmendem Gelächter, Zwischenrufen oder anderen Interventionen konkomitant äußert. Bemerkenswert ist, dass diese Resonanz auch durch die virtuelle Präsenz einer zweiten, nicht mehr un10 

11 

Vgl. tinyurl.com/ indes232g5.

mittelbar erlebbaren Öffentlichkeit nicht gestört wird. Denn zusätzlich zu ihrem Auftritt vor persönlich anwesendem, überwiegend unbekanntem Publikum müssen die Rednerinnen und Redner damit rechnen, dass

Vgl. tinyurl.com/ indes232g6.

ihr Auftritt über Online-Kanäle wie Youtube, Facebook oder die Website

12  Vgl. tinyurl. com/indes232g7.

gänglicher, nur den unmittelbar Anwesenden erfahrbarer Akt von Selbst­

13 

Ebd.

der Veranstalter geteilt wird. Ihr Auftritt bleibt also keineswegs ein veroffenbarung. Über die digitale Archivierung in sozialen Netzwerken riskieren die Sprecherinnen und Sprecher, für eine unabsehbar lange Zeit mit Guido Wolf  —  »Fuckup Night« versus ChatGPT

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ihrem persönlichen Scheitern identifizierbar zu bleiben. Wer also Wert auf den Schutz der eigenen Person vor virtueller oder realer Stigmatisierung legt, sollte von einem Auftritt auf einer Fuckup Night absehen. Der häufig zu beobachtende, selbstironisierende Stil, in dem das jeweilige Fuckup-Narrativ präsentiert wird, dürfte hierin eine Ursache haben. Vor real anwesendem wie auch virtuellem Publikum wird die Re-Etablierung von Souveränität und Selbstdistanz (»Seht her, ich bin darüber hinweg, kann darüber berichten und sogar über mich selbst lachen.«) bei gleichzeitiger Vergemeinschaftung des eigenen Schicksals (»Lachend ertrage ich euer Lachen, sodass wir gemeinsam aus meinem Scheitern lernen können.«) angezeigt. Hervorzuheben ist, dass auf einer Fuckup Night nur solche Menschen auf der Bühne stehen, die ihr Scheitern im Wesentlichen bereits überwunden haben. In einem Interview bestätigt Patrick Wagner, einer der Initiatoren von Fuckup Nights in Berlin, diesen Eindruck: »Fest steht, dass es für Gescheiterte fast unmöglich ist, ihre Geschichte auf der Bühne zu teilen, wenn sie nicht bereits einen Plan B in der Tasche haben. Die Leute müssen mit erhobenem Haupt von der Bühne gehen können. Wer noch mittendrin ist und rudert, der ist vielleicht nicht geeignet«14 Fuckup Nights ist also als Skript eingeschrieben: ›Scheitern-überwunden-­ und-daraus-gelernt-haben‹. Insofern sind sie Arenen für Reflexionen über Scheitern, aber eben keine Therapiegruppe für Gescheiterte im Akutzustand persönlicher Trauer, Hilfslosigkeit oder gar Verzweiflung. Das unterscheidet sie von Selbsthilfegruppen mit explizit therapeutischer Zwecksetzung wie etwa den Anonymen Alkoholikern. Zudem kann bei der Fuckup Night von Anonymität nicht die Rede sein. Insofern befasst sich eine Untersuchung der Fuckup Night genau genommen nicht mit Scheitern, sondern mit Reflexionen über Scheitern und deren kommunikativer Aufbereitung. Nicht selten sind die Sprechenden längst wieder in die Welt der Erfolgreichen zurückgekehrt, indem sie beispielsweise als Berater:innen für Startups reüssieren. »SCHEITERN ALS CHANCE«: WESHALB DIE FUCKUP NIGHT ERFOLGREICH IST Der Gedanke, Scheitern produktiv umzudeuten, ist im deutschsprachigen Raum keineswegs neu. Der verstorbene Aktionskünstler Christoph Schlingensief versuchte im Jahr 1998 mit Gründung der politischen Partei

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Scheitern — Analyse

14  Nadine Schimroszik, Rückschläge in Siege verwandeln. Wie und was wir aus den Niederlagen der Großen lernen können, München 2017, S. 171.

»Chance 2000« und ihrem Claim »Scheitern als Chance« exakt diese Ressource aufmerksamkeitspolitisch zu mobilisieren.15 Auch in den Sozialwissenschaften intensivierte sich die Auseinandersetzung mit Scheitern, wenn auch rund zehn Jahre nach Schlingensiefs Aktion. Ein nicht unwesentlicher Impuls ging von einer DFG-Tagung aus, die »Scheitern [als] ein Desiderat der Moderne« (Tagungstitel) begriff und im Jahr 2011 in Hannover stattfand. Zwei Sammelbände, beide im Jahr 2014 erschienen, basieren auf dieser Tagung sowie auf einem ein Jahr später durchgeführten Anschlussworkshop.16 Dennoch hat sich der Umgang mit Scheitern in unserer Gesellschaft nicht substantiell geändert. Nach wie vor gelten Fehler, Scheitern und 15  Vgl. Nachlass Christoph Schlingensief unter tinyurl. com/indes232 g8 bzw. tinyurl. com/indes232 g9. Ich danke Ralf Kemmer für die Erinnerung an Schlingensief. Als weiteres Beispiel für die Thematisierung von Scheitern in der Kunst sei auf Enzensberger verwiesen. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin, Berlin 2012. 16  Vgl. Jens Bergmann u. a. (Hg.), Scheitern – Organisationsund wirtschaftssoziologische Analysen, Wiesbaden 2014; René John & Antonia Langhoff (Hg.), Scheitern – ein Desiderat der Moderne?, Wiesbaden 2014. Eine genauere Auseinandersetzung mit Scheitern als Topos sozialwissenschaftlicher Diskurse muss hier unterbleiben. Verwiesen sei auf Wolf, »Fuckup Night«. 17  Stand März 2023 reicht es, in einer Suchmaschine »Fehler von ChatGPT« o. Ä. einzugeben, um zahlreiche Belege für fehlerhafte Ergebnisse von ChatGPT zu erhalten. Pars pro toto verwiesen sei auf Andreas Donath, CHATGPT. Bing-KI macht hanebüchene Fehler bei der Präsentation, in: Golem, 14.02.2023, tinyurl.com/indes232 g10; Aaron Wörz, Künstliche Intelligenz. Faktenfreiheit zum Mitnehmen, in: taz, 07.01.2023, tinyurl.com/indes232 g11.

Misslingen als dunkle Seite des Handelns. Dafür persönlich verantwortlich zu sein, ist angst- und schambesetzt. Dabei kann niemand ernsthaft in Abrede stellen, dass jedem Handeln das Risiko von Fehlern, Scheitern und Misslingen inhärent ist. Das macht plausibel, wieso zumindest eine temporäre Auflösung dieser Spannung wünschenswert ist. Vor diesem Hintergrund durfte und darf ein Angebot wie die Fuckup Night mit Akzeptanz rechnen – insbesondere im Kontext ökonomisch determinierter Systeme, die eigentlich von Fehleraversion geprägt sind und in denen Scheitern sanktioniert, pönalisiert und stigmatisiert wird. Fehler bleiben zwar unerwünscht, aber bei entsprechender Behandlung erweisen sie sich gerade doch im Sinne der ursprünglichen Qualitätsausrichtung der Organisation als recyclingfähig. Das soziale System profitiert zweimal: Ein Wiederauftreten des reflektierten Fehlers wird weniger wahrscheinlich und gleichzeitig etabliert sich die Erkenntnis, dass Fehler für Lernprozesse genutzt werden können. Vor diesem Hintergrund dürfen Fehler und Scheitern geräuschvoll gefeiert werden: Die Fuckup Night wird zum kommunikativ betriebenen Reaktor jener Utilisierung, der somit auf das tiefe Bedürfnis nach seiner Existenz verweist. WENN HÖHERE FORMEN DER SELBSTREFLEXIVITÄT UND ­R ESONANZ FEHLEN: CHATGPT ChatGPT hat bereits etliche Male fehlerhaften Output generiert, wie die weltweite Erprobung ergab.17 Aber ›wer‹ oder ›was‹ ist es, ›der‹ oder ›das‹ die Fehler begeht? ChatGPT, adressiert als Wesenheit im ontischen Sinn, ist es nach ›eigener‹ Aussage jedenfalls nicht:

Guido Wolf  —  »Fuckup Night« versus ChatGPT

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Neuerlicher Dialog mit ChatGPT am 10.03.2023, nachdem 5 × hintereinander auf »Regenerate response« geklickt wurde.

Mag der Chatbot durchaus valide Aussagen zum Format der Fuckup Night erzeugen (s. o., Einleitung #1), so ist es ihm dennoch nicht möglich, das Konzept ›Fuckup‹ auf sich selbst anzuwenden, obwohl es Fehler gab und gibt. Damit fehlt die Fähigkeit, eigene Erfahrungen zu reflektieren. Mag ChatGPT fehlerhafte Ergebnisse produzieren, so liegt deren Ursache im fehlerhaften Algorithmus. Doch diesen Umstand kann der Algorithmus gerade nicht in eigene Lern- und Entwicklungsprozesse höherer Ordnung integrieren, weil diese nur in einem Modul namens »Selbstreflexion« stattfinden können. Bemerkenswert ist, dass genau diese Erkenntnis der Anwendung eingeschrieben ist:

In dem Sinne zeigt der Chatbot – fast will ich sagen: ehrlicherweise, wobei das natürlich grober Unfug ist, denn ChatGPT ist keine Wesenheit, die zu Ehrlichkeit in der Lage wäre – eine realistische Selbsteinschätzung: Subjektive Erfahrung und eigene Identität stehen nicht zur Verfügung, sodass ChatGPT »nicht wirklich zur Selbstreflexion fähig« ist. Wer

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Scheitern — Analyse

annimmt, dass genau diese Aussage eben doch von Selbstreflexibilität höherer Ordnung zeuge, irrt, denn die Aussage ist algorithmisch bedingt und leicht zu programmieren. Mithin wird Selbstreflexibilität nur simuliert. Zwar sind Lernprozesse möglich, doch basieren diese allein auf induktiv-empirisch gewonnenen Daten und ihrer statistischen Auswertung. Hier immerhin dürfte jede Anwendung des Labels »Künstliche Intelligenz« menschlicher Heuristik überlegen sein. Dass das als hinreichende Bedingung für den Anspruch »Intelligenz« gelten darf, muss bestritten werden: ChatGPT basiert auf einem Algorithmus, der Usern gegenüber Intelligenz lediglich simuliert.18 Ein letzter Test:

Fortsetzung des Dialogs mit ChatGPT am 10.03.2023.

Fehler zu machen und diese selbstreflexiv als solche zu identifizieren, um anschließend daraus zu lernen und die gewonnenen Erkenntnisse anderen zur Verfügung zu stellen, bleibt der Anwendung verschlossen. Am Ende ist ChatGPT Fuckup-Unfähigkeit zu attestieren, denn Selbst18  Vgl. auch Dietmar Hansch, ChatGPT & Co. Künstliche Intelligenz? Simulierte Intelligenz!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2023. 19  Vgl. Roland Lindner, Open AI-Präsident Brockmann: »Wir sind ein seltsames Unternehmen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,11.03.2023. Open AI ist Urheber von ChatGPT.

reflexibilität auf einer höheren Stufe ist nicht möglich. Wenn also Selbstreflexion als eine Bedingung intelligenter Lern- und Entwicklungsprozesse angenommen wird – was wir tun sollten –, dann ist ChatGPT gerade nicht intelligent: Nicht ChatGPT macht Fehler, sondern die Programmierung oder Dateneingabe durch Menschen. Dass die für ChatGPT Verantwortlichen über Ressourcen zu höherer Selbstreflexion verfügen, darf nach Lektüre etwa bei Roland Lindner19 angenommen werden. Ob das für so etwas wie ›Fuckup-Fähigkeit‹ reicht, muss vorerst offenbleiben.

Dr. Guido Wolf  ist seit 1990 als Unternehmensberater für große Unternehmen und Konzerne tätig. Im Mittelpunkt seiner Beratungsmandate stehen Change-Projekte zu Qualität, Nachhaltigkeit und  Unternehmenskultur. Als Privatdozent lehrt der habilitierte Kommunikationswissenschaftler angewandte Kommunikationsforschung am  Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen/Campus Essen.

Guido Wolf  —  »Fuckup Night« versus ChatGPT

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SELBSTWERDEN DURCH SCHEITERN GRENZSITUATIONEN ALS BILDUNGSANLASS BEI KARL JASPERS Ξ  Judith Lutz

Scheitern, so zeigen es einige aktuelle Gesellschaftsanalysen, wird in der gegenwärtigen Zeit als persönliches Versagen wahrgenommen und vor allem negativ bewertet. Dem Gescheiterten wird die alleinige Verantwortung zugeschrieben. Der Soziologe Hartmut Rosa stellt fest, dass sich die moderne Gesellschaft dynamisch stabilisiert; das heißt, um sich zu erhalten, ist sie auf Beschleunigung und Wachstum angewiesen. Diese »dynamische Stabilisierung«1 und ihr forderndes »höher, schneller, weiter« führten dazu, dass die Angst vor dem Scheitern allgegenwärtig werde. Rosa bezeichnet dieses Gefühl, permanent vor dem rutschigen Abhang zu stehen und Kraft investieren zu müssen, um nicht herunterzurutschen, als »Slippery-SlopePhänomen«.2 Der Soziologe Andreas Reckwitz verfolgt in seiner Gesellschaftsanalyse zwar einen anderen Ansatz, weist jedoch ebenfalls darauf hin, dass durch den paradoxen Maßstab für ein gelingendes Leben, nämlich die Maxime »der erfolgreichen Selbstverwirklichung«, das Phänomen Scheitern in der Gesellschaft der Spätmoderne verdeckt immer vorhanden sei. Das Subjekt wolle die sich stellenweise gegenüberstehenden Seiten – Selbstverwirklichung und soziale Anerkennung – vereinen. Das Risiko des Scheiterns sei in diesem Maßstab bereits eingebaut. Gleichzeitig sei die Gesellschaft geprägt durch eine Kultur der positiven Effekte, in der negative Erfahrungen kaum einen legitimen Platz fänden.3 Auch der Soziologe Matthias Junge schreibt, dass die Angst vor dem Scheitern durch den »kulturellen Imperativ: Sei erfolgreich!« ständig präsent sei.4 In einigen Bereichen jedoch, so zum Beispiel der Wirtschaftspsychologie, wird mittlerweile auch die positive Seite des Scheiterns entdeckt. Scheitern wird im Rahmen von sogenannten »Fuckup Nights« gefeiert5

1  Hartmut Rosa, Resonanz, Berlin 2016, S. 459. 2  Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2016, S. 190. 3  Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, S. 348 sowie ders., Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 221. 4  Vgl. Matthias Junge, Scheitern in der Moderne und Postmoderne, in: René John & Antonia Langhof (Hg.), Scheitern – Ein Desiderat der Moderne? Wiesbaden 2014, S. 11–24, hier S. 18.

und eine Vielzahl von Ratgebern beschreibt, wie das Scheitern als Zwischenschritt zu mehr Erfolg genutzt werden kann. Scheitern – wenngleich mit positiver Bewertung – ist hier eingebettet in die Erfolgs- und

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5  Siehe hierzu auch den Beitrag von Guido Wolf in diesem Heft.

Leistungsorientierung. In dieser Sichtweise liegt die erfolgreiche Bewältigung des Scheiterns ebenfalls in der Verantwortung des Einzelnen. Der Gescheiterte steht unter Druck, aus dem Scheitern erfolgreicher herauszukommen, als er hineingeraten ist. Wennschon scheitern, dann erfolgreich scheitern – dies steht als Erwartung im Raum. Grundsätzlich wird das Phänomen Scheitern negativ bewertet und als Voraussetzung für späteren Erfolg auch mit positiven Bewertungen verbunden. Beide Sichtweisen liegen im Trend der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung, in der der Gescheiterte die Verantwortung für Ursache und Konsequenzen seines Scheiterns trägt. Welche alternative Sichtweise bietet sich indes zu dieser beschriebenen Perspektive auf das Phänomen Scheitern an? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich im Denken des Existenzphilosophen Karl Jaspers finden. SCHEITERN ALS BILDUNGSANLASS BEI KARL JASPERS Die folgenden Ausführungen fußen auf meiner ausführlichen hermeneutischen Untersuchung Bildung zum Selbstwerden – Scheitern als Bildungsanlass bei Karl Jaspers.6 Sie befasst sich unter anderem mit den Fragen, inwieweit Scheitern auch einen möglichen Bildungsanlass bei Karl Jaspers darstellt und welche Bedeutung dies für die pädagogische Praxis haben kann. Als Psychiater und Philosoph beschäftigte sich Jaspers intensiv mit dem Phänomen der »Grenzsituation«, das er von einem unvermeidbaren Scheitern gefolgt sieht. Grenzsituationen sind nach Jaspers die geschichtliche Bestimmtheit der Existenz7, Tod, Leiden, Kampf und Schuld. Sie machen dem Menschen in schmerzhafter Weise bewusst, dass es keinen unumstößlichen Halt und kein unbezweifelbares Absolutes gibt. Insbesondere die Grenzsituation der geschichtlichen Bestimmtheit der 6  Vgl. Judith Lutz, Bildung zum Selbstwerden. Scheitern als Bildungsanlass bei Karl Jaspers, Würzburg 2022. 7  Das Bewusstsein, dass der Mensch unausweichlich immer in einer bestimmten Situation existiert. 8  Vgl. Charles ­Bukows­ki, Der größte Verlierer der Welt: Gedichte 1968–1972, München 1984, S. 155–157 (Der Schnürsenkel).

Existenz bedeutet für Jaspers, dass Scheitern nicht immer katastrophal und von außen erkennbar sein muss. Der Auslöser einer Grenzsituation kann, wie der amerikanische Dichter und Schriftsteller Charles Bukows­ ­ki treffend schreibt, eben auch der Schnürsenkel sein, der ausgerechnet dann reißt, wenn keine Zeit da ist.8 Im Gegensatz zur aktuell vorherrschenden Sichtweise kann im Jas­ pers’schen Verständnis die Verantwortung für das Scheitern nicht allein im Scheiternden gesehen werden. Es handelt sich um eine conditio humana, also um eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Das Scheitern an und für sich zu vermeiden, ist demnach nicht möglich. Begründet sieht Jaspers die Unvermeidbarkeit des Scheiterns in der antinomischen Judith Lutz  —  Selbstwerden durch Scheitern

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Grundstruktur des Daseins (beispielsweise, dass alles Positive an dazugehöriges Negatives gebunden ist, dass es kein Gutes ohne mögliches Böses, Leben nicht ohne Tod gibt, dass Verwirklichen an Wagen und Verlieren, Glück an Schmerz gebunden ist). In Grenzsituationen kann der Mensch sich dieser Antinomien in voller Stärke bewusst werden. Das Erleben einer Grenzsituation kann in bewusster Auseinandersetzung zu der Erkenntnis führen, dass eine Widerspruchslosigkeit nicht nur nicht zu finden, sondern unerreichbar ist und bleibt. Auflösbar sind die Antinomien nur in Bezug auf endliche und bestimmte Gegensätze im Leben; im Blick auf das Ganze zeigen sich jedoch immer bleibende Unlösbarkeiten.

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Scheitern — Analyse

Eine Antinomie ist auch in Jaspers’ Beschreibung des Scheiterns zu finden, jedoch in Abgrenzung zur eingangs beschriebenen Sichtweise der spätmodernen Gegenwart. Auf der einen Seite ist sich Jaspers – nicht nur als Philosoph, sondern auch als Psychiater und durch die Erfahrung eigener Grenzsituationen – durchaus der ruinösen und schmerzhaften Aspekte des Scheiterns bewusst. Andererseits betrachtet er das Scheitern zum Selbstwerden als unbedingt notwendig. Ohne Erschütterungen durch selbsterlebtes Scheitern bleibe das für das Selbstwerden notwendige Infragestellen des bisher Selbstverständlichen aus. Grenzsituationen würden bisherige Selbst- und Weltverhältnisse erschüttern und könnten durch eine aktive Auseinandersetzung mit dem Scheitern zum Selbstwerden führen. Das Erfahren der Grenzsituation führe zu einer Entfremdung, aus der durch die bewusste Auseinandersetzung wieder zu sich selbst beziehungsweise zu einem veränderten Selbst »zurück« gelangt werden könne. In den Worten Jaspers’: »Wie er sein Scheitern erfährt, das begründet, wozu der Mensch wird.«9 Das Selbst eines Menschen kann dabei nach Jaspers nicht definitorisch fest bestimmt werden. Selbstsein ist Selbstwerden. »Der Mensch ist und bleibt auf dem Weg.«10 Ohne dessen schmerzhafte Seite auszuklammern und damit das Scheitern zu beschönigen, ist im Jaspers’schen Verständnis durch die Möglichkeit des Selbstwerdens in Grenz­situationen auch eine positive Sichtweise auf das Scheitern enthalten. Auch hierin findet sich somit die antinomische Grundstruktur, die mehrwertige Logik des sowohl als auch. SELBSTWERDEN STATT SELBSTOPTIMIEREN Was unterscheidet die Sichtweise Jaspers’ vom Verständnis des Scheiterns als Zwischenschritt zu mehr Erfolg im Trend der Selbstoptimierung? Kann Selbstwerden durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Scheitern nicht auch als eine Art der Selbstoptimierung betrachtet werden? Selbstwerden ist nach Jaspers als »Sollensaufgabe« aktiv zu verstehen. Das bedeutet, dass in gewisser Weise der Gedanke der gewünschten Ver9  Karl Jaspers, Was ist Philosophie? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hans Saner, München 1986, S. 43. 10 

Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 471.

änderung tatsächlich auch in seiner Sichtweise enthalten ist. Diese Art der Optimierung unterscheidet sich jedoch stark von der aktuell häufig im Vordergrund stehenden Selbstoptimierung. Im Trend der Selbstoptimierung wird die eigene Situation konkurrierend mit der Situation anderer verglichen (oft im Rahmen der sogenannten Sozialen Medien). Im Gegensatz hierzu geht es nach Jaspers im Prozess des Selbstwerdens um eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit Judith Lutz  —  Selbstwerden durch Scheitern

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sich selbst. Es bedürfe zum Selbstwerden zwar auch anderer Menschen, jedoch im Sinne echter Begegnungen (der »existenziellen Kommunikation«, des »liebenden Kampfes«), in welchen der Andere als genau dieser Mensch nicht austauschbar ist. Wird der Andere im Prozess der Selbstoptimierung eher als Objekt gesehen – mit welchem ich mich vergleichen kann, den ich für meinen Erfolg nutzen kann oder der als Gegner meinem Erfolg im Weg steht –, ist für das Selbstwerden nach Jaspers die Anerkennung des unvertretbar Anderen notwendig. Selbstoptimierung verfolgt eine stetige und lineare Verbesserung, wohingegen das Selbstwerden im Jaspers’schen Verständnis der Brüche durch Erfahrungen des Scheiterns bedarf. Selbstwerden beinhaltet zudem die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, insofern die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Scheitern zum Treffen eigener Entschlüsse führt. Es geht im Prozess des Selbstwerdens um das Hören auf die eigene Stimme und nicht, wie im Trend der Selbstoptimierung, um ein Sich-selbst-Beherrschen. Auch wenn es aktives Auseinandersetzen mit der Grenzsituation gibt, bleibt das Selbstwerden dadurch nur vorbereitbar und nicht verfügbar. Letztendlich geht es um ein Sich-geschenkt-Werden. Ein zusammenfassender Unterschied zwischen Selbstwerden und Selbstoptimierung besteht darin, dass Ersteres keine Verbesserung mit dem Ziel der perfekten Vollendung meint, sondern eine Verwandlung zurück zum eigenen neuen Selbst. Diese alternative Sichtweise auf das Scheitern ermöglicht eine Befreiung des einzelnen Menschen von der Last der alleinigen Verantwortung und eröffnet einen positiveren Blick auf das Phänomen. Er gestattet uns, Scheitern als existenzielles Grundmotiv anzuerkennen und in ihm die Möglichkeit zum Selbstwerden zu entdecken. ANSTÖSSE FÜR DIE PÄDAGOGISCHE PRAXIS UNTERSTÜTZENDE BEGLEITUNG ... Als Sollensaufgabe ist Selbstwerden nach Jaspers ein zu erstrebendes Ziel und in einer weiten Auslegung seines Bildungsverständnisses ein Bildungsziel. Diese Einordnung wirft die Frage auf, welche Bedeutung Jaspers’ Sichtweise für die gegenwärtige Pädagogik haben kann. Wenn Selbstwerden ein Bildungsziel darstellt, wie kann Pädagogik von außen hierbei unterstützen? Unabhängig davon, um welche pädagogische Praxis es sich handelt (schulische oder außerschulische Bildungsarbeit, Erwachsenenbildung oder pädagogische Arbeit mit Kindern oder Jugendlichen), kann die Rolle der Pädagogin oder des Pädagogen in der Begleitung, der Auseinandersetzung

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Scheitern — Analyse

mit Grenzsituationen und der anschließenden Verarbeitung gesehen werden. Diese Begleitung wirkt unterstützend, wenn in ihr der Einzelne mit seiner individuellen Situation und eben seinen Verarbeitungsmöglichkeiten anerkannt wird. Wird Scheitern als Bildungsanlass betrachtet, ermöglicht dies der Päda­ gogin oder dem Pädagogen grundsätzlich, Veränderungsmöglichkeiten im Blick zu haben. Dabei muss vermieden werden, die ruinöse und schmerzhafte Seite des Scheiterns zu bagatellisieren und zu beschönigen. Unter Anerkennung auch der schmerzhaften Seite des Scheiterns kann das Einnehmen einer zuversichtlichen Grundhaltung unterstützend wirken. Dies bedeutet, dass stellvertretend für das gescheiterte Gegenüber an zukünftige Bewegung und Selbstwerden geglaubt wird – es geht darum, »stellvertretend Hoffnung zu haben«. Die Unterstützung in der Verarbeitung des Scheiterns durch eine sinnhafte Bewältigung, in der das Scheitern in die eigene Lebensgeschichte eingefügt wird, bedarf der Berücksichtigung der Eigenzeit der Verarbeitungs- und Veränderungsmöglichkeiten des jeweils Einzelnen. Bei der Begleitung des Scheiterns ist es zudem hilfreich, zu einer größeren Offenheit für die nicht lösbaren Widersprüche des Lebens zu verhelfen. In jeder Grenzsituation wird etwas zerbrochen, das Jaspers »Gehäuse« nennt. Hierunter sind feste Grundsätze, Dogmen oder Glaubenssätze zu verstehen. Für den Menschen, der grundsätzlich eher den Drang zum Festen, zum Ganzen und zur Ruhe hat, ist die Auflösung eines Gehäuses und das Aushalten von Antinomien nicht einfach und eine Unterstützung deshalb sinnvoll. Durch das Gewinnen der Offenheit für Widersprüche als existenzielle Grundkonflikte kann dazu beigetragen werden, dass der gescheiterte Mensch sein Scheitern nicht (nur) als selbst verschuldet versteht. Als Methoden zur Unterstützung der Verarbeitung von Grenzsituationen können beispielhaft die allgemeine und die soziale Einstellungs­modulation genannt werden. Durch die Methode der Einstellungsmodulation (eine Methode aus der von Viktor Frankl in den 1990er Jahren begründeten Logotherapie) soll dem Gescheiterten geholfen werden, ohne oder gerade im Leiden wieder einen konkreten und persönlichen Sinn zu finden. Dieser Methode liegt eine sokratische Haltung zugrunde – die Werte werden nicht von außen vorgegeben, sondern entwickeln sich aus dem Gespräch. Die soziale Einstellungsmodulation, der Recovery-Ansatz, wurde in den 1970er Jahren von psychisch schwer erkrankten Menschen initiiert. Hierbei wird der soziale Aspekt noch stärker berücksichtigt. Der gescheiterte Mensch erhält begleitende Unterstützung, Fähigkeiten zu entwickeln, um Judith Lutz  —  Selbstwerden durch Scheitern

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sich als Urheber der verbessernden Veränderung zu erleben. Neben der eigenen Einstellungsveränderung befördert dieser Ansatz zudem die gesellschaftliche Anerkennung des Scheiterns, indem das Leid in eine anerkannte Lebensweise transformiert wird. Eine gelebte Fehlerkultur kann bereits während der Schulzeit auf eine gute Verarbeitung des Scheiterprozesses vorbereiten. Diese Erfahrung, die reflektierende Umgangsweise mit Fehlern, zeigt Schülerinnen und Schülern, dass Fehlleistungen oder sogar Scheitern zum Leben gehören und auch hilfreich sein können. Neben dieser »Vorbereitung« ist auch eine »Nachbereitung« des Scheiterns möglich und sinnvoll. Um zu verhindern, dass eine Scheitererfahrung nur ruinös wirkt, wird sie in die eigene Lebensgeschichte eingeordnet und sinnbringend verarbeitet. Dies kann auch nachträglich im Sinne einer rückblickenden Lebensbeschreibung erfolgen. Auch in der autobiografischen Arbeit, der Beschreibung des eigenen Lebens, äußert sich dies. Scheitern sollte jedoch nicht nur als Themenfeld einer unterstützenden Pädagogik in Betracht gezogen werden. Vielmehr ist im Wesen der Erziehung selbst die Möglichkeit des Scheiterns angelegt, worauf der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow hinweist. Die Freiheit des Anderen anzuerkennen, bedeutet gleichzeitig auch, die Möglichkeit des Scheiterns von Bildungs- und Erziehungsversuchen anzuerkennen.11 Eine gelebte Fehlerkultur sollte somit – auch im Sinne einer Burnout-Prävention – bereits in der pädagogischen Ausbildung und in der späteren beruflichen Praxis erlebt und gelebt werden.

… UND FÖRDERUNG ECHTER BEGEGNUNGEN Sowohl als eigenes Konzept des Selbstwerdens als auch in Verbindung mit dem Konzept der bewussten Auseinandersetzung mit Grenzsituationen sieht Jaspers die Möglichkeit zum Selbstwerden in einer echten Begegnung. Nach Jaspers ist zwar auch das Zustandekommen einer echten Begegnung grundsätzlich unverfügbar, jedoch können von außen günstige Voraussetzungen geschaffen werden. Ein Merkmal echter Begegnung nach Jaspers besteht darin, dass innerhalb der Kommunikation das gleiche Niveau (beispielsweise bezüglich des Wissens, der Intelligenz, des Gedächtnisses, der Ermüdbarkeit) herrscht. Bei unterschiedlichem Niveau sei für einen Ausgleich zu sorgen. Im päda­ gogischen Arbeitsfeld erscheint diese symmetrische Kommunikation zunächst kaum umsetzbar. Eine Möglichkeit zumindest eines dynamischen

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Scheitern — Analyse

11  Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie und Päda­ gogik, Stuttgart 1959, S. 133.

Übergangs hin zu einer symmetrischen Kommunikation kann jedoch in der sokratischen Haltung gesehen werden. Ein weiteres zu berücksichtigendes Merkmal einer echten Begegnung ist die genannte Anerkennung des unvertretbar Anderen. Es geht darum, den Anderen in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und anzuerkennen. In einer Gesprächssituation ist dies beispielsweise durch ein Zuhören erreichbar, das über das Hören der gesprochenen Worte hinausgeht. Zudem bedarf es nach Jaspers des Aufbaus von Vertrauen sowie der Offenheit sich selbst und dem Anderen gegenüber im Sinne eines Sich-angehen-Lassens. Die Erkennung und Anerkennung der Einzigartigkeit des Anderen, das Sich-angehen-Lassen und das Geben von Vertrauen sind für Jaspers Merkmale echter Begegnung und in der Pädagogik Bestandteile einer intensiven Beziehungsarbeit. Die enorme Bedeutsamkeit der Beziehungsarbeit in der pädagogischen Arbeit steht wohl grundsätzlich außer Frage. Trotz dieser erst einmal hoffnungsvoll stimmenden Selbstverständlichkeit scheint es derzeit dennoch notwendig, die Bedeutung von intensiver »echter« Beziehungsarbeit (wieder) in den Vordergrund zu rücken. Die 12  Auch Hartmut Rosa weist darauf hin, dass die Etablierung von Resonanzbeziehungen im Sinne echter Begegnungen in einer beschleunigten Welt kurzlebiger Begegnungen zu zeitaufwendig geworden sei (vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt a. M. 2013, S. 142).

starke Gewichtung von Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Messbarkeit auch in pädagogischen Arbeitsfeldern (von zeitlich festgelegten zu erreichenden Kennzahlen bis hin zu messbaren und terminierten »SMART-Zielen«) scheint den Raum und vor allem die Zeit für echte Begegnungen stetig zu verringern.12 Pädagogik sollte zur Unterstützung im Prozess des Selbstwerdens demgegenüber echte Begegnungen fördern. »Wenn mir alles zusammenbricht, was Geltung und Wert zu haben beanspruchte, bleiben die Menschen, mit denen ich in Kommunikation stehe

13  Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung, Heidelberg 1973, S. 117.

oder möglicherweise stehen kann, und bleibt erst mit ihnen, was mir eigentliches Sein ist.«13

Dr. Judith Lutz studierte an der Universität Trier Erziehungswissenschaft. Dem Abschluss mit Diplom folgten berufliche Praxisjahre in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern. 2022 wurde sie mit der hermeneutischen Arbeit zum Thema des Scheiterns als Bildungsanlass bei Karl Jaspers an der Universität zu Köln promoviert.

Judith Lutz  —  Selbstwerden durch Scheitern

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DIE WELT DER PANNEN SCHEITERN IN DÜRRENMATTS WELTTHEATER Ξ  Max Roehl Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) das menschliche Streben nach Kontrolle und Planbarkeit des Lebens einer gründlichen Kritik unterzogen und mit beißendem Spott bedacht. In seinen satirischen Komödien, Romanen und Erzählungen führt er Figuren vor, die glauben, das Heft des Handelns in der Hand zu haben und ihre Umgebung nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Stattdessen jedoch sind sie dem (meist tödlichen) Spiel des Zufalls unterworfen. In seinen 21 Punkten zu den Physikern formuliert Dürrenmatt dies als paradoxen Effekt menschlichen Handelns: »Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.«1 »HEILLOS VERPFUSCHT« – UNORDNUNG ALS NORMALITÄT Zufall, Unfall und Panne heißen die Modelle, die Dürrenmatt für den Einbruch des Ungeplanten in eine durchrationalisierte Welt einsetzt. Angesichts ihres Wirkens wird die Welt für den Menschen zu einem Labyrinth, von dem er selbst nicht weiß, dass er sich in ihm befindet. Die Theaterstücke und Erzähltexte des Schweizer Schriftstellers zeichnen eine undurchsichtige, chaotische Welt, in der sich der Einzelne nicht zu orientieren in der Lage ist. Das Scheitern von Strategien und Vorhaben gerät daher zum Normalfall. Doch ist der Mensch in Dürrenmatts Welten nicht nur dem Wirken des Zufalls ausgesetzt, sondern auch der unpersönlichen Maschinerie der Bürokratie und der Massengesellschaft. Dürrenmatts politische Diagnose lautet, dass der moderne Staat zu einem System geworden sei, in dem es »keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichkeiten mehr gibt«.2 Was sich in dem Essay Theaterprobleme (1955) wesentlich aus seinem Blick auf Hitlerdeutschland speist, gilt auch für seine Auffassung von anderen Staaten im 20. Jahrhundert. Ob in Moskau, Washington oder Bern: Der Staat sei »unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden«.3 Dürrenmatt geht es um die Frage, wie im Zeitalter des Kollektiven und der Masse Verantwortung eigentlich noch individuell zurechenbar sein soll. So scheint der Mensch selbst zu verschwinden – zwischen den Automatismen der Bürokratie und den Einschlägen des Zufalls.

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1  Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten (Bd. 7 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 91. 2  Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme, in: ders., Theater. Essays, Gedichte und Reden (Bd. 24 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 31–77, hier S. 62. 3 

Ebd., S. 59 f.

Die Welt erscheint »heillos verpfuscht«.4 Eine verbindliche und transzendent abgesicherte Werteordnung existiert für den sich selbst als Atheisten bezeichnenden Pfarrerssohn Dürrenmatt ebenso wenig wie eine souveräne Ordnungsinstanz, die Recht und Gesetz garantieren könnte. Die Unordnung ist gesellschaftliche Normalität, der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt. Durchgespielt wird dies etwa in der Erzählung Die Panne (1956) innerhalb der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, die als Kampf eines jeden gegen jeden gezeichnet wird, in Der Besuch der alten Dame (1956) am Agieren der amoralischen Stadtgemeinschaft, in Das Versprechen (1958) und Die Physiker (1962) am Scheitern der Ordnungshüter oder noch in seinem letzten Roman mit dem sprechenden Titel Durcheinandertal (1989). Dürrenmatt stellt eine Diagnose, die umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass sein literarisches Schaffen in die Ära des Kalten Krieges fällt und somit in eine Zeit, die sich durch eine vermeintlich klare Weltordnung mit zwei einander gegenüberstehenden politischen Blöcken auszeichnete. Sein Befund scheint viel eher unserer eigenen Gegenwart zu entsprechen, wenn man an die zunehmend multipolare Weltordnung denkt oder an Herausforderungen wie die COVID-19-Pandemie, die – einbrechend in unsere durchrationalisierte Welt – auch die Probleme und Abläufe unserer Gesellschaften offenbart hat. DER EINFALL ALS ANTWORT AUF DEN ZUFALL Zur künstlerischen Bewältigung dieses modernen Weltzustands greift Dürrenmatt auf das Konzept des Einfalls zurück. Als poetologisches Pendant zum in der Welt waltenden Zufall meint der Einfall zum einen die poetische Idee und zum anderen ein Störmoment, das in die fiktionale Welt einbricht und die vermeintliche Ordnung ins Wanken bringt. Indem Dürrenmatt das Unwahrscheinliche eintreten lässt, werden die wahrscheinlichen Reaktionsmuster der Menschen, ihre lächerlichen Versuche, die Wirklichkeit beherrschbar zu machen, beobachtbar. Dass er dem Gesche4  Friedrich Dürrenmatt, Zusammenhänge. Essay über Israel. Eine Konzeption, in: ders., Zusammenhänge, Nachgedanken (Bd. 29 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 9–162, hier S. 20. 5  Dürrenmatt, Die Physiker, S. 91.

hen dabei stets die »schlimmstmögliche Wendung«5 zu geben versucht und also nicht nur den Zufall, sondern den »tödlichen Unfall« beschreibt, soll seiner Fiktion »eine ›existentielle‹ Berechtigung« verleihen,6 weist aber auch auf eine gewisse Freude am Grotesken hin. Mit seinen (Tragi-) Komödien und Erzählungen entwirft Dürrenmatt literarische Versuchsanordnungen, in denen die Wirklichkeit verschoben oder auf den Kopf gestellt, ihr Wesen jedoch besonders sichtbar wird.

6  Friedrich Dürrenmatt, Sätze über das Theater, in: ders., Theater, S. 176–211, hier S. 209.

Dürrenmatts Werk erzählt vor diesem Hintergrund vor allem von scheiternden Helden, die durch ihr Handeln das Gegenteil dessen erreichen, Max Roehl  —  Die Welt der Pannen

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was sie beabsichtigen. Dabei handelt es sich zumeist um Herrscherfiguren wie Kaiser, Parteichefs und Ministerpräsidenten, intellektuelle Kapazitäten wie den Physiker Möbius oder Ordnungshüter wie Kommissar Matthäi und Inspektor Voß. Die Frauenfiguren nehmen hingegen oft die Position des Einfalls selbst ein, der die Welt durcheinanderwirbelt. Insofern sind es durchaus starke Figuren – wie Claire Zachanassian oder Mathilde von Zahnd –, sie stellen aber eher ein Prinzip als personal konzipierte Figuren dar; so wie Dürrenmatts Texte ohnehin stark auf Thesen hin ausgerichtet sind und sich weniger in ausufernden literarischen Beschreibungen oder in realistischer Figurenzeichnung ergehen. Es scheitern bei Dürrenmatt also vor allem männliche Figuren, die mit einer gewissen Macht ausgestattet sind. Ihr Scheitern resultiert allerdings, wie sich bereits andeutete, nicht allein aus einem persönlichen Unvermögen und kann den Figuren nur eingeschränkt individuell in Rechnung gestellt werden. An der Struktur und Ursache ihres Scheiterns lassen sich vielmehr Einsichten in die Spielregeln der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit gewinnen. Dürrenmatt greift dafür auch auf mythologische und historische Stoffe zurück, die er satirisch überspitzt oder verkehrt. ROMULUS DER GROSSE Ein Beispiel für eine solche historische Parodie ist das Nachkriegsstück Romulus der Große, das in zwei Fassungen (1949/1957) vorliegt und mit der Kritik am ›Vaterland‹, dem im Notfall auch das eigene Leben zu opfern ist, eine Antwort auf den totalen und verbrecherischen NS-Staat darstellt. Dürrenmatts Einfall besteht darin, dass der letzte weströmische Kaiser Romulus Augustus den Fall seines Reichs durch Untätigkeit absichtlich herbeiführt. Von den Germanen angegriffen, verweigert sich Romulus der Landesverteidigung und zielt darauf ab, durch Nichthandeln »die Rettung des Imperiums bewußt« zu sabotieren.7 Er beabsichtigt, mit der blutigen Politik des Reiches und dem Patriotismus Schluss zu machen und dem germanischen Anführer Odoaker kampflos das Reich zu übergeben. Das Scheitern Roms ist hier also Programm. Allerdings zeitigt das Vorgehen des Kaisers paradoxe Effekte. Wollte er eigentlich das Sterben beenden, so führt das kaiserliche Nichthandeln dazu, dass seine Familie während der Flucht vor den Germanen auf der Überfahrt nach Sizilien ertrinkt. Das ist die eine Seite seines Scheiterns: Die Untätigkeit sollte Romulus davor bewahren, an seiner Bevölkerung schuldig zu werden, doch lädt ihm auch und gerade sein Nichthandeln Schuld auf.8 Die andere Seite des Scheiterns betrifft den Ausgang

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Scheitern — Analyse

7  Friedrich Dürrenmatt, Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische Komödie in vier Akten (Bd. 2 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 77. 8  Zur Deutung von Dürrenmatts Romulus als ›Gesinnungsethiker‹ siehe Max Roehl, Der abwesende Souverän. Zum Politischen im Werk Friedrich Dürrenmatts, Bielefeld 2021, S. 191–194.

des Geschehens. In der ersten Fassung des Stücks scheint Romulus zunächst Erfolg (mit seinem beabsichtigten Misserfolg) zu haben, wenn er den Germanen das Reich überlässt und sich selbst als Kaiser zurückzieht. Doch ist diese Lösung hier zum einen erkennbar als unernste politische Utopie entworfen,9 zum anderen scheint im apostrophierten Germanenreich (in einem ›Zusammenfall‹ der Zeitalter) das Dritte Reich auf, das die blutige Herrschaft Roms, die Romulus beenden wollte, indem er die Weltgeschichte für die Germanen räumt, nicht nur fortführen, sondern in der Grausamkeit und Totalität des Staates noch bei Weitem übertreffen wird: »Die Römer treten ab, die Bühne wird frei, die Germanen sind an der Reihe.«10 Die zweite Fassung radikalisiert diese Pointe, indem sie einen Odoaker zeigt, der seinerseits seine Macht abgeben und sich mit seinem »ganzen Volk«11 unterwerfen will. In den Krieg gezogen war er nur wegen der öffentlichen Meinung sowie seiner ehrgeizigen Soldaten. In den Blick rückt dabei sein Neffe Theoderich, ein heroischer Germane, der »von der Weltherrschaft«12 träumt und dessen Machtübernahme Odoaker verhindern wollte. Beide Herrscher beabsichtigen so, ihre Länder vor den Heroen und Patrioten zu bewahren. Ihre Pläne scheitern jedoch; sie waren vom Machtwillen des jeweils anderen ausgegangen und haben sich damit verrechnet. Als Konsequenz einigen sie sich darauf, dass Romu9  Vgl. Günter Scholdt, Romulus der Große? Dramaturgische Konsequenzen einer KomödienUmarbeitung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, H. 2/1978, S. 270–287, hier S. 285. 10 

Dürrenmatt, ­Romulus der Große, S. 141. 11 

Ebd., S. 106.

12 

Ebd., S. 107.

13 

Ebd., S. 112.

14 

Ebd., S. 113.

15  Friedrich Dürrenmatt, Herkules und der Stall des Augias. Eine Komödie, in: ders., Herkules und der Stall des Augias, Der Prozeß und des Esels Schatten. Griechische Stücke (Bd. 8 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 9–117, hier S. 29.

lus in Pension geht und Odoaker König von Italien wird, um den »Frieden« zwischen Germanen und Römern zu sichern und »die Welt treu zu verwalten«.13 Beiden ist im Bewusstsein dieser »traurigen Pflicht«14 klar, dass es nur eine Übergangslösung sein kann, denn mit dem fanatischen Theoderich steht der nächste Usurpator am Ende einer Zwischenkriegszeit bereit. So zeigt Dürrenmatt mit Romulus der Große, dass selbst das Scheitern scheitert, sofern die Menschen es bewusst verfolgen. Die Weltgeschichte vollzieht sich unabhängig vom menschlichen Wollen und Planen, selbst wenn es darum geht – abwegig genug –, freiwillig auf die eigene Macht zu verzichten. HERKULES UND DER STALL DES AUGIAS Eine Mythenparodie, in der Scheitern und Misserfolg zentral sind, ist Dürrenmatts aus einem Hörspiel (1954) hervorgegangene Komödie Herkules und der Stall des Augias (1962). Anders als im Mythos ist hier das gesamte Reich Elis vom Mist überwuchert und der Stall, den der mythologische Herkules zu reinigen hat, ist der Ort, an dem die ›Parlamentarier‹ überhaupt noch beraten können, wenn auch im Mist steckend »nur bis zum Unterleib sichtbar«.15 Als »Oberausmister« wird Herkules mit der Max Roehl  —  Die Welt der Pannen

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Reinigung des Landes beauftragt.16 Ist das Ausmisten des Augiasstalls im Mythos eine der zwölf Aufgaben, die ihm von Eurystheus gestellt werden, und erreicht er es durch die Umleitung von Flusswasser (weshalb die Aufgabe als unerledigt angesehen wird), so wird Herkules bei Dürrenmatt für ein »anständiges Honorar« samt »Spesen« angestellt, das der

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Scheitern — Analyse

16 

Ebd., S. 33.

klamme Heros dann auch annimmt. Allerdings kann er nicht einfach wie sein mythologischer Vorläufer die Flüsse umleiten. Herkules scheitert an der Aufgabe, zum einen aufgrund der überbordenden Bürokratie, braucht es doch Genehmigungen nicht nur vom Wasseramt, sondern auch vom Fremden-, Arbeits-, Tiefbau-, Finanz- und Mistamt. Der antike Held wird hier also mit dem modernen Verwaltungsstaat konfrontiert. Zum anderen liegt sein Scheitern auch im fehlenden Änderungswillen der Parlamentarier begründet, die – stellvertretend für die gesamte Bevölkerung – das Problem herunterreden oder Gründe finden, das Ausmisten zu vertagen. Versuchen sie zunächst, dem Befund der Vermistung positive Nachrichten aus dem eigenen Land entgegenzusetzen – man sei »gesund«, das »freiste Volk der Welt«, »die älteste Demokratie Griechenlands«, »die Urgriechen«17 –, so zeigt sich, dass sie die Entmistung auch fürchten, weil dabei Kunstschätze, die unter dem Mist verborgen seien, »fortgeschwemmt«18 werden oder sich gar als nicht existent erweisen könnten. Auch wird der Mist selbst als »ein nationaler Triumph« verstanden, »auf den wir stolz sein dürfen«.19 Und schließlich die simple Befindlichkeit: »Ausmisten ist ungemütlich!«20 Es sind dies übliche Abwehrmechanismen, die verhindern, dass ein Problem, das hier gesellschaftsgefährdende Ausmaße annimmt, angegangen wird. Statt die Gefahren der Vermistung ernst zu nehmen, werden die Folgen der Mistbeseitigung gefürchtet. In einer solchen Umgebung, so der ironische Fingerzeig, kann selbst der größte Held Griechenlands nichts bewirken. Eine Lösung scheint auf im Garten des Augias, in dem es dem Präsidenten von Elis gelingt, den Mist in Humus zu verwandeln. Die eigentliche »Herkulesarbeit« bestehe darin, statt heroisch durchzugreifen »als ein Unzufriedener« zu leben, »der seine Unzufriedenheit weitergibt und so mit der Zeit die Dinge ändert«.21 Das mythische Modell des Heros wird offenbar vom bürgerlichen Modell der Reformpolitik abgelöst. Allerdings betreibt Augias die Ausmistung nicht als Staats-, sondern als Privatmann. 17 

Ebd., S. 30.

18 

Ebd., S. 93.

19 

Ebd., S. 96.

20 

Ebd., S. 97.

Sein Garten und sein Plädoyer für die Verbesserung in kleinen Schritten bedeuten einen Rückzug ins Private – so ist auch kein Staat zu machen.

21 

Ebd., S. 116.

22 

Ebd., S. 117.

Dass sich an seine doch eigentlich geglückte Mistverwandlung noch ein pessimistischer Schluss-Chor anschließt, der mit einer apokalyptischen Vision endet (»Und tut, was ihr tun müßt, noch bald / Sonst wird der Tag euch entgleiten / Die Nacht ist dunkel und kalt«22), scheint darauf hinzuweisen, dass auch dieses Modell der Herausforderung nicht gewachsen ist. So wird nicht nur das Heldentum einer zeitgeschichtlich relevanten Kritik unterzogen – bei Dürrenmatt ist Herkules eine lächerliche Figur, die sich Max Roehl  —  Die Welt der Pannen

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zwischenzeitlich aus Geldnot im Zirkus verdingt. Auch kann die Lösung politischer Probleme nicht ausschließlich im Privaten gesucht werden. In Herkules und der Stall des Augias spielt Dürrenmatt so am Scheitern der Figuren satirisch das Handlungs- und Entscheidungsproblem in post­ heroischen,23 demokratisch-bürokratischen Gesellschaften durch. DIE PHYSIKER Dürrenmatts Erfolgsstück Die Physiker schließlich thematisiert ein besonders folgenschweres Scheitern, setzt es sich doch damit auseinander, dass im technischen Zeitalter Erfolg und Scheitern keine Gegenbegriffe sind, sondern dass Erfolg (zum Beispiel eine wissenschaftliche Entdeckung) zum größten (moralischen) Scheitern führen kann. Die Naturwissenschaften sind in der Lage, die Naturgesetze so weit zu durchschauen, dass die Vernichtung der gesamten Menschheit möglich geworden ist – ein Rekurs auf die Geschichte der Entwicklung der Atombombe, mit der sich Dürrenmatt auch in seiner in der Weltwoche publizierten Rezension von Robert Jungks Buch Heller als tausend Sonnen (1956) auseinandergesetzt hat. In den Physikern flieht die Figur Möbius in eine psychiatrische Anstalt, um seine physikalischen Entdeckungen geheim zu halten. Zusammen mit zwei weiteren Physikern, die eigentlich im Auftrag konkurrierender Geheimdienste auf sein Wissen angesetzt waren, entschließt er sich, den Rest seines Lebens im Sanatorium zu verbringen. Allerdings wird der Plan von der Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd durchkreuzt, die das Spiel der Physiker durchschaut und Möbius’ vermeintlich vernichtete Manuskripte mit den bahnbrechenden Erkenntnissen kopieren ließ, um sie für ihre Zwecke zu gebrauchen. Auch hier hat das geplante Handeln, das tragische Selbstopfer einen paradoxen Effekt: Der Versuch, die eigenen Erkenntnisse vor dem Zugriff der politischen Macht zu schützen, hat sie in die Hände einer anderen (privaten) Macht gespielt. Möbius wollte die Wissenschaft bewahren und weiterbetreiben in einem vermeintlich unpolitischen Asyl. Dürrenmatt arbeitet heraus, dass dies unmöglich ist. Eine Alternative hätte darin bestanden, die gewonnenen Erkenntnisse allen zugänglich zu machen, um so zu verhindern, dass sie von einer Seite instrumentalisiert werden können.24 Auch hätte sich Möbius dazu entschließen können, die wissenschaftliche Arbeit gänzlich aufzugeben. Man mag hier an die ungeheuerlichen Worte Albert Einsteins denken, von denen Josef Spier in Jungks Heller als tausend Sonnen berichtet: »Weißt du, mein Sohn, ich habe noch etwas erfunden, auf dem Grenzgebiet der Mathematik und der Astronomie. Das habe ich

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Scheitern — Analyse

23  Zum Begriff der postheroischen Gesellschaft vgl. Herfried Münkler, Heroische und post­heroische Gesellschaften, in: Merkur, H. 700 (2007), S. 742–752. 24  »Möbius’s only truly responsible course would have been to publish all his results, which would have prevented their being discovered and exploited«, Benjamin Bennett, Theater as Problem. Modern Drama and its Place in Literature, Ithaca & London 1990, S. 229.

jüngstens kaputtgemacht. Einmal ein Mitmörder an der Menschheit zu sein, genügt mir.«25 Möbius hingegen wollte die naturwissenschaftliche Forschung von der technischen Umsetzung ihrer Ergebnisse entkoppeln. Dieser Versuch, so zeigt Dürrenmatt, ist jedoch aussichtslos: In unserer Welt wird alle Theorie zur Praxis, alle Erkenntnis in Technik umgesetzt. Und wenn nicht durch die staatlichen Akteure, dann durch eine tatsächlich verrückte ›Unternehmerin‹. Der Ausgang des Geschehens ist natürlich grotesk übersteigert (wobei Dürrenmatt wohl meinen würde, die groteske Wirklichkeit kenne keine Steigerung), doch wird in ihm ein bestimmter Mechanismus sichtbar, der das Scheitern von Möbius’ Plänen ebenso wie anderer Versuche, Wissen geheim zu halten, zwangsläufig erscheinen lässt. Dürrenmatt bietet keine Lösung des Problems an; er stellt vielmehr eine Dynamik dar, die sich als unhintergehbar erweist: Es gibt keine unschuldige Forschung, die sich von politischer Indienstnahme und technischer Nutzung freimachen könnte. Sobald Wissen in die Welt getreten ist, kann es nicht von der Macht ferngehalten werden: »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.«26 So wird auch hier über den Umweg eines (ver-rückten) Einzelfalls des Scheiterns ein grundsätzliches Problem durchgespielt. SCHEITERN AN DER MACHT Die drei Beispiele zeigen: Dürrenmatt ist mit seinen Figuren und Szenarien des Scheiterns besonders mit dem Phänomen der Macht befasst. Diejenigen, die sie anstreben, verlieren sie; doch auch diejenigen, die auf sie verzichten wollen, scheitern, so wie Romulus oder auch Goldbaum in Die Frist, der als Oppositioneller die Macht nie besitzen wollte (»Aber die Macht wird Sie finden, Goldbaum«27). In Dürrenmatts ›schlimmstmöglichen Wendungen‹ steht dabei auch das Scheitern der gesamten Menschheit im Raum. Mit seinen apokalyptischen Schlussbildern, nicht nur im Herkules, sondern auch in Die Physiker und Die Frist und nicht zuletzt im 25  Robert Jungk, Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Mit einem Vorwort von Matthias Greffrath, München 1990, S. 316. 26  Dürrenmatt, Die Physiker, S. 85.

postapokalyptischen Winterkrieg in Tibet, rechnet Dürrenmatt mit der machtversessenen Menschheit ab, lässt die Instabilität moderner Gesellschaften in die Katastrophe münden. Eine apokalyptische Vision entfaltet schließlich auch das aberwitzige Stück Der Mitmacher (1973), dessen Uraufführung ein großer Misserfolg war und neben anderen Erfahrungen Dürrenmatts »Abschied vom Theater« einläutete. Es handelt von ›Doc‹, einem entlassenen Biochemiker, der sich

27  Friedrich Dürrenmatt, Die Frist. Eine Komödie (Bd. 15 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 43.

in den Dienst von ›Boss‹ stellt und in dessen Mordgeschäft für die spurlose Leichenbeseitigung (›Nekrodialyse‹) sorgt. Wie die Figurenbezeichnungen Max Roehl  —  Die Welt der Pannen

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vermuten lassen, sind hier nur noch Typenfiguren auf der Bühne; die absurde Handlung und beständige Illusionsbrüche wirken einer ›realistischen‹ Darstellung entgegen, sollen dadurch jedoch – für Dürrenmatt typisch – gerade eine Durchsicht auf die in der Wirklichkeit herrschenden Kräfte ermöglichen. An dem kriminellen Unternehmen beteiligt sich im Prinzip jeder, neben dem Anarchisten Bill, der die Ermordung des Staatspräsidenten (und im ›Dauerauftrag‹ aller folgenden Präsidenten in den kommenden zehn Jahren) in Auftrag gibt, auch der Polizeichef ›Cop‹. Angesichts der allgemeinen Korruption, die sich vom Staatsanwalt bis zum Obersten Richter erstreckt, gibt es ›Cop‹ auf, von außen gegen das Verbrechen vorzugehen. Stattdessen versucht er, für Gerechtigkeit zu sorgen, indem er selbst mitmacht und unter anderem ›Boss‹ in die ›Nekrodialyse‹ schickt. Dabei bildet er sich nicht ein, »das Unternehmen erledigt« oder das Verbrechen beseitigt zu haben: »Doch eine kurze Weltsekunde lang bot ich dem fatalen Abschnurren der Geschäfte Einhalt.«28 Die überaus schwarze Komödie endet mit dem bedrückenden Fazit, dass die Kriminalität »längst die Form unserer Zivilisation«29 geworden und das Mitmachen – so der Rückbezug bis auf die frühen Theaterprobleme – unumgänglich sei: Nur »[w]er stirbt, macht nicht mehr mit.«30 Auch Bill und ›Cop‹ fallen schließlich der chemischen Auflösungsmaschine zum Opfer.

28  Friedrich Dürrenmatt, Der Mitmacher. Eine Komödie, in: ders., Der Mitmacher. Ein Komplex (Bd. 14 der Werkausgabe), Zürich 1980, S. 11–93, hier S. 87. 29 

Ebd.

30 

Ebd., S. 90.

31  Vgl. hierzu Peter Rüedi, Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen. Biographie, Zürich 2011, S. 718 ff.

Nun könnte man meinen – und es gibt einige Hinweise darauf –, Dürrenmatt halte es angesichts des Weltzustands für das Klügste, gar nicht zu handeln. Entsprechende Sentenzen legt er seinen Figuren mehrfach in den Mund. Indes, liest man seine Texte aufmerksam, so zeigt sich, dass Dürrenmatt weder den Rückzug ins Private noch das Nichthandeln empfiehlt. Das Problem des unpolitischen Rückzugs besteht darin, dass die Welt dadurch keineswegs ein machtfreier Ort wird. Verzichtet man auf die Ausübung von Macht, so geht sie auf jemand anderen über. Doch sollte man auch nicht der Illusion anhängen, die Macht beherrschen zu können. Dürrenmatt, dem auch eigener Misserfolg am Literatur- und Theatermarkt alles andere als fremd war und dessen Werk zwischen Anerkennung und Ablehnung hin- und herpendelte,31 entwirft (Anti-)Helden, die auch mit Blick auf die heutige ›Leistungsgesellschaft‹ und ihre Erzählung, dass der Einzelne sämtliche Faktoren seines Lebens selbst bestimmen könne, als eine Lektion in Zurückhaltung und Demut zu verstehen sind. Wenn der Zufall die entscheidende Kraft in dieser Welt ist, so kann man sich weder den Misserfolg noch den Erfolg selbst in Rechnung stellen. An der Frage von Erfolg und Misserfolg werden hingegen die Bedingungen des Handelns und die gesellschaftlich wirksamen Kräfte sichtbar.

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Scheitern — Analyse

Dr. Max Roehl, geb. 1988, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Komparatistik und Deutsche Philologie an der Universität Tübingen. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Dramen- und Figurentheorie sowie von Literatur & Politik. Er ist Autor folgender Bücher: Theorie der dramatischen Figur. Beitrag zur allgemeinen Gattungstheorie des Dramas, Hannover 2020; Der abwesende Souverän. Zum Politischen im Werk Friedrich Dürrenmatts, Bielefeld 2021.

PORTRÄT

THE MAN IN BLACK IS BACK JOHNNY CASHS KARRIEREWENDE IN DEN NEUNZIGER JAHREN UND SEIN ERSTAUNLICHER NACHRUHM Ξ  Frank Decker

Ende Juli 1994 trat Johnny Cash ein dreiwöchiges Gastspiel in Branson an, einem kleinen Ort in den Ozark Mountains im Süden Missouris. Die Konzerte im Shenandoah South Theater – über dreißig an der Zahl und meistens zwei am Tag, eines um 15 Uhr nachmittags und eines um 20 Uhr – waren kräftezehrend. Um Cashs Gesundheit – im Februar war er 62 geworden – stand es schon seit Jahren nicht gut. Dennoch blieb sein Pensum gewaltig. Eine Konzertreise in Europa lag gerade hinter ihm und ab Ende August würde er erneut in den USA und Kanada auf Tour gehen. Die Konzerte in Branson vermittelten einen Eindruck, wie Cashs eindrucksvolle Karriere, die vier Jahrzehnte zuvor in Memphis begonnen und ihn zum Weltstar gemacht hatte, ausgeklungen wäre, wenn sie in den vorangegangenen Monaten nicht eine unverhoffte Wendung genommen hätte. Zu den Nachmittagskonzerten »strömten« gerade einmal 300 Besucher, abends waren es mit 500 etwas mehr, was aber nichts daran änderte, dass die meisten der 2.000 Plätze im Auditorium unbesetzt blieben. Dennoch bekamen sie eine zweieinhalbstündige Show zu sehen, so war es vertraglich festgelegt. Eigentlich hätten die Shows in Cashs eigenem Theater stattfinden sollen. Denn genau wie eine Reihe von anderen alternden Country-Stars, die kommerziell nicht mehr gefragt waren – Glen Campbell, Charley Pride oder Mel Tillis –, hatte der Man in Black geplant, sich in Branson dauerhaft zu engagieren. Die 10.000-Einwohner-Stadt war seit den 1980er Jahren zu einem »Las Vegas der Country-Musik« auf- und ausgebaut worden, um Touristen anzulocken. Für die Künstler versprach das gesicherte Einnahmen und weniger Stress. Statt selbst auf Tournee zu gehen, würden sie jetzt darauf warten, dass die Fans zu ihnen kämen.

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DER CRASH VON »CASH COUNTRY« »Cash Country« sollte das größte Theater am Platz werden. Johnny Cash hatte geplant, dort auch ein Museum einzurichten, das seine Karriere dokumentieren und den Besuchern eine zusätzliche Attraktion bieten würde. Da er von meiner großen Platten- und Memorabilia-Sammlung wusste, die ich seit Ende der 1970er Jahre zusammengetragen hatte, sprach er mich im November 1991 nach einem Konzert in Ludwigshafen auf die Möglichkeit an, diese für das Museum zu erwerben. Für mich war das natürlich eine große Ehre. Die von mir als Preis genannten 25.000 US-Dollar handelte er auf 22.500 US-Dollar herunter. Allein, es wurde nichts daraus. Der Investor von »Cash Country« legte einen veritablen Bankrott hin – Cash war immerhin so klug gewesen, sich nicht mit eigenem Geld an dem Projekt zu beteiligen. Der Kauf meiner Cash-Sammlung wurde also hinfällig. Um die für 1993 und 1994 fest eingeplanten Auftrittstermine zu ersetzen, buchte sich Cash im Wayne Newton Theatre ein, das später in Shenandoah South umbenannt wurde. An einen großzügigen Lebensstil mit mehreren Häusern und zwei Dutzend Angestellten gewöhnt, musste er die sinkenden Erträge aus Plattenverkäufen und Konzerten ausgleichen, so gut es ging – eine besseren Deal schien es für ihn nicht mehr zu geben. Zu seinem potenziellen Karriereausklang in Branson äußerte sich Cash in einer der Pausen während der Show mir gegenüber sarkastisch: »Sie werden ein Altersheim daraus machen.« Er sollte Recht behalten. Die Besucherzahlen waren schon 1994 im Vergleich zum Vorjahr rückläufig. Selbst wenn das Experiment eines »Las Vegas ohne Spielsalons« funktioniert hätte: Wer Cash im August 1994 auf der Bühne im Shenandoah South Theater vor halbleerem Publikum spielen sah, spürte instinktiv, dass er dort nicht hingehörte – so unterhaltsam und familientauglich seine Show auch war. Und er selbst wusste es am allerbesten. Die für Oktober und November vereinbarten Gastspiele erfüllte Cash noch pflichtgemäß. Danach trat er nie wieder in Branson auf. HIGHWAYMAN AUF DER VERLIERERSTRASSE Er musste es auch nicht mehr. Im April waren seine »American Recordings« herausgekommen. Als ich die CD noch vor ihrem offiziellen Erscheinen zum ersten Mal hörte – ich hatte von der Plattenfirma aus Den Haag ein Vorabexemplar bekommen –, dachte ich: Wow! Eine großartige Platte, Johnny Cash, nur zur Gitarre, auf das Wesentliche reduziert mit selbstgeschriebenen, traditionellen und gecoverten Songs. Doch dass ein solches Album kommerziell erfolgreich sein und Cash wieder in die Erfolgsspur

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bringen würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Es würde wahrscheinlich ein weiterer vergeblicher Versuch bleiben. In den 1980er Jahren hatte Cash den Glauben an sich selbst als Künstler immer mehr verloren. Seinen letzten großen Hit hatte er 1979 mit »(Ghost) Riders in the Sky« gelandet – diesen klassischen Western-Song sollte er fortan auch in den Liveshows regelmäßig spielen. 1985 tat er sich mit Willie Nelson, Waylon Jennings und Kris Kristofferson zur Supergroup »The Highwaymen« zusammen. Es entstand das gleichnamige Album, dem 1990 und 1995 zwei weitere folgten. Das Quartett ging in den USA, Europa und Australien auf Tournee und spielte durchweg vor ausverkauften Häusern. An Cashs Misere als Solokünstler änderte das nichts. 1983 hatte er für sein von Brian Ahern produziertes Album »Johnny 99« zwei Titel von Bruce Springsteen aufgenommen, die wie der Rest der Platte allerdings kaum Beachtung fanden. Die Zusammenarbeit mit dem Erfolgsproduzenten Billy Sherrill endete 1984 im Fiasko, als sich Columbia, Cashs Platten­firma seit 1958, weigerte, das Album überhaupt herauszubringen. Erst 2014, elf Jahre nach Cashs Tod, sollte es unter dem Titel »Out Among the Stars« postum erscheinen – und prompt an die Spitze der Country Charts gelangen! Als dann 1985 mit »Rainbow« ein weiteres, von Chips Moman produziertes Album floppte, war Cashs Ende bei Columbia besiegelt. Die Plattenbosse, für die Marktgesetze mehr galten als Loyalität, setzten ihm den Stuhl vor die Tür. 1987 kam Cash bei Mercury unter Vertrag. Die fünf Alben, die bis 1991 dort entstanden, stießen aber gleichfalls auf Desinteresse und vermochten weder die Kritik noch die Käufer zu überzeugen. Johnny Cash sollte später behaupten, Mercury habe von seinem letzten Album »Mystery of Life« nur 500 Exemplare gepresst. Zu einer Verlängerung des Vertrages kam es nicht mehr. 1992 stand der Man in Black zum ersten Mal seit seinem Karrierestart 1954 ohne Plattenvertrag da. THE SAVIOR IS A TRAMP Zu Cashs Retter wurde Rick Rubin, der zu dieser Zeit dreißig Jahre alte Gründer des Labels Def American, auf dem er bis dahin vor allem Hip Hopund Metal-Platten produziert hatte. Mit seinem Rauschebart sei ihm Rubin wie ein etwas verlebter Hippie vorgekommen, erinnerte sich Cash später an ihre erste Begegnung backstage. Rubin interessierte sich für Cash, weil er in ihm einen Künstler erblickte, der sein Format und Potenzial im Studio schon seit langer Zeit nicht mehr ausreizte. Cash wiederum schätzte, dass Rubin seine Musik von allen Schnörkeln befreien und ihm als Sänger die zuvor vermissten Freiheiten geben wollte. Er solle aufnehmen, was ihm Frank Decker  —  The Man in Black is Back

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gefiel und was er schon immer hatte aufnehmen wollen: die Gospels aus seiner Kindheit, die Lieder bekannter Kollegen und sein eigenes Material, das er zuletzt bewusst zurückgehalten hatte. Darüber hinaus schlug ihm Rubin Titel von Tom Waits, Loudon Wainwright III und Glenn Danzig vor – Künstler, die Cash allenfalls vom Namen her kannte. Cash sagte einmal, dass ihn das Ganze an den Beginn seiner Karriere bei Sun Records erinnert habe, wo ihn mit Sam Phillips ein ähnlich visionärer Labelchef unter die Fittiche genommen hatte. Die Aufnahmesessions, die größtenteils in Rubins Wohnzimmer stattfanden, begannen im Mai 1993. Zunächst sang Cash ganz allein, »simple and honest«, begleitet nur von der akustischen Gitarre. Anschließend experimentierte man mit verschiedenen Bands und Instrumenten, um am Ende zum spartanischen Arrangement zurückzukehren. Die Platte hieß wie das Label schlicht »American Recordings« und stellte eine Antithese zu den überproduzierten, dem Mainstream angepassten Platten dar, die Cash in den 1980er Jahren abgeliefert hatte. Von der Musikwelt 1994 als Sensation gefeiert, legte sie den Grundstein für ein grandioses Spätwerk. Cashs Comeback war auch das Ergebnis einer geschickten Marketingstrategie. Rubin knüpfte bewusst an das Image des zornigen Rebellen und Outlaws an, das der in den 1960er Jahren schwer drogenabhängige Sänger kultiviert hatte und das sich zugleich in seinem Songrepertoire niederschlug, vor allem in den »Prison Songs«, aber auch in den Liedern, die von seiner eigenen Kindheit und dem harten Leben auf dem Land erzählten. Die Kehrseite dieses Images bildete Cashs unerschütterlicher christlicher Glaube. Beides zusammengenommen symbolisierte die schwarze Kleidung, die Cash in der Öffentlichkeit – nicht in der Freizeit – trug. Sie wurde, nachdem er seit Ende der 1960er Jahre zum nationalen und internationalen Superstar aufgestiegen war, zu seinem Markenzeichen – genauso wie die simple Begrüßungsformel, mit der er die Konzerte einzuleiten pflegte: »Hello, I’m Johnny Cash«.

Ein ungewöhnliches Gespann. Johnny Cash und Rick Rubin während der Aufnahmesessions zu American Recordings (l.). Das Album erschien im April 1994 (r.).

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Authentisch, ehrlich und cool – das waren die Attribute, mit denen Rubin seinen Schützling für eine neue Generation jüngerer Fans interessant zu machen suchte. Statt in sterilen Konzertsälen spielte Cash jetzt in Clubs und Rockpalästen, etwa dem Viper Room in Los Angeles, wo Johnny Depp ihn vorstellte, oder dem Fez in New York. Er zierte das Cover einschlägiger Musikzeitschriften und ließ sich hinter der Bühne mit bekannten Showgrößen ablichten. Um ihn für sein neues Publikum anschlussfähig zu machen, drehte Rubin zu der Mörderballade »Delia’s Gone« ein Video, in dem Kate Moss das erschossene Opfer mimte – es wurde wegen seiner Gewaltszenen von MTV zunächst nur zensiert ausgestrahlt. Die Europatournee im Juli 1994 knüpfte an das neue Erfolgskonzept an. Auch hier trat Cash in angesagten Spielstätten wie dem Pariser Elysée Montmartre oder dem Rotterdamer Nighttown auf, wo ihn sein neugewonnenes urbanes Publikum und die alten Fans einträchtig bejubelten. Letztere konnten darauf verweisen, dass der neue Johnny Cash im Grunde der alte geblieben war. Nicht er hatte sich geändert, sondern der Blick auf ihn. Das machte sie zu Recht stolz – genauso wie ihn. MITTELFINGER FÜR NASHVILLE Diese Freude teilten aber längst nicht alle. Als ich im August nach der Europatournee durch die USA reiste, wunderte ich mich, dass die neue Platte auf keinem der unzähligen Countrysender zu hören war. Das Nashville-Establishment hatte Cash schon lange den Rücken zugekehrt. Cash war zwar niemals ausschließlich auf die Sparte Country festgelegt gewesen. In den 1950er Jahren nannte man ihn einen »Rockabilly« – wegen seiner Nähe zum neu entstandenen Rock ’n’ Roll – und in den 1960er Jahren schlug er erfolgreich die Brücke zur Folk- und Americana-Bewegung. Auch später blieb er für andere Musikrichtungen offen – seine von 1969 bis 1971 ausgestrahlte wöchentliche Fernsehshow dokumentierte es eindrucksvoll. Dennoch hatte Cash sich zeit seines Lebens als Country­ sänger gefühlt und verstanden. Die Auszeichnung, die ihm nach eigener Auskunft am meisten bedeutete, war seine Aufnahme in die Country Hall of Fame – sie erfolgte 1980, als er gerade einmal 48 Jahre alt war. Die Musikindustrie und das Country-Establishment hatten Johnny Cash mehr zu verdanken als jedem anderen. In den 1970er Jahren war er der bekannteste Vertreter des Genres weltweit – und er sollte es bis weit in die 1980er Jahre hinein bleiben, obwohl die Urban Cowboy- und New Country-Bewegungen den Massengeschmack zu dieser Zeit längst in eine andere Richtung gelenkt hatten. Dass Cash in dieser neuen Welt Frank Decker  —  The Man in Black is Back

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nicht mehr zählte, musste einen Mann seiner Vergangenheit und seines Formats naturgemäß verbittern. Für das Akustikalbum »American Recordings« erhielt Cash einen Grammy in der Sparte »Best Contemporary Folk Album«. Um Wiederholungsgefahr zu vermeiden, beschlossen er und Rubin, dass die nachfolgende Platte anders und musikalisch härter ausfallen solle. Das Ende 1996 erschienene Album »Unchained« spielte er zusammen mit Tom Petty and the Heartbreakers ein, die wiederum von alten Weggefährten Cashs wie Carl Perkins oder Marty Stuart begleitet wurden. So rockig die Scheibe war – Cash coverte auf ihr zum Beispiel den Titel »Rusty Cage« der Hardrock-Band Soundgarden –, so unzweifelhaft handelte es sich um ein Country-­Album. »Unchained« wurde von den Country-Radiostationen indes genauso ignoriert wie »American Recordings«, obwohl die Platte in den Charts etwas höher kletterte. Als auch sie 1998 einen Grammy erhielt – diesmal für das beste Countryalbum des Jahres –, wollten Cash und Rubin ihre Genugtuung nicht länger verbergen. Umrahmt von einem alten, 1969 während des legendären Konzerts in der Strafanstalt San Quentin geschossenen Foto, das Cash mit ausgestrecktem Mittelfinger zeigt, bedankten sie sich in einer ganzseitigen Anzeige im Branchenblatt Billboard beim Country-Radio und Nashville-Establishment für deren Unterstützung.

Wie das erste wurde auch das zweite American-Album »Unchained« (l.) vom Country-Establishment ignoriert. Cash und Rubin bedankten sich auf ihre Weise (r.).

1964 hatte Cash das Gleiche schon einmal getan, als sich die DJs weigerten, seine Single »The Ballad of Ira Hayes« zu spielen. Das Schicksal eines als US-Kriegsheld gefeierten Pima-Indianers, der nach seiner Rückkehr ins Reservat dem Alkohol verfiel und elendig starb, war zu schwere Kost.

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Scheitern — Porträt

Cash nahm die Radiochefs daraufhin – in einem ebenfalls im BillboardMagazin veröffentlichten Offenen Brief – für ihre Mutlosigkeit ins Visier: »Where are your guts?« Auch später blieb er ein Mann, der sich nicht korrumpieren lassen wollte, aber doch gezwungen war, in der Musik und für die Karriere immer wieder Kompromisse einzugehen, die er häufig bereute. Mit Rubin verband ihn am Ende eine tiefe, auch religiös grundierte Freundschaft. Cash folgte vielen Ratschlägen des Produzenten, verließ sich am Ende aber immer auf den eigenen Instinkt. DÜSTERER ABSCHIED Überschattet wurde die gemeinsame Arbeit durch Cashs nachlassende Gesundheit. 1997 hatte man bei ihm ein schweres Nervenleiden festgestellt, das aber – zunächst war vom »Shy-Drager-Syndrom«, dann von Parkinson die Rede – erst zwei Jahre später als »Autonome Neuropathie« richtig diagnostiziert wurde. In Verbindung mit seinem Diabetes führte Cashs geschwächtes Immunsystem zu wiederholten Lungenentzündungen und Krankenhausaufenthalten. Im Oktober 1997 musste er das Touren endgültig einstellen. Sein letztes Konzert in Europa hatte er am 31. Juli 1997 in Koblenz gegeben – ganz in der Nähe meiner Heimatstadt Montabaur. Für das Backstage-Gespräch nahm er sich dort viel mehr Zeit als die sonst üblichen zehn Minuten. Erst später wurde mir klar, warum: Er ahnte, dass er wahrscheinlich nicht wieder zurückkehren würde. Der Abschied von der Bühne bedeutete, dass Cash sich fortan ganz auf das Studio konzentrieren konnte. Obwohl sein einst so mächtiger Bariton inzwischen deutlich geschwächt klang, verlieh ihm gerade das seine besondere Wirkung, machte es die Stücke noch eindringlicher und authentischer. Für seine beiden letzten zu Lebzeiten erschienenen Alben »American III: Solitary Man« (2000) und »American IV: The Man Comes Around« (2002) bekam Cash erneut gute Kritiken und zwei weitere Grammys. Zu seinem 70. Geburtstag am 26. Februar 2002 verneigte sich das Feuilleton vor dem Mann in Schwarz, der nun endgültig zur amerikanischen Ikone geworden war. Die Stimmung der letzten Alben – auch der beiden postum erschienenen (»American V: A Hundred Highways« und »American VI: Ain’t No Grave«) – ist düster. Die Mehrzahl der Lieder kreisen um Abschied und Vergänglichkeit, Sterben und Tod. Als Geniestreich erwies sich Rubins Idee, den Trent Reznor-Song »Hurt«, der Cash auf den Leib geschrieben war – er bezeichnete ihn als »besten Anti-Drogen Song, den ich je gehört habe« –, in einer zusätzlichen Videoversion herauszubringen. Der Film Frank Decker  —  The Man in Black is Back

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war genau wie die Platte auch kommerziell ein Erfolg. Versetzt mit Erinnerungen an alte Zeiten, zeigt er einen gebrechlichen, leidenden Mann, der von seinem bevorstehenden Tod weiß. In gut drei Minuten zieht Cash hier das Resümee eines ganzen Lebens. Der Wucht der Bilder kann man sich nicht entziehen. Im Mai 2003 traf Cash der wohl schlimmste Schicksalsschlag überhaupt, als seine Frau June Carter nach einer Herzoperation ins Koma fiel und kurz darauf starb. Mit ihr war er 35 Jahre verheiratet gewesen, und ihre Beziehung war an beider Lebensende inniger denn je. Wie sollte er ohne sie weitermachen? Schon wenige Tage später ließ sich Cash von seinem Sohn erneut in die Waldhütte bringen, die ihm seit Jahren als Refugium diente und mittlerweile zu einem Aufnahmestudio ausgebaut worden war. Im Rollstuhl sitzend und fast erblindet, spielte er dort am 25. August seine letzte Aufnahme ein: »Engine 143« – einen alten Song der Carter Family. VERMÄCHTNIS Nach Cashs Tod am 12. September 2003 – er hatte June nur um vier Monate überlebt – huldigte nicht nur die Musikwelt der beeindruckenden Künstlerpersönlichkeit. Bob Dylan nannte Cash in seinem Nachruf den »größten von allen«. Sein Foto zierte das Cover des US-Nachrichtenmagazins Time. Das ZDF heute journal zeigte statt eines Berichts das berührende »Hurt«-Video. Im November 2003 brachte Rubin eine 5-CD-Box mit unveröffentlichten Titeln und Alternativversionen der American-Sessions heraus – sie waren Teil eines gewaltigen Vermächtnisses. Einen weiteren Popularitätsschub erfuhr Cash, als zwei Jahre später »Walk the Line« in die Kinos kam – die Verfilmung seiner Lebensgeschichte mit Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon in den Hauptrollen. Bemerkenswert an dem Film ist, dass er die 1970er, 1980er und 1990er Jahre ganz ausspart. Die Geschichte endet mit Cashs erstem Comeback 1968 – dem Live-Mitschnitt des Auftritts im Folsom-Gefängnis, der sich millionenfach verkaufte, seiner zumindest vorübergehend überwundenen Tablettenabhängigkeit und der bevorstehenden Heirat mit June. Ohne die American-Ära wäre ein solcher Film wohl kaum zustande gekommen oder derart erfolgreich gewesen. Doch wie würde man sich an Cash erinnern, wenn es das zweite große Comeback in den 1990er Jahren nicht gegeben hätte und seine Karriere in Branson gestrandet wäre? Die Antwort muss naturgemäß spekulativ bleiben. Der Legendenstatus war ihm bereits Anfang der 1970er Jahre sicher, als er im Zenit seines Erfolges stand und seine Karriere ihren

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kommerziellen Höhepunkt erreichte. So wie seine eigene Stimme und der »Boom Chicka Boom«-Sound der ihn begleitenden »Tennessee Three« Cashs Musik unverwechselbar machten, waren viele seiner selbstgeschriebenen Songs zu Klassikern des Genres avanciert: »I Walk the Line«, »Folsom Prison Blues«, »Big River« und »I Still Miss Someone«; dasselbe gilt für »Ring of Fire«, »Orange Blossom Special«, »Sunday Morning Coming Down«, »Jackson« und andere Fremdkompositionen, die bis heute untrennbar mit Cash verbunden sind. Dennoch wäre der Nachruhm des Man in Black vermutlich geringer ausgefallen oder schneller verblasst, wenn ihn das späte Karriereglück nicht ereilt hätte. Seine Tochter Rosanne, die die Höhen und Tiefen des Musik­ geschäfts selbst kannte, hatte zweifellos recht, als sie mit Blick auf Rick Rubin einmal meinte, zwar könne eine einzelne Person eine andere nicht retten, »aber fast«. Die American-Alben reetablierten Cash als Legende und sorgten dafür, dass seine Verkaufszahlen nach seinem Tod in die Höhe schossen. Mit »American V«, 2006 postum erschienen, schaffte er zum ersten Mal seit 1969 wieder den Sprung an die Spitze der Charts. Die »Country Music ­Association« hatte ihr schlechtes Gewissen Cash gegenüber schon vorher zu beruhigen versucht. Als sie »American IV« 2003 als beste Platte des Jahres auszeichnete, sollte er die Verleihung allerdings nicht mehr erleben. Neben Rubin und Cashs langjährigem Manager Lou Robin war es vor allem die Familie, die dafür sorgte, dass mit dem enormen Nachlass von unveröffentlichten Aufnahmen, die in den Archiven von Cashs Platten­ firmen lagerten, verantwortungs- und würdevoll umgegangen wurde. Während John Carter Cash, Cashs und June Carters 1970 geborener gemeinsamer Sohn, sorgsam über die Wieder- und Neuveröffentlichungen wachte, meldeten sich Rosanne, Cashs älteste Tochter aus seiner ersten Ehe, und ihre Schwestern öffentlich zu Wort, wann immer es galt, den Vater vor falschen Vereinnahmungen zu schützen – etwa 2017, als ein rechtsextremer Demonstrant in Charlottesville mit einem Johnny-Cash-T-Shirt posierte. Johnny Cash hatte seine eigenen Gedanken über das, was von ihm bleiben würde, kurz vor seinem Tod wie folgt zu Papier gebracht: You tell me that I must perish Like the flowers that I cherish Nothing remaining of my name Nothing remembered of my fame But the trees that I planted still are young The songs I sang will still be sung Frank Decker  —  The Man in Black is Back

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NACHLEBEN Auch zwanzig Jahre nach seinem Tod kann von Vergessenwerden bei Cash keine Rede sein. Im Gegenteil: Wie groß sein Einfluss auf die US-amerikanische und weltweite Popkultur eingeschätzt wird, lässt sich an den zahlreichen Büchern und Artikeln erkennen, die seither über ihn herausgekommen sind1 – darunter viele wissenschaftliche Werke. 2013 erschien eine 700 Seiten starke Biografie aus der Feder des bekannten Musikjournalisten Robert Hilburn, die Cashs bewegtes Leben minutiös nachzeichnet und sein künstlerisches Schaffen bilanziert. Welche Wirkung dieses Schaffen auch auf die nachwachsenden Generationen ausübt, zeigt ein Blick ins Netz: Allein in Deutschland dürfte es heute ein gutes Dutzend Tribute-Bands geben, deren Programm ausschließlich aus Cash-Songs besteht. Die Aura des Man in Black liefert Stoff für Musicals, Filme und Erzählungen, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bewusst aufheben. Und das reichhaltige Archivmaterial von Cash selbst macht es Neueinsteigern leicht, den Sänger für sich zu entdecken. In den USA wird heute an vielen Orten an Cash erinnert. Neben dem Johnny Cash Museum in der Innenstadt von Nashville ist vor allem das Haus in Dyess im Nordosten von Arkansas sehenswert, in dem J. R. Cash – so sein offizieller Geburtsname – mit seinen Eltern und sechs Geschwistern aufgewachsen ist, umgeben von Baumwollfeldern in unmittelbarer Nähe des Mississippi. Es wurde von der University of Arkansas erworben und zu einer liebevoll restaurierten Gedenkstätte hergerichtet. Begraben

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Scheitern — Porträt

1  Eine Auswahl von Büchern über Johnny Cash findet sich unter tinyurl.com/indes232j1.

Das Haus im Nordosten von Arkansas, in dem Johnny Cash aufwuchs, ist heute eine Gedenkstätte (o.). Im Washingtoner Kapitol soll eine Staue von Cash demnächst den Bundesstaat Arkansas repräsentieren (r.).

liegt Cash neben seiner Frau in Hendersonville in Tennessee, gut zehn Kilometer nördlich von Nashville. Das imposante Haus am See, das sie dort seit 1967 bewohnt hatten, brannte 2007 bis auf die Grundmauern nieder – so als ob niemand anderes dort hätte leben sollen. Eine besondere Ehre hat Cashs Heimatstaat seinem großen Sohn zuteilwerden lassen. Wie jeder der fünfzig Bundesstaaten ist Arkansas im Washingtoner Kapitol mit zwei Statuen repräsentiert. Weil die bisher Geehrten aufgrund ihrer rassistischen Vergangenheit als nicht mehr zeitgemäß gelten, möchte man sie durch würdigere Landsleute ersetzen: die Bürgerrechtlerin Daisy Bates und … Johnny Cash. Die Skulptur des Bildhauers Kevin Kresse, die der Öffentlichkeit inzwischen vorgestellt wurde, zeigt Cash in typischer Pose mit langem Mantel, Gitarre auf dem Rücken und Bibel in der rechten Hand. In Bronze gegossen, wird sie voraussichtlich ab 2024 in der US-Hauptstadt zu sehen sein. Prof. Dr. Frank Decker, geb. 1964, ist Professor für Politische Systeme am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit 2022 Herausgeber der INDES. Letzte Buchveröffentlichung: Politik in stürmischer Zeit, Bonn 2022 (zusammen mit Eckhard Jesse und Roland Sturm).

Frank Decker  —  The Man in Black is Back

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

LE PARTI, C’EST MOI DIE FRANZÖSISCHEN PARTEIEN LREM UND LFI ZWISCHEN BOTTOM-UP-ANSPRUCH UND TOP-DOWNWIRKLICHKEIT Ξ  Simon Braun

In vielen europäischen Ländern haben in den vergangenen Jahren neuge1  Vgl. Uwe Jun, Soziale Bewegungen, Parteien und Bewegungsparteien, Neue Herausforderer im Parteienwettbewerb?, in: INDES, H. 3/2019, S. 83–91. Die Partei wurde im Vorfeld der Parlamentswahl 2022 in Renaissance umbenannt. Da der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Zeitraum von 2017 bis 2022 liegt, wird im Beitrag der alte Parteiname verwendet.

2 

3  Vgl. Rémi Lefebvre, Que sont devenus les partis-mouvements? La France insoumise et La République en marche depuis 2017, in: Esprit, H. 1–2/2022, S. 167–178, hier S. 168.

gründete Bewegungsparteien die politische Bühne betreten. Akteure wie das Movimento Cinque Stelle in Italien oder Podemos in Spanien grenzen sich bereits in ihrer Selbstbezeichnung als politische Bewegung von klassischen Parteien ab und treten mit dem Anspruch an, anders zu sein als diese.1 In keinem Land haben solche Bewegungsparteien jedoch einen so durchschlagenden Erfolg gehabt wie in Frankreich. Begünstigt durch die notorische Instabilität des Parteiensystems sowie den traditionell hohen Personalisierungsgrad ist seit der Präsidentschaftswahl 2017 mit La République En Marche (LREM)2 und La France Insoumise (LFI) zwei Parteien der Durchbruch gelungen, die von ihren Gründern Emmanuel Macron bzw. Jean-Luc Mélenchon erst wenige Monate zuvor aus der Taufe gehoben worden waren. Ungeachtet ihrer immensen ideologischen Unterschiede weisen LREM und LFI mit Blick auf ihre Organisationsstruktur und Funktionsweise zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. In Abgrenzung zu traditionellen Parteistrukturen versprechen sie flache Hierarchien, basisdemokratische

4  Zur Organisationsstruktur von LREM vgl. Julien Fretel, Comment ça marche? La forme partisane du macronisme, in: Bernard Dolez u. a. (Hg.), L’entreprise Macron, Grenoble 2018, S. 189–200. Zur Funktionsweise von LFI vgl. Manuel CerveraMarzal, La France insoumise, un « mouvement » qui n’en a que le nom? Effacement symbolique et transformations pratiques de la forme partisane, in: Politix, H. 2/2022, S. 45–70.

Einflussmöglichkeiten sowie eine verstärkte Einbindung der Zivilgesellschaft. Zudem spielen digitale Plattformen eine Schlüsselrolle im Rahmen der von ihnen propagierten horizontalen Organisationsstruktur.3 Dieser Essay möchte zeigen, dass beide Parteien entgegen den Verheißungen von Hierarchieabbau und Mitgliedereinbindung de facto durch eine vertikale und stark zentralisierte Funktionsweise geprägt sind. Während sich dieser zentralistische Führungsstil im Fall von LREM auf eine detaillierte und akribisch ausgearbeitete Satzung stützt, verfügt LFI weder über formale Parteistatuten noch über eine klar identifizierbare Parteiführung.4 In der

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Praxis zeitigen diese unterschiedlichen Herangehensweisen jedoch dasselbe Ergebnis: Die Macht liegt nicht bei der jeweiligen Parteibasis, sondern in den Händen der beiden Parteigründer Macron und Mélenchon. ZWEI GEGENMODELLE ZUR PS Der Aufstieg von LREM und LFI zu dominierenden Akteuren in der französischen Parteienlandschaft ist nicht ohne den Kontext ihrer Entstehung zu verstehen. Es handelt sich um zwei Ad-hoc-Parteien, die im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2017 als politisches Vehikel für die präsidentiellen Ambitionen ihrer Sinnstifter Macron bzw. Mélenchon gegründet wurden. Beide Parteien wurden als explizites Gegenmodell zur Parti S ­ ocialiste (PS) konzipiert, deren schwerfälliger Parteiapparat als abschreckendes Beispiel diente.5 Sowohl Macron als auch Mélenchon haben eine PS-Vergangenheit und konnten die stark formalisierten Entscheidungswege, die lähmenden Richtungskämpfe zwischen rivalisierenden innerparteilichen Strömungen sowie die notorische Machtdiffusion aufgrund der starken Stellung von lokalen Parteifürsten jahrelang aus der Nähe betrachten. Beide Parteigründer haben daraus den Schluss gezogen, dass sie die Entstehung verschiedener Strömungen und regionaler Machtzentren in ihren Parteien um jeden Preis verhindern müssten. Sie haben sich deshalb auf die Fahne geschrieben, der klassischen Organisationstruktur und Funktionsweise der etablierten Parteien etwas ›Neues‹ entgegenzusetzen. Macron und Mélenchon sind der Ansicht, dass die Ära der traditionellen Parteien als Aggregator und Transmissionsriemen für die Forderungen und Erwartungen der Bevölkerung vorbei sei. Die traditionellen Parteistrukturen halten sie für verkrustet, ineffizient und aus der Zeit gefallen, ihre stark bürokratisierte Funktionsweise laufe den veränderten gesellschaftlichen Repräsentationsbedürfnissen zuwider. Im Gegenzug präsentieren sich sowohl LREM als auch LFI als moderne, zeitgemäße politische Bewegungen. Mit ihrer vermeintlich horizontalen Funktionsweise entsprächen die Parteistrukturen den gegenwärtigen Anforderungen, denen sich politische Akteure unter den Bedingungen von Digitalität und dem Wunsch nach Mitgliederbeteiligung ausgesetzt sähen. Doch wie sehen die Organisationsstrukturen dieser beiden Parteien tatsächlich aus? EINE FLUIDE MITGLIEDSCHAFT Sowohl LREM als auch LFI haben die Grenzen zwischen Parteimitgliedern und -anhänger:innen weitgehend aufgehoben. Die Hürden für einen Eintritt in die Partei sind äußerst niedrig, er erfolgt unmittelbar und

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Perspektiven — Analyse

5  Vgl. Rémi Lefebvre, Vers une dé-démocratisation partisane? Une approche comparée de la France insoumise et de la République en Marche, in: Politique et Sociétés, H. 2/2022, S. 179–205, hier S. 185.

kostenlos mittels weniger Mausklicks über das Internet.6 Mitgliedsbeiträge und formalisierte Antragsverfahren gehören der Vergangenheit an. Dieses flexible, schnelle und virtuelle Engagement entspricht den digitalen Gewohnheiten vieler Internetnutzer:innen und spielte eine Schlüsselrolle bei dem rasanten Mitgliederwachstum beider Parteien. Wenige Monate nach ihrer Gründung verfügten LREM und LFI nach eigenen Angaben jeweils über mehrere hunderttausend Mitglieder, wodurch sie nicht nur ihrem postulierten Charakter als bürgernaher gesellschaftlicher Bewegung Glaubwürdigkeit zu verleihen, sondern auch eine starke politische Dynamik im Wahlkampf zu erzeugen vermochten.7 Schließlich konnten Macron und Mélenchon auf die in Rekordzeit wachsenden Mitgliederzahlen verweisen, um ihre Verankerung in der Gesellschaft zu demonstrieren und ihren persönlichen Entscheidungen für die Präsidentschaftskandidaturen einen kollektiven Anstrich zu geben. Die Kehrseite dieser flexiblen und niedrigschwelligen Mitgliedschaft sind die lockeren Bindungen zwischen Mitgliedern und Parteien. Die Mitgliederbasis ist hochgradig unbeständig, ihr Engagement in der Partei äußerst wechselhaft. Während vor allem zu Wahlkampfzeiten vergleichsweise viele Mitglieder aktiv werden und sich an Parteiaktivitäten beteiligen, geht das Engagement jenseits dieser Mobilisierungsphasen wieder deutlich zurück.8 Zudem sind die offiziellen Mitgliedszahlen der beiden Parteien mit Vorsicht zu genießen: Zwar ist der Eintritt um Einiges leichter als bei traditionellen Parteien, die Hürden eines Austritts hingegen sind deutlich höher angesetzt – hierfür bedarf es, ganz analog, des schriftlichen Einschreibens per Post. Der Anteil von Karteileichen dürfte also in beiden Parteien recht hoch sein. 6  Die kostenlose Mitgliedschaft führt dazu, dass beide Parteien weitestgehend von öffentlichen Geldern abhängig sind, die mehr als achtzig Prozent ihrer finanziellen Ressourcen ausmachen. LFI verfügte nach eigenen Angaben im Mai 2017 über 500.000 Mitglieder, LREM im Juli 2017 über 370.000 Mitglieder. 7 

8  Vgl. Bruno Cautrès u. a., La République En Marche. Anatomie d’un mouvement, Paris 2018, S. 137.

DIE PARTEIBASIS – AUTONOM, ABER MACHTLOS Die lokalen Ortsgruppen dienen als Aushängeschilder für die vermeintliche gesellschaftliche Verankerung der Parteien und verfügen auf dem Papier über große Autonomie. Im Sinne flacher Hierarchien können sie sich ohne Genehmigung durch die Parteispitze selbst gründen und sind in der Gestaltung ihrer lokalen Aktivitäten vollständig frei. Diese vermeintliche Autonomie der Basis wird von der Parteiführung regelmäßig als Beleg für die Horizontalität der Bewegungen angeführt. In der Praxis sind die Ortsgruppen allerdings weitgehend machtlos. Zum einen verfügen sie über keine eigenen finanziellen Mittel, die sich stattdessen in der Parteizentrale konzentrieren und überwiegend für nationale Aktivitäten und Veranstaltungen eingesetzt werden. Ihre Simon Braun  —  Le parti, c’est moi

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geringe finanzielle Ausstattung legt nahe, dass die Parteispitze kaum Interesse an der He­rausbildung von schlagkräftigen lokalen Organisationen hat beziehungsweise diesen keine Priorität in ihrer politischen Strategie einräumt, die sich vielmehr auf das Erringen von Regierungsmacht auf nationaler Ebene beschränkt. Zum anderen haben die Ortsgruppen keinen Einfluss auf die Kandidatenaufstellung, die sowohl bei lokalen als auch bei nationalen Wahlen durch zentral gesteuerte Parteikommissionen erfolgt. Beide Parteien kennen keine intermediären Strukturen wie Bezirks-, Regional- oder Landesverbände. Dieser Verzicht auf regionale oder departementale Parteiebenen soll die Entstehung lokaler Machtzentren verhindern, schließlich wurden solche gegenüber dem nationalen Parteisitz weitgehend unabhängigen und von bestens vernetzten Führungspersönlichkeiten dominierten »Baronien« als eine der Hauptursachen für die Lähmung der PS identifiziert.9 In Ermangelung intermediärer Strukturen ist es daher den einzelnen Ortsgruppen kaum möglich, sich untereinander zu koordinieren und ein effektives Gegengewicht zur nationalen Parteispitze zu bilden. Sie sind daher lediglich als tatkräftige Unterstützung zu Wahlkampfzeiten willkommen, ein reges Parteileben auf lokaler Ebene ist indes nicht erwünscht.« DIGITALE INSTRUMENTE ALS DEMOKRATISCHES FEIGENBLATT In beiden Parteien spielen digitale Plattformen eine Schlüsselrolle bei der Organisation und Mobilisierung der Anhänger:innen. Im Unterschied zu klassischen Parteien, die ihre Strukturen sukzessive an die gewandelten Herausforderungen im Zuge der Digitalisierung anpassen mussten, bildeten digitale Instrumente bei LREM und LFI von Beginn an ein zentrales Element ihrer Parteiorganisation. Die digitalen Plattformen werden von den Parteien als entscheidende Instrumente zur Überwindung der vermeintlich verkrusteten Strukturen etablierter Parteien angepriesen. Sie dienen nicht nur der Rekrutierung, sondern auch der Mobilisierung und Beteiligung von Mitgliedern. Beide Parteien verfügen über eigens für sie entworfene Entscheidungstools, welche die Partizipation der Mitglieder via Online-Abstimmungen, Konsultationen und Diskussionen ermöglichen sollen. Entgegen den Verheißungen umfassender digitaler Beteiligungsmöglichkeiten beschränkt sich die Rolle der Parteibasis in der Realität jedoch vor allem darauf, die jeweiligen Vorschläge der Parteiführung abzunicken. Die äußerst hohen Zustimmungsquoten (bei gleichzeitig sehr geringer Beteiligung) bei Online-Abstimmungen der Parteibasis legen nahe, dass

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Perspektiven — Analyse

9  Vgl. Rémi Lefebvre, Vers un nouveau modèle partisan? Entre déclassement des partis de gouvernement et avènement des partis-mouvements, in: Cahiers de la Recherche sur les Droits Fondamentaux, H. 16/2018, S. 21–30, hier S. 27.

diese weniger tatsächliche Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Alternativen abbilden, sondern vielmehr als bestätigendes Instrument fungieren. Was also auf den ersten Blick nach effektiven Einflusskanälen für die Parteibasis aussieht, »entpuppt sich nicht selten als Lenkung der Aktivitäten zugunsten der Führung.«10 Zudem sind die Abstimmungen so angelegt, dass die vorgelegten Entwürfe nur in ihrer Gesamtheit gebilligt oder abgelehnt werden können. Eine Möglichkeit, Änderungsanträge oder alternative Vorschläge einzubringen, gibt es hingegen nicht. In der Realität handelt es sich daher eher um eine reaktive denn um die versprochene partizipative Demokratie.11 MANGELNDE INNERPARTEILICHE DEMOKRATIE Die Strukturen beider Parteien sind von Skepsis gegenüber parteiinternen Wahlen zur Besetzung von Parteiämtern geprägt, stattdessen dominieren informelle Formen der Designation wie Kooptationen oder Akklamationen. So gibt es beispielsweise weder Urwahlen noch Mitgliederentscheide, »die 10 

Jun, S. 90.

11  Vgl. Marco Guglielmo, Anti-party Digital Parties Between Direct and Reactive Democracy. The Case of La France Insoumise, in: Oscar Barberà u. a. (Hg.), Digital Parties. The Challenges of Online Organisation and Participation, London 2021, S. 127–148. 12  Teresa Nentwig, Von hehren Zielen und enttäuschten Hoffnungen. Die französische Bewegungspartei La République en Marche, in: Sebastian Bukow u. a. (Hg.), Parteien in Bewegung, Baden-Baden 2021, S. 133–144, hier S. 136.

in einem partizipativ angelegten Parteimodell eigentlich eine wichtige Rolle spielen«.12 Die Legitimität der nationalen und departementalen Instanzen beruht folglich nicht auf der direkten oder indirekten Wahl durch die Parteibasis, sondern auf ihrer Nähe zu den ideellen Parteiführern ­Macron und Mélenchon. Obgleich die Parteien ihr Misstrauen gegenüber klassischen Wahlverfahren mit der bekannten Sorge vor einer zu starken Bürokratisierung der Parteistrukturen begründen, trägt dieser Mangel an formaler Demokratie zur Machtakkumulation an der Parteispitze bei, die dem Versprechen von Hierarchieabbau und innerparteilicher Partizipation fundamental widerspricht. Sinnbildlich für die mangelnde Einbindung der Parteibasis steht die Tatsache, dass die Mitglieder nach dem formalen Rückzug der Parteigründer keinen Einfluss auf die Auswahl der neuen Parteiführung hatten. Stattdessen konnten Macron und Mélenchon praktisch allein über ihre Nachfolge bestimmen. Zwar ging die neue Parteispitze von LREM

13  Vgl. Christophe Bouillaud, Entre »parti personnel« et »parti-­ entreprise«. La République au prisme du corporatisme, in: Thomas Frinault u. a. (Hg.), Nouvelle sociologie politique de la France, Paris 2021, S. 97–110, hier S. 105. 14  Zit. nach Pierre Jacquemain, LFI fâchée avec la démocratie, in: Politis, 12.12.2022, tinyurl.com/indes232k1.

aus Wahlen hervor, allerdings gab es de facto keine ernstzunehmenden Gegenkandidaturen, die Macrons Favoriten hätten gefährlich werden können.13 Im Fall von LFI fand nicht einmal eine förmliche Wahl statt; ­Mélenchon designierte die jeweiligen Parteivorsitzenden kurzerhand selbst. Angesprochen auf diesen intransparenten Bestellungsmechanismus erklärte der Ende 2021 von Mélenchon inthronisierte neue LFI-Parteivorsitzende Manuel Bompard, Wahlen seien nicht zwangsläufig »das Alpha und Omega der Demokratie«.14 Simon Braun  —  Le parti, c’est moi

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ZUNEHMENDE ERNÜCHTERUNG AN DER PARTEIBASIS Angesichts des beschriebenen Mangels an innerparteilicher Demokratie und einer wirklichen Debattenkultur wird die Kritik an der vertikalen Funktionsweise der beiden Parteien immer lauter. Diese Frustration spiegelt sich vor allem in vermehrten Parteiaustritten wider, die gerne von öffentlichkeitswirksamen Klagen über die internen Demokratiedefizite begleitet werden. Zum einen herrscht große Enttäuschung darüber, dass ausgerechnet zwei Parteien, die mit dem Versprechen von Hierarchie­abbau und mehr Partizipation angetreten waren, in puncto Machtkonzentration sogar die ursprünglich als Gegenmodell herangezogenen etablierten Parteiorganisationen in den Schatten stellen. Zum anderen fällt die Kritik an der fehlenden innerparteilichen Demokratie und Debattenkultur insofern besonders vehement aus, als die überdurchschnittlich gebildete Mitgliedschaft beider Parteien besonders debattierfreudig ist.15 Erschwerend kommt hinzu, dass es für unzufriedene Mitglieder keine internen Diskussionsräume gibt, in denen sie sich kritisch mit den Entscheidungen der Parteiführung auseinandersetzen könnten. Von den drei klassischen Handlungsoptionen unzufriedener Organisationsmitglieder – Artikulation ihres Unmuts (voice), Austritt (exit) sowie schweigendes Abfinden (loyalty)16 – sind verdrossene Parteimitglieder von LREM und LFI also auf die beiden letzteren beschränkt. PARTIZIPATIVER AUTORITARISMUS STATT BASISDEMOKRATIE Zwar sind beide Parteien auf dem Papier als »digitale Agora«17 konzipiert, auf der die Parteibasis untereinander diskutieren, Argumente austauschen kann und regelmäßig zu politischen Fragen konsultiert wird. In der Realität verfügen die Mitglieder allerdings über keine wirklichen Einflussmöglichkeiten. Sowohl programmatische als auch personelle Entscheidungen sind dem Einflussbereich der Parteibasis entzogen und werden stattdessen in intransparenten Prozessen von einem kleinen Kreis getroffen. Entsprechend dienen die vorgeblichen basisdemokratischen Be-

15  Vgl. Cautrès u. a., S. 167; vgl. Lefebvre, Que sont devenus les partis-mouvements?, S. 173.

teiligungsmöglichkeiten nur als demokratisches Feigenblatt, um die tatsächliche Machtvertikalität und stark zentralisierte Organisationsstruktur zu überdecken. Entgegen ihrem Versprechen von Hierarchieabbau und Partizipation herrscht somit in beiden Parteien de facto eine Form des »partizipativen Autoritarismus«18. Obwohl LREM und LFI mit ihren formal horizontalen Organisationsstrukturen und digitalen Partizipationsmöglichkeiten Überschneidungen mit den beiden Parteientypen der Bewegungspartei sowie der digital

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Perspektiven — Analyse

16  Vgl. Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge 1970. 17  Lefebvre, Vers une dé-démocratisation partisane?, S. 198. 18 

Ebd., S. 183.

party19 aufweisen, kommen sie in der Gesamtschau dem Idealtypus einer person­­al party20 am nächsten. Primär dienen sie als persönliches Vehikel für die politischen Ambitionen ihrer Gründer, sodass ihre Lebensdauer an die politische Lebensdauer ihrer Parteiführer gebunden scheint. Spätestens die französischen Präsidentschaftswahlen 2027 werden zeigen, ob und in welcher Form die beiden Parteien ihre jeweiligen Gründer doch noch politisch überleben werden. Während Macron verfassungsgemäß 19  Vgl. Paolo Gerbaudo, The Digital Party: Political Organisation and Online Democracy, London 2018. 20  Vgl. Glenn Kefford & Duncan McDonnell, Inside the personal party. Leader-owners, light organizations and limited lifespans, in: The British Journal of Politics and International Relations, H. 2/2018, S. 379–394.

ohnehin nicht mehr antreten darf, scheint auch Mélenchon nicht für eine erneute Kandidatur zur Verfügung zu stehen. Vor diesem Hintergrund wird es äußerst spannend sein, die künftige Entwicklung beider Parteien zu beobachten. Werden Diadochenkämpfe zwischen rivalisierenden Führungspersönlichkeiten ausbrechen und die Parteien in ihre Einzelteile zerfallen? Oder vermag ein:e Nachfolger:in die jeweilige Partei hinter sich zu versammeln, sie vom Sinnstifter zu emanzipieren und in eine dauerhafte politische Kraft zu transformieren?

Simon Braun ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der vergleichenden Analyse des französischen Parteien- und Regierungssystems.

Simon Braun  —  Le parti, c’est moi

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KOMMENTAR

ÜBER DEN LOKALEN ­TELLERRAND HINAUS EINE KRITISCHE HANDLUNGSANWEISUNG ZUM DREISSIGJÄHRIGEN BESTEHEN DER TAFEL DEUTSCHLAND E. V. Ξ  Maximilian Blaeser

Der Sozialverband Tafel Deutschland feiert im Jahr 2023 das dreißigjährige Jubiläum der Berliner Tafel und damit die Initialzündung der Tafelbewegung in Deutschland. Gleichzeitig haben die Tafeln aktuell mit immensen Herausforderungen zu kämpfen: Während die Nachfrage an ihr Leistungsangebot durch Inflation und Geflüchtete aus der Ukraine deutlich ansteigt, werden Lebensmittelspenden knapper und die durch die Tafeln ausgegebenen Portionen kleiner. Es sind stürmische Zeiten für die Tafeln in der Bundesrepublik1 und es stellt sich die Frage, wie die Tafeln den aktuellen Herausforderungen begegnen. WIE FUNKTIONIEREN DIE TAFELN EIGENTLICH UND WAS SAGT DIE FORSCHUNG? Grundsätzlich ist die Arbeit der Tafeln eine Art Paradoxon. Generationen wuchsen in der Bundesrepublik mit dem Credo auf, dass hier niemand hungern müsse. Hunger, das war ein Problem der Nachkriegszeit und gilt

1  Vgl. o. V., Die Tafeln in aktuellen Zahlen. Sommer 2022. Tafel Deutschland, tinyurl.com/indes232 m1. 2  Vgl. Sabine Pfeiffer, Die verdrängte Realität. Ernährungsarmut in Deutschland. Hunger in der Überflussgesellschaft, München 2014.

spätestens seit der Umsetzung des Erhard’schen Wohlstandsversprechens als obsolet. Längst zählt das auswärtige Essen – früher eine Besonderheit zu Anlässen wie etwa Einschulungen oder runden Geburtstagen – zum Alltag.2 Ein ehemaliger Bundesminister postulierte gar, dass in Deutschland auch dann niemand verhungern würde, wenn es die Tafeln nicht gäbe.3 Und doch gibt es die Tafeln, und ihre Kund:innenzahlen steigen beständig. Nähert man sich den Tafeln auf einer wissenschaftlichen Ebene, erweist sich diese atypische Organisation als ein schwer zugänglicher Forschungsgegenstand, der bislang nur rudimentär behandelt worden ist.

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3  C. Sieben, Auch ohne Tafeln muss niemand in Deutschland hungern, in: Rheinische Post, 10.03.2018, tinyurl.com/indes232 m2. 4  Stefan Selke, Grenzen der Zivilgesellschaft. Die Tafelbewegung in Deutschland, in: POLIS. Report der Deutschen Vereinigung für politische Bildung, H. 1/2011, S. 15–17, hier S. 16.

Unter dem Terminus Tafel wird ein System zusammengefasst, welches 5  Etwa 51 % der lokalen Tafeln sind in Trägerschaft einer anderen Organisation, etwa eines etablierten Wohlfahrtsverbandes. Vgl. Jochen Brühl, Die Tafeln – eine der größten sozioökonomischen Bewegungen unserer Zeit, in: Christoph Willers (Hg.), CSR und Lebensmittelwirtschaft. Nachhaltiges Wirtschaften entlang der Food Value Chain, Berlin & Heidelberg 2016, S. 57–68, hier S. 59. 6  Vgl. Brühl, S. 61.

im Hinblick »auf Trägerschaft Organisation, Angebot und Bezahlsystem […]«4 äußerst divers ist.5 Die eine Tafel existiert nicht.6 Bestehende Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Tafel im Kontext von Ernährungsarmut oder des sich verändernden Sozialstaats, auf die Tafelnutzenden oder das generelle System der Elementargüterunterstützung. Der Fokus liegt dabei auf den lokalen Tafeln. Eine Betrachtung der übergeordneten Verbandsebenen oder eine Analyse ihres Selbstverständnisses gibt es bislang nicht. Das Innenleben der Tafel bleibt eine wenig erforschte Blackbox.7 Und trotzdem spart die Forschung nicht mit Kritik an den Tafeln. Der Name allein suggeriere etwas, was unmöglich sei: eine üppig gedeckte

7  Der Begriff Blackbox findet in verschiedenen (politik)wissenschaftlichen Disziplinen Verwendung. Prägend ist vor allem der Theoretiker David Easton. Easton ging davon aus, dass die politischen Prozesse von Regierungsentscheidungen nicht einsehbar seien. Man könne daher nur das Ergebnis politischen Handelns sehen, nicht aber dessen Zustandekommen nachvollziehen. Entsprechend sei die Umsetzung von politischem Input in Output eine Blackbox, eine nicht einsehbare Kiste. Im politischen Realismus, besonders bei Kenneth Waltz, wird dieses Prinzip auf Staaten übertragen. Diese werden als monolithische Blöcke betrachtet, deren Innenleben keinerlei Einfluss auf die Außenpolitik hat. Vgl. hierzu Andrea Jacobs, Realismus, in: Siegfried Schieder & Manuela Spindler (Hg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, Stuttgart 2010, S. 39–64.

Tafel für die Bedürftigen der Republik. Vielmehr stünden die Tafeln für ein volatiles Hilfsangebot, auf das man sich nicht verlassen könne. Die Tafeln und ihre Ehrenamtlichen würden zwar aus ehrenwerten Motiven handeln, durch ihre Arbeit jedoch zu einer Deprofessionalisierung des Sozialsystems beitragen und Sozialhilfe zunehmend ins Ehrenamt verlagern. Die Tafeln agierten in einem hart umkämpfen Spendenmarkt als soziale Unternehmen, die Armut eher verwalteten als aktiv bekämpften. Indirekt würden die Tafeln, so die Kritiker:innen, damit Armut verfestigen und letztendlich den politischen Aufschrei der Armen unterdrücken, sie stattdessen Schlange für Almosen stehen lassen. Kurz: Tafeln nähmen den Staat aus der Verantwortung. Hieraus leiten die Tafelkritiker:innen eine Verpflichtung zum politischen Engagement ab. Die Tafel müsse den Finger in die Wunde legen und als Anwältin ihrer Klientel und Mahnerin gegenüber der Politik letztlich an der eigenen Auflösung arbeiten.8 Die vorgebrachte Kritik ist häufig systemischer Natur und an die gesamte Tafelbewegung adressiert. Die bisherigen Analysen konzentrierten sich jedoch auf Fallbeispiele und untersuchen die Arbeit ausgewählter Tafeln. Um eine kritische Handlungsanleitung für die Tafeln in Zeiten multipler Herausforderungen ableiten zu können, gilt es also, sowohl

8  Vgl. hierzu exemplarisch Stefan Selke, Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird, Münster 2009. 9  Vgl. Blaeser, Maximilian, Zwischen Lebensmittelrettung und politischer Repräsentation. Eine Organisationsanalyse der Tafel Deutschland e. V. , Wiesbaden 2023.

die besagte Blackbox, das Innenleben der Tafel Deutschland, näher auszuleuchten als auch die Verbandsebene in den Blick zu nehmen. Genau das habe ich im Rahmen meiner Dissertation probiert und versucht, die besagte Blackbox aufzubrechen versucht. Hierzu habe ich die Geschichte der Tafelbewegung, interne Diskurse sowie die Organisationsstruktur und Kommunikations- und Entscheidungsprozesse der Tafel Deutschland zwischen 2017 und 2019 erarbeitet. Die Ergebnisse meiner Arbeit bilden die Grundlage für den nachfolgenden Artikel.9 Maximilian Blaeser  —  Über den lokalen ­Tellerrand hinaus

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EINE KURZE GESCHICHTE DER TAFELN IN DEUTSCHLAND Hierzu lohnt einleitend die Retrospektive. Im Vergleich zu etablierten Wohlfahrtsverbänden, die bis in die Ära Bismarck zurückreichen, sind die Tafeln noch jung: 1993 gründet sich in Berlin die erste Tafel in Deutschland. Nach US-amerikanischem Vorbild beginnt ein Kreis Berliner Frauen, einwandfreie, jedoch aus der Wertschöpfungskette aussortierte Lebensmittel einzusammeln und an Obdachloseneinrichtungen zu verteilen. Mit dem Privat-PKW fährt der Kreis um Sabine Werth gespendete Lebensmittel durch das Berlin der Nachwendejahre. Dies ist die Geburtsstunde der Tafelbewegung in Deutschland. Bereits zwei Jahre später (1995) gründet sich der Dachverband Tafel Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt existieren hierzulande rund 35 Tafeln. Insbesondere die Pläne der Agenda 2010 und die Einführung von »Hartz IV« bedingen eine rasante Ausbreitung der Tafeln.10 Heute sind die Tafeln ein bundesweit agierender, föderal organisierter sowie in nationale und europäische Netzwerke eingebetteter Verband. Über 960 Tafeln unterstützen mit einem bundesweiten Netz aus über 2.000 Ausgabestellen fast zwei Millionen von Armut betroffene Menschen.11 Im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs wird ihnen oftmals ein symbolischer Charakter zugesprochen: Die Schlangen vor ihren Ausgabestellen verkörpern demnach Armut und den sich zurückziehenden Sozialstaat. Der atypische Charakter der Tafel ergibt sich durch die lokale Basis, die Tafeln vor Ort. Sie sind zum Teil eng mit den existierenden Wohl-

10  Vgl. hierzu exemplarisch Timo Sedelmeier, Armut und Ernährung in Deutschland. Eine Untersuchung zur Rolle und Wirksamkeit der Tafeln bei der Lebensmittelausgabe an Bedürftige, Berlin 2011.

fahrtsverbänden verwoben, die die Trägerschaft übernehmen. Gemeinsamer Nenner sind das Leitbild und die Tafel-Grundsätze.12 Wie diese in der Praxis umgesetzt werden, differiert jedoch stark. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf Organisation, Leistungsangebot, Ressourcen oder Professionalität. Weder die Lebensmittelausgabe noch das Angebot oder die Bezahlungsmodalitäten sind einheitlich geregelt. Den organisatorischen Mittel- und Überbau bilden die Landesverbände und der Dachverband.13 Die Bundesebene charakterisiert sich selbst als Serviceorganisation14 sowie Dienstleisterin für die Mitgliedstafeln und Landesverbände. Sie fungiert als oberste Repräsentantin der Tafeln in Deutschland, organisiert sowie koordiniert Großspenden und kümmert sich um Bildungsund Vernetzungsarbeit. Im Kern haben die Landesverbände ähnliche Aufgaben. In der Praxis kommen jedoch sehr unterschiedliche Felder hinzu, beispielsweise Bildungsarbeit, Ehrenamtsakquise oder auch die politische und mediale Repräsentanz. Die Landesverbände sind somit ebenso vielgestaltig wie die Basis, die sie vertreten. Während einige vor allem eine

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Perspektiven — Kommentar

11  Vgl. hierzu Tafel Deutschland (o. D.), Zahlen und Fakten. Tafel Deutschland, tinyurl.com/indes232 m3. 12  Diese schreiben unter anderem den ehrenamtlichen Fokus der Tafelarbeit, die Konzentration auf die Lebensmittelrettung, die politische und konfessionelle Unabhängigkeit sowie die grundsätzliche Offenheit gegenüber jedem Menschen fest. Vgl. Brühl, S. 61. 13  Vgl. Sabine Werth, Die Tafeln in Deutschland, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 2/1998, S. 68–74, hier S. 68. 14 

Vgl. Blaeser, S. 129.

repräsentative Funktion übernehmen und sich auf die Vertretung ihrer Mitgliedstafeln konzentrieren, sind andere wie der Dachverband mit einer Geschäftsstelle ausgestattet und vertreten ihre Tafeln gegenüber Politik und Gesellschaft.15 EIN BLICK IN DIE BLACKBOX Im Inneren ist die Tafel ein durchaus diskussionsfreudiger Verband. Formal folgt die verbandsinterne Kommunikation einem Bottom-up-System: Die Impulse zur strategischen Ausrichtung kommen von der Tafelbasis und im Zentrum des tafelinternen Kommunikationsapparats stehen entsprechende Austauschformate wie Konferenzen, Arbeitskreise, Newsletter oder Umfragen. In der Praxis zeigt sich, dass alle Schritte der Organisationsentwicklung heftig diskutiert werden. Insbesondere die Organisation der lokalen Tafelarbeit (Darf Spendengeld für das Hauptamt verwendet werden? Wie werden die Bedürftigen an den Kosten beteiligt?) ist Streitgegenstand. In der jüngeren Vergangenheit wurden vor allem die Professionalisierungsbestrebungen sowie die Ausdifferenzierung der Tafelarbeit diskutiert, etwa die Etablierung der Tafel-Akademie oder die Erneuerung des markenrechtlichen Schutzes des Begriffs »Tafel«. Ebenfalls wurde lange debattiert, ob und wie man sich als Verband politisch positioniert. Beim Versuch, die Blackbox Tafel Deutschland zu öffnen, ist es hilfreich, die organisationsinternen Strömungen zu identifizieren. Dabei zeigt sich, dass sich die Tafel in zwei Flügel teilen lässt: Purist:innen und Progressive. Als sogenannte Purist:innen lässt sich eine Gruppe innerhalb der Tafelbewegung charakterisieren, die den Fokus auf die klassische Lebensmittelweitergabe legt und allen anderen Aktivitäten ablehnend gegenübersteht. Einer zu starken Ausdifferenzierung der Tafelarbeit, etwa in Beratungsund zusätzliche Warenangebote (z. B. Kleidung), oder einem überregionalen Engagement im Sinne einer überregionalen Verbandsarbeit stehen die Purist:innen kritisch gegenüber. Auch eine Professionalisierung der Tafelarbeit über hauptamtliches Personal oder Aufwandsentschädigungen für Vorstandsmitglieder sehen sie skeptisch. Für die Purist:innen findet Tafelarbeit vor Ort statt, ist auf Lebensmittel konzentriert und sämtliche Spendenmittel sind ausschließlich für diese klassische Tafelarbeit zu verwenden. Für sie ist die Tafelarbeit vor allem ein karitatives Ehrenamt und sie fühlen sich weniger zu politischem Engagement berufen. Ihnen gegenüber steht der Flügel der Progressiven. Sie verbinden das 15  Vgl. Tafel Deutschland (o. D.), Struktur. Tafel Deutschland, tinyurl.com/indes232 m4.

Ehrenamt mit einer politischen Komponente und versuchen, über ein politisches Engagement aktiv gegen Armut vorzugehen. Man versteht Maximilian Blaeser  —  Über den lokalen ­Tellerrand hinaus

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sich als überregionale Organisation mit der Verpflichtung, auf Veränderungen hinzuweisen. Die Progressiven befürworten eine Angebotsdifferenzierung, die Professionalisierung der klassischen Tafelarbeit und die Förderung des Hauptamtes. Ein einheitliches Corporate Design gehört für sie ebenso zur Tafelarbeit wie funktionierende Social-Media-Arbeit und professionelles hauptamtliches Personal, dass das Ehrenamt entlastet und unterstützt. Sie suchen die Nähe zur Politik, arbeiten an Allianzen mit anderen Organisationen und setzen sich für eine staatliche Förderung der Tafeln ein. Ihnen genügt es nicht, überschüssige Lebensmittel einzusammeln und an Bedürftige weiterzugeben. Ein Beispiel: Während Purist:innen überschüssige Lebensmittel regional einsammeln und verteilen, versuchen Progressive, (überregionale) Allianzen zur Lebensmittelrettung zu bilden, und werben für Lebensmittelkunde an Schulen. Hieß es früher, dass die Tafeln vornehmlich daran arbeiteten, sich selbst abzuschaffen, bekunden heute zunehmend mehr Funktionär:innen, dass dieses Ziel unrealistisch sei. Weil sie noch längerfristig gebraucht werden, benötigen sie allerdings staatliche Unterstützung, um ihre Arbeit aufrechterhalten zu können. Immer regelmäßiger positioniert sich der Dachverband daher mit politischen Forderungen. Damit gewinnen die Progressiven in der Frage der Politisierung zunehmend an Boden und es scheint eine Art Zeitenwende einzusetzen. Dabei ist die Diskussion, wie politisch aktiv die Tafel ist bzw. sein will und wie sie ihre Beziehung zur Politik gestaltet, wahrscheinlich so alt wie die Tafelbewegung selbst. Einem Statement der Gründerin der Berliner Tafel und des Dachverbandes Tafel Deutschland, Sabine Werth, aus den Anfangsjahren der Tafelbewegung in Deutschland zufolge unterschieden sich die Tafeln deutlich von etablierten Wohlfahrtsverbänden, da Letztere eng mit politischen Institutionen kooperierten.16 Zwar sei auch die Tafel trotz verbandlicher Partei- und Konfessionsneutralität politisch und weise durch ihr Handeln auf gesellschaftliche Missstände hin.17 Jedoch verzichte sie – im Gegensatz zu den etablierten Wohlfahrtsverbänden – auf finanzielle politische Unterstützung, da die Annahme von Fördergeldern, so Werth, eine Abhängigkeit von politischen Institutionen bedeuten würde. Dieses einstige verbandliche Credo ist mittlerweile der beständigen Forderung nach einer staatlichen Förderung gewichen und die Tafel wendet sich viel stärker zur Politik hin. Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit finden sich zahlreiche Beispiele für Begegnungen zwischen Funktionär:innen der Tafel und Politiker:innen verschiedenster parteilicher Couleur. Der Dachverband stellt

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Perspektiven — Kommentar

16 

Vgl. Werth.

17 

Vgl. ebd., S. 72.

Sachverständige für Ausschüsse des Deutschen Bundestages und in Talkshows fordern Tafelehrenamtliche finanzielle Unterstützung durch staatliche Institutionen. Die Tafel beansprucht zunehmend, Multiplikatorin zu sein. Man versteht sich als Sprachrohr für die eigene Klientel und als Expertin für die Themen Armut und Lebensmittelverschwendung. Mittlerweile verfügen die Tafeln auch schlichtweg über eine politisch relevante Masse. Wie etabliert sie sind, lässt sich ganz plastisch zeigen: in Deutschland gibt es mehr Ausgabestellen der Tafel als Filialen der scheinbar omnipräsenten Ketten McDonald’s und BurgerKing zusammen. Die tagtägliche Arbeit der Tafeln, die rund zwei Millionen Kund:innen und die über 2.000 Ausgabestellen sind somit ein manifester Beleg für Armut in Deutschland. HÜRDEN FÜR EIN STRATEGISCHES POLITISCHES ENGAGEMENT Trotz des Selbstverständnisses der Tafel als Multiplikatorin scheint sie noch nicht im Zentrum der politischen Arena angekommen zu sein. Spricht man mit Tafelfunktionär:innen18, benennen diese organisationsinterne Hürden, welche eine politische Tafelarbeit einschränken oder sogar behindern. Zwar sehe man die grundlegende Notwendigkeit, sich zu politisieren und sich »einzumischen«, die verhältnismäßig junge Ehrenamtsinitiative sei sich jedoch noch unklar über das »Wie«. Wie soll man sich gegenüber der politischen Sphäre positionieren? Wie genau lauten die politischen Standpunkte der Tafel? Wie engagieren sich die unterschiedlichen Verbandsebenen? Und wie erhält man überhaupt Zugang zur Politik? Diese organisationsintere Uneinigkeit gilt auch im Hinblick auf die eigenen Fähigkeiten als politische Akteurin. Zwar sind sich insbesondere die hauptamtlich Beschäftigten der eigenen Ressourcen und Kompetenzen bewusst, im Kontext der Gespräche zeichnet sich jedoch immer wieder Unsicherheit ab, ob man selbst zu einem politischen Lobbying fähig sei. Insbesondere die Funktionär:innen der Bundesebene verweisen in diesem Kontext gerne auf den Paritätischen Gesamtverband, in dem die Landesverbände sowie der Dachverband der Tafeln Mitglieder sind. Auch mangele es an personellen Ressourcen; beispielweise verfügen die Landesverbände quasi über keine oder nur sehr kleine Geschäftsstellen; selten existiere hauptamtliches Personal, man sei in der Regel »nur« ehrenamtlich aktiv. So könne man nur eingeschränkt wirken. 18  Im Rahmen meiner Dissertation habe ich 15 Expert:inneninterviews mit leitenden Funktionär:innen der Tafelbewegung auf Bundes- und Landesebene geführt.

Im Verlauf meiner Gespräche mit Tafelfunktionär:innen kommen insbesondere die Landesvorstände immer wieder auf die Klientel der Tafelbewegung zu sprechen. Die Funktionär:innen sind weitestgehend über die Arbeiten prominenter Tafelkritiker:innen im Bilde und wissen von deren Maximilian Blaeser  —  Über den lokalen ­Tellerrand hinaus

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Forderungen, die Tafeln zu schließen und die Klientel so zu politischem Handeln zu bewegen. Einige Protestformen, wie beispielsweise ein Streik, sind jedoch für die Tafeln nicht einfach umsetzbar. Hier sehen die Interviewpartner:innen zweierlei Schwierigkeiten. Zum einen gefährde man die Beziehung zu Kooperationspartnern und zum anderen könne man die Klientel schlecht »von außen« zu einem solchen Handeln drängen. So erklärt beispielsweise eine Funktionärin: »Wenn wir dichtmachen oder wenn wir zum Beispiel nicht mehr nach REAL fahren, dann sagt der: ›Ja, dann braucht ihr uns ja nicht mehr.‹ […] Und wir sind keine politische Partei, dass wir eben unsere Menschen politisch auf den Weg bringen. Also wir können mit denen diskutieren. Aber politisches Handeln haben wir bisher noch nicht auf dem Plan. Also so weit sind wir noch nicht.« Eine weitere Hürde, welche eine politische Arbeit der Tafeln einschränkt, ist die gefühlte soziale Verantwortung gegenüber ihrer Klientel. Die befragten Haupt- und Ehrenamtlichen der Tafel beschreiben ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite gelte es, sich auf einem konkurrierenden Spendenmarkt zu behaupten und die rund zwei Millionen Kund:innen zu versorgen; auf der anderen Seite müsse die Tafel den Anforderungen des politischen Betriebes gerecht werden und die verschiedenen organisationsinternen Meinungen einen. ÜBER DEN LOKALEN TELLERRAND HINAUS Diese Hürden sind kaum von der Hand zu weisen. Der Spendenmarkt ist tatsächlich hart umkämpft, die Tafeln tragen eine immer größere Verantwortung und befinden sich dabei selbst noch in einem Stadium der Organisationsentwicklung, das man als Findungsphase beschreiben könnte; Arbeitsweisen und Prozesse werden ausprobiert, verworfen, neujustiert etc. Doch der Wind bläst offenbar in Richtung Professionalisierung und Politisierung, denn die Herausforderungen, denen die Tafel gegenübersteht, sind groß und ohne die politische Sphäre nicht zu lösen. Nicht zuletzt aufgrund der Coronapandemie und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine steigen die Kundenzahlen der Tafeln im gesamten Bundesgebiet. Gleichzeitig häufen sich die Berichte über zurückgehende Lebensmittelspenden und überarbeitete Ehrenamtliche. Um diesen Widrigkeiten zu begegnen, braucht es verbindliche Richtungsentscheidungen und hier kommen wir also zu konkreten Empfehlungen: Es ist unerlässlich, dass die Tafeln sich ihrer gesellschaftlichen Position

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Perspektiven — Kommentar

stärker bewusst werden und anfangen, ihre Fähigkeiten zu einer politischen Arbeit zu kultivieren. Denn so etabliert die Tafel in der öffentlichen Wahrnehmung ist, so vage ist ihre Position während des untersuchten Zeitraums im politischen Gefüge. Eine solche Unverbindlichkeit kann sich die Tafel heute jedoch nicht mehr leisten, denn dafür ist sie mittlerweile schlicht zu groß und zu symbolträchtig. Möchte sie gesellschaftliche Veränderung erzeugen, muss sie ihren Kritiker:innen gerecht werden, die eigene politische Stimme erheben und sich einer politischen Vereinnahmung entgegenstellen. Kurz: Die Tafel Deutschland muss politisch aktiver werden. Hierfür müssen sich die lokalen Tafeln fokussieren. Das beständige Einwerben von Spenden etwa gehört zur alltäglichen Arbeit von NGOs; das gilt für die Tafeln gleich doppelt, müssen sie doch Finanz- und Sachmittel einwerben. Dabei dürfen jedoch die großen politischen Ziele – Lebensmittel retten und Armut bekämpfen – nicht aus dem Auge verloren werden. Damit der politische Kampf gegen Lebensmittelverschwendung und Armut gelingt, müssen die Tafeln auch den eigenen Organisationsapparat entsprechend ausrichten und konkrete politische Forderungen formulieren. Dafür müssen die Tafeln lernen, über den lokalen Tellerrand hinauszuschauen, die Gräben zwischen Progressiven und Purist:innen geschlossen und politisches Know-how in die Breite gestreut werden. Das bedeutet, dass auch die kleinste nordfriesische Tafel und die hinterletzte Ausgabe auf der bayerischen Alm befähigt werden muss, sich politisch zu engagieren. Die lokalen Tafeln müssen über ihren lokalen Tellerrand hinausblicken lernen und sich als Teil eines bundesweiten Netzwerks sehen. Das ist vielleicht das größte politische Kapital der Tafeln, das es zu kultivieren gilt. Denn die lokalen Tafeln sind nicht nur die erste Assoziation, wenn man über die Tafel generell spricht; sie sind auch die Orte, an denen die Seismografen unserer Gesellschaft aufgestellt sind. Die lokalen Tafeln können Wissen darüber akkumulieren, wie es den Geflüchteten oder Menschen im Niedriglohnsektor geht. Die Tafel könnte sowohl Ort des lokalspezifischen Engagements als auch souveräne Partnerin der Politik und kämpferische Lobbyistin, die für die Interessen der Bedürftigen der Republik streitet, sein. Ihre bloße Dr. Maximilian Blaeser  kommt gebürtig aus Köln und hat an der Georg-August-Universität Göttingen Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Mit Unterstützung der FriedrichEbert-Stiftung hat er zwischen 2016 und 2021 zur Tafelbewegung promoviert.

Existenz, die sichtbaren Schlangen vor ihren Ausgabestellen oder ihre Lieferwagen im Straßenverkehr sind tatsächlich symbolträchtig. Sie erinnern uns an den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der bundesdeutschen Gesellschaft. Sie erinnern aber auch an gesellschaftliche Missstände und mahnen uns, dass die Bundesrepublik Deutschland ein sehr elementares Problem hat. Und dieses Problem heißt Armut. Maximilian Blaeser  —  Über den lokalen ­Tellerrand hinaus

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INDES Z E I T S C H R I F T F Ü R PO L I T I K UND GESELLSCHAFT Herausgeber: Prof. Dr. Frank Decker Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (V. i. S. d. P.), Dr. Volker Best Redaktion: Carlo Brauch, Dr. Matthias Micus, Tom Pflicke Praktikantin der Redaktion: Dina Lukawski Konzeption dieser Ausgabe: Katharina Rahlf, Dr. Volker Best Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie Universität Bonn Lennéstr. 27, 53113 Bonn [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. Die Zeitschrift erscheint viermal jährlich. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für ZeitschriftenAbonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Leserservice, Kreidlerstraße 9, D-70806 Kornwestheim, E-Mail: [email protected]. Unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen, Preise sowie weitere Informationen finden Sie unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Verlag: BRILL Deutschland GmbH, Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80038-2

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Bitzegeio Dr. Felix Butzlaff Dr. Sandra Fischer Prof. Sigmar Gabriel Prof. Dr. Alexander Gallus Hasnain Kazim Prof. Dr. Christine Krüger Dr. Astrid Kuhn Prof. Dr. Torben Lütjen Dr. Julia Reuschenbach Prof. Dr. Jürgen Rüttgers Prof. Dr. Ulrich Schlie Prof. Dr. Grit Straßenberger Prof. Dr. Berthold Vogel Ulrike Winkelmann

BEBILDERUNG Entstanden aus der Leidenschaft für Wildtiere und der jahrzehntelangen Erfahrung des Lebens und Arbeitens in Ostafrika, begann alles im Jahr 2015 ganz bescheiden mit einem kleinen Fotowettbewerb. Seitdem hat sich Comedy Wildlife unter der Leitung seiner Gründer Paul Joynson-Hicks MBE und Tom Sullam zu einem weltweit anerkannten Wettbewerb entwickelt, der jedes Jahr ein Millionenpublikum anzieht und bei dem die Nachhaltigkeit im Mittelpunkt steht. Der kostenlose Wettbewerb, der Anfänger:innen, Amateur:innen und Profis offensteht, feiert unsere amüsante Umwelt und zeigt, was wir tun müssen, um sie zu schützen. Von einem überraschten Otter bis zu einer grummeligen Schildkröte – die Fotos von Comedy Wildlife zaubern jedem – kultur- und altersübergreifend – ein Lächeln ins Gesicht. Mehr dazu: comedywildlifephoto.com

Cover: Egret Poo, Tom Stables S. 4/5: Lost the Fish, Nicolas de Vaulx S. 26/27: Majestic and Graceful Bald Eagle, David Eppley S. 40: Ouch, Ken Jensen S. 50/51: I Could Puke, Christina Holfelder S. 62: Almost Time to Get up, Charlie Davidson

ISSN 2196-7962

S. 82: Not so Cat-like Reflexes, Jennifer Hadley

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S. 92: Treehugger, Jakub Hodáñ

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S. 108: Ashamed, Antonio Medina

ÜBER DIE MÖGLICHKEIT VON SINNERFÜLLTEM, „GELINGENDEM“ LEBEN UND DEN ZUSAMMENHANG MIT NACHHALTIGKEIT UND BEWAHRUNG DER NATUR

Martin Kolmar Grenzbeschreitungen

Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur 2021. 440 Seiten mit 31 meist farb. Abb., gebunden € 40,00 D ISBN 978-3-412-52298-8 Auch als e-Book lieferbar Wie wollen wir leben und wie können wir unserem Leben Sinn geben angesichts der drängenden Krisen der Gegenwart? Wie können solche Fragen überhaupt beantwortet werden, wenn eine säkulare Kultur scheinbar nur Antworten auf Fragen nach dem „wie?“, nicht aber nach dem „wozu?“ erlaubt. Martin Kolmar deutet im vorliegenden Buch die gegenwärtigen und bevorstehenden Krisen, allen voran die Klimakrise, als Krise der westlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen und versucht einen Ausweg daraus aufzuzeigen. Dazu beginnt er mit einer Analyse westlicher Vorstellungswelten aus der Perspektive des „Erhabenen“. Es zeigt sich, dass das „Erhabene“ als Grenzerfahrung überraschende und relevante neue Perspektiven auf die Gegenwart öffnet und zugleich einen Weg zu einer säkularen, rationalen Form der Sinnerfahrung erkennbar macht.

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KLIMAWANDEL, KLIMAKRISE, KLIMAÄNGSTE: DIE EXISTENZIELLE BEDROHUNG RÜCKT NÄHER Martin Scherer / Josef Berghold / Helmwart Hierdeis (Hg.) Klimakrise und Gesundheit Zu den Risiken einer menschengemachten Dynamik für Leib und Seele Mit einer Einleitung von Martin Herrmann. 2021. 213 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert € 30,00 D ISBN 978-3-525-40771-4 Auch als e-Book lieferbar

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