Schamhafte Geschichte: Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges [1. Aufl.] 9783839417669

Die Erzählungen von Jorge Luis Borges wurden lange Zeit vor allem als phantastische Fiktionen gelesen und auf literatur-

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German Pages 266 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Der historische Diskurs in Argentinien
2.1 Mitre vs. López: Anfänge einer historischen Disziplin
2.2 Paul Groussac und der »culto del fetiche documental«
2.3 Die Rolle des historischen Romans im Prozess des »nation-building«
2.4 Die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft: Die Nueva Escuela Histórica
2.5 Geschichte als Geschichte der Gegenwart? Die Rezeption Croces durch die Nueva Escuela Histórica
2.6 Zeitphilosophie: Bergson und die Annales-Schule
2.7 Der Revisionismus
3. Erzählte Geschichte
3.1 Zeit und Erzählung
3.2 Historisches und literarisches Erzählen
3.3 Die Rolle des Zeugnisses
4. Revision und metahistorische Reflexion im historischen Roman des 20. Jahrhunderts
4.1 Der historische Roman als fiktionales Gegenstück zu historischem Erzählen
4.2 Spielarten fiktionaler Geschichtsdarstellung: Eine Typologie des historischen Romans
4.3 Historiographische Metafiktion in Lateinamerika
5. Geschichtsreflexion in den essayistischen Texten von Jorge Luis Borges
5.1 Sprachkritik: »La representación no tiene sintaxis«
5.2 Selektion und Kombination als konstitutive Merkmale der Biographie
5.3 »Schopenhauer que acaso descifró el universo«: Geschichtsskeptizismus bei Arthur Schopenhauer
5.4 Der Kausalaberglaube
5.5 »Una realidad más compleja«: Die Schwierigkeit der Repräsentation
5.6 Schamhafte Geschichte
6. Lektüren
6.1 Evaristo Carriego: Eine »Milieubiographie« nach dem Vorbild Paul Groussacs
6.2 Historia universal de la infamia: Unmoralische Biographien und das Ende der Universalgeschichte
6.3 »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« und »El Fin«: Arbeit am Mythos
6.4 »Pierre Menard, autor del Quijote«: Unzuverlässiges Erzählen und Geschichte als »re-enactment«
6.5 »Tema del traidor y del héroe«: Inszenierte Geschichte
6.6 »Historia del guerrero y de la cautiva«: Ereignis- vs. Strukturgeschichte
6.7 »El jardín de senderos que se bifurcan«: Organische Zeit und Kausalaberglaube
6.8 »La otra muerte«: Versionenpluralität und die Partialität des Zeugnisses
6.9 »Emma Zunz«: Interpretation und Performanz
6.10 »El milagro secreto«: Das Scheitern der narrativen Konfiguration
6.11 »Deutsches Requiem«: Die Krise der Repräsentation
6.12 »Guayaquil«: Der karthagische Blickwinkel
7. Schlussbetrachtung
Danksagung
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Schamhafte Geschichte: Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges [1. Aufl.]
 9783839417669

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Christine Rath Schamhafte Geschichte



machina | Band 5

Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.

Christine Rath (Dr. phil.) ist DAAD-Lektorin an der Universidad de Buenos Aires in Argentinien.

Christine Rath

Schamhafte Geschichte Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges

Zgl. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Historia« aus Cesare Ripas Iconologia von 1625. Gedruckt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Wien. Lektorat & Satz: Christine Rath Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1766-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Einleitung | 7

2.

Der historische Diskurs in Argentinien | 11

2.1 2.2 2.3

Mitre vs. López: Anfänge einer historischen Disziplin | 11 Paul Groussac und der »culto del fetiche documental« | 14 Die Rolle des historischen Romans im Prozess des »nation-building« | 18 Die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft: Die Nueva Escuela Histórica | 21 Geschichte als Geschichte der Gegenwart? Die Rezeption Croces durch die Nueva Escuela Histórica | 28 Zeitphilosophie: Bergson und die Annales-Schule | 33 Der Revisionismus | 38

2.4 2.5 2.6 2.7 3.

Erzählte Geschichte | 43

3.1 3.2 3.3

Zeit und Erzählung | 44 Historisches und literarisches Erzählen | 48 Die Rolle des Zeugnisses | 58

4.

Revision und metahistorische Reflexion im historischen Roman des 20. Jahrhunderts | 61

4.1

Der historische Roman als fiktionales Gegenstück zu historischem Erzählen | 62 Spielarten fiktionaler Geschichtsdarstellung: Eine Typologie des historischen Romans | 65 Historiographische Metafiktion in Lateinamerika | 68

4.2 4.3 5.

5.1 5.2

Geschichtsreflexion in den essayistischen Texten von Jorge Luis Borges | 73 Sprachkritik: »La representación no tiene sintaxis« | 74

Selektion und Kombination als konstitutive Merkmale der Biographie | 76

5.3

5.6

»Schopenhauer que acaso descifró el universo«: Geschichtsskeptizismus bei Arthur Schopenhauer | 79 Der Kausalaberglaube | 85 »Una realidad más compleja«: Die Schwierigkeit der Repräsentation | 93 Schamhafte Geschichte | 96

6.

Lektüren | 101

5.4 5.5

Evaristo Carriego: Eine »Milieubiographie« nach dem Vorbild Paul Groussacs | 101 6.2 Historia universal de la infamia: Unmoralische Biographien und das Ende der Universalgeschichte | 107 6.3 »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« und »El Fin«: Arbeit am Mythos | 118 6.4 »Pierre Menard, autor del Quijote«: Unzuverlässiges Erzählen und Geschichte als »re-enactment« | 124 6.5 »Tema del traidor y del héroe«: Inszenierte Geschichte | 143 6.6 »Historia del guerrero y de la cautiva«: Ereignis- vs. Strukturgeschichte | 155 6.7 »El jardín de senderos que se bifurcan«: Organische Zeit und Kausalaberglaube | 163 6.8 »La otra muerte«: Versionenpluralität und die Partialität des Zeugnisses | 179 6.9 »Emma Zunz«: Interpretation und Performanz | 192 6.10 »El milagro secreto«: Das Scheitern der narrativen Konfiguration | 207 6.11 »Deutsches Requiem«: Die Krise der Repräsentation | 216 6.12 »Guayaquil«: Der karthagische Blickwinkel | 225

6.1

7. Schlussbetrachtung | 237 Danksagung | 243 Siglenverzeichnis | 245 Literaturverzeichnis | 247

1. Einleitung »creeré haber fabricado un cuento fantástico 1 y habré historiado un hecho real«

»Nuestro pasado no es lo que puede registrarse en una biografía, o lo que pueden suministrar los periódicos«,2 stellt Borges in einem Gespräch fest. Wahre Geschichte manifestiere sich nicht in den historiographischen Werken einer Epoche, sondern verberge sich schamhaft dahinter, so lautet auch die zentrale These seines Aufsatzes, »El pudor de la historia«. Dieser Text – der einzige in Borges’ Werk, welcher sich direkt und ausschließlich mit Geschichtsschreibung befasst – lässt sich als zentral in Borges’ kritischer Auseinandersetzung mit der abendländischen Geschichtsschreibung verstehen. Borges’ Texte – so soll in dieser Publikation gezeigt werden – weisen beständig auf die Nähe des historischen Erzählens zum literarischen Erzählen hin und reflektieren offen über die Möglichkeiten und Grenzen des historiographischen Diskurses. In seinen Essays diskutiert er Fragestellungen, die als zentral für die Geschichtswissenschaft gelten dürfen, wie beispielsweise die der historischen Kausalität, der Repräsentationsabsicht der Geschichtsschreibung und der Konstitutionsmechanismen biographischer Darstellungen. Die hier vorgestellten Erzähltexte charakterisieren sich durch eine sowohl implizite als auch explizite meta-historische Reflexionsebene.

1 2

Das Zitat ist der Erzählung »La otra muerte« entnommen, Borges, Jorge Luis: Obras completas I. 4 Bde., Buenos Aires: Emecé 2002, S. 575. Ferrari, Osvaldo/Borges, Jorge Luis: En diálogo I, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1998, S. 112.

8 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE

Bereits Ana María Barrenechea hat in einer der ersten Monographien über Borges’ Werk die darin enthaltenen disparaten Aufzählungen als Verweis auf den historischen Diskurs gedeutet, mit denen sich Borges über die ebenfalls disparaten Versuche der Historiker lustig mache, Ordnung in das chaotische Universum zu bringen.3 Auch Enrique Pezzoni bezeichnet die grundlegende Infragestellung von historischer Kausalität und die Offenlegung des Konstruktcharakters historiographischer Werke als distinktives Merkmal von Borges’ Literatur.4 Diese Lesart wurde jedoch in der Kritik zumeist zu ungunsten einer Lektüre, die die irrealen und phantastischen Aspekte seiner Texte betont, vernachlässigt. Wegweisend für diese Interpretationslinie waren frühe Studien wie etwa die von Ana María Barrenechea,5 Jaime Alazraki6 oder Harold Bloom.7 Dieser Tendenz, Borges’ Fiktionen als reine Wortgebilde ohne jeglichen Realitätsbezug zu lesen, setzte Daniel Balderston eine Untersuchung entgegen, welche penibel den historischen Kontext und die sowohl intertextuellen als auch lebensweltlichen Bezüge seiner Erzählungen offenlegt.8 Seine unzweifelhaft ertragreiche Studie verschafft Einblicke in die mannigfaltigen historischen Referenzen in seinen Texten, unterlässt es jedoch, diese Referenzen mit den vielfältigen meta-historischen Bezügen in Verbindung zu bringen. Borges’ Auseinandersetzung mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen lässt sich nur vor dem Hintergrund einer gleichzeitig in Argentinien stattfindenden Konsolidierung des historischen Diskurses verstehen. Es wird gezeigt, dass ab Ende des 19. Jahrhunderts die intellektuelle Debatte in Argentinien geprägt war vom Entstehen einer historischen Disziplin und den damit verbundenen Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten und Funktionen der Historiographie. Viele der in dieser Debatte verhandelten Fragestellungen tauchen in Borges’ Erzählungen auf. So findet sich in seinem frühen Erzählwerk 3 4 5 6 7 8

Barrenechea, Ana María: La expresión de la irrealidad en la obra de Borges, Buenos Aires: Paidós 1967, S. 104. Louis, Annick: Enrique Pezzoni, lector de Borges. Lecciones de literatura 1984–1988, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1999, S. 36. Barrenechea: La expresión de la irrealidad en la obra de Borges. Alazraki, Jaime: La prosa narrativa de Jorge Luis Borges, Madrid: Gredos 1968. Bloom, Harold: Jorge Luis Borges, New York: Chelsea House Publishers 1986. Balderston, Daniel: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, Durham/London: Duke University Press 1993.

EINLEITUNG

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eine intensive Beschäftigung mit dem Genre der Biographie. Auch andere Aspekte der Historiographie, wie etwa die Bedeutung von Dokumenten, die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen und die Möglichkeit einer geschichtlichen Revision werden in Borges’ Erzählungen fiktional inszeniert. Die fehlende gesellschaftliche Verankerung historischer Institutionen im öffentlichen Leben zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts führten darüber hinaus zu persönlichen Legitimationsstrategien der jeweiligen Historiker, welche Borges in einigen Erzählungen zu parodieren scheint. Borges’ meta-historische Reflexionen lassen sich damit also als Kommentar zu aktuellen Debatten begreifen und es zeigt sich, dass viele dieser Themen, die Jahrzehnte später unter dem Stichwort der Postmoderne in der Literatur- und Geschichtswissenschaft zur Sprache kamen, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Argentinien virulent waren. Paul Ricœur hat in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung auf die grundlegende ontologische Nähe von historischem und fiktionalem Erzählen hingewiesen.9 Da bei Borges immer wieder das Ähnlichkeitsverhältnis von fiktionalem und historischem Erzählen thematisiert wird, bietet sich Ricœurs Theorie als Ausgangspunkt für eine Betrachtung von Borges’ Texten vor dem Hintergrund ihrer Auseinandersetzung mit Geschichte und historischen Erzählweisen an. Für Ricœur hat Erzählen eine unhintergehbare anthropologische Funktion, er betont wiederholt die Notwendigkeit zu erzählen. Er geht dabei von einer wechselseitigen Beeinflussung von Zeit und Erzählen aus, eine seiner zentralen Thesen besagt, dass zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht, die nicht rein zufällig und an keine bestimmte Kultur gebunden ist. Es gibt keine reine Phänomenologie der Zeit ohne Aporien, so Ricœur. Die beiden großen Modi des Erzählens, das historiographische und das literarische, antworten beide auf unterschiedliche Art diesen Aporien der Phänomenologie mit einer Poetik der Erzählung. Die historische Erzählung unternimmt diese Refiguration von Zeit, indem sie sich fiktionaler Mittel bedient, aber auch die fiktionale Erzählung bedient sich zahlreicher Mittel der Hi-

9

Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung I. Zeit und historische Erzählung. 3 Bde., München: Wilhelm Fink 1988 (Übergänge); Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung II. Zeit und literarische Erzählung. 3 Bde., München: Wilhelm Fink 1989 (Übergänge); Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung III. Die erzählte Zeit. 3 Bde., München: Wilhelm Fink 1991 (Übergänge).

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storisierung. Die mimetische Repräsentation wird bei Ricœur nicht als Abbildungsverhältnis verstanden sondern als dynamisches Verhältnis und zeitlicher Vollzug. Die konsonanzstiftende Wirkung der Mimesis erfüllt nach Ricœur ein anthropologisches Grundbedürfnis. Ricœur klammert in seiner Studie die Rolle des historischen Romans aus, obwohl doch gerade diese Textform in paradigmatischer Weise die Nähe von historischem und literarischem Erzählen verkörpert und noch dazu – zumindest in seiner postmodernen Ausprägung – offen thematisiert. Ansgar Nünnings Typologie des historischen Romans setzt an dieser Stelle an und bietet einen präzisen Beschreibungsrahmen für historische Romane im 20. Jahrhundert.10 Insbesondere die unter dem Stichwort der Historiographical Metafiction oder Nueva Novela Histórica erfasste Subgattung des historischen Romans kennzeichnet sich durch einen spielerischen und subversiven Umgang mit der offiziellen Geschichte und tradierten Formen der Historiographie, weshalb Jorge Luis Borges zurecht als einer der Impulsgeber gilt. Ricœur benennt als eine der Möglichkeiten der Fiktion, durch ihren quasi-historischen Charakter »die in der wirklichen Vergangenheit unterdrückten Möglichkeiten aufzudecken«.11 In diesem Sinne lassen sich die hier vorgestellten Erzählungen als fiktionale Inszenierung der »schamhaften« Geschichte lesen, jener Begebenheiten und Charaktere also, die von der offiziellen Ereignisgeschichte, wie sie für die Geschichtsphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert kennzeichnend war, ausgeschlossen wurden.

10

11

Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1. 2 Bde., Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1995 (LIR Literatur – Imagination – Realität). Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 310, Hervorhebung im Original.

2. Der historische Diskurs in Argentinien

Viele der Themen, die Borges in seinen essaysistischen Texten erörtert und in seinen Erzähltexten narrativ inszeniert, sind typisch für die lateinamerikanische Avantgarde-Literatur, da sie auf philosophische Strömungen rekurrierten, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zirkulierten.1 Eine diskursgeschichtliche Kontextualisierung von Borges’ geschichtsphilosophischen Reflexionen bietet sich daher an.

2.1 M ITRE

VS . L ÓPEZ : A NFÄNGE EINER HISTORISCHEN D ISZIPLIN

Eine eigenständige historische Disziplin erwächst in Argentinien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, offizielle Institutionen zur Erforschung und Lehre der Geschichtswissenschaft entstehen im frühen 20. Jahrhundert. Der Historiker des 19. Jahrhunderts in Argentinien war – so Hernán Prado – »cualquier cosa menos un profesional de la

1

So bezeichnet Katharina Niemeyer die narrative Auseinandersetzung mit folgenden Themen als kennzeichnend für die lateinamerikanische Avantgarde: »el papel de la percepción subjetiva y la condición lingüística-discursiva de la llamada realidad, la confusión de sueño y vigilia, la disolución del tiempo lineal, la problemática de la identidad y la autoconciencia del sujeto y, en general, el rechazo de modelos de mundo coherentes y totalizadores«. Borges nehme jedoch – neben Macedonio Fernández – innerhalb dieser Texte eine Sonderstellung ein, da sich seine Text außerdem noch explizit mit philosophischen Ideen auseinandersetzten, Niemeyer, Katharina: »Ficción y realidad en la novela vanguardista hispanoamericana«, in: Iberoromania 53 (2001), S. 50–67, hier: S. 60.

12 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE

historia«.2 Jedoch spielt die Diskussion über geschichtliche Darstellungen bereits im späten 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Die Bedeutung Bartolomé Mitres für die neu entstehende historische Disziplin in Argentinien umreißt Fernando Devoto mit den Worten: »esa figura de la que surgen tantos senderos que se bifurcan: Bartolomé Mitre«,3 war dieser doch an zwei öffentlich ausgetragenen Polemiken beteiligt, welche er zunächst mit Dalmacio Vélez Sarsfield und später mit Vicente Fidel López führte. Die Debatte zwischen dem damaligen Präsidenten Mitre und seinem Finanzminister bis 1863, Vélez Sarsfield, entzündete sich an Mitres Werk Historia de Belgrano, von dem 1859 eine zweite Auflage erschienen war. Vélez Sarsfield warf Mitre zunächst eine falsche Interpretation der Ereignisse vor. Dieser habe die Bedeutung von Güemes zugunsten von Belgrano vernachlässigt und damit ebenfalls die Rolle der Provinzen in der Herausbildung einer Nation geschmälert. Die Biographie diene lediglich dazu, Belgrano auf das Podest des kollektiven Helden zu heben. Vélez Sarsfield betonte dabei seine eigene Rolle nicht etwa als Historiker sondern als Mensch des öffentlichen Lebens, der eine alternative Interpretation der Vergangenheit vorschlage. Die Debatte verlagerte sich alsbald jedoch auf eine allgemeine Diskussion über das Problem der Wahrheit und die Rolle von Dokumenten. Vélez Sarsfield zweifelte sowohl den Wahrheitsgehalt der offiziellen Dokumente als auch der von Mitre verwendeten Erinnerungen von Zeitgenossen an. Damit sah sich Mitre in seiner Rolle als Historiker herausgefordert und begegnete dieser Kritik mit immer neuen Zeugen und Dokumenten. Seinen Autoritätsanspruch gegenüber Vélez Sarsfield leitete er nicht etwa durch seine politische Position ab, sondern durch eben diese Analyse und Kritik historischer Quellen.4 2

3

4

Hernán Prado, Gustavo: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, in: Devoto, Fernando/Hernán Prado, Gustavo/Stortini, Julio (Hrsg.): Estudios de historiografía argentina II, Buenos Aires: Biblos 1999, S. 37–71. Devoto, Fernando: »Entre ciencia, pedagogía patriótica y mito de los orígenes. El momento de surgimiento de la historiografía profesional argentina«, in: Devoto, Fernando/Hernán Prado, Gustavo/Stortini, Julio (Hrsg.): Estudios de historiografía argentina II, Buenos Aires: Biblos 1999, S. 11–34, hier: S. 34. Eujanian, Alejandro: »El surgimiento de la crítica«, in: Cattaruzza, Alejandro/Eujanian, Alejandro (Hrsg.): Políticas de la historia: Argentina 1860–1960, Buenos Aires: Alianza 2003, S. 17–41, hier: S. 22–27, sowie

D ER HISTORISCHE D ISKURS IN A RGENTINIEN | 13

Die zweite polemische Auseinandersetzung, deren Gegenstand wieder Mitres Biographie über Belgrano war, fand zwischen 1881 und 1882 statt und gilt gemeinhin als der Entstehungszeitpunkt der argentinischen Historiographie.5 Auch hier standen sich die zwei scheinbar unvereinbaren Pole der dokumentengestützten Geschichtsschreibung durch Mitre und der spekulativen, interpretatorischen Geschichtsschreibung durch Vicente Fidel López gegenüber.6 López warf Mitre vor, eine Geschichtsschreibung ohne Geschichtsphilosophie zu betreiben, woraufhin dieser umgehend antwortete, nur aufgrund geschichtsphilosophischer Überlegungen sei es ihm möglich, eine Verbindung zwischen den historischen Ereignissen herzustellen, ihre sukzessive Abfolge, ihre Simultanität und ihre Reziprokität heraus zu arbeiten. Dem Angriff Mitres, López praktiziere eine hypothetische Geschichtsschreibung, begegnete dieser mit dem Argument, eben die falsche Transkription, die Fehler bei der Übersetzung und bei der Interpretation von Dokumenten habe bei Mitres Biographie über Belgrano zu Irrtümern in der Bewertung von Ereignissen und Personen geführt. Im Unterschied zu Vélez Sarsfield stellte López also nicht die zugrunde liegenden Dokumente in Frage sondern lediglich die Transkription und Interpretation dieser. Mit der Anerkennung von Dokumenten als unverzichtbare Grundlage der Geschichtsschreibung war ein wichtiger Schritt getan, die Geschichtsforschung als wissenschaftliche Disziplin anzuerkennen und sie von der Literaturwissenschaft abzutrennen.7 In einem Interview äußerte sich Borges zu den grundlegenden Biographien der argentinischen Historiographiegeschichte. Die Frage, ob er Mitres Werke oder diejenigen seines Kontrahenten Vicente Fidel López, welche Mitre als hypothetisch bezeichnet hatte, vorziehe, beantwortet er wie folgt: Yo siento que hay una intimidad en el tono de López, que no hay en Mitre. Y creo que la obra de López no está hecha como pedestal de un personaje. En cambio, la Historia de San Martín o la Historia de Belgrano están hechas un

5 6 7

Eujanian, Alejandro: »Crítica y poder en los orígenes de la historiografía Argentina«, in: Cancino Troncoso, Hugo/Sierra, Carmen de (Hrsg.): Ideas, cultura e historia en la creación intelectual latinoamericana. Siglos XIX y XX, Quito: Ed. Abya-Yala 1998, S. 195–216, hier: S. 199–202. Eujanian: »Crítica y poder en los orígenes de la historiografía Argentina«, S. 202. Vgl. Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 37ff. Vgl. Eujanian: »El surgimiento de la crítica«, S. 27–33.

14 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE poco como pedestales, como estatuas: están hechas para exaltar a individuos en particular. Por el contrario, creo que Vicente Fidel López recoge toda una tra8 dición argentina y recoge los defectos también.

Borges zieht also die spekulativere, imaginative Variante der Geschichtsschreibung im Stil von Fidel López der nur dem Zwecke der charakterlichen Erhöhung der Protagonisten dienenden vor.

2.2 P AUL G ROUSSAC

UND DER FETICHE DOCUMENTAL «

» CULTO

DEL

Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung nahm Paul Groussac (1848–1929) ein.9 Sowohl in seiner Rolle als Schriftsteller wie auch als Direktor der Nationalbibliothek von Buenos Aires räumte er der Geschichte einen großen Stellenwert ein.10 Paul Groussac stellte stilistische, moralische und methodologische Ansprüche an die Geschichtsschreibung und betonte ihren wissenschaftlichen Charakter, der dem von Jura und Medizin in nichts nach stehe.11 In den Jahren 1896 bis 1898 debattierte Groussac öffentlich mit dem Dekan der Facultad de Filosofía y Letras Norberto Piñero über eine Zusammenstellung von Dokumenten über Mariano Moreno, welche Piñero angefertigt hatte. Dieses Werk Piñeros entbehrte jeglicher Methodik, was die Auswahl, Herkunftsbestimmung oder Authentizität der verwandten Quellen anbelangte und diente Groussac, um in seiner darauf bezoge8 9

10

11

Sorrentino, Fernando: Siete conversaciones con Jorge Luis Borges, Buenos Aires: El Ateneo 32001, S. 175. Zur Bedeutung von Paul Groussac für die argentinischen Historiographie siehe auch: Stortini, Julio: »Teoría, método y práctica historiográfica en Paul Groussac«, in: Stortini, Julio/Pagano, Nora/Buchbinder, Pablo (Hrsg.): Estudios de historiografía argentina I, Buenos Aires: Biblos 1997, S. 5–29. So figurierte die Geschichtswissenschaft im Ordnungssystem der Bibliothek, welches die Werke hierarchisch nach zugewiesener Bedeutung geordnet erfasste, die Geschichte an zweiter Stelle nach den Naturwissenschaften und vor den politischen Wissenschaften. Auch unter den neu erworbenen Werken der Nationalbibliothek in den Jahren 1885 bis 1893 stammten die mit Abstand meisten aus dem Bereich der Geschichte und Geographie, vgl.: Eujanian, Alejandro: »Paul Groussac y la crítica historiográfica«, in: Cattaruzza, Alejandro/Eujanian, Alejandro (Hrsg.): Políticas de la historia: Argentina 1860–1960, Buenos Aires: Alianza 2003, S. 43–67, hier: S. 43–46. Ebd., hier: S. 54.

D ER HISTORISCHE D ISKURS IN A RGENTINIEN | 15

nen Kritik eigene Regeln für eine quellenkritische Methode und Heuristik aufzustellen.12 Zwar mochte Groussac Piñeros mangelnde Qualifikation als Historiker verspotten (»El señor Piñero es abogado; ne sé si bueno o malo, sospecho que mediano, pero estoy seguro que no es sino eso«),13 so war Norberto Piñero doch als Dekan der ersten humanwissenschaftlichen Fakultät des Landes keinesfalls eine Randfigur des intellektuellen Lebens. Wie Pablo Buchbinder hervorhebt, ist diese öffentlich geführte Auseinandersetzung ein Indiz für eine mangelnde Übereinstimmung in Bezug auf fundamentale Kategorien und Praktiken der Geschichtswissenschaft, wie z.B. die Sammlung und Zusammenstellung von Dokumenten.14 Dass Borges diese vor seiner Geburt stattgefundene Auseinandersetzung bekannt war, zeigt ein Zitat Groussacs, welches Borges sowohl in dem 1929 veröffentlichten Essay »Paul Groussac« als auch in dem Essay »El arte de injuriar« (1933) wieder gibt. Darin verspottet Groussac Piñero wie folgt: Sentiríamos que la circunstancia de haberse puesto en venta el alegato del doctor Piñero, fuera un obstáculo serio para su difusión, y que este sazonado fruto de un año y medio de vagar diplomático se limitara a causar »impresión« en la casa de Coni. Tal no sucederá, Dios mediante, y al menos en cuanto penda de nosotros, no se cumplirá tan melancólico destino (OC 1, S. 421).

Jedoch zeigt sich in dieser Auseinandersetzung auch das Bedürfnis, die eigene Legitimität als Historiker zu dokumentieren; eine Notwendigkeit, die ebenfalls der Tatsache geschuldet ist, dass noch keine Einrichtungen existierten, die in diesem Fall die Rolle der öffentlichen Legitimation hätten erfüllen können. Der exzessive Gebrauch von Dokumenten und das Zurschaustellen von Detailkenntnis nahm bisweilen bizarre Formen an, wenn etwa Mitre in seiner Biographie über San Martín die Größe von dessen Ohren ebenso detailliert beschrieb wie die Flicken an dessen Hosen oder Stiefeln. Diese »ejercicios de erudición extrema«15 dienten jedoch einzig der Untermauerung der Glaub-

12

13 14 15

Buchbinder, Pablo: »Vínculos privados, instituciones públicas y reglas profesionales en los orígenes de la historiagrafía argentina«, in: Boletín del Instituto de Historia Argentina y Americana ›Emilio Ravignani‹ 13 (1996), S. 59–82, hier: S. 76–77. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 60.

16 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE

würdigkeit der Historiker sowie der Demonstration von Dokumentenkenntnis, war doch auch der Zugang zu den notwendigen Dokumenten keinesfalls selbstverständlich, da sich viele in Privatbesitz befanden und erst später öffentlichen Archiven zugeführt wurden. Groussac äußert sich bissig sowohl über López als auch über Mitre und führt damit die Tradition der öffentlichen polemischen Auseinandersetzung fort.16 So sehr sich auch die Protagonisten dieser Dispute öffentlich voneinander abzugrenzen suchten, so einte sie doch eine unreflektiert narrativistische Konzeption von Historiographie. Zwar wurde versucht, den jeweiligen Kontrahenten die Hegemonialstellung in Bezug auf die Wahrheit abzusprechen, die sie einende narrative Verknüpfung und die dazu verwendeten Mechanismen, wie sie später von Hayden White, Paul Ricœur oder etwa Michel de Certeau herausgestellt wurden, wurden jedoch nicht in Frage gestellt. Die geschilderten Auseinandersetzungen brachten darüber hinaus einige grundlegende Erkenntnisse hervor. Im Zentrum stand nach wie vor das Dokument, Bürge für Wahrheit und Präzision. Jedoch zeigten die Debatten Mitre/Vélez-Sarsfield sowie Mitre/López, dass der historiographische Text immer Gegenstand von Kritik und Korrekturen sein würde und immer bereits alternative Deutungsmuster beinhalten würde. Insbesondere Paul Groussac trug dazu bei, quellenkritische Fragen aufzuwerfen und vor einer blinden Dokumentengläubigkeit zu warnen. Darüber hinaus machte er auf die Notwendigkeit aufmerksam, Augenzeugenberichte zu hinterfragen und bei Bedarf anderen Zeugnissen gegenüber zu stellen.17 Paul Groussac nimmt in der Entwicklung der historischen Disziplin eine wichtige Schlüsselrolle ein zwischen den Anfängen einer historiographischen Tradition, wie sie von Mitre und López repräsentiert wurden, und der Professionalisierung dieser Zunft im 20. Jahrhundert. Seine theoretischen Positionen in Bezug auf die Historiographie sind weder widerspruchsfrei noch kohärent dargelegt.18 Geschichtsschreibung vereint ihm zufolge sowohl Wissenschaft als auch Kunst und 16

17 18

López bezeichnete er als »El brillante y espontáneo escritor, que cultivaba la inexactitud como un don literario […]«, Mitres Dokumentengläubigkeit verspottete er wie folgt: »a diferencia de López que tenía talento pero no conocía el archivo, [Mitre, C.R.] se caracterizaba por conocerlo muy a fondo […]«, zitiert nach: ebd., S. 61. Ebd., S. 67–68. Stortini: »Teoría, método y práctica historiográfica en Paul Groussac«, S. 22ff.

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Philosophie. In dem Vorwort zu seinem Werk Mendoza y Garay spricht er sich gegen einen »culto del fetiche documental« aus. Die Geschichtsschreibung sei nicht dazu geeignet, dass man Vorgehensweisen aus anderen Wissenschaftsgebieten unreflektiert auf sie übertrage. In der Geschichtswissenschaft gehe es um singuläre Ereignisse und nicht um Gesetzmäßigkeiten oder Kausalitäten. Er weist den Vergleich der Geschichtswissenschaft mit den Naturwissenschaften entschieden zurück19 und betont die Rolle des Historiographen, welcher durch Intuition und Verstehen einen aktiven Part in der Rekonstruktion der Geschichte einnehme.20 Groussac verfasste zahlreiche Biographien im Stile Mitres wie z.B. über Liniers, Mendoza y Garay und Alcorta. Auffällig dabei ist, so Stortini, die Tatsache, dass die biographierten Persönlichkeiten keineswegs die großen Männer der argentinischen Geschichte darstellten, sondern – wie z.B. Alcorta unter der Herrschaft Rosas’ – eher eine Randposition innerhalb des Zeitgeschehens innehatten. Diese marginale Stellung seiner Protagonisten glich Groussac durch eine detailgetreue Situierung der historischen Begleitumstände aus. Stortini spricht demzufolge von einer »cierta preeminencia [del] medio con respecto al individuo«.21 Borges beruft sich in seinen Texten unzählige Male auf Paul Groussac, insbesondere in den unter dem Titel Textos Recobrados zusammengefassten Texten. Wiederholt nennt er Paul Groussac als wichtigen Einfluss auf seine Prosatexte. So antwortet er 1929 auf die Frage, wer ihn von den argentinischen Autoren beeinflusst habe: »Indudablemente Groussac, Lugones, Güiraldes, Marcelo del Mazo […]« (TR 1, S. 398).22 In späteren Befragungen gibt er erneut des Öfteren Groussac als Lieblingsautor oder wichtigen Impulsgeber an (TR 3, S. 323, 346).23 In einer Befragung, an der Borges 1977 teilnahm, wurde darum gebeten, die am meisten über- und unterschätzten Autoren zu nennen. Darin nennt Borges Paul Groussac als unterschätzten Autor und hebt dabei neben seinem einflussreichen Prosastil auch

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Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 68. Stortini: »Teoría, método y práctica historiográfica en Paul Groussac«, S. 10–11. Ebd., S. 26. TR 1 steht für: Borges, Jorge Luis: Textos recobrados I. 1919–1929, Buenos Aires: Emecé 1997. TR 3 steht für: Borges, Jorge Luis: Textos recobrados III. 1956–1986, Buenos Aires: Emecé 2003.

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seine Funktion für die Geschichtswissenschaft hervor (TR 3, S. 342). Er bezeichnet ihn als »excelente historiador« und hebt insbesondere dessen Biographie über Liniers sowie seine Texte zur argentinischen Geschichte hervor.24 Darüber hinaus erwähnt er lobend, dass Groussac in seinen historiographischen Darstellungen auf einen Heldenkult verzichte und eher randständige historische Figuren zum Gegenstand seiner Biographien erwähle.25

2.3 D IE R OLLE DES HISTORISCHEN R OMANS P ROZESS DES » NATION - BUILDING «

IM

Die oben geschilderte Konsolidierung des geschichtswissenschaftlichen Diskurses stand in engem Zusammenhang mit dem zeitgleichen Aufschwung des historischen Romans in Lateinamerika.26 Enrique Anderson Imbert bezeichnet die verstärkte Lektüre geschichtsphilosophischer Schriften wie der von Vico und Herder als Grund dafür, dass die Gattung des historischen Romans in Lateinamerika ab 1815 zur Mode wurde.27 Als Anfangspunkt gilt der 1826 von einem anonymen Autor verfasste Roman Xicotencal,28 in welchem die Spannungen zwischen dem Häuptling Xicoténcal und dem Eroberer Hernán Cortes thematisiert werden.29 Enrique Anderson Imbert liefert in seiner Studie 24 25 26

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Ferrari, Osvaldo/Borges, Jorge Luis: Reencuentros. Diálogos inéditos, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1999, S. 177. Ferrari, Osvaldo/Borges, Jorge Luis: En diálogo II, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1998, S. 293. Croce weist auch auf die enge Verwandtschaft und die Wechselbeziehungen in der europäischen Romantik zwischen Historiographie und der neuen literarischen Gattung des historischen Romans bei etwa Scott und Manzoni hin. Croce, Benedetto: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen: Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1915, S. 222. Anderson Imbert, Enrique: »La novela histórica en el siglo XIX«, in: Anderson Imbert, Enrique (Hrsg.): Estudios sobre letras hispánicas, Mexico: Editorial Libros de Mexico 1974 (Biblioteca del Nuevo Mundo), S. 113–130. Jitrik, Noé: Historia e imaginación literaria. Las posibilidades de un género, Buenos Aires: Editorial Biblos 1995, S. 20. Vgl. auch: Leal, Luis: »Jicoténcal, primera novela histórica en castellano«, in: Revista Iberoamericana 25, 49 (1960), S. 9–31. Rössner dagegen bezeichnet Amalia (erste Fassung: 1851, endgültige Fassung: 1855) als »primera verdadera novela histórica del continente«, Rössner, Michael: »De la búsqueda de la propia identidad a la descon-

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über den historischen Roman des 19. Jahrhunderts eine recht weit gefasste Genredefinition: Llamamos »novelas históricas« a las que cuentan una acción ocurrida en una época anterior a la del novelista. Esa acción, por imaginaria que sea, tiene que entrelazarse por lo menos con un hecho histórico significativo. Los materiales tomados de la historia pueden ser modificados o no; pero aun en los casos en que permanecen verdaderos, al fundirse en una estructura novelesca cambian de valor y se ponen a cumplir una función estética, no intelectual. Es decir, que 30 los objetos históricos se transmutan en objetos artísticos.

Vicente Fidel López, Historiker und Schriftsteller, der wie oben gesehen wesentlich an der geschichtstheoretischen Debatte im 19. Jahrhundert beteiligt war, schuf im Vorwort seines Werkes La novia del hereje (1854) eine Konzeption des romantischen historischen Romans. So müsse der historische Roman nicht notwendigerweise fiktionale Elemente hinzufügen. Es reiche völlig aus, wenn der Autor die verborgene, private Seite (»vida familiar«, Hervorhebung im Original) einer herausragenden Persönlichkeit zeige, welche ansonsten hinter den öffentlichen Daten (»vida histórica«) zurück bleibe.31 Als Inspirationsquellen des lateinamerikanischen historischen Romans romantischer Prägung dienten neben Walter Scotts Werken auch die Kolonialchroniken und einige der historischen Dramen des Siglo de Oro, wie bspw. Lope de Vegas Fuente Ovejuna.32 Noé Jitrik legt in seiner Studie zum historischen Roman in Lateinamerika unter dem Stichwort des »imaginario social« die Entstehungs-

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strucción de la ›historia europea‹. Algunos aspectos del desarrollo de la novela histórica en América Latina entre Amalia (1855) y Noticias del Imperio (1987)«, in: Kohut, Karl (Hrsg.): La invención del pasado. La novela histórica en el marco de la posmodernidad, Frankfurt a.M./ Madrid: Americana Eystettensia 1997 (Publikationen des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität Eichstätt Serie A: Kongressakten, 16), S. 167–173, hier: S. 168. Anderson Imbert: »La novela histórica en el siglo XIX«, hier: S. 113. Zitiert nach: ebd., S. 120. Zum historischen Roman in Lateinamerika im 19. und frühen 20. Jahrhundert siehe bspw. Ille, Hans-Jürgen/Niemeyer, Katharina/Meyer-Minnemann, Klaus: »Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana entre 1860–1914«, in: Dill, Hans-Otto/Gründler, Carola/Gunia, Inke u.a. (Hrsg.): Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIX y XX, Madrid/Frankfurt a.M.: Vervuert 1994, S. 90–103, Anderson Imbert: »La novela histórica en el siglo XIX« und Menton, Seymour: Latin America’s New Historical Novel, Austin: University of Texas Press 1993.

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voraussetzungen für den historischen Roman in Lateinamerika dar. Demzufolge lässt sich die Entstehung des historischen Romans gegen Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts auch als Ausdruck eines gesteigerten Interesses an der Begründung einer eigenständigen nationalen Identität in Krisenzeiten verstehen.33 Als eines der Hauptanliegen des historischen Romans wird oftmals die Stärkung eines nationalen Bewusstseins angeführt. Die Leserschaft soll mit historischen Charakteren und Ereignissen vertraut gemacht werden.34 Anthony Smith definiert nationale Identität als die andauernde Reproduktion und Interpretation von Wertemustern, Symbolen, Erinnerungen, Mythen und Traditionen, welche als kennzeichnend für die Nation empfunden werden, und die Identifizierung der Bevölkerung mit diesem Erbe.35 In Lateinamerika jedoch, so hebt Ainsa36 hervor, stand neben der Rekonstruktion der Vergangenheit vor allem auch die Neuerfindung einer Tradition im Vordergrund. Dies ist von Benedict Anderson unter dem Stichwort der »imagined communities« beschrieben worden. Olea Franco beschreibt diesen Prozess der Neuerfindung einer Tradition für Argentinien unter Bezugnahme auf Eric Hobsbawms Konzept der »invented traditions«.37 So sei noch im 19. Jahrhundert die Pampa als barbarisch angesehen worden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch habe eine Neubewertung stattgefunden und der Raum der Pampa und seine archetypischen Bewohner wurden plötzlich positiv bewertet.38

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Jitrik: Historia e imaginación literaria. Las posibilidades de un género, S. 17. Menton führt weiterhin an, dass die historischen Romane des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika dadurch auch eine Stärkung der Liberalen gegenüber dem konservativen Lager bewirken wollten. Vgl. Menton: Latin America’s New Historical Novel, S. 18. Smith, Anthony D.: Nationalisme, Kopenhagen: Hans Reitzels Forlag 2003, S. 33. Ainsa, Fernando: »Invención literaria y ›reconstrucción‹ histórica en la nueva narrativa latinoamericana«, in: Kohut: La invención del pasado, S. 111–121, hier: S. 112. Hobsbawm, Eric: The nation as invented tradition, Oxford: Oxford University Press 1994. Olea Franco, Rafael: El otro Borges: el primer Borges, México, D.F./ Buenos Aires: El Colegio de México Fondo de Cultura Económica 1993, S. 68–76, hier: S. 69.

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Einen interessanten Beitrag zu der Frage nach der Rolle der Literatur im Prozess des nation-building39 stellt die Studie von Doris Sommer, Foundational Fictions40 dar. In dieser interpretiert sie die glückenden Liebesbeziehungen der Protagonisten in den lateinamerikanischen Romanen des 19. Jahrhunderts als Allegorie auf die (angestrebte) Nationwerdung und sieht darin einen wesentlichen Unterschied zu zeitgleich entstehenden Romanen aus bspw. Europa, in denen die Liebesgeschichten zum Scheitern verurteilt sind.

2.4 D IE P ROFESSIONALISIERUNG DER G ESCHICHTSWISSENSCHAFT : D IE N UEVA E SCUELA H ISTÓRICA Der von Hernán Prado als prä-paradigmatisch41 bezeichnete Stand der Historiographie im 19. Jahrhundert wurde durch die einsetzende Professionalisierung der Geschichtswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert abgelöst. Fernando Devoto beschreibt den Zeitpunkt der Entstehung einer eigenständigen historischen Disziplin als einen, der zugleich von Beklemmung und Überschwang geprägt gewesen sei.42 Der Überschwang im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten des Centenario geht einher mit den Herausforderungen urbaner und sozialer Umstrukturierungen aufgrund einer massiven Immigration,43 welche 39

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Fernando Ainsa zitiert Ezequiel Martínez Estrada mit den Worten »[son] los libros que hacen los pueblos« und nennt die Bibel als paradigmatisches Beispiel für ein literarisches Werk, dass diese identitätsstiftende Funktion erfüllt, Ainsa: »Invención literaria y ›reconstrucción‹ histórica en la nueva narrativa latinoamericana«, S. 112. Sommer, Doris: Foundational fictions: the national romances of Latin America, Berkeley: University of California Press 1991. Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 59. Devoto: »Entre ciencia, pedagogía patriótica y mito de los orígenes«, S. 11. Die Immigration wurde durch die so genannte 1837er Generation unitaristischer Prägung (u.a. Esteban Echeverría, Domingo F. Sarmiento, Juan Bautista Alberdi) und den späteren Präsidenten Bartolomé Mitre bewusst gefördert und unter ideologischen Gesichtspunkten begründet. Alberdi war Urheber der Parole »gobernar es poblar«, unter der die Pampa, die als barbarischer Lebensraum charakterisiert wurde, bevölkert werden sollte. Jedoch ließ sich ein Großteil der ab ca. Mitte des 19. Jahrhunderts ins Land strömenden, vorwiegend europäischen Immigranten in Buenos Aires nieder. 1910 betrug der Anteil von Immigranten in Buenos Aires

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einem aufkeimenden Nationalismus Anfang des 20. Jahrhunderts als Nährboden diente. Anreiz für die Immigranten war ein rapides ökonomisches Wachstum in Argentinien bis 1914. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich jedoch insbesondere in der sozialen Oberschicht auch zunehmend Ablehnung der stetig wachsenden, immigrationsgeprägten Mittelklasse aus,44 Anstelle der vorher erwünschten Immigration und der Europäisierung der Bevölkerungszusammensetzung auf der Grundlage von aufklärungsgeprägten Ideologien trat nun eine nationalistische Ideologie,45 die die kreolische hispanidad-Kultur und traditionelle Werte betonte und die Bedeutung der Kreolen und Gauchos in den Unabhängigkeitskämpfen hervorhob.46 Eine wichtige Rolle in diesem Prozess der Identitätsfindung sollten die Schulbildung und insbesondere der Unterricht von Geschichte einnehmen.47 In Argentinien wurde dabei insbesondere der Gaucho Anfang des 20. Jahrhundert als Symbol für das essentiell Argentinische stilisiert.48

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75 %, vgl.: Solberg, Carl: Immigration and Nationalism, Argentina and Chile 1890–1914, Austin/London: University of Texas Press 1970. Diese wurden für die negativen Folgeerscheinungen der Modernisierungsprozesse verantwortlich gemacht und ihnen wurde ihre überproportionale Vertretung innerhalb des wirtschaftlichen Sektors zum Vorwurf gemacht. Auch wurden sie von der herrschenden unitaristischen Elite als politische Bedrohung empfunden und ihre Teilnahme an Arbeiterprotesten der Anarchiebewegung wurde als potentielle Gefahr gewertet. Vgl. ebd., S. 80–92, Delaney, Jeane: »Making Sense of Modernity: Changing Attitudes toward the Immigrant and the Gaucho in Turn-of-the-Century Argentina«, in: Comparative Studies in Society and History 38, 3 (1996), S. 434–459, hier: S. 435–440 und: Altamirano, Carlos/Sarlo, Beatriz: Ensayos argentinos. De Sarmiento a la vanguardia, Buenos Aires: Compañía Editora Espasa Calpe Argentina S.A./Ariel 1997, S. 166–167. Dass das Thema der nationalen Identität immer dann verstärkt aufgegriffen wird, wenn sich eine Nation in einer (gefühlten) Krise befindet oder Krieg herrscht, ist von der Nationalismusforschung hinreichend beschrieben worden, vgl. etwa: Adriansen, Inge: Nationale symboler i det danske rige 1830–2000. Fra fyrstestat til nationalstater, Kœbenhavn: Museum Tusculanum 2003, S. 25. Vgl. Solberg: Immigration and Nationalism, Argentina and Chile 1890– 1914, S. 132–153; Slatta, Richard W.: Gauchos and the Vanishing Frontier, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1983, S. 178. Zu der Rolle der Schule und der Bildungsinstitutionen generell in diesem Prozess vgl. den Aufsatz: Devoto: »Entre ciencia, pedagogía patriótica y mito de los orígenes«. Der Gaucho hatte schon im 19. Jahrhundert als Symbol für traditionelle Werte durch José Hernández’ Romanwerk Martín Fierro (1872 und 1879) Eingang in die Literatur gefunden. Jedoch wurde erst im 20. Jahr-

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Grundstein dafür bildete eine 1913 von Leopoldo Lugones gehaltene Vortragsreihe,49 in welcher sich dieser für eine Kanonisierung des Martín Fierro einsetzte, da dieser den authentischen argentinischen Nationalcharakter verkörpere. Beatriz Sarlo bestätigt, dass es Lugones damit geglückt sei, den Gaucho als »símbolo de una esencia nacional amenazada por la immigración«50 zu etablieren.51 In dem Roman Don Segundo Sombra (1926) von Ricardo Güiraldes werden die Tugenden des Gaucho wie Loyalität, Ehrlichkeit, Mut, Unabhängigkeit und Askese heraus gestellt und den materialistischen Eigenschaften des Immigranten gegenüber gestellt.52 Die Frage nach der nationalen Identität Argentiniens beschäftigte auch die neu entstandene, professionelle Schriftstellergeneration53 der argentinischen Avantgarde.54 Sitman charakterisiert diese wie folgt: El hilo conductor de esta nueva generación de escritores lo constituye la constante preocupación por la cuestión de la identidad nacional. […] se aboca a la tarea de definir una identidad nacional propia, replegándose sobre lo que veían como la esencia inmutable del alma y el pasado glorioso argentino: es decir, la 55 constitución de un nuevo mito conformador nacional autóctono.

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hundert der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in seiner ursprünglichen Form existierende Gaucho zum nationalen Symbol auserkoren. Diese im Teatro Odeón gehaltene Vortragsreihe, an der u.a. auch der damalige Präsident Saénz Peña teilnahm, wurde 1916 unter dem Titel El Payador veröffentlicht. Sarlo, Beatriz: Borges. Un escritor en las orillas, Buenos Aires: Espasa Calpe 1998, S. 86. Sarlo fügt diesbezüglich hinzu: »Esta fundación mítica de la nacionalidad extraía su fuerza del hecho de que los gauchos (en tanto población rural libre y pobre, no totalmente incorporada al mercado de trabajo pero empujada a él según las necesidades de la explotación rural, o reclutados para el ejército y destinados a la frontera con los indios), ya no existían«, ebd., S. 85–86. Aizenberg stellt jedoch heraus, dass der Gaucho paradoxerweise dennoch auch von den Immigranten als nationales Symbol anerkannt wurde: »[…] conscientes de que el gaucho era el símbolo de la nación, también lo celebraban«, Aizenberg, Edna: Borges, el tejedor del Aleph y otros ensayos, Frankfurt a.M.: Vervuert 1997, S. 127. Zur Professionalisierung des Schriftstellers in Argentinien siehe Altamirano/Sarlo: Ensayos argentinos. De Sarmiento a la vanguardia, S. 161–199. Leland, Christopher T.: The last happy men. The Generation of 1922, Fiction, and the Argentine Reality, Syracuse/New York: Syracuse University Press 1986, S. 36. Sitman, Rosalie: Victoria Ocampo y Sur: entre Europa y América, Buenos Aires: Ediciones Lumiere 2003 (Nuevas miradas a la Argentina del Siglo XX), S. 39–40.

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Die Literatur dieser Zeit lässt sich somit als Fortsetzung der »foundational fictions« des 19. Jahrhunderts lesen.56 Während bis dato sowohl Literatur als auch Geschichtsschreibung noch fast ausschließlich in privaten Zirkeln der »buena sociedad«57 entstand, bildete sich nun eine neue Figur des Intellektuellen heraus. Sowohl die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft als auch generell die der intellektuellen Tätigkeit in Argentinien ist nicht von dem Hintergrund eines umfassenden sozialen Wandels, der Modernisierung des Staates und der Differenzierung von öffentlicher und privater Sphäre zu lösen.58 Eingeleitet wurde die Professionalisierung der Geschichtsforschung durch eine Gruppe junger Historiker, die sich als Gründer einer Nueva Escuela Histórica verstanden.59 El momento en el que surge la Nueva Escuela Histórica nos revela así toda su complejidad. Ella surge tras una generación historiográfica que ha enfatizado el problema de la identidad nacional y la necesidad de una utilización de la historia para resolverlo pero que se ha negado a ser ella misma quien lleva a cabo esa tarea subalterna y una generación de ensayistas afortunados que se proponen desde la historia o desde la épica proveer esos instrumentos para 60 consumo de la sociedad civil.

Begünstigt wurde der Prozess nicht nur durch den Gebrauch neuer Methoden in der Geschichtsforschung sondern auch insbesondere 56

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Niemeyer, Katharina: Subway de los sueños, alucinamiento, libro abierto. La novela vanguardista hispanoamericana, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2004 (Colección nexos y diferencias 11), S. 320–321. Santi, Isabel: »La profesionalización del historiador en el ámbito intelectual argentino en las primeras décadas del siglo XX«, in: Revista Río de la Plata (Actas del sexto congreso internacional del CELCIRP. La figura del intelectual en la producción cultural rioplatense de fines del siglo XIX a fines del XX. New York, 25 al 27 de junio de 1998) 20–21 (1998), S. 207–214, hier: S. 207. Vgl. dazu auch ausführlich: Altamirano/Sarlo: Ensayos argentinos. De Sarmiento a la vanguardia, S. 161–199. Siehe dazu auch: Buchbinder, Pablo: »La Facultad de Filosofía y Letras y la enseñanza universitaria de la historia«, in: Stortini, Julio/Pagano, Nora/Buchbinder, Pablo (Hrsg.): Estudios de historiografía argentina I, Buenos Aires: Biblos 1997, S. 33–52. Zur Frage, inwiefern die Bezeichnung dieser Gruppierung als Schule zutreffend ist und zu den verschiedenen Positionen innerhalb der Nueva Escuela Histórica vgl. Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 38. Devoto: »Entre ciencia, pedagogía patriótica y mito de los orígenes«, S. 34.

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durch das Entstehen universitärer Strukturen, was eine wissenschaftliche Forschung und Lehre ermöglichte.61 Ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts besetzten die Mitglieder der Nueva Escuela Histórica zentrale Posten dieser neugegründeten Institutionen (z.B. der Institute für Geschichte der Universitäten Buenos Aires und La Plata sowie der Junta de Historia y Numismática, welches später zur Academia Nacional de la Historia wurde) und übten somit starken Einfluss auf die Forschung und Lehre von Geschichte aus.62 1925 erschien die erste

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Siehe dazu: Eujanian, Alejandro: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización, 1910–1920«, in: Cattaruzza, Alejandro/Eujanian, Alejandro (Hrsg.): Políticas de la historia: Argentina 1860–1960, Buenos Aires: Alianza 2003, S. 69–99. Einen Namen machte sich die Nueva Escuela Histórica zunächst durch einen öffentlich ausgetragenen Disput mit Paul Groussac in der Zeitschrift Nosotros zwischen 1914 und 1916. Ausgelöst wurde die Debatte durch zwei Kommentare Groussacs. In diesen zweifelte er die Neuheit der von der Nueva Escuela Histórica propagierten historischen Methode an und kommentierte die Weigerung der Gruppe, seine Vorreiterrolle innerhalb der Historiographie an zu erkennen. Carbia reagierte umgehend und warf Groussac vor, in seinen Schriften die Wahrheit zugunsten des eleganten Stils zu opfern. So heißt es in seinem Artikel »El Señor Groussac historiógrafo« über dessen Stil: »Por correcto y por elegantísimo que sea, desde el punto de vista literario, no se justifica en manera alguna su empleo, ahora que la historia debe escribirse con la frialdad con que un paleontólogo expone las conclusiones de una reconstrucción ósea cualquiera«, Carbia, Rómulo D.: »El Señor Groussac historiógrafo«, in: Nosotros 16, 68 (1916), S. 240–249, hier: S. 240–241. Carbia beruft sich dabei auf Langlois’ und Seignobos’ Werk Introduction aux études historiques (1898), welches die Unterordnung der Prämisse Wahrheit unter einen eleganten Stil ablehnt (ebd., S. 241). In seiner Antwort darauf stellt Groussac die Behauptung auf, Methode in der Geschichtswissenschaft sei aus drei Gründen obsolet: Erstens sei seit Herodot bekannt, dass sich die Geschichte auf Dokumente stütze. Zweitens sei bei der Aufgabe des Historikers Quellen zu kritisieren und zu bewerten nicht so sehr Methode als vielmehr richtiges Urteilsvermögen und erfinderischer Scharfsinn gefragt. Die Heuristik könne man getrost den Hilfswissenschaften überlassen. Als letztes Argument führt Groussac an, dass historisches Wissen immer nur annähernd und niemals absolut sei. Versuche man, die Subjektivität des Autors zu eliminieren, so unterschlage man das literarische Wesen der Geschichtsschreibung. Vgl.: Eujanian: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización«, S. 83, sowie Stortini, Julio: »La recepción del método histórico en los inicios de la profesionalización de la historia en la Argentina«, in: Devoto, Fernando/Hernán Prado, Gustavo/Stortini, Julio (Hrsg.): Estudios de historiografía argentina II, Buenos Aires: Biblos 1999, S. 75–98, hier: S. 77ff. Wenn die Beziehung zwischen beiden Parteien auch problematisch blieb, so wurde doch trotz der beschriebenen Debatte die Rolle Paul Groussacs

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Monographie über die Geschichte der Geschichtsschreibung von Rómulo Carbia (Historia crítica de la historiografía argentina), der darin erneut die Stellung des Dokumentes betonte, das der Grundstein für jede wissenschaftliche Rekonstruktion der Vergangenheit sei.63 Darüber hinaus unterscheidet Carbia zwischen den zwei oben bereits skizzierten Strömungen in der argentinischen Geschichtswissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Auf der einen Seite sieht er die Geschichtsphilosophie von Historikern wie López und auf der anderen Seite die dokumentengestützte, gelehrte Geschichtsschreibung, wie sie beispielsweise von Mitre propagiert wurde.64 Carbia präsentiert darin den Ansatz der Nueva Escuela Histórica als einen, der die beiden traditionellen Linien der argentinischen Geschichtsschreibung versöhne, wenngleich auch der Ausgangspunkt der Nueva Escuela Histórica eher der gelehrten Geschichtsschreibung im Stile Mitres nahe stehe.65 Als Vorbild für die noch junge, sich etablierende Geschichtswissenschaft fungierte Deutschland. Der argentinische Historiker der neuen historischen Schule, Ernesto Quesada, der in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts in Deutschland weilte, sah hier eine ideale Verbindung von wissenschaftlicher Strenge, akademischen Strukturen sowie Forschungstechniken und einem hohen sozialen Status des Historikers gegeben.66 Als bedeutendster Vertreter des deutschen Historismus gilt

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bei der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft von den Historikern der neuen historischen Schule anerkannt. Santi: »La profesionalización del historiador, S. 210–211. Erst kurz zuvor hatte noch Ricardo Rojas der Historiographie ein Kapitel seines vierbändigen Werkes über die argentinische Literaturgeschichte gewidmet! Eujanian: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización«, S. 72. Dementsprechend sah er in seinem Plan zur Argentinisierung von 1910, der darauf ausgelegt war, in den Wurzeln der argentinischen Geschichte nach dem essentiellen der argentinischen Nationalität zu suchen, nicht etwa die Historiker in der Pflicht sondern die junge Schriftstellergeneration, Eujanian: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización«, S. 75. Zu dieser Dichotomie in der argentinischen Historiographie vgl. Halperín Donghi, Tulio: »La historiografía: treinta años en busca de un rumbo«, in: Ferrari, Gustavo /Gallo, Ezequiel (Hrsg.): La Argentina del ochenta al centenario, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1980, S. 829–840. Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 38. Ernesto Quesada legte dies 1909 in der Veröffentlichung La eneñanza de la historia en las Universidades alemanas dar. Vgl. Buchbinder: »La Facultad de Filosofía y Letras y la enseñanza universitaria de la historia«, S. 37. Die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft hatte in

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Leopold von Ranke (1795–1886). Die Hoffnung auf absolute Objektivität durch Eliminieren des fiktionalen Elements und durch Arbeit mit Primärquellen kommt in seinem viel zitierten Ausspruch von 1825, er wolle lediglich »zeigen, wie es eigentlich gewesen«, zum Ausdruck. In der Quellenanalyse und der wissenschaftlichen Strenge wurde der Schlüssel zu wissenschaftlicher Geschichtsforschung gesehen Die Lehre des deutschen Historismus verbreitete sich in Argentinien vor allem durch die Werke von Ernst Bernheim (Lehrbuch der historischen Methode, 1889), Rafael Altamira (La enseñanza de la historia, 1891) und Langlois/Seignobos (Introduction aux études historiques, 1898).67 Borges war zumindest Bernheims Werk bekannt, zitiert er ihn doch beispielsweise in Borges, oral (OC 4, S. 202). Es bestand bei diesen Autoren Einigkeit darin, dass die wissenschaftliche Geschichtsschreibung zum einen von Interpretationen durch den Historiker abzusehen habe und dass die Geschichte endgültig von der Literatur zu unterscheiden sei.68

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Deutschland bereits Ende des 18. Jahrhunderts begonnen und setzte sich ab ca. 1850 in Großbritannien und ab ca. 1870 in den USA fort. Vgl.: Harrison, Robert/Jones, Aled/Lambert, Peter: »The institutionalisation and organisation of history«, in: Lambert, Peter/Schofield, Philipp R. (Hrsg.): Making History: An introduction to the history and practices of a discipline, London/New York: Routledge 2004, S. 9–25. Die Rezeption Bernheims wurde erschwert durch die Tatsache, dass davon weder englische noch spanische Übersetzungen vorlagen, wohingegen Langlois/Seignobos’ Werk noch im Erscheinungsjahr ins Englische und bereits 1913 ins Spanische übersetzte wurde. Vgl. Eujanian: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización«, S. 89–90. Zu der Bedeutung dieser Werke für die argentinische Historiographie siehe auch: Stortini: »Teoría, método y práctica historiográfica en Paul Groussac«, S. 8–9; Buchbinder: »La Facultad de Filosofía y Letras y la enseñanza universitaria de la historia«, S. 38; Stortini: »La recepción del método histórico«, S. 75. Eujanián stellt zu dieser Trennung von Geschichtsschreibung und Literatur folgendes fest: »[…] destaca la paradoja de que al tiempo que la historia pretendía distanciarse de la literatura esta última parecía ofrecer un modelo particularmente pertinente a las aspiraciones del historiador en el caso del realismo literario, que introduce la figura del narrrador omnisciente, objetivo e impersonal presente en el Flaubert de Madame Bovary (1857) y La educación sentimental (1869). Por su parte, el historiador francés Henri Houssaye, remarcaba de qué modo la mirada del novelista se acercaba cada vez más a la del historiador especialmente en el análisis del personaje y el estudio del medio ambiente […]«, Eujanian: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización«, S. 91. Im Zusammenhang dieser paradox erscheinenden Entwicklung ist auch das Entstehen des klassischen historischen Romans zu

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Von ihrem Postulat der Wissenschaftlichkeit der Geschichte mochten die Mitglieder der Nueva Escuela Histórica jedoch nicht abrücken. In dem 1917 publizierten Manual de historia de la civilización argentina definierten sie Geschichte als Wissenschaft, welche »investiga y establece la causa y el efecto de los hechos históricos y los cataloga, digamos así, dentro de las series históricas«.69 Dieser Glaube an eine nachzuvollziehende Kausalkette wird noch deutlicher in folgendem Postulat: »Es la causa general que vincula a los hechos de naturaleza distinta dentro de un encadenamiento que explica su origen y nos pone en condiciones de apreciar el conjunto del fenómeno histórico«.70 Carbia kann sich in einer späteren Publikation von 1925 eines erneuten Seitenhiebs auf Groussac nicht enthalten: Groussac no parece comulgar con el concepto de serie y de proceso, y mucho menos con la teoría de la universalidad de los hechos históricos. En ningún caso ha incursionado hondo en busca de las determinantes causales y de la 71 columna vertebral que encadena los sucesos.

2.5 G ESCHICHTE ALS G ESCHICHTE DER G EGENWART ? D IE R EZEPTION C ROCES DURCH DIE N UEVA E SCUELA H ISTÓRICA Neben den Autoren des Historismus wurden auch die Texte Benedetto Croces in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in Argentinien rezipiert.72 Croces neo-idealistische Geschichtsphilosophie ist als Reaktion auf den Historismus und als Beitrag zur Überwindung des italienischen Positivismus zu sehen. Er schuf mit seinem 1917 erschienenen Werk Teoria e storia della storiografia73 eine Grundlage der modernen Geschichtsphilosophie. Eine wesentliche Neuerung seiner Theorie

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nennen, der Anfang des 19. Jahrhunderts mit Walter Scotts Waverley (1814) seinen Ursprung fand. Lukács, Georg: Der historische Roman, Berlin: Aufbau Verlag 1955, S. 11. Stortini: »La recepción del método histórico«, S. 87, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 88. Zitiert nach: ebd. Borges stellte 1936 im Rahmen der Biografías sintéticas, die er für die Zeitschrift El Hogar verfasste, Benedetto Croce und seine wichtigsten Publikationen vor. (OC 4, S. 225–226) Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie.

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der Geschichte bestand darin, dass er alle Geschichte als zeitgenössische Geschichte bezeichnet und somit auf die Position des Geschichtsschreibers hinweist, der die Dokumente aus seiner zeitgenössischen Perspektive heraus interpretiert und beurteilt. Der Theorie, dass die Geschichte in den Gedanken des Historikers wieder gegenwärtig werde und damit alle Geschichte immer Geschichte der Gegenwart sei, verleiht er auch in dem 1938 erschienenen Werk La storia come pensiero e come azione74 Ausdruck. So besitzt das historische Dokument zwar nicht mehr den Stellenwert, der ihm im klassischen Historismus zugewiesen wurde, jedoch wäre eine Geschichte ohne Dokumente ebenfalls unkontrollierbar. Die Realität liegt nach Croce in der Beziehung des Historikers zum Dokument, die historische Erzählung ist somit eine kritische Darstellung des Dokuments.75 Als überholt betrachtet er Rankes Forderung, die Geschichte so darzustellen, »wie sie eigentlich gewesen« und stellt heraus, dass man die Dinge nicht zeigen kann, ohne sie gleichzeitig zu qualifizieren und daher zu beurteilen.76 Die notwendige Subjektivität von Geschichtsschreibung zeige sich bereits in Bezug auf die willkürliche Auswahl geschichtlicher Fakten und auf die ebenfalls willkürliche Periodisierung von Zeit.77 So berichtet er von Beispielen künstlicher Periodisierung, die die Vergangenheit in Einheiten einteilten, die den Tagen der Schöpfung, Lebensaltern oder Generationen entsprachen.78 Croce betont in seinen Texten darüber hinaus die Rolle des Vergessens für die Geschichte. So zeigt er zum einen das Problem der unzuverlässigen Zeugenaussagen auf und weist zum anderen auf die für das Schreiben der Geschichte notwendige Funktion des Vergessens hin. So seien nicht einmal direkte Zeugen eines Geschehens zuverlässig und widersprächen sich. Croce bezieht sich auf Tolstoi in der Beobachtung, dass am Abend einer Schlacht niemand mehr erkennen könne, wie diese sich genau abgespielt habe. Schon am selben Abend entstehe eine fälschliche und legendenhafte Version der Schlacht, die von den »Berufshistorikern« jedoch ernst genommen werde und ihren

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Croce, Benedetto: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Hamburg: Marion von Schröder Verlag 1944, S. 17. Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, S. 1–5. Croce: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, S. 48. Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, S. 97, 100. Ebd., S. 102–139.

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Arbeiten als Grundlage diene.79 Dies geschehe jedoch nicht nur in Bezug auf die Weltgeschichte sondern sei auch im Privaten zu beobachten. Niemand könne sich an die präzisen Beweggründe der (auch nahen) Vergangenheit erinnern. So ist Geschichte bereits durch die lebensnotwendige Funktion des Vergessens und durch die damit in Zusammenhang zu sehende lückenhafte Erinnerungsleistung von etwaigen Zeugen bruchstückhaft. Kritisch gegenüber steht Croce ebenfalls einem simplen Verständnis von Kausalität. Er bezeichnet die Arbeit des deterministischen Historikers, der zunächst alle Tatsachen sammele, um diese dann in einen vermeintlichen Kausalzusammenhang zu stellen, als die Arbeit an einer abgerissenen Kette, da die Methode der Kausalzuweisung zwar zu einem endlosen Regress führe, niemals jedoch zu der Ursache gelange, an der alles aufgehängt werden könne.80 Darüber hinaus hebt Croce in seinen geschichtsphilosophischen Schriften den Gegensatz von partikulär und universal hervor und erteilt der Idee einer Universalgeschichte eine klare Absage: […] müssen wir auf die Erkenntnis der Universalgeschichte Verzicht […] leisten? – Ohne Zweifel; aber mit diesen beiden Bemerkungen: 1. dass man auf etwas verzichtet, das man nie besessen hat, weil man es nicht besitzen konnte; 81 und 2. dass deshalb ein derartiger Verzicht keineswegs schmerzlich ist.

An die Stelle einer universalen Geschichte trete nun vielmehr eine Anzahl kleinerer Geschichten. Geschichte ist Croce zufolge immer partikulär, jedoch wird dadurch, dass man die Universalgeschichte leugnet, nicht etwa auch die Erkenntnis des Universalen in der Geschichte geleugnet: […] so lösen sich die »Universalgeschichten«, soweit sie, ganz oder teilweise, wirkliche Geschichten sind, völlig in »Partikulargeschichten« auf, angeregt durch ein partikulares Interesse und zugespitzt auf ein partikulares Problem und nur mit solchen Tatsachen beschäftigt, die jenem Interesse und jenem Pro82 blem entsprechen […].

Der Einfluss Croces auf die Nueva Escuela Histórica ist umstritten. In dem 1927 in der Zeitschrift Nosotros erschienenen Artikel: »Los Estu-

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Ebd., S. 43. Ebd., S. 53. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46.

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dios Históricos« merkt der Verfasser Juan Rómulo Fernández an, dass zwar in diesem Zeitraum kein herausragendes historisches Werk im Stile von Mitre oder López erschienen sei, die historische Forschung in Argentinien aber dennoch insbesondere in Bezug auf die Methodik beträchtliche Fortschritte erzielt habe. Darüber hinaus hebt er den Einfluss hervor, den die Philosophie Benedetto Croces auf die neue historische Schule gehabt habe. Er umreißt dabei bereits kurz eine der Kernaussagen Croces in Bezug auf die historische Forschung, nämlich dass Geschichte zwangsläufig immer aus der zeitgenössischen Perspektive heraus betrachtet werde: Para Croce, filósofo de la estética hoy en boga, la historia constituye un fenómeno idealmente contemporáneo, porque ella resucita el pasado. Es decir, que 83 el hombre atrae, por decirlo así, el universo infinito hacia sí mismo.

Im Verlauf des Jahres 1929 finden sich dann in Nosotros bereits drei Beiträge, die sich mit dem italienischen Philosophen beschäftigen. Im Mai erscheint zunächst eine als kurze Einführung in das Werk Croces verstandene Auflistung seiner zentralen Ideen z.B. in den Bereichen Natur, Kunst, Religion und Geschichte. Der Autor Manuel Lizondo Borda beklagt darin jedoch, dass trotz der verstärkten Rezeption des Werkes Croces in Argentinien keine wirkliche Auseinandersetzung mit dessen revolutionären Ansätzen stattgefunden habe. Dies lasse darauf schließen, dass Croces Philosophie trotz ihrer Popularität unter Argentiniens Intellektuellen nicht verstanden worden sei.84 Im Oktober desselben Jahres erscheint dann der polemische Artikel: »Epílogo a un ›Crociano‹«, in welchem der Autor Carlos Astrada sich überwiegend mit den Vorwürfen Manuel Lizondo Bordas gegen sein (Un-)Verständnis Croces auseinandersetzt.85 Letzterer stellt dagegen seine führende Rolle als Croce-Kenner durch einen Besuch bei dem Philosophen in Italien unter Beweis. Im November 1929 veröffentlicht er die Notizen über dieses Gespräch unter dem Titel: »Con83 84

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Fernández, Juan Rómulo: »Los estudios históricos«, in: Nosotros 57, 219–220 (1927), S. 168–188, hier: S. 172. Lizondo Borda, Manuel: »Pequeña introducción a Croce«, in: Nosotros 64, 240 (1929), S. 173–183. Ravignani wirft den Mitgliedern der Nueva Escuela Histórica bereits 1927 vor, dass eine Nennung Croces lediglich aus Mode- und aus Prestigegründen erfolge, jedoch keine inhaltliche Auseinandersetzung impliziere. Astrada, Carlos: »Epílogo a un ›Crociano‹«, in: Nosotros 245 (1929), S. 63–70.

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versaciones con Benedetto Croce«.86 Carbia gelingt es sogar, Croces Idealismus mit den Anforderungen Bernheims zu verbinden und postuliert, dass die Nueva Escuela Histórica eine Rekonstruktion der argentinischen Vergangenheit anstrebe, welche gemäß den strikten Anweisungen Bernheims erfolge und dennoch die von Croce herausgestellte Subjektivität berücksichtige: »realizada[s] de acuerdo con los más estrictos métodos de Bernheim […] y haciendo revivir el pasado, como quiere Croce…«.87 Wenngleich auch Carbia nicht sonderlich überzeugt von der Kernaussage Croces scheint, den zeitgenössischen Standpunkt des Historikers zu berücksichtigen, so zeigte die Nueva Escuela Histórica jedoch sehr wohl eine durchaus kritische Auseinandersetzung mit einer der Grundlagen des historiographischen Prozesses, welche auch von Croce – wie zuvor gezeigt – in Frage gestellt wurde: der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses. 1926 erscheint in der Zeitschrift Nosotros unter der Rubrik »Miscelanea« eine kurze Notiz von Francisco Romero, Mitbegründer der Nueva Escuela Histórica. Romero transkribiert darin eine Anekdote aus dem Werk La leyenda negra y la verdad histórica von Julián Juderías, welche sich bei einem Kongress für Psychologie zugetragen habe. In der Nähe habe ein Volksfest stattgefunden und (vermutlich angestiftet durch den Vorsitzenden des Kongresses) sei es zu folgendem Ereignis gekommen: Plötzlich seien ein Clown und dessen Verfolger in den Saal gestürmt, der Clown sei gestürzt und von seinem Verfolger angeschossen worden. Danach seien beide geflüchtet. Unmittelbar im Anschluss daran habe der Vorsitzende des Kongresses die übrigen Teilnehmer gebeten, die Ereignisse kurz schriftlich fest zu halten. Mit folgendem niederschmetternden Resultat: Cuarenta fueron los relatos que se le entregaron y de ellos diez eran falsos en su totalidad; veinticuatro contenían detalles inventados y sólo seis se ajustaban a la realidad. Ocurrió esto en un Congreso de Psicología, y eran autores de los trabajos en que se faltaba tan descaradamente a la verdad, hombres dedicados al estudio, de moralidad indudable y que no tenían el menor interés en alterar 88 la verdad de los sucesos de que habían sido testigos.

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Lizondo Borda, Manuel: »Conversaciones con Benedetto Croce«, in: Nosotros 246 (1929), S. 202–209. Stortini: »La recepción del método histórico«, S. 96, Hervorhebung im Original. Romero, Francisco: »Miscelanea«, in: Nosotros 200–201 (1926), S. 145– 146, hier: S. 145.

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Der Autor hebt daraufhin die herausragende Bedeutung dieses Experimentes nicht nur für die Psychologie sondern für auch für andere Wissenschaften wie die Geschichte hervor, für die das Ergebnis zutiefst beunruhigend sei. Wenn Zeugenaussagen so unzuverlässig seien, so Romero, seien dann nicht auch die Geschichtswerke unzuverlässig, beruhten sie doch auch zumeist auf Zeugnissen verschiedener Art? Romeros Frage scheint berechtigt: »¿Cuántas no serán las falsedades que contengan y los errores de que se hagan eco?«.89 Romero wirft in dieser Notiz – ebenso wie auch Croce – die Frage nach der Glaubwürdigkeit des unmittelbarer Augenzeugen auf und knüpft daran Fragen nach der allgemeinen Konstitution von Gedächtnis, nach der Möglichkeit einer schriftlichen Fixierung von Gedächtnisleistungen sowie nach den Auswirkungen möglicherweise fehlerhafter bzw. verzerrter Gedächtnisleistungen auf die (nationale) Geschichtsschreibung und Identität.

2.6 Z EITPHILOSOPHIE : B ERGSON UND DIE A NNALES -S CHULE »El tiempo es uno de los temas esenciales de nuestro tiempo«, verkündet Borges 1937 in einer Notiz in der Zeitschrift El Hogar. Er gibt darin kurz die Auffassung des Biologen Lecomte du Noüy wider, dass die individuelle, subjektive Zeit eines Menschen im Zusammenhang mit der individuellen Fließgeschwindigkeit des Blutes stehe (EH, S. 59).90 Auch die Nueva Escuela Histórica entwickelte in Bezug auf die Zeitphilosophie bemerkenswerte Ansätze: Bereits 1908 schon hatte Ricardo Levene in einem Aufsatz auf die unterschiedliche Dauer historischer Veränderungen hingewiesen und damit wichtige Erkenntnisse von Braudels Konzept der »longue durée« antizipiert. 1914 unterscheidet D.L. Molinari ebenfalls zwischen einer statischen Zeit, einem »estado de cosas permanentes« und einer dynamischen Zeit des historischen Ereignisses.91

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Ebd., S. 146. EH steht für Borges, Jorge Luis: Borges en El Hogar. 1935–1958, Buenos Aires: Emecé 2000. Die Notiz zu dem Werk mit dem Titel »Tiempo Biológico« findet sich unter der Rubrik »De la vida literaria« vom 09.07.1937. Stortini: »La recepción del método histórico«, S. 90.

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Zwischen der Nueva Escuela Histórica und Vertretern der Annales92 wie Lucien Febvre, Maurice Halbwachs und André Siegfried bestanden tatsächlich Verbindungen, ebenso zu Henri Berr und Eduard Fueter.93 In den historischen Werken, die im Umkreis der Annales entstanden, wurde dem chronosophischen Spektrum auf verschiedene Art Rechnung getragen. Zum einen war die Auffassung einer Mentalitätengeschichte neu, der von Lucien Febvre entwickelten Idee, dass unterschiedliche Denkweisen kennzeichnend für ein jeweiliges Zeitalter sein könnten. Kennzeichnend für Marc Blochs94 historische Arbeiten in den 30er Jahren ist dagegen beispielsweise die Untersuchung von tief liegenden Strömungen in der Geschichte unter Einbezug von klimatischen, geographischen, anthropologischen und ökonomischen Veränderungen als historischen Ursachen. Diese Richtung fand einen

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Unter dem Einfluss von Henri Bergsons Zeitphilosophie, welche eine Lösung vom Begriff einer linearen, fortschreitenden Zeit implizierte, der für die bisherige Geschichtswissenschaft als unentbehrlich gegolten hatte, wandten sich in Frankreich Historiker wie Lucien Febvre und Marc Bloch von der als wissenschaftlich propagierten historischen Methode des Historismus ab und gründeten die einflussreiche Zeitschrift Annales. Vgl. dazu auch: Roberts, Michael: »The Annales school and historical writing«, in: Lambert, Peter/Schofield, Philipp R. (Hrsg.): Making History: An introduction to the history and practices of a discipline, London/ New York: Routledge 2004, S. 78–92. So hielt sich Lucien Febvre 1937 beispielsweise zu einer Vortragsreihe in Argentinien auf. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Implikationen der Annales-Schule für die argentinische Historiographie unterblieb jedoch später. Cattaruzza diagnostiziert Ermüdungserscheinungen der Nueva Escuela Histórica bereits kurz nach der Konsolidierung einer professionellen Geschichtsschreibung durch diese, insbesondere was die Rezeption ausländischer Philosophen anbeträfe. Die Historiker der neuen historischen Schule seien diesen mit offensichtlichem Desinteresse begegnet. Zwar seien diese regelmäßig zitiert worden, jedoch habe man eine theoretische Reflexion bewusst vermieden und auch die angenommene Objektivität der historischen Forschung wurde nicht in Frage gestellt, wie dies jedoch bereits in Europa und Nordamerika geschah. Cattaruzza, Alejandro: »La historia y la ambigua profesión de historiador en la Argentina de entreguerras«, in: Cattaruzza, Alejandro/Eujanian, Alejandro (Hrsg.): Políticas de la historia: Argentina 1860–1960, Buenos Aires: Alianza 2003, S. 103–142, S. 138–139. Bloch war neben Febvre Mitbegründer der Annales. Der Name Annales bezieht sich auf die von den beiden 1929 gegründete Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale.

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Höhepunkt in Fernand Braudels Untersuchung des mediterranen Raumes unter Einbezug von Land, Leuten und dem Meer.95 Wichtiger Impulsgeber für die Annales-Schule war die Zeitphilosophie Henri Bergsons. Dieser vertrat die These, Intuition sei besser geeignet, menschliche Erfahrung zu verstehen als wissenschaftlicher Verstand. Er traf die wesentliche Unterscheidung zwischen Dauer (durée) und Zeit.96 Die Zeit hat Bergson zufolge einen verräumlichten, quantitativen Charakter, welcher sich in ihrer Messbarkeit ausdrücke. Die Dauer dagegen entzieht sich jeder Quantifizierung oder Verräumlichung. Jeder Zustand der Dauer durchdringe alle anderen, jeder Moment der Dauer enthalte alle anderen. Diese nur subjektiv erfahrbare Heterogenität erkläre, warum die Dauer nicht quantifiziert werden könne, lediglich retrospektiv sei es möglich, einzelne Zustände der Dauer herauszustellen. Während diese Heterogenität den »Querschnitt« der Dauer beschreibe, sei der »Längsschnitt« durch Kontinuität gekennzeichnet.97 Jeder Zustand fließe untrennbar in den nächsten hinüber. Eine wichtige Rolle spiele dabei das Gedächtnis, das unablässig Dinge aufnehme und damit den Menschen kontinuierlich verändere: »Unablässig während seines Vorrückens in der Zeit schwillt mein Seelenzustand um die Dauer, die er aufrafft; aus sich selbst sozusagen rollt er einen Schneeball«.98 Diese Bergson’sche Kontinuität sowie die Rolle des Gedächtnisses beschreibt Borges in seiner oben bereits zitierten Vorlesung über die Zeit, in welcher er sich auch zweifach explizit auf Henri Bergson bezieht: »Nuestra conciencia está continuamente pasando de un estado a otro, y ése es el tiempo: la sucesión«

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In dem Werk Das Mittelmeer und die Mittelmeerwelt im Zeitalter Philipps II. unterscheidet Braudel zwischen der stationären Zeit des Mittelmeers als geographischer Raum (la longue durée), der langsamen Zeit der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen (conjonctures) und der schnellen Zeit der politischen Ereignisse (événéments). Dies ist kennzeichnend für den Bruch der Annales mit einer linearen, fortschreitenden Zeit und somit auch mit einem Geschichtsverlauf, wie er bis dato verstanden worden war. »Die von unserem Bewußtsein erlebte Dauer ist eine Dauer mit bestimmtem Rhythmus, ganz verschieden von der Zeit, von welcher der Physiker spricht […]. […] Man muß hier unterscheiden zwischen unserer eigenen Dauer und der Zeit im allgemeinen«, Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, Jena: Eugen Diederichs 71919, S. 204. Jureviĉs, Pauls: Henri Bergson. Eine Einführung in seine Philosophie, Freiburg: Karl Alber Verlag 1949, S. 36. Zitiert nach: ebd., S. 38.

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(OC 4, S. 199). Er erinnert an Heraklits Bemerkung, man steige niemals zweimal in denselben Fluss und erklärt diese wie folgt: ¿Por qué nadie baja dos veces al mismo río? En primer término, porque las aguas del río fluyen. En segundo término […] porque nosotros mismos somos también un río, nosotros también somos fluctuantes. […] Mi presente – o lo que era mi presente – ya es el pasado. Pero ese tiempo que pasa, no pasa enteramente. […] En todo caso, queda en la memoria. La memoria es individual (ebd.).

Die Zeitphilosophie der Annales-Schule muss vor dem Hintergrund einer weltweiten Infragestellung des Zeitbegriffes im frühen 20. Jahrhunderts gesehen werden. Diese stand im Zusammenhang mit der Einführung einer uniformen, universalen Zeit Ende des 19. Jahrhunderts.99 Die Entwicklung der elektrischen Uhr mit einem Sekundenzeiger 1916 ermöglichte zeitliche Präzision und machte die dahinfließende Vergänglichkeit der Zeit sicht- bzw. hörbar. Gleichzeitig kam es jedoch weltweit auch zu einer Infragestellung der Zeit als Inbegriff von Dauer und Sukzession. Während Albert Einstein Newtons Annahme einer gleichförmigen Zeit in Frage stellte, betonte Durkheim den sozialen Ursprung des Zeitbegriffs und dessen daraus resultierende Heterogenität.100 Bereits 1884 hatten die Repräsentanten von 25 Staaten, die an der Prime Meridian Conference in Washington teilnahmen, sich auf Greenwich als Null-Meridian geeinigt und die Erde in 24 Zeitzonen eingeteilt. Sie bestimmten darüber hinaus die exakte Länge eines Tages und legten einen universalen Anfangspunkt des Tages fest. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch existierten weiterhin lokal verschiedene, sich teils überlagernde Zeitzonen in den verschiedenen Ländern. In einigen Regionen Frankreichs koexistierten vier verschiedene Zeiten, auch die Pariser Zeit verlief genau neun Minuten und einundzwanzig Sekunden vor Greenwichzeit. Trotz einer vergleichsweise späten Anerkennung der Greenwichzeit als nationaler Zeit, richtete Frankreich 1912 die Internationale Standardzeitkonferenz aus, deren Ziel darin bestand eine Basis für zeitliche Akkuratesse auf globalem Level zu schaffen. 1913 wurde das erste weltweite, elektronisch übermittelte Zeitsignal vom Eiffelturm aus gesandt. Kern, Stephen: The culture of time and space, 1880 – 1918, Cambridge/London: Harvard University Press 2003, S. 12–14. 100 Ebd., S. 19–20 u. S. 32. Zur Bedeutung des Zeitbegriffes in Physik und Soziologie vgl. auch Steininger, welcher die Bedeutung von Zeit für verschiedene kulturwissenschaftliche Bereiche analysiert: Steininger, Christian: »Zeit als kulturwissenschaftliche Schlüsselkategorie. Ein Überblick zum Stand der Forschung«, in: Faulstich, Werner/Steininger, Christian (Hrsg.): Zeit in den Medien – Medien in der Zeit, München: Fink 2002, S. 9–44, hier: S. 14–19. In diesem Kontext situiert sich natürlich auch der

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Kern sieht die Infragestellung einer gleichförmigen, stetig in eine Richtung hin verlaufenden Zeit insbesondere durch die Entwicklung des elektrischen Lichtes und der Cinematographie begünstigt. Die Möglichkeit, natürliche Tag-Nacht-Rhythmen mit Hilfe der Elektrizität außer Kraft zu setzen sowie Zeit zu konservieren oder reversibel abzuspielen, wie sie das Kino bot, bildete den Nährboden chronosophischer Überlegungen.101 Kern betont jedoch, dass sich die Chronosophie dieser Epoche fast ausschließlich auf die subjektiv wahrgenommene Zeit bezog, die Irreversibilität der öffentlichen Zeit dagegen wurde selten in Frage gestellt: Only Einstein challenged the irreversibility of public time, and even then for a special kind of event series that occurs in different sequences when viewed from different moving reference systems. All others left public time to flow irreversibly forward but insisted that the direction of private time was as capricious as a dreamer’s fancy. […] The thrust of the age was to affirm the reality of private time against that of a single public time and to define its nature as heterogeneous, fluid, and reversible.102

Futurismus, welcher Borges zufolge ab 1924 in Buenos Aires verstärkt rezipiert wurde. Borges bezeichnet den Futurismus als einen Aufguss der Ideen Walt Whitmans und Thomas De Quinceys (EH, S. 166). 101 Hickethier beschreibt den Einfluss des filmischen Genres auf die Zeitwahrnehmung: »Die mit dem Film […] stattfindende mechanische Überführung von vorfilmischen Bewegungsabläufen in technisch zerlegte und neu synthetisierte Bewegungen […] erlaubt […] die Darstellung von zeitlichen Diskontinuitäten, Beschleunigungen und Verlangsamungen, Verdoppelungen und nicht zuletzt der zeitlichen Inversion. Die Umkehr der Zeitachse […] erzeugt Komik und Verstörung, weil sie die Gewissheit der Alltagszeit und die Gültigkeit der Kausalitätskette außer Kraft zu setzen scheint – und diese damit andererseits auch wiederum bestätigt«, Hickethier, Knut: »Synchron. Gleichzeitigkeit, Vertaktung und Synchronisation der Medien«, in: Faulstich, Werner/Steininger, Christian (Hrsg.): Zeit in den Medien – Medien in der Zeit, München: Fink 2002, S. 111– 29, hier: S. 122. Auch Borges kommentiert – wie bereits gezeigt – diesen Einfluss, wenn er die Geschichte als diskontinuierlich beschreibt und sie mit der Filmtechnik Josef von Sternbergs vergleicht (OC 1, S. 317). Zur Veränderung der menschlichen Wahrnehmung durch die Filmtechnik vgl. auch: Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 312. 102 Kern: The culture of time and space, 1880 – 1918, S. 34.

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2.7 D ER R EVISIONISMUS Hatte sich die Geschichtsforschung in Argentinien Ende der 30er Jahre als Wissenschaft etabliert und institutionalisiert,103 so betrat ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine geschichtswissenschaftliche Strömung die Bühne, die den historischen Diskurs in Argentinien für die nächsten Dekaden prägen sollte: der historische Revisionismus. Der Revisionismus der argentinischen Geschichte lässt sich annähernd als der Versuch beschreiben, die dominierende unitaristische Geschichtsschreibung durch eine eher föderalistisch geprägte zu ersetzen, die mit einer Aufwertung der Person Manuel Rosas einher ging und eher den nationalistischen Interessen entsprach.104 Die bis dato vorherrschende, offizielle Geschichtsschreibung, wie sie in Presse und Unterricht Verbreitung fand, stand somit der revisionistischen diametral gegenüber: Su oposición a la tradición historiográfica oficial que encontraba apoyo y difusión tanto en los órganos de prensa como en los centros de educación fue absoluta. Contra la versión unilateral de los hechos históricos, los revisionistas acometieron la tarea de desencubrir y exaltar aquel otro costado de la historia que representaba lo opuesto a la lectura liberal.105 103 Eujanian: »Método, objetividad y estilo en el proceso de institucionalización«, S. 99. In ganz Lateinamerika fand in dieser Periode, die Raphael mit den Jahren 1895 bis 1935 absteckt, eine Professionalisierung der Geschichtswissenschaft statt. Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München C.H. Beck 2003, S. 26. 104 Die Kontroverse zwischen Unitarismus und Föderalismus entstand bereits kurz nach der Unabhängigkeit in Argentinien und ist prägend für die argentinische Gesellschaft und Politik. Ausgelöst wurde sie durch die Unzufriedenheit der Provinzen, die sich durch die Machtbefugnisse und nepotische Politik der späteren Hauptstadt Buenos Aires übervorteilt sahen. Während die hauptsächlich aus einer kleinen, mächtigen Elite bestehenden Unitaristen für eine zentralistische Regierung mit Sitz in Buenos Aires plädierten, planten die Föderalisten eine Regierungsform, die mehr Verantwortung und Mitspracherecht für die Provinzen vorsah. Zwar lässt sich Rosas nicht eindeutig dem föderalistischen Flügel zuordnen, jedoch verachtete er die intellektuellen porteños und den von ihnen angepriesenen Liberalismus und Aufklärungsgedanken. Unter seiner Herrschaft gedieh dagegen eine Land- und Vieholigarchie, von der lediglich einige caudillos profitierten. Bethell, Leslie: Argentina since Independence, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 22. 105 Svampa, Maristella: El dilema argentino: civilización o barbarie. De Sarmiento al revisionismo peronista, Buenos Aires: Ediciones El Cielo por Asalto Imago Mundi 1994, S. 176.

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Der Revisionismus ist insofern als Fortsetzung der beschriebenen Nationalismusbewegung zu verstehen.106 Im Rahmen der Rückbesinnung auf traditionelle Werte, die die rurale Vergangenheit hervorhoben, wie es auch in den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts im Rahmen der nationalistischen Bestrebungen von der liberalen Elite Argentiniens eingefordert worden war, wurde nun Rosas von den Revisionisten heroisiert. Eine Umschreibung der bisher von der liberalen, unitaristischen Elite geprägten Geschichtsschreibung schien unumgänglich und wurde zur patriotischen Aufgabe erklärt: The movement implied that by the late 1930s, the clerical emphasis on »Single Truth« was giving way to »Nationalist Truth« […]: what now mattered was truth »by an Argentine standard«. »Revising our history«, wrote José M. Rosa, 107 one of the young revisionist historians, »is a deeply patriotic task«.

Die Forderung nach einer Aufwertung der föderalistischen Vergangenheit war nicht neu. Bereits Emilio Ravignani und Rómulo Carbia, Mitglieder der Nueva Escuela Histórica, hatten die unitaristische Perspektive der traditionellen Geschichtsschreibung bemängelt und ihre Revision gefordert.108 Jedoch bildete sich erst mit den Revisionisten 106 So setzt Rafael Olea Franco den Beginn des historischen Revisionismus bereits 1898 mit der Publikation des Buches von Ernesto Quesada La época de Rosas: su verdadero carácter histórico an. In diesem wird Rosas zu Gute gehalten, dass er die Anarchie beendet habe und Argentiniens Unabhängigkeit verteidigt habe. Rosas wird somit zum Inbegriff der »virilidad criolla«, wie Olea Franco herausstellt. Olea Franco stimmt jedoch mit der Einschätzung, dass der Höhepunkt des Revisionismo in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts anzusiedeln sei, überein. Vgl. Olea Franco: El otro Borges: el primer Borges, S. 104–106. Nicolas Shumway zählt auch Andrade, Alberdi und Hernández zu den Vorläufern des historischen Revisionismus in Argentinien. Shumway, Nicolas: The Invention of Argentina, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2003, S. 293–294. 107 Rock, David: Authoritarian Argentina. The Nationalist Movement, its History and its Impact, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1993, S. 120. Die enge Verbindung von Geschichte und Politik in Argentinien betont auch Svampa: »El surgimiento del revisionismo como corriente historiográfica nos muestra hasta que punto en Argentina la historia era un enjeu político«, Svampa: El dilema argentino: civilización o barbarie, S. 175. 108 Cattaruzza, Alejandro: »El revisionismo: itinerarios de cuatro décadas«, in: Cattaruzza, Alejandro/Eujanian, Alejandro (Hrsg.): Políticas de la historia: Argentina 1860–1960, Buenos Aires: Alianza 2003, S. 143– 182, hier: S. 147.

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eine Gruppe von Intellektuellen heraus, die zwar nicht immer unisono auftraten, jedoch durch den Grad ihrer Institutionalisierung und durch ihre Beständigkeit während mehrerer Dekaden durchaus die Bezeichnung einer kulturellen Gruppierung verdienen.109 Der Revisionismus blieb bis in die 70er Jahre Bestandteil der Geschichtsforschung und Kultur Argentiniens und verband sich später teilweise mit den Zielen des Peronismus. Die anfänglich geforderte neue Lesart der argentinischen Geschichte wurde zur neuen offiziellen Geschichte und historiographische Werke aus den Reihen der Revisionisten erzielten in den 60er Jahren beachtliche Verkaufszahlen. Jedoch gelang es den Revisionisten nicht, sich auf universitärer Ebene zu etablieren.110 Borges kritisierte diese historiographische Tendenz. Der 1923 erschienene Gedichtband Fervor de Buenos Aires beinhaltet ein Gedicht über Rosas, mit dem Borges entfernt verwandt war.111 Darin bezeichnet er diesen als Tyrannen, der zwar von den Gauchos verehrt wurde, aber darüber hinaus Angst und Schrecken verbreitet habe: »La imagen del tirano / […] [f]amosamente infame / su nombre fue desolación en las casas, / idolátrico amor en el gauchaje / y horror del tajo en la gar109 Zum Versuch einer definitorischen Eingrenzung des Revisionismus vgl. ebd., S. 145–146. Das Fundament für die Revisionisten bildete zunächst das 1930 erschienene und überaus populäre Werk von Carlos Ibarguren Juan Manuel de Rosas. Su vida, su drama, su tiempo. 1934 widmeten sich die Brüder Julio und Rodolfo Irazusta in Argentina y el imperialismo británico revisionistischen Fragestellungen und im gleichen Jahr wurde die Kommission zur Rückführung der sterblichen Überreste Rosas (Comisión por la Repatriación de los Restos de Rosas) gegründet. Julio Irazusta legte 1936 mit Ensayo sobre Rosas erneut eine revisionistische Studie über Rosas vor und 1938 wurde das Instituto Juan Manuel de Rosas de Investigaciones Históricas gegründet, welches später die institutseigene Revista publizierte. 110 Zu einer ausführlichen Darstellung des Revisionismus siehe ferner: Halperín Donghi, Tulio: El revisionimo histórico argentino, Buenos Aires/México: Siglo Veintiuno 1970; Jauretche, Arturo: Política nacional y revisionimo histórico, Buenos Aires: A. Peña Lillo Editor 51975; Scenna, Miguel Angel: Los que escribieron nuestra historia, Buenos Aires: Ediciones La Bastilla 1976, S. 237–268; Svampa: El dilema argentino: civilización o barbarie. 111 Borges’ Urgroßmutter mütterlicherseits war mit Juan Manuel de Rosas verwandt. Zu einer genauen Darstellung der verwandtschaftlichen Verhältnisse siehe Vaccaro, Alejandro: Georgie (1899–1930). Una vida de Jorge Luis Borges, Buenos Aires: Ed. Proa 1996, insbesondere S. 3–33, sowie Williamson, Edwin: Borges, a life, London: Penguin Books 2005, S. 3–31.

D ER HISTORISCHE D ISKURS IN A RGENTINIEN | 41

ganta« (OC 1, S. 28). In den 1969 hinzu gefügten Anmerkungen zu Fervor de Buenos Aires in den Obras Completas äußert sich Borges zunächst zu seinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Rosas: Al escribir este poema, yo no ignoraba que un abuelo de mis abuelos era antepasado de Rosas. El hecho nada tiene de singular, si consideramos la escasez de la población y el carácter casi incestuoso de nuestra historia.

Den Revisionismus kommentiert er im Anschluss daran wie folgt: Hacia 1922 nadie presentía el revisionismo. Este pasatiempo consiste en »revisar« la historia argentina, no para indagar la verdad sino para arribar a una conclusión de antemano resuelta: la justificación de Rosas o de cualquier otro déspota disponible. Sigo siendo, como se ve, un salvaje unitario (OC 1, S. 52).

Cattaruzza vermutet, dass dieser Kommentar die Antwort auf eine im Juli 1968 publizierte Überschrift im Boletin des Instituto Juan Manuel de Rosas darstellte, welche auf dem Titelblatt in Ankündigung einer Besprechung von Borges’ zweitem Essayband El tamaño de mi esperanza112 die Frage stellte: »¿Borges rosista?«.113 Borges’ ablehnende Haltung gegenüber Rosas sollte jedoch bereits 1934 deutlich geworden sein, als er auf eigenen Wunsch hin114 einen Prolog für das gaucheske Gedicht El Paso de los Libres verfasste, welches deutlich Stellung gegen Rosas bezog.115 Im Gespräch mit María Esther Vazquez äußerte sich Borges ebenfalls abwertend über die Ziele der Revisionisten. So begrüße er zwar grundsätzlich die Idee eines historischen Revisionismus, jedoch bestehe die Arbeit der argentinischen Revisionisten vielmehr darin, zu im Vorhinein festgelegten Konklusionen zu gelangen:

112 Borges, Jorge Luis: El tamaño de mi esperanza (1926), Buenos Aires: Seix Barral 1993, ab hier: TE. 113 Cattaruzza: »El revisionismo: itinerarios de cuatro décadas«, S. 143. 114 Zur Vorgeschichte und Entstehung des Prologes siehe Cangiano, Gustavo/Maranghello, César/Piantanida de Barbatto, Cristina u.a.: Nuevos aportes sobre Arturo Jauretche, Buenos Aires: Archivo y Museo Históricos del Banco de la Provincia de Buenos Aires 2001 (Premio Arturo Jauretche del Banco de la Provincia de Buenos Aires a las Letras – año 1999), S. 333. 115 Cattaruzza: »El revisionismo: itinerarios de cuatro décadas«, S. 151. Borges reihte in dem Prolog darüber hinaus Jauretche in die Tradition von Hernández und Ascasubi ein, vermutlich wohl wissend, dass Letzterer gegen Rosas gekämpft hatte.

42 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE Si fuera realmente una revisión de la historia me parecería bien. Pero no lo es, puesto que está hecha por personas que conocen que el resultado de esa revisión va a ser el culto de una persona abominable como Rosas, […]. […] Si ya saben que van a llegar a esa conclusión, que el personaje principal de la Argentina tiene que ser Martín Fierro… ¿Por qué simulan el proceso de revisar la historia, cuando sabemos que empiezan con las conclusiones y luego inventan 116 las premisas?

116 Vázquez, María Esther: Borges: Imágenes, memorias, diálogos, Caracas: Monte Avila Editores 1977, S. 96.

3. Erzählte Geschichte

In dem Text »Sentirse en muerte«, welcher zuerst in El idioma de los argentinos von 19281 erscheint und später in den Essays »Historia de la eternidad« und »Nueva refutación del tiempo« aufgegriffen wird, schildert der Erzähler »Borges« ein irrationales Erleben von Zeit.2 Er streift durch die südliche Vorstadt von Buenos Aires und plötzlich scheint es ihm, als habe er exakt denselben Moment vor dreißig Jahren bereits einmal erlebt. Einen Zeitsprung schließt er aus, vielmehr begreift er diesen Moment als ein Erfahren von Ewigkeit. Die Zeit – so Borges – sei eine Täuschung, Erlebnisse wie dieses, die Untrennbarkeit zweier identischer Momente seien hinreichender Beleg dafür. Dieses Erlebnis übersteige die menschliche Vernunft, sei »demasiado irrazonable y sentimental para pensamiento« (OC 1, S. 365).3 Umso interessanter erscheinen die Worte, mit denen Borges die Beschreibung der Szene im Folgenden einleitet: »Paso a historiarla, con los accidentes de tiempo y de lugar que la declararon«. Interessant insofern als Borges hier nicht etwa die Verben »contar« oder »narrar« wählt, sondern durch den Gebrauch von »historiar« auf eben jene Doppeldeutigkeit von historia verweist, welche auch in der deutschen

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Borges, Jorge Luis: El idioma de los argentinos (1928), Madrid: Alianza 2000. Im Vorwort zu El idioma de los argentinos stellt Borges heraus, dass Sprache und Zeit, diese beiden für Erzählungen jeglicher Art elementaren Kategorien, leitmotivisch für den Band stehen: »Tres direcciones cardinales lo [el libro, C.R.] rigen. La primera es un recelo, el lenguaje; la segunda es un misterio y una esperanza, la eternidad; la tercera es esta gustación, Buenos Aires. Las dos últimas confluyen en la declaración intitulada Sentirse en muerte. La primera quiere vigilar en todo decir« (IA, S. 10). OC 1 steht im Folgenden für den ersten Band der vierbändigen Ausgabe der Obras completas von Emecé. Vgl. Borges: Obras completas I. Gleiches gilt entsprechend für die Bände 2–4.

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Sprache mit der polysemen Verwendungsmöglichkeit von »Geschichte« besteht. Ein irrationales Erlebnis von Zeit wird also in die Form der Erzählung überführt und es wird ein Verb gewählt, welches auf die Ähnlichkeit von historischer und literarischer Erzählung verweist.

3.1 Z EIT

UND

E RZÄHLUNG

In dem Werk Zeit und Erzählung konstatiert Paul Ricœur eine grundlegende Korrelation zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung. Er gelangt zu dieser Feststellung nach einer Gegenüberstellung der zeitlichen Aporien von Augustinus, welche diesen im elften Buch der Confessiones beschäftigen, und der Analyse der Fabel, die Aristoteles in der Poetik vornimmt. Borges führt sein oben beschriebenes irrationales Zeitempfinden auf ein Erleben von Ewigkeit zurück, beschreibt er dieses doch als »mi teoría personal de la eternidad« (ebd.). Auch die von Augustinus vorgetragenen Aporien, welche das Zeitmaß und das Sein und Nichtsein der Zeit betreffen, sind in eine Meditation über die Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit eingefasst.4 In der Fabelkomposition spiegelt sich – so Ricœur – das augustinische Paradox der Zeit und gleichzeitig werde es aufgelöst, denn der Akt der erzählerischen Konfiguration verbinde zwei Zeitdimensionen, eine chronologische und eine nicht-chronologische, miteinander. Die heterogenen Ereignisse der paradigmatischen Ebene werden durch den Akt des Erzählens in eine synthetisierende zeitliche Ordnung überführt. In der Nachvollziehbarkeit einer Geschichte liege die Lösung des augustinischen Paradoxes von distentio und intentio. Auf diesen Vorüberlegungen basiert die zentrale These Ricœurs, dass zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht, die nicht rein zufällig ist, sondern eine Form der Notwendigkeit darstellt und an keine bestimmte Kultur gebunden ist. Zur Untersuchung dieses Zusammenhanges von Zeiterfahrung und Erzählung geht Ricœur von einem Dreischritt aus, einer dreifachen Mimesis. Mit der Mimesis I bezeichnet er das Vorher der dichterischen Komposition, die pränarrative Struktur von Handlung. Die Fabel ahmt Handlung nach, die-

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Ricœur: Zeit und Erzählung I.

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se ist jedoch immer schon vorher symbolisch vermittelt und eignet sich daher zur Erzählung. Das Überführen paradigmatischer Elemente in eine syntagmatische Ordnung durch das Erzählen bezeichnet Ricœur als die Mimesis II. Aus disparaten Ereignissen wird eine Geschichte, aus einer bloßen Abfolge entsteht eine Konfiguration.5 Erzählen konfiguriert diese Zeiterfahrung, synthetisiert Heterogenes, verbindet paradigmatische Elemente zu einer syntagmatischen Ordnung, löst poetisch das augustinische Zeitparadox auf. Ricœur prägt dafür den Begriff der »dissonanten Konsonanz«.6 Erzählung erlangt jedoch erst Sinn, wenn sie in einem von Ricœur als Mimesis III bezeichneten Akt rezipiert wird. Also erst in der Anwendung (Gadamer), im Akt des Lesens wird die Refiguration bewirkt, »die Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel«.7 Mimesis wird also von Ricœur nicht als Abbild einer wie auch immer gearteten Realität begriffen, sondern als dynamischer Akt und zeitlicher Vollzug. Zeit bildet die Tiefenstruktur von Geschichte8 und stellt einen der Reflexionsschwerpunkte im Werk von Jorge Luis Borges dar. Bereits von seinen frühen Essaybänden an finden sich zahlreiche essayistische Auseinandersetzungen mit der Zeit. Er bezeichnet diese wiederholt als das größte Problem der Metaphysik. Von besonderem Interesse erscheinen jedoch im Hinblick auf das Thema dieser Publikation diejenigen Texte, in denen er sich explizit mit der Erzählbarkeit von Zeit auseinandersetzt, wie in obigem Beispiel bereits angedeutet. In verschiedenen Erzählungen und Essays wird dies implizit oder explizit thematisiert. In dem Essay »Acerca de Unamuno, poeta« (I) befasst sich Borges etwa mit der Frage nach dem Wesen der Zeit, welche schon Unamuno und Generationen spanischer Lyriker umgetrieben habe: »Eso de que el tiempo sea tiempo (es decir sucesión) en vez de limitarse a un terco y rígido instante, es un azoramiento de siglos en la lírica hispana« (ebd., S. 111). Die Zeilen Unamunos »nocturno el río de las horas fluye / desde su manantial, que es el mañana / eterno…« lassen sich als 5 6 7 8

Vgl. ebd., S. 105f. Diesen Begriff entlehnt er Aristoteles’ Beschreibung der Rolle der peripeteia im Rahmen der Theorie des mythos, ebd., S. 226. Ebd., S. 122. Vgl.: Angehrn, Emil: »Zeit und Geschichte«, in: Angehrn, Emil/Iber, Christian/Lohmann, Georg u.a. (Hrsg.): Der Sinn der Zeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 67–84.

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Prätext für Borges’ spätere Texte lesen, in welchen er die Möglichkeit eines umgekehrten Zeitflusses in Betracht zieht, wie z.B. in dem Essay »El tiempo« oder in Fiktionen wie »Examen de la obra de Herbert Quain«. So kommentiert er auch hier Unamunos Sonett wie folgt: Eso del río de las horas es el clásico ejemplo de la justificada igualación del tiempo con el espacio que Schopenhauer declaró imprescindible para la comprensión segura de entrambos. Lo nuevo, lo conseguido, está en la dirección de la corriente temporal que en vez de adelantarse a lo futuro encamínase hacia nosotros […] desde lo venidero. ¿Y por qué no? […] no es menos paradójico el usual concepto del tiempo que el versificado por Unamuno (IN, S. 113, Hervorhebung im Original).

»Historia de la eternidad« wurde eingangs bereits vorgestellt, da sich dieser Text explizit mit der Erzählbarkeit eines phänomenologischen Zeiterlebnisses beschäftigt. Bereits der Titel mutet ironisch an, wenn von einer Historisierung der Ewigkeit gesprochen wird. In dem Essay unternimmt Borges dann auch eine nach bezifferten Unterkapiteln geordnete Auflistung verschiedener Vorstellungen von Ewigkeit, um dann zu guter Letzt mit seiner eigenen aufzuwarten. »La doctrina de los ciclos« beschäftigt sich mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr, welche Nietzsche aufgrund mathematischer Berechnungen angestellt hat. In »El tiempo circular« erweitert Borges diese Theorie um zwei weitere Vorstellungen zirkulärer Zeit. In »Nueva refutación del tiempo« erwähnt Borges erneut die als zentral zu wertende Szene, welche er unter dem Titel »Sentirse en muerte« bereits schilderte und die Bestandteil von »Historia de la eternidad« ist. Interessant ist darüber hinaus seine Feststellung, mit welcher er diese einleitet: »Todo lenguaje es de índole sucesiva; no es hábil para razonar lo eterno, lo intemporal« (OC 2, S. 142).9 Im Vorwort von 1946 merkt er zudem an, Sprache sei immer schon so gesättigt und beseelt von Zeit, dass es an sich schon schwierig sei, die Zeit zu leugnen, wenn man sich dafür der Sprache bediene. Er weist an dieser Stelle auch darauf hin, dass der Titel (ebenso wie Historia de la eternidad) eine contradiction in adjecto sei, da man nur etwas als neu bezeichnen könne, wenn man von einer zeitlichen Abfolge ausgehe. Nachdem er in diesem wohlbekann9

Auch in dem Essay »Penúltima versión de la realidad« greift er dies erneut auf: »Sea de Schopenhauer o de Mauthner o de la tradición teosófica o hasta de Korzybski, lo cierto es que esa visión de la sucesiva y ordenadora conciencia humana frente al momentáneo universo, es efectivamente grandiosa«, OC 1, S. 199.

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ten Essay mit Argumenten des Idealismus die Zeit leugnet, kommt er zu jener berühmten Schlussfolgerung, die mit »And yet, and yet« eingeleitet wird. Hervorgehoben sei diese hier, da sich hier nochmals prägnant das Ricœur’sche Diktum zeigt, dass die Zeit eine für den Menschen unhintergehbare Größe darstelle, wie sich in dem fatalistisch anmutenden: »El tiempo es la sustancia de que estoy hecho« (ebd., S. 148) äußert. Dies kommt noch verstärkt in dem ursprünglich als Vorlesung gehaltenen Text »El tiempo« zum Ausdruck. In diesem postuliert Borges eingangs, dass man sehr wohl vom Raum, nicht aber von der Zeit absehen könne.10 Er schließt sich Henri Bergson an und bezeichnet die Zeit als das Hauptproblem der Metaphysik. Im Anschluss daran wirft er mit Augustinus die Frage auf, was das Wesen der Zeit sei, um dann im Folgenden verschiedene Aporien aufzuzeigen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Borges in dem späten Text die Aporien der Zeit mit der Frage nach einer persönlichen Identität zusammenbringt. Bereits in dem Essay »Penúltima versión de la realidad« hatte er mit Mauthner und Schopenhauer argumentiert, dass die Zeit eine Kategorie sei, die dem (erwachsenen) Menschen vorbehalten sei. Tiere und auch Kinder seien nicht in der Lage, zeitliche Abfolge oder Dauer zu erleben. In »El tiempo« wirft Borges die Frage auf, inwiefern angesichts des stetig voran eilenden Zeitflusses es möglich sei, Identität auszubilden. Die Antwort liegt für Borges im Gedächtnis: »Es decir, somos algo cambiante y algo permanente. Somos algo esencialmente misterioso. ¿Qué sería cada uno de nosotros sin su memoria?« (OC 4, S. 205). Das Gedächtnis nimmt hier also die Funktion ein, eine sowohl individuelle als auch kollektive Identität auszubilden: El del tiempo es nuestro problema. ¿Quién soy yo? ¿Quién es cada uno de nosotros? ¿Quiénes somos? Quizá lo sepamos alguna vez. Quizá no. Pero mientras tanto, como dijo San Agustín, mi alma arde porque quiero saberlo (ebd.).11

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Dies führt er bereits in dem Essay »Penúltima versión de la realidad« (Discusión) aus. Darin bezeichnet er den Raum als Ereignis in der Zeit. Dieser sei aber keine universale Anschauungsform, wie Kant behauptet habe, OC 1, S. 200. Zur Ausbildung sozialer und persönlicher Identität vgl. auch: Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit: über den Sinn der Geschichte, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 164 ff, sowie die Kapitel 2–4 aus: Keupp, Heiner/Ahbe, Thomas/Gmür, Wolfgang u.a.: Identitätskonstruktionen.

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3.2 H ISTORISCHES

UND LITERARISCHES E RZÄHLEN

Ricœur zufolge manifestiert sich der Zusammenhang von Zeiterfahrung und Erzählung in den gegenseitigen Anleihen, die die beiden großen narrativen Modi der Geschichtsschreibung und der Fiktion in der Ausgestaltung ihrer je spezifischen Zeitstruktur machen. Jedwede Untersuchung einer bestimmten epischen Form hat es mit dem Verhältnis zu tun, in dem diese Form zur Geschichtsschreibung steht. Ja, man darf weitergehen und sich die Frage vorlegen, ob die Geschichtsschreibung nicht den Punkt schöpferischer Indifferenz zwischen allen Formen der Epik darstellt. Dann würde die geschriebene Geschichte sich zu den epischen Formen verhalten wie das weiße Licht zu den Spektralfarben,

schreibt Walter Benjamin in »Der Erzähler«.12 So lassen sich auch im Werk von Borges die poetologischen Überlegungen, das Verhältnis von Zeit, Sprache und Erzählung betreffend, immer sowohl vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit Literatur als auch mit den Möglichkeiten der Historiographie verstehen. Für eine Untersuchung des Verhältnisses von historischem und literarischem Erzählen im Werk von Jorge Luis Borges erscheint es daher lohnend einen genaueren Blick auf die Verfahren zu werfen, in denen sich Ricœur zufolge die Überkreuzung des historischen und des literarischen Schreibens manifestiert. Denn nur durch diese gegenseitigen Anleihen gelingt die Wiedereinschreibung von erlebter Zeit in die kosmische Zeit, nur dadurch kann so etwas wie eine menschliche Zeit entspringen, so eine der zentralen Thesen Ricœurs. Die Geschichte antwortet auf die Aporien der Zeit mit der Ausarbeitung einer spezifisch historischen Zeit, die zwischen erlebter und kosmischer Zeit vermittelt, die Fiktion dagegen lotet die Aporien der Zeiterfahrung in Phantasievariationen aus, so Ricœur. Beide erzählerischen Modi unternehmen diesen Versuch der Refiguration von Zeit entgegengesetzt. Während sich die historische Erzählung den Mitteln der Fiktionalisierung bedient, werden in der literarischen Erzählung umgekehrt Verfahren eingesetzt, die dem historischen Diskurs ent-

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Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008 (Rowohlts Enzyklopädie). Benjamin, Walter: Illuminationen: Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 (Suhrkamp Taschenbuch), S. 397.

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nommen sind. Aus dieser Austauschbeziehung resultiert die erzählte Zeit, die menschliche Zeit.13 Ausgangspunkt dieser Austauschbeziehung ist die Annahme, dass bezüglich der Referenz der beiden Erzählmodi eine grundlegende Dissymmetrie herrscht: Während die historische Erzählung anstrebt, etwas Gewesenes abzubilden, entfällt dieser Realitätsbezug in der Fiktion. Der historische Diskurs bedient sich verschiedener »Denkinstrumente«, wie Ricœur sie nennt, welche als »Bindeglieder« zwischen der erlebten Zeit und der universellen Zeit wirksam werden. Dazu zählen der Kalender, die Idee einer Generationenfolge »und damit verbunden die einer dreifachen Welt von Zeitgenossen, Vorgängern und Nachfolgern«14 sowie der Rückgriff auf Archive, Dokumente und Spuren. Die kalendarische Zeit lässt sich auf mythische Vorstellungen von Zeit zurückführen,15 ja die mythische Zeit erweist sich als die gemeinsame Wurzel der Zeit der Welt und der der Menschen.16 Als elementares Merkmal der kalendarischen Zeit nennt Ricœur das der Universalität. Émile Benveniste bezeichnet die Erfindung der kalendarischen Zeit, welche er als »Zeit der Chronik« bezeichnet, als »notwendige Bedingung für das Leben der Gesellschaften und für das Leben der Individuen in der Gesellschaft«.17 Ricœur nennt drei Wesenszüge, die allen Kalendern gemein sind. Zunächst einmal gehen diese immer auf Gründungsereignisse zurück und bestimmen somit den Nullpunkt der Berechnung. Darüber hinaus bietet die Datierung die Möglichkeit, die Zeit in beide Richtungen zu durchlaufen, sowohl von der Vergangenheit zur Gegenwart als auch von der Gegenwart zur Vergangenheit. 13 14 15 16

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Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 159–164. Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 166–168. Mircea Eliade unterscheidet zwischen der profanen und der heiligen Zeit. Die heilige Zeit ist »ihrem Wesen nach reversibel, insofern sie eine mythische Urzeit ist, die wieder gegenwärtig gemacht wird«, sie wird durch religiöse Riten und Feste periodisch erfahrbar gemacht für den religiösen Menschen, während die profane Zeit dagegen die gewöhnliche zeitliche Dauer, den zeitlichen Ablauf beschreibt. Auch der nicht-religiöse Mensch lebt jedoch – so Eliade – in verschiedenen Zeitrhythmen und kennt eine Zeit der Diskontinuitäten und Heterogenität. Dies ist die »Festzeit«, die »Zeit der Vergnügungen und Lustbarkeiten«, welche einem anderen Rhythmus folgt als die Zeit der Arbeit oder der Langeweile. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 2007, S. 63–64, Hervorhebung im Original. Zitiert nach: Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 169.

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Drittens werden mit Hilfe der Astronomie Maßeinheiten wie Tage, Jahre etc. festgelegt um feste Zeitabstände zu markieren. Die kalendarische Zeit macht sowohl Anleihen bei der physikalischen Zeit als auch bei der psychologischen und vermittelt gewissermaßen zwischen diesen beiden: »sie kosmologisiert die erlebte Zeit und humanisiert die kosmische Zeit. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, die Zeit der Erzählung wieder in die Zeit der Welt einzuschreiben«.18 Das zweite Bindeglied zwischen universeller und persönlicher Zeit, welches zur Erzeugung einer historischen Zeit beiträgt, ist die Generationenfolge. Neben der astronomischen »Untermauerung«19 stellt dies eine biologische »Untermauerung« dar. Der Rückgriff auf den Generationengedanken innerhalb der Geschichtsphilosophie erfolgt bereits bei Kant, wie Ricœur betont.20 Durch die Ersetzung der Generationen in bestimmten Abständen, durch den Wechsel von Tradition und Innovation wird ein Fundament für historische Kontinuität gelegt.21 Besonders interessant erscheint jedoch in Hinblick auf die Zielsetzung dieser Publikation das letzte der drei Bindeglieder, welche laut Ricœur dazu beitragen, zwischen erlebter und universeller Zeit zu vermitteln, nämlich die Spur (»trace«) und das damit in Verbindung stehende Dokument bzw. das Archiv. Die Spur stellt die notwendige Vorbedingung für die historische Praxis dar, sie steht am Anfang dessen, was Ricœur an anderer Stelle mit Michel de Certeaus Begriff als »historiographische Operation« bezeichnet.22 Eine Spur meint zunächst einmal im allgemeinen Sinne des Wortes eine Markierung, eine Fährte. Kennzeichnend für die Spur ist, dass sie etwas Gewesenes markiert und doch in der Gegenwart präsent ist. Anhand einer Spur

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Ebd., S. 173. Die typischen Bindeglieder wie Kalender und Sonnenuhr sind Erfindungen des Menschen und setzen einen Akt des Zeichenlesens voraus. Sie stützen sich zwar auf astronomische Vorgänge, jedoch lässt dies nicht vergessen, dass hierbei »etwas eminent Gesellschaftliches mit etwas Astronomischem synthetisiert wird«, ebd., S. 297, Hervorhebung im Original. Letztendlich also basiert die Datierung eines Ereignisses auf synthetischen Vorgängen, eine »wirkliche Gegenwart wird mit einem beliebigen Jetzt identifiziert«, ebd., S. 298. Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 174. Zur Diskussion des Generationsbegriffes bei u.a. Hume, Comte und Dilthey vgl. ebd., S. 175ff. Ricœur, Paul: Gedächtnis Geschichte Vergessen, München: Wilhelm Fink 2004 (Übergänge), S. 210ff.

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lässt sich ein Ereignis rekonstruieren, kausale Zusammenhänge lassen sich zurückverfolgen. Die Spur ist immer materiell, sie verewigt sich auf den historisch jeweils verfügbaren Speichermedien.23 In späteren Schriften präzisiert Ricœur den Begriff der Spur und erweitert ihn um den Begriff des Zeugnisses als Ausgangspunkt der dokumentarischen Phase des Historikers: »Dieses neue Element ist das Zeugnis, in dem wir die Struktur des Übergangs zwischen dem Gedächtnis und der Historie zu erkennen haben«24.25 Die Frage nach der Referenz der historischen Erzählung beantwortet Ricœur mit dem Begriff der »Repräsentanz« (»représentance«), also einer Stellvertretungsfunktion.26 In Zeit und Erzählung erläutert Ricœur das Verhältnis von Geschichte und Geschichtsschreibung anhand einer nacheinander durchlaufenen Beziehung des Selben, des Anderen und des Analogen, welche er mithilfe der geschichtsphilosophischen Positionen R.G. Collingwoods, Paul Veynes bzw. Michel de Certeaus und Hayden Whites erläutert.27 Hayden Whites Theorie der Tropen28 liefert Ricœur dabei einen wichtigen Beitrag, sie stellt für ihn 23 24

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Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 192–193. Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen: Wallstein Verlag 42004 (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 2), S. 32. Auch für die beiden anderen Bindeglieder der Generationenfolge und der Spur lässt sich ein nicht unbeträchtlicher Einfluss des Gedächtnisses bzw. der Phantasie nachweisen. Im Phänomen der Spur zeigt sich dies beispielsweise beim Interpretieren eines vorgefundenen Überbleibsels aus der Vergangenheit. Erst durch das Hineinversetzen in die jeweilige Zeit kann der Historiker erkennen, ob es sich wirklich um eine Spur handelt, ob das vorgefundene Objekt zu einer Vermittlungsinstanz gemacht werden kann, vgl. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 299. Ricœur, Paul: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Münster: Lit Verlag 2002 (Konferenzen des Centre Marc Bloch Berlin), S. 44–45. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 225–251. Hayden White unterscheidet zwischen drei verschiedenen Modi und Ebenen, auf denen historischen Erzählungen Bedeutung verliehen werden kann. Eine erste Ebene der Sinngebung sei die Wahl der Erzählstruktur, die jede Erzählung kennzeichne. Hier bestehe die Wahl, ob die erzählte Geschichte romantisch, tragisch, komisch oder satirisch sein solle. Die zweite Ebene der Bedeutungsverleihung bestehe in der Wahl der Argumentation. So könne der Historiker seine Erklärung der Vergangenheit auf formativistische, organizistische, mechanistische und kontextualistische Weise begründen. Die dritte und letzte Ebene, auf der nach White historische Erzählungen Sinn erhalten, ist die der ideologischen Implikation. Damit bezeichnet White die politische und ethische Dimension der Historiographie. Historische Texte seien immer ideologisch, der Histori-

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»gewissermaßen die Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft dar«.29 Zwischen Gewesenem und der Erzählung darüber bestehe demnach eine metaphorische Beziehung, beide stünden im Verhältnis der Analogie, einer Analogie jedoch, die nur in Verbindung mit Identität und Alterität gedacht werden könne. In Das Rätsel der Vergangenheit relativiert er dies jedoch dahingehend, dass er damals die Relevanz des Zeugnisses unterschätzt habe.30 Das Zeugnis wird zu einem zentralen Punkt in den späteren geschichtsphilosophischen Texten von Paul Ricœur.31 Die relative Zuverlässigkeit des Zeugnisses jedoch, an der Ricœur festhält,32 lässt ihn von dem Gedanken eines Analogie-Verhältnisses, den er von Hayden White übernommen hatte, abrücken. Vor jede Frage nach einer möglichen Repräsentation der Vergangenheit durch die Geschichtsschreibung schaltet Ricœur in seinen späteren Texten die Frage nach der Erinnerung und dem erinnernden Subjekt.33 Die Erinnerung und die verschriftlichte Erinnerung in Form eines Zeugnisses bilden den Dreh-

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ker habe auch hier die Wahl zwischen anarchistischer, radikaler, konservativer und liberaler Art der ideologischen Implikation. Der historiographische Stil eines jeden Historikers lässt sich White zufolge aufgrund der spezifischen Kombination der narrativen Strukturierung, der Wahl der Argumentation und der angestrebten ideologischen Implikation verstehen; vgl.: White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994 (Fischer Wissenschaft). Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 246. Gleichwohl warnt Ricœur ausdrücklich vor der Gefahr, im Fahrwasser von Whites Geschichtsverständnis die Grenze zwischen Fakt und Fiktion gänzlich zu verwischen. »[T]ropologische Willkür« dürfe nicht dazu führen, dass der Bezug zum historischen Ereignis bzw. der Spur davon verloren gehe, Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 249. Jedoch merkt Ricœur an, dass Hayden White sich dieser Gefahr durchaus bewusst gewesen sei und selbst in The Writing of History darauf aufmerksam gemacht habe, vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 248, Anmerkung 40. Vgl. Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 36–39, Anmerkung 15. Vgl. Ricœur: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen und Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. In dem erst genannten Werk berichtet Ricœur auch von Experimenten aus der forensischen Psychologie, bei denen den Testpersonen eine gefilmte Szene gezeigt wurde, die sie danach rekapitulieren sollten und was selbstverständlich zu Abweichungen und Verzerrungen führte, S. 248–249. Vgl. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 247–254. Vgl.: Ricœur: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit; Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit sowie Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen.

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und Angelpunkt für das historiographische Verfahren. Bevor die Frage nach der Referenz gestellt werden kann, müssen die Fragen geklärt werden, wer erinnert34 und inwiefern das Erinnerte zuverlässig ist. Erst nach einer sorgfältigen Abwägung dieser Fragen kann man davon sprechen, dass die Geschichtsschreibung eine Repräsentanz35-Funktion erfüllt.36 Man darf jedenfalls nicht vergessen, daß nicht in den Archiven, sondern mit dem Zeugnis alles beginnt und daß wir ungeachtet seines prinzipiellen Mangels an Glaubwürdigkeit letztlich nichts Besseres als das Zeugnis haben, wenn wir uns dessen versichern wollen, daß etwas passiert ist, bei dem selbst dabei gewesen zu sein jemand bezeugt, und daß, beim Fehlen von Dokumenten anderen Typs, das wichtigste und manchmal auch einzige Hilfsmittel bisweilen in 37 der Gegenüberstellung von Zeugnissen besteht.

Die Repräsentanz-Funktion der Geschichtsschreibung wird Ricœur zufolge gewährleistet durch die historiographische Operation, ein Durchlaufen dreier Stadien,38 die jedoch nicht als voneinander unabhängige Phasen gesehen werden sollen, sondern sich jeweils gegenseitig bedingen. Die dokumentarische Phase umfasst dabei die Arbeit in den Archiven, der Umgang mit den Spuren, insbesondere dem Zeugnis. Die Phase des Erklärens und Verstehens betrifft die Antworten auf die Frage: Warum? und in der skripturalen oder repräsentierenden Phase geht es um die literarische oder skripturale Formgebung.39 In allen diesen drei Phasen spielt die Interpretation eine wichtige Rolle, dies ist aber für Ricœur kein Zeichen für willkürliche Subjektivität sondern direkter Bestandteil der Wahrheitsintention aller historiographischen Operationen.40 Der Einfluss der Literatur auf die Geschichtsschreibung ist laut Ricœur nicht erst beim Schreiben der Geschichte spürbar,41 sondern 34

35 36 37 38 39 40 41

Ricœur schreibt sämtlichen grammatikalischen Personen Erinnerungsfähigkeit zu. Zu einer Unterscheidung von individuellem und kollektivem Gedächtnis vgl. Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 71–84. Am Begriff der Repräsentanz hält Ricœur auch in seinen späteren Schriften fest. Vgl. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 425–437. Vgl. Ricœur: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, S. 14–22. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 224. Auch die triadische Struktur entlehnt Ricœur von Michel de Certeau. Vgl. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 211–212. Vgl. ebd., S. 285. Ricœur meint damit aber nicht, dass das narrativistische Erklären das vorherrschende Modell der Geschichtsschreibung sei, vielmehr betont er,

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bereits vorher, wenn ein Ereignisablauf als beispielsweise tragisch oder komisch angesehen wird.42 Auch der Leser könne dasselbe Buch sowohl als Roman oder als Geschichtswerk lesen. Dies beeinträchtige aber nicht im Geringsten die Repräsentanzabsichten der Geschichte, im Gegenteil, es helfe sie zu erfüllen.43 In der Fiktion werden die Aporien der Zeitlichkeit, welche die Phänomenologie beschreibt, auf andere Weise verarbeitet als in der Geschichte. Die Literatur bringt nicht eine historische Zeit hervor sondern erzeugt Phantasievariationen, so die These Ricœurs. Der vielleicht signifikanteste Unterschied zwischen historischem und literarischem Erzählen liegt in der Befreiung des literarischen Erzählers von der Pflicht, sich an eben jene spezifischen Bindeglieder wie Kalender etc. zu halten. Das heißt, dass fiktive Personen irreale Erfahrungen machen können, die »nicht notwendig mit dem raum-zeitlichen Netz zusammenpassen müssen, das für die chronologische Zeit konstitutiv ist«.44 Die Fiktion kann also Ressourcen der phänomenologischen Zeit nutzbar machen, während die historische Erzählung beständig bestrebt ist, diese an die kosmische Zeit zurück zu binden. Wie verhält sich dies jedoch zu der Tatsache, dass in vielen Erzählungen Bezug genommen wird auf reale Daten, Ereignisse, Personen

42 43

44

dass in jedem Geschichtswerk mehrere Erklärungsmodelle zum Einsatz kämen. Er meint damit den viel grundlegenderen ontologischen Zusammenhang zwischen Geschichte und Fiktion, welcher sich in der überkreuzten Referenz der beiden Modi zeige. Vgl.: ebd., S. 284. Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 302. In diesem Zusammenhang sei Gibbons The Decline and Fall of the Roman Empire genannt, welches Borges wiederholt als großartigen Roman gelobt hat. Wie eine Äußerung in einem Interview zeigt, lässt sich eben diese Grenze zwischen Roman und Geschichtswerk auch nicht eindeutig ziehen. So konstatiert er in einem Gespräch über den Romancharakter des historiographisch angelegten Werkes die Nähe der Geschichtsschreibung zur Fiktion und verweist auf die homonyme Eigenschaft der Worte »historia« im Spanischen im Gegensatz zu der möglichen Differenzierung im Englischen zwischen »history« und »story«: »Es que de hecho… claro, la historia es una novela. Bueno, es una historia… en inglés story significa cuento, y es una forma de history (historia). Viene a ser lo mismo, sí«, Ferrari/Borges: En diálogo I, S. 224. Diese Homonymie konstatiert auch Jacques Rancière und leitet damit seine Untersuchung über diejenigen Regeln und Verfahren ein, mit denen sich die Geschichtswissenschaft von der Literatur abgrenzt. Vgl.: Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 10ff. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 202.

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oder Orte? Während Ricœur dies an den Romanen Mrs. Dalloway, Der Zauberberg und A la recherche du temps perdu festmacht, so gilt dies natürlich um so mehr für alle diejenigen Gattungen, die sich unter den zunächst sehr weit gefassten Begriff des historischen Romans subsumieren lassen. Diese Romane haben gemeinsam, dass sie sich alle in einem historischen Kontext verorten lassen. Explizite zeitliche Einordnung oder etwa leicht zu identifizierende Anhaltspunkte erlauben Rückschlüsse auf den jeweils spezifischen Handlungsraum. Die von Ricœur analysierten Romane haben beispielsweise alle den Ersten Weltkrieg als historischen Rahmen. Dennoch, so Ricœur, würde man sich schwer täuschen, wenn man daraus schlösse, daß die datierten oder datierbaren Ereignisse die Zeit der Fiktion in das Gravitationsfeld der historischen Zeit hinüberziehen. Das Gegenteil ist der Fall. Allein aufgrund der Tatsache, daß der Erzähler und seine Helden fiktiv sind, werden sämtliche Bezugsrahmen auf reale historische Ereignisse ihrer Repräsentanzfunktion im Hinblick auf die historische Vergangenheit beraubt, wodurch sie sich dem irre45 alen Status der übrigen Ereignisse angleichen.

In den Romanen wird die Zeiterfahrung der Protagonisten auf ganz unterschiedliche Weise mit der realen Zeit der historischen Ereignisse konfrontiert, welche hier nicht näher dargestellt werden sollen.46 Festzuhalten bleibt zunächst, dass die fiktionale Erzählung sich grundsätzlich von der historischen dahingehend unterscheidet, dass sie die Möglichkeit hat, die »nichtlinearen Züge der phänomenologischen Zeit« zu erforschen, »die die historische Zeit wegen ihres starren Eingebundenseins in die große Chronologie des Universums verdrängen musste«47 und zum anderen, dass selbst die Situierbarkeit in einem historischen Rahmen dies nicht aufhebt, sondern die Referenz dieser Nennungen vor dem Hintergrund der Fiktionalitätskonventionen betrachtet werden muss. Denn ein grundlegender Unterschied besteht in der Referenz der beiden Erzählmodi: Während die Geschichte den Anspruch erhebt historisch Gewesenes zu repräsentieren, fällt dieser Anspruch in der Fiktion weg. Doch auch der Begriff der Unwirklichkeit der Fiktion muss hinterfragt werden. Was entspricht auf Seiten der Fiktion dem Gewesenen? Auch der literarische Erzähler – ebenso wie der Historiker – versucht

45 46 47

Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 205–208. Ebd., S. 208, Hervorhebung im Original.

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sich im Regelfall bei seinen Lesern Glaubwürdigkeit zu erarbeiten. Ricœur geht sogar so weit, zu behaupten, das Bestreben des fiktionalen Autors, glaubwürdig zu erscheinen, sei vergleichbar mit dem dokumentarischen Beweis in der Geschichtsschreibung.48 Die fiktionale Erzählung imitiere die historische Erzählung, Ricœur spricht von dem quasi-historischen Charakter der Fiktion. Als Indizien hierfür gelten ihm zum einen die erzählerischen Tempora und zum anderen die aristotelischen Regeln der Fabelbildung, denen zufolge das Erzählte wahrscheinlich oder notwendig sein soll. Mithilfe der grammatikalischen Tempora konstruiert die Erzählstimme eine Vergangenheit, welche aufgrund des fiktionalen Paktes zwischen Erzähler und Leser als die Vergangenheit der narrativen Instanz gelten darf. Die irrealen Ereignisse, von denen berichtet wird, sind Vergangenheit für die narrative Instanz und durch ihre anschauliche Vermittlung erlangen sie einen ähnlichen Status wie die Repräsentanz der Geschichtsschreibung in Bezug auf die reale Vergangenheit.49 Dies wird erreicht durch eine wahrscheinliche Darstellung im Sinne von Aristoteles’ Poetik. Denn das Wahrscheinliche muss, so Aristoteles, um glaubwürdig zu sein, in einer Nachahmungsbeziehung zur Vergangenheit stehen. Jedoch muss dies nicht eine Art der Mimesis sein, wie sie im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts vorherrschte. Dieses Bestreben nach Realitätstreue habe – so Ricœur – dazu geführt, dass man diese Werke als ergänzend zu den historiographischen Werken der Epoche lesen könne. Eine wahrhaft mimetische Funktion erfüllten vielmehr diejenigen Romane, die am wenigsten um Nachahmung im Sinne von Imitation bemüht seien. Denn der quasi-historische Charakter der Fiktion ermögliche es somit andere, unverwirklichte Geschichten zu erzählen: »Die Quasi-Vergangenheit der Fiktion wird dadurch zu einem Instrument, das es erlaubt, die in der wirklichen Vergangenheit unterdrückten Möglichkeiten aufzudecken«.50 Aus dieser Überkreuzung, aus diesen gegenseitigen Anleihen, aus dem »Plätzetausch« des quasi-historischen Elementes der Fiktion mit dem quasi-fiktiven Element der Geschichte nun, und das ist der Höhepunkt der Ricœur’schen Argumentation, resultiert eine dritte Zeit, die menschliche Zeit. Doch welche anthropologische Funktion erfüllt diese menschliche Zeit, die aus der wechselseitigen Durchdringung von 48 49 50

Vgl. ebd., S. 261. Vgl. ebd., S. 306–309. Ebd., S. 310, Hervorhebung im Original.

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Geschichte und Fiktion hervorgeht? Ricœur kommt auf diese Funktion des (historischen) Erzählens erst in den Schlussfolgerungen von Zeit und Erzählung zu sprechen:51 Der zarte Sprössling, der aus der Vereinigung von Geschichte und Fiktion hervorgeht, ist die Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft, die man ihre narrative Identität nennen kann. […] Auf die Frage »wer?« antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen. Die erzählte Geschichte gibt das wer der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität«.52

Über eine narrative Identität können Individuen und Gesellschaften verfügen. Die Bedeutung der Erzählung für die Ausbildung dieser Identität liegt dabei sowohl in der Rezeption als auch in der Produktion. Individuen und Gemeinschaften konstituieren sich einerseits über die Rezeption von Gründungsgeschichten jeglicher Art und andererseits in der Produktion gemeinsamer Erinnerungen. Identität ist niemals stabil sondern im ständigen Wandel begriffen. Ebenso wie es möglich ist – und wie die Geschichte der Historiographie auch gezeigt hat – verschiedene Erzählungen zu ein und demselben Geschehen zu konstruieren,53 so ist es auch dem Individuum und einer Gesellschaft möglich, verschiedene, ja gegensätzliche Erzählungen zu produzieren54.55 51 52 53

54 55

Jedoch baut er die Frage der erzählerischen Identität in späteren Schriften aus. Vgl. bspw. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 130ff. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 395, Hervorhebung im Original. Siehe bspw. Hayden Whites Beispiele verschiedener unterschiedlicher historiographischer Darstellungen zur Französischen Revolution, die alle in etwa gleich plausibel erscheinen, obwohl sie unterschiedliche rhetorische Verfahren anwenden; White, Hayden: »Der historische Text als literarisches Kunstwerk«, in: Conrad, Christoph/Kessel, Martina (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart: Reclam 1994, S. 123–157, hier: S. 151. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 397–399. Einen Überblick über die Rezeption und auch z.T. berechtigte Kritik an Paul Ricœurs Erzähltheorie bieten z.B. Stückrath, Jörn/Zbinden, Jürg (Hrsg.): Metageschichte – Hayden White und Paul Ricœur: dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1997 (ZIF Interdisziplinäre Studien 2) oder Wood, David: On Paul Ricœur. Narrative and Interpretation, London: Routledge 1991, in welchem sich auch der aufschlussreiche Aufsatz Hayden Whites mit dem Titel »The Metaphysics of Narrativity. Time and Symbol in Ricœur’s philosophy of history« befindet. Auch Bucher führt einige berechtigte

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3.3 D IE R OLLE

DES

Z EUGNISSES

Dem Zeugnis wird bei Ricœur – wie Burkhard Liebsch in dem Vorwort zu Das Rätsel der Vergangenheit schreibt – eine Relais-Funktion56 zugewiesen: »Nun stellt aber das Zeugnis […] die Grundstruktur des Übergangs zwischen Gedächtnis und Geschichte dar«.57 Ricœur beschreibt das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte als ein dialektisches. Das Gedächtnis vermag es, die Geschichte in die Bewegung des geschichtlichen Bewusstseins einzubinden. Reinhard Koselleck hat die geschichtliche Erkenntnis auf der Grundlage der Polarität der Begriffe des »Erfahrungsraumes« und des »Erwartungshorizontes« beschrieben, welche stetig aufeinander bezogen und nicht einseitig zu reduzieren sind.58 Diese Einbindung des Historischen in die Zeitlichkeit des Erinnerns, welches sowohl in die Vergangenheit zurückreicht als sich auch durch den Erwartungsraum in die Zukunft ausdehnt, ist also – so Ricœur – dem Gedächtnis zu schulden. Der Wahrheitsanspruch der Geschichte wird somit relativiert durch die Einbindung in die Dialektik von Rückschau und Zukunftsentwurf. Umgekehrt jedoch übt auch die Historie eine Kontrollfunktion auf das Gedächtnis aus und bietet somit die Möglichkeit einer Hinterfragung eines unkritischen Treue-Gelöbnisses des Gedächtnisses. Ricœur weist der Historie die Funktion zu, mit Hilfe des Zeugnisses den Treueanspruch des Ge-

56 57 58

Kritikpunkte auf: Bucher, André: Repräsentation als Performanz. Studien zur Darstellungspraxis der literarischen Moderne (Walter Serner, Robert Müller, Hermann Ungar, Joseph Roth und Ernst Weiss), München: Fink 2004, S. 22ff. Siehe ferner: Bouchindomme, Christian/ Rochlitz, Rainer: ›Temp et récit‹ de Paul Ricœur en débat, Paris: Les Éditions du Cerf 1990. Ricœurs Beobachtungen in Zeit und Erzählung bestechen jedoch – und in diesem Punkt ist sich die Rezeption weitestgehend einig – durch ihre disziplinenübergreifende Syntheseleistung in Bezug auf das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Fiktion und deren gemeinsame Fähigkeit, Zeit zu refigurieren. Vgl.: Zbinden, Jürg: »Krise und Mimesis. Zur Rekonstruktion und Kritik von Paul Ricœurs Begrifflichkeit in ›Zeit und Erzählung‹«, in: Stückrath, Jörn/Zbinden, Jürg (Hrsg.): Metageschichte – Hayden White und Paul Ricœur: dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1997 (ZIF Interdisziplinäre Studien), S. 180–198, hier: S. 198. Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 13. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 48. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft: zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979 (Theorie), S. 349–375.

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dächtnisses zu prüfen.59 Ricœur wirft hier also die Frage nach der Konkurrenz verschiedener Zeugnisse auf, die entscheidende Frage, bis zu welchem Zeitpunkt das Zeugnis vertrauenswürdig ist, die schon Romero in oben zitierter Notiz beunruhigt hatte. Der Rückgriff der Geschichte auf das Zeugnis stellt jedoch für Ricœur keinesfalls Willkür dar, sondern liegt vielmehr in der Definition des Objekts der Geschichte selbst begründet: Diese beschreibt sich als die Wissenschaft von den Menschen in der Zeit, damit ist bereits die fundamentale Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart beschrieben, welche dem Zeugnis die Möglichkeit eröffnet, in seiner Eigenschaft als Spur der Vergangenheit in der Gegenwart zu fungieren.60 In der testimonialen Dimension des Dokumentes erkennt Ricœur das Fundament der historischen Erkenntnis: »Wir haben, um die Repräsentation der Vergangenheit durch die Geschichte zu akkreditieren, nichts Besseres als das Zeugnis und seine Kritik«.61 Wesentliche Merkmale des Zeugnisses sind Ricœur zufolge: • Die Behauptung der faktischen Realität des berichteten Ereignisses, und die Sicherung oder Beglaubigung der Aussage durch die Glaubwürdigkeit des Erzählers. Ein als wichtig erachtetes Ereignis wird erzählt und es ist dabei wichtig, dass bei diesem dergestalt bezeugtem Faktum ontologisch klar zwischen Realität und Fiktion unterschieden werden kann. • Die Koppelung der Wirklichkeitsbehauptung der vergangenen Sache an die Präsenz des Narrators. Das fiduzarische »Ich war dabei« kennzeichnet sich Ricœur zufolge durch eine dreifache Deiktik: Der ersten Person Singular folgt die Vergangenheitsform des Verbs und das »Dort« des Ereignisses wird mit einem »Hier« der Zeugnisgebung verbunden. • Hinzu kommt die dialogische Situation, die Beschreibung einer Szene vor Jemandem. Die Beglaubigung des Zeugnisses ist nur möglich durch Kommunikation, oder wie Ricœur schreibt, das Echo. An dieser Stelle können sich Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses einstellen, so z.B. wegen gestörter Wahrnehmung, eingeschränkter Erinnerungsleistung oder misslungener Rekonstruktion. Auch das Zeitintervall zwischen Ereignis und Zeugnisabgabe sowie allgemeine Erwägungen die Reputation des 59 60 61

Vgl. Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 125–130. Vgl. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 260–261. Ebd., S. 431.

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62

Zeugen betreffend tragen zur Einstufung der Vertrauenswürdigkeit des Zeugnisses bei. Sollte das Zeugnis als unglaubwürdig eingestuft werden, besteht in einigen Fällen die Möglichkeit, mehrere Zeugen gegenüber zu stellen, auch dem Zeugen kann die Gelegenheit eingeräumt werden, durch den Verweis auf andere Zeugen das Ausgesagte zu legitimieren. Hinzu muss laut Ricœur die Bereitschaft des Zeugen treten, das Zeugnis zu wiederholen. Als glaubwürdiger Zeuge kann nur derjenige gelten, der sein Zeugnis in der Zeit festhalten kann und bereit ist vor jedem Beliebigen, der es verlangt, dieses zu wiederholen. Diese stabile Struktur der Bereitschaft, Zeugnis abzulegen, macht es zu einem Sicherheitsfaktor, einer Institution. Die fiduzarische Bindung besteht darin, zunächst dem Wort des anderen zu vertrauen, erst dann, bei Vorhandensein von starken Gründen, daran zu zweifeln. Der dem Wort des anderen eingeräumte Kredit mache – so Ricœur – die soziale Welt zu einer intersubjektiv geteilten, darin zeige sich die Kompetenz des handlungsfähigen Menschen.62

Vgl. ebd., S. 251–254.

4.

Revision und metahistorische Reflexion im historischen Roman des 20. Jahrhunderts

Paul Ricœur stellt also den quasi-historische Charakter der Fiktion heraus, der es ermögliche andere, unverwirklichte Geschichten zu erzählen. Aus den gegenseitigen Anleihen, die die beiden narrativen Modi der Geschichtsschreibung und der Fiktion beieinander tätigen, entspringe die menschliche Zeit. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Zuweisung einer narrativen Identität. Da auch – oder insbesondere – dem historischen Roman häufig die Funktion zugewiesen wird, zum Identitätsbildungsprozess einer Gemeinschaft beizutragen, verwundert es, dass Ricœur in seinen Ausführungen das Genre des historischen Romans nur streift.1 Tatsächlich ist in diesem Zusammenhang eine Betrachtung dieser Gattung überaus interessant, zeigt sich doch hier eben jene Verwandtschaftsbeziehung, die Ricœur beschreibt, besonders deutlich. Ansgar Nünnings Vorschläge zu einer Neukonzeptualisierung des historischen Romans schließen unmittelbar an Ricœurs Arbeit Zeit und Erzählung an, weshalb eine nähere Betrachtung seiner Theorie in diesem Kontext lohnend erscheint.

1

Insbesondere die historischen Romane des 20. Jahrhunderts, die sich durch eine starke meta-historische Reflexion auszeichnen und immer wieder auf den von Ricœur beschriebenen Prozess der narrativen Konfiguration verweisen, spart Ricœur in seinen Ausführungen aus.

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4.1 D ER HISTORISCHE R OMAN ALS FIKTIONALES G EGENSTÜCK ZU HISTORISCHEM E RZÄHLEN Nünning definiert die hybride Gattung des historischen Romans zunächst sehr offen als solche Texte, in denen die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit überschritten wird und die in verschiedenen Mischungsverhältnissen reale Elemente in einen fiktiven Kontext integrieren.2 Später modifiziert er dies und versteht unter dem Begriff des historischen Romans generell fiktionale Erzähltexte […], in denen narrative Sinnbildung über Zeiterfahrung im Zentrum steht und die sich durch jenes Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Zeitebenen auszeichnen, das in der Rhetorik des Damals-undHeute zum Ausdruck kommt […], in denen […] dominant Themen behandelt werden, die dem Bereich der Historie, der Historiographie, des Geschichtsbewußtseins, der Geschichtswissenschaft oder der Geschichtstheorie zuzuordnen sind.3

Er plädiert für eine Neukonzeptualisierung des historischen Romans, da Georg Lukács’ Bestimmung des historischen Romans eine mimetische Beziehung von Realität und Wirklichkeit zu Grunde lege, welche im Fahrtwasser des linguistic turn und der Einsicht in die Konstruktivität von Wirklichkeitserfahrung nicht mehr tragbar sei. Ricœurs Verdienst dagegen sei es, durch das Verfahren der dreifachen Mimesis den prozessualen und konstruktiven Akt der literarischen Repräsentation hervorgehoben zu haben. Mit Ricœur sei es möglich, historische Romane nicht als mimetische Abbildungen einer (vergangenen) Realität zu begreifen, sondern das Augenmerk auf die Techniken der literarischen Konfiguration von Geschichte zu lenken.4 Literarische Aneignung5 von Geschichte erfolgt im historischen Roman sowohl auf der 2 3 4

5

Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 46. Ebd., S. 122. Ebd., S. 53. Nünning bezieht sich hier auf Zeit und Erzählung, in welchem Ricœur, wie oben gezeigt, von einem metaphorischen Verhältnis zwischen Gewesenem und Repräsentation ausgeht. Die Präzisierung dieses Konzeptes in den späteren Werken geht nicht in Nünnings Überlegungen ein, da sie erst später entstanden. Siehe zum Begriff der Aneignung (»apropriación«): Dill, Hans-Otto/ Gründler, Carola/Meyer-Minnemann, Klaus: »Introducción«, in: Dill, Hans-Otto/Gründler, Carola/Gunia, Inke u.a. (Hrsg.): Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIX y XX, Madrid/Frankfurt a.M.: Vervuert 1994, S. 13–26.

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paradigmatischen Achse der Selektion als auch auf der syntagmatischen Achse der Kombination. Nünning versteht den historischen Roman als einen »reintegrierenden Interdiskurs«,6 welcher innerhalb der Fiktion den Diskurs der Geschichtswissenschaft aufgreift und kommentiert. Unter Verwendung des Iser’schen Fiktionsmodelles, welches die Gegenüberstellung von Realem und Fiktivem durch eine triadische Struktur ersetzt, stellt Nünning heraus, dass der grenzüberschreitende Akt des Fingierens7 keinesfalls nur kennzeichnend für den historischen Roman ist, sondern Grundbedingung jeglicher Art von Literatur.8 Gerade im historischen Roman, in welchem die Anzahl der »Realitätsfragmente«9 eine wichtige Rolle spielen, ist dies jedoch von großer Bedeutung. Diese Wirklichkeit wird durch die Offenlegung der Fiktionalität eingeklammert: »Im Kenntlichmachen des Fingierens wird alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob«.10 Wirklichkeitsreferenzen im historischen Roman werden somit katego-

6 7

8

9 10

Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 344, siehe auch Kap. 1.2.3. Iser beschreibt diese Grenzüberschreitung, die im Akt des Fingierens vollzogen wird, als »die Irrealisierung von Realem und Realwerden von Imaginärem«, Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 23. Es zeigt sich hier eine offenkundige Parallele zu der von Ricœur als überkreuzte Referenz beschriebenen Eigenschaft des Erzählens. Iser unterscheidet drei Akte des Fingierens, um das Fiktive eines Textes zu beschreiben. Dazu zählt der Selektionsakt, in Folge dessen Elemente der paradigmatischen Ebene intentional ausgewählt werden und der Aufschluss über die jeweiligen Bezugsfelder eines Textes geben kann. Auf innertextueller Ebene entspricht dem die Kombination von Textelementen, welche Iser als zweiten Akt des Fingierens bezeichnet. Darunter versteht er das Herstellen von Bezugsfeldern innerhalb des selektierten Materials bzw. eine Relationierung dieser Bezugsfelder untereinander. Der dritte Akt des Fingierens besteht Iser zufolge in der Entblößung der Fiktionalität. Anhand eines ganzen Repertoires von Signalen vermag es die Literatur, ihren fiktionalen Charakter offen zu legen. Damit wird auf den Fiktionalitätsvertrag zwischen Autor und Leser verwiesen, auf den Status der Literatur als »inszenierten Diskurs«. Warning, Rainer: »Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion«, in: Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hrsg.): Funktionen des Fiktiven, München: Fink 1983 (Poetik und Hermeneutik), S. 183–206. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie, S. 37. Ebd., S. 37.

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rial verändert und in den Status der Irrealität oder Fiktion überführt.11 Die Berücksichtigung dieses dritten Aktes des Fingierens nach Iser ist für die Analyse des historischen Romans überaus wichtig, da sie einen Anhaltspunkt dafür liefert, die Gattung in formaler und funktionaler Hinsicht von der Historiographie zu unterscheiden.12 Nünning entwickelt nun seine Untersuchung der Aneignung von Realität im historischen Roman anhand der Iser’schen Begriffe, wobei er den Begriff der Kombination durch den der narrativen Konfiguration ersetzt. Auch hier klingt die Terminologie Ricœurs an, worauf Nünning auch aufmerksam macht.13 Diese Begriffe erscheinen insofern geeignet, als dass sie auf jegliche Art von Erzählung zutreffen und es so erlauben, den historischen Roman von anderen literarischen Genres und auch der Historiographie abzugrenzen. Eine Analyse der Selektionsstruktur und der Verfahren der narrativen Konfiguration kann somit – so die Annahme – Aufschluss über die geschichtstheoretischen Implikationen eines Textes geben.14 Nünning geht im Zuge seiner Neukonzeptualisierung des historischen Romans in Abgrenzung von der normativen Orientierung am Modell von Walter Scott – ebenso wie Ricœur – von einer ontologischen Ähnlichkeit zwischen historischem Erzählen und fiktionalem Erzählen aus. Im Anklang an Jörn Rüsen beschreibt er historisches Erzählen als »Sinnbildung über Zeiterfahrung«: Entscheidend für das historische Erzählen ist es also, daß seine Sinnbildung so auf Zeiterfahrung bezogen ist, daß die Vergangenheit in die kulturellen Orientierungsrahmen der gegenwärtigen Lebenspraxis hinein vergegenwärtigt werden kann. In dieser Vergegenwärtigung gewinnt die Vergangenheit den Status 15 von »Geschichte«.

Historisches Erzählen kennzeichnet sich Rüsen zufolge ferner dadurch, dass es immer an das Medium der Erinnerung gekoppelt ist (vgl. das Zeugnis bzw. die Spur bei Ricœur), dass es die vorhandenen Ereignisse in ein lineares, kontinuierliches Narrativ überführt (vgl. die konsonanzstiftende Funktion von Erzählung bei Ricœur) und dass es die Funktion subjektiver Identitätsbildung erfüllt (vgl. die narrative 11 12 13 14 15

Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 59. Vgl. ebd., S. 62. Ebd. S. 63, Fußnote 17. Ebd. Rüsen: Zerbrechende Zeit: über den Sinn der Geschichte, S. 54.

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Identität bei Ricœur).16 Da der historische Roman in ähnlicher Weise auf die Geschichte bezogen ist wie das historische Erzählen, kann man ihn im Anklang daran als fiktionales Gegenstück charakterisieren. Auch im Medium der Fiktion wird somit – wie von Ricœur gezeigt – Zeiterfahrung in narrative Sinnbildung überführt.17

4.2 S PIELARTEN FIKTIONALER G ESCHICHTSDARSTELLUNG : EINE TYPOLOGIE DES HISTORISCHEN ROMANS Für einen neu gefassten Begriff des historischem Roman bezieht Nünning nicht nur Texte mit ein, die sich mit realen, vergangenen Ereignisses befassen und/oder historische Persönlichkeiten zum Gegenstand haben, sondern zählt zu der übergeordneten Kategorie des historischen Romans auch diejenigen Texte, die Geschichte und Geschichtsschreibung auf einer meta-historischen Ebene reflektieren. Gemeint sind damit also Texte, die die Rekonstruktionsleistung des Historikers reflektieren oder geschichtstheoretische oder –philosophische Fragestellungen thematisieren. Darüber hinaus rückt auch die Funktion des historischen Romans in den Vordergrund. So bezieht er auch ebensolche Texte mit ein, die sich mit dem Geschichtsbewusstsein bzw. den Geschichtsbildern einer Gruppe von Individuen oder einer Nation beschäftigen und sich mit den »Manifestationsformen und Funktionen des kollektiven Gedächtnisses und der kulturellen Identität auseinandersetzen«.18 Er erarbeitet eine Typologie der verschiedenen Erscheinungsformen narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung um die verschiedenen Spielarten des historischen Romans präziser beschreiben zu können. 16 17

18

Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 108. Nünning grenzt sich dabei in einem eigens dieser Fragestellung gewidmeten Unterkapitel dezidiert von einer Einebnung von narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung einerseits und Historiographie andererseits ab. Als paradigmatischen Theoretiker benennt auch er Hayden White. Auf eine Darlegung der Gründe, die zu dieser Position führen, soll an dieser Stelle verzichtet werden. Vgl.: ebd., Kap. 2.1., S. 132–144. Zu einer profunden Auseinandersetzung mit Whites Werk siehe auch: Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, insbesondere S. 382–402. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 115.

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Die Bausteine für die Analyse von Texten liefern ihm dabei zunächst die von Iser beschriebenen Akte der Selektion und der Konfiguration. Darüber hinaus bietet eine Untersuchung der Frage, wie sich das fiktionale Geschichtsmodell zum gegenwärtigen Stand der Historiographie verhält, Aufschluss. Dies kann bereits Auskunft darüber erteilen, welche Funktionen der vorliegende Text erfüllen soll oder kann. Beispielhaft sei hier die Funktion der Identitätskonstruktion genannt, welche dem historischen Roman wiederholt zugesprochen wurde oder auf der anderen Seite eine mediale Selbstreflexion über die Konstruiertheit von Geschichte.19 Anhand dieser hier grob skizzierten Raster gelangt Nünning zu einer skalierenden Differenzierung von fünf Typen des historischen Romans. Diese sind der dokumentaristische, realistische, revisionistische und der metahistorische Roman und das, was Nünning im Anschluss an Linda Hutcheon historiographische Metafiktion nennt. Bei dieser graduellen Skalierung von Gattungsausprägungen verlagern sich zum einen die Dominanzverhältnisse von links nach rechts zwischen Heteroreferentialität und Autoreferentialität, zwischen Geschichtsdarstellung und Reflexion über Geschichte sowie zwischen der Schilderung eines ereignishaften historischen Geschehens auf der diegetischen Ebene zur metafiktionalen Reflexion über geschichtstheoretische Probleme auf der extradiegetischen Ebene.20

Aufgrund ihres hohen Maßes an metahistorischer und metafiktionaler Reflexion lassen sich die meisten der dieser Publikation zugrunde liegenden Erzählungen von Borges dem in obigem Zitat von Nünning als rechten Pol der Skala beschriebenen Teil zuordnen. Besonders relevant für die Beschreibung des Verhältnisses von Historiographie und Fiktion im Werk von Jorge Luis Borges sind die beiden Kategorien des metahistorischen Romans und der historiographischen Metafiktion. Ersterer kennzeichnet sich durch eine Dominanz der erzählerischen Vermittlungsebene, hinter welcher die diegetische Handlung oftmals zurück tritt. Diese Unterform kennzeichnet sich Nünning zufolge ferner dadurch, dass der Schwerpunkt auf die Rekonstruktionsleistung in der Gegenwart gelegt wird, die Vergangenheit wird primär über Erinnerung oder historiographische Forschung erschlossen. Somit werden verschiedene Handlungsstränge in Vergan-

19 20

Vgl. ebd., S. 219–255. Ebd., S. 257.

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genheit und Gegenwart miteinander verknüpft, kohärenzstiftend ist dabei jedoch weniger der geschichtliche Ereigniszusammenhang als vielmehr die Auseinandersetzung mit Geschichte im Bewusstsein der Figuren. Zu den weiteren literarischen Darstellungsformen meta-historischer Texte zählt Nünning eine Tendenz zur Semantisierung des Raumes. In diesen Texten dient der Raum nicht bloß als Handlungs- und Aktionsraum der Figuren sondern versinnbildlicht die Präsenz der Geschichte.21 Im Gegensatz dazu kennzeichnet sich die historiographische Metafiktion durch eine noch explizitere Reflexion über epistemologische und methodische Probleme der Geschichtsschreibung.22 Wie bereits der Name andeutet, bilden in der historiographischen Metafiktion weniger historische Ereignisse den außertextuellen Referenzbereich als vielmehr Fragestellungen der Historiographie bzw. der Geschichtstheorie und –philosophie.23 In einem anschließenden Kapitel erstellt Nünning eigene Bausteine für eine Poetik der historiographischen Metafiktion, wobei er zwischen impliziten und expliziten Erscheinungsformen historiographischer Metafiktion unterscheidet.

21 22

23

Ebd., S. 276–281. Nünning führt überzeugend aus, dass dieser Erzähltypus eigentlich in Analogie zum Begriff der meta-history und in Abgrenzung zu sonstigen Formen der Metafiktion besser »fiktionale Metahistorie« oder »fiktionale Metahistoriographie« hieße. Da sich jedoch der Begriff der Historiographical Metafiction bereits als Forschungsgegenstand etabliert hat, hält auch Nünning daran fest und spricht von der eingedeutschten »historiographischen Metafiktion«, ebd., S. 284–285. Linda Hutcheon beschreibt den historischen Roman postmoderner Ausprägung als historiographische Metafiktion, da dieser zum einen Bezug auf den historiographischen Prozess nehme und durch metafiktionale Hinweise immer wieder auf den Produktions- und Rezeptionsprozess sowie die Kommunikationssituation aufmerksam mache. Ein besonderes Merkmal dieser Literaturgattung sei laut Hutcheon, dass diese auf den Konstruktcharakter aller menschlichen Systeme hinweise. Die Historiographical Metafiction sei gekennzeichnet durch eine radikale Infragestellung von zentralistischen, totalitären, hierarchischen und geschlossenen Systemen sowie durch ein pluralistisches Wahrheitsverständnis. Dieser radikale Zweifel schließt das Verständnis von Historiographie als verbürgter Erkenntnis über die Vergangenheit ebenso mit ein wie Zweifel an traditionellen Erzähl- und Zeitkonventionen, sowie der Sprache als Realitäten erschaffendes Medium. Kein Diskurs sei »fixed, given, universal, eternal« sondern »[…] local, […] limited, […] temporary, […] provisional« und besitze damit allenfalls Konstruktcharakter. Hutcheon, Linda: A poetics of postmodernism: history, theory, fiction, New York: Routledge 1988, S. 43.

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Unter den impliziten Formen der Thematisierung von Historiographie versteht Nünning neben einer Semantisierung von Erzählformen als Mittel der Darstellung geschichtstheoretischer Fragestellungen beispielsweise auch die Problematisierung der Ereignishaftigkeit durch eine Fragmentierung des Erzählten. Dies wird u.a. durch die Gleichschaltung ungleicher Elemente bewerkstelligt, durch das von Adorno als parataktisch beschriebene Verfahren der syntaktischen Gleichschaltung heterogener Elemente. Nünning bezeichnet dies hier im Anklang an Jauß als »Gleichordnung des Ungleichen«.24 Als weiteren impliziten Verweis auf geschichtstheoretische Fragestellungen bezeichnet Nünning die Intertextualität,25 welche auf das Problem der Textualität der historischen Überlieferung und des kollektiven Gedächtnisses verweise. Zu den Formen der expliziten Auseinandersetzung mit Historiographie zählt Nünning die Metafiktion, welche er mit Hinblick auf die jeweilige diegetische Vermittlungsebene metafiktionaler Äußerungen untergliedert. Darüber hinaus kategorisiert er die literarischen Formen expliziter Auseinandersetzung mit Historiographie anhand der Frage, welche geschichtstheoretischen Fragestellungen thematisiert werden und wie sich diese dem offiziellen historiographischen Diskurs gegenüber verhalten.26

4.3 H ISTORIOGRAPHISCHE M ETAFIKTION IN L ATEINAMERIKA Der 1949 erschienene Roman El reino de este mundo von Alejo Carpentier unterscheidet sich von den bis dato in Lateinamerika erschienenen historischen Romanen u.a. dadurch, dass herausragende historische Persönlichkeiten Haitis der beschriebenen Periode ausgelassen werden. Diese offensichtliche Unterwanderung der historischen Faktizität ist eines der Kennzeichen der sogenannten Nueva Novela Histórica, einer der Historiographical Metafiction sehr ähnlichen Form des lateinamerikanischen, metafiktionalen Geschichtsromans, für den oftmals Borges als Inspirationsquelle angeführt wird.

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Ebd., S. 306. Die besondere Rolle der Intertextualität innerhalb der historiographischen Metafiktion hatte bereits Linda Hutcheon betont. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 327ff.

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Als möglichen Anstoß für die Entstehung dieser Subgattung des historischen Romans in Lateinamerika nennt Seymour Menton in seinem einflussreichen Werk Latin Americas New Historical Novel von 1993 den als Biographie getarnten Roman Orlando (1928) von Virginia Woolf, der durch Borges’ Übersetzung und Präsentation in Lateinamerika Bekanntschaft erlangte.27 Menton führt sechs charakteristische Züge der Nueva Novela Histórica an. So seien die literarischen Werke, die dieser zugeordnet werden könnten, erstens dadurch gekennzeichnet, dass sie sich drei von Borges eingeführten philosophischen Fragestellungen unterordneten: So problematisiere Borges in Geschichten wie »Tema del traidor y del héroe« und »Historia del guerrero y la cautiva« sowie in Historia universal de la infamia die Erkenntnismöglichkeit von Realität und Geschichte, werfe die Möglichkeit einer zyklischen Zeit auf und weise auf die Unvorhersehbarkeit der Geschichte hin, die oftmals mit überraschenden Wendungen aufwarte. Weitere Kennzeichen seien die »Verstümmelung« der Geschichte durch bewusste Auslassungen, Übertreibungen und Anachronismen, die Fiktionalisierung historischer Persönlichkeiten, Metafiktionalität, 27

Es gibt eine Vielzahl an Forschungsbeiträgen zur Nueva Novela Histórica. Einen guten Überblick bieten folgende Texte: Ainsa: »Invención literaria y ›reconstrucción‹ histórica en la nueva narrativa latinoamericana«, Balderston, Daniel: »Introduction«, in: ders. (Hrsg.): The Historical Novel in Latin America. A Symposium, Gaithersburg (USA): Ediciones Hispamerica 1986, S. 9–12, Binns, Niall: »La novela histórica hispanoamericana en el debate postmoderno«, in: Romera Castillo, José/Gutiérrez Carbajo, Francisco/García-Page, Mario (Hrsg.): La novela histórica a finales del siglo XX, Madrid: Visor 1996 (Actas del V Seminario Internacional del Instituto de Semiótica Literaria Teatral de la UNED. Cuenca, UIMP, 3 al 6 de julio, 1995), S. 159–165, Castro, Isabel de: »El cuestionamiento de la verdad histórica. Transgresión y fabulación«, in: ebd., S. 167–173, Giuffré, Mercedes: En busca de una identidad (La Novela Histórica en Argentina), Buenos Aires: Ediciones del Signo 2004, Hoyos, Andrés: »Historia y ficción: dos paralelas que se juntan«, in: Kohut: La invención del pasado, S. 122–129, Larsen, Neil: »A Note on Lukács’ The Historical Novel and the Latin American Tradition«, in: Balderston: The Historical Novel in Latin America, S. 121–128, Menton, Seymour: »Las últimas noticias de la Nueva Novela Histórica«, in: Alba de América (Número Especial: Reescritura de la historia en la literatura del mundo hispánico) 17, 32 (1999), S. 61–68, Morello-Frosch, Marta: »La ficción de la historia en la narrativa argentina reciente«, in: Balderston: The Historical Novel in Latin America, S. 201–208, Newman, Kathleen: »Historical Knowledge in the Post-Boom Novel«, in: ebd., S. 209–219.

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Intertextualität sowie die von Bachtin beschriebenen Kategorien der Dialogizität, Heteroglossie, Parodie und Karnevalisierung.28 Menton setzt die Hauptphase der Nueva Novela Histórica erst ca. 30 Jahre nach Veröffentlichung dieser Erzählungen mit Erscheinen eines weiteren Werks Carpentiers an, El arpa y la sombra (1979). Die von Menton beschriebenen Werke der Nueva Novela Histórica unterscheiden sich von der Historiographical Metafiction lediglich signifikant darin,29 dass anstelle ex-zentrischer Figuren30 bekannte historische Persönlichkeiten wie z.B. Kolumbus, Magellan, Philipp II. oder Goya die Protagonistenrolle einnehmen. Auch Jitrik weist darauf hin, dass der lateinamerikanische historische Roman generell bekannte Persönlichkeiten als Protagonisten habe, nicht die von Lukács geforderten durchschnittlichen Persönlichkeiten.31 Ebenso wie bei der Historiographical Metafiction zeichnen sich Werke der Nueva Novela Histórica aus durch eine vorgegebene faktische Korrektheit bei gleichzeitiger Toleranz von Widersprüchlichkeit 28 29

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Menton: Latin America’s New Historical Novel, S. 22–24. In den meisten Kennzeichen stimmt die Nueva Novela Histórica mit der von Linda Hutcheon beschriebenen Historiographical Metafiction überein. Menton grenzt jedoch den Typus der Nueva Novela Histórica von der Historiographical Metafiction deutlich ab und bezeichnet beide nur als Subgattungen des breiten Spektrums des historischen Romans, ebd., S. 37. Linda Hutcheon nennt als typisches Merkmal des historischen Romans postmoderner Ausprägung die Verwendung von ex-zentrischen Figuren. (Hutcheon: A poetics of postmodernism: history, theory, fiction, S. 10– 12) »En un sentido general, la novela histórica europea, como lo sostiene y muestra Lukács, convierte en protagonistas a figuras que son del común, extraídas de la masa o del pueblo […]. […] En America Latina, por el contrario […] los protagonistas tienen como referente a sujetos principales del acontecer histórico«, Jitrik: Historia e imaginación literaria. Las posibilidades de un género, S. 45–46. Marco Aurelio Larios weist darauf hin, dass die Wahl im klassischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts auf zweitrangige historische Persönlichkeiten als Protagonisten gefallen sei, da man Disputen um historische Korrektheit aus dem Weg gehen wollte, Larios, Marco Aurelio: »Espejo de dos rostros. Modernidad y postmodernidad en el tratamiento de la historia«, in: Kohut: La invención del pasado, S. 130–136, hier: S. 132. In der Nueva Novela Histórica dagegen würden diese bewusst in Kauf genommen: »la nueva novela histórica es contraria a los predicamentos de Lukács, sus personajes históricos son de primera fila, pues los prefiere bastante conocidos para que le permitan establecer una profunda red intertextual de conocimientos previos, y no teme establecer disenciones historiográficas«, ebd., S. 133.

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und konkurrierenden Versionen von Vergangenheit.32 Sie entdecken Persönlichkeiten, die von einer offiziellen nationalen Geschichtsschreibung auf dualistische Rollenverteilung festgelegt schienen, neu und verleihen ihnen humane Züge: La nueva novela histórica los rescata y les otorga la existencia imaginativa, el diálogo, la humanidad que el relato de legitimación nacional o latinoamericano les negó para encubrir el pasado histórico de una retórica maníquea de buenos y malos, de héroes y antihéroes, de grandes y pequeños hombres.33

In der Historiographical Metafiction ebenso wie in der Nueva Novela Histórica findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Sprache statt. Kadir weist darauf hin, dass ein wesentliches Kennzeichen der Nueva Novela Histórica sei, dass diese die gemeinsame sprachliche Basis von sowohl Historiographie als auch Literatur thematisiere und die narrativen Techniken beider Diskurse offen lege.34 Eine kluge Kritik an den beiden Konzepten formuliert Lukasz Grützmacher.35 Zu Recht bezeichnet er Mentons Konzept der Nueva Novela Histórica als oberflächlich und wenig hilfreich für eine Gruppierung von Texten. Die angeblich auf Borges zurück zu führenden philosophischen Ideen und beispielsweise die von Bachtin beschriebene Dialogizität, so befindet Grützmacher völlig zurecht, seien schon kennzeichnend für den historischen Roman des 19. Jahrhunderts gewesen. Darüber hinaus erfülle längst nicht jeder der von Menton als Nueva Novela Histórica kategorisierten Romane alle der von ihm aufgestellten Kriterien. Alternativ zu diesen recht vagen Beschreibungskategorien verweist Grützmacher auf die bipolaren Begriffe Fernando Ainsas und Elsbieta Sklodowskas. An die Stelle einer fragwürdigen Gegenüberstellung von altem/traditionellem historischem Roman und Nueva Novela Histórica stellt er die Frage nach dem Verhältnis zeitgenössischer historischer Romane zu dem Diskurs der offiziellen Historiographie. Streben sie eine Rekonstruktion der Geschichte an und

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Larios: »Espejo de dos rostros«, S. 133. Ebd., S. 134. Kadir, Djelal: »Historia y novela: tramatización de la palabra«, in: González Echevarría, Roberto (Hrsg.): Historia y ficción en la narrativa hispanoamericana, Caracas: Monte Avila Editores 1984, S. 297–306, hier: S. 297–298. Grützmacher, Lukasz: »Las trampas del concepto ›la nueva novela histórica‹ y de la retórica de la historia postoficial«, in: Acta Poetica 27, 1 (2006), S. 141–167.

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stützen sich dabei auf verfügbare historische Quellen oder sind sie als Gegenentwurf der offiziellen Historiographie zu verstehen?36

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Diese Zweipoligkeit entspricht den Begriffen von Sklodowska, welche von der »fuerza centrípeta« und der »fuerza centrífuga« spricht. Dominiert erstere in historischen Romanen, so streben diese eine glaubwürdige und zusammenhängende Version der Geschichte an, wobei dies nicht ausschließt, dass die lateinamerikanische Geschichte der Sieger und Konquistadoren bspw. um die Sicht der Randfiguren und historischen Verlierer ergänzt wird. Auf der anderen Seite der Skala stehen die historischen Romane, die sich durch eine zentrifugale Kraft auszeichnen. Diese stellen die Möglichkeit einer Erkenntnis generell in Frage und entsprechen somit der Historiographical Metafiction nach Linda Hutcheon. Grützmacher bezeichnet Romane dieser Schreibweise als Sprachrohr der »historia postoficial«. Dabei werde jedoch des Öfteren übersehen, dass diese Sichtweise ebenso ideologisch besetzt sei wie die, die sie zu unterwandern sucht, nämlich den offiziellen ideologischen Diskurs, ebd., S. 160– 164. Grützmacher schlägt vor, das bipolare Modell von Sklodowska um eine weitere Achse zu erweitern, die »anderen Dimensionen« des historischen Erzählens wie z.B. Saers El entenado oder Vargas Llosas La guerra del fin del mundo gerecht wird. Zu den nicht in allen Punkten nachvollziehbaren Gründen, warum diese sich nicht auf der Achse zwischen traditionellem historischem Roman und historiographischer Metafiktion verorten lassen siehe Grützmacher: »Las trampas del concepto ›la nueva novela histórica‹ y de la retórica de la historia postoficial, S. 153–157.

5. Geschichtsreflexion in den essayistischen Texten von Jorge Luis Borges

Es ist weiter oben gezeigt worden, dass sich Borges’ Werk durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema der Zeit kennzeichnet – einer der Gründe, die auch Seymour Menton dafür anführt, dass Borges als Vorreiter der Nueva Novela Histórica gesehen wird. Darüber hinaus hat sich Borges jedoch ebenfalls mit zahlreichen Themen beschäftigt, die dem historiographischen Diskurs zugeordnet werden können. So setzt er sich in seinen Essays beispielsweise mit der notwendigen Linearität der menschlichen Sprache auseinander oder reflektiert über die selektiven Operationen, die einer biographischen Darstellung zugrunde liegen. Wiederholt hat Borges auf den Einfluss Schopenhauers auf sein Werk hingewiesen; dessen Geschichtsskeptizismus erweist sich als wichtiger Impulsgeber für Borges’ geschichtstheoretische Reflexionen. Die Frage nach kausalen Erklärungsmustern im historiographischen Verfahren ist ein zentrales Thema der Geschichtswissenschaft. Auch Borges äußert sich in unterschiedlichen Kontexten zu dieser Frage. In »La representación de la realidad« bezweifelt er die Fähigkeit von Texten jeglicher Art, Realität vollständig abzubilden und weicht damit von dem für Ricœur zentralen Repräsentanz-Anspruch historischer Texte ab. »El pudor de la historia« bekräftigt diesen Zweifel: wahre Geschichte entziehe sich der Repräsentation, so Borges, sondern verberge sich »schamhaft« hinter den Fakten der Ereignisgeschichte.

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5.1 S PRACHKRITIK : »L A TIENE SINTAXIS «

REPRESENTACIÓN NO

Charakteristisch für Borges’ frühen Essaybände1 ist eine profunde Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der menschlichen Sprache. Jene Verfahren, die laut Ricœur die paradigmatische Zeiterfahrung in eine syntagmatische Ordnung überführen, kritisiert Borges als arbiträr. Diese Kritik an der Arbitrarität der menschlichen Sprache ist in engem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Zeit in seinen oben genannten Texten zu sehen. Seinem Argwohn (»recelo«) der Sprache gegenüber verleiht Borges u.a. Ausdruck in dem Aufsatz »Indagación de la palabra« (IA), in welchem er die Frage aufwirft, welche kognitiven Prozesse beim Verstehen einer Äußerung eine Rolle spielen. Anhand des Anfangssatzes des Don Quijote »En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme« stellt er verschiedene Ansätze gegenüber: Zum einen die Annahme, dass jedes einzelne Wort eine zeichenhafte Aussage sei und damit Grundlage von Verstehensprozessen. Diese These werde unterstützt von der Tatsache, dass Wörterbücher einzelne Wörter willkürlich (alphabetisch) anordneten und somit aus den jeweiligen Äußerungskontexten rissen. Dem entgegen stehe die Annahme Benedetto Croces, Sätze seien unteilbar und stellten somit die zugrunde liegende linguistische Einheit dar. Borges bezeichnet beide Annahmen als irrig und plädiert für eine Zergliederung in kleinere syntaktische Gruppen. Interessant ist jedoch an diesem Aufsatz die Frage, in welchem Verhältnis das immer lineare und sukzessiv konzipierte Medium der Schrift zu kognitiven Prozessen steht. Schopenhauer bemerkte, – so Borges – dass die menschliche Intelligenz gänzlich zeitlich konzipiert sei, da sie die Dinge sukzessiv präsentiere. Dies gelte nicht nur für 1

Auch wenn Borges seine frühen Essaybände Inquisiciones (1925), El tamaño de mi esperanza (1926) und El idioma de los argentinos (1928) später als »libros ahora felizmente olvidados« (OC 1, S. 270) bezeichnete, so bezog er sich doch in seiner Ablehnung wohl hauptsächlich auf den in diesen Werken thematisch wie auch sprachlich inszenierten Patriotismus. Interessante Aufschlüsse erlauben diese Werke jedoch für eine Studie über das Verhältnis von Borges’ Fiktionen zum historiographischen Genre. Und während er sich von dem darin exerzierten Criollismo später dezidiert absetzte, finden sich die dortigen Beobachtungen über Geschichtsschreibung, das Wesen der Zeit und etwa die Funktion der Sprache in späteren essayistischen und auch fiktionalen Werken unverändert wieder.

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Literatur sondern für alles Geschriebene (»toda página escrita«, ebd., S. 17).2 Im Gedächtnis jedoch sei diese zeitliche Gebundenheit aufgehoben, der sowohl der Verfasser als auch der Leser von Texten unterliegen, im Gedächtnis verschmölzen die Dinge zu einer über-zeitlichen Einheit (ebd.). In »Examen de metáforas« (IN) bezeichnet Borges die Welt der Erscheinungen als einen Haufen von ungelenkten Wahrnehmungen (»un tropel de percepciones baraustadas«, IN, S. 71),3 welchem durch die Sprache eine effektive Ordnung verliehen werden könne: »El idioma es un ordenamiento eficaz de esa enigmática abundancia del mundo« (ebd.).4 Jedoch sei diese Ordnung lediglich Resultat einer gewaltigen Reduktion: »[…] nuestro lenguaje […] no es más que la realización de uno de tantos arreglamientos posibles« (ebd., S. 72). Diese Ordnung vereinfache zwar unser tägliches Leben, jedoch nur eher schlichte Gemüter5 würden diesem Konstrukt Glauben schenken, so Borges, denn: »Buscarle ausencias al idioma es como buscar espacio en el cielo« (ebd., S. 73). Auch in diesem Essay weist Borges auf eine der Grundfunktionen von Sprache hin, nämlich den Dingen eine (zeitliche) Ordnung zuzuweisen, was sowohl für die Historiographie als auch für die Literatur gelte: »El lenguaje […] es la díscola forzosidad de todo escritor. Práctico, inliterario, mucho más apto para organizar que para conmover […]« (ebd.). In der Behauptung, die Sprache erschaffe sogar erst Realität, schlägt Borges einen Weg ein, als dessen Bereiter er später oftmals den Sprachphilosophen Fritz Mauthner6 anführen wird: »Insisto sobre el caracter inventivo que hay en cualquier lenguaje, y lo hago con intención. La lengua es edificadora de realidades« (ebd., S. 48).7 2

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Diese sprachkritische Haltung bringt Borges auf den Punkt mit der Äußerung: »La representación no tiene sintaxis. Que alguien me enseñe a no confundir el vuelo de un pájaro con un pájaro que vuela«, ebd., S. 25. IN steht für: Borges, Jorge Luis: Inquisiciones (1925), Buenos Aires: Seix Barral 1993. Die Passage, aus der dieses Zitat stammt, findet sich ebenfalls in »Palabrería para versos« in TE. »Sólo para el dualista son valederas su traza gramatical y sus distinciones« (ebd.). Bereits Silvia Dapía hat den Einfluss der Sprachkritik Fritz Mauthners auf Borges’ Werk herausgestellt: Dapía, Silvia G.: Die Rezeption der Sprachkritik Fritz Mauthners im Werk von Jorge Luis Borges, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1993 (Forum Ibero-Americanum 8). Dieser »caracter inventivo« der Sprache scheint ironisch anzuklingen, wenn Borges in dem Essay mit dem Titel »Historia de los angeles« auf

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Die Linearität der menschlichen Sprache zwingt die Realität in eine sukzessive Reihenfolge, so bemängelt Borges. Dies stelle zwar Ordnung her, gehe aber auf Kosten der heterogenen und möglicherweise simultan erlebten Wirklichkeit.

5.2 S ELEKTION

UND K OMBINATION ALS KONSTITUTIVE M ERKMALE DER B IOGRAPHIE

Einige von Borges’ Erzählungen erwecken den Anschein, dem biographischen Genre anzugehören. So gruppiert Michel Lafon verschiedene Erzählungen von Borges nach ihrer »Zugehörigkeit« zum biographischen Genre. Er bezeichnet etwa »Pierre Menard, autor del Quijote«, »Examen de la obra de Herbert Quain«, »El milagro secreto«, »El fin« oder etwa »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz«, als »biographies fictionelles«.8 Auch essayistisch setzt sich Borges ausführlich mit den bei Erstellung einer Biographie wirksamen Mechanismen der Selektion und Kombination bestimmter Ereignisse zu einer Erzählung auseinander. In dem Essay »Sobre el Vathek de William Beckford« (1943) führt Borges zunächst die Möglichkeit einer allumfassenden Darstellung eines menschlichen Lebens ad absurdum. Angeregt von der Lektüre einer Biographie über Beckford, die dessen essentielles literarisches Werk Vathek ausspart, trifft Borges folgende Feststellung: Tan compleja es la realidad, tan fragmentaria y tan simplificada la historia, que un observador omnisciente podría redactar un número indefinido, y casi infinito, de biografías de un hombre, que destacan hechos independientes y de las que tendríamos que leer muchas antes de comprender que el protagonista es el mismo (OC 2, S. 107).

8

die Schöpfungsgeschichte der Engel verweist und sie in Bezug zur menschlichen Schöpfungsgeschichte setzt: »Dos días y dos noches más que nosotros cuentan los ángeles: el Señor los creó el cuarto día y entre el sol recién inventado y la primera luna pudieron balconear la tierra nuevita que apenas era unos trigales y unos huertos cerca del agua« (IN, S. 63). Vgl. Lafon, Michel: »Histoires infâmes, biographies synthétiques, fictions: vies de Jorge Luis Borges«, in: Monluçon, Anne-Marie/Salha, Agathe (Hrsg.): Fictions Biographiques. XIXe – XXIe siècles, Toulouse: Presses Universitaires du Mirail 2007, S. 191–202, hier: S. 199–200.

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Im Anschluss illustriert er die Möglichkeit, eine fast unendliche Anzahl von Biographien über denselben Menschen zu verfassen, wie folgt: Simplifiquemos desaforadamente una vida: imaginemos que la integran trece mil hechos. Una de las hipotéticas biografías registraría la serie 11, 22, 33…; otra, la serie 9, 13, 17, 21…; otra la serie 3, 12, 21, 30, 39… No es inconcebible una historia de los sueños de un hombre; otra, de los órganos de su cuerpo; otra, de las falacias cometidas por él; otra, de todos los momentos en que se imaginó las pirámides; otra, de su comercio con la noche y con las auroras. Lo anterior puede parecer meramente quimérico; desgraciadamente, no lo es (ebd.).

So sei es möglich, Biographien über berühmte Menschen zu verfassen, die charakteristische Eigenschaften außer Betracht ließen: Wilde atribuye la siguiente broma a Carlyle: una biografía de Miguel Ángel que omitiera toda mención de las obras de Miguel Ángel. […] Setecientas páginas en octavo comprende cierta vida de Poe, el autor, fascinado por los cambios de domicilio, apenas logra rescatar un paréntesis para el »Maelström« y para la cosmogonía de Eureka. Otro ejemplo: esta curiosa revelación del prólogo de una biografía de Bolívar: »En este libro se habla tan escasamente de batallas como en el que el mismo autor escribió sobre Napoleón«. La broma de Carlyle predecía nuestra literatura contemporánea: en 1943 lo paradójico es una biografía de Miguel Ángel que tolere alguna mención de las obras de Miguel Ángel (ebd.).

Borges verweist in diesem Essay also ironisch auf die Problematik der Selektion, die durch den Biographen getroffen werden muss. So wählt dieser aus der unendlichen Menge der Lebensdaten eines Menschen diejenigen aus, die er für wichtig erachtet. Der Biograph entscheidet also, was zu einem Faktum wird und übt eine selektive Funktion aus, der eine Interpretation der einzelnen Fakten voraus geht. Dies entscheidet darüber, ob beispielsweise eine literarische Biographie, eine militärische oder eine medizinische Biographie entsteht. Während sich Borges’ Überlegungen hier ausschließlich auf das Genre der Biographie beziehen, trafen Historiker wie Edward Hallett Carr oder Hayden White später ähnliche Feststellungen: So bemerkte Carr diesbezüglich:

78 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE The historian is necessarily selective. The belief in a hard core of historical facts existing objectively and independently of the interpretation of the histo9 rian is a preposterous fallacy, but one which it is very hard to eradicate.

Auch Hayden White unterstrich in dem Aufsehen erregenden Text »Der historische Text als literarisches Kunstwerk« den Einfluss des Historikers in der Entscheidung, welche Ereignisse durch Hervorhebung Bestandteil einer Geschichte werden und welche weggelassen werden. Er prägte den Begriff des »emplotment« für das Verfahren, bei dem aus reinen Chroniken Geschichten werden. So seien historische Ereignisse prinzipiell immer wertneutral, die Entscheidung, ob die historische Darstellung eine tragische, komische, romantische oder ironische Ausprägung erhalte, liege ganz in der subjektiven Entscheidungsfreiheit des Historikers, so White.10 White verdeutlicht dieses Verfahren, bei dem einer noch unbedeutenden – da nur chronologischen – Reihe von Fakten Bedeutung und Kohärenz verleihen wird, anhand einer schematischen Darstellung. Zuerst stellt er die reine Serie von Fakten wie folgt dar: (1) a, b, c, d, e, ……., n. Diese sind zwar in chronologischer Reihenfolge, bedürfen jedoch einer Erklärung durch den Historiker, d.h. sie benötigen eine Plotstruktur, um dem Leser plausibel zu erscheinen. Durch das Weglassen von nicht-kohärenten Details, das Hervorheben und eventuelle Bewerten anderer entsteht dann eine Textlogik. Daraus ergibt sich dann auch die Zugehörigkeit des Plots zu einem bestimmten Typus der oben von White aufgeführten Kategorien. Diesen historiographischen Schritt verdeutlicht White wie folgt, wobei die großen Buchstaben die verschiedenen Möglichkeiten bezeichnen, einem beliebigen Faktum einen privilegierten Status einzuräumen: (2) A, b, c, d, e, ……., n; (3) a, B, c, d, e, ……., n usw.11 White betont jedoch, dass dieses Verfahren nicht einer Erkenntnisleistung im Wege stehe, denn die benutzten Kodierungsverfahren seien Bestandteil einer Kultur und damit sei es den Rezipienten auch möglich, diese zu erkennen und zu dekodieren. Diese Reihen erinnern an das Beispiel Borges’, der in obigem Essay ebenfalls verschiedene Enkodierungsmuster für die Anzahl der Lebensdaten vorschlägt, wodurch eine nahezu unendliche Zahl hypothetischer Biographien entsteht. 9 10 11

Carr, Edward Hallett: What is history?, New York: Random House 1961, S. 10. White: »Der historische Text als literarisches Kunstwerk«, S. 128–129. Ebd., S. 143–144.

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Während Ricœur also – wie oben gesehen – den Begriff der »dissonanten Konsonanz« einführt, um das Überführen paradigmatischer Elemente in eine syntagmatische Erzählform zu bezeichnen und dabei explizit vor der Gefahr einer historiographischen Willkür im Fahrwasser postmoderner Geschichtskritik von etwa Hayden White warnt, so findet sich bei Borges bereits eine explizite Auseinandersetzung mit den arbiträren Selektionsmechanismen der biographischen Darstellung. »El arte del biógrafo [...] es, sobre todo, el de olvidar«, so schreibt er in einer Rezension unter Verweis auf André Maurois (OC 4, S. 218).12

5.3 »S CHOPENHAUER QUE ACASO DESCIFRÓ EL UNIVERSO «: G ESCHICHTSSKEPTIZISMUS BEI A RTHUR S CHOPENHAUER »Ah, Schopenhauer, que siempre descreyó de la historia…« (OC 2, S. 440) ruft der Geschichtswissenschaftler Zimmermann in der Kurzgeschichte »Guayaquil« aus, als er dessen Texte in einem Bücherregal entdeckt. Schopenhauers Skeptizismus in Bezug auf die Geschichtsschreibung wird von Borges wiederholt aufgegriffen, weshalb eine kurze Betrachtung der Schopenhauer’schen Ausführungen an dieser Stelle angebracht erscheint. Im Dezember 1936 erscheint in der Zeitschrift El Hogar der von Borges verfasste Beitrag: »Oswald Spengler: una biografía sintética«.13 Darin konstatiert er, deutsche Philosophen neigten generell zu dialektischen Weltbildern, in dieser Hinsicht unterscheide sich Spengler keineswegs von z.B. Kant, Hegel oder Leibniz. Diese seien jedoch nicht geeignet, das Universum angemessen zu beschreiben: »La buena simetría de los sistemas constituye su afán, no su eventual correspondencia con el universo impuro y desordenado« (OC 4, S. 237). Spenglers Verständnis von Geschichte, das Borges als »concepto biológico«

12 13

Das Zitat findet sich in der Rezension von Henri de Montherlands Les Jeunes Filles. Dieser Text findet sich in den Textos Cautivos (OC 4, S. 237–238) oder in Rodríguez Monegal, Emir/Borges, Jorge Luis: Ficcionario: una antología de sus textos, México: Fondo de Cultura Económica 1985, S. 116– 117.

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bezeichnet, sei daher kritisch zu betrachten, nicht jedoch sein überragender Stil (ebd. S. 238). Borges verweist dagegen in obigem Beitrag über Spengler auf seinen bevorzugten Philosophen, Arthur Schopenhauer (»Schopenhauer que acaso descifró el universo«) (OC 2, S. 314),14 der sein Misstrauen gegenüber jeglicher Geschichtswissenschaft wie folgt formuliert habe: »No hay una ciencia general de la historia; la historia es el relato insignificante del interminable, pesado y deshilvanado sueño de la humanidad« (ebd. S. 117). Ein erneuter Verweis auf die Geschichtsphilosophie Schopenhauers findet sich in der Rezension der Weltgeschichte von Veit Valentin in der Zeitschrift Sur (1939): Los hechos de la historia son meras configuraciones del mundo aparencial, sin otra realidad que la derivada de las biografías individuales. Buscar una interpretación de esos hechos es como buscar en las nubes grupos de animales y de personas. Lo referido por la historia no es otra cosa que un largo, pesado y enrevesado sueño de la humanidad. No hay un sistema de la historia, como lo hay de las ciencias que son auténticas: hay una interminable enumeración de hechos particulares (BS, S. 209).15

Borges ergänzt dazu folgendes: […] De Quincey escribe que la historia es inagotable, ya que la posibilidad de permutar y de combinar los hechos registrados por ella equivale prácticamente a un número infinito de hechos. Cree, como Schopenhauer, que interpretar la historia no es menos arbitrario que ver figuras en las vetas de un mármol, pero la variedad de esas figuras lo satisface… (ebd.).

Er stimmt mit Valentin darin überein, dass es keine Gesetze der Geschichte gebe: 16

»Cada acontecimiento es nuevo« nos dice. »La realidad es más pródiga que cualquier imaginación; no hay leyes históricas. La historia universal es un caso

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Für eine Auflistung aller Nennungen Schopenhauers im Werke Borges’ verweise ich auf den Index des Borges Centers der Universität Pittsburgh. Siehe: http://www.borges.pitt.edu/finders-guide. Für eine Untersuchung des Einflusses von Schopenhauer auf Jorge Luis Borges’ Werk siehe: Sierra, Ana: El mundo como voluntad y representación: Borges y Schopenhauer, Potomac: Scripta Humanistica 1997. BS steht für: Borges, Jorge Luis: Borges en Sur 1931–1980, Buenos Aires: Emecé 1999. Borges übersetzt hier wörtlich aus dem 1939 erschienenen Werk von Veit Valentin, vgl. Valentin, Veit: Weltgeschichte 1. 2 Bde., Köln/Berlin/ Amsterdam: Kiepenheuer/De Lange 21950, S. 12.

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particular que consta de casos particulares: es la revelación de lo individual«. Palabras tanto más valederas si recordamos que las firma un historiador y que encabezan una obra admirable. (Ningún historiador, dicho sea de paso, ha creído en las »leyes de la historia« con la candorosa fe de Vico y de Spengler) (ebd.).

Borges bezieht sich mit diesen Äußerungen auf Die Welt als Wille und Vorstellung, insbesondere auf das Kapitel 51 des ersten Bandes sowie das Kapitel 38 des zweiten Bandes. Während sich in ersterem eher allgemeinere Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung sowie zum Status der Biographie finden, legt Schopenhauer in dem Kapitel »Über Geschichte« detailliert seine vom Idealismus und insbesondere von Kant stark beeinflusste Geschichtsphilosophie dar. Obiges Zitat von Borges (»No hay un sistema de la historia, como lo hay de las ciencias que son auténticas: hay una interminable enumeración de hechos particulares«) bildet den Ausgangspunkt der Argumentation Schopenhauers. Ausgehend von einem hierarchischen Wissenschaftsbegriff, welcher es vermöge, das Unendliche durch Art- und Gattungsbegriffe zu kategorisieren und so den Weg zur Erkenntnis des Allgemeinen und des Besonderen zu öffnen, spricht er der Geschichte eben diesen Wissenschaftscharakter ab: Bloß d i e G e s c h i c h t e darf eigentlich nicht in jene Reihe treten; da sie sich nicht des selben Vortheils wie die andern rühmen kann: denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wissenschaft, die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat. Daher giebt es kein System der Geschichte, wie doch jeder andern Wissenschaft. Sie ist demnach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft.17

Die Behauptung von Croce, die Universalgeschichte löse sich auf in Partikulargeschichten, findet sich in ähnlicher Form bereits bei Schopenhauer formuliert: Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen; welches einen Widerspruch besagt. Auch folgt aus Ersterem, daß die Wissenschaften sämmtlich von Dem reden, was immer ist; die Geschichte hingegen von Dem, was nur ein Mal und dann nicht mehr ist. Da ferner die Geschichte es mit dem schlechthin Einzelnen und

17

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung II. 2 Bde., Köln: Könemann 1997, S. 586, Hervorhebung im Original.

82 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE Individuellen zu thun hat, welches, seiner Natur nach, unerschöpflich ist; so weiß sie Alles nur unvollkommen und halb.18

Ebenso wie auch Croce später auf die Willkür von künstlichen Periodisierungsversuchen hinweisen soll,19 findet sich bereits bei Schopenhauer die Warnung vor einer falsch verstandenen Objektivität in der Geschichtswissenschaft: Wollte man hiegegen einwenden, daß auch in der Geschichte Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine Statt finde, indem die Zeitperioden, die Regierungen und sonstige Haupt- und Staatsveränderungen, kurz, Alles was auf den Geschichtstabellen Platz findet, das Allgemeine seien, dem das Specielle sich unterordnet; so würde dies auf einer falschen Fassung des Begriffes vom Allgemeinen beruhen. Denn das hier angeführte Allgemeine in der Geschichte ist bloß ein s u b j e k t i v e s , d.h. ein solches, dessen Allgemeinheit allein aus der Unzulänglichkeit der individuellen K e n n t n i ß von den Dingen entspringt, nicht aber ein o b j e k t i v e s , d.h. ein Begriff, in welchem die Dinge 20 wirklich schon mitgedacht wären.

Seine Geschichtsphilosophie des Partikulären, mit welcher er sich dezidiert gegen Hegel wendet,21 formuliert Schopenhauer noch pointierter in folgenden Bildern, welche Borges in den oben genannten Zitaten aufgreift: Der Stoff der Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzelnheit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann auf immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflechtungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet wer22 den.

Schopenhauers Maxime zufolge, nur der Wille habe wahre Realität und entspreche dem Kantschen Ding-an-sich, fällt der Biographie, dem »Lebenslauf jedes Einzelnen«, wie er schreibt, eine besondere Bedeutung zu. Die äußeren Vorgänge seien bloße Konfigurationen der

18 19 20 21

22

Ebd. Auch Valentin setzt sich kritisch mit der Konstrukthaftigkeit von Epocheneinteilungen auseinander. Vgl. Valentin: Weltgeschichte 1, S. 15–17. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 587, Hervorhebung im Original. Der Geschichtsphilosophie Hegels, welche die Weltgeschichte als ein nach planmäßigen Gesetzen ablaufendes Ganzes betrachtet, liege, so Schopenhauer, ein platter Realismus zugrunde. Er bezeichnet sie als geistesverderblich und verdummend, vgl. ebd., S. 589. Ebd., S. 589.

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Erscheinungswelt und erlangten erst Bedeutung durch ihre Beziehung auf den Willen des Einzelnen: Das Bestreben sie [die äußeren Vorgänge, C.R.] unmittelbar deuten und auslegen zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu sehen. – Was die Geschichte erzählt, ist in der That 23 nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit.

In Borges’ Texten zeigt sich wiederholt Übereinstimmung mit dieser Prioritierung der Individualgeschichte gegenüber einer als kollektiv verstandenen Geschichte. In einem Gespräch mit Bioy Casares vom 14. Juni 1956 äußern sich die beiden wie folgt: Bioy: »He notado que hoy la gente busca las causas sociales de los hechos políticos; éste es un proceder intelectual y bastante raro; no creo que siempre se empleara; antes la gente explicaría esos hechos por los individuos: los individuos son ricos como mundos, imprevisibles, admiten el azar. La explicación por los individuos me parece más próxima a la verdad«. Borges: »Las causas sociales son abstracciones; desde luego los individuos también lo son, pero en menor grado«. Bioy: »Es curioso cómo toda la gente puede adoptar una explicación un poco fantástica, emplearla con naturalidad, rechazar la explicación más simple«.24

Auch in einem Vorwort zu Sarmientos Facundo verweist Borges auf Schopenhauers Auffassung, dass die Geschichte nicht in vorherbestimmten Bahnen verlaufe: Único en el siglo XIX y sin heredero en el nuestro, Schopenhauer pensaba que la historia no evoluciona de manera precisa y que los hechos que refiere no son menos casuales que las nubes, en las que nuestra fantasía cree percibir configuraciones de bahías o de leones (OC 4, S. 125).

Denn die (argentinische) Geschichte ließe sich nicht durch Massenbewegungen beschreiben, sondern sei eine Geschichte von Individuen: »Contrariamente a los devaneos de la sociología, la nuestra es una historia de individuos y no de masas« (ebd., S. 126). Erneut in Anklang an Schopenhauer sinniert auch Otto Dietrich zur Linde, Protagonist der Erzählung »Deutsches Requiem«, über die Eigenbestimmung des Individuums. So bestünde wohl die Möglichkeit einer geheimen Ordnung, diese sei jedoch vom Individuum beeinflusst und nicht einer höheren Instanz unterliegend: 23 24

Ebd., S. 590–591. Bioy Casares, Adolfo: Borges, Buenos Aires: Destino 2006, S. 169.

84 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE En el primer volumen de Parerga und Paralipomena releí que todos los hechos que pueden ocurrirle a un hombre, desde el instante de su nacimiento hasta el de su muerte, han sido prefijados por él. Así, toda negligencia es deliberada, todo casual encuentro una cita, toda humillación una penitencia, todo fracaso una misteriosa victoria, toda muerte un suicidio. No hay consuelo más hábil que el pensamiento de que hemos elegido nuestras desdichas; esa teleología individual nos revela un orden secreto y prodigiosamente nos confunde con la divinidad (OC 1, S. 578, eigene Hervorhebung).

Es zeigt sich damit zum einen, warum Borges das Genre der Biographie so sehr faszinierte. Zum anderen thematisiert Borges hiermit die für die Geschichtswissenschaft grundlegende Frage nach der Realität von Strukturen in der historischen Erklärung. So wird insbesondere bei kausalen Erklärungen zwischen strukturellen und individuellen Faktoren unterschieden: Beschreibungsweisen, die nur die Individuen und ihre Eigenschaften als real voraussetzen und die Gesellschaft als Gesamtheit handelnder Individuen betrachten, kann man als ontologisch individualistisch kennzeichnen. Gesamtheiten handelnder Individuen besitzen in dieser Perspektive keine Merkmale, die man nicht auf Individuen zurückführen kann […] Der ontologisch individualistischen Auffassung der sozialen Wirklichkeit stehen Beschreibungsweisen gegenüber, die davon ausgehen, daß die Gesellschaft ein Zusammenhang oder System von Institutionen ist, und daß dieses System eigene Merkmale besitzt, die nicht auf die Teile […] zurückgeführt werden können. Diese 25 Sicht ist als ontologischer Holismus bekannt […].

Vertreter der ersten Auffassung ist z.B. der niederländische Geschichtsphilosoph Ankersmit, dem zufolge Strukturen in der Geschichte »nur im Kopf des Historikers (oder in seiner Geschichtsschreibung)«26 existieren, da es lediglich regelmäßig handelnde Individuen gebe. Für den Marxisten Althusser beispielsweise ist das Individuum dagegen lediglich Träger sozialer Strukturen, diese Strukturen jedoch seien der wahre »Motor« der Geschichte. Weitere Ausprägungen der ontologisch holistischen Auffassung finden sich in den Variationen der Hegel’schen Idee, dass Kollektive über einen bestimmten Geist verfügten, und dass sich die Geschichte über feste Phasen oder Stadien – ähnlich wie ein biologischer Organismus – entwickle.27

25

26 27

Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1997 (Beiträge zur Geschichtskultur 13), S. 290–292, Hervorhebung im Original. Zitiert nach: ebd., S. 291. Vgl. ebd., S. 292–293.

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5.4 D ER K AUSALABERGLAUBE Enrique Pezzoni bezeichnet eine permanente Herausforderung des Kausalitätsbegriffes als typisch für Borges’ Literatur: Borges está […] intentando de alguna manera rebasar la sucesión histórica, es decir destruyendo esa fuerte idea de causalidad que puede imponer el documento histórico según lo cual lo que sucede a algo está motivado por algo. Borges invierte esas relaciones y muestra que una historia puede ser fabrica28 ción, creación, por el que la registra como documento.

Es ist in der Geschichtsphilosophie versucht worden, den Phänomenen der Vergangenheit mit verschiedenen Erklärungsschemata eine Form zu geben. Zum einen wären positivistische Auffassungen der historischen Erklärung zu nennen, zu denen das deduktiv-nomologische Schema gehört, mit dessen Hilfe kausale Zusammenhänge anhand von Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden. David Hume stellte die Regularitätstheorie der Kausalität auf, derzufolge anhand empirisch begründeter Gesetzmäßigkeiten Ursachen erkennbar werden sollten.29 Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten ließen sich mit Hilfe des nomologischen Erklärungsschemas auch Prognosen erstellen. So könne man Wahrscheinlichkeitsgesetze formulieren, mit deren Hilfe sich wiederholende Abläufe in der Geschichte erklären ließen.30 Dem entgegen gesetzt stehen hermeneutische Erklärungsschemata, denen keine Gesetzmäßigkeiten nomologischen Erklärens zugrunde liegen, sondern die vielmehr die Individualität des menschlichen Handelns betonen. Typisch für den hermeneutischen Argumentationsgang ist daher die Einbeziehung von Kontingenz. So kennzeichne sich die 28 29 30

Louis: Enrique Pezzoni, lector de Borges. Lecciones de literatura 1984– 1988, S. 36. Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 66. Das nomologische Modell fasst Rüsen wie folgt zusammen: »Erklärt werden soll die Tatsache E (Explanandum). Das, was sie erklärt (Explanans), besteht aus zwei Teilen: aus einem oder mehreren Tatsachen A […]; umgangssprachlich handelt es sich um »Ursachen«- und aus einem oder mehreren Gesetzen G […], die besagen, daß immer dann, wenn Tatsachen von der Art A der Fall sind, Tatsachen von der Art E eintreten. Aus diesem Explanans folgt nun schlüssig (im Falle eines allgemeingültigen Gesetzes zwingend, im Falle einer statistischen Regelmäßigkeit mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) das Explanandum«, Rüsen, Jörn: Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986 (Grundzüge einer Historik. Die Prinzipien der historischen Forschung 2), S. 24.

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Geschichtswissenschaft nicht durch die Erkenntnis abstrakter und allgemeiner Art sondern durch das Hineinversetzen in individuelle Situationen. Dadurch sollen die Intentionen der historisch handelnden Personen dargelegt werden. Somit bezeichnen sowohl Lorenz als auch Rüsen eines der hermeneutischen Erklärungsschemata als intentionales Erklärungsmodell. Durch das von dem Geschichtsphilosoph Robin G. Collingwood beschriebene re-enactment – eine gedankliche Wiederaufführung und Durchdringung des vergangenen Geschehens – sollte Einsicht in die Gedanken und das Bewusstsein der historischen Personen erlangt werden. Ähnlich einem Detektiv bei Lösung eines Kriminalfalles wird nach dem Grund oder dem Motiv geforscht, welche als Ursache einer Handlung angesehen werden. Wenn die Ursache gefunden sei, werde die jeweilige Handlung verständlich und der (historische) Sachverhalt sei damit hinreichend erklärt.31 Sowohl das nomologische als auch das intentionale Erklärungsmodell weisen jedoch verschiedene Probleme auf32 und wurden von narrativen Erklärungsmodellen abgelöst. Die Vorstellung, dass Geschichte erzählenden Charakter habe, ist keinesfalls neu. Narrativistische Ansätze33 gehen davon aus, dass die Suche nach bestimmten histo31 32

33

Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 98. Zu einer ausführlichen Darstellung der verschiedenen Erklärungsmodelle sowie ihrer jeweiligen Problematik siehe: Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit und Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Droysen als Vertreter eines »klassischen« Narrativismus betont die subjektive Konstrukthaftigkeit einer jeden historischen Erzählung, welche wesentlich dadurch geprägt sei, auf welche Weise der Historiker in der Erzählung die »stummen« Fakten zum »Sprechen« bringen wolle. Das bedeutete für Droysen jedoch nicht, dass der Begriff der Wahrheit nicht für historische Erzählungen zuträfe, sondern lediglich, dass dieser durch den Standpunkt des Historikers zeitlich und räumlich eingegrenzt sei. Ausgehend u.a. von Droysens Ideen entwickelte Ankersmit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts eine moderne Variante des narrativen Erklärungsmodells. Eine wesentliche Neuerung bestand darin, die historischen Forschungsphasen von denen der Darstellung zu trennen. Lediglich in der Forschungsphase gebe es eine wörtliche, rein beschreibende oder feststellende Sprache, in der narrativen Darstellungsphase dagegen spielten übertragene, metaphorische Aspekte der Sprache eine Rolle. Die Folgen dieser Annahme fasst Lorenz wie folgt zusammen: »Infolge dieser Voraussetzung wird der referentielle Aspekt der Sprache an die Forschungsphase […] delegiert, so daß die in der Darstellungsphase konstruierte Erzählung im modernen (und postmodernen) Narrativismus als nicht-referentielle Sprachkonstruktion – als reiner Text – erscheint. Und da die Erzählung als Sprachkonstruktion als nicht-referentiell angesehen wird, verschwindet automatisch das (epistemologische) Problem der

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rischen Erklärungsmodellen generell fehlgeleitet sei, da das Erzählen von Geschichte selber bereits ein Vorgang des Erklärens sei. Erzählen wird als eigener Modus rationaler Argumentation verstanden, bei dem Sinnbildung über Zeiterfahrung stattfinde.34 Erzählen macht aus Zeit Sinn, indem es die Zeitfolge von Vorkommnissen in einen Zusammenhang bringt. Ricœur sieht jedoch – wie gezeigt – seine Theorie nicht der narrativen Geschichtswissenschaft postmoderner Spielart zugeordnet, da bei ihm die narrative Sinnstiftung im Rahmen der konsonanten Dissonanz nie von der Referenzintention abgekoppelt wird. Die Geschichtsschreibung kann – so Ricœur – eine Referenz in Anspruch nehmen, indem sie auf empirisch nachweisbare Ereignisse zurückgreift. Wenn diese auch nur noch in Form von Spuren greifbar sind, also etwa in Dokumenten oder in Form des Zeugnisses, welches ja bei Ricœurs späteren Texten eine wichtige Rolle spielt, so ist für Ricœur unbestritten, »daß die Vergangenheit stattgefunden hat«.35 Borges’ Skeptizismus in Bezug auf die historische Kausalität manifestiert sich in verschiedenen essayistischen Texten. So bezeichnet er Geschichte in dem Essay »Quevedo« als rätselhaft: »Como la otra, la historia de la literatura abunda en enigmas« (OC 2, S. 38). Dieser rätselhafte Charakter scheint laut Borges daraus zu resultieren, dass jedem Geschehen eine unzählige Vielzahl von Ursache-Wirkung-Verknüpfungen voraus gehe, die nicht immer nachvollzogen werden könnten: Art happens […] declaró Whistler, pero la conciencia de que no acabaremos nunca de descifrar el misterio estético no se opone al examen de los hechos que lo hicieron posible. Éstos, ya se sabe, son infinitos, en buena lógica, para que cualquier cosa ocurra, ha sido necesaria la conjunción de todos los efectos y causas que la han precedido y urdido (OC 4, S. 132, Hervorhebung im Original).

34

35

Wahrheit einer historischen Erzählung von der Bildfläche, und an seine Stelle treten (literarische) Begriffe wie Stil, Metapher und (ästhetische) Präferenzen […]. Wenn Erzählungen sich nicht auf die Wirklichkeit beziehen oder nicht auf diese verweisen, kann ja von Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sowieso nicht die Rede sein«, Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 135. Zu einer Darstellung des narrativistischen Paradigma in der Geschichtswissenschaft und der diesbezüglichen Diskussion siehe auch: Rüsen: Zerbrechende Zeit: über den Sinn der Geschichte, Kap. 2, S. 43–105. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 129.

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In »La flor de Coleridge« betont Borges die unendliche Kausalkette, die jedem Ereignis zugrunde liege: »[…] no hay acto que no sea coronación de una infinita serie de causas y manantial de una infinita serie de efectos« (OC 2, S. 17). In dem 1941 erschienenen Essay »La creación y P.H. Gosse« stellt Borges verschiedene Versuche dar, die theoretisch mögliche, unendliche Rückverfolgung kausaler Ketten mit der Schöpfungsgeschichte zu vereinbaren: En aquel capítulo de su Lógica que trata de la ley de causalidad, John Stuart Mill razona que el estado del universo en cualquier instante es una consecuencia de su estado en el instante previo y que a una inteligencia infinita le bastaría el conocimiento perfecto de un solo instante para saber la historia del universo, pasada y venidera. […] Mill no excluye la posibilidad de una futura intervención exterior que rompa la serie. Afirma que el estado q fatalmente producirá el estado r; el estado r, el s; el estado s, el t; pero admite que antes de t, una catástrofe divina […] puede haber aniquilado el planeta. El porvenir es inevitable, preciso, pero puede no acontecer. Dios acecha en los intervalos. […] Mill imagina un tiempo causal, infinito, que puede ser interrumpido por un acto futuro de Dios; Gosse, un tiempo rigurosamente causal, infinito, que ha sido interrumpido por un acto pretérito: la Creación. Surge Adán y sus dientes y su esqueleto cuentan treinta y tres años; surge Adán (escribe Edmund Gosse) y ostenta un ombligo, aunque ningún cordón umbilical lo ha atado a una madre. El principio de razón exige que no haya un solo efecto sin causa; esas causas requieren otras causas, que regresivamente se multiplican (OC 2, S. 28– 29, Hervorhebung im Original).

Borges beschäftigt sich hier also explizit mit dem Thema der Kausalität und der Möglichkeit, kausale Erklärungsketten bis zu ihrem Ursprung zurück zu verfolgen. Wie die folgenden Textanalysen belegen werden, spielt darüber hinaus der Zufall als Problematisierung des Kausalitätsbegriffes eine wichtige Rolle in Borges’ Erzähltexten. Lorenz stellt heraus, dass der Begriff des Zufalls ein relativer sei. Als zufällig bezeichnete Ereignisse beruhten so zumeist lediglich auf einer (un)glücklichen Kreuzung zahlreicher, einzeln durchaus erklärbarer Kausalketten: »Das heißt also, daß der Begriff Zufall relativ ist, denn jedes Ereignis ist, je nachdem, womit man es in Beziehung setzt, zufällig oder nicht-zufällig«.36 Borges schreibt in der kurzen Notiz »Una versión de Borges« über den Zufall, der ihm besonders wohlgesonnen gewesen sei: »El azar (tal es

36

Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 318–319, Hervorhebung im Original.

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el nombre que nuestra inevitable ignorancia da al tejido infinito e incalculable de efectos y de causas […]« (TR 3, S. 171). In dem Essay »El arte narrativo y la magia« (1932) beschäftigt sich Borges darüber hinaus ausführlich mit der Kausalität als zentralem Problem des Romans. So bediene sich der »Charakterroman« einer Verkettung von Motiven, die die Realität abbilden sollten: […] el problema central de la novelística es la causalidad. Una de las variedades del género, la morosa novela de caracteres, finge o dispone una concatenación de motivos que se proponen no diferir de los del mundo real. Su caso, sin embargo, no es el común (OC 1, S. 230).

Dieses Motivierungsschema eigne sich jedoch nicht für den Roman, in dem immer etwas Neues geschehe, dieser sei vielmehr von einer magischen Kausalität beherrscht: »Un orden muy diverso los rige, lúcido y atávico. La primitiva claridad de la magia« (ebd., S. 230). Borges nennt verschiedene Beispiele für magische Kausalität, die man wohl gemeinhin als Aberglauben bezeichnet, wie z.B. eine Heilsalbe, die nicht auf die Wunde sondern auf das Schwert aufgetragen werden solle, welches die Wunde verursachte. Im Anschluss daran konkludiert er, dass sich Kausalität und Magie keinesfalls ausschließen: El catálogo entero de esos atroces o irrisorios ejemplos es de enumeración imposible; creo, sin embargo, haber alegado bastantes para demostrar que la magia es la coronación o pesadilla de lo causal, no su contradicción. El milagro no es menos forastero en ese universo que en el de los astrónomos. Todas las leyes naturales lo rigen, y otras imaginarias. Para el supersticioso, hay una necesaria conexión no sólo entre un balazo y un muerto, sino entre un muerto y una maltratada efigie de cera o la rotura profética de un espejo o la sal que se vuelca o trece comensales terribles (ebd., S. 230–231).

Nun sei jedoch das Problem im Roman, diese magische Kausalität den Lesern nahe zu bringen. Denn selbst unglaubliche Dinge müssten im Roman real erscheinen, um jene Aufhebung der Ungläubigkeit zu bewirken, die laut Coleridge Voraussetzung des poetischen Glaubens sei. Er nennt zwei Beispiele für die gelungene Umsetzung. So sei es William Morris in einem Roman gelungen, die Existenz von Zentauren glaubwürdig erscheinen zu lassen, indem er diese beiläufig erwähne und zusammen mit Bären und Wölfen aufzähle. Morris versuche nicht, seine Leser argumentativ von der Existenz der Zentauren zu überzeugen, sondern erziele seine Glaubwürdigkeit allein aus der narrativen Vermittlung: »Anotemos, de paso, que Morris puede no comunicar al

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lector su imagen del centauro ni siquiera invitarnos a tener una, le basta con nuestra continua fe en sus palabras, como en el mundo real« (ebd., S. 227). Bereits dieser Essay gibt einen Hinweis auf ein wichtiges literarisches Verfahren bei Borges: die parataktische Anordnung von Gefundenem und Vorgefundenem zur Erzeugung jenes Eindruckes von Wahrhaftigkeit, den Barthes als »effet de réel« beschrieben hat. Auch die jüdische Mystik spielt eine wichtige Rolle im Werk von Jorge Luis Borges.37 Insbesondere vor dem Hintergrund der skizzierten Infragestellung von Kausalität scheint eine Geschichtsauffassung von Belang, wie sie im Deutschland der zwanziger Jahre von Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Gershom Scholem entworfen wurde. Der von Walter Benjamin geprägte Begriff der »Jetztzeit« war Ausgangspunkt einer intensiven Kritik der historischen Vernunft, der Vorstellung von Kontinuität, Kausalität und Fortschritt. Walter Benjamin formuliert in den Thesen über Geschichte eine harsche Kritik an der vom Fortschrittsglauben geprägten Geschichtsauffassung des Historismus.38 Ausgelöst wurde diese Reflexion über Geschichte bei den genannten drei Denkern durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, den sie als »irreparablen Riß des historischen Gewebes«39 wahrnahmen, welcher das Hegel’sche Modell des Fortschritts zusammenbrechen ließ. Sie ersetzten diesen Gedanken an einen Sinn in der Geschichte durch die Möglichkeit einer jederzeit eintretenden Erlösung. Dieser ist weder mit christlicher Teleologie noch mit dialektischen Modellen Hegel’scher Art vereinbar und kann nur vor dem Hintergrund einer Krise der abendländischen Zivilisation verstanden werden.40 Innerhalb des jüdischen Messianismus lässt sich auch die Zeit nicht mehr als eine homogene Folge formal identischer Einheiten verstehen:

37

38 39

40

Siehe diesbezüglich beispielsweise: Aizenberg: Borges, el tejedor del Aleph y otros ensayos, Sosnowski, Saúl: Borges y la Cábala: la búsqueda del verbo, Buenos Aires: Hispamérica 1976, sowie Alazraki, Jaime: »Kabbalistic traits in Borges’ Narration«, in: Studies in Short Fiction 8, 1 (1971), S. 78–92. Vgl. Benjamin: Illuminationen, S. 251–261. Mosès, Stéphane: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 18. Vgl. ebd., S. 21.

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Mit ihrer Homogenität verschwindet zugleich die Idee von ihrer Kontinuität und folglich die Möglichkeit selbst einer Kausalität, die ihren Lauf regulierte. Das Verhältnis von einem Augenblick zum folgenden – allgemeiner noch von Gegenwart und Zukunft – ist also nicht eindeutig; von der Gegenwart können recht divergierende Bahnen zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Zukunft führen. […] Was die Geschichtsauffassung von Rosenzweig, Benjamin und Scholem kennzeichnet, ist genau dieser Übergang von einer Zeit der Notwendigkeit zu einer Zeit der Möglichkeiten.41

Auch der jüdische Geschichtsphilosoph Theodor Lessing forderte, das Primat der Kausalität zu hinterfragen und prägte den Begriff des »Kausalaberglaubens«.42 In seinem Werk Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919) greift er einige der zentralen Punkte Schopenhauers und Croces auf. So ist für ihn Geschichte zuvorderst subjektiv, denn nicht schon die bloße Feststellung von Geschehnissen in der Zeit sei Geschichte, sondern erst, wenn in einer nach einem Wertgesichtspunkt geordneten Zeitreihe das Geschehnis den Charakter des Ereignisses erhalte.43 Wirklichkeit werde nur von den Naturwissenschaften übermittelt, während Geschichte »aus Wunsch und Wille, Bedürfnis und Absicht« entstehe und »Traumdichtungen des Menschengeschlechtes« verwirkliche.44 Auch seien Dinge nie aus sich heraus historisch, sondern es finde immer eine Auswahl statt, Geschichte sei somit von den Vorurteilen der Historiker abhängig.45 41 42

43 44 45

Ebd., S. 20, Hervorhebung im Original. Eine Kenntnis des Werkes und seines Urhebers seitens Borges’ kann nicht nachgewiesen werden. In einem kurzen Text von 1951 verweist Borges jedoch auf einen anderen jüdischen Autor, Max Nordau, und gibt eine These Thorstein Veblens wieder, demzufolge jüdische Autoren immer über eine objektive Perspektive auf die verschiedenen Kulturen, in denen sie leben, verfügten. Borges vergleicht dies mit argentinischen Autoren. Auch diesen erlaube ihre marginale Position, Dinge mit einer gewissen Unparteilichkeit und mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten. Das erinnert selbstverständlich an den 1953 publizierten Aufsatz »El escritor argentino y la tradición« welcher auf einem 1951 gehaltenen Vortrag basiert. Borges referiert in diesem Artikel ferner das Buch Der Sinn der Geschichte von Nordau (1909). Dieses sei eine kritische Auseinandersetzung mit Hegel, Spengler und Toynbee und greife Argumente Schopenhauers auf, indem es auch der Geschichte ihren wissenschaftlichen Charakter abspreche und das Individuelle in der Geschichte betone, die Möglichkeit von historischen Gesetzmäßigkeiten jedoch verneine (TR 2, S. 274). Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München: Beck 1919, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 21.

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Lessing stellt die These auf, dass der Mensch Kausalität brauche, um sich im Leben zurecht zu finden: »Kausalität, so heißt das Gebäude, darinnen er lebt und einzig leben kann […]«.46 Daher neige man dazu, auch auf die Geschichte, die voll von unerwarteten, widersinnigen, absurden Ereignissen sei, eine vermeintliche Naturkausalität zu übertragen. Er führt verschiedene Beispiele für diesen »Kausalaberglauben« an, mit dem der Erste Weltkrieg durch das Wetter zu erklären versucht wurde bzw. sogar umgekehrt das Wetter durch den Krieg erklärt wurde: Auch während des gegenwärtigen Krieges (1914) haben Physiker, Astronomen und Philosophen jeden beliebigen Kausalaberglauben erneuert. Ein Professor […] erklärt […] das Eintreten des europäischen Krieges aus den Sternen; ein anderer […] macht […] den niedrigen Grundwasserstand für den europäischen Krieg verantwortlich; ein dritter […] erteilt in einer Schrift »Der Weltkrieg im Lichte des Kausalitätsgesetzes« (1916) die beruhigende Auskunft, daß »der Weltkrieg seine Notwendigkeit zweifellos der absoluten Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes verdankt«. Und wie der eine den Krieg aus Wind und Wetter erklärt, so kann ein anderer auch Wind und Wetter aus dem Krieg erklären. Als der Sommer 1916 besonders regenreich geriet, veröffentlichte ein Astronom […] eine Abhandlung, welche darlegte, daß Geschoßexplosionen, Waldbrände, Rauchentwicklungen, Artilleriebeschießungen notwendig sogenannte barometrische Tiefs erzeugen. Das Wetter des Jahres 1916 sei also nur eine Folge des Kriegs.47

Lessing stellt die Annahme, derzufolge »Kausalität der Normalzustand« sei, in Frage, und fordert Irrationalität zuzulassen: Es ist nun die großartige Erdichtung des Menschen, so zu verfahren, als sei Kausalität das Normale, dagegen Durchbrechung des Kausalzusammenhangs (z.B. Wunder, Chaos, Verbrechen, Zufall) recht eigentlich abnorm, während doch umgekehrt Kausalität der Faden der Ariadne ist, an welchem wir durch 48 ein Labyrinth irrationalen Lebens uns hindurchtasten.

Ein großer Teil der sogenannten geschichtlichen Ereignisse beruhe auf Zufall, führt Lessing aus,49 den Prozess der retrospektiven Sinnstiftung ironisiert er daher wie folgt: Der Historiker […] läßt kühnerhand sogar zwischen Völkern und Gruppen Motive walten, von denen die einzelnen Bestandteile dieser Völker und Grup-

46 47 48 49

Ebd., S. 34. Ebd., S. 35–36. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 49–54.

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pen, nämlich die Individuen, entweder gar nicht oder doch erst viele Jahre später erfahren können; so wie jedermann erst nachträglich aus Büchern erfährt, wie der Zeitgeist oder Volksgeist, überhaupt der Stil und Charakter sei50 ner Zeit gewesen sei, obwohl er ein Stück dieser Zeit eben selber war.

Als Beispiel für dieses »nachträgliche Besserwissen«51 führt er den Brand der französischen Bastille an. Diese markiere im Nachhinein den Beginn der französischen Revolution, jedoch habe in diesem Moment »weder Ludwig XVI noch sonst ein Zeitgenosse sich sonderlich darüber aufgeregt«.52

5.5 »U NA REALIDAD MÁS COMPLEJA «: D IE S CHWIERIGKEIT DER R EPRÄSENTATION Neben der Frage nach der Rolle der Sprache, den Konstitutionsbedingungen der Biographie, der Existenz bestimmter Strukturen in der Geschichte und der Problematik eines unkritischen Kausalbegriffes, setzt sich Borges jedoch auch mit dem fundamentalen Anspruch der Geschichtsschreibung auseinander, Wirklichkeit zu repräsentieren. Wie oben gesehen, trifft Ricœur eine Unterscheidung zwischen fiktionaler und historischer Erzählung in Bezug auf die Referenz der beiden Erzählmodi. Während die historische Erzählung durch eine Spur immer an etwas Gewesenes gekoppelt sei, entfällt diese Referenz in der fiktionalen Erzählung. Bei Borges entfällt jedoch auch diese Differenz; er unterscheidet in seiner Argumentation von »La postulación de la realidad« (1931), in welcher er drei Möglichkeiten Realität darzustellen beschreibt, nicht zwischen historischer und fiktionaler Erzählung, sondern führt sowohl Beispiele aus der Literatur als auch der Geschichtsschreibung an. Seine Ausführungen suggerieren, dass auch die für Ricœur essentielle Kopplung der historischen Erzählung an etwas Gewesenes zwar angestrebt werden könne, niemals jedoch vollständig erreicht werde, da sich die Realität zu komplex erweise, als dass sie sich durch die zwangsläufig schematisch vereinfachende Sprache abbilden lasse. Ausgangspunkt von »La postulación de la realidad« ist die für Croces Theorie des Ästhetischen zentrale These, dass das Expressive und 50 51 52

Ebd., S. 37. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89.

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das Ästhethische identisch seien. Borges widerspricht dem nicht gänzlich, macht jedoch geltend, dass man zwischen klassischer und romantischer53 Schreibweise unterscheiden müsse. So sei romantische Literatur durchaus expressiv, ja geradezu emphatisch (OC 1, S. 219), in der klassischen Literatur jedoch schrecke man vor dem Expressiven eher zurück. Als Beispiel für klassische Literatur führt er eine Passage aus Gibbons The Decline and Fall of the Roman Empire an.54 Kennzeichnend für die klassische Schreibweise sei ein Stil der Mittelbarkeit, der Autor überlasse es dem Leser gewisse Leerstellen selbst zu füllen. Gibbons Text strebe nicht danach, Realität vollständig zu repräsentieren, sondern lediglich diese zu verzeichnen: »No es realmente expresivo: se limita a registrar una realidad, no a representarla« (ebd., S. 217–218),55 dies sei auch, so Borges’ These, die einzige Möglichkeit der Repräsentation. Die Literatur müsse in ihrer Repräsentanzfunktion zwangsläufig schematisieren und vereinfachen, da dies auch in der Realität permanent geschehe. Unser Leben sei bestimmt durch selektives Wahrnehmen und Ausblenden bzw. Vergessen nicht-relevanter Informationen. Dies sei Voraussetzung für das Funktionieren des Menschen: Yo aconsejaría esta hipótesis: la impresición es tolerable o verosímil en la literatura, porque a ella propendemos siempre en la realidad. La simplificación conceptual de estados complejos es muchas veces una operación instantánea. El hecho mismo de percibir, de atender, es de orden selectivo: toda atención, toda fijación de nuestra conciencia, comporta una deliberada omisión de lo no interesante. […] Nuestro vivir es una serie de adaptaciones, vale decir, una educación del olvido (OC 1, S. 218).

Der Leser müsse dem Autor vertrauen, um das Dargestellte in Bezug zur Wirklichkeit setzen zu können, oder wie Borges es formuliert: »La 53

54

55

Borges entkleidet die Begriffe romantisch und klassisch explizit jeglicher historischen Konvention und meint damit lediglich zwei unterschiedliche Herangehensweisen (»procederes«, ebd., S. 217) eines Autors. Dass Borges hier ein historiographisches Werk als Beispiel anführt, überrascht nicht, bezeichnet er dieses Werk doch auch an anderer Stelle als »populosa novela«, OC 4, S. 71. Borges verfasst 1961 auch ein Vorwort zu Gibbons Páginas de historia y de autobiografía, in welchem er ebenfalls den zurückhaltenden Stil Gibbons lobt: »Las propias deficiencias, o, si se quiere, abstenciones de Gibbon, son favorables a la obra. […] Gibbon parece abandonarse a los hechos que narra y los refleja con una divina inconsciencia que lo asemeja al ciego destino, al propio curso de la historia«, OC 4, S. 66–71, hier: S. 70.

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realidad que los escritores clásicos proponen es cuestión de confianza, como la paternidad para cierto personaje de los Lehrjahre« (ebd., S. 219). Borges unterscheidet nun im Folgenden drei Arten der Darstellung von Wirklichkeit in der von ihm als klassisch bezeichneten Literatur. Die erste Möglichkeit besteht darin, lediglich die wichtigsten Fakten mitzuteilen und dem Leser die Interpretation der Leerstellen zu überlassen. Als Beispiel hierfür führt Borges eine Textstelle aus dem Don Quijote an, in welcher die Eroberung einer Frau dargestellt, der vollzogene Akt jedoch lediglich allegorisch beschrieben wird. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich eine komplexere Realität vorzustellen, jedoch dem Leser nur die Auswirkungen zu schildern. Beispielhaft dafür wird der Bericht einer Schlacht angeführt, welcher mit der adverbialen Einleitung »so« beginnt und ganz nebenbei eine tiefe Wunde eines der Beteiligten erwähnt. Diese Kunstgriffe tragen dazu bei, so Borges, eine »realidad más compleja« (ebd.) anzudeuten, diese jedoch ebenfalls nicht explizit zu schildern. Die dritte und wirkungsvollste Möglichkeit Realität in der Literatur darzustellen, besteht laut Borges in der Erfindung von Nebenumständen. Er nennt hierfür eine Szene aus dem wohl bekanntesten historischen Roman Lateinamerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts, La gloria de Don Ramiro. Dort ist von einer Suppe die Rede, die in einer Terrine mit vorgehängtem Schloss serviert wird, um sie vor der hungrigen Dienerschar zu schützen. Diese scheinbar nebensächliche Information suggeriere, so Borges, neben der Armut der Dienerschaft auch die herrschaftlichen Wohnverhältnisse der Protagonisten. Die Technik dieser schwierigsten Methode der Wirklichkeitsdarstellung bestehe in der Aneinanderreihung von banal scheinenden Einzelheiten mit tieferer Bedeutung. Diese Methode sei im Unterschied zu den beiden ersten nicht auf den Anwendungsbereich der Literatur begrenzt und auch kennzeichnend für die Filme Josef von Sternbergs. Diese drei Techniken der Darstellung von Realität erscheinen interessant für die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung im Werk von Jorge Luis Borges, stellt doch die Frage der Referenz ein wichtiges Unterscheidungskriterium zwischen Literatur und Geschichtsschreibung dar. Während letztere auf ein Gewesenes verweist und dies mit Mitteln der fiktionalen Erzählung erreicht, existiert dieses real Gewesene in der Literatur nicht. Jedoch stellt sich, wie von Ricœur gezeigt, auch in literarischen Texten die

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Frage nach der Referenz. Die Erzählinstanz sucht sich auch der Glaubwürdigkeit ihrer dargestellten Wirklichkeit zu versichern, wofür sie sich Mitteln der historischen Erzählung bedient. Borges postuliert nun, dass auch in der fiktionalen Erzählung immer auf eine dahinter liegende Realität verwiesen werde und diese lediglich durch ihre Auswirkungen oder durch die Schilderung von Nebenumständen hervor scheine.56

5.6 S CHAMHAFTE G ESCHICHTE Der nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Aufsatz »El pudor de la historia« (1952, Otras inquisiciones) ist der einzige in Borges’ Œuvre, der sich über poetologische Fragestellungen hinaus direkt und ausschließlich mit dem Wesen der Geschichtsschreibung auseinandersetzt. In diesem Essay formuliert Borges die schon oben aufgeführte These, dass sich nicht nur hinter der Literatur, sondern auch hinter der Geschichtsschreibung immer noch eine »realidad más compleja« verberge, die sich dem Leser jedoch erst auf einen zweiten Blick offenbare. Die so genannten historischen Momente seien Inszenierungen der Regierungen und des Zeitungswesens – als Beispiele nennt Borges hier Deutschland, Italien und Russland –, ihre Funktion sei Propaganda. Die wahre Geschichte, so Borges, sei dagegen schamhaft und entziehe sich einer direkten Repräsentation. Ihre Daten blieben daher lange Zeit geheim. Dafür zieht Borges ein literaturgeschichtliches Beispiel heran. So verberge sich hinter der bloßen Information, dass Aischylos in der Antike die Zahl der Schauspieler eines Dramas von einem auf zwei erhöht habe, viel mehr als bloß eine Verdopplung: nämlich die Entwicklung des modernen Dramas aus dem Dionysoskult. Die Bedeutung die-

56

Alazraki stellt heraus, dass ein typisches Charakteristikum der neophantastischen Literatur von Autoren wie Borges, Cortázar und Kafka sei, dass diese den Begriff der Realität an sich in Frage stelle und von einem Wirklichkeitsbegriff ausgehe, der immer schon auf eine »segunda realidad« verweise. Alazraki, Jaime: »¿Qué es lo neofantástico?«, in: Roas Deus, David (Hrsg.): Teorías de lo fantástico, Madrid: Arco Libros 2001, S. 265–282, hier: S. 276. Siehe diesbezüglich auch: Ferretti, Victor Andrés: Boreale Geltung: zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges, Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a.: Lang 2007 (Imaginatio Borealis. Bilder des Nordens 14).

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ser Handlung für die Dramaturgie sei zunächst unerkannt geblieben. Erst nachträglich erschließe sich die Bedeutung dieser für Aischylos und seine Zeitgenossen vermutlich nebensächlichen Tat. Als weiteres Beispiel für die Schamhaftigkeit der Geschichte nennt Borges eine historische Episode aus dem 13. Jahrhundert, die der isländische Geschichtsschreiber Snorri Sturluson verzeichnet. Dieser schildert eine Unterredung des sächsischen Königs von England mit seinem Bruder, der die Macht begehrt. Als die beiden Brüder in der Schlacht aufeinander treffen, geben sie beide vor, einander nicht zu erkennen. Der mit dem norwegischen König verbündete Bruder unterliegt in der Schlacht, beide werden getötet. Nicht diese Tatsache jedoch und auch nicht das feine psychologische Spiel, welches sich hinter der Taktik der beiden Brüder verberge, stelle ein historisches Datum dar, so Borges. Das eigentliche historische Datum verberge sich hinter der Tatsache, dass ein Feind, nämlich der auf der Seite der Norweger stehende Isländer Snorri Sturluson, die klugen Worte des englischen Königs lobend hervorhebe. Dies sei, als habe ein Karthager die Taten des Römers Regulus überliefert. In der siebten der »Thesen über den Begriff der Geschichte« kritisiert Walter Benjamin, dass die Forderung des Geschichtsschreibers im Historismus nach Einfühlung in sein Forschungsobjekt unweigerlich dazu geführt habe, dass man sich in die jeweils Herrschenden, die Sieger hinein versetzt habe. Denn nur von den Siegern bleiben Spuren, die eine Rekonstruktion ermöglichen. Ebenso kritisch seien laut Benjamin die sogenannten Kulturgüter zu betrachten, stellen doch auch sie immer die Beute dar, die von den Siegern »im Triumphzug mitgeführt« wird. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.57

57

Benjamin: Illuminationen. Für eine exzellente Untersuchung der vielfältigen Parallelen im Werk von Walter Benjamin und Jorge Luis Borges siehe Jenckes, Kate: Reading Borges after Benjamin: Allegory, Afterlife, and the Writing of History, Albany: State University of New York Press 2007.

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Benjamin zitiert Flaubert mit den Worten: »Peu de gens devineront combien il a fallu être triste pour ressusciter Carthage«.58 Diese Erwähnung Karthagos als Inbegriff eines besiegten, zerstörten und damit von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Reiches zeigt eine enge Parallele zwischen dem historischen Materialismus, wie er von Walter Benjamin formuliert wurde, und den geschichtstheoretischen Reflexionen von Jorge Luis Borges. Auch Gershom Scholem, auf den Borges in seinem Werk wiederholt verweist und den er auch mehrfach persönlich traf, grenzt sich bewusst von einer rational verstandenen Geschichtsschreibung ab, wie sie kennzeichnend nicht nur für die Wissenschaft des Judentums, sondern generell für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert war. Er entwickelte sein Verständnis von jüdischer Geschichtsschreibung entlang der Kabbalah-Exegese, welche ihm als historiographisches Modell diente. Er betont die Notwendigkeit, dasjenige in der Geschichte zu zeigen, was aus der Perspektive des Siegers nicht sichtbar sei. So sei es immer möglich, eine andere Geschichte zu erzählen, der Vergangenheit auf andere Art gerecht zu werden: »We are interested in History because therein are hidden the small experiences of human race […]. Within the historical failures, there is still concealed a power that can seek its correction«.59 1958 publizierte Scholem zehn Aphorismen unter dem Titel »Zehn unhistorische Sätze über Kabbala«. Das zentrale Thema dieser Sätze ist das Paradoxon, Wahrheit kommunizieren zu wollen, die immer geheim oder versteckt sei. David Biale setzt dies in seiner Studie über Gershom Scholem und die Kabbalah in Bezug zu der Arbeit des Historikers, dem ebenso wie dem Kabbalisten auch die wahre Vergangenheit immer verborgen bleibt.60 Er prägt den Begriff der »counter-history« als typisch für die jüdische Tradition der Geschichtsschreibung. So schreibt er:

58 59

60

Benjamin: Illuminationen, S. 254. Zitiert nach: Weidner, Daniel: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben, München: Wilhelm Fink 2003, S. 408–409. Vgl. Biale, David: »Gershom Scholem’s Ten Unhistorical Aphorisms on Kabbalah: Text and Commentary«, in: Modern Judaism 5, 1 Gershom Scholem Memorial Issue (1985), S. 67–93.

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I have defined counter-history as the theory that there is a continuing dialectic between an exoteric and a subterranean tradition. The true history lies beneath 61 the surface and often contradicts the assumptions of the normative tradition.

Einen besonderen Stellenwert räumt Scholem dem viel geschmähten Chronisten ein, denn dieser habe all jene zunächst unwichtig erscheinenden Details festgehalten, die später eventuell bedeutsam erscheinen können: […] for that chronicler was the only person with a true historical intuition. It is he who holds that, in principle, it is forbidden that anything be lost to the future. And in truth, these petty, insignificant details which he recorded and to which no one paid attention for thousands of years will have or will become at some point significant facts.62

Die bloße Ereignisgeschichte gibt auch für Borges nicht den Blick auf die wahre Geschichte frei, sondern der künstlerische Instinkt des Historiographen führe unweigerlich dazu, dass Irregularitäten wie Meutereien Priorität über die alltäglichen Begebenheiten erhielten: »Un noble instinto artístico, una tenaz indeliberación de tragedia, hacen que todo historiador pare mientes antes en lo irregular de un motín que en muchos lustros remansados y quietos de cotidianidad« (ebd., S. 141). Hinter dieser scheinbar ruhig dahinfließenden Alltäglichkeit würden sich jedoch die schamhaften Daten der Geschichte verbergen.63 61 62 63

Biale, David: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge/Massachusetts/London: Harvard University Press 1979, S. 195. Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben, S. 409. Dieser Essay lässt sich auch im Zusammenhang mit dem frühen Text »Queja de todo criollo« (IN, 1925) betrachten. Darin hinterfragt Borges vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Debatte um kreolische Identitätskonstruktion die seiner Meinung nach zu einfach gestaltete Verknüpfung von nationaler Identität und Geschichte. Er unterscheidet zwischen dem scheinbaren und dem essentiellen Wesen einer Nation. Die politische Ereignisgeschichte liefere die notwendigen Fakten für die Konstruktion einer nationalen Identität, welche Borges jedoch als oberflächlich (»aparencial«) bezeichnet. Die Geschichte eines Landes oder einer Nation, verstanden als politische Geschichte der Fakten, sei wenig aussagekräftig, so postuliert Borges schon 1925: »No es, empero, en la historia donde mejor puede tantearse la traza espiritual de una gente« (IN, S. 140–141). Das wahre und somit essentielle Wesen einer Nation sei dagegen schwerer zu fassen und scheine lediglich in den Gebräuchen und der Sprache einer Nation durch: »Muestran las naciones dos índoles: una la obligatoria, de convención, hecha de acuerdo con los requerimientos del siglo y las más veces con el prejuicio de algún definidor famoso;

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Die Wahl der Protagonisten in Borges’ Erzählungen kennzeichnet sich generell durch eine Privilegierung derjenigen Personen und Perspektiven, die aus den dominanten intellektuellen und politischen Formationen ausgeschlossen sind. Die »rincón cartaginés«, welche sowohl bei Borges als auch bei Walter Benjamin sinnbildlich für die Perspektive der Unterlegenen steht, wirft somit Fragen auf nach den Verhältnissen von »Macht, Unterordnung und Widerstand, nach Hegemonie und Subalternität oder nach der diskursiven Produktion und Reproduktion sozialer Identitäten«.64

64

otra la verdadera, entrañable, que la pausada historia va declarando y que se trasluce también por el lenguaje y las costumbres. Entre ambas índoles, la aparencial y la esencial, suele advertirse una contrariedad notoria« (ebd., S. 139). Marchart, Oliver: Cultural Studies, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008 (UTB), S. 25.

6. Lektüren

6.1 E VARISTO C ARRIEGO : E INE »M ILIEUBIOGRA PHIE « NACH V ORBILD P AUL G ROUSSACS

DEM

Im Werk von Jorge Luis Borges ist die wiederholte Auseinandersetzung mit der Biographie als Mischform zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur1 augenfällig. Bereits im Professionalisierungsprozess der argentinischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert spielten Biographien – wie gezeigt – eine wichtige Rolle. Den Entstehungszeitpunkt der argentinischen Geschichtswissenschaft markieren zwei polemisch geführte Auseinandersetzungen um eine Biographie mit dem Titel Historia de Belgrano, die der damalige Präsident Bartolomé Mitre verfasst hatte. Im Zentrum dieser öffentlich geführten Diskussionen standen Fragen nach der Rolle von Dokumenten sowie deren richtiger Interpretation. Die Bandbreite der Positionen, die dabei zum Ausdruck kamen, reichte von positivistischer Quellenkritik, wie

1

Der Historiker Carr befasst sich mit der Frage, ob das Genre der Biographie der Geschichtsschreibung zuzurechnen sei, oder eine eigene Gattung darstelle. So ordnet er einige Biographien der Historiographie zu, andere sieht er eher dem historischen Roman zugehörig. Vgl.: Carr: What is history?, S. 58–59. Auch Hähner befasst sich mit dem Problem der Zuordnung der Biographie: »Auf die Frage, »Was ist eine historische Biographie?« findet man in der Literatur zwei Antworten: Literaturwissenschaftler ordnen sie der literarischen Gattung »Biographie« zu, Historiker betrachten sie dagegen als eine Form der Geschichtsschreibung«. Er schlägt deshalb den Begriff der biographischen Historie oder der biographischen Geschichtsschreibung vor, um die Biographie als historiographische Unterform zu kennzeichnen. Vgl.: Hähner, Olaf: Historische Biographik: die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Lang 1999, S. 23.

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sie von Mitre propagiert wurde, bis hin zu einer eher spekulativ gestalteten Geschichtsphilosophie, wie etwa Vicente Fidel López sie verkörperte. Auch der historische Revisionismus, der ab den 1930er Jahren die geschichtswissenschaftliche Debatte in Argentinien bestimmte, nahm seinen Ausgangspunkt mit verschiedenen kontroversen Biographien über Manuel Rosas. »…a mode of truth, not of truth coherent and central, but angular and splintered« (OC 1, S. 99), so lautet der Epigraph von Evaristo Carriego und Borges nimmt damit bereits eine sehr zutreffende Charakterisierung dieser fiktionalen Biographie voraus. Evaristo Carriego (1930) nimmt in Borges’ Werk eine Schwellenposition ein. Steht das Werk einerseits noch im Zeichen eines nationalistisch geprägten Diskurses bei Borges und der damit verbundenen sentimentalen Rückwendung auf die Vergangenheit der Stadt Buenos Aires, die er in den Vorstädten konserviert sieht,2 so zeigt sich doch in der Herausforderung des Genres der Biographie auch eine subtile Reflexion geschichtstheoretischer Fragestellungen. Evaristo Carriego gibt sich durch die Wahl des Namens einer realen Person als Titel den Anstrich einer Biographie, jedoch kommt es durch das Übergewicht der Kapitel, die sich dem Stadtviertel Palermo widmen, zu einer für das Genre untypischen Schwerpunktverschiebung. Zwar konstatiert Borges in der der Ausgabe von 1939 vorangestellten Declaración, dass sich die kanonische Bedeutung des literari2

Sylvia Molloy sieht das Werk Evaristo Carriego als eine logische Fortsetzung der zurück blickenden frühen Lyrik von Borges. Seine frühe Lyrik kennzeichne sich durch »su resuelta mirada hacia el pasado, su indudable vocación rememorativa«. So sei auch Evaristo Carriego ein »ejemplar ejercicio de recuperación de un imaginario pasado compartido«, Molloy, Sylvia: Las letras de Borges y otros ensayos, Rosario: Beatriz Viterbo Editora 1999 (Ensayos críticos), S. 219. Tatsächlich ist von den zwölf Kapiteln, die Evaristo Carriego umfasst, nur eines der Vita des Poeten gewidmet. Die anderen Kapitel befassen sich überwiegend mit verschiedenen Themen, die in Zusammenhang mit der Vergangenheit des Stadtviertels Palermo stehen, in dem sowohl Carriego lebte als auch Borges den Großteil seiner Kindheit verbrachte. Somit findet hier eine Verwebung von nationaler und persönlicher Vergangenheit und damit auch Identität statt, wie Pinto hervorhebt: »Carriego entendido como modelo de argentinidad, Carriego como síntesis de las tentativas borgesianas, presentes en toda la década, de conectar el establecimiento de una identidad con la búsqueda del origen. Mitificación de un origen periférico que se conecta con la búsqueda de lo nacional«, Pinto, Júlio Pimentel: »Borges lee Buenos Aires«, in: Variaciones Borges 8 (1999), S. 82–93, hier: S. 91.

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schen Werkes Carriegos nicht nur aus der Textexegese erschließen lasse und er deshalb auch dessen Lebenswirklichkeit mit einbeziehe. Dies nimmt jedoch einen nicht unwesentlichen Teil des Werkes ein. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass Borges dem Werk später einige Kapitel hinzufügte. Die Kapitel sieben bis zwölf 3 entstanden wohl in den 50er Jahren und widmen sich überwiegend dem Stadtviertel Palermo und nur am Rande der Person Carriegos. Jedoch auch die ersten sechs Kapitel erweisen sich bei näherer Betrachtung als ungewöhnliche Biographie. So beschäftigt sich das erste Kapitel »Palermo de Buenos Aires«, ausschließlich mit der Geschichte und den Charakteristika eben dieses Viertels, die Person Carriegos wird nicht ein einziges Mal erwähnt. Erst das zweite Kapitel nähert sich diesem an, der unbestimmte Artikel in der Kapitelüberschrift »Una vida de Evaristo Carriego« verrät jedoch bereits, dass dieses Vorhaben exemplarischen Charakter hat und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Im dritten (»Las Misas herejes«) und vierten (»La canción del barrio«) Kapitel stellt Borges zwei der literarischen Hinterlassenschaften Carriegos vor. Das fünfte Kapitel greift die Unbestimmtheit des zweiten auf und bietet dem Leser somit lediglich eine mögliche Zusammenfassung des Gesagten an: »Un posible resumen«. Die angedeutete Unvollständigkeit der »Biographie« wird verstärkt durch die als Kapitel sechs (»Páginas complementarias«) angehängten Texte, welche Ergänzungen zu den Kapiteln zwei und vier darstellen. In dem ersten Fall handelt es sich um ein im lunfardo-Jargon verfasstes Gedicht Carriegos, im zweiten Fall um eine detaillierte Darstellung des Kartenspiels truco. Diese Struktur ist in Anbetracht des Entstehungszeitpunktes ungewöhnlich. Noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts galt eine sich chronologisch an den Lebensstationen orientierende Biographie als typisch. Dadurch sei die Aufgabe des Biographen einfacher als die des Historikers: The biographer is more fortunate: the limits of his subject are defined for him in advance. His book will begin with the subject’s birth, perhaps with some prelude of family background, and will end with the subject’s death, again

3

Dies sind die Kapitel: 7. »Las inscripciones de los carros«, 8. »Historias de jinetes«, 9. »El Puñal«, 10. »Prólogo a una edición de las poesías completas de Evaristo Carriego«, 11. »Historia del tango«, 12. »Dos cartas«.

104 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE perhaps with an epilogue on the subject’s legacy, political, financial or perso4 nal.

Den Glauben, dies reiche schon aus, um ein Leben umfassend wiederzugeben, entkräftet Borges. Er übernimmt eben jene genannten Eckdaten von einem früheren Biographen und fasst diese nochmals in weniger als einem Satz zusammen: Los hechos de su vida, con ser infinitos e incalculables, son de fácil aparente dicción y los enumera servicialmente Gabriel en su libro del novecientos veintiuno. Se nos confía en él que nuestro Evaristo Carriego nació en 1883, el 7 de mayo, y que rindió el tercer año del nacional y que frecuentaba la redacción del diario La Protesta y que falleció el día 13 de octubre del novecientos doce […] (OC 1, S. 115).

In einem Gespräch über Paul Groussac sollte Borges Jahrzehnte später ein Übermaß an Eigennamen und Daten als eines der Übel des biographischen Genres bezeichnen.5 Diese Vorgehensweise erinnert an die »Biografías sintéticas«, die Borges in den Jahren zwischen 1936 und 1940 für die Zeitschrift El Hogar verfasste.6 Borges befindet die chronologische Erzählstruktur für das Vorhaben einer Biographie Carriegos als ungeeignet: Yo pienso que la sucesión cronológica es inaplicable a Carriego, hombre de conversada vida y paseada. Enumerarlo, seguir el orden de sus días, me parece imposible; mejor buscar su eternidad, sus repeticiones. Sólo una descripción intemporal, morosa con amor, puede devolvérnoslo (ebd.).

4

5 6

Taylor, Alan J.P.: »The Historian as Biographer«, in: Klingenstein, Grete/Lutz, Heinrich/Stourzh, Gerald (Hrsg.): Biographie und Geschichtswissenschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis biographischer Arbeit. Bd. 6, München: R. Oldenbourg 1979 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit), S. 254–261, hier: S. 245. Vgl.: Ferrari/Borges: En diálogo II, S. 291. In diesen umreißt er ebenfalls jeweils das Leben einer Person in wenigen Absätzen. Die vorgestellten Personen entstammen überwiegend dem literarischen Leben, jedoch stellt er der Leserschaft von El Hogar auch den italienischen Geschichtsphilosophen Benedetto Croce sowie seinen deutschen Kollegen Oswald Spengler, Verfasser des Werkes Der Untergang des Abendlandes, vor. Die »biografías sintéticas« bildeten einen Teil der Sektion »Libros y autores extranjeros«, welche untergliedert war in die Rubriken: »Ensayos«, »Biografías sintéticas«, »Reseñas« und verschiedene Kommentare, die unter dem Titel »De la vida literaria« zusammengefasst wurden, vgl. OC 4, S. 209.

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Die Arbeit des Biographen sei es viel mehr, Berichte zu Bildern zusammen zu fügen (»restituir a imágenes los informes«) (ebd.), um den Lesern die Persönlichkeit des Biographierten in Erinnerung zu rufen. Dieser Anspruch, Ausgangspunkt einer jeden Biographie, sei jedoch bereits ein Paradoxon: Que un individuo quiera despertar en otro individuo recuerdos que no pertenecieron más que a un tercero, es una paradoja evidente. Ejecutar con despreocupación esa paradoja, es la inocente voluntad de toda biografía (OC 1, S. 113).

Seine Arbeit als Biograph werde auch nicht durch die Tatsache erleichtert, dass er Carriego gekannt habe. Denn das persönliche Gedächtnis, oftmals in Form von Zeitzeugenaussagen Grundlage historiographischer und somit auch biographischer Schriften, sei trügerisch und Schwankungen unterworfen: »Poseo recuerdos de Carriego: recuerdos de recuerdos de otros recuerdos, cuyas mínimas desviaciones originales habrán oscuramente crecido, en cada nuevo ensayo« (OC 1, S. 113). Ein weiteres Problem sei es, diese vagen Erinnerungen schriftlich mitzuteilen: Es innegable, pero ese liviano archivo mnemónico – intención de la voz, costumbres de su andar y de su quietud, empleo de los ojos – es, por escrito, la menos comunicable de mis noticias acerca de él (ebd.).

Borges wählt daher in dem der Vita des Poeten gewidmeten Kapitel eine thematisch/anekdotische Darstellung Carriegos. So stellt er zunächst dessen literarische Vorlieben und Freundschaften dar. Darauf folgt eine Aufzählung seiner Vorstadtfreundschaften, von denen die zu dem caudillo Nicolás Paredes die wichtigste gewesen sei. Dementsprechend ausführlich ist die Beschreibung Paredes’, den Borges ebenfalls persönlich kannte. Es folgen kurze Skizzen seiner Liebschaften, seiner Krankheiten, bestimmter Gewohnheiten und einer Anekdote, der zufolge Carriego mit zweifelhaften – aber nichtsdestotrotz wirksamen – Mitteln in einen nachbarschaftlichen Ehestreit eingreift. Borges’ Darstellung von Carriego ist keinesfalls nur positiv, beschreibt er doch anschaulich dessen Gefallsucht (OC 1, S. 118) und stellt im dritten Kapitel dessen Werk Misas herejes durchaus kritisch dar (ebd., S. 121). Darüber hinaus ist die Wahl des Protagonisten bemerkenswert. Carriegos literarisches Werk war im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Autoren relativ unbedeutend. So räumt Borges ein, seine Mutter

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habe ihm dazu geraten, anstatt dessen eine Biographie über Ascasubi, Almafuerte oder Lugones zu verfassen. Die Gründe dafür, dass seine Wahl dennoch auf Carriego fiel, beschreibt er rückblickend: […] decidí escribir sobre un poeta popular pero definitivamente menor: Evaristo Carriego. Mi madre y mi padre señalaron que su poesía era mala pero yo argumenté que había sido vecino y amigo nuestro.[…] Carriego fue un hombre que descubrió las posibilidades literarias de los desacreditados y humildes 7 suburbios de la ciudad, del Palermo de mi infancia.

Borges beschreitet damit ähnliche Wege wie zuvor Groussac, der ebenfalls eher randständige Personen der argentinischen Geschichte als Protagonisten seiner Biographien auswählte und die soziale Umgebung der biographierten Personen oftmals detaillierter beschrieb als deren individuelle Lebensdaten8 – »mejor buscar su eternidad, sus repeticiones« (OC 1, S. 115). Auch Borges sieht also seine Aufgabe als Biograph weniger darin, einen möglichst umfassenden Bericht über Carriegos Leben abzulegen, als vielmehr verschiedene Facetten seiner Biographie darzustellen und es damit dem Leser zu überlassen, sich ein Bild von der porträtierten Person zu machen. Er stellt damit das Vorhaben der Geschichtswissenschaft infrage, eine möglichst lückenlose Rekonstruktion der Vergangenheit in Form einer Biographie zu erstellen. So seien sowohl das Gedächtnis, auf welches man bei dieser Arbeit zurückgreifen müsse, als auch die chronologische Darstellungsform ungeeignet, um aussagekräftige Tatsachen zu vermitteln. Darüber hinaus sei auch die Sprache als Medium ungeeignet, da sie die erlebte Wirklichkeit in eine ihr unangemessene Linearität zwinge. Sein Ausweg besteht in einer perspektivisch aufgebrochenen Darstellung der Lebensgeschichte Carriegos. Anstelle einer kohärenten Erzählung stehen anekdotische Facetten seines Lebens.

7 8

Zitiert nach Vaccaro: Georgie (1899–1930), S. 353. Vgl. Stortini: »Teoría, método y práctica historiográfica en Paul Groussac«, S. 26–29.

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6.2 H ISTORIA UNIVERSAL DE LA INFAMIA : U NMORALISCHE B IOGRAPHIEN UND DAS E NDE DER U NIVERSALGESCHICHTE Die Geschichten, die später unter dem Titel Historia universal de la infamia (1935) zusammengefasst wurden, erschienen zunächst einzeln zwischen 1933 und 1934 in der Zeitung Crítica. Sarlo beschreibt dieses Zusammenspiel aus dem von Crítica initierten, sensationsorientierten Massenjournalismus und der bis dato in Argentinien unbekannten literarischen Form der Borges’schen Geschichten (»Nada igual había sido escrito nunca en la Argentina«) als avantgardistisch: Historia universal de la infamia tiene, en este sentido, el mismo rasgo inaugural que tuvo Crítica para el periodismo moderno. En ambos, en Borges y en 9 Crítica, hay mucho de vanguardista […].

Das Werk lässt sich in verschiedene Teile gliedern. An erster Stelle stehen die namengebenden Biographien der Niedertracht; kurze Szenen aus dem Leben von sieben Figuren, die sich gewissen Ruhm durch ihren ruchlosen Charakter erworben haben. Die biographischen Eckdaten der historisch verbürgten Protagonisten schmückt Borges großzügig aus. Die Lebensgeschichte der illustren Figuren, wie z.B. des skrupellosen Sklavenbefreiers Lazarus Morell, der Seeräuberwitwe Tsching oder des Erbschaftsschwindlers Tom Castro sind dabei jeweils in Unterkapitel unterteilt, welche die ohnehin kurzen Ausschnitte aus den Lebensgeschichten nochmals brechen. Den Mittelteil bildet Borges’ erster eigener Erzähltext, »Hombre de la esquina rosada«,10 gefolgt von sechs11 kurzen Ausschnitten aus 9 10

Sarlo: Borges. Un escritor en las orillas, S. 117. Die Erzählung gilt gemeinhin als erste Erzählung Borges’. Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von »Hombre de la esquina rosada« ist komplex: So erschien bereits im Februar 1927 unter dem Titel »Leyenda policial« eine Kurzgeschichte in der Zeitschrift Martín Fierro, die 1928 unter dem Titel »Hombres pelearon« in den Essayband El idioma de los argentinos aufgenommen wurde. 1933 erschien dann in Crítica unter dem Pseudonym »F. Bustos« »Hombre de la esquina rosada«, die später in Historia universal de la infamia aufgenommen wurde. Die 1970 in dem Erzählband El informe de Brodie erschienene Kurzgeschichte »Historia de Rosendo Juárez« bildet den Endpunkt dieser Reihe. Darin erzählt eine der Hauptfiguren Rosendo Juárez ihre Version der Ereignisse, die in »Hombre de la esquina rosada« aus der Perspektive des Mörders des Corralero geschildert werden. Vgl. diesbezüglich: Weldt, Helene

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literarischen Werken unter dem Titel »Etcetera«, die Borges lediglich übersetzt bzw. leicht abändert. Den letzten Abschnitt des Werkes bildet ein Verzeichnis, in dem Borges die Quellen für die sieben Kurzbiographien darlegt. Dies sind überwiegend historische Nachschlagewerke wie z.B.: The history of piracy, Tales of Old Japan, Life on the Mississippi, A History of Persia, The Gangs of New York etc. Borges macht verschiedene Einflüsse für dieses Werk geltend. So sei dessen Entstehung der Lektüre von Stevenson und Chesterton und den Filmen von Sternbergs zuzuschreiben. Er bezeichnet Historia universal de la infamia als Übungsstücke in erzählender Prosa12 und als das unverantwortliche Spiel eines Zaghaften, der sich nicht traute, Erzählungen zu schreiben und sich deshalb daran versuchte, die Geschichten anderer abzuwandeln.13 In seinem autobiographischen Essay bezeichnet er die darin enthaltenen Texte zum einen als Pseudo-Essays und zum anderen als Übungen, die seinem Werdegang als Erzähler den Weg ebneten. Er macht hier auf ein weiteres Vorbild aufmerksam, Marcel Schwobs Vies imaginaires: In meiner »Universalgeschichte« wollte ich vermeiden, was Marcel Schwob in seinen Vies imaginaires getan hatte. Er hatte sich Biographien lebender Menschen, über die wenig oder nichts bekannt ist, ausgedacht. Ich indes las über die Leben bekannter Personen, die ich dann je nach Laune absichtlich variierte und entstellte. Zum Beispiel schieb ich nach der Lektüre von Herbert Asburys The Gangs of New York meine freie Fassung von Monk Eastman, dem jüdischen Revolverhelden, in wildem Widerspruch zu der von mir konsultierten Quelle. Dasselbe tat ich mit Billy the Kid, mit John Murrel (den ich in Lazarus Morell umtaufte), mit dem verschleierten Propheten von Khwaresm, mit dem angeblichen Tichborne-Erben und vielen anderen. […] Da mir die allgemeine Handlung oder die Umstände vorgegeben waren, brauchte ich sie nur noch 14 lebendig, abwechslungsreich auszuschmücken.

11 12 13 14

Carol: »Borges: diálogo entre tres textos; ›Hombres pelearon‹, ›Hombres de la esquina rosada‹ e ›Historia de Rosendo Juárez‹«, in: Texto crítico Año 8, 26/27 (1983), S. 214–227. Drei davon wurden erst in der Ausgabe von 1954 hinzugefügt. Vgl. das Vorwort zu der Ausgabe von 1935, OC 1, S. 289. Vgl. das Vorwort zu der Ausgabe von 1954, OC 1, S. 291. Das Zitat aus dem autobiographischen Essay stammt aus der deutschen Übersetzung des im Original in Englisch erschienenen Essays, der erst darauf folgend ins Spanische übersetzt wurde: Borges, Jorge Luis/Fries, Fritz Rudolf/Paz, Octavio u.a.: Borges lesen, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 48.

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Jedoch sollten diese Verweise auf zunächst rein literarische bzw. filmische Quellen nicht davon ablenken, dass sich Borges hierin explizit mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt. So nennt er selbst im Vorwort als weitere Inspiration seine vorangegangene »Biographie« Carriegos. Borges macht im Vorwort zur ersten Ausgabe von Historia universal de la infamia auf einige Verfahren aufmerksam, die er darin im Überfluss anwende und die sich als Verweise auf den historiographischen Diskurs deuten lassen: Abusan de algunos procedimientos: las enumeraciones dispares, la brusca solución de continuidad, la reducción de la vida entera de un hombre a dos o tres escenas. (OC 1, S. 289).

Wie eingangs bemerkt, hat bereits Ana María Barrenechea in einer der ersten Monographien über Borges’ Werk die darin enthaltenen disparaten Aufzählungen als Verweis auf den historischen Diskurs gedeutet, mit denen sich Borges über die ebenfalls disparaten Versuche der Historiker lustig mache, Ordnung in das chaotische Universum zu bringen.15 Mit einer solchen Aufzählung wird der Protagonist der Kurzgeschichte »El atroz redentor Lazarus Morell« eingeführt.16 Es werden die angeblichen Konsequenzen aufgezählt, die Bartolomé de la Casas Vorschlag gehabt habe, anstelle der indigenen Bevölkerung schwarze Sklaven die Arbeit in den Goldminen auf den Antillen verrichten zu lassen: A esa curiosa variación de un filántropo debemos infinitos hechos: los blues de Handy, el éxito logrado en París por el pintor doctor oriental don Pedro Figari, la buena prosa cimarrona del también oriental don Vicente Rossi, el tamaño mitológico de Abraham Lincoln, los quinientos mil muertos de la Guerra de Secesión, los tres mil trescientos millones gastados en pensiones militares, la estatua del imaginario Falucho, la admisión del verbo linchar en la decimotercera edición del Diccionario de la Academia, el impetuoso film Aleluya, la fornida carga a la bayoneta llevada por Soler al frente de sus Pardos y Morenos 15 16

Barrenechea: La expresión de la irrealidad en la obra de Borges, S. 104. Eine noch umfangreichere Aufzählung findet sich in »El proveedor de iniquidades Monk Eastman«, OC 1, S. 311–312. Die sicherlich bekannteste und eindrucksvollste dieser Aufzählungen findet sich jedoch wohl in der Kurzgeschichte »El Aleph«. Zu einer näheren Analyse der verschiedenen Aufzählungen in Borges’ Werk und interessanten Beobachtungen bzgl. des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit vgl.: Mourey, Jean-Pierre: Borges. Vérité et univers fictionnels, Brüssel: Pierre Mardaga 1988, S. 93ff.

110 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE en el Cerrito, la gracia de la señorita de Tal, el moreno que asesinó Martín Fierro, la deplorable rumba El Manisero, el napoleonismo arrestado y encalabozado de Toussaint Louverture, la cruz y la serpiente en Haití, la sangre de las cabras degolladas por el machete del papaloi, la habanera madre del tango, el candombe. Además: la culpable y magnífica existencia del atroz redentor La17 zarus Morell (OC 1, S. 295).

Mit der Bemerkung, den Geschichten liege eine »brusca solución de continuidad« zugrunde, könnte Borges auf das in der Geschichtsforschung diskutierte Problem der Kontinuität anspielen. Damit wird die Fragestellung bezeichnet, wo HistorikerInnen den Anfangs- bzw. Endpunkt einer kausalen Kette festlegen. Dies ist überaus relevant in der Geschichtsforschung, da Ursache-Wirkung-Beziehungen keineswegs evident sind und grundlegende Ursachen einer Entwicklung oft mehrere Jahrhunderte zurück liegen können.18 Die Frage nach der Kontinuität umgeht Borges in diesen Texten, indem er die Leben der Protagonisten auf einige wenige Szenen reduziert. Wie bereits in den »Biografías sintéticas«, in denen Borges Personen aus dem zumeist literarischen Leben vorstellte, und im Falle Evaristo Carriegos reduziert Borges auch hier das Leben der vorgestellten Personen auf wenige Szenen und ergeht sich anstatt dessen in der Ausschmückung bzw. Darstellung von Begleitumständen.19 Zwar wird Virginia Woolfs Roman Orlando von Borges nicht explizit als Vorbild genannt, jedoch hatte dieser sicherlich ebenfalls Einfluss auf seine biographische Darstellungsform in Historia universal de la infamia. In dem 1928 erschienenen Werk, das durch den Untertitel »A biography« klar seine (vorgegebene) Zugehörigkeit zum historiographischen Genre markiert und dessen androgyner Protagonist mehrere Jahrhunderte durchwandelt, spielt Woolf – beeinflusst von der Philosophie Henri Bergsons – mit der Auffassung der Zeit und parodiert die klassische Auffassung der historischen Biographie des 19. 17

18 19

Molloy hebt die karnevalesken Züge dieser ungewöhnlichen Einführung des Protagonisten hervor: »La enumeración dispar que precede e incluye a Morell contagia al atroz redentor, eje aparente del relato. El abigarramiento del primer párrafo, en lugar de ubicarlo, lo desubica. Extrañado, surge como lo que es, un personaje carnavalesco«, Molloy: Las letras de Borges y otros ensayos, S. 36. Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 277–284. Siehe in diesem Kontext auch den Beitrag von Lafon, welcher den Zusammenhang der »biografías sintéticas« und Historia universal de la infamia näher beleuchtet: Lafon: »Histoires infâmes, biographies synthétiques, fictions: vies de Jorge Luis Borges«.

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Jahrhunderts. Wie für die traditionelle Form der Biographie üblich, beinhaltet der Roman beispielsweise Photographien, die das ca. 350 Jahre währende Leben des/der Protagonisten/in dokumentieren, sowie einen ausführlichen Index. Borges übersetzte in den 30er Jahren verschiedene Werke Woolfs ins Spanische, darunter auch eine Seite aus dem ersten Kapitel von Orlando, welche er für El Hogar übersetzte und 1936 veröffentlichte. Im selben Jahr präsentierte er Virginia Woolf in einer »Biografía sintética« der Leserschaft von El Hogar: En Orlando (1928) también hay la preocupación del tiempo. El héroe de esa novela originalísima – sin duda la más intensa de Virginia Woolf y una de las más singulares y desesperantes de nuestra época – vive trescientos años […] (OC 4, S. 216). 20

Die Dichotomie von Wissenschaft und Kunst und die rigide Binnendifferenzierung der Wissenschaft in unterschiedliche Fachdisziplinen entstanden erst im 19. Jahrhundert, bis dahin stand die Biographie noch in engem Zusammenhang mit Literatur, Philosophie, Psychologie etc.21 Olaf Hähner weist darauf hin, dass die historische Biographie und der historische Roman in einem Ähnlichkeitsverhältnis stehen:

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21

Als mögliche Inspirationsquelle kommen auch die Werke Lytton Stracheys in Betracht, der sich in dem 1918 erschienenen Eminent Victorians aber auch in Werken wie Queen Victoria und Elizabeth and Essex nicht der im viktorianischen Zeitalter üblichen heroisierenden Darstellung seiner Protagonisten verschrieb, sondern in den in Eminent Victorians enthaltenen Kurzbiographien z.B. Florence Nightingales und Henry Edward Mannings auf eine chronologische Darstellung verzichtet zugunsten einer subjektiven, kritischen und bisweilen ironischen Porträtierung der Charaktere. Das Ausmaß seiner Voreingenommenheit gegenüber seinem Forschungsobjekt zeigt sich darin, dass er die Vertreter des viktorianischen Zeitalters in Briefen an Virginia Woolf als eine Gesellschaft großsprecherischer, stümperhafter Heuchler bezeichnet und zweimal betont, dass er sie hasse, Engel-Janosi, Friedrich: »Von der Biographie im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Klingenstein, Grete/Lutz, Heinrich/Stourzh, Gerald (Hrsg.): Biographie und Geschichtswissenschaft. Aufsätze zu Theorie und Praxis biographischer Arbeit, München: Oldenbourg 1979 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit), S. 208–241, hier: S. 236. Borges veröffentlicht 1939 eine »Biografía sintética« Stracheys in El Hogar, indem er seine Bewunderung für das Werk Elizabeth and Essex bekundet, OC 4, S. 417. Hähner: Historische Biographik, S. 59.

112 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE Die historische Biographie ist zwar kein historischer Roman, aber kaum eine andere wissenschaftliche Darstellungsform steht in so enger Nachbarschaft zur 22 Literatur und ihren welterschließenden Kapazitäten.

Dies bestätigt auch Raulff: »Kein anderes Genre der Historiographie steht der Literatur, genauer dem Roman, so nahe wie die Biographie«.23 Hähner hebt ferner hervor, dass um 1800 die Gattung der Sammelbiographien eine bedeutende Rolle spielte, während die große Individualbiographie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund trat. Wegweisend in dieser Subgattung der Biographie waren dabei englische und französische Vorbilder. In England erschien 1747 die Biographia Britannica, welche Gegenstand eines Artikels mit dem Titel »Biography« in der von Borges geschätzten Encyclopeadia Britannica (1910/11) war. Es kann also vermutet werden, dass Borges diese im 18. Jahrhundert beliebte Form der Biographie bekannt war. Herder bemerkt über das französische Pendant Dictionnaire historique et critique (1669–97): Da sein Wörterbuch eine Welt von Lebensbeschreibungen berühmter Personen, in diesen unerwartete Schätze nützlicher Wahrheiten, Data sonderbarer Schicksale, mitunter auch Poßierlichkeiten und die Lockspeise gewißer Stände und Lebensalter, Zoten, in sich enthielt, konnte es ihm an Lesern fehlen? 24

Wie aus dem Zitat hervorgeht, stand hierbei weniger die noch im Humanismus vorherrschende Funktion der moralischen Belehrung im Vordergrund als vielmehr der Unterhaltungswert. Aus den Sammelbiographien ging sowohl eine syntagmatische als auch eine paradigmatische25 Form hervor. Die syntagmatische Variante kulminierte in der Idee, die Weltgeschichte von den ersten Menschen an bis zum Entstehungszeitpunkt (frühes 19. Jahrhundert) an22 23

24 25

Ebd., S. 259–260. Raulff, Ulrich: »Das Leben – buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft«, in: Klein, Christian (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2002, S. 55–68, hier: S. 59. Zitiert nach Hähner: Historische Biographik, S. 76. Hähner unterscheidet zwei Erkenntnisperspektiven historischer Biographik: das syntagmatische und das paradigmatische Verhältnis. Bei Ersterem wird das »Individuum als wirkend auf die Geschichte gedacht«, es wird als Kausalursache der historischen Ereignisse angesehen. Wird das Individuum dagegen als Gegenstand der Einwirkung des Geschichtlichen gedacht, als Spiegel der Zeitumstände, so liege ein paradigmatisches Verhältnis vor, vgl. ebd., S. 31.

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hand von Einzelbiographien nachzuzeichnen.26 Die von Herder angestoßene paradigmatische Variante, mit der sich anhand einer Rekonstruktion der Lebenswelt einer Epoche durch verschiedene einzelne Lebensläufe anstreben lässt, werde, so Hähner, insbesondere in heutiger Zeit vielseitig angewandt.27 Im 19. Jahrhundert kam es in Folge der zunehmenden Verengung des geschichtswissenschaftliches Interesses auf die Nationalgeschichte im Sinne von Politikgeschichte zu einem Übergewicht der syntagmatischen Variante und insbesondere der Sonderform der politischen Biographie. Der syntagmatischen Auffassung des Individuums als Kausalursache des historischen Prozesses entspricht auch die von Heinrich von Treitschke vorgetragene These, die großen Männer machten die Geschichte, und das Diktum Carlyles, die Weltgeschichte bestehe lediglich aus den Biographien großer Männer. 1949 erschien eine von Borges mit einem Vorwort versehene Übersetzung von dessen Schrift Über Helden, zusammen mit Ralph Waldo Emersons Repräsentative Männer.28 In dem Vorwort zitiert Borges Carlyle wie folgt: »La historia universal, el relato de lo que ha hecho el hombre en el mundo, es en el fondo la historia de los grandes hombres que aquí trabajaron. Ellos fueron los jefes de los hombres; los forjadores, los moldes y, en un amplio sentido, los creadores de cuanto ha ejecutado o logrado la humanidad«. Un párrafo ulterior abrevia: »La historia del mundo es la biografía de los grandes hombres«. Para los deterministas, el héroe es, ante todo, una consecuencia; para Carlyle, es una causa (OC 4, S. 37–38).

Borges trifft somit eben jene Unterscheidung der Rolle des Individuums als zum einen Gegenstand der Einwirkung des historischen Prozesses und auf der anderen Seite als Kausalursache historischer Entwicklung, eben jene unterschiedliche Erkenntnisperspektiven, die Hähner als syntagmatisch und paradigmatisch beschreibt. So kamen bereits Ende des 19. Jahrhunderts Zweifel an den Grundlagen der Geschichtsforschung und der Geschichtsschreibung auf; man war der Meinung, dass sich der Gegenstand der Geschichte in Richtung von Gesellschaft und Kultur erweitern müsse, und dass die im Historismus im Vordergrund stehenden strengen methodischen Kriterien nicht nur auf die Erforschung von Tatsachen beschränkt 26 27 28

Vgl. ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 247. Bereits 1945 hatte Borges das Vorwort zu der argentinischen Publikation von Carlyles Sartor Resartus geschrieben.

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bleiben dürften, sondern sich auch auf die Erkenntnis bzw. die Erklärung der historischen Zusammenhänge ausweiten müssten. Die sich auf »Staatsmänner, Diplomaten und Heerführer konzentrierende Geschichte«29 sollte abgelöst und Geschichte mit einer Konzeption der Sozialwissenschaften verbunden werden.30 Im Verlauf des 20. Jahrhundert gewann eine kollektivistische Geschichtsauffassung im Rahmen der florierenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte und insbesondere als Resultat marxistischer Gesellschaftstheorien an Bedeutung. Bahnbrechende Wirkung hatte hierfür Les Paysans du Nord pendant la Révolution française von George Lefebvre.31 Im Aufwind postmoderner Geschichtstheorie setzte sich ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend das Konzept der Alltagsgeschichte durch und es fanden explizite Randfiguren der Gesellschaft Eingang in die Geschichtsschreibung. Als Beispiel sei hier Alain Corbin genannt, der in Le monde retrouvé de Louis-François Pinagot, 1798–1876 die Lebensgeschichte eines unbekannten Menschen aus dem 19. Jahrhundert verfasste, dessen Namen er nach dem Zufallsprinzip aus Verwaltungsakten gezogen hatte. Auch Michel Foucaults Das Leben der infamen Menschen rückt Menschen in den Vordergrund, die von der traditionellen Geschichtsschreibung und Biographik ausgeschlossen blieben.32 In seiner Diskussion der Wissenschaftlichkeit der Biographie diskutiert Jacques Rancière eben diese beiden Werke und versteht sie 29

30

31 32

Iggers, Georg G.: Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft. Ein internationaler Vergleich, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978, S. 38. Iggers, Georg G.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1993, S. 26. Lefebvre, Georges: Les Paysans du Nord pendant la Révolution française (1924), Paris: Colin 1972. Das Leben der infamen Menschen ist eine »Anthologie von Existenzen«, auf die Foucault durch das Lesen eines Internierungsregisters aus dem frühen 18. Jahrhundert stieß. Er betont ausdrücklich, dass es sich dabei nicht um ein historisches Werk handele. Er habe lediglich die Leben einiger real existierender Menschen, deren »Existenzen gleichzeitig obskur und unglücklich gewesen« seien, auf wenigen Seiten zusammengefasst. Dabei habe er erreichen wollen, dass »diese Berichte nicht einfach seltsame und pathetische Anekdoten bilden, sondern daß sie auf die eine oder andere Weise (als Anklagen, Denunziationen, Befehle oder Berichterstattungen) wirklich ein Teil der winzigen Geschichte jener Existenzen, ihres Unglücks, ihrer Wut oder ihres ungewissen Wahnsinns gewesen sind«, Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, Berlin: Merve 2001, S. 7, 12.

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als zwei unterschiedliche Möglichkeiten, den »Knoten« zwischen Subjektivem und Objektivem in der Beschreibung eines Lebens zu bearbeiten.33 Als weitere Konsequenz des »Kontingenzschocks«34 der Postmoderne lässt sich eine nunmehr thematisch strukturierte Form der Biographie nennen, welche die bis dato gängige chronologische Form ablöst und somit der »Phantasmagorie des linearen Lebensverlaufs entgegenwirkt«35 und einen offeneren Zugang sowie verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulässt.36 Wie oben gezeigt, gab Borges bereits in dem Essay »Sobre el Vathek de William Beckford« die bei der Konzeption einer Biographie wirksame willkürliche Selektion und Kombination von Daten der Lächerlichkeit preis. Jedoch auch schon in den früheren Werken Evaristo Carriego und Historia universal de la infamia verweigert er sich einer chronologischen Anordnung der biographischen Daten, sondern wählt eine thematische. So entspringt nicht nur die Gesamtkonzeption des letzteren Werkes einer thematischen Auswahl unter der Perspektive der Niedertracht, auch die einzelnen Biographien sind – zwar grob dem chronologischen Ablauf folgend – in sich in verschiedene thematisch angeordnete und mit einer jeweiligen Überschrift versehene Unterkapitel gegliedert. So finden sich in »El atroz redentor Lazarus Morell« folgende Unterkapitel: »La causa remota«, »El lugar«, »Los hombres«, »El hombre«, »El método«, »La libertad final«, »La catástrofe«, sowie »La interrupción«. Er bietet hier also – ähnlich wie dies später in der postmodernen Geschichtstheorie konstatiert werden sollte – kein zusammenhängendes und sich fügendes Ganzes, sondern lediglich Fragmente, die der Leser individuell zu einem Bild zusammen fügen muss. Folglich vergleicht Borges in »El asesino desinteresado Bill Harrigan« die Geschichte (hier durch die Majuskel H eindeutig als auf die Historie bezogen kenntlich gemacht) auch mit den unzusammenhängenden Bildern des 33 34

35 36

Vgl. Rancière, Jacques: Politik der Literatur (hrsg. von Engelmann, Peter), Wien: Passagen Verlag 2007, S. 216–219. Klein, Christian: »Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme«, in: Klein, Christian (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2002, S. 1–22, hier: S. 13. Ebd. Klein führt als Beispiel eine 1999 erschienene Monographie über Kleist an, die in 96 Kapitel unterteilt ist, welche nach alphabetischen Gesichtspunkten geordnet ist und jeweils einem relevanten Begriff seines Schaffenswerkes zugeordnet werden.

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filmischen Genres. Einer Zoom-Einstellung gleich wird ein neuer Schauplatz vorgestellt, Zeit- und präzise Ortsangabe werden in Stichworten nachgeliefert. Dies erinnert tatsächlich an die in Filmen oftmals angewandten Einblendungen des Ortes oder des Zeitpunktes des Geschehens: La Historia (que, a semejanza de cierto director cinematográfico, procede por imágenes discontinuas) propone ahora la de una arriesgada taberna, que está en el todopoderoso desierto igual que en alta mar. El tiempo, una destemplada noche del año 1873; el preciso lugar, el Llano Estacado (New Mexico) (OC 1, S. 317).

Eben dieses Verfahren steht im Widerspruch zu dem parodierten ethnozentristischen Anspruch des Titels Historia universal, mit dem Borges auf die Titel typischer zeitgenössischer Geschichtswerke Bezug nimmt. So weist etwa Bell-Villada darauf hin, dass die Bezeichnung Historia universal Titelbestandteil zahlreicher spanischer Geschichtsbücher gewesen sei.37 Balderston dagegen vermutet eine Anspielung auf Kants und Hegels Vorstellungen von Universalgeschichte.38 Hier lässt sich ebenfalls der Einfluss Croces vermuten, der – wie oben gezeigt – deutlich zugunsten einer Zergliederung der Geschichte in Partikulargeschichten plädierte und die Vorstellung einer Universalgeschichte unmissverständlich in Abrede stellte. Eben eine solche Idee einer Universalgeschichte parodiert Borges in der Kurzbiographie des Ganoven Monk Eastmans. Darin kontrastiert er die Beschaffenheit des Ganoventums in Südamerika mit der Nordamerikas. Die Universalgeschichte der compadritos Südamerikas komprimiert er in dem Unterkapitel »Los de esta América« ironisch in zwei Sätzen: Perfilados bien por un fondo de paredes celestes o de cielo alto, dos compadritos envainados en seria ropa negra bailan sobre zapatos de mujer un baile gravísimo, que es el de los cuchillos parejos, hasta que de una oreja salta un clavel porque el cuchillo ha entrado en un hombre, que cierra con su muerte horizontal el baile sin música. Resignado, el otro se acomoda el chambergo y consagra su vejez a la narración de ese duelo tan limpio. Ésa es la historia detallada y total de nuestro malevaje (OC 1, S. 311, eigene Hervorhebung).

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38

Vgl. Bell-Villada, Gene H.: Borges and his fiction: a guide to his mind and art, Austin: University of Texas Press 21999 (Texas Pan American series), S. 55. Vgl. Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 9.

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Ebenso wie der Essay »Sobre el Vathek de William Beckford« lässt sich Historia universal de la infamia darüber hinaus auch als Reaktion auf den seit den 20er Jahren in Argentinien geführten revisionistischen Diskurs, welcher der Aufwertung des Andenkens der Person Rosas’ diente, lesen. Auch schon die für die argentinische Geschichtsschreibung grundlegenden Arbeiten Mitres über Belgrano und San Martín wurden von Mitres Zeitgenossen dahingehend kritisiert, dass sie lediglich dazu dienen, den jeweiligen Protagonisten zum kollektiven Helden zu erheben. Pastoriza charakterisiert diese hagiographische Tradition der Geschichtsschreibung in Argentinien wie folgt: Las biografías de Rosas, cultivadas por la corriente revisionista, hagiográficas, verdaderos panegíricos, tuvieron como telón de fondo – a la manera de la historiografía liberal –, la evocación de acciones y cualidades de los héroes asentadas en la convicción de que el papel del historiador es pronunciar su juicio final. Congenian, de tal forma, con la función judicativa asignada al historiador por la tradición clásica y neoclásica. Lo que Marc Bloch definiera desde la cárcel, »la manía de enjuiciar, el enemigo satánico de la verdadera historia«.39

Manzoni weist darüber hinaus auf eine mögliche Verbindung zwischen Borges’ Werk und den sogenannten infamen Biographien Sarmientos hin, stellt dabei jedoch heraus, dass diese sich sowohl bezüglich der Intention als auch des Umfangs unterscheiden: Por mi parte, las vinculo además con una tradición de la literatura argentina que se remonta a Sarmiento, quien inaugura la serie de lo que denomina »biografías inmorales« con el Facundo que se constituye en monumento literario tanto por la contundencia de su escritura como por su volumen y el consenso logrado para su canonización como texto fundacional. El monumento que son las »biografías inmorales« de Sarmiento (la de Facundo, la de Aldao y la del Chacho), se contrapone a las »biografías infames« de Borges, no solo por la divergente intencionalidad, sino también por la extensión.40

Borges’ Historia universal de la infamia ließe sich so als Reaktion auf diese moralisierende und verherrlichende Form der Biographie verstehen. An die Stelle der hagiographischen Darstellung eines »großen

39

40

Pastoriza, Elisa: »La biografía: nuevos enfoques para una vieja forma de hacer historia«, in: Celehis: Revista del Centro de Letras Hispanoamericanas 9 (1997), S. 45–62, hier: S. 47. Manzoni, Celina: »Biografías mínimas/ínfimas y el equívoco del mal«, in: Kaufman, Alejandro/Rowe, William/Canaparo, Claudio u.a. (Hrsg.): Jorge Luis Borges. Intervenciones sobre pensamiento y literatura, Buenos Aires: Paidós 2000, S. 119–127, hier: S. 124.

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Mannes der Geschichte« rückt bei Borges eine Sammelbiographie niederträchtiger Personen. Darüber hinaus greift er die »Tradition« unmoralischer Biographien im Stile Sarmientos auf und setzt der Infamie ein ironisches literarisches Denkmal.

6.3 »B IOGRAFÍA DE T ADEO I SIDORO C RUZ « UND »E L F IN «: A RBEIT AM M YTHOS Rekurrieren die beiden Frühwerke Historia universal de la infamia und Evaristo Carriego auf die methodischen Kontroversen der argentinischen Historiker des frühen 20. Jahrhunderts, so nimmt Borges in seiner Arbeit am Mythos Martín Fierro auf den Revisionismus Bezug41. Borges hat wiederholt die Kanonisierung des Martín Fierro kritisiert. Seine Kritik bezog sich dabei wohlgemerkt nicht so sehr auf das Werk selbst sondern auf die im Anschluss an Leopoldo Lugones’ El Payador (1916) erfolgte Inszenierung desselben als argentinisches National-Epos. Das ursprünglich von Hernández als Kritik am Kriegsministerium verfasste Werk eigne sich nicht als identitätsstiftendes Epos, so Borges. Er verfasste zahlreiche Vorworte zu verschiedenen Ausgaben des Martín Fierro42 und veröffentlichte 1953 zusammen mit Margarita Guerrero die Textsammlung Martín Fierro.43 Noch 1974 notiert er: El Martín Fierro es un libro muy bien escrito y muy mal leído. Hernández lo escribió para mostrar que el Ministerio de la Guerra […] hacía del gaucho un desertor y un traidor; Lugones exaltó ese desventurado a paladín y lo propuso como arquetipo. Ahora padecemos las consecuencias (OC 4, S. 93).

Mit Geschichten wie »El fin« und »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz (1829–1874)« revisioniert Borges die argentinische Literaturgeschichtsschreibung und verweist auf den Zusammenhang von literarischer Kanonisierung und nationaler Identität, auf welchen seit dem cultural turn in den Geisteswissenschaften verstärkt hingewiesen wur41 42 43

Vgl. hierzu: Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Vgl. OC 4, S. 84–93. Erschienen in: Borges, Jorge Luis: Obras completas en colaboración, Buenos Aires: Emecé 1997. Im Folgenden: OCC.

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de: »Der Kanon ist ein Prägewerk der Identität, ob man dies will oder nicht, ob man dies anerkennt oder nicht«.44 Borges schlägt mit diesen Erzählungen einen Weg ein, wie er im Anschluss an Benedict Anderson45 diskutiert wurde und macht auf den Erfindungscharakter nationaler Identität aufmerksam.46 »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« verweist erneut bereits im Titel auf das vielzitierte Genre der Biographie im Werk von Jorge Luis Borges. Mit einer Biographie hat aber auch diese Erzählung wenig gemeinsam. Der erste Absatz schildert die Zeugung und die Geburt des Biographierten, der zweite Absatz beginnt mit den Worten: »Mi propósito no es repetir su historia. De los días y noches que la componen, sólo me interesa una noche; del resto no referiré sino lo indispensable para que esa noche se entienda« (OC 1, S. 561). Es folgt der Verweis auf den identitätsstiftenden Charakter des Martín Fierro, welcher hier aus erzählstrategischen Gründen noch nicht genannt wird, sondern nur durch einen indirekten Vergleich mit der Bibel als Gründungsepos tituliert wird: »un libro insigne; es decir, […] un libro cuya materia puede ser todo para todos (1 Corintios 9,22), pues es capaz de casi inagotables repeticiones, versiones, perversiones« (ebd.). Es folgen einige Episoden aus dem Leben des Tadeo Isidoro Cruz: er verbrachte sein Leben in einer Welt der Barbarei als Gaucho, war niemals in der Stadt, tötete einen Kumpanen, der ihn verspottete, wurde später dafür von der Polizei gefasst, gelangte so zum Heer und arbeitete sich später zum Sergeanten der Landpolizei hoch. Zentral für die Biographie dieses Mannes jedoch ist, so der Erzähler, eine einzige Nacht. In dieser erhielt er den Befehl, einen Deserteur festzunehmen. Mit seinen Soldaten kreisen sie den Gesuchten ein und stellen ihn. Im Kampf fühlt Cruz eine eigentümliche Verbundenheit mit dem gesuchten Verbrecher, er verbündet sich mit diesem und kämpft gegen seine eigenen Leute. Erst im letzten Satz der Erzählung wird die Identität des Deser44

45 46

Assmann, Aleida: »Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft«, in: Heydebrand, Renate von (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 47–59, hier: S. 59. Anderson, Benedict R.: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism, London: Verso 1983. Siehe in diesem Zusammenhang auch: Grabes, Herbert/Sichert, Margit: »Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität«, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2005, S. 297–314.

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teurs gelüftet, es handelt sich um keinen geringeren als Martín Fierro. Diese Erzählung ist in zweierlei Hinsicht sehr interessant. Zum einen wird hier die dominierende Perspektive des Epos Martín Fierro ergänzt. Dem ewigen Adlatus Cruz wird eine eigene Biographie zugebilligt. Borges scheint damit die Literaturgeschichtsschreibung und vor allem die Kritik, welche sich intensiv mit dem Werk und der Rolle des Deserteurs Martín Fierro auseinandersetzte, um eine Perspektive ergänzen zu wollen. Darüber hinaus ist die Erzählung interessant im Hinblick auf die Frage, inwiefern sich Identität konstruiert und ob epische Erzählungen wie der Martín Fierro als literarisches Denkmal zur Konstruktion nationaler Identität beitragen können. Hinsichtlich dieser Frage bietet sich jedoch zunächst eine nähere Betrachtung der damit ebenfalls im Zusammenhang stehenden Kurzgeschichte »El fin« an. Auch diese Geschichte spielt mit dem Überraschungseffekt, dass die Identität einer der beteiligten Figuren erst am Ende der Erzählung gelüftet wird. Erst im vorletzten Absatz stellt sich heraus, dass einer der Duellanten Martín Fierro ist. Fokalisierungsinstanz der ersten drei Absätze ist der Wirt einer ländlichen Schänke, Recabarren, welcher stumm und gelähmt von seinem Lager aus die Geschehnisse beobachtet. Bereits seit geraumer Zeit ist ein Mann regelmäßiger Gast der Schänke. Er war einst bei einem Wettsingen mit einem anderen Gast unterlegen. Seither scheint er auf jemanden zu warten. Plötzlich erscheint ein Reiter und betritt die Schänke. Die beiden scheinen sich zu kennen. Nach einer kurzen Unterhaltung duellieren sie sich. Erst kurz vor Beginn des Duells lüftet sich das Geheimnis, um wen es sich bei den Kämpfenden handelt: Der Reiter ist Martín Fierro, welcher von dem Bruder eines vor sieben Jahren von ihm Getöteten erwartet wurde. Der andere fordert Martín Fierro auf, beim Kampf kein Mitleid zu zeigen, ebenso wenig wie damals, als er seinen Bruder getötet habe. Von Recabarren beobachtet rächt der Gast seinen Bruder, er tötet Martín Fierro. Die Szene im Martín Fierro, auf welche hier angespielt wird, gehört zu einer der bekanntesten des ersten Teils des Textes. Sie findet noch vor dem Zusammentreffen mit Cruz statt. Borges beschreibt diese in dem Text »El gaucho Martín Fierro« wie folgt: En una pulpería, injuria a una mujer, obliga a su compañero, un negro, a pelear y brutalmente lo asesina en un duelo a cuchillo. […] Esta escena […] es tal vez la más conocida del poema, y merece su fama. Desgraciadamente para los

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argentinos, es leída con indulgencia o con admiración, y no con horror (OCC, S. 536).

In La vuelta de Martín Fierro, dem sieben Jahre später (1879) erschienen zweiten Teil des Epos treffen tatsächlich der Bruder des Getöteten und Martín Fierro aufeinander. Sie treten hier jedoch nur gesanglich gegeneinander an. Martín Fierro geht als Sieger aus dem Sangeswettstreit hervor, ironisch gelingt es ihm, den in Liedform vorgetragenen Klagen seines Gegners über den ungerechtfertigten und ungesühnten Mord an seinem Bruder auszuweichen.47 In El Martín Fierro (1953) legt Borges nahe, dass diese Szene gerade zu auf eine Fortsetzung bzw. Revision dränge: »El desafío del moreno incluye otro, cuya gravitación creciente sentimos, y prepara o prefigura otra cosa, que luego no sucede o que sucede más allá del poema« (OCC, S. 553). Im selben Jahr entsteht die Kurzgeschichte »El fin«.48 Borges arbeitet also einen Aspekt heraus, der ihm zufolge bereits im Martín Fierro angelegt ist. So bemerkt er im Vorwort zu der Veröffentlichung der Erzählung 1956 in Artificios: Fuera de un personaje – Recabarren – cuya inmovilidad y pasividad sirven de contraste, nada o casi nada es invención mía […]; todo lo que hay en él está implícito en un libro famoso y yo he sido el primero en desentrañarlo o, por lo menos, en declararlo (OC 1, S. 483).

Borges bezeichnet diese Möglichkeit, dass Martín Fierro von seinem Widersacher getötet wird, also als dem Werk bereits inhärent.49 Nachdem in »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« einer Randfigur des Epos eine Identität gegeben wurde, so stirbt die identitätsstiftende Hauptfigur des Martín Fierro in dieser Erzählung. »El fin« scheint 47

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Im Anschluss reflektiert Martín Fierro jedoch vor seinem Gefolge über die Unsitte des Tötens und mahnt maßvolles Handeln an. Borges bezeichnet diesen plötzlichen Sinneswandel, nachdem Fierro gerade noch den Bruder des Getöteten verspottet hatte, als schmierig (»untuosamente«, OCC, S. 555). Diese wurde zuerst im Oktober 1953 in La Nación veröffentlicht und später Bestandteil von Artificios und dann Ficciones. Ivonne Bordelois macht darauf aufmerksam, dass vor Borges bereits Güiraldes die Szene des »moreno« im zweiten Kapitel von Don Segundo Sombra aufgreift. In diesem Werk findet der Konflikt jedoch ein friedliches Ende. Vgl.: Bordelois, Ivonne: »La vuelta del Moreno: Borges y Güiraldes reescriben el Martín Fierro«, in: Jitrik, Noé (Hrsg.): Las maravillas de lo real. Literatura latinoamericana, Buenos Aires: Facultad de Filosofía y Letras de la Universidad de Buenos Aires 2000, S. 301–311.

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programmatisch für die Forderung Borges’ zu stehen, nationale Identität nicht länger an ein bestimmtes Epos oder eine bestimmte Gattung (die Gaucho-Literatur) zu knüpfen. Borges spricht den Argentiniern generell die Fähigkeit ab, sich mit dem Staat zu identifizieren. Daraus erklärt er auch die Tatsache, dass Cruz sich im Moment des Kampfes plötzlich auf die Seite des Deserteurs schlägt: […] increíblemente para nosotros, se pone de parte del malhechor y pelea contra sus propios gendarmes. Su decisión se debe a que en estas tierras el individuo nunca se sintió identificado con el Estado (OCC, S. 538).

Dies führt er ebenfalls in dem Aufsatz »Nuestro pobre individualismo« aus. Der Argentinier sei in erster Linie Individuum und kein Bürger, so Borges, er sehe die Welt nicht als geordneten Kosmos, in der jeder in der ihm zugedachten Funktion aufgeht, sondern für den Argentinier sei die Welt in erster Linie chaotisch organisiert. Während die Beispiele, die Borges für diese These anführt, zunächst ironisch klingen,50 so hat seine These jedoch durchaus eine politische Dimension: Se dirá que los rasgos que he señalado son meramente negativos o anárquicos; se añadirá que no son capaces de explicación política. Me atrevo a sugerir lo contrario. El más urgente de los problemas de nuestra época […] es la gradual intromisión del Estado en los actos del individuo; en la lucha con ese mal, cuyos nombres son comunismo y nazismo, el individualismo argentino, acaso inútil o perjudicial hasta ahora, encontrará justificación y deberes (OC 2, S. 37).

In diesem Text von 1946 zeigt sich also eine klare Stellungnahme von Borges zu politischem Geschehen, verknüpft mit einer Absage an die von den argentinischen Nationalisten propagierte Konstruktion einer argentinischen Identität anhand literarischer Gründungsepen wie des Martín Fierro. Dieser Individualismus prädestiniere Argentinien darüber hinaus dafür, gegen totalitäre Strukturen unempfänglich zu sein; eine Einschätzung, die Borges später revidieren sollte. 51 In diesem Zusammenhang interessant ist die Tatsache, dass in beiden zuletzt vorgestellten Erzählungen jedoch auch die persönliche

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»El Estado es impersonal: el argentino sólo concibe una relación personal. Por eso, para él, robar dineros públicos no es un crimen. Compruebo un hecho; no lo justifico o excuso«, OC 2, S. 36. Ferrari/Borges: En diálogo I, S. 65.

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Identität nicht stabil ist. Borges entwirft hier einmal mehr die Möglichkeit, dass der Täter zugleich Opfer, der Held zugleich Verräter oder der Verbrecher zugleich Detektiv (wie in »La muerte y la brújula«) sein kann. In »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« erkennt Cruz im Moment des Kampfes, dass er zugleich Martín Fierro ist (»comprendió que el otro era él«, OC 1, S. 563), in »El fin« erfährt auch der Bruder des Getöteten, nachdem er Fierro getötet hat, keine Genugtuung sondern wird zu Martín Fierro: »[…] ahora era nadie. Mejor dicho era el otro« (OC 1, S. 520). Persönliche Identität entzieht sich also der direkten Wahrnehmung, nur in der Spiegelung durch den anderen wird sie erfahrbar. Dadurch werden Grenzen wie etwa die zwischen Verfolger und Verfolgtem oder Dichotomien wie diejenige von Barbarei und Zivilisation aufgehoben.52 Die beiden Erzählungen »El fin« und »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« lassen sich mit den Charakteristika des revisionistischen historischen Romans nach Nünning beschreiben. Dieser kennzeichnet sich dadurch, dass er »überlieferte Sinnstiftungsversuche in Zweifel zieht« und ein Umschreiben der Geschichte dadurch bewirkt, dass Geschichte

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Die Frage nach einem nationalen literarischen Kanon und dem Umgang mit Tradition ist auch ein zentrales Thema in der späteren Erzählung »La memoria de Shakespeare« (1980) aus dem gleichnamigen Erzählband (1983), in welcher dem Erzähler nach einer durchzechten Nacht in einem britischen Pub das Gedächtnis Shakespeares angeboten wird. Das unendliche Gedächtnis Shakespeares führt bei dem Erzähler ebenso wie bei »Funes, el memorioso« nicht zu einem Wissenszuwachs, sondern wird gegenteilig als belastend empfunden. Ja, das Gedächtnis steht sogar einer Sinnbildung durch Erzählung im Wege, mehrfach betont der Erzähler seine Unfähigkeit zu erzählen: »No sé narrar. No sé narrar mi propia historia […]« (OC 3, S. 396). Die Vermischung seines eigenen Gedächtnisses mit dem Shakespeares führt zur Unerzählbarkeit und damit zu einem drohenden Identitätsverlust. Die Erzählung wirft die Frage auf, inwiefern die Vorstellung eines kulturellen Gedächtnisses ebenso phantastisch ist wie der der Erzählung zu Grunde liegende Gedächtnistransfer. Shakespeares Werk wird in der Erzählung als kennzeichnend für die nationale Identität genannt. Wenn hier also ausgerechnet Shakespeares Gedächtnis als Inbegriff eines eurozentristischen Kulturdenkens per Zufall weitervererbt werden kann, so stellt sich die Frage, inwiefern diese identitätsstiftende Erinnerung auch auf kollektiver bzw. nationaler Ebene vererbar ist. Zur Frage der sowohl persönlichen als auch nationalen Identität in verschiedenen Erzählungen von Borges siehe auch: Pérez, Alberto Julián: »Borges y el dilema de la identidad en Hispanoamérica«, in: Pérez, Alberto Julián (Hrsg.): Modernismo Vanguardias Posmodernidad. Ensayos de Literatura Hispanoamericana, Buenos Aires: Ediciones Corregidor 1995, S. 235–254.

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in ihm aus der Perspektive der Unterdrückten und historischen Verlierer präsentiert wird. Dieses Umschreiben von Geschichte manifestiert sich somit auch oft in der Struktur der erzählerischen Vermittlung. Der Überraschungseffekt, welcher in beiden obigen Erzählungen also eintritt, wenn sich die Identität des erzählenden Subjektes offenbart, dient also nicht nur erzähltechnischer Effekthascherei sondern impliziert auch einen Verweis auf die Möglichkeit eines Erzählens »von unten«.53

6.4 »P IERRE M ENARD , AUTOR DEL Q UIJOTE «: U NZUVERLÄSSIGES E RZÄHLEN UND G ESCHICHTE ALS » RE - ENACTMENT « Während die Reflexion über Geschichte in den bisher analysierten Texten weitgehend zwischen den Zeilen erfolgte, enthalten andere von Borges’ Erzählungen einschlägige Überlegungen in expliziterer Form und lassen sich damit dem Genre der historiographischen Metafiktion zuordnen. Die Geschichte »Pierre Menard, autor del Quijote« wird gemeinhin als Anfangspunkt von Borges’ Erzählliteratur angesehen, obwohl Alazraki zu Recht auf die vorher erschienenen Geschichten »Hombre de la esquina rosada« und »El acercamiento a Almotásim« hinweist, diese jedoch als »creaciones aisladas« bezeichnet.54 Es handelt sich hierbei um einen fingierten Nachruf auf den fiktiven französischen Autor Pierre Menard.55 Die Kurzgeschichte enthält sowohl auf 53

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Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 268–275. Jedoch muss auch diese Einordung hinterfragt werden, wenn man bedenkt, dass sich der Bezug auf außertextuelle Realitätsreferenzen in diesen Erzählungen auf ein literarisches Werk beschränkt. Zwar konstatiert Nünning für dieses Subgenre des historischen Romans eine Bandbreite an intertextuellen Referenzen, jedoch beruhen ja diese beiden Erzählungen nicht etwa auf der Umschreibung eines historischen Ereignisses sondern auf der Umschreibung bzw. -verteilung von Rollenzuweisungen eines literarischen Werkes. Die von Borges damit intendierte Hinterfragung von »kulturellen Deutungsmustern«, nämlich der Kanonisierung des Martín Fierro, welche auch vom revisionistischen historischen Roman beabsichtigt wird, lässt sich also nur vor dem Hintergrund einer bereits reflektierten Verbindung von Literatur und Historiographie für die nationale Identitätsstiftung verstehen. Alazraki: La prosa narrativa de Jorge Luis Borges, S. 139. Christian Wehr macht darauf aufmerksam, dass »Pierre Menard, autor del Quijote« nur bedingt als fiktionaler Text gelten kann, parodiert er

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der Ebene der Selektion ihrer Referenzbereiche als auch auf erzähltechnischer Ebene Merkmale historiographischer Metafiktion. Es ist die Geschichte eines französischen Autors, der es sich zur Aufgabe macht, Cervantes’ Don Quijote originalgetreu, aber ohne ihn zu kopieren, neu zu schreiben. Dies klingt nach einem Widerspruch, für den Erzähler der Geschichte ist es das aber keineswegs. Historiographische Metafiktion, so war oben postuliert worden, kennzeichnet sich oftmals durch eine Vernachlässigung der diegetischen Ebene zugunsten der Ausgestaltung der extradiegetischen Erzählebene. In diesem Erzähltypus wendet sich eine explizite Sprecherinstanz oftmals an einen ebenfalls deutlich markierten Adressaten, die Geschichtsebene erscheint dagegen häufig als ereignislos und handlungsarm. Dies zeigt sich überaus deutlich in »Pierre Menard, autor del Quijote«. Sylvia Molloy fasst dies prägnant zusammen: Si el lector busca en este primer »cuento« borgeano los elementos que tradicionalmente componen un relato queda más que defraudado, como habrá quedado defraudado ante la »biografía« de Evaristo Carriego, donde se burlan las reglas 56 del juego. En »Pierre Menard« no pasa nada.

Die Geschichte lässt sich als Aufsatz eines Literaturkritikers oder als Nachruf auf Pierre Menard lesen.57 Der homodiegetische Erzähler berichtet über das vornehmlich literarische Lebenswerk des fiktiven Autors Pierre Menard,58 der kürzlich verstorben sei. Der Erzähler be-

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doch die nicht-fiktionale Textsorte des Nachrufs. Vgl.: Wehr, Christian: »Originalität und Reproduktion. Zur Paradoxierung hermeneutischer und ästhetizistischer Textmodelle in Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, autor del Quijote«, in: Kablitz, Andreas/König, Bernhard/Kruse, Margot u.a. (Hrsg.): Romanistisches Jahrbuch. Bd. 51, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000, S. 351–369, hier: S. 353. Molloy: Las letras de Borges y otros ensayos, S. 51 Hervorhebung im Original. Die Kurzgeschichte »Examen de la obra de Herbert Quain« weist Parallelen zu »Pierre Menard, autor del Quijote« auf. Bei der Geschichte handelt es sich – ähnlich wie bei »Pierre Menard, autor del Quijote« – um den fiktiven, ironischen Nachruf auf einen Schriftsteller. Von Interesse sind hierbei insbesondere die vom Verfasser/Erzähler gerühmten literarischen Hinterlassenschaften Quains, da sie (literarische) Experimente mit dem Thema Zeit darstellen. So hebt der Verfasser des Nachrufes auch deren Neuartigkeit hervor: »[…] la condición experimental de sus libros: admirables tal vez por lo novedoso y por cierta lacónica probidad, pero no por las virtudes de la pasión«, OC 1, S. 461. Zur Ähnlichkeit Menards mit dem im Text ebenfalls erwähnten Paul Valéry vgl. Man, Paul de: »A Modern Master«, in: Bloom, Harold

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zeichnet sich dabei als Freund des Symbolisten aus Nîmes, erweist sich jedoch im Verlauf der Darstellung als äußerst unglaubwürdiger Erzähler. Anlass seines Aufsatzes/Nachrufes sei eine fälschliche Bibliographie Menards, die, verfasst von einer gewissen Madame Henri Bachelier, in einer Zeitschrift veröffentlicht worden sei. Sein Anliegen sei es nun, die darin enthaltenen Irrtümer aufzuklären. Das Werk Menards unterteilt er dabei in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil. Ersterer sei leicht und kurz aufzuzählen, umso unverzeihlicher erscheinen dem Erzähler die Fehler der Bibliographin und angeblichen Freundin Menards. Nach einer ausschweifenden Darstellung seiner Autorität beginnt der Erzähler mit einer chronologischen Aufzählung des sichtbaren Werkes Menards, deren Vollständigkeit er durch eine Konsultation des Privatarchivs Menards verifiziert habe. Das sichtbare Werk stellt sich bereits als umfangreich und überaus vielfältig heraus. So umfasst die Aufzählung neunzehn Unterpunkte, darunter sowohl lyrische Texte als auch Abhandlungen zu diversen Themengebieten wie z.B. zur Theorie des Schachspiels, über die symbolische Logik George Booles, über die berühmtesten Lösungsversuche des Zenon’schen Paradoxon sowie eine Invektive gegen Paul Valéry, die allerdings die genaue Kehrseite seiner wirklichen Meinung über Valéry dargestellt und deshalb die bestehende Freundschaft nicht gefährdet habe. Im Anschluss daran widmet sich der Erzähler dem unsichtbaren, dem unterirdischen, dem unendlich heroischen, dem beispiellosen aber leider unvollständigen Teil seines Schaffenswerkes: Paso ahora a la otra: la subterránea, la interminablemente heroica, la impar. Tambíen ¡ay de las posibilidades del hombre! la inconclusa. Esa obra, tal vez la más significativa de nuestro tiempo, consta de los capítulos noveno y trigésimo octavo de la primera parte del Don Quijote y de un fragmento del capítulo veintidós (OC 1, S. 446).

Das von dem Erzähler so bewunderte Werk besteht also in einer Neuschaffung des Quijote, wohl gemerkt nicht eines zeitgenössischen Quijotes und auch nicht in einer rein mechanischen Transkription des Ori(Hrsg.): Modern Critical Views: Jorge Luis Borges, Philadelphia: Chelsea House Publishers 1986, S. 21–27, hier: S. 24; zu weiteren Spekulationen über ein mögliches reales Vorbild vgl. Fishburn, Evelyn/Hughes, Psiche: Un diccionario de Borges, Buenos Aires Torres Agüero 1995, S. 157, sowie Rodríguez Monegal/Borges: Ficcionario: una antología de sus textos, S. 447; zu einer Kontextualisierung Menards siehe Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, Kap. 2.

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ginals, sondern in einer wortgetreuen Neuerschöpfung des cervantinischen Textes durch Menard. Der Erzähler nennt nun zwei Texte, die Menard zu diesem Vorhaben angeregt haben, und zitiert aus einem Brief, den er von diesem erhalten habe und in dem Menard selbstverliebt sein kühnes Unterfangen anpreist. Der Erzähler urteilt, dass Menards Quijote wesentlich subtiler und – obwohl identisch – unendlich viel reicher sei als der Text Cervantes’. Dies zeige sich im direkten Vergleich der Textauszüge aus dem neunten Kapitel des ersten Teiles des Quijote, welche ein Lob auf die Geschichte beinhalten. Jedoch sei dies nur bei Cervantes reines, rhetorisches Lob auf die Geschichte, bei Menards wortgleicher Version dagegen handele es sich um einen verblüffenden Gedanken, in dem sich der pragmatische Einfluss von William James abzeichne. Der Erzähler schließt mit einigen weiteren bewundernden Beobachtungen zum Stil Menards und schlussfolgert, dass es sich bei diesem Vorgang um eine Art Palimpsest handele und Menard durch seine Technik einen unschätzbaren Beitrag zur Bereicherung der Kunst des Lesens geleistet habe. Während die Romanciers des 19. Jahrhunderts um eine möglichst realistische Darstellungsweise bemüht waren, wie auch der traditionelle historische Roman um eine Verdeckung der ontologischen Naht zwischen Realität und Fiktion bemüht war, macht Borges in »Pierre Menard, autor del Quijote« auf die willkürlichen Regeln des »fiktionalen Spiels« bewusst aufmerksam,59 wird doch darin der schriftstellerische Akt sowohl auf extra- als auch auf intradiegetischer Ebene thematisiert. Sowohl der Erzähler als auch die Figur Pierre Menard produzieren Texte. Bei letzterem ist dies bereits geschehen, der Entstehungsprozess seines Hauptwerkes ist Gegenstand der Erzählung. Auch der Erzähler thematisiert den Schaffensprozess seines Werkes:

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Burton Hatlen macht darauf aufmerksam, dass bereits der Titel der Sammlung, Ficciones, die Fiktionalität der darin enthaltenen Geschichten ankündige und somit das Ende der »Imaginations-Imperialisten« wie Tolstoy und Flaubert einläute. Er beschreibt »meta-moments« generell für Kunst als solche Augenblicke, in denen der Künstler den Rezipienten auf die Willkür und den Konstruktcharakter der Regeln eines jeden Kunstwerkes aufmerksam macht und somit die von Coleridge beschriebene »willing suspension of disbelief« aufhebt, Hatlen, Burton: »Borges and metafiction«, in: Cortínez, Carlos (Hrsg.): Simply a Man of Letters, Orono Maine: University of Maine at Orono Press 1982 (Panel Discussions and Papers from the proceedings of a Symposium on Jorge Luis Borges held at the University of Maine at Orono), S. 131–154, hier: S. 136, 138, 147.

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»Hasta aquí […] la obra visible de Menard, en su orden cronológico. Paso ahora a la otra […]« oder er verweist auf seine Schreibabsicht: »Yo sé que tal afirmación parece un dislate; justificar ese »dislate« es el objeto primordial de esta nota« sowie: »Tuve también el propósito secundario de bosquejar la imagen de Pierre Menard« (ebd., S. 446). Es handelt sich hierbei also um eine explizite Form der historiographischen Metafiktion. Nünning bezeichnet Metafiktion darüber hinaus als motiviert, wenn die Figuren, die sich metafiktional äußern, einer Berufsgruppe entstammen, die sich mit historischer Forschung beschäftigt. So ist ein auffälliges Merkmal historiographischer Metafiktion, dass viele Hauptfiguren als Biographen, Historiker, Archäologen oder Geologen tätig sind.60 Auch hier lässt sich die Metafiktionalität als motiviert beschreiben, da der Freund Menards gleich zu Beginn ankündigt, einen biographisch/literarischen Nachruf zu verfassen. Eine Dominanz fiktionaler Elemente gegenüber außertextuellen Wirklichkeitsreferenzen gilt ferner als Kennzeichen historiographischer Metafiktion. Ein Kennzeichen von »Pierre Menard, autor del Quijote« ist, dass in dieser Erzählung ein undurchschaubares Netzwerk von realen und fiktiven Personen ko-existiert. Allein in der Aufzählung der Werke Menards werden nicht weniger als 26 reale Autoren und ihre Werke genannt. Die Spannweite dieser Autoren reicht von Namen wie Shakespeare, Descartes und natürlich Cervantes über Coleridge und Poe hin zu unbekannteren aber dennoch historischen Personen wie Paul Jean Toulet oder Luc Durtain. Neben dem Protagonisten gibt es jedoch auch zahlreiche fiktive Personen in der Geschichte, wie z.B. eine Madame Henri Bachelier, eine Baronesa de Bacourt, eine Condesa de Bagnoregio, einen »filántropo internacional« (ebd., S. 444) namens Simon Kautzsch, den Maler Carolus Hourcade und den Schriftsteller Jacques Reboul.61 Ausgerechnet diese fiktiven Charaktere werden dann vom Erzähler zur Untermauerung seiner Glaubwürdigkeit herangezogen.

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Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 332. Vgl. Blüher, Karl Alfred: »Postmodernidad e intertextualidad en la obra de Jorge Luis Borges«, in: Blüher, Karl Alfred/Toro, Alfonso de (Hrsg.): Jorge Luis Borges: Variaciones interpretativas sobre sus procedimientos literarios y bases epistemológicas, Frankfurt a.M.: Vervuert 1992, S. 129–143.

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Me consta que es muy fácil recusar mi pobre autoridad. Espero, sin embargo, que no me prohibirán mencionar dos altos testimonios. La baronesa de Bacourt (en cuyos vendredis inolvidables tuve el honor de conocer al llorado poeta) ha tenido a bien aprobar las líneas que siguen. La condesa de Bagnoregio, uno de los espíritus más finos del principado de Mónaco (y ahora de Pittsburg, Pennsylvania, después de su reciente boda con el filántropo internacional Simón Kautzsch […]) ha sacrificado »a la veracidad y a la muerte« (tales son sus palabras) la señoril reserva que la distingue y en una carta abierta publicada en la revista Luxe me concede asimismo su beneplácito (ebd., S. 444).

Zwar zählt Nünning in seiner Auflistung von Kennzeichen impliziter historiographischer Metafiktion die Wirkungsweisen verschiedener erzählerischer Verfahren auf, doch spart er den Erzähltypus des unzuverlässigen Erzählers aus, wobei doch eben dieser in geradezu paradigmatischer Weise die Problematik der retrospektiven Sinnstiftung karikiert.62 In seinem 1998 erschienenen Werk Unreliable Narration setzen sich Ansgar Nünning u.a. jedoch intensiv mit dem Phänomen des unzuverlässigen Erzählers auseinander.63 Er nennt dort als Wirkungseffekt unzuverlässiger Erzählweise eine unfreiwillige, fortschreitende Selbstentlarvung des Erzählers.64 Unzuverlässige Erzähler seien zumeist homodiegetische Erzähler, die durch subjektiv gefärbte Kommentare, interpretatorische Zusätze sowie Leseranreden in Erscheinung treten. Es entsteht somit eine Diskrepanz zwischen dem, was ein unreliable narrator dem fiktiven Adressaten zu vermitteln versucht, und einer zweiten Version des Geschehens, derer sich der Erzähler nicht bewußt ist und die sich Rezipienten durch implizite Zusatzinformationen erschließen können.65 62

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Vgl. dazu: »Borges en casi todos sus cuentos presenta la materia del relato mediatizada por la memoria de un narrador que al reconstruir la historia en base a sus recuerdos de los hechos descubre su propio proceso de comprensión«, Pérez, Alberto Julián: Poética de la prosa de Jorge Luis Borges: hacia una crítica bakhtiniana de la literatura, Madrid: Gredos 1986 (Biblioteca románica hispánica II Estudios y ensayos 353), S. 123. Nünning, Ansgar (Hrsg.): Unreliable narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998. Nünning, Ansgar: »Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens«, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 3– 39, hier: S. 6. Ebd.

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Ein solcher Erzähler liegt in »Pierre Menard, autor del Quijote« vor. Dieser bezeichnet sich durch das sich selbst inkludierende »Los amigos auténticos« (ebd.) als wahrer Freund Menards. Die daraus resultierende Subjektivität könnte ein Grund dafür sein, dass er seine Autorität für anzweifelbar hält. So führt er zwei adlige Persönlichkeiten an, die für die »Wissenschaftlichkeit« seines Unterfangens bürgen sollen. Darüber hinaus gibt er als Beleg seiner wissenschaftlichen Forschung an, die notwendigen Informationen für die Aufzählung des sichtbaren Werkes des Poeten habe er durch eine Konsultation von dessen Privatarchivs erlangt: »Examinado con esmero su archivo particular, he verificado que consta de las piezas que siguen […]« (ebd.). Dieses Berufen auf eine scheinbare wissenschaftliche Objektivität erinnert an das Beteuern vieler Historiker insbesondere des Historismus, der Historiker müsse die Tatsachen »unverfälscht und vorurteilslos« wiedergeben66. Auch Paul Ricœur vergleicht das Bestreben des literarischen Erzählers glaubwürdig zu wirken mit der Arbeit eines Historikers: »Die Frage der »reliability« ist das fiktionale Gegenstück zum dokumentarischen Beweis in der Geschichtsschreibung«.67 So konstatiert der Erzähler auch selbstzufrieden: »Esas ejecutorias, creo, no son insuficientes« (ebd.) und korrigiert beiläufig in Form einer Fußnote einen Fehler, der Madame Henri Bachelier unterlaufen sei, da diese augenscheinlich nicht richtig zugehört habe und die Quellen (Bibliothek) ebenfalls unzureichend studiert habe: Madame Henri Bachelier enumera asimismo una versión literal de la versión literal que hizo Quevedo de la Introduction à la vie dévote de San Francisco de Sales. En la biblioteca de Pierre Menard no hay rastros de tal obra. Debe tratarse de una broma de nuestro amigo, mal escuchada (ebd., S. 446).

Auch dies lässt sich als Verweis auf die Anfänge der historischen Disziplin in Argentinien lesen. In dieser Phase, in der es noch keine staatlichen oder wissenschaftlichen Institutionen gab, die die Funktion der Legitimation übernommen hätten, zählte die individuelle wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der Historiker besonders viel. Der Zugang zu notwendigen Dokumenten war keinesfalls selbstverständlich, da sich

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Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit., S. 367, Hervorhebung im Original. Zu einer ausführlichen Darlegung dieser Problematik sowie einer Diskussion der Begriffe Objektivität und Subjektivität vgl. Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 367–436. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 261, Hervorhebung im Original.

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viele in Privatbesitz befanden und erst später öffentlichen Archiven zugeführt wurden. Deshalb kennzeichnen sich die meisten historiographischen Erzeugnisse im späten 19. Jahrhundert und noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein dadurch, dass sie permanent ihre wissenschaftliche Akribie betonen und versuchen, den jeweiligen Kontrahenten Mängel und Fehler nachzuweisen. Dies zeigte sich besonders bei Paul Groussac, der in einer Mischung aus Pedanterie und Ironie permanent bemüht war, beispielsweise Mitre und Fidel López Fehler in ihren historiographischen Darstellungen nachzuweisen.68 Borges scheint eben diese Legitimationsrhetorik, welche auf die fehlende gesellschaftliche Verankerung historischer Institutionen im öffentlichen Leben zurück zu führen war, mit dem pedantischen Erzähler von »Pierre Menard, autor del Quijote« zu parodieren. Insbesondere dann, wenn dieser sich rühmt, das Archiv Menards gründlichst studiert zu haben, seine Legitimation durch Verweis auf zwei adelige Persönlichkeiten unterstreicht und seiner Konkurrentin Madame Bachelier einen (für sein eigentliches Vorhaben) völlig belanglosen Fehler nachweist. Jedoch unterwandert der Erzähler im weiteren Verlauf kontinuierlich diesen mühsam konstruierten Vertrauensvorschuss durch zahlreiche Widersprüchlichkeiten. So behauptet er zunächst, er beabsichtige mit seinem Aufsatz bzw. Nachruf eine Rehabilitierung Menards, dessen Andenken durch den fehlerhaften Katalog seines sichtbaren Werkes von Madame Bachelier getrübt worden sei: »Decididamente, una breve rectificación es inevitable« (ebd., S. 444). Im Anschluss an die Aufzählung Menards sichtbarer Werke und die erstmalige Erwähnung des eigentlichen Meisterwerks, seines unsichtbaren Werkes, postuliert er jedoch: »Yo sé que tal afirmación parece un dislate; justificar ese »dislate« es el objeto primordial de esta nota« (ebd., S. 446). In einer Fußnote dazu bemerkt er dann, er habe auch ein generelles Bild von Menard entwerfen wollen, traue sich dies aber angesichts der bereits in Vorbereitung befindlichen Studien der geschätzten Baroness von Bacourt und des Carolus Hourcade nicht zu: Tuve también el propósito secundario de bosquejar la imagen de Pierre Menard. Pero ¿cómo atreverme a competir con las páginas áureas que me dicen 68

Hernán Prado schreibt diesbezüglich: »[…] la natural ironía de Groussac, o el estilo lapidario de Mitre, se acoplen perfectamente con este modelo de lucimiento erudito y terminen persuadiéndonos de su pedantería y soberbia«, Hernán Prado: »Las condiciones de existencia de la historiografía decimonónica argentina«, S. 61.

132 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE prepara la baronesa de Bacourt o con el lápiz delicado y puntual de Carolus Hourcade? (ebd.).

Anstelle einer generellen Skizze seines guten Freundes Menard traut er sich jedoch sehr wohl eine eingehende Analyse seines ungeheuerlich bedeutsamen (»Esa obra, tal vez la más significativa de nuestro tiempo […]«, ebd.), die Geschichte der Literatur revolutionierenden Werkes zu. Auch dies ist typisch für einen unzuverlässigen Erzähler: »Von besonderer Bedeutung bei einem unglaubwürdigen Erzähler ist die Diskrepanz, die zwischen seinen expliziten Äußerungen über sich und andere und seiner impliziten Selbstcharakterisierung besteht«.69 Auch seine Behauptung, das sichtbare Werk Menards sei leicht aufzuzählen, wird im Nachhinein durch den darauf folgenden heterogenen und komplexen Katalog70 ironisch verzerrt bzw. ins Gegenteil verwandelt. Eine weitere Diskrepanz zeigt sich in der Charakterisierung Menards durch den Erzähler und Menards Selbstdarstellung in seinen Briefen. So bezeichnet der Erzähler Menard als eine Person, die sich durch eine geradezu göttliche Bescheidenheit kennzeichne: »la casi divina modestia de Pierre Menard« (ebd., S. 449). Menard dagegen lässt es an Selbstvertrauen nicht mangeln: »Mi propósito es meramente asombroso« me escribió el 30 de setiembre de 1934 desde Bayonne. »El término final de una demostración teológica o metafísica – el mundo externo, Dios, la casualidad, las formas universales – no es menos anterior y común que mi divulgada novela. La sola diferencia es que los filósofos publican en agradables volúmenes las etapas intermediarias de su labor y que yo he resuelto perderlas« (ebd., S. 446–447).

Der Erzähler scheint sich seiner zunehmenden Unglaubwürdigkeit bewusst zu sein, antizipiert er doch berechtigte Zweifel an seiner Darstellung durch den Leser wie folgt: El método inicial que imaginó era relativamente sencillo. Conocer bien el español, recuperar la fe católica, guerrear contra los moros o contra el turco, olvidar la historia de Europa entre los años de 1602 y de 1918, ser Miguel de Cer69 70

Nünning: »Unreliable Narration zur Einführung«, S. 18. Susanne Zepp analysiert die einzelnen Werke des sichtbaren Kataloges und untersucht deren Relevanz für das unsichtbare Werk Menards, da Borges im Prolog zu Ficciones bemerkt: »[…] en ›Pierre Menard, autor del Quijote‹ lo es el destino que su portagonista se impone. La nómina de escritos que le atribuyo no es demasiado divertida pero no es arbitraria; es un diagrama de su historia mental…«, ebd., S. 431, Zepp, Susanne: Jorge Luis Borges und die Skepsis, Stuttgart: Steiner 2003, S. 80–90.

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vantes. Pierre Menard estudió ese procedimiento (sé que logró un manejo bastante fiel del español del siglo XVII) pero lo descartó por fácil. ¡Más bien por imposible! dirá el lector. De acuerdo, pero la empresa era de antemano imposible y de todos los medios imposibles para llevarla a término, éste era el menos interesante (ebd., S. 447).

Auch die indirekte Leseranrede »dirá el lector« und die damit verbundene Rezeptionslenkung durch den Erzähler sind Kennzeichen unzuverlässiger Erzählweise.71 Eine derartige metafiktionale Überschreitung des künstlerischen Rahmens findet bereits vorher statt: »¿Por qué precisamente el Quijote? dirá nuestro lector« (ebd.). So räumt der Erzähler dann auch ein, dass von Menards Schöpfungsprozess, jenen Aktivitäten also, die seine Arbeit als genuin auszeichnen und beweisen könnten, dass es sich nicht um eine bloße »transcripción del Quijote« (ebd., S. 449, Hervorhebung im Original) handele, keinerlei Beweis vorliege: »En efecto, no queda un solo borrador que atestigüe ese trabajo de años« (ebd., S. 447). Zwar habe Menard seine Arbeitsschritte schriftlich fixiert, jedoch alle Überreste davon vernichtet. Der Erzähler behauptet, sich präzise an diese Aufzeichnungen erinnern zu können, eine Rekonstruktion jedoch misslingt: Multiplicó los borradores; corrigió tenazmente y desgarró miles de páginas manuscritas. No permitió que fueran examinadas por nadie y cuidó que no le sobrevivieran. En vano he procurado reconstruirlas (ebd., S. 450).

In einer Fußnote ergänzt er: Recuerdo sus cuadernos cuadriculados, sus negras tachaduras, sus peculiares símbolos tipográficos y su letra de insecto. En los atardeceres le gustaba salir a caminar por los arrabales de Nîmes; solía llevar consigo un cuaderno y hacer una alegre fogata (ebd.).

Die Verwendung von Fußnoten erinnert an wissenschaftliche Disziplinen wie die Historiographie und ist für die Fiktion untypisch. Rimmon-Kenan bemerkt diesbezüglich: The very use of a footnote in a work of fiction is unusual and automatically draws attention to the presence of a narrator reflecting on his own narration. […] In any case, it emphasizes the status of the text as artifice, provoking re-

71

Nünning: »Unreliable Narration zur Einführung«, S. 28.

134 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE flections about fictionality and textuality which are typical of self-conscious 72 narratives.

In »Pierre Menard, autor del Quijote« wird die angestrebte Faktizität des Berichteten durch Fußnoten und einen Erzähler, der sich anfänglich zu legitimieren sucht, unterwandert durch Widersprüchlichkeiten bezüglich seiner getätigten Aussagen sowie fehlender Dokumentation, die seinen Bericht verifizieren könnte. Ricœur zieht Parallelen zwischen der Verlässlichkeit in Bezug auf den literarischen und den historischen Erzähler, beide seien prinzipiell auf das Vertrauen ihrer Leser angewiesen. Er vergleicht die Glaubwürdigkeit des literarischen Erzählers, wie oben gesehen, mit dem dokumentarischen Beweis in der Geschichtsschreibung. Das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens lässt sich somit als Problematisierung des testimonialen Aktes interpretieren. Borges führt in dieser Erzählung also einen unglaubwürdigen Erzähler ein, der zwar im Ausmaß seiner Selbstentlarvung seines Gleichen sucht, jedoch dennoch in seiner Art paradigmatisch für Borges’ Fiktionen ist. Ob ein Erzähler für zuverlässig oder unzuverlässig gehalten wird, ergibt sich sowohl aus den innertextlichen Merkmalen, wie den oben beschriebenen Widersprüchen, aber auch aus außertextlichen Informationen. So verfügt sowohl der Leser von fiktionalen Texten als auch der von historiographischen Erzeugnissen über individuelle und gesellschaftlich geprägte Referenzrahmen (frames of reference), die maßgeblich darauf Einfluss ausüben, ob Unstimmigkeiten im Rezeptionsprozess wahrgenommen werden und somit die Glaubwürdigkeit eines Erzählers in Frage gestellt wird.73 Gefordert sind aktive, misstrauische Leser, die sich nicht mehr gelassen auf die Erzählung eines glaubwürdigen Erzählers verlassen können, sondern sich kritisch mit dem Dargestellten auseinander setzen: Ricœur hebt hervor, dass diese Art von Literatur einen neuen Lesertyp erfordert, »einen Leser, der antwor72

73

Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London/New York: Methuen 1983, S. 100. Lyon schreibt diesbezüglich: »The technique of liberally appending both true and untrue footnotes throughout a short story confuses the normal, orderly distance between fiction and fact. The footnote supposedly is fact, in most writing, and should give true pertinent information. Incorporating footnotes into creative prose confuses traditional fictional limitations«, Lyon, Thomas E.: »Borges and the (somewhat) personal narrator«, in: Modern Fiction Studies 19, 3 (1973), S. 363–372, hier: S. 367. Vgl.: Nünning: »Unreliable Narration zur Einführung«, S. 29.

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tet«.74 Dieser sowohl individuell als auch historisch bedingte Referenzrahmen spielt nicht nur bei der Deutung von literarischen Werken eine Rolle sondern tritt auch etwa bei der Beurteilung von historischen Quellen in Kraft: »Letzte Prüfinstanz für die informative oder faktische Plausibilität einer Quellenaussage ist die dem Historiker aus seiner Lebenswelt zugewachsene Wirklichkeitsauffassung«.75 Diese »Verantwortung« des Lesers ist ein zentrales Thema in »Pierre Menard, autor del Quijote«76 und kennzeichnet diese Erzählung ebenfalls als historiographische Metafiktion, lenkt Borges doch damit implizit das Augenmerk auf die Subjektabhängigkeit und Standortgebundenheit von Geschichtsdeutung.77 Menards Projekt einer WiederSchreibung des Quijote gewinnt erst durch die vom Erzähler zugeschriebene Deutungsdifferenz zwischen dem cervantinischen und dem menard’schen Text an Relevanz. Der Erzähler weist dem menard’schen Text unter dem Einfluss des 20. Jahrhunderts eine völlig andere, reichere Bedeutung zu, als der von Cervantes verfasste besessen habe. Borges ironisiert damit das hermeneutische Erklärungsmodell und dessen Entwicklung von einer autoren- hin zu einer leserzentrierten, offenen Auslegung. Hans Robert Jauß stellt fest, dass Borges mit »Pierre Menard, autor del Quijote« bereits 1939 den Übergang von produktionsorientierten hin zu rezeptionsästhetischen Theorien, der in den 60er Jahren stattfand, antizipiert habe. Wie später von Jauß in Anlehnung an Gadamer formuliert, negiert »Pierre Menard, autor del Quijote« bereits die Idee einer zeitlosen, universalen und absoluten Bedeutung eines Textes und betont im Gegensatz die Rolle des Lesers.78 So teilt der Erzähler mit, Menard sei durch zwei verschiedene Quellen zu seinem Projekt angeregt worden. Dies sei zum einen ein Fragment von Novalis sowie ein offenbar modernes Werk, in welchem ein klassisches (literarisches) Motiv neu kontextualisiert wird:

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Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 264, Hervorhebung im Original. Jörn Rüsen, zitiert nach: Nünning: »Unreliable Narration zur Einführung«, S. 30. Vgl. diesbezüglich auch Dapía, Silvia G.: »Pierre Menard in Context«, in: Variaciones Borges 2 (1996), S. 100–113, sowie Giskin, Howard: »Borges’ revisioning of reading in ›Pierre Menard‹«, in: Variaciones Borges 19 (2005), S. 103–123. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 284. Dapía: »Pierre Menard in Context, S. 100. Vgl. diesbezüglich auch: Wehr: »Originalität und Reproduktion«.

136 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE Dos textos de valor desigual inspiraron la empresa. Uno es aquel fragmento filológico de Novalis […] que esboza el tema de la total identificación con un autor determinado. Otro es uno de esos libros parasitarios que sitúan a Cristo en un bulevar, a Hamlet en la Cannebière o a Don Quijote en Wall Street. Como todo hombre de buen gusto, Menard abominaba de esos carnavales inútiles, sólo aptos – decía – para ocasionar el plebeyo placer del anacronismo o (lo que es peor) para embelesarnos con la idea primaria de que todas las épocas son iguales o de que son distintas (ebd., S. 446, Hervorhebung im Original).

Besagtes Fragment von Novalis lautet wie folgt: »Nur dann zeig’ ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann; wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen und mannigfach verändern kann«.79 So versucht Menard auch zunächst, den Quijote neu zu schreiben, indem er sich mit Cervantes vollständig identifiziert: Conocer bien el español, recuperar la fe católica, guerrear contra los moros o contra el turco, olvidar la historia de Europa entre los años de 1602 y de 1918, ser Miguel de Cervantes. Pierre Menard estudió ese procedimiento (sé que logró un manejo bastante fiel del español del siglo XVII) pero lo descartó por fácil (ebd, S. 447, Hervorhebung im Original).

Dies entspricht der Auffassung der klassischen Hermeneutik, wonach Verstehen durch vollständiges Hineinversetzen in den Autor ermöglicht werden kann. In der Geschichtswissenschaft wurde diese Fragestellung u.a. von Droysen thematisiert. Er verwarf zunächst die im 19. Jahrhundert gängige Vorstellung, dass die Beziehung des Historikers zur Vergangenheit sich mit der des Malers zur abzubildenden Landschaft vergleichen lasse. Im Gegensatz zur Landschaft sei nämlich die Vergangenheit als Objekt nicht mehr vorhanden, der Historiker müsse also »stumme« historische Fakten zum »Sprechen« bringen und vollbringe damit eine durchaus subjektive Konstruktionsleistung80. Der Historiker könne Geschichte nur verstehen, indem er sie nachvollziehe; Verstehen setzte er gleich mit nochmals denken, betonte dabei jedoch die Notwendigkeit kritischen Denkens im Nachvollzug, welches von Collingwood – wie oben gezeigt – als »re-enactment« (vgl. Kap. 5.4) bezeichnet wurde.81 Diese von Collingwood, Droysen und auch Dilthey vertretene Meinung, dass interpretatives Verständnis da79 80 81

Zitiert nach: Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, S. 91. Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 130–134. Collingwood, Robin George: Philosophie der Geschichte, Stuttgart: W. Kohlhammer 1955, S. 226.

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durch zustande komme, dass sich der Historiker vollständig in den Autor oder in seinen Text hinein versetzt, wurde von Gadamer abgelöst. Dieser postulierte, dass der zeitliche Abstand zwischen Entstehung eines Textes und dessen Interpretation nicht überbrückt werden könne, da sich der Interpret nie vollständig aus seinem zeitgenössischen Kontext lösen lasse. Jeder Interpret verfüge schon über einen Horizont, der sich aus tradierten Vorurteilen bilde, mit welchen er den zu analysierenden Text konfrontiere. Bei einer gelungenen Interpretation komme es somit zu der von Gadamer beschriebenen Horizontverschmelzung zwischen Text und Interpret. Somit sei zwar jedwede Interpretation ihrer Zeit verhaftet, jedoch deshalb keinesfalls willkürlich.82 Auch im Ricœur’schen Modell der dreifachen Mimesis erlangt eine Erzählung erst Sinn, wenn sie in die Welt des Lesers eintritt. Unter der Mimesis III versteht Ricœur das Nachher der dichterischen Komposition, die Schnittstelle zwischen der Welt des Textes und der Welt des Lesers. Der Leseakt ist somit der letzte Träger der Refiguration der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel.83 Menard verwirft die zunächst erdachte Möglichkeit, sich vollständig in Cervantes hinein zu versetzen, somit auch und zieht es vor, den Quijote aus seiner eigenen lebensweltlichen Perspektive heraus zu »erfahren«: Ser, de alguna manera, Cervantes y llegar al Quijote le pareció menos arduo – por consiguiente, menos interesante – que seguir siendo Pierre Menard y llegar al Quijote, a través de las experiencias de Pierre Menard (ebd, S. 447).

Menard verweist in dem Brief an den Erzähler auf die Problematik, die sich aus seinem veränderten Horizont im Vergleich mit Cervantes ergibt: Componer el Quijote a principios del siglo XVII era una empresa razonable, necesaria, acaso fatal; a principios del XX, es casi imposible. No en vano han transcurrido trescientos años, cargados de complejísimos hechos. Entre ellos, para mencionar uno solo: el mismo Quijote (ebd, S. 448).

Der Erzähler offenbart seinen persönlichen Horizont in der vergleichenden Interpretation der beiden Texte. So bewertet er den Me82 83

Vgl. Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 148–151. Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 122. Ricœur macht an dieser Stelle auch auf die Übereinstimmungen zwischen seinem Modell der dreifachen Mimesis und der Rezeptionsästhetik von Jauß aufmerksam.

138 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE

nard’schen Quijote höher, da dieser wesentlich subtiler sei. Dieser habe es nicht nötig, auf Lokalkolorit wie z.B. Mystik, Philipp II. oder Autodafés zurück zu greifen, um das Ursprungsland Carmens wieder aufleben zu lassen. Der Erzähler vollzieht somit eine Rekontextualisierung des Menard’schen Textes vor dem Hintergrund seines Wissens des 20. Jahrhunderts, welches die Bedeutung Carmens, Lope de Vegas, der Schlacht von Lepanto sowie des historischen Romans Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts einschließt. Menard begründe somit mit seinem Quijote eine neue Form des historischen Romans, der Flauberts Salammbô (1863) damit als veraltete Form des historischen Romans verabschiede: […] el fragmentario Quijote de Menard es más sutil que el de Cervantes. Éste, de un modo burdo, opone a las ficciones caballerescas la pobre realidad provinciana de su país; Menard elige como »realidad« la tierra de Carmen durante el siglo de Lepanto y de Lope. ¡Qué españoladas no habría aconsejado esa elección a Maurice Barrès o al doctor Rodríguez Larreta! Menard, con toda naturalidad, las elude. En su obra no hay gitanerías ni conquistadores ni místicos ni Felipe II ni autos de fe. Desatiende o proscribe el color local. Ese desdén indica un sentido nuevo de la novela histórica. Ese desdén condena a Salammbô, inapelablemente (ebd, S. 448).

Der Erzähler nennt zwei weitere Beispiele für die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von neuem und altem Quijote. Zunächst greift er die Textstelle heraus, in der die armas vs. letras Debatte84 geführt wird. Es sei keineswegs verwunderlich, weshalb Cervantes als ehemaliger Soldat sich zu Gunsten der Waffen ausgesprochen habe. Unerklärlich sei dagegen, wie Menard als Zeitgenosse von Bertrand Russell und La trahison des clercs denselben Weg gehen könne.85 Zur Krönung seiner These der Überlegenheit Menards stellt der Erzähler im Anschluss zwei Textausschnitte des Quijote (1. Teil, 9. Kapitel) gegenüber. Diese beinhalten das bekannte Lob auf die Geschichte: »[…] la verdad, cuya madre es la historia, émula del tiempo, depósito de las acciones, testigo de lo pasado, ejemplo y aviso de lo presente, advertencia de lo por venir« (ebd, S. 449). Aus der Laienperspektive Cervantes’ sei dies wahrlich nicht mehr als ein rhetorisches Lob auf die 84

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Balderston rekonstruiert den Kontext der französischen Pazifismus vs. Militarismus Debatte zwischen 1914 und 1939, auf welche Borges in dieser Kurzgeschichte indirekt anspielen könnte, Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 23ff. Diese Position Menards erklärt der Erzähler damit, jener pflege das genaue Gegenteil seiner eigentlichen Meinung zu propagieren.

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Geschichte, Menards wortgleiche Version dagegen weise deutlich den Einfluss von William James’ Pragmatismus auf: La historia, madre de la verdad; la idea es asombrosa. Menard, contemporáneo de William James, no define la historia como una indagación de la realidad sino como su origen. La verdad histórica, para él, no es lo que sucedió; es lo que juzgamos que sucedió. Las cláusulas finales – ejemplo y aviso de lo presente, advertencia de lo por venir – son descaradamente pragmáticas (ebd).

Laut Balderston bezieht sich der Verweis auf William James auf folgende Textstelle aus dessen Werk Essay in Pragmatism: The truth of an idea is not a stagnant property inherent in it. Truth happens to an idea. It becomes true, is made true by events. Its verity is in fact an event, a process: the process namely of its verifying itself, its veri-fication. Its validity 86 is the process of its valid-ation.

Die Formulierung »no es lo que sucedió; es lo que juzgamos que sucedió« scheint sich jedoch ebenso auf Croces Diktum zu beziehen, alle Geschichte sei immer Geschichte der Gegenwart, da sie immer erst durch die Gedanken des Historikers gegenwärtig werde.87 Er setzte sich damit von der positivistischen Ranke’schen Forderung, »zu zeigen, wie es eigentlich gewesen«, ab und hebt hervor, dass der Historiker immer schon qualifizierend und damit wertend tätig sei.88 Das von Gadamer formulierte Problem, dass Interpret und Text über verschiedene Horizonte verfügen und es lediglich – im Falle einer gelingenden Interpretation – zu einer Horizontverschmelzung kommen könne, jede Interpretation aber somit immer vom Kontext des Interpreten abhängig sei, findet sich auch bei Geschichtsphilosophen wie Carr oder Ricœur. Carr beschreibt den subjektiven Einfluss des Historikers wie folgt: My purpose here is merely to illustrate two important truths: first, that you cannot fully understand or appreciate the work of the historian unless you have first grasped the standpoint from which he himself approached it; second, that

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88

Zitiert nach Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 145, Hervorhebung im Original. Vgl. Croces These, dass »jede wahre Geschichte Geschichte der Gegenwart ist«, da eine der Hauptbedingungen von Geschichte sei, »daß der erzählte Vorgang in der Seele des Geschichtsschreibers lebendig sei. Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, S. 2–3. Croce: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, S. 17, 48.

140 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE that standpoint is itself rooted in a social and historical background. […] The 89 historian, before he begins to write history, is the product of history.

Ricœur begründet die Subjektivität des Historikers folgendermaßen: Der Historiker als ein Individuum mit Leidenschaften und als ein verantwortlicher Bürger tritt mit seinen Erwartungen, seinen Wünschen, seinen Befürchtungen, mit seinen Utopien oder mit seinem Skeptizismus an sein Thema heran. Dieser Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft fließt unbestreitbar in die Wahl seines Forschungsgegenstandes ein, in die Fragen und Hypothesen, die er formuliert, in die Gewichtung der Argumente, die seine Erklärungen und seine 90 Interpretationen stützen.

In der Literaturwissenschaft traten ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts leser- bzw. rezeptionsästhetisch orientierte Theorien in den Vordergrund und lösten die Darstellungsästhetik ab, welche sich mit dem autonomen Kunstwerk und dessen Strukturen beschäftigt hatte. Auch in der Geschichtswissenschaft wurde, wie gezeigt, zunehmend die Verantwortung des Lesers gefordert, die Subjektivität des Historiographen in Betracht zu ziehen und das historiographische Produkt dementsprechend zu dekodifizieren. Auch Borges scheint in »Pierre Menard, autor del Quijote« ironisch91 die Offenheit aller Texte, die sich einer einzigen gültigen Interpretation verweigern, zu propagieren. Durch die Technik vorsätzlicher Anachronismen und irrtümlicher Zuschreibungen (OC 1, S. 450) ließen sich alle Texte mit neuer Bedeutung anfüllen. Eine Schlüsselrolle im Verständnis der Erzählung scheint deshalb auch der darin mehrfach erwähnte Paul Valéry zu sein. Sowohl in Bezug auf die Geschichtswissenschaft als auch auf die Literaturwissenschaft betont die89 90 91

Carr: What is history?, S. 48. Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 55. Ironisch erscheinen insbesondere die Verweise des Erzählers auf die Nutzlosigkeit aller intellektuellen Tätigkeiten (einschließlich derjenigen Menards), während er gleichzeitig die Einmaligkeit und Bedeutung des menard’schen Projektes verkündet. Vgl.: »No hay ejercicio intelectual que no sea finalmente inútil. Una doctrina filosófica es al principio una descripción verosímil del universo; giran los años y es un mero capítulo […] de la historia de la filosofía. En la literatura, esa caducidad final es aun más notoria. […] Nada tienen de nuevo esas comprobaciones nihilistas; lo singular es la decisión que de ellas derivó Pierre Menard. Resolvió adelantarse a la vanidad que aguarda todas las fatigas del hombre; acometió una empresa complejísima y de antemano fútil. Dedicó sus escrúpulos y vigilias a repetir en un idioma ajeno un libro preexistente«, OC 1, S. 449–450.

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ser die Rolle des Rezipienten. So argumentiert auch er gegen die Faktengläubigkeit in der Geschichtswissenschaft und weist auf die Vielzahl möglicher Interpretationen eines historischen Textes in Abhängigkeit von der historischen Situation des Rezipienten hin.92 Borges selbst gibt in einem späteren Essay (»La flor de Coleridge«) einen Hinweis auf Paul Valéry und dessen Infragestellung des Konzeptes der Autorenschaft:93 Hacia 1938, Paul Valéry escribió: »La historia de la literatura no debería ser la historia de los autores y de los accidentes de su carrera o de la carrera de sus obras sino la Historia del Espíritu como productor o consumidor de literatura. Esa historia podría llevarse a término sin mencionar un solo escritor« (OC 2, S. 17).

In dem 1951 erschienenen Essay »Nota sobre (hacia) Bernard Shaw« lassen sich sogar deutliche Einwände gegen die durch den Formalismus bzw. Strukturalismus geprägte Lesart des New Criticism und ihrer werkimmanenten Analyse aufspüren: Quienes practican ese juego olvidan que un libro es más que una estructura verbal, o que una serie de estructuras verbales; […] La concepción de la literatura como juego formal conduce, en el mejor de los casos, al buen trabajo del período y de la estrofa, a un decoro artesano (Johnson, Renan, Flaubert), y en el peor a las incomodidades de una obra hecha de sorpresas dictadas por la vanidad y el azar (Gracián, Herrera y Reissig). Si la literatura no fuera más que un álgebra verbal, cualquiera podría producir cualquier libro, a fuerza de ensayar variaciones (ebd, S. 125–126).

Dabei werde vergessen, dass die Bedeutung eines Textes in der Beziehung zwischen Text und Leser liege und deshalb vom Rezeptionskontext abhängig sei:

92

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Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 32. Wehr stellt die Parallelen zwischen Valéry und Menard präzise dar, vgl.: Wehr: »Originalität und Reproduktion«, S. 356ff. Ebenfalls als spöttische Absage an das Konzept der Autorenschaft lässt sich der Text »Homenaje de César Paladión« aus dem gemeinsam mit Adolfo Bioy Casares verfassten Werk Crónicas de Bustos Domecq lesen. Der hier vorgestellte Autor Paladión macht es sich – ähnlich wie Menard – zur Aufgabe, sich fremder Autorenschaften zu bemächtigen und bereits existierende literarische Werke ohne Änderung unter seinem Namen zu publizieren. Selbstverständlich findet die Originalität und Vielseitigkeit seiner Arbeit die gebührende Anerkennung des Erzählers. Vgl. OCC, S. 303–305.

142 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE La literatura no es agotable, por la suficiente y simple razón de que un solo libro no lo es. El libro no es un ente incomunicado: es una relación, es un eje de innumerables relaciones. Una literatura difiere de otra, ulterior o anterior, menos por el texto que por la manera de ser leída: si me fuera otorgado leer cualquier página actual – ésta, por ejemplo – como la leerán el año 2000, yo sabría cómo será la literatura del año 2000 (ebd., S. 125).

In einem 1978 gehaltenen Vortrag mit dem Titel »El cuento policial« postuliert Borges im Anschluss an Croces Theorie zur Ästhetik sogar, dass sich Textgattungen eher aus der Leseweise als aus dem Text an sich erschlössen: »los géneros literarios dependen, quizá, menos de los textos que del modo en que éstos son leídos« (OC 4, S. 189). Sarlo weist darauf hin, dass eine der Konsequenzen dieses Interpretationsspielraumes eine Absage an die Originalität von Literatur sei: »Borges destruye, por un lado, la idea de identidad fija de un texto; por el otro, la idea de autor; finalmente, la de escritura original«.94 Tatsächlich betonte Borges schon in dem 1932 entstandenen Essay »Las versiones homéricas« die Gleichwertigkeit von sechs in unterschiedlichem Maße wortgetreuen Übersetzungen der Odyssee zum Originaltext. Die Frage nach der Übersetzungstreue hänge von der jeweiligen Perspektive ab; Originaltreue wird somit durch gleichwertige Versionen ersetzt. Die Vorstellung eines definitiven Textes existiere nur in der Religion oder sei Zeichen von Erschöpfung (OC 1, S. 239–243).95 Nünning hatte die Intertextualität als Technik der impliziten historiographischen Metafiktion genannt. Wie gezeigt, finden sich zahlreiche intertextuelle Verweise in der Erzählung, ja mit dem Don Quijote steht sogar das vielleicht bekannteste Werk der spanischsprachigen Literaturgeschichte im Zentrum der Erzählung. Besonders bemerkenswert scheint die Tatsache, dass ebenfalls auf den historischen Roman als Gattung verwiesen wird und dass aus dem umfassenden Textkorpus des Don Quijotes ausgerechnet die Textstelle ausgewählt wird für Menards Experiment, welche das zitierte Lob auf die Geschichte beinhaltet. Es finden sich also in der Erzählung nicht nur Reflexionen über den historiographischen Prozess sondern darüber hinaus auch Reflexionen über den historischen Roman. Die Beschreibung des Me-

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Sarlo: Borges. Un escritor en las orillas, S. 78. Auf die Ähnlichkeiten dieser Übersetzungstheorie und der von Walter Benjamin macht Jenckes aufmerksam: Jenckes: Reading Borges after Benjamin: Allegory, Afterlife, and the Writing of History, S. 108.

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nard’schen Textes durch den Erzähler lässt sich daher als programmatisch für Borges’ Werk lesen. Somit findet sich bereits in dieser ersten wirklichen Erzählung die von Borges in dem Essay »El escritor argentino y la tradición« festgehaltene Forderung nach dem Verzicht auf Lokalkolorit und die zwanghafte Rückbesinnung auf spanische Literaturtraditionen. Dem Franzosen Pierre Menard gelingt nicht weniger als eine Neuerfindung des historischen Romans durch die neue Perspektivierung eines klassischen Textes: »Desatiende o proscribe el color local. Ese desdén indica un sentido nuevo de la novela histórica« (ebd, S. 448, eigene Hervorhebung).

6.5 »T EMA DEL TRAIDOR Y DEL I NSZENIERTE G ESCHICHTE

HÉROE «:

Auch »Tema del traidor y del héroe« weist zahlreiche Kennzeichen der historiographischen Metafiktion auf und wird von Seymour Menton als wichtiger Impulsgeber dieser Gattung des historischen Romans bezeichnet. Ebenso wie »Pierre Menard, autor del Quijote« ist diese Erzählung deutlich metafiktional markiert und wird narrativ vermittelt durch einen unzuverlässigen Erzähler. Auf diegetischer Ebene wird in »Tema del traidor y del héroe« erneut die biographische Darstellungsform thematisiert. Darüber hinaus wirft diese Erzählung die Frage nach historischen Strukturen auf, ein Thema, das in der Geschichtswissenschaft durchaus als zentral bezeichnet werden kann. »Tema del traidor y del héroe« erschien zunächst 1944 in dem Buch Artificios, welches später zusammen mit den Erzählungen aus El jardín de senderos que se bifurcan (1941) unter dem Titel Ficciones veröffentlicht wurde. In der Kurzgeschichte wird exemplarisch die Möglichkeit entworfen, dass ein nationaler Volksheld zugleich der Verräter seiner selbst initiierten Revolution sein könne. Erzählt wird die Geschichte »del joven, del heroico, del bello, del asesinado Fergus Kilpatrick« (OC 1, S. 496), eines angeblichen irischen Volkshelden des 19. Jahrhunderts, dessen Urenkel Ryan eine Biographie über ihn verfassen möchte. Während seiner Recherche stößt der Biograph Ryan auf zahlreiche Rätsel. So erinnern ihn Details von Kilpatricks Ermordung vor der von ihm initiierten, siegreichen Revolution an Dramen Shakespeares. Ryan erwägt zunächst die Möglichkeit einer zyklischen Zeit. In diesem Zusammenhang enthüllt sich die Bedeutung des der

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Erzählung als Motto vorangestellten Gedichtauszuges von William Butler Yeats und der darin enthaltenen Anspielung auf das Platonische Jahr: »So the Platonic Year / Whirls out new right and wrong; / Whirls in the old instead; / All men are dancers and their tread / Goes to the barbarous clangour of a gong« (ebd, S. 496). Der Auszug stammt aus dem Gedicht »Nineteen Hundred and Nineteen«, welches 1928 in dem Gedichtband The Tower veröffentlicht wurde. Das Gedicht beschäftigt sich mit gewalttätigen Ausschreitungen aus dem Jahre 1919 und kontrastiert Bilder der Vergangenheit mit solchen aus der Gegenwart. Zu der darin enthaltenen Geschichtsauffassung bemerken Fishburn/Hughes: »El pasaje evoca el concepto de historia recurrente y el tema de hombres que actúan de acuerdo a un esquema »prefigurado«, ambos centrales en la historia«.96 Tatsächlich scheinen sowohl das Thema einer zyklisch angelegten Zeit als auch das damit zusammen hängende einer vorherbestimmten Struktur im Geschichtsverlauf in »Tema del traidor y del héroe« angelegt zu sein. Ersteres findet seinen Ausdruck in der schon angesprochenen willkürlichen deiktischen Festlegung und in dem im Titel enthaltenen Wort »tema«, welches nahe legt, dass es sich bei den Ereignissen der Kurzgeschichte eben nicht etwa um singuläre Ereignisse sondern vielmehr um universale, wiederkehrende Strukturen in der Geschichte handelt. Der Titel lässt sich als Auseinandersetzung mit der Frage nach wiederkehrenden Strukturen in der Geschichtswissenschaft begreifen, wie sie von Schopenhauer in Abgrenzung zu Hegel polemisch diskutiert wurden. Auch beunruhigt die scheinbare Kreisläufigkeit der Ereignisse zunächst Ryan. Er erwägt die Möglichkeit einer zyklischen Zeit. Darüber hinaus wird mehrfach betont, dass die Abläufe der Geschichte vorherbestimmt seien (»minucioso destino« (ebd, S. 498)) und sogar über die Vergangenheit hinaus Einfluss auf das Handeln Ryans hätten, der sich daher letztendlich dafür entschließt, seine Entdeckungen für sich zu behalten: »también eso, tal vez, estaba previsto« (ebd, S. 498). Zur Möglichkeit einer zyklischen Zeit erläutert Borges an anderer Stelle: […] si los períodos planetarios son cíclicos, también la historia universal lo será; al cabo de cada año platónico renacerán los mismos individuos y cumplirán el mismo destino. El tiempo atribuyó a Platón esa conjetura. En 1616 escribió Lucilio Vanini: »De nuevo Aquiles irá a Troya; renacerán las cere-

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Fishburn/Hughes: Un diccionario de Borges, S. 329.

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monias y religiones; la historia humana se repite; nada hay ahora que no fue; lo que ha sido, será; […]« (OC 1, S. 393).

Die platonische Auffassung von ewiger Wiederkehr beruhe somit auf astrologischen Argumenten, darüber hinaus gebe es noch zwei weitere Erklärungen für eine zyklische Zeit. Zum einen gebe es eine algebraische Erklärung, die u.a. durch Nietzsche Verbreitung gefunden habe. Diese besage, dass eine bestimmte Anzahl von Gegenständen – bzw. Kräften nach Nietzsche – nicht zu einer unendlichen Zahl von Kombinationen fähig sei. Sowohl die astrologische als auch die algebraische Erklärung seien jedoch unvorstellbar, die dritte Variante dagegen scheine plausibel: »Arribo al tercer modo de interpretar las eternas repiticiones: el menos pavoroso y melodramático, pero también el único imaginable. Quiero decir la concepción de ciclos similares, no idénticos« (ebd, S. 394). Borges nennt nun einige prominente Befürworter dieser Theorie, unter denen sich einige derer befinden, die auch Ryan bei seinen Erwägungen in Betracht zog, so neben verschiedenen anderen Hesiod, Condorcets Dezimalgeschichte, Spengler und Vico. Im Anschluss daran zieht Borges zwei Schlussfolgerungen aus dieser Annahme, dass die Geschichte in ähnlichen wenn auch nicht identischen Kreisen verlaufe. Zum einen werde dadurch sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft die Realität abgesprochen. Zweitens beinhalte diese Annahme, dass nichts Neues auf der Welt geschehen könne: Si los destinos de Edgar Allan Poe, de los vikings, de Judas Iscariote y de mi lector secretamente son el mismo destino – el único destino posible –, la historia universal es la de un solo hombre (OC 1, S. 395).

Ryan verwirft diese metaphysische Erklärung jedoch, als er heraus findet, dass Nolan, Kilpatricks ältester und engster Verbündeter, die Hauptdramen Shakespeares ins Gälische übersetzte und handschriftliche Notizen über die Schweizer Festspiele anfertigte. Ryan löst das Rätsel wie folgt: Die Verschwörer stellten fest, dass in ihren Reihen ein Verräter sein musste; Nolan fand heraus, dass Kilpatrick selbst der Verräter war und gemeinschaftlich wurde dieser zum Tode verurteilt. Auf Kilpatricks eigenen Wunsch und aufgrund dessen hohen Ansehens bei der Bevölkerung Irlands wurde jedoch beschlossen, dass dessen Tod dem Vaterland nicht schaden dürfe und Kilpatrick somit im Sinne der Revolution einen Heldentod sterben müsse. Nolan erstellte

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einen detaillierten Handlungsplan für die letzten Tage Kilpatricks bis zu dessen planmäßiger Ermordung in einer Theaterloge. Aus Zeitmangel und aufgrund seiner Erfahrung als Shakespeare-Übersetzer bediente er sich dafür bei dessen Werken Julius Cäsar und Macbeth. Nachdem Ryan den wahren Hergang herausgefunden hat,97 entscheidet er sich, dies nicht in seine Biographie aufzunehmen, sondern die Vorstellung vom im Kampf für das Vaterland gestorbenen Helden aufrecht zu erhalten. Auch er sieht sich als Teil des von Nolan ersonnenen Plans. In »Tema del traidor y del héroe« finden sich sowohl direkte als auch indirekte Verweise auf den historiographischen Diskurs. So verfasst Ryan eine Heldenbiographie seines Vorfahrens anlässlich des 100. Jahrestages seines Todes und bedient sich dabei Methoden der historischen Forschung wie der Arbeit im Archiv und der Auswertung von bis dato unbekannten Dokumentenfunden: También descubre en los archivos un artículo manuscrito de Nolan sobre los Festspiele de Suiza; […] Otro documento inédito le revela que, pocos días antes del fin, Kilpatrick, […] había firmado la sentencia de muerte de un traidor, cuyo nombre ha sido borrado (ebd, S. 497).

Auch die Rolle der Historiographie bei der schriftlichen Fixierung der mysteriösen Todesumstände wird explizit erwähnt: »[…] la policía británica no dio jamás con el matador; los historiadores declaran que ese fracaso no empaña su buen crédito, ya que tal vez lo hizo matar la misma policía« (ebd, S. 496). Desweiteren wird die Rolle der Geschichtsschreibung als Trägerin von Erinnerung angesprochen: »Las cosas que dijeron e hicieron perduran en los libros históricos, en la memoria apasionada de Irlanda« (ebd, S. 498). Zu seinen Erwägungen über die mögliche Ursache für die Parallelen zwischen der literarischen Vorlage Shakespeares und den Todesumständen von Kilpatrick zieht Ryan verschiedene Geschichtstheoretiker heran, die bestimmte zyklische Verlaufsschemata in der Geschichte vermuteten:

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In den Lösungsansätzen Ryans zeigt sich der Einfluss Chestertons, auf den zu Beginn der Erzählung hingewiesen wird. Nachdem Ryan zunächst verschiedene metaphysische Erklärungen erwägt, findet er später eine rationale Erklärung für die mysteriösen Todesumstände Kilpatricks. Auch in Chestertons Kriminalgeschichten finden sich für zunächst übernatürlich scheinende Phänomene immer rationale Lösungsschemata, vgl. Dapía, Silvia G.: »Why is There a Problem about Fictional Discourse? An Interpretation of Borges’ ›Theme of the Traitor and the Hero‹ and ›Emma Zunz‹«, in: Variaciones Borges 5 (1998), S. 157–176, hier: S. 163.

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Esos paralelismos (y otros) de la historia de César y de la historia de un conspirador irlandés inducen a Ryan a suponer una secreta forma del tiempo, un dibujo de líneas que se repiten. Piensa en la historia decimal que ideó Condorcet; en las morfologías que propusieron Hegel, Spengler y Vico; en los hombres de Hesíodo, que degeneran desde el oro hasta el hierro (ebd, S. 497).

Ryans Arbeit als Biograph zeigt auch die bei der Geschichtsschreibung in Kraft tretenden Sinngebungsverfahren auf. Zunächst noch ist er ratlos: »Otras facetas del enigma inquietan a Ryan«, »Esos paralelismos […] inducen a Ryan a suponer una secreta forma del tiempo«, »De esos laberintos circulares lo salva una curiosa comprobación, una comprobación que luego lo abisma en otros laberintos más inextricables y heterogéneos […]« (ebd, S. 496–497).

Später jedoch gelingt es ihm durch eine wissenschaftliche Untersuchung (»investigación«) und Forschung in Archiven (»[…] descubre en los archivos […]«), die vorgefundenen Fakten in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen: »Ryan investiga el asunto […] y logra descifrar el enigma« (ebd, S. 497). Auch Ryan lässt sich der für die Erzähler historiographischer Metafiktionen typischen Berufsgruppe des Biographen zuordnen, auch wenn es sich hierbei nicht um seinen eigentlichen Beruf zu handeln scheint, sondern vielmehr der privaten Familiengeschichtsforschung zuzuordnen ist. Ryan gelingt es also, die scheinbar mysteriösen zeitlichen Paralelitäten in die kalendarische Zeit zu überführen. Dies gelingt ihm durch das Auffinden von Dokumenten, welche als Bindeglieder fungieren. Ryan durchläuft also hier die erste der von Ricœur und de Certeau beschriebenen Phasen der historiographischen Operation. Obwohl er das Rätsel löst, verzichtet er auf eine erklärende Darstellung des Rätsels, welche an seiner Stelle der Erzähler liefert. Jedoch zeigt sich die Problematisierung des historiographischen Prozesses in »Tema del traidor y del héroe« auch anhand weiterer Merkmale, die sich als wegweisend für den postmodernen historischen Roman heraus stellen sollten. Wie bereits in »Pierre Menard, autor del Quijote« ist die narrative Instanz in »Tema del traidor y del héroe« als äußerst unzuverlässig zu charakterisieren. Als Folgen des unzuverlässigen Erzählens wurden bereits die ontologische Grenzverwischung zwischen Fakt und Fiktion und die damit in Zusammenhang stehende Infragestellung epistemologischer Prämissen sowohl auf intra- als auch auf extratextueller Ebene genannt. Jedoch stellt sich die Erzähl-

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situation in »Tema del traidor y del héroe« komplexer dar als in »Pierre Menard, autor del Quijote«. So werden zum einen wieder zahlreiche Fakten, Daten und Namen genannt, die historische Glaubwürdigkeit vermitteln sollen, sodass Alazraki konstatiert: […] Borges agrega detalles (fechas, nombres, circunstancias, lugares) que dan a su personaje un marcado relieve histórico (a mitad del relato ya se habla de 98 Kilpatrick como de un hecho histórico).

Darüber hinaus wählt Borges in dieser Kurzgeschichte das historische Präsens als Erzählzeit. Die Erzählung vergangener Ereignisse im Präsens ist kennzeichnend für den historischen Diskurs und vermittelt dem Leser fiktionaler Texte Glaubwürdigkeit und das Gefühl, direkter Zeuge der erzählten Situation zu sein.99 Doch dies ist nur vordergründig überzeugend, denn die narrative Instanz erweist sich als äußerst unzuverlässig. Am Anfang der Geschichte steht ein extradiegetischer Ich-Erzähler, der sodann behauptet, Erzähler der Geschichte sei Ryan: »El narrador se llama Ryan« (ebd, S. 496) Im Folgenden bleibt die Erzählsituation jedoch auktorial, also null-fokalisiert. El narrador autorial intenta simular que el discurso diegético va a cuenta del narrador Ryan, mas el lector se percata que Ryan no narra nada e incluso resulta escasamente aludido en estilo indirecto. En fin, tanto Ryan como los hechos narrativos restantes son referidos por el mismo narrador autorial de la prodiégesis.100

Ein Erzähler, der sich in Bezug auf die Erzählsituation »irrt«, scheint bisher von der Forschung der unreliability nicht beschrieben worden zu sein.101 Jedoch entstehen Zweifel in Bezug auf die Glaubwürdigkeit Alazraki: La prosa narrativa de Jorge Luis Borges, S. 86. Vgl. Álvarez, Nicolás Emilio: Discurso e historia en la obra narrativa de Jorge Luis Borges. Examen de Ficciones y El Aleph, Boulder: Society of Spanish and Spanish-American Studies 1998, S. 222. 100 Vgl. ebd., S. 52. 101 Gymnich beschreibt anhand eines Beispiels der englischsprachigen Literatur den Übergang einer hetero- zu einer homodiegetischen Erzählinstanz, der lediglich durch einen Personalpronomenwechsel markiert ist, Gymnich, Marion: »Identitätsspaltung oder epistemologische Verunsicherung: Unglaubwürdiges Erzählen in Margaret Drabbles The Waterfall and Brigid Brophys In Transit«, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens

98 99

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des auktorialen Erzählers auch durch die Diskrepanz zwischen der anfänglich vagen deiktischen Festlegung und den später als Ergebnis einer historischen Recherche präsentierten »Fakten«. Im ersten Absatz konstatiert der Erzähler, dass es sich bei dem Folgenden um ein Produkt seiner Imagination handele und ihm noch nicht alle Details enthüllt worden seien: »[…] he imaginado este argumento, que escribiré tal vez […]. Faltan pormenores, rectificaciones, ajustes; hay zonas de la historia que no me fueron revelados aún« (OC 1, S. 496). Darauf folgend legt er sich willkürlich auf einen deiktischen Rahmen fest,102 um danach jedoch mit detaillierten Daten aufzuwarten, die Ryan im Verlauf seiner Recherche entdeckt habe. Nachdem der Leser geneigt ist, den Ergebnissen von Ryans Archivarbeit Glauben zu schenken, informiert der Erzähler uns darüber, dass eben die eigentliche Forschungsarbeit Ryans eine der noch ausstehenden Lücken im Plot des Erzählers sei. Es bleibt also unklar, auf welche Weise Ryan herausfindet, dass der Name des Verräters auf dem von Kilpatrick unterzeichneten Todesurteil dessen eigener war. »Ryan investiga el asunto (esa investigación es uno de los hiatos del argumento) y logra descifrar el enigma«. Dennoch verkündet der Erzähler im Anschluss daran selbstbewusst die Lösung des Rätsels: »He aquí lo acontecido« (OC 1, S. 497). Borges führt damit also einen auktorialen und zugleich äußerst unzuverlässigen Erzähler ein. Diese Möglichkeit wurde von der Forschung der unreliability lange ausgeschlossen.103 in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 147–164, hier: S. 148–149. 102 Warum der Erzähler genau diesen Zeitpunkt und –ort wählt, geht aus den Anmerkungen zu der Kurzgeschichte in der deutschen Ausgabe hervor. Dort wird angeführt, dass sich 1823 die Catholic Association gründete, die sich zum Ziel setzte, den irischen Katholiken die gleichen Bürgerrechte und politischen Rechte zu verschaffen, wie sie die Protestanten besaßen. 1825 wurde die Bewegung verboten und es brach eine landesweite, letztlich erfolglose Rebellion gegen die fast ausschließlich britischen Großgrundbesitzer aus, vgl. Borges, Jorge Luis: Fiktionen, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 72001, S. 182. 103 Vgl.: »Daher hat sich die Forschung zum Problem fiktionaler unreliability bislang fast ausschließlich auf den Typus des homodiegetischen Erzählers bzw. Ich-Erzählers beschränkt, der selbst als Figur auf der Kommunikationsebene der Handlung am fiktiven Geschehen teilnimmt und dessen Perspektive durch einen begrenzten Informationsstand und aufgrund seiner emotionalen Involviertheit in die Ereignisse subjektiv verzerrt sein kann. […] Im Gegensatz dazu gelten auktoriale Erzähler, die Einblick in das Bewußtsein aller Figuren haben, gleichzeitig an mehreren Schauplätzen präsent sein können und Überblick über den gesamten ver-

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»En ›Tema del traidor y del héroe‹ todo y todos ya han sido escritos y todo y todos escriben«.104 Wie Molloy treffend formuliert, kennzeichnet sich auch »Tema del traidor y del héroe« durch zahlreiche metafiktionale Bezüge. Der Akt des Schreibens steht auf allen diegetischen Erzählebenen im Vordergrund. So charakterisiert sich der Erzähler bereits indirekt als Schriftsteller, wenn er offenbart, dass das Folgende lediglich eine Skizze dessen darstelle, was er vielleicht einmal in der Zukunft zu schreiben gedenke: »[…] he imaginado este argumento, que escribiré tal vez y que ya de algún modo me justifica, en las tardes inútiles«. Im Folgenden reflektiert er offen seine erzählerische Tätigkeit (und die Ryans!): La acción transcurre en un país oprimido y tenaz: Polonia, Irlanda, la república de Venecia, algún Estado sudamericano o balcánico… Ha transcurrido, mejor dicho, pues aunque el narrador es contemporáneo, la historia referida por él ocurrió al promediar o al empezar el siglo XIX. Digamos (para comodidad narrativa) Irlanda (ebd, S. 496).

Auch Ryan ist mit der Abfassung einer Biographie beschäftigt: »Ryan, dedicado a la redacción de una biografía del héroe […]« (ebd). Wie sich dann herausstellt, beruht auch das Ableben Kilpatricks, Gegenstand der hypodiegetischen Ebene, auf einer fikionalen Vorlage. Nolan bediente sich sowohl der literarischen Vorlagen Shakespeares als auch der schweizerischen Festspieltradition, bei der historische Episoden an den Originalschauplätzen in monumentalen Inszenierungen nachgespielt werden. Anhand dieser Vorlagen schrieb er ein »Drehbuch« für die letzten Tage Kilpatricks, welches von den Akteuren genauestens befolgt wurde; lediglich Kilpatrick erlaubte sich bisweilen einige Improvisationen. Auch diese bereits auf literarischen Vorlagen beruhenden Handlungen wurden dann wieder durch ihre Aufnahme in die irischen Geschichtsbücher schriftlich fixiert: Nolan […] tuvo que plagiar a otro dramaturgo, el enemigo inglés William Shakespeare. Repitió escenas de Macbeth, de Julio César. La pública y secreta representación comprendió varios días. El condenado entró en Dublín, discutió, obró, rezó, reprobó, pronunció palabras patéticas, y cada uno de esos actos que gangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handlungsverlauf haben, aufgrund dieser fiktionalen Privilegien von vornherein als vertrauenswürdig«, Nünning: »Unreliable Narration zur Einführung«, S. 9. Zum Vorschlag einer Neukonzeptualisierung des Begriffs unreliable narrator vgl. ebd., S. 32–38. 104 Molloy: Las letras de Borges y otros ensayos, S. 66.

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reflejaría la gloria, había sido prefijado por Nolan. Centenares de actores colaboraron con el protagonista; […] Las cosas que dijeron e hicieron perduran en los libros históricos, en la memoria apasionada de Irlanda. Kilpatrick, arrebatado por ese minucioso destino que lo redimía y que lo perdía, más de una vez enriqueció con actos y palabras improvisadas el texto de su juez (ebd., S. 498).

In »Tema del traidor y del héroe« wird die ontologische Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität permanent überschritten. So diente der historische Cäsar bereits Shakespeare als Vorlage für sein literarisches Werk, ebenso wie die schweizerischen Festspiele reale Vorlagen zur Grundlage ihrer Inszenierungen machen. Diese Fiktionalisierungen nun nutzt Nolan, Figur der hypodiegetischen Ebene einer stark metafiktional markierten Erzählung, zur Schaffung eines eigenen Textes. Dieser Text wird zur Grundlage der diegetischen Realität, die dann die in der Zukunft liegende Ermordung Lincolns (extra-textuelle Realität) präfiguriert, in die Geschichtsbücher eingeht und durch Ryans historiographische Tätigkeit ebenfalls wieder faktischen Status erlangt. Die Kurzgeschichte spielt damit nicht nur auf die im postmodernen Geschichtsdiskurs thematisierte Debatte um die Narrativität in der Historiographie an, sondern spitzt dies sogar zu, wenn die diegetische Realität zu einer Kopie der Fiktion wird: »Que la historia hubiera copiado a la historia ya era suficientemente pasmoso; que la historia copie a la literatura es inconcebible…« (ebd, S. 497). Nolans Handlung, mit der er die (hypodiegetische) Realität nachhaltig beeinflusst, lässt sich als Inszenierung beschreiben. Martin Seel hat einige Charakteristika der Inszenierung beschrieben. Ein wichtiges Kennzeichen der Inszenierung ist demnach ihre Intentionalität: »Inszenierungen sind absichtsvoll herbeigeführte, ausgeführte oder in Gang 105 gebrachte Prozesse«. Auch in der Kurzgeschichte entscheiden sich die Verschwörer bewusst für diesen Verlauf und ergreifen die notwendigen Mittel, damit Kilpatrick einen Heldentod sterbe und damit nicht die Revolution gefährde. Jedoch kann sich innerhalb der intentional herbei geführten Inszenierung auch Nicht-Intendiertes ereignen.106 So erlaubt sich Kilpatrick 105 Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 48–62, hier: S. 49, Hervorhebung im Original. 106 Seel führt als Beispiel das Eigentor im Fußball an: »Das Eigentor eines Fußballspielers kann der tragische Schlußpunkt einer grandiosen sportli-

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einige Improvisationen innerhalb der für ihn vorgesehenen Inszenierung: »Kilpatrick […] más de una vez enriqueció con actos y palabras improvisadas el texto de su juez« (ebd, S. 498). Darüber hinaus sind Inszenierungen laut Seel auf ein (potentielles) Publikum hin ausgerichtet.107 Auch in »Tema del traidor y del héroe« wird Kilpatricks Heldentod bewusst für das irische Volk inszeniert: Nolan propuso un plan que hizo de la ejecución del traidor el instrumento para la emancipación de la patria. Sugirió que el condenado muriera a manos de un asesino desconocido, en circunstancias deliberadamente dramáticas, que se grabaran en la imaginación popular y que apresuraran la rebelión. […] La pública y secreta representación comprendió varios días (ebd).

Obwohl die Intentionalität der Inszenierung bereits als charakteristisch beschrieben wurde, kennzeichnet sich die Inszenierung auch durch arbiträre Momente: Jede Inszenierung ist ein grundsätzlich arbiträres Arrangement, das gerade dadurch bedeutsam wird, daß sich aus vielen, oft unübersehbaren Möglichkeiten gerade diese Folge von Konstellationen ergibt. […] Inszenierungen sind Ereignisse eines vorübergehenden, grundsätzlich arbiträren, für die Augen und 108 Ohren eines Publikums dargebotenen Arrangements.

Auch der arbiträre Charakter der Inszenierung wird in »Tema del traidor y del héroe« betont. Nolan ist offensichtlich nur dank seiner Übersetzertätigkeit mit den Dramen Shakespeares vertraut und hatte zudem zu früherem Zeitpunkt eine Abhandlung über die schweizerische Festspieltradition verfasst: Ryan indaga que […] Nolan […] había traducido al gaélico los principales dramas de Shakespeare; entre ellos, Julio César. También descubre en los archivos un artículo manuscrito de Nolan sobre los Festspiele de Suiza (ebd, S. 497).

Aus Zeitnot sieht er sich gezwungen, auf die Werke des Feindes Shakespeare zurück zu greifen, um die irische Revolution voran zu treiben: »Nolan, urgido por el tiempo, no supo íntegramente inventar las circunstancias de la múltiple ejecución; tuvo que plagiar a otro

chen Inszenierung sein, aber es verdankt sich selbst keiner Inszenierung (es sei denn, es wäre Betrug im Spiel)«, ebd. 107 Ebd., S. 50. 108 Ebd., S. 52.

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dramaturgo, al enemigo inglés William Shakespeare« (ebd, S. 498). Den Inszenierungscharakter der Hinrichtung erkennt auch der Erzähler von »Tema del traidor y del héroe«: »Kilpatrick fue ultimado en un teatro, pero de teatro hizo también la entera ciudad, y los actores fueron legión, y el drama coronado por su muerte abarcó muchos días y muchas noches« (ebd, S. 497). Als letztes Merkmal von Inszenierungen benennt Seel den offenen zeitlichen Rahmen von Inszenierungen: »Weder die, die inszenieren, noch die, für die inszeniert wird, können sich jemals ganz sicher sein, wann eine Inszenierung anfängt und wann sie zuende ist«.109 So vermutet Ryan am Ende seiner Recherche, dass auch er Teil der Inszenierung sei: En la obra de Nolan, los pasajes imitados de Shakespeare son los menos dramáticos; Ryan sospecha que el autor los intercaló para que una persona, en el porvenir, diera con la verdad. Comprende que él también forma parte de la trama de Nolan… Al cabo de tenaces cavilaciones, resuelve silenciar el descubrimiento. Publica un libro dedicado a la gloria del héroe; también eso, tal vez, estaba previsto (ebd, S. 498).

Diese Inszenierung von Geschichte lässt sich als metahistorische Reflexion begreifen, da hierdurch nicht so sehr das Augenmerk auf den historiographischen Prozess gelegt, sondern vielmehr darauf aufmerksam gemacht wird, dass bereits die Grundlage der Geschichtsschreibung, die Vergangenheit selber, Gegenstand von willentlicher Inszenierung sein kann. Die von Nolan sorgsam inszenierte Geschichte erhält somit ja auch Eingang in die Geschichtsbücher Irlands und soll der Stärkung der nationalen Identität dienen, wie der Erzähler anmerkt.110 Geschichte wird also nicht erst durch die subjektiv geprägte Darstellung des Historikers manipuliert oder gefälscht sondern kann bereits von Anfang an Produkt einer Inszenierung sein: »Geschichte machen, das ist Borges’ These, bedeutet, die Elemente zu einer erzähl-

109 Ebd., S. 62. 110 Zur Bedeutung von Inszenierungen in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Debatte und für eine Abgrenzung der Begriffe »Inszenierung«, »Performanz« und »Ritual« siehe: Fischer-Lichte, Erika: »Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe«, in: Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und ›Performative Turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003, S. 33–54.

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baren Geschichte zu liefern, repräsentierbare Ereignisse zu erzeugen«.111 Es ist hier also mit »Pierre Menard, autor del Quijote« und »Tema del traidor y del héroe« exemplarisch gezeigt worden, dass Borges’ Erzählungen zu Recht als Wegbereiter der historiographischem Metafiktion gelten können, da sie nicht nur Bezug nehmen auf historische Ereignisse und auf Personen, sondern auch die Möglichkeiten und Funktionen der Historiographie immer schon reflektieren. Eva Horn bezeichnet Borges’ Texte treffend als: »Geschichten über Geschichte, genauer: über die Bedingungen ihrer Konstruierbarkeit«.112 Horn sieht in ihrer Studie über die Möglichkeiten, vom Geheimen zu erzählen, in Borges’ Texten eine Poetik des Verrats. Verrat, wie ihn Kilpatrick begeht, sei für Borges mehr als ein bloßes Motiv. Denn wenn die Geschichte als Ort des Geheimnisses gesehen wird, wie bei Borges, so stellt der Verrat die Verknüpfung von Geheimnis und Narrativ dar. Borges ist derjenige moderne Autor, der den Verrat selbst zum Modell macht, zum universalhistorischen Element, an dem er die Möglichkeitsbedingungen 113 der Konstruktion von Geschichte und Geschichtsschreibung auslotet.

Horn geht dabei von einem Fiktionsbegriff aus, der immer schon andere Versionen beinhaltet, Erzählung – ob fiktional oder historisch – kann immer nur die halbe Wahrheit sein. Der Verräter stellt dabei die dunkle Seite der Geschichte dar, diejenige, welche von den kanonischen Narrativen ausgespart wird. Wie Borges auch in »El fin« zeigt, ist es immer nur eine Frage der Perspektive, ob eine Figur als Held oder als Schurke gesehen wird. Eben dies wird in »Tema del traidor y del héroe« schon bereits durch die Wahl des Titels reflektiert. Die Verkehrung von Opfer- und Täterrollen ist ein Thema bei Borges – wie eine wiederkehrende Tonfolge in der Musik114 – und markiert den politischen Gehalt seiner Erzählungen.

111 Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007, S. 60, Hervorhebung im Original. 112 Ebd., S. 49, Hervorhebung im Original. 113 Ebd., S. 45. 114 Vgl. ebd., S. 44.

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6.6 »H ISTORIA DEL GUERRERO Y DE LA CAUTIVA «: E REIGNIS - VS . S TRUKTURGESCHICHTE Während bei »Tema del traidor y del héroe« zwei verschiedene Perspektiven auf eine Figur eingenommen wurden, so werden in »Historia del guerrero y de la cautiva«115 zwei unterschiedliche Lebensläufe skizziert und es wird deren Spiegelung nahe gelegt. Bei dem ersten Teil der Erzählung handelt es sich um eine kurze Skizze des Lebens eines lombardischen Kriegers, der sich auf die Seite der zuvor von ihm belagerten Stadt Ravenna schlägt; in der zweiten Hälfte der Erzählung wird der Fall einer Engländerin erzählt, die von Indios verschleppt wurde und nun ein erfülltes Leben in der Pampa führt. Interessant ist neben der gespiegelten Struktur der beiden miteinander verwobenen Erzählungen auch die jeweils unterschiedliche Quellenlage: Für die Rekonstruktion der Geschichte Droctulfts, des barbarischen Kriegers, der sich auf die Seite der Stadtbevölkerung stellt und gegen seine eigenen Leute kämpft, nutzt der Erzähler Quellen der offiziellen europäischen Geschichtsschreibung. Grundlage für die zweite Erzählung über die Gefangene ist eine mündliche Überlieferung durch seine Großmutter väterlicherseits.116 Die beiden unterschiedlichen Quellen entsprechen der Unterscheidung, die Aleida und Jan Assman zwischen dem »Alltags«- bzw. dem »kommunikativen Gedächtnis« sowie dem »kollektiven« bzw. »kulturellen Gedächtnis« treffen. Ersteres zeichnet sich beiden Autoren zufolge durch seine Alltagsnähe aus, es beruht auf mündlicher Alltags-

115 Die Erzählung erschien im Mai 1949 zunächst in der Zeitschrift Sur und ist seit 1949 Bestandteil des Erzählbandes El Aleph. 116 Der Erzähler charakterisiert sich durch den Bezug auf seine Großmutter als »Borges«. Diese vermeintliche Identifizierungsmöglichkeit des Erzählers mit dem Autor bietet sich in verschiedenen Erzählungen, jedoch zeigen insbesondere Erzählungen wie »El otro«, in welcher der Erzähler »Borges« dank einer metaleptischen Fügung auf sein jüngeres Alter Ego stößt, dass diese Gleichsetzung nicht problemlos erfolgen kann. In der jüngeren Forschung wird der Begriff der »Autofiktion« diskutiert und Borges wird u.a. als Beispiel dafür angeführt. Insbesondere die Frage, inwiefern dies als weitere (erzähltechnische) Auseinandersetzung von Borges mit dem Genre der Biographie gewertet werden kann, scheint lohnend. Vgl. etwa: Alberca, Manuel: »¿Existe la autoficción hispanoamericana?«, in: Cuadernos del CILHA 7/8 (2005–2006), S. o.A., http:// ffyl.uncu.edu.ar/IMG/pdf/Alberca-3.pdf (21.01.2011).

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kommunikation und reicht höchstens drei Generationen zurück. Jenseits dieses kommunikativen Gedächtnisses liegt die »graue Vorzeit«. Das kommunikative Gedächtnis ist wenig strukturiert und hierarchisiert.117 Innerhalb von Schriftkulturen fällt der sekundären mündlichen Tradierung, der oral history, die Aufgabe zu, das jeweilige Geschichtsbild der schriftlich fixierten Historiographie zu ergänzen, zu erweitern oder zu korrigieren. Eine besondere Wertschätzung erfährt die oral history in jüngerer Zeit in der Frauenforschung und den Gender Studies, werden doch dadurch die mündlich tradierten Erinnerungen von Frauen der männlich dominierten Historiographie ergänzend an die Seite gestellt.118 Diesem kommunikativen Gedächtnis stellen Jan und Aleida Assmann das kulturelle Gedächtnis entgegen, welches sich durch seine »Alltagsferne«119 auszeichnet und zu objektivierter Kultur verfestigtes Erinnertes umfasst. Es bildet fixierte »Erinnerungsfiguren« aus, »Fixpunkte, […] deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird«.120 Borges greift nun für diese Erzählung zum einen auf das kulturelle Gedächtnis Europas zurück und spiegelt die aus diesen Fakten rekonstruierte Geschichte mit einer, die auf der Basis von Informationen der oral history Argentiniens rekonstruiert wird. In beiden sieht er ein und dasselbe Schicksal wiederholt: eine Grenzüberschreitung. Die Quellenlage für die erste Teilgeschichte ist gut dokumentiert. Zum einen wurde Borges in La Poesia von Benedetto Croce aufmerksam auf das Schicksal Droctulfs, zum anderen berichtet auch Gibbon in Decline and Fall of the Roman Empire über den Krieger. Beide beziehen sich in ihren Darstellungen auf eine Passage bei Paulus Diaconus, einem langobardischen Geschichtsschreiber. Borges führt in ungewohnt präziser Weise sogar die Seitenzahlen (im Falle Croces)

117 Bering, Dietz: »Kulturelles Gedächtnis«, in: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001, S. 329–332. 118 Simonis, Annette: »Oral History«, in: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001, S. 425–426. 119 Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19, hier: S. 12. 120 Ebd.

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bzw. die Kapitelangaben (im Falle Gibbons) an. Daniel Balderston macht darauf aufmerksam, dass Croce sich jedoch wiederum nicht auf Gibbon berufe, sodass es umso erstaunlicher sei, dass es Borges gelinge, diese beiden unterschiedlichen Quellen aus dem Speichergedächtnis der europäischen Geschichtsschreibung zusammenzuführen.121 Es erfolgt eine willkürliche deiktische Festlegung des Referierten. Das biographische Gerüst (»el fragmento de su historia« OC 1, S. 557), welches der Erzähler bei Paulus Diaconus via Croce vorfindet, füllt er mit Imagination und Spekulation aus. Durch einen metafiktionalen Hinweis wird die Erzählung dabei explizit vom historiographischen Genre unterschieden: »Imaginemos (éste no es un trabajo histórico) lo primero« (ebd.) Diese dezidierte Abgrenzung vom historiographischen Genre122 erlaubt es auch, so der Erzähler, das Schicksal Droctulfts nicht unter einer individuellen Perspektive zu betrachten sondern sub specie aeternitatis. Zu diesem Gattungstypen eines langobardischen Kriegers habe ihn die Tradition gemacht, welche das Resultat des selektiven Prozesses der Erinnerung sei: »Imaginemos […] al tipo genérico que de él […] ha hecho la tradición, que es obra del olvido y de la memoria« (OC 1, S. 557). Dieser kulturell verfestigten Erinnerung setzt Borges in »Historia del guerrero y de la cautiva« eine »Geschichte von unten«,123 eine erlebte Geschichtserfahrung der oral history entgegen. Die Unmittelbarkeit dieser Erfahrung macht der Erzähler wie folgt deutlich: Cuando leí en el libro de Croce la historia del guerrero, ésta me conmovió de manera insólita y tuve la impresión de recuperar, bajo forma diversa, algo que había sido mío. […] La encontré al fin; era un relato que le oí alguna vez a mi 124 abuela inglesa, que ha muerto (OC 1, S. 558).

121 Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 83–84. 122 Der Gestus der expliziten Verneinung der Zugehörigkeit zum historiographischen Genre nach ausgiebiger Auswertung der Quellenlage eines historischen Ereignisses wird selbstverständlich unterstützt durch den zweideutigen Gebrauch des Wortes »historia« im Titel. 123 Simonis: »Oral History«, S. 426. 124 Diesen Zugang zu Geschichte über die familiäre Tradition stellt Ricardo Piglia als typisch für Borges heraus, da dessen Familiengeschichte mit der Geschichte Argentiniens unauflösbar miteinander verwoben sei. Mit der Verwendung mündlicher Überlieferung stelle sich Borges zudem in die Tradition Vicente Fidel López’, so Piglia, da auch für diesen die mündliche Quelle die wahrhaftigste aller historiographischen Quellen gewesen sei. Vgl. Piglia, Ricardo: »Ideología y ficción en Borges«, http://

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Durch die am Ende postulierte Identität der beiden Erzählungen wird also implizit auch die Gleichwertigkeit der Tradierung von Vergangenheit durch die offizielle Geschichtsschreibung und die oral history behauptet. So heißt es am Ende der Erzählung: »Acaso las historias que he referido son una sola historia. El anverso y el reverso de esta moneda son, para Dios, iguales« (OC 1, S. 560). Der vagen deiktischen Festlegung im ersten Teil der Erzählung folgt eine präzise Jahresangabe zu Beginn des zweiten Teils, nämlich das Jahr 1872. Dies ist insofern ungewöhnlich, als Borges’ Großeltern mehrere Jahre in der Grenzregion zwischen dem nord-westlichen Teil der Provinz Buenos Aires und dem südlichen Teil der Provinz Santa Fe stationiert waren. Dass Borges der Erzählung seiner Großmutter dennoch dieses exakte Jahr als zeitlichen Rahmen für die Erzählung zuweist, scheint nicht zufällig, ist dies doch das Erscheinungsjahr des Martín Fierro.125 Die Erzählung knüpft somit an die kulturelle Tradition der gaucho-Literatur an. Die berühmte Grenze zwischen der zivilisatorischen Staatsmacht und dem barbarischen Outlaw Martín Fierro, welche von Cruz im Martín Fierro auf spektakuläre Weise überschritten wird, ist erneut Thema in »Historia del guerrero y de la cautiva«. Während sich im ersten Teil der Erzählung der Barbar Droctulft auf die Seite der Stadt Ravenna schlägt, die er eigentlich bekämpft, so ist es im zweiten Teil der Erzählung die Engländerin, die in die vermeintliche Wildnis der indigenen Bevölkerung verschleppt wurde und nun die ihr angebotene Rückkehr in die Zivilisation verschmäht. Die klare Opposition dieser beiden Teilräume und die explizite Bezeichnung Droctulfts als Barbar (OC 1, S. 557) sowie der Lebensumstände der Engländerin als barbarisch (»A esa barbarie se había rebajado una

www.scribd.com/doc/6761043/Piglia-Ricardo-Ideologia-Y-Ficcion-enBorges. 125 Daniel Balderston erwähnt desweiteren das Tandil-Massaker in der argentinischen Provinz als Referenzpunkt für das Jahr 1872, Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 92; David Rock erwähnt jedoch bereits die Jahre 1870–1871 als Zeitraum der blutigen Zusammenstöße zwischen indigener Bevölkerung und immigrierter Landbevölkerung in besagter Grenzregion, Rock, David: Argentina 1516–1987. From Spanish Colonization to Alfonsín, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1987, S. 142; Leslie Bethell führt an, dass es während der 1870er Jahre immer wieder Zusammenstöße zwischen beiden Besiedlungsgruppen gegeben habe, das blutige TandilMassaker habe jedoch bereits im Jahre 1871 stattgefunden, Bethell: Argentina since Independence, S. 91.

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inglesa«, ebd., S. 559) stellen einen eindeutigen Bezug her zu Sarmientos Werk Facundo: Civilización y barbarie und das dichotomische Kulturmodell zwischen Zivilisation und Barbarei, welches Argentiniens kulturelle Debatte bis ins 20. Jahrhundert prägt. In einem Vorwort zu einer Auflage von 1974 bezeichnet Borges dieses Modell als Alternative zu Geschichtsmodellen, die eine bestimmte Richtung in der geschichtlichen Entwicklung zu Grunde legen. Nach einem beinahe schon obligatorischen Verweis auf Schopenhauers Geschichtsbild nennt Borges die Namen Ibn Khaldun, Vico, Spengler und Toynbee als paradigmatische Vertreter jener Geschichtsauffassung. Die Dichotomie Zivilisation versus Barbarei biete eine Alternative an, die auf den gesamten Prozess der argentinischen Geschichte anwendbar sei. Zwar sei die dichotomische Gleichsetzung von Barbarei und Pampa sowie von Zivilisation und Stadt nicht mehr haltbar, da die Figuren des gauchos und des caudillos eine Wandlung erfahren hätten, doch sei die Alternative immer noch die gleiche: El gaucho ha sido reemplazado por colonos y obreros; la barbarie no sólo está en el campo sino en la plebe de las grandes ciudades y el demagogo cumple la función del antiguo caudillo, que era también un demagogo. La disyuntiva no ha cambiado. Sub specie aeternitatis, el Facundo es aún la mejor historia argentina (OC 4, S. 125).

Der Facundo wird also von Borges als Strukturgeschichte beschrieben, welche eine generationenübergreifende Zeitspanne umfasst. Damit werden in der Geschichtswissenschaft im Anklang an Braudel, Brunner und Conze diejenigen geschichtlichen Zusammenhänge erfasst, die nicht in der bloßen Abfolge von Ereignissen erfassbar sind. Es handelt sich hierbei um mittel- bis langfristige geschichtliche Sequenzen.126 Dem entgegen steht die Ereignisgeschichte, von der sich bereits die Annales-Schule dezidiert absetzte. Fernand Braudel zufolge lässt sich allein aus der Betrachtung der »histoire événementielle« Geschichte nicht verstehen, sondern historische Ereignisse erscheinen bei bloßer Betrachtung dieser obersten Schicht historischer Ereignisse ebenso zufällig wie eben jene Gestalten Schopenhauers, die der Betrachter in den Wolken wahrzunehmen glaubt und auf die Borges eingangs verweist. Erst wenn die darüber liegende Schicht der »longue durée« hinzugezogen wird, kann die tiefere Bedeutung geschichtlicher Verände126 Koselleck: Vergangene Zukunft: zur Semantik geschichtlicher Zeiten, S. 146.

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rung erfasst werden. Diese Schicht umfasst ein bis zwei Jahrhunderte und damit mittel- bis längerfristige kulturelle, sozio-ökonomische und politische Strukturen.127 Borges macht den Unterschied zwischen Ereignis und Struktur in der Geschichte im Vorwort zu Facundo jedoch noch deutlicher: Nach dem zu Beginn gegebenen Verweis auf Schopenhauer und auf die willkürliche Sinnzuweisung historischer Ereignisse kommt Borges auf die Absurditäten einer Ereignisgeschichte, der in Form von Monumenten, Jahrestagen und Museen gehuldigt wird, zurück: A unos treinta años del Congreso de Tucumán, la historia no había asumido todavía la forma de un museo histórico. Los próceres eran hombres de carne y hueso, no mármoles o bronces o cuadros o esquinas o partidos. Mediante un singular sincretismo los hemos hermanado con sus enemigos. La estatua ecuestre de Dorrego se eleva cerca de la plaza Lavalle; en cierta ciudad provinciana me ha sido dado ver el cruce de las avenidas Berón de Astrada y Urquiza, que, si la tradición no miente, hizo degollar al primero. Mi padre (que era librepensador) solía observar que el catecismo había sido reemplazado en las aulas por la historia argentina. El hecho es evidente. Medimos el curso temporal por aniversarios, por centenarios y hasta por sesquicentenarios, vocablo derivado de los jocosos sesquipedalia verba de Horacio (palabras de un pie y medio de largo). Celebramos las fechas de nacimiento y las fechas de muerte (OC 4, S. 128).

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Kurzgeschichte »Historia del guerrero y de la cautiva« als Gegenüberstellung von Ereignis- und Strukturgeschichte lesen. Während die Übertritte des Kriegers und der Gefangenen ein Ereignis – auch im Lotman’schen Sinne – darstellen,128 so liefert die zugrunde liegende Struktur Zivilisation versus Barbarei die Bedingung für das Ereignis in Form der Grenzüberschreitung. Beide Ebenen verweisen hier aufeinander: »Andererseits sind dauerhafte oder weniger dauerhafte, jedenfalls längerfristige Strukturen Bedingungen möglicher Ereignisse«.129 Es ist hierbei interessant, dass die Überschreitung in jeweils gegensätzliche Richtung verläuft

127 Vgl. Braudel, Fernand: Schriften zur Geschichte. Gesellschaften und Zeitstrukturen 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1992. 128 Die Gegenüberstellung zweier opponierender Teilräume Stadt versus Pampa bzw. ländliche Region und ihre semantische Zuweisung Zivilisation und Barbarei, exemplifiziert in geradezu paradigmatischer Weise das Strukturmodell Jurij Lotmans. Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, München Fink 1993. 129 Koselleck: Vergangene Zukunft: zur Semantik geschichtlicher Zeiten, S. 149.

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und dennoch in beiden Fällen revolutionären Charakter im Sinne Lotmanns trägt, sie also nicht rückgängig gemacht wird. Die Figuren verbleiben im jeweiligen oppositionellen Teilraum. Es scheint hier also, als ginge es Borges nicht so sehr um die Aufrechterhaltung dieser Grenzen sondern vielmehr um den Akt des Überschreitens. Dies wird umso komplexer, wenn man in Betracht zieht, dass die beiden Teilräume bereits in dem Text Gibbons nicht klar voneinander geschieden waren. Bereits in diesem Quellentext wird die römische Bevölkerung als degeneriert und korrupt dargestellt, während die Tugendhaftigkeit der Barbaren hervorgehoben wird.130 Diese Uneindeutigkeit der Grenzen zwischen Zivilisation und Barbarei ist auch kennzeichnend für den Entstehungszeitpunkt der Geschichte. Das polarisierte ideologische Klima unter der Präsidentschaft Peróns bediente sich eben jener Gegenüberstellung von Teilräumen. Während die Opposition die Indienstnahme Rosas’ durch die Peronisten indirekt als barbarisch charakterisierte, wehrten sich peronistische Intellektuelle gegen ein falsches Konzept von Zivilisation.131 Borges hatte sich bereits in dem Text »Déle déle« von 1946132 und in der gemeinsam mit Adolfo Bioy Casares 1947 verfassten Erzählung »La fiesta del monstruo«133 kritisch gegen Perón gewendet. Die 1949 erschienene Erzählung »Historia del guerrero y de la cautiva« lässt sich also auch in diesem Kontext verorten, reflektiert jedoch generell auch die Beschaffenheit und Konstitutionsbedingungen argentinischer Kultur. Es ist dabei interessant zu beobachten, dass die identitätsstiftende Definition von Zivilisation und Barbarei hier auf persönlicher Ebene verhandelt wird. Es ist ein geheimer Drang, der sowohl den Krieger als auch die Gefangene dazu verleitet, die Grenze zu überschreiten bzw. in dem vermeintlich barbarischen Raum zu verharren: La figura del bárbaro que abraza la causa de Ravena, la figura de la mujer europea que opta por el desierto, pueden parecer antagónicas. Sin embargo, a los dos los arrebató un ímpetu secreto, un ímpetu más hondo que la razón y los dos acataron ese ímpetu que no hubieran sabido justificar (OC 1, S. 559–560).

130 Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 86. 131 Balderston führt hier z.B. Fermín Chávez’ Werk Civilización y barbarie en la cultura argentina (1956) an, ebd., S. 95. 132 Rodríguez Monegal/Borges: Ficcionario: una antología de sus textos, S. 223–224. 133 Borges: Obras completas en colaboración, S. 392–402.

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Beide Figuren eint also ihr Drang, sich nationalen Identitätszuschreibungen zu entziehen. Zwar schätzt Borges den Facundo und das von Sarmiento initiierte Kulturmodell, jedoch scheint er mit der Spiegelung dieser beiden Erzählungen und der wechselseitigen Grenzüberschreitung für eine Aufhebung der eindeutigen Zuweisung dieser Räume zu plädieren. Die Erzählung lässt sich mit Nünning als metahistorischer Text beschreiben, da eben nicht die jeweils ereignishaften Überschreitungen der beiden Figuren im Vordergrund steht, sondern vielmehr deren von der Erzählinstanz konstatierte Spiegelung. Die Figuren sind hier auf diegetischer Ebene nicht historische Akteure oder direkte Beobachter eines historischen Ereignisses sondern sind im Falle des Kriegers lediglich unbekanntes Forschungsobjekt einer historiographischen Rekonstruktion und im Falle der cautiva Bestandteil des familiären Gedächtnisses des Erzählers. Im Vordergrund der Erzählung steht die Erzählinstanz, welche beide Teilgeschichten miteinander verbindet und durch meta-historische Verweise (»este no es un trabajo histórico«) darauf aufmerksam macht. Sie fungiert in diesem Text nicht als historischer Akteur oder Beobachter eines historischen Geschehens sondern vielmehr als Subjekt der historiographischen Rekonstruktion bzw. als »Ort« des kulturellen Gedächtnisses, mit Hilfe dessen es ihr gelingt, die beiden heterogenen Erzählungen zu verbinden. Als weitere Besonderheit meta-historischer Texte nannte Nünning die Tendenz zur Semantisierung des Raumes. In diesen Texten diene der Raum nicht bloß als Handlungs- und Aktionsraum der Figuren sondern versinnbildliche die Präsenz der Geschichte.134 Auch dies lässt sich an »Historia del guerrero y de la cautiva« paradigmatisch zeigen. Die Räume der Pampa und der Stadt dienen nicht als Raum der Handlung, sondern das ereignishafte Überschreiten der Grenze zwischen diesen beiden Teilräumen ist eigentlicher Erzählgegenstand und Ausgangspunkt einer Reflexion über die kulturhistorische Aufladung dieser Teilräume und die mögliche Permeabilität dieser Grenze sowie die Austauschbarkeit einer angeblich identitätstiftenden Semantisierung von Räumen.135 134 Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 276–281. 135 Zur Sublimierung der Pampa in der lateinamerikanischen Literatur und der im frühen 20. Jahrhundert u.a. von Borges verhandelten Frage nach künstlerischen Repräsentationsmöglichkeiten dieser siehe: Chihaia, Matei: »›¿Qué pincel podrá pintarlas?‹ – Variantes modernas de la pampa

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6.7 »E L

JARDÍN DE SENDEROS QUE SE BIFURCAN «: O RGANISCHE Z EIT UND K AUSALABERGLAUBE

Die Kurzgeschichte »El jardín de senderos que se bifurcan« kennzeichnet sich durch eine Vielzahl meta-historischer Reflexionen. Ein historisches Ereignis (der Erste Weltkrieg) ist Ausgangspunkt der Erzählung. Eine historiographische Darstellung des Ersten Weltkrieges sei fehlerhaft und bedürfe der Korrektur, so der Erzähler zu Beginn der Kurzgeschichte. Darüber hinaus findet sich in dieser Erzählung eine Problematisierung von Kausalität, denn eine scheinbar einleuchtende kausale Erklärung innerhalb der Historiographie über den Ersten Weltkrieg wird durch eine weitaus komplexere Erklärung ersetzt, in welcher eine nahezu magische Verkettung von Zufällen eine wichtige Rolle spielt. Andererseits ist »El jardín de senderos que se bifurcan« eine »enorme adivinanza, o parábola, cuyo tema es el tiempo« (OC 1, S. 478). Die Kurzgeschichte war namengebend für die 1941 erschienene Sammlung El jardín de senderos que se bifurcan, welche später zusammen mit weiteren Texten unter dem Titel Ficciones veröffentlicht wurde. Borges kategorisiert die Kurzgeschichte in seinem Vorwort wie folgt: »[…] ›El jardín de senderos que se bifurcan‹ – es policial; sus lectores asistirán a la ejecución y a todos los preliminares de un crimen, cuyo propósito no ignoran pero que no comprenderán, me parece, hasta el último párrafo« (ebd., S. 429). Tatsächlich wird der Leser hier Zeuge der Vorbereitungen zu einem Mord, der lediglich als Instrument dient. Während jedoch in »Emma Zunz« (vgl. Kap. 6.9) die wahren Beweggründe für den Mord von der Protagonistin bewusst verschleiert werden, sollen sie hier entschlüsselt werden; aufgrund ihrer Komplexität gelingt dies jedoch nur einer – und zwar der ausschlaggebenden – Person, für alle anderen bleiben die Geschehnisse unerklärlich. Hintergrund der Kurzgeschichte ist die Spionagetätigkeit im Ersten Weltkrieg. Gleich zu Beginn eröffnet die Erzählinstanz den Lesern, dass ein bisher als glaubwürdig eingestuftes Faktum, welches sich auf sublime«, in: Nitsch, Wolfram/Chihaia, Matei/Torres, Alejandra (Hrsg.): Ficciones de los medios en la periferia. Técnicas de comunicación en la literatura hispanoamericana moderna, Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 2008 (Kölner elektronische Schriftenreihe 1), S. 51–72.

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die stragetischen Bewegungen des Ersten Weltkrieges bezieht, revisionsbedürftig sei. So berichte Liddell Hart in seiner Abhandlung History of the World War von sintflutartigen Regenfällen, die die Verschiebung eines geplanten Angriffs der Briten zur Folge gehabt habe. Das nun präsentierte Dokument werfe jedoch ein neues Licht auf dieses historische Ereignis. Der folgende Teil der Erzählung besteht aus dem homodiegetischen Bericht eines Chinesen, der für Deutschland als Spion tätig gewesen sei. Die ersten zwei Seiten des Berichts fehlen, der Leser findet sich also unmittelbar in eine Spionagegeschichte vertieft: So hat der deutsche Spion Yu Tsun soeben erfahren, dass sein Kollege Viktor Runeberg von dem englischen Agenten Captain Madden ermordet worden ist. Daraus folgert er, dass auch er bald verhaftet und hingerichtet wird. Aus einer Parenthese geht hervor, dass dies (zumindest ersteres) auch tatsächlich eintreten wird und der Bericht daher retrospektiv verfasst wurde: »(ahora no me importa hablar de terror: ahora que he burlado a Richard Madden, ahora que mi garganta anhela la cuerda)« (ebd., S. 473). Bevor dies eintritt, muss Yu Tsun Deutschland jedoch noch eine kriegsstrategisch äußerst wichtige Information übermitteln: »El nombre del preciso lugar del nuevo parque de artillería británico sobre el Ancre« (ebd.). Er denkt darüber nach, wie es ihm gelingen könne, in kurzer Zeit und inmitten der Kriegswirren, seinem Chef in Berlin, der zeitunglesend auf Neuigkeiten von seinen Agenten wartet, den Standort des neuen britischen Artillerieparks mitzuteilen. Ein Blick in das örtliche Telefonbuch zeigt ihm, dass nur ein Mensch diese Nachricht übermitteln könne. Sein Plan steht somit binnen zehn Minuten fest. Er besteigt einen Zug in Richtung Ashgrove und entkommt nur knapp seinem Verfolger Madden. Yu Tsun verlässt den Zug in Ashgrove und folgt dann der Wegbeschreibung einiger Kinder. Als er sein Ziel erreicht hat, stellt sich heraus, dass dies der Wohnsitz des bekannten englischen Sinologen Stephen Albert ist, welcher sich mit der literarischen Hinterlassenschaft von Yu Tsuns Urgroßvater beschäftigt hatte. Dieser war ein bekannter Gouverneur gewesen, der sich aber eines Tages zurück gezogen hatte, um ein Labyrinth zu bauen und einen Roman zu schreiben, bevor er von einem Unbekannten ermordet wurde. Zur Enttäuschung der Nachfahren wurde das Labyrinth jedoch nie aufgefunden und der Roman erwies sich als unstrukturiert, chaotisch und unlesbar.

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Doch die Unleserlichkeit beruht, wie Stephen Albert Yu Tsun nun erklärt, auf einem Missverständnis. Denn Yu Tsuns Vorfahr habe nicht etwa an beiden Dingen gearbeitet, sondern Buch und Labyrinth seien ein einziger Gegenstand gewesen. Die chaotische Struktur des Buches, welches auch den Titel El jardín de senderos que se bifurcan trägt, erkläre sich dadurch, dass das Buch eine Parabel auf die Zeit darstelle. So entscheide sich in fiktionalen Werken der Held gewöhnlich für eine Möglichkeit, wodurch alle weiteren eliminiert würden. In diesem Werk jedoch entscheide sich der Held gleichzeitig für alle Möglichkeiten und kreiere dadurch sich verzweigende Zukünfte. Daraus resultierten die Widersprüche im Roman, z.B. dass der Protagonist in einem Kapitel stürbe und im Folgenden wieder lebendig sei. Obwohl Yu Tsun zunehmend Bewunderung und Dankbarkeit für Stephen Albert empfindet, da dieser seinen Vorfahren rehabilitiert hat, erschießt er ihn hinterrücks. Yu Tsun hatte im Garten den sich nähernden Captain Madden erspäht und musste deshalb seine Mission beenden, bevor er verhaftet würde. Er musste seinem Chef in Berlin den Namen der Stadt übermitteln, die es zu bombadieren galt, um den britischen Artilleriepark zu zerstören: Abominablemente he vencido: he comunicado a Berlín el secreto nombre de la ciudad que deben atacar. Ayer la bombardearon; lo leí en los mismos periódicos que propusieron a Inglaterra el enigma de que el sabio sinólogo Stephen Albert muriera asesinado por un desconocido, Yu Tsun. El Jefe ha descifrado ese enigma. Sabe que mi problema era indicar (a través del estrépito de la guerra) la ciudad que se llama Albert y que no hallé otro medio que matar a una persona de ese nombre. No sabe (nadie puede saber) mi innumerable contrición y cansancio (ebd., S. 479–480).

Dieser retrospektiv, kurz vor seiner Hinrichtung verfasste Bericht des Spions Yu Tsun soll also laut Erzähler neue Aufschlüsse über die wahren Gründe für die Verzögerung der britischen Offensive geben. So seien nicht die Regenfälle Schuld gewesen sondern die Bombadierung des britischen Geschützparks durch die Deutschen, welche durch die von Yu Tsun verschlüsselt übermittelte Botschaft ermöglicht worden sei. Nun stellt der Bericht Yu Tsuns also eine Korrektur der offiziellen Historiographie zum Ersten Weltkrieg dar, ist doch Liddell Harts Monographie eine der bekanntesten und am häufigsten neu editierten Ab-

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handlungen zum Ersten Weltkrieg.136 Die dargebotene Version soll neues Licht auf eine bislang als glaubwürdig eingestufte Erklärung für die Verzögerung bieten. War die bisherige Erklärung, Wetterkapriolen seien Schuld an der Verzögerung gewesen, auch für kriegsstrategisch nicht Bewanderte schlüssig nach zu vollziehen, so ist die alternativ bzw. substitutiv angebotene Erklärung aus dem Spionagemilieu weitaus komplexer. Untermauert wird dies durch eine neutral, objektiv und faktengestützt erscheinende Erzählinstanz, welche sich auf das schon genannte Werk Liddell Harts beruft und die Autorität des Verfassers des nachfolgenden Berichtes, des Spions Yu Tsun, wie folgt begründet: »La siguiente declaración, dictada, releída y firmada por el doctor Yu Tsun, antiguo catedrático de inglés en la Hochschule de Tsingtao […]« (ebd., S. 472). Wie schon an weiteren Beispielen gezeigt, wird jedoch auch in dieser Kurzgeschichte die Glaubwürdigkeit der beiden Erzähler destabilisiert. Sowohl der extradiegetische Erzähler als auch Yu Tsun erweisen sich als fehlbar. Nicht nur die angegebene Seitenzahl aus Liddell Harts Werk ist falsch,137 sondern auch die historisch belegte Verzögerung des Angriffs ereignete sich zu dem angebenen Zeitpunkt im Juni des Jahres 1916 und nicht wie vom Erzähler paraphrasiert im Juli.138 Ebenso wird Yu Tsuns anschließender Bericht durch eine rüde formulierte (selbstverständlich fingierte) Anmerkung des Herausgebers korrigiert und dessen Annahme, Viktor Runeberg sei von Madden ermordet worden, wird als subjektive Vermutung Yu Tsuns dargestellt, denn dieser sei lediglich durch eine Notwehrreaktion getötet worden: 136 Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 41. 137 Ebd., S. 151. 138 Die Mehrheit der Sekundärliteratur zu dieser Erzählung kommentiert diesen »Fehler« und insbesondere Balderston betont seine Bedeutung. So vermutet er, dass der extradiegetische Erzähler damit als schlechterer Leser als Stephen Albert und Yu Tsun charakterisiert werden solle. Nur gute Leser wie eben diese (warum Yu Tsun ein ausgezeichneter Leser sein soll, kann nicht nachvollzogen werden, war er doch eben nicht in der Lage, das Werk seines Urgroßvaters zu dechiffrieren) seien in der Lage diesen Fehler zu enziffern, vgl. ebd., S. 41–42. Es sei dahin gestellt, ob Borges tatsächlich absichtlich dieses historische Ereignis um einen Monat verschob, oder ob es sich eher um einen Transkriptionsfehler handelt. Auch auf diese Möglichkeit macht Balderston aufmerksam, hält sie jedoch für unwahrscheinlich.

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Hipótesis odiosa y estrafalaría. El espía prusiano Hans Rabener alias Viktor Runeberg agredió con una pistola automática al portador de la orden de arresto, capitán Richard Madden. Éste, en defensa propia, le causó heridas que determinaron su muerte. (Nota del Editor) (ebd., Hervorhebung im Original).

Die angestrebte Wirkung dieser Anmerkung des Herausgebers ist zunächst einmal die Unterstreichung der Objektivität und Zuverlässigkeit des folgenden Berichtes. Denn dadurch, dass der Erzähler/Herausgeber den Verfasser Yu Tsun, dem sonst durch seine Spionagetätigkeit vielleicht eine eingeschränkte Glaubwürdigkeit zugebilligt würde, in einem unrelevanten Detail139 derart harsch korrigiert, soll der Eindruck entstehen, dass der übrige Text verlässlich sei. Es stellt sich dann jedoch die Frage nach der Subjektivität des Herausgebers/Erzählers. Sollte dieser tatsächlich mit Madden identisch sein, wie Zepp vermutet,140 so ist der folgende Bericht höchst subjektiv editiert, die fehlenden Seiten und die eitle Korrektur ließen Zweifel an der Darstellung Yu Tsuns aufkommen. Borges wählt also in der Vermittlung dieser Kurzgeschichte erneut einen Erzähler, der sich auf der einen Seite bemüht, glaubwürdig zu wirken, und sich gleichzeitig diskreditiert. Er kündigt zunächst an, die offizielle Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg müsse in einem nicht unwichtigen Detail141 umgeschrieben werden, um dann als Korrektiv einen subjektiv editierten Bericht eines chinesischen Spions auf deutscher Seite,142 der kurz vor seiner Hinrichtung verfasst wurde, zu präsentieren. 139 Runeberg hätte wohl ebenso wie Yu Tsun die Todesstrafe erwartet. Daher scheint es für den folgenden Bericht nicht von großem Belang, ob dieser von Madden gezielt ermordet oder in Notwehr getötet wurde. 140 Balderston geht von der Personalunion des Erzählers und des Herausgebers aus, während Zepp vermutet, dass der Erzähler/Herausgeber Richard Madden sei und die zwei ersten Seiten des Berichtes deshalb fehlten, weil dieser sie unterschlagen habe, um in einem besseren Licht zu erscheinen, vgl. Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 41 und Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, S. 45. 141 Balderston rekonstruiert die Hintergründe der Schlacht, die sich an die britische Offensive anschloss und sich zu einem der verlustreichsten Gefechte der Weltgeschichte entwickeln sollte. Die Vorgeschichte dieser Schlacht erweist sich also als ein durchaus relevantes Kapitel der (europäischen) Geschichtsschreibung, vgl. Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 42. 142 Yu Tsun scheint zwar seinem Dienstherrn treu ergeben, jedoch erfährt der Leser auch, dass er seine Spionagetätigkeit nicht ohne Hintergedanken ausführt. So schätze er eigentlich die Deutschen nicht besonders, sondern wolle nur seinem (rassistischen) Chef beweisen, dass er als Chi-

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Borges verlagert damit den Anspruch einiger historischer Romane, Geschichte zu revisionieren, auf die diegetische Ebene. Ebenso wie Borges bereits in »Pierre Menard, autor del Quijote« neben metahistorischen und meta-historiographischen Verweisen auch über die Funktion des historischen Romans reflektierte, so stellt auch diese meta-fiktional inszenierte Alternative zur offiziellen Historiographie einen Verweis auf die Funktion des historischen Romans dar, eine alternative, revisionistische oder auch ergänzende Version zur offiziellen Historiographie zu sein. Darüber hinaus greift Borges mit dieser Erzählung erneut das Thema der Kausalität auf. Verschiedene Autoren haben auf diesen Aspekt von »El jardín de senderos que se bifurcan« hingewiesen. So resümieren143 Frank/Vosburg ihre Untersuchung wie folgt: »Aquí no le basta la abolición del tiempo lineal y el espacio […] ataca de raíz el principio de causalidad […]«. Auch Álvarez konstatiert neben der Infragestellung der historischen Wahrheit auch u.a. die der Kausalität in »El jardín de senderos que se bifurcan«: Baste decir que en este relato […] se pone en tela de juicio algunos fundamentos capitales de las ciencias físicas y sociales tales como el principio de causalidad, la lógica formal, el tiempo y el espacio absolutos así como la ver144 dad histórica.

Tatsächlich problematisiert Borges in dieser Erzählung den Kausalitätsbegriff, indem er insbesondere die Rolle des Zufalls in den Handlungen Yu Tsuns betont.145 In der Geschichtswissenschaft war einer der Kritikpunkte am nomologischen Erklärungsschema, dass dieses nese ein fähiger Spion sein könne: »No lo hice por Alemania, no. Nada me importa un país bárbaro, que me ha obligado a la abyección de ser un espía. […] Lo hice, porque yo sentía que el Jefe tenía en poco a los de mi raza – a los innumerables antepasados que confluyen en mí. Yo quería probarle que un amarillo podía salvar a sus ejércitos« (ebd., S. 473). 143 Frank, Roslyn/Vosburg, Nancy: »Textos y contra-textos en ›El jardín de senderos que se bifurcan‹«, in: Revista Iberoamericana 100–101 (1977), S. 517–534, hier: S. 532. 144 Álvarez: Discurso e historia en la obra narrativa de Jorge Luis Borges, S. 35. 145 Renate Lachmann untersucht die Rolle des Zufalls in der phantastischen Literatur und stellt heraus, dass dieser in der »nichtklassischen« Literatur der Phantastik wie bei bspw. Borges immer auf ein »Auch-anders-seinKönnen der Welt« verweist. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik: zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 146.

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die Rolle des Zufalls in der historischen Entwicklung außer Acht lasse. Erst den hermeneutisch geprägten Erklärungsmodellen wurde die kulturelle Funktion der Kontingenzbewältigung zugesprochen.146 So scheint Liddell Harts Erklärung, der Angriff habe aufgrund des Wetters verschoben werden müssen, zunächst plausibel. Jedoch ließe sich auch mit dem Erzähler von »El jardín de senderos que se bifurcan« argumentieren, dass einer Ereignisfolge, deren Komplexität sich dem Historiker Liddell Hart nicht erschließen konnte, da ihm das nun vorliegende historische Zeugnis fehlte, durch den Prozess der retrospektiven Sinnstiftung eine vermeintliche Kausalität aufgezwungen wurde. So habe sich Liddell Hart, um diesen Aufschub zu erklären, der nomologischen Erklärung bedient, das Wetter sei die Ursache gewesen, da katastrophale Wetterbedingungen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu Verzögerungen militärischer Einsätze führten. Tatsächlich habe jedoch eine Reihe von Zufällen diesen Aufschub bewirkt. Schon der Einfall Yu Tsuns, wie er seinem Chef die Informationen zukommen lassen könnte, beruht auf einer Verkettung von Zufällen. Yu Tsun denkt an seinen Chef, der, auf der Suche nach Neuigkeiten bezüglich seiner sich in England befindenden Spione, unablässig Zeitungen durchforstet. Aus ihm selbst unerfindlichen Gründen überprüft er seine Taschen und stößt auf seinen Revolver: Algo – tal vez la mera ostentación de probar que mis recursos eran nulos – me hizo revisar mis bolsillos. Encontré lo que sabía que iba a encontrar. […], el revólver con una bala. Absurdamente lo empuñé y sopesé para darme valor (ebd., S. 473).

Auch der folgende Gedanke, der seinen Plan komplettieren soll, scheint ihm eher zufällig zu kommen: »Vagamente pensé que un pistoletazo puede oírse muy lejos« (ebd., eigene Hervorhebung). Erst als sein Plan, jemanden mit dem Namen Albert zu töten, gefertigt ist, schaut er in das Telefonbuch, um zu überprüfen, ob tatsächlich eine Person dieses Namens in der Nähe seines Aufenthaltsortes existiert. Zufällig findet er genau eine Person, die beide Kriterien erfüllt: En diez minutos mi plan estaba maduro. La guía telefónica me dio el nombre de la única persona capaz de transmitir la noticia: vivía en un suburbio de Fenton, a menos de media hora de tren (ebd.).

146 Vgl. Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit, S. 41–42.

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Die Ausführung seines Planes gelingt ebenfalls nur durch eine Verkettung günstiger Umstände. Yu Tsun hat Glück, noch den wenige Minuten später startenden Zug zu erreichen, während sein Verfolger Madden auf den vierzig Minuten später eintreffenden Zug warten muss. Madden verpasst den Zug derart knapp, dass er noch bis ans Ende des Bahnsteigs neben dem Zug herläuft und Yu Tsun fürchten muss, von diesem durch die Scheibe erkannt zu werden: »Un hombre que reconocí corrió en vano hasta el límite del andén. Era el capitán Richard Madden. Aniquilado, trémulo, me encogí en la otra punta del sillón, lejos del temido cristal« (ebd., S. 474). Yu Tsun betont in seinem Bericht auch die Rolle des Zufalls, der ihm in dieser Situation zu Hilfe gekommen sei: »Me dije que ya estaba empeñado mi duelo y que yo había ganado el primer asalto, al burlar, siquiera por cuarenta minutos, siquiera por un favor del azar, el ataque de mi adversario« (ebd., eigene Hervorhebung). Ebenfalls dem Zufall zu verdanken hat Yu Tsun, dass sich trotz der vorgerückten Uhrzeit (vermutlich ca. 21.15 Uhr) und der Dunkelheit Kinder auf dem Bahnsteig befinden, die ihm auf Nachfrage die Haltestelle bestätigen: El tren corría con dulzura, entre fresnos. Se detuvo, casi en medio del campo. Nadie gritó el nombre de la estación. »¿Ashgrove?«, les pregunté a unos chicos en el andén. »Ashgrove«, contestaron. Bajé (ebd.).

Die folgende Episode, in der die Kinder Yu Tsun sogar unaufgefordert den Weg zu Alberts Haus beschreiben, erscheint zunächst nahezu irreal, erklärt sich jedoch retrospektiv dadurch, dass Albert ein bekannter Sinologe ist und die Kinder deshalb durch Yu Tsuns asiatisches Erscheinungsbild darauf schließen, dass er ein Besucher Alberts sein müsse.147 Yu Tsun hinterfragt diesen Umstand jedoch nicht und scheint auch dies lediglich als glücklichen Zufall aufzufassen: Una lámpara ilustraba el andén, pero las caras de los niños quedaban en la zona de sombra. Uno me interrogó: »¿Usted va a casa del doctor Stephen Albert?«. Sin aguardar contestación, otro dijo: »La casa queda lejos de aquí, pero usted no se perderá si toma ese camino a la izquierda y en cada encrucijada del camino dobla a la izquierda« (ebd.).

147 Millington führt zwei weitere Erklärungen für diese Episode an, vgl.: Millington, Mark I.: »The Importance of Being Albert or the Borgesian Alternative to History«, in: Stegmann, Wilhelm/Hirsch-Weber, Wolfgang/Lauer, Wilhelm u.a. (Hrsg.): Ibero-Amerikanisches Archiv, Berlin: Colloquium Verlag 1988 (Neue Folge Jahrgang 14), S. 173–186.

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Yu Tsun scheint tatsächlich über ein äußerst komplexes Verständnis von Kausalität zu verfügen, denn er scheint nicht einen Moment daran zu zweifeln, dass sein Chef wirklich fähig sein wird, die Botschaft zu entschlüsseln. Im Gegenteil, er zieht sogar kurz in Erwägung, dass auch Madden seinen irrwitzigen Plan durchschaut haben könne: »Por un instante, pensé que Richard Madden había penetrado de algún modo mi desesperado propósito. Muy pronto comprendí que eso era imposible« (ebd.). Jedoch ist auch Yu Tsun überrascht, als er bemerkt, dass der Engländer Stephen Albert Sinologe ist148 und sich sogar mit seinem Vorfahren befasst hat: Comprendí, de pronto, dos cosas, la primera trivial, la segunda casi increíble: la música venía del pabellón, la música era china. […] repetí desconcertado: – ¿El jardín? – El jardín de senderos que se bifurcan. Algo se agitó en mi recuerdo y pronuncié con incomprensible seguridad: – El jardín de mi antepasado Ts’ui Pên (ebd., S. 475, eigene Hervorhebung).

Calabrese bezeichnet diese Verkettung von Ereignissen als nahezu magisch: »[…] pero el azar, un azar casi milagroso, determina que la desconocida víctima sin rostro se convierta, para su matador, en alguien que ›no fue menos que Goethe‹«.149 Zufällig erscheint darüber hinaus die Tatsache, dass Yu Tsun die einzige Person, die die Botschaft übermitteln kann, zu Hause antrifft, hätte doch die Abwesenheit Alberts unweigerlich das Scheitern seines Vorhabens bedeutet. Albert erkennt hingegen die Rolle des Zufalls, der ihn nun – in Anbetracht zahlreicher sonstiger möglicher Verzweigungen – auf seinen zukünftigen Mörder treffen lässt. Er ahnt aber noch nicht die Konsequenzen:

148 Dass der Chinese Yu Tsun, der ehemals als Englischlehrer arbeitete, hier auf einen englischen Sinologen trifft, dass der labyrinthische Weg zu Alberts Haus ihn an die Labyrinthe seiner Kindheit erinnert und sowohl Albert und Yu Tsuns Urgroßvater von einem »Fremden« ermordet werden, sind nur drei Beispiele für zahlreiche in der Kurzgeschichte angelegte Parallelen. Rimmon-Kenan analysiert die Funktion dieser doppelten Strukturen: Rimmon-Kenan, Shlomith: »Doubles and Counterparts: ›The Garden of Forking Paths‹«, in: Bloom, Harold (Hrsg.): Jorge Luis Borges, Philadelphia: Chelsea House Publishers 1986 (Modern Critical Views), S. 185–192, vgl. auch: Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, S. 45– 46. 149 Calabrese, Elisa T.: »Un jardín hecho de tiempo«, in: Variaciones Borges 16 (2003), S. 121–129, hier: S. 126.

172 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE No existimos en la mayoría de esos tiempos; en algunos existe usted y no yo; en otros, yo, no usted; en otros los dos. En éste, que un favorable azar me depara, usted ha llegado a mi casa; en otro, usted, al atravesar el jardín, me ha encontrado muerto; en otro, yo digo estas mismas palabras, pero soy un error, un fantasma (ebd., S. 479, eigene Hervorhebung).

Der letzte in dieser Reihe von Zufällen betrifft die Frage, wie Captain Madden so schnell Yu Tsun aufspüren konnte.150 Ausgehend davon, dass er nicht dessen Vorhaben durchschaut haben kann, und weder über Yu Tsuns asiatisches Aussehen noch über Yu Tsuns Erfahrung mit labyrinthischen Wegbeschreibungen verfügt, erscheint es überaus erstaunlich und erneut auf einer Verkettung von Zufällen beruhend, dass dieser Yu Tsuns zurückgelegten Weg innerhalb kurzer Zeit nachvollziehen und in das Haus Alberts eindringen konnte. Insbesondere bleibt offen, woher Madden die Destination Yu Tsuns erriet, kaufte dieser doch vorsorglich eine Bahnfahrkarte für eine weiter entfernt liegende Bahnstation. Denn es ist sehr wohl ausschlaggebend für das Gelingen seines Plans, dass Yu Tsun tatsächlich am Tatort verhaftet wird, denn nur so kann er erreichen, dass sein Name in Zusammenhang mit der Ermordung Alberts in den englischen Zeitungen genannt wird und sein Chef in Berlin somit auf die richtige Spur gebracht wird. Die Umstände, die zur Ermordung Alberts und der Festnahme Yu Tsuns durch Madden führen, erscheinen also als Resultat einer höchst unwahrscheinlichen, nahezu magisch anmutenden Verkettung von Zufällen.151 150 Wie von Yu Tsun errechnet, trifft Madden ca. eine Stunde nach ihm ein. Die Diskrepanz von zwanzig Minuten, die sich aus dem vierzig Minuten später abfahrenden Zug und der erwarteten Ankunft ergibt, erklärt sich vermutlich aus der größeren Schwierigkeit Maddens, Alberts Haus zu finden. Verfügt er doch – vermutlich – weder über ein asiatisches Erscheinungsbild noch über Erfahrung im Umgang mit labyrinthischen Wegbeschreibungen. 151 In »La lotería en Babilonia« (Ficciones) beschreibt Borges eine Gesellschaft, deren Zusammenleben von der Existenz einer allmächtigen Lotterie bestimmt ist. Die Lotterie, welche zunächst dem heutigen Glücksspiel ähnelt, wird zunächst um Lose erweitert, die den jeweiligen Besitzer bestrafen. Im weiteren Verlauf dann wird die Teilnahme an der Lotterie für alle Bewohner Babyloniens verpflichtend. Jeder Bewohner erwartet jederzeit eine vom Zufall der Lotterieziehung bestimmte Zukunft. Die Bewohner Babyloniens hinterfragen diese Zufälle nicht, wohl aber die Geschichtsschreiber: »Nuestros historiadores, que son los más perspicaces del orbe, han inventado un método para corregir el azar«, OC 1, S. 460. Die Kurzgeschichte skizziert somit die negative Vision einer komplett dem Zufall unterworfenen Gesellschaft.

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Interessant ist, dass die Kontingenzerfahrung zwar von Stephen Albert, nicht aber von Yu Tsun hinterfragt wird, sondern sogar integraler Bestandteil seines wahnwitzigen Plans ist. Kontingente Ereignisse zeichnen sich in der Regel durch Ereignishaftigkeit aus und verlangen nach einer Deutung, da sie im Kontrast zur normalen Erfahrung stehen, die immer schon deutend verarbeitet ist.152 Weder Yu Tsun noch der fiktive Herausgeber, der sich zu Beginn der Geschichte zu Wort meldet, kommentieren jedoch diese ungewöhnliche Verkettung von Zufällen.153 Während des Zweiten Weltkrieges verfasst, zeigt Borges in »El jardín de senderos que se bifurcan«, dass die in der Geschichtsforschung angewandten Kausalketten oftmals komplexer sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Der äußerst kurzen Kausalkette Liddell Harts stellt er ein wesentlich komplexeres Geflecht von Kausalketten entgegen, welches zu der Verzögerung des Angriffs geführt habe. Die scheinbare Kontingenz in der von Yu Tsun referierten Version erweist sich als Resultat zahlreicher nicht erkannter oder nicht zurückverfolgter Kausalketten. Borges unterstreicht somit einmal mehr den enigmatischen Charakter der Realität, deren komplexe Wirkungszusammenhänge lediglich eine unendliche Intelligenz zu durchschauen vermöge.

152 Vgl. Rüsen, Jörn: »Die Kultur der Zeit. Versuch einer Typologie temporaler Sinnbildung«, in: Rüsen, Jörn (Hrsg.): Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld: Transcript 2003, S. 23–53, hier: S. 25–27. Vgl. auch: »Kontingenz ist keine Erfahrungsqualität an sich. Sie hängt von vorgegebenen und kulturell wirksamen Orientierungen des menschlichen Lebens im Zeitverlauf ab. Sie wird dann erfahren, wenn Ereignisse sich zu diesen Orientierungen »kritisch« verhalten, sie also stören, irritieren, beunruhigen«, Rüsen: Zerbrechende Zeit: über den Sinn der Geschichte, S. 151. 153 Auch in Herbert Quains (»Examen de la obra de Herbert Quain«, Ficciones) erstem Werk, welches den bezeichnenden Titel The God of the Labyrinth trägt, spielt der Zufall eine große Rolle. In dieser Detektivgeschichte erweist sich ein scheinbarer Zufall retrospektiv als falsch, dem aufmerksamen Leser gelingt es aber – im Gegensatz zum Historiker Liddell Hart in »El jardín de senderos que se bifurcan« bzw. dem detective in Quains Fiktion – die wahren Ereignisse zu rekonstruieren: »Todos creyeron que el encuentro de los dos jugadores de ajedrez había sido casual. Esa frase deja entender que la solución es errónea. El lector, inquieto, revisa los capítulos pertinentes y descubre otra solución, que es la verdadera. El lector de ese libro singular es más perspicaz que el detective«, OC 1, S. 462, Hervorhebung im Original. Dem Leser fällt also die Aufgabe zu, die andere, die wahre Lösung zu entdecken, welche dem professionellen Auge des Detektivs entgangen ist.

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Jeglichen Versuchen diese Realität zu ordnen, wie beispielsweise die Historiographie mit Hilfe kausaler Erklärungsmuster unternimmt, weist Borges lediglich einen Konstruktcharakter zu. Die von Liddell Hart konstruierte, nomologische Erklärung wird durch eine komplexere Version ersetzt, deren Legitimation aufgrund der unglaubwürdigen Vermittlung jedoch auch, wie oben gezeigt, fragwürdig erscheint. Neben der Frage nach Kausalität/Kontingenz in der Geschichtsschreibung stellt die Erzählung »El jardín de senderos que se bifurcan« auch erneut die Problematik des Zeitbegriffes in den Vordergrund. Bereits in Bezug auf »Tema del traidor y del héroe« war auf Borges’ Beschäftigung mit der Möglichkeit einer zirkulären Zeit und der Existenz von wiederkehrenden Strukturen in der Geschichte hingewiesen worden. In »El jardín de senderos que se bifurcan« finden sich gleich drei verschiedene Konzeptionen von Zeit: Noch an einem linearen Zeitverlauf, an einem gleichmäßigen, unwiederbringlichen Fließen von Vergangenheit zur Zukunft orientiert zeigt sich Yu Tsun, der auf der Zugfahrt über seinen auszuführenden Mord nachdenkt: El ejecutor de una empresa atroz debe imaginar que ya la ha cumplido, debe imponerse un porvenir que sea irrevocable como el pasado. Así procedí yo, mientras mis ojos de hombre ya muerto registraban la fluencia de aquel día que era tal vez el último, y la difusión de la noche (OC 1, S. 474, Hervorhebung im Original).

Ebenfalls dieser »klassischen« Auffassung von Zeit als uniformem und unidirektionalem Fluss und der damit in Verbindung stehenden Geschichtsschreibung zuzuordnen ist die klassische Annalen-Geschichtsschreibung im Stile Tacitus’. So verwundert es auch nicht, dass ein Mitreisender Yu Tsuns im Zug eifrig die Annalen von Tacitus liest (ebd., S. 474). Darüber hinaus finden sich in der Kurzgeschichte auch Hinweise auf ein zirkuläres Zeitmodell bzw. auf parallele Strukturen in der Geschichte. Hierfür spricht neben den von Rimmon-Kenan154 und von Zepp155 analysierten Dopplungen in der Erzählung vor allem die Aussage Stephen Alberts in Bezug auf die Unendlichkeit von El jardín de senderos que se bifurcan, dem Roman von Yu Tsuns Vorfahr: »No

154 Rimmon-Kenan: »Doubles and Counterparts: ›The Garden of Forking Paths‹«, S. 185–92. 155 Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, S. 45–46.

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conjeturé otro procedimiento que el de un volumen cíclico, circular« (ebd., S. 477).156 Yu Tsuns Vorfahr dagegen wählt räumliche Beschreibungen für sein Verständnis von Zeit. Sein Zeitmodell lässt sich als organisch beschreiben. Für seine Familie lange unverständlich sprach er davon, ein Buch zu schreiben und ein Labyrinth zu bauen. Letzteres fand sich nach seinem Tode nie und das angekündigte Buch erwies sich als chaotisch und unverständlich. Erst dem Sinologen Albert gelingt es mit Hilfe eines Brieffragmentes das Rätsel zu lösen. Der sonderbare Roman ist das Labyrinth und gleichzeitig eine Parabel über die Zeit. Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist der Titel des chaotischen Romans. Ts’ui Pêns Versuch, ein unendliches Labyrinth zu bauen, war der Versuch, der zeitlichen Komplexität Herr zu werden und endete in besagtem Buch. Dieser Umstand wurde von seinen Nachfahren nicht erkannt, da sie in rein räumlichen statt in zeitlichen Kategorien dachten: Me detuve, como es natural, en la frase: Dejo a los varios porvenires (no a todos) mi jardín de senderos que se bifurcan. Casi en el acto comprendí; el jardín de senderos que se bifurcan era la novela caótica; la frase varios porvenires (no a todos) me sugirió la imagen de la bifurcación en el tiempo, no en el espacio (ebd., S. 477, Hervorhebung im Original).

Tatsächlich scheinen bildliche Vorstellungen wie die Zeitlinie, der Zeitpfeil, der Zeitraum usw. auf die Tendenz hinzuweisen, Zeit mit Begriffen des Raumes zu beschreiben.157 Auch der von Borges oft zitierte Oswald Spengler weist in seinem Werk Der Untergang des Abendlandes auf die Problematik der Zeit hin. »Aber was ist das – Zeit 156 Wie Valeriano Bellosta von Colbe herausgestellt hat, lassen sich jene drei unterschiedlichen Zeitebenen verschiedenen Personen der Erzählung zuordnen. Während der intradiegetische Erzähler Yu Tsun Anhänger des linearen, Newton’schen Zeitmodells ist, welches bereits seit der Antike durch den Ausspruch Heraklits versinnbildlicht wird, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, zieht Stephen Albert zunächst (wie bereits Ryan in »Tema del traidor y del héroe«) einen zyklischen Zeitverlauf in Betracht. Yu Tsuns Vorfahr Ts’ui Pên dagegen ist, wie gezeigt, Visionär einer sich verzweigenden Zeit. Vgl. Bellosta von Colbe, Valeriano: »Bifurcaciones y confluencias: Jorge Luis Borges en lingüística«, in: Grunwald, Susanne (Hrsg.): Passagen. Festschrift für Christian Wentzlaff-Eggebert, Sevilla 2004, S. 351–363, hier: S. 352–353. 157 Beck, Klaus: Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 74.

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als Strecke, Zeit ohne Richtung?« Seine Versuche, Zeit zu beschreiben, erinnern an die von Bergson beschriebene durée. Spengler setzt sich hier bewusst von den Versuchen ab, die Zeit mit Hilfe räumlicher Strukturen zu beschreiben und hebt ihren »organischen Charakter« hervor: Und »Zeit« – das, was man beim Klang des Wortes wirklich f ü h l t, was Musik besser verdeutlichen kann als Worte – hat im Unterschiede vom toten Raume diesen organischen Charakter. Damit aber verschwindet die von Kant und allen andern geglaubte Möglichkeit, die Zeit neben dem Raume einer parallelen erkenntnistheoretischen Erwägung unterwerfen zu können. Raum ist 158 ein Begriff. Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten […].

Borges wies eben so wie Bergson die Annahme, dass die Zeit eine Dimension des Raumes sei, zurück.159 So schreibt er in dem Essay »El tiempo y J.W. Dunne«: »Dunne es una víctima ilustre de esa mala costumbre intelectual que Bergson denunció: concebir el tiempo como una cuarta dimensión del espacio« (OC 2, S. 26). Die umgekehrte Betrachtungsweise schlägt er in »La penúltima versión de la realidad« vor: »el espacio […] [e]s uno de los episodios del tiempo y […] está situado en él, y no viceversa« (OC 1, S. 200). Die Schwierigkeit des Romans von Yu Tsuns Vorfahr besteht also darin, dass der Autor versucht hat, verschiedene Zeitstränge fiktional miteinander zu verknüpfen. Der Komplexität der Realität wird Ausdruck verliehen, indem die fiktionalen Charaktere angesichts verschiedener Möglichkeiten jeweils alle in Betracht kommenden wählen und somit verschiedene Schicksalsstränge durchleben, die sich jeweils wieder aufspalten: En todas las ficciones, cada vez que un hombre se enfrenta con diversas alternativas, opta por una y elimina las otras; en la del casi inextricable Ts’ui Pên, opta – simultáneamente – por todas. Crea, así, diversos porvenires, diversos

158 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte 1, München: Beck 1919, S. 172, Hervorhebung im Original. 159 Der Einfluss von Bergson und insbesondere seiner Konzeption von »dureé« auf diese Kurzgeschichte wird präzise dokumentiert von: O’Donnell, William E.: »›El jardín de senderos que se bifurcan‹ and Bergsonian Duration«, in: Scarlett, Elizabeth/Wescott, Howard B. (Hrsg.): Convergencias Hispanicas: Selected Proceedings and other Essays on Spanish and Latin American Literature, Film, and Linguistics, Statesboro: Juan de la Cuesta 2001, S. 171–179.

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tiempos, que también proliferan y se bifurcan. De ahí las contradicciones de la novela (ebd., S. 477 Hervorhebung im Original).

Diesem Erzählmodell liegt ein Verständnis von Zeit zugrunde, das verschiedene, parallel voneinander existierende Zeitreihen umfasst: A diferencia de Newton y de Schopenhauer, su antepasado no creía en un tiempo uniforme, absoluto. Creía en infinitas series de tiempos, en una red creciente y vertiginosa de tiempos divergentes, convergentes y paralelos. Esa trama de tiempos que se aproximan, se bifurcan, se cortan o que secularmente se ignoran, abarca todas las posibilidades (ebd., S. 479, Hervorhebung im Original).

Albert wählt auch hier räumliche Begriffe wie »Netz« (red) und »Knoten« (trama), um die Verbundenheit der verschiedenen Zeitreihen zu beschreiben und diese von der linearen, unidirektionalen Zeit Newtons abzugrenzen. Das Bild des Gartens und der sich verzweigenden Pfade betont den von Spengler beschriebenen organischen Charakter der Zeit. Durch die Linearität der Sprache gezwungen, dieses simultane Geschehen des Romans sukzessiv zu präsentieren, entsteht ein unverständlicher und widersprüchlicher Text.160 160 An die Möglichkeit eines bidirektionalen Zeitflusses knüpft auch Quains zweiter Roman in dem Text »Examen de la obra de Herbert Quain« an. Bereits der Titel seines Werkes, April March, verweist auf die von Borges in »Historia de la eternidad« vorgestellte Möglichkeit eines umgekehrten Zeitflusses von der Zukunft zur Gegenwart hin. Quain unternimmt den Versuch, eine regressive und gleichzeitig sich verzweigende Zeit erzähltechnisch umzusetzen. Er geht somit noch über das wahnwitzige Werk Ts’ui Pêns aus »El jardín de senderos que se bifurcan« und dessen sich verzweigende, überkreuzende, parallel verlaufende Erzählstränge hinaus. Der Reiz von April March liege nicht in der chronologischen sondern eben in der reversiblen Lektüre: »Quienes los leen en orden cronológico […] pierden el sabor peculiar del extraño libro. Dos relatos […] carecen de valor individual; la yuxtaposición les presta eficacia…« (OC 1, S. 463). Auch in The Secret Mirror, dem dritten Werk von Herbert Quain, weisen parallele Strukturen auf eine zyklisch verlaufende Zeit hin. The Secret Mirror ist eine Komödie in zwei Akten, wobei die Akteure des ersten Aktes im zweiten wieder erscheinen, jedoch mit anderen Namen: »La trama de los actos es paralela, pero en el segundo todo es ligeramente horrible, todo se posterga o se frustra« (ebd., S. 464). Die Geschehnisse des ersten Aktes spiegeln sich also in denen des zweiten, wobei eine Figur des zweiten Aktes als Verfasser des ersten Aktes bezeichnet wird. (ebd.) Eine Freud’sche Interpretation, wonach einer der beiden Akte Traumcharakter hätte, wird vehement ausgeschlossen (ebd.), sodass diese Überschreitung diegetischer Grenzen und die parallele Struktur der beiden Akte als weitere Infragestellung einer linearen Zeitstruktur interpretiert werden kann.

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Diese drei Auffassungen von Zeit entsprechen denjenigen, die Vilém Flusser dem mythischen, dem geschichtlichen und dem nachgeschichtlichen Dasein zuschreibt. So ist die kreisförmige Zeit kennzeichnend für das mythische Dasein, während sich das von Flusser als für das geschichtliche Dasein typische Denken durch eine kausale, auf die Zukunft ausgerichtete Zeit kennzeichne. Das nachgeschichtliche Dasein dagegen ist eine »Welt des absurden Zufalls«, in welcher Zeit und Raum nicht mehr voneinander getrennt gedacht werden können. In der Terminologie Flussers ließe sich das Szenario Yu Tsuns also als nachgeschichtlich beschreiben.161 Susanne Zepp analysiert den Einfluss der Einstein’schen Relativitätstheorie auf »El jardín de senderos que se bifurcan«.162 Sie sieht in dieser expliziten Abgrenzung vom Zeitmodell Newtons einen bewussten Hinweis auf das zugrunde liegende Modell Einsteins. Auch verweist sie auf die Namensgebung Stephen Alberts, welche sie als offensichtliche Anspielung auf Albert Einstein interpretiert. Dass dessen Theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerst populär war163 und Einstein auch 1925 in Argentinien weilte,164 scheint diese Interpretation zu unterstützen. In dem Essay »Historia de la eternidad« gibt Borges sogar einen direkten Hinweis auf die Relativitätstheorie, wenn er von »la reciente alarma relativista« (OC 1, S. 354) spricht. Der Entwurf einer sich verzweigenden Zeit geht jedoch noch darüber hinaus. »El jardín de senderos que se bifurcan« lässt sich auch als literarischer Vorreiter einer bis heute kontrovers diskutierten Frage der Quantenmechanik, der sogenannten »Viele-Welten-Interpretation« der Quantenmechanik lesen, welche in Weiterführung der zunächst 1957 von Hugh Everett III. vorgeschlagenen alternativen Deutung der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik von Bryan de Witt entwickelt wurde. De Witts Interpretation der Quantenmechanik, welche verschiedene, parallel existierende Realitäten beschreibt, veröffentlichte er 1973 in The Many-Worlds Interpretation of Quantum Physics. Im Epilog verweist de Witt auf die von Borges in »El jardín 161 Flusser, Vilém: Nachgeschichte: eine korrigierte Geschichtsschreibung (hrsg. von Bollmann, Stefan/Flusser, Edith), Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1997, S. 195. 162 Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, S. 48ff. 163 Albert Einstein hatte 1916 mit der Speziellen Relativitätstheorie die Newton’sche Vorstellung einer linearen, für alle Beobachter gleichen Zeit verworfen. 164 Vaccaro: Georgie (1899–1930), S. 376.

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de senderos que se bifurcan« beschriebene, sich verzweigende Zeit. Allen Thiher bezeichnet Borges folgerichtig als einen derjenigen Autoren, bei denen die Schnittstelle von Literatur und Wissenschaft bzw. Wissenschaftstheorie besonders prägnant in Erscheinung tritt.165 Es scheint, als zeige Borges mit Erzählungen wie »El jardín de senderos que se bifurcan«, dass es neben der rationalen, kausalen und linearen Geschichtsschreibung auch eine Geschichtsdarstellung gibt, welche eine »Zeit der Möglichkeiten« einschließt. Wahre Geschichte zeigt sich eben nicht – wie Borges schon in »El pudor de la historia« herausstellte – anhand politischer Daten und Fakten, wie sie in Liddells Harts Geschichtswerk zum Ersten Weltkrieg erfasst werden. Die schamhafte Geschichte ist in diesem Fall eine gänzlich auf Zufällen aufgebaute und offenbart sich im abenteuerlichen Bericht des Spions Yu Tsun.

6.8 »L A OTRA MUERTE «: V ERSIONENPLURALITÄT UND DIE P ARTIALITÄT DES Z EUGNISSES »La otra muerte«166 schließt an die bisherigen Analysen an, da auch hier ein linear verlaufendes Zeitmodell in Frage gestellt wird. Zum anderen rückt »La otra muerte« die Problematik von Augenzeugenbe-

165 Thiher, Allen: Fiction refracts Science. Modernist Writers from Proust to Borges, Columbia/London: University of Missouri Press 2005, inbesondere S. 238–245. Für einen ebenso konzisen wie inspirierenden Einblick in Grundannahmen der Quantenmechanik, die Viele-Welten-Theorie und deren narrative Vorwegnahme durch Jorge Luis Borges siehe: Baulch, David M.: »Time, Narrative, and the Multiverse: Post-Newtonian Narrative in Borges’s ›The Garden of the Forking Paths‹ and Blake’s Vala or the Four Zoas«, in: The Comparatist. Journal of the Southern Comparative Literature Association 27 (2003), S. 56–78. Bezüglich einer möglichen Zuordnung von »El jardín de senderos que se bifurcan« zum Genre der Science Fiction siehe: Cano, Luis C.: Intermitente recurrencia: la ciencia ficción y el canon literario hispanoamericano, Buenos Aires: Corregidor 2006, insbesondere S. 190–209. 166 Die Erzählung erschien erstmalig am 09.01.1949 in La Nación unter dem Titel »La redención« bevor sie dann 1949 unter dem Titel »La otra muerte Bestandteil von El Aleph wurde.

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richten und damit der Zuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses in den Vordergrund.167 Der Erzähler von »La otra muerte« erhält eingangs einen Brief seines Freundes Patricio Gannon, in welchem dieser ihm die baldige Zusendung seiner Übersetzung des Gedichts The Past von Ralph Waldo Emerson ankündigt und ihm vom Tod Don Pedro Damiáns berichtet, der in einem Delirium noch einmal die blutige Schlacht von Masoller durchlebt habe, in der er als neunzehn- oder zwanzigjähriger tapfer gekämpft hatte. Der Erzähler erinnert sich daran, diesen einmal persönlich getroffen zu haben. Angeregt durch die Todesumstände von Pedro Damián beschließt der Erzähler, eine phantastische Geschichte darüber zu schreiben und wendet sich auf Anraten eines Freundes an Dionisio Tabares, der als Oberst an diesem Feldzug teilgenommen habe. Im Gespräch mit diesem stellt er fest, dass er seine idolisierte Sichtweise von Damián revidieren muss, denn Tabares behauptet, dieser sei ein Feigling gewesen, der in der Schlacht von Masoller versagt habe. Der Erzähler ist darob enttäuscht, wendet sich aber kurze Zeit später erneut an Tabares, da ihm noch Details für seine Erzählung fehlen. Dieses Mal trifft er ihn in Begleitung von Juan Francisco Amaro, der ebenfalls in Masoller gekämpft hatte. Erneut kommt das Gespräch auf die Kriegsgeschehnisse, aber zur Überraschung des Erzählers stellt Amaro Damián als Helden dar, der einen Tod gestorben sei, »como querría morir cualquier hombre« (OC 1, S. 573). Tabares dagegen vermag sich nicht mehr an Damián zu erinnern. Auch als der Erzähler wenig später seinen Freund Gannon wiedertrifft, kann sich dieser weder an die angekündigte Übersetzung noch an die Mitteilung des Todes Damiáns erinnern, den er im Übrigen überhaupt nicht kenne. Weitere Tatsachen erstaunen den Erzähler: Er bekommt eine Karte von Tabares, in der sich dieser plötzlich wieder an Damiáns Heldentod erinnert. Als der Erzähler an den Ort fährt, wo Damián gelebt hatte,

167 Marta Inés Waldegaray unterzieht »La otra muerte« und »El milagro secreto« einer komparativen Studie in Bezug auf ihr Verhältnis auf Literatur und Geschichte, da beiden ein historisches Datum als Ausgangspunkt diene. Wenngleich diese Beobachtung nicht nur auf diese beiden Erzählungen zutrifft, so skizziert Waldegaray doch überzeugend einige Parallelen dieser beiden Erzählungen in Bezug auf das darin thematisierte Verhältnis von Literatur und Geschichte, vgl. Waldegaray, Marta Inés: »›La otra muerte‹ y ›El milagro secreto‹: relaciones entre literatura e historia«, in: Variaciones Borges 17 (2004), S. 187–197.

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erinnert sich dort keiner mehr an ihn, seine Hütte existiert nicht mehr und der Hauptpächter Abaroa, der ihn sterben sah, ist vor kurzem verstorben. Beim Durchblättern eines Photoalbums schließlich stellt der Erzähler plötzlich fest, dass das Antlitz, das er jahrelang mit Damián verbunden hatte, in Wirklichkeit das des Tenors Tamberlick in der Rolle des Othello ist. Nun stellt der Erzähler Mutmaßungen an, wie diese Ungereimtheiten zu erklären seien: • Es gibt zwei Pedro Damiáns. Dies erklärt jedoch nicht die merkwürdig schwankenden Gedächtnisleistungen der beteiligten Personen, zudem verwirft der Erzähler sie als wenig befriedigend. Die Möglichkeit, dass er Teile dieser verwirrenden Geschichte geträumt haben könne, schließt er aus. • Eine Freundin des Erzählers namens Ulrike von Kühlmann schlägt eine übernatürliche Lösung vor. Damián habe Gott um Rückkehr auf die Erde gebeten, der ihm den Wunsch erfüllte und als Schatten zurücksandte. • Nachdem er beide Lösungen verworfen hat, konstruiert der Erzähler eine eigene, nicht minder metaphysische Version, auf die ihn ein Traktat des Theologen Pier Damiani gebracht habe. Demnach sei Damián tatsächlich als Feigling aus der Schlacht zurückgekehrt, habe aber sein ganzes Leben darauf gewartet, noch einmal die Chance zu bekommen, seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Diese kam dann im Moment seines Todes, und im Fieberwahn durchlebte er noch einmal die Schlacht, verhielt sich wie ein Held und starb dann 1946, »por obra de una larga pasión« (ebd., S. 575), in der Schlacht von Masoller, die 1904 stattfand. Nachdem der Erzähler diese These vorgestellt hat, zieht er jedoch das bisher Gesagte in Zweifel und verweist auf die Namensgleichheit des Theologen Pier Damiani und des verstorbenen Pedro Damián. Vielleicht existiere letzterer gar nicht oder unter anderem Namen. Vielleicht sei es jedoch auch genau so, wie er es dargestellt habe und dann wäre dies ein »proceso no accesible a los hombres, una suerte de escándalo de la razón« (ebd.). Die zentrale Frage, die diese Geschichte aufwirft, ist also die nach der Möglichkeit, historisches Geschehen nachträglich zu verändern. Die Geschichte entwickelt sich dabei zwischen zwei konträren Ansichten darüber. Direkt im ersten Satz wird das Gedicht The Past von Emerson angesprochen. In diesem thematisiert Emerson die Unabwandelbarkeit der Geschichte:

182 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE The debt is paid, / The verdict said, / The Furies laid, / All fortunes made; / Turn the key and bolt the door, / Sweet is death forevermore. / No haughty hope, nor smart chagrin, / No murdering hate, can enter in. / All is now secure and fast; / 168 Not the gods can shake the Past.

Im Gegensatz dazu erklärt der Erzähler später, der Theologe Pier Damiani (1007–1072)169 habe ihn zu der Schlussfolgerung gebracht, die er letztendlich zieht. Pier Damiani beschäftigte sich in seiner theologischen Abhandlung De Divina Omnipotentia (1067) mit der Frage, ob Gott es vermöge, die Vergangenheit abzuändern. Verdeutlicht am Beispiel einer Jungfrau, die ihre Unschuld verloren hat, stellt er die These auf, Gott könne die Unversehrtheit der Frau wieder herstellen, wenn diese sich nur inständig genug der Religiosität zuwende und um Vergebung ihrer Sünden bitte.170 Es stehen sich hier also in Form von Emerson und Damiani eine objektive, unabänderliche Vergangenheit und eine subjektive, wandelbare, temporäre Vergangenheit gegenüber. Das Wunder dieser Erzählung liegt darin, dass Damían aufgrund göttlicher Intervention 1946 in der Schlacht von Masoller, die 1904 stattfand, den Heldentod findet. Da jedoch jede noch so kleine Änderung der Vergangenheit einen massiven Eingriff in die Kausalkette (»la intricada concatenación de causas y efectos«, ebd. S. 575) bedeutet, entstehen die Unstimmigkeiten, auf die der Erzähler bei seinen Nachforschungen stößt: Modificar el pasado no es modificar un solo hecho; es anular sus consecuencias, que tienden a ser infinitas. Dicho sea con otras palabras; es crear dos historias universales. En la primera (digamos), Pedro Damián murió en Entre Ríos, en 1946; en la segunda, en Masoller, en 1904. Ésta es la que vivimos ahora, pero la supresión de aquélla no fue inmediata y produjo las incoherencias que he referido (ebd.).

Die Universalgeschichte beruht auf kausalen Verflechtungen. Wird in der Vergangenheit eine Änderung vorgenommen, führt dies zu einer Aufsplitterung der Kausalketten und damit zu zwei (oder mehr) Universalgeschichten. Im Gedächtnis des Oberst Tabares überlagern sich beide Geschichten, daraus resultieren die Gedächtnisschwankungen.

168 Zitiert nach: Bell-Villada: Borges and his fiction: a guide to his mind and art, S. 199. 169 Alazraki gibt als Geburtsjahr Damianis 988 an. Vgl. Alazraki: La prosa narrativa de Jorge Luis Borges, S. 25. 170 Fishburn/Hughes: Un diccionario de Borges, S. 68–69.

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Damit eröffnet Borges die Möglichkeit nicht einer einzigen Zeitlinie sondern verschiedener. Mark Mosher weist auf Parallelen dieser Erzählung und Ergebnissen der Neuen Physik hin.171 So sieht er in »La otra muerte« insbesondere Überschneidungen mit den von Richard Feynman und John A. Wheeler in den 40er und 50er Jahren durchgeführten Versuchen zur isotropen Zeit, welche zu bestätigen scheinen, dass vergangene Photonenbewegungen durch gegenwärtige Dispositionen beeinflusst werden können. Dies bedeutet, dass es physikalisch möglich ist, die Vergangenheit zu modifizieren. In der 1978 gehaltenen Vorlesung »El tiempo« greift Borges den Gedanken parallel existierender Zeiten unter Verweis auf den Metaphysiker Bradley erneut auf: La idea es que cada uno de nosotros vive una serie de hechos, y esa serie de hechos puede ser paralela o no a otras. ¿Por qué aceptar esa idea? Esa idea es posible; nos daría un mundo más vasto, un mundo mucho más extraño que el actual. La idea de que no hay un tiempo (OC 4, S. 204).

Borges fügt hinzu, dass dies von der jüngeren Physik wohl auch aufgegriffen worden sei (»Creo que esa idea ha sido en cierto modo cobijada por la física actual, que no comprendo y que no conozco«, ebd.). Auch wenn Borges behauptet, die Erkenntnisse der Neuen Physik nicht zu verstehen, so zeigt sich jedoch in Erzählungen wie »El jardín de senderos que se bifurcan« und »La otra muerte«, dass Borges nicht nur deren Annahmen bezüglich der Viele-Welten-Theorie sondern auch die phantastisch anmutenden Erkenntnisse zur isotropen Zeit vorab narrativ durchspielte. Dass diese Gedankenexperimente jedoch auch Relevanz für die Geschichtsschreibung haben, zeigen die Überlegungen des Erzählers, der zu Beginn der Erzählung die historischen Fakten nutzen will, um eine phantastische Erzählung zu schreiben. Dieses anfänglich geplante Vorhaben, eine phantastische Erzählung über die Ereignisse von Masoller zu schreiben, gerät zwischendurch ins Stocken, die Erzählung entzieht sich einer narrativen Gliederung: »mi relato fantástico (que torpemente se obstinaba en no dar con su forma)« (OC 1, S. 572). Am Ende ist er sich nicht sicher, ob er eine phantastische Kurzgeschichte oder eine historische Erzählung verfasst haben wird: »Hacia 1951 171 Mosher, Mark: »Atemporal Labyrinths in Time: J.L. Borges and the New Physicists«, in: Symposium. A Quarterly Journal in Modern Foreign Literatures 48, 1 (1994), S. 51–61.

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creeré haber fabricado un cuento fantástico y habré historiado un hecho real« (ebd, S. 575). Die Möglichkeit einer Ko-existenz beider Geschichten wird von Beginn an vorausgesetzt, verweist doch bereits der Titel der Erzählung, »La otra muerte«, auf die Möglichkeit einer sich verzweigenden Zeit, auf die Möglichkeit zweier verschiedener Lebensstränge Damiáns. Diese vom Erzähler rekonstruierte »counterhistory« stellt jedoch einen Bruch mit den Gesetzen der Kausalität dar – »una suerte de escándalo de la razón« (ebd.). Durch die Vermutung, in der Zukunft könne »fabricar un cuento fantástico« und »historiar un hecho real« ununterscheidbar werden, legt der Erzähler hier nahe, dass auch die (phantastische) Literatur die Funktion übernehmen kann, historische Ereignisse zu schildern. Eben diese Funktion weist Sylvia Molloy der phantastischen Literatur in Lateinamerika zu. Sie geht dabei von dem Befund aus, dass die lateinamerikanische Historiographie schon von Beginn an das am wenigsten gefestigte Genre gewesen sei. Dabei bezieht sie sich auf die oben dargestellten Debatten um die Legitimation von Historiographie und deren Abgrenzung von der Fiktion: De todos los géneros cultivados, a la vez que cuestionados, en las letras hispanoamericanas, acaso la historiografía sea el menos estable. Ya lo decían los debates decimonónicos sobre historia y ficción, sobre historia y biografía, sobre historia y propaganda. Recuérdense las acerbas páginas que Alberdi dirige contra la historiografía de Mitre, las preocupaciones historiográficas de un Sarmiento al escribir su autobiografía, o las elucubraciones de Vicente Fidel 172 López sobre los límites de la historia y de la ficción.

Im Anschluss stellt sie die Frage nach den Selektionsmechanismen der Historiographie, nach den Prozessen, die darüber entscheiden, was erzählt wird und was unerzählt bleibt. Da in Lateinamerika im 19. Jahrhundert das Schreiben der Geschichte eng mit dem Nationalbildungsprozess verbunden gewesen sei, seien viele Bereiche von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossen worden. Daher dränge sich die Frage auf: »Qué no se cuenta en la historia, qué se deja de lado y se reprime, y qué vías escoge lo reprimido […] para manifestarse y ser dicho, para des-contar la historia oficial«.173 Wenn Borges in »El fin« behauptet, dass revisionistische Ende des Martín Fierro sei 172 Molloy, Sylvia: »Historia y fantasmagoría«, in: Morillas Ventura, Enriqueta (Hrsg.): El relato fantástico en España e Hispanoamérica, Madrid: Ediciones Siruela 1991, S. 105–112, hier: S. 105. 173 Ebd., Hervorhebung im Original.

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diesem bereits eingeschrieben, so lässt sich – mit Molloy – behaupten, dass auch jedwede Geschichte immer schon ihre Gegen-Geschichte beinhaltet. Molloy sieht nun aber gerade nicht (nur) im historischen Roman die alleinige Möglichkeit, diese »dark areas of history« auszuleuchten, sondern insbesondere sei die phantastische Literatur dazu geeignet: Lo fantástico, género mal llamado de evasión, permite volver sobre la historia una mirada inquisidora. Es una manera de expresar nuestra inquietud hacia el pasado, una vía alternativa para contar la historia. En su reversión del tiempo cronológico, en su afantasmamiento de personajes y en su básica duplicidad narrativa el relato fantástico se presta a tal ejercicio.174

So gelingt es dem Erzähler mit Hilfe phantastischer Zeitexperimente (die später jedoch von der Neuen Physik als realistisch bestätigt wurden) eine zweite, inoffizielle Geschichte von Damián zu rekonstruieren. Molloys Überlegungen sind äußerst interessant in Bezug auf Erzählungen wie »La otra muerte«, die tatsächlich eine phantastische Lesart erlauben. Jedoch bezieht sie auch »Tema del traidor y del héroe« in ihre Argumentation mit ein, wobei gerade diese Erzählung weniger phantastische Elemente zu beinhalten scheint, vielmehr durch ihre zahlreichen meta-historischen und meta-historiographischen Reflexionen dem Genre der historiographischen Metafiktion zugeordnet werden kann. Zumal die Aufhebung der chronologischen Zeit, welche Molloy oben als charakteristisch für die phantastische Literatur anführt, in »Tema del traidor y del héroe« ja nicht auf Diskursebene suggeriert wird, sondern von der diegetischen Figur Nolan durch eine bewusste Umschreibung der Geschichte inszeniert wird. Es stellt sich ferner die Frage, ob die »básica duplicidad narrativa« wirklich nur für die sogenannte phantastische Literatur kennzeichnend oder nicht zumindest bei Borges ein konstitutives Merkmal seiner Literatur ist. Wie er in den eingangs vorgestellten Essays darlegt, gibt es immer eine »realidad más compleja«, auf die die Literatur lediglich verweisen kann, die sich aber der direkten Darstellung entzieht. Auch in der Geschichte gibt es immer die schamhaften Daten, die der offiziellen Geschichtsschreibung entgleiten. Eva Horn liest Borges’ Erzählungen als eine Poetik des Verrats, da sie ein Narrativ darstellten, welches um ein Geheimnis herum organisiert sei, und vorsichtig und misstrauisch gelesen werden müssten: 174 Ebd., S. 107.

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»Geschichte, dafür ist Borges der wohl luzideste Gewährsmann, ist die Arbeit am Geheimen«.175 Für Horn stellt die Fiktion die einzige Möglichkeit dar, in der Moderne über geheime Vorgänge zu sprechen. Denn gerade weil die Fiktion nicht den Wahrheitsanspruch anderer Diskursformen wie bspw. der Geschichtsschreibung habe, könne sie von Geheimnissen sprechen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, die Geheimnisse lüften zu können oder zu wollen: Sie [die Fiktion, C.R.] exploriert mögliche Versionen eines Ereignisses, aber verfällt nicht der Illusion einer abschließenden Lösung. Fiktion analysiert Geheimnisse, sie ist fähig, ihre Struktur zu durchleuchten, gerade weil sei deren Logik, ihre diffizile und rätselhafte Ökonomie von Hell und Dunkel, Präsen176 tiertem und Verborgenem nicht aufbricht, sondern nachvollzieht.

Eva Horns Lesart ermöglicht, Borges’ Texte jenseits einer rigiden Gattungseinteilung zu lesen. Sie negiert nicht die phantastischen Anteile in seinem Erzählwerk, sieht diese jedoch gerade nicht – wie so häufig in der Sekundärliteratur geschehen – als Gegensatz zur Realität177 sondern als Ausstellung einer alternativen, ebenso möglichen Wirklichkeit.178 In »La otra muerte« erfolgt eine ausgeprägte Auseinandersetzung mit der Rolle des Gedächtnisses und damit indirekt mit der Historiographie. Die schwankenden Gedächtnisleistungen der Beteiligten, denen nicht nur der Erzähler sondern auch der Leser der Erzählung ratlos gegenüber stehen, evozieren eben jenes Zögern, welches charakteristisch ist für die phantastische Literatur nach der Definition Todórovs.179 In »La otra muerte« erweist sich das Gedächtnis sowohl auf Erzählebene als auch auf Geschichtsebene als trügerisch. Auch hier handelt es sich wieder um einen Erzähler, dessen Rekonstruktion der Ereignisse zahlreiche Schwächen offenbart. So weiß er zwar noch den 175 Horn: Der geheime Krieg, S. 49. 176 Ebd., S. 11. 177 Auch Horn verweist beispielhaft auf Bell-Villada stellvertretend für die vorherrschende Linie in der Sekundärliteratur, welche Borges’ Texte als »literature of unreality« interpretiert, ebd., S. 49. 178 Ebd., S. 50. 179 Seine zunehmende Verunsicherung thematisiert der Erzähler wie folgt: »Con un principio de terror advertí que me oía con extrañeza, y busqué amparo en una discusión literaria […]« ebd., S. 573. Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a.M.: Ullstein 1975.

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Ort, aus dem ihm Gannon besagten Brief schickt, in dem er vom Tod Damiáns berichtet, aber spekuliert nur vage über die Jahre, die seitdem vergangen sind: Un par de años hará (he perdido la carta), Gannon me escribió de Gualeguaychú, anunciando el envío de una versión, acaso la primera española, del poema The Past, de Ralph Waldo Emerson, y agregando en una posdata que don Pedro Damián, de quien yo guardaría alguna memoria, había muerto noches pasadas, de una congestión pulmonar (OC 1, S. 571).

Die lapidar klingende Bemerkung »de quien yo guardaría alguna memoria« steht dabei in Kontrast zu der darauf folgenden, recht genauen Darstellung des Lebens Damiáns, in der er mit Jahreszahl-, Ortsangaben und der Schilderung der politischen Umstände kurz das Leben Damiáns umreißt. Dann erinnert er sich daran, dass er einmal Damián persönlich traf und diesen für nicht sonderlich aufgeweckt hielt. Direkt im Anschluss daran jedoch versucht er sich Damiáns Aussehen in Erinnerung zu rufen und scheitert. Dies führt er auf sein schlechtes visuelles Gedächtnis zurück. Er merkt an, dass er eine Photographie von ihm besessen habe, die ebenfalls Gannon ihm geschickt habe. Ebenso wie besagten Brief hat er diese jedoch verloren, was bedeutet, dass es keinerlei materielle Erinnerung an Damián gibt.180 Die folgenden Versuche, das Leben und Sterben des Pedro Damián zu rekonstruieren, basieren also gänzlich auf dem Gedächtnis derer, die ihn gekannt haben. Das individuelle Gedächtnis erweist sich an dieser Stelle jedoch als völlig ungeeignetes Gedächtnismedium. Ricœur sieht in der Spur, welche letztendlich in der Zeugenaussage mündet, die Legitimation, Historiographie und Literatur trotz gegenseitiger Anleihen im Hinblick auf ihren Referenzstatus entschieden vonein180 Zur Materialität der Spuren, die Damían hinterlassen hat und ihrer schrittweisen Devaluierung durch Vergessen, Verlieren oder sich widersprechenden Zeugenaussagen und den daraus resultierenden Spekulationen seitens des Erzählers siehe auch Waldegaray: »›La otra muerte‹ y ›El milagro secreto‹: relaciones entre literatura e historia, S. 188–189. Den begrenzten Wert der Photographie für die Erinnerung in W.G. Sebalds Roman Austerlitz untersucht Alexandra Tischel. Der Aufsatz bietet jedoch darüber hinaus einen konzisen Überblick über die möglichen Rollen der Photographie in der Fiktion: Tischel, Alexandra: »Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W.G. Sebalds Austerlitz«, in: Öhlschläger, Claudia/Niehaus, Michael (Hrsg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006 (Philologische Studien und Quellen 196), S. 31–46.

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ander abzugrenzen. Da jedoch die Zeugenaussagen äußerst widersprüchlich sind, scheinen die Spekulationen, die der Erzähler anstellt, nicht realer als die phantastische Kurzgeschichte, zu der der Erzähler angeregt wurde. In »La otra muerte« wird jedoch nicht nur auf der Diskursebene durch einen unzuverlässigen Erzähler auf die Problematik des Gedächtnisses verwiesen, sondern auch auf Geschichtsebene. Erinnerung wird in »La otra muerte« auf vielfältige Weise thematisiert. So befürchtet der Erzähler, die Erinnerungen von Oberst Tabares hätten sich vielleicht schon verselbstständigt: Er reflektiert nach der ersten Unterhaltung mit ihm: Lo hizo con períodos tan cabales y de un modo tan vívido que comprendí que muchas veces había referido esas mismas cosas, y temí que detrás de sus palabras casi no quedaran recuerdos (ebd., S. 572).

Er selbst räumt ein, dass seine Erinnerung an Damián von Idolisierung geprägt sei, da er aus der Erinnerung an die Unterhaltung, die er einst mit Damián führte, ein heroisches Bild von diesem konstruiert habe. Die »Version« von Tabares missfällt ihm daher: Absurdamente, la versión de Tabares me avergonzó. Yo hubiera preferido que los hechos no ocurrieran así. Con el viejo Damián, entrevisto una tarde, hace muchos años, yo había fabricado, sin proponérmelo, una suerte de ídolo; la versión de Tabares lo destrozaba (ebd.).

Als sich Tabares bei der zweiten Begegnung plötzlich nicht mehr an Damián erinnert, versuchen der Erzähler und der ebenfalls anwesende Amaro bewusst eine Gedächtnisleistung hervorzubringen, was misslingt: »No pudimos lograr que lo recordara« (ebd., S. 573). Amaro dagegen erinnert sich an den Soldaten Damián, der einen Heldentod gestorben sei. Er hat das Bild des sterbenden Damián vor Augen, der von einer Kugel getroffen vom Pferd fiel. In einem Interview räumt Borges allerdings ein, dass diese Erinnerung Amaros unmöglich ist: And the colonel also remembers an unreal detail that is worked in on purpose – he remembers that the man got a bullet wound through the chest. Now, of course, if he had been wounded and fallen off his horse, the other wouldn’t 181 have seen where he was wounded.

181 Burgin, Richard/Borges, Jorge Luis: Jorge Luis Borges: Conversations, Mississippi: University of Mississippi 1998, S. 26.

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Auch dies stellt also einen – wenn auch äußerst spitzfindigen – Hinweis auf die Manipulierbarkeit und Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses dar. Ein weiterer, wenn auch versteckter Hinweis auf die trügerische Kraft der Erinnerung verbirgt sich hinter jenen Gesichtszügen, die der Erzähler in seiner Erinnerung Damián zugeordnet hatte. Später dann findet er heraus, dass sie in Wirklichkeit die des Tenors Tamberlick in der Rolle des Othello sind. Bell-Villada weist darauf hin, das dies eine historische Unmöglichkeit ist, da sich der (reale) Tenor Tamberlick bereits 1878 von der Bühne verabschiedete. Die Uraufführung des Othello war dagegen erst 1887, nur knapp zwei Jahre vor dem Tod Tamberlicks. Ebenso wie Tamberlick sicherlich in der Lage gewesen wäre, den Othello zu singen, wäre er nicht schon zu alt gewesen, hätte Damián nur eine zweite Gelegenheit gebraucht, seinen Mut unter Beweis zu stellen, und seine Biographie hätte eine gänzlich andere Wendung bekommen.182 Weitere Zeugen verlieren plötzlich ihr Gedächtnis und machen deshalb eine Überprüfung der Hypothesen des Erzählers unmöglich: An seinem Wohnort erinnert sich keiner an ihn, seine Wohnstätte ist nicht mehr vorhanden. Sein Freund Gannon erinnert sich nicht mehr daran, ihm jene Übersetzung von Emerson angekündigt zu haben und behauptet, nie von Damián gehört zu haben. Verunsichert von dieser Wendung geht der Erzähler in einen historiographisch anmutenden Erzählduktus über »Algunos hechos más debo registrar« und zählt die verschiedenen Hypothesen auf. Ein Übermaß an Gedächtnis wird dabei dem Hauptpächter Abaroa zum Verhängnis: Dieser stirbt, so die These des Erzählers, weil seine Erinnerungen an Damián mit der vorherrschenden Geschichte, in welcher dieser 1904 in der Schlacht starb, kollidieren: »No menos corroborativo es el caso del puestero Abaroa; éste murió, lo entiendo, porque tenía demasiadas memorias de Don Pedro Damián« (ebd. S. 575). Durch das Versagen der Augenzeugen wird in »La otra muerte« das historische Zeugnis in Frage gestellt. Es lässt sich nicht klären, wie der Lebensweg von Pedro Damián verlaufen ist, wann er gestorben ist, und ob Damián nun ein Held oder ein Feigling gewesen ist. Es gelingt

182 Vgl. Bell-Villada: Borges and his fiction: a guide to his mind and art, S. 200–201. Dies lässt sich als erneuter Hinweis auf die Vielzahl möglicher Biographien eines Menschen lesen, welche Borges bereits in dem Essay »Sobre el Vathek de William Beckford« und in verschiedenen anderen Texten skizzierte.

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also nicht, Damián eine eindeutige Identität zuzuweisen. Auf dieses Problem macht der Erzähler aufmerksam, wenn er erneut auf die theologische Quelle seiner Erzählung hinweist: »De un modo casi mágico la descubrí en el tratado De Omnipotentia, de Pier Damiani, a cuyo estudio me llevaron dos versos del Canto XXI del Paradiso, que plantean precisamente un problema de identidad« (ebd., S. 574).183 Ausgehend von der Erzählung »La memoria de Shakespeare« konstatiert Piglia eine allgegenwärtige Thematisierung des Gedächtnisses bei Borges: Los grandes relatos de Borges giran sobre la incertidumbre del recuerdo personal, sobre la vida perdida y la experiencia artificial. La clave de este universo paranoico no es la amnesia y el olvido, sino la manipulación de la memoria y 184 de la identidad.

Piglia macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass diese Fokussierung auf die Möglichkeiten der Manipulation von Gedächtnis und damit Identität – wie sie auch bei »La otra muerte« zur Sprache kamen – eine politische Dimension von Borges’ Erzählungen eröffnet. So habe die Massenkultur zu einer Auflösung des Subjektes geführt, in der Erinnerungen nicht mehr dem Einzelnen zuschreibbar sind: La cultura de masas (o mejor sería decir la política de masas) ha sido vista con toda claridad por Borges como una máquina de producir recuerdos falsos y experiencias impersonales. Todos sienten lo mismo y recuerdan lo mismo y lo 185 que sienten y recuerdan no es lo que han vivido.

Dies ist genau die Erfahrung, die der Erzähler in »La otra muerte« macht, der sich nicht sicher ist, ob Oberst Tabares sich nun an Damián wirklich erinnert oder nur glaubt, dies zu tun, und auch er selber muss 183 Borges diskutiert das Problem der persönlichen Identität an anderer Stelle eingebettet in die Frage nach dem Wesen der Zeit, nämlich in dem Essay »El tiempo«. Er wirft dort die Frage auf, wie etwas, das zugleich dauert als auch vergeht, eine Identität entwickeln kann. Wichtig für die persönliche Identität sei demnach nicht etwa, in welchem Land man gelebt habe, sondern die Tatsache, dass Identitätszuweisung einem stetigen Wandel unterliegt: »No es necesario que yo recuerde, por ejemplo, para ser quien soy, que he vivido en Palermo, en Adrogué, en Ginebra, en España. Al mismo tiempo, yo tengo que sentir que no soy el que fui en esos lugares, que soy otro. […] Ése es el problema que nunca podremos resolver: el problema de la identidad cambiante« (ebd.). 184 Piglia, Ricardo: Formas breves, Barcelona: Anagrama 22001, S. 51. 185 Ebd.

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einräumen, dass seine Erinnerung vielleicht getrübt ist durch den Wunsch, Damían möge heldenhafter gewesen sein, als er es in Wirklichkeit war. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die in diesem Kontext wohl bekannteste Erzählung Borges’ zu sehen: »Funes, el memorioso«. Bekanntlich bereitet dem Protagonisten nicht etwa sein schwankendes oder fehlendes Gedächtnis Probleme, sondern es ist die Überfunktion, die Unmöglichkeit, das Erinnerte sprachlich zu repräsentieren. Auch Ricœur erwähnt diesen wohl berühmtesten Mnemopathen der Literatur, er bezeichnet ihn als ein Gespenst von Gedächtnis.186

186 Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 634. Funes führt die notwendige Reduktion und Selektion des Historikers vor Augen, scheitert doch sein Versuch, seine vollständigen Erinnerungen vollständig wiederzugeben. Denn trotz der geforderten Gedächtnispflicht erweist sich der Wahn vollständiger Ausschöpfung als konträr zu dem Vorhaben, Geschichte zu machen. Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 617. Aufgrund der breiten Auseinandersetzung in der Sekundärliteratur mit der Kurzgeschichte »Funes el memorioso« soll hier diese Fragestellung nicht weiter vertieft werden. Exemplarisch für die Diskussion dieser Frage verweise ich auf: Lachmann, Renate: »Gedächtnis und Weltverlust. Borges’ memorioso – mit Anspielungen auf Lurijas Mnemonisten«, in: Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern, München: Wilhelm Fink 1993, S. 429–519. Einen interessanten Beitrag zu diesem Thema bietet auch Jan-Henrik Witthaus, der die Rolle des Gedächtnisses bei Borges mit der Metapher der Archäologie in Verbindung bringt: Witthaus, Jan-Henrik: »Fehlleistung und Fiktion. Sebaldsche Gedächtnismodelle zwischen Freud und Borges«, in: Niehaus, Michael/Öhlschläger, Claudia (Hrsg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006 (Philologische Studien und Quellen 196), S. 157–172. Zur Bedeutung des Gedächtnisses für die Geschichtswissenschaft siehe außer Ricœur auch Welzer, Harald (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg: Hamburger Edition 2001 und z.B.: Motzkin, Gabriel: »Zeit, Gedächtnis, Theorie«, in: Oesterle, Günter (Hrsg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005 (Formen der Erinnerung 26), S. 53–68 sowie Sandl, Marcus: »Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung«, in: Oesterle: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, S. 89–120. Zur Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Debatte siehe: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004 (Media and Cultural Memory/Medien und kulturelle Erinnerung 2).

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6.9 »E MMA Z UNZ «: I NTERPRETATION

UND

P ERFORMANZ

Ebenso wie bei »Tema del traidor y del héroe« werden in der Kurzgeschichte »Emma Zunz« Ereignisse manipuliert, um einen bestimmten Lauf der Geschichte zu bewirken. Die Kurzgeschichte wurde erstmals 1948 in Sur veröffentlicht und erschien 1949 im Erzählband El Aleph. Protagonistin ist die achtzehnjährige Fabrikarbeiterin Emma Zunz, die durch einen Brief erfährt, dass Manuel Maier in Brasilien an einer Überdosis Schlafmittel gestorben sei. Obwohl der Brief unpersönlich und vage formuliert zu sein scheint und Emma den Absender nicht kennt, schließt sie aus den Informationen unmissverständlich, dass ihr Vater Selbstmord begangen habe. Auch die Motivation ist für sie eindeutig. Ihr Vater habe sich umgebracht, da er die Schande als Betrüger zu gelten, nicht länger ertragen habe. Sechs Jahre zuvor war er angeklagt worden, als Kassierer in der Fabrik, in der auch Emma heute arbeitet, Geld unterschlagen zu haben. Um der Schande und der Strafe zu entgehen, war er nach Brasilien geflüchtet und hatte eine neue Identität angenommen. In der letzten Nacht vor der Flucht jedoch habe er seiner Tochter Emma geschworen, der wahre Betrüger sei nicht er, sondern Aaron Loewenthal, damaliger Geschäftsführer der Fabrik und heute einer der Eigentümer und somit Emmas Chef. Emma hatte das Geheimnis bis dato gehütet, nun jedoch soll die erlittene Schande ihres Vaters gerächt und Loewenthal bestraft werden. In einer schlaflosen Nacht entwirft Emma einen Plan. Den nächsten Tag verbringt sie routinemäßig. Erst am darauf folgenden Tag beginnt ihre Inszenierung der Ereignisse. Sie ruft Loewenthal an und gibt sich als Denunziantin aus, die ihm nach Dienstschluss Informationen über einen geplanten Streik übermitteln wolle. Am Nachmittag geht sie in den Hafen, in dem ein norwegisches Schiff ankert, welches noch am selben Abend ablegen wird. Sie wählt einen skandinavischen Matrosen aus, da dieser des Spanischen nicht mächtig ist und am selben Abend die Stadt verlassen wird und gibt sich als Prostituierte aus. Dabei entscheidet sich Emma, die bis dato keinerlei Kontakte zum männlichen Geschlecht hatte und der der Gedanke daran bis dato zuwider war, bewusst für einen sie abstoßenden Matrosen, damit es für sie ein besonders abscheuliches Erlebnis werde. Darauf fährt sie zu Loewenthal, der über der Fabrik wohnt, für seine Angst vor Einbrechern bekannt ist und deshalb einen Revolver in

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seiner Schreibtischschublade aufbewahrt. Emma gibt die Rolle der verschüchterten Denunziantin und erreicht, dass Loewenthal den Raum verlässt, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Emma ergreift den Revolver und erschießt Loewenthal. Sie hatte geplant, ihm den Grund für seine Hinrichtung mitzuteilen und ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Übereilt feuert sie jedoch auf diesen, sodass der Sterbende nur noch den Anfang ihrer vorbereiteten Anklage vernimmt. Emma bringt das Büro in Unordnung und ruft die Polizei an. Dieser teilt sie mit, dass Loewenthal sie unter dem Vorwand des Streikes in sein Büro beordert habe, sie dort missbraucht und sie ihn in Notwehr getötet habe. Der von ihr detailliert geplante Rachemord bleibt unerkannt, da die Polizeit ihre Version der Notwehr glaubt. »Emma Zunz« rekurriert auf Strategien des realistischen Erzählens. Bereits der Eingangssatz liefert konkrete Zeit- und Ortsangaben: El 14 de enero de 1922, Emma Zunz, al volver de la fábrica de tejidos Tarbuch y Loewenthal, halló en el fondo del zaguán una carta, fechada en el Brasil, por la que supo que su padre había muerto (OC 1, S. 564).

Auch der folgende Text vermittelt zahlreiche Straßen- und Eigennamen sowie Zeitangaben. Dieser vermeintlich realistische Stil kontrastiert jedoch mit der vagen Beschreibung des Briefes, der Emmas Rachefeldzug einleitet. Der ihr unbekannte Verfasser, der sich als Pensionskollege ihres Vaters herausstellt und scheinbar nicht weiß, dass er sich an die Tochter des Verstorbenen wendet, teilt ihr darin lediglich mit, dass ihr Vater, der unter dem neuen Namen Maier in Brasilien lebte, versehentlich eine Überdosis Medikamente eingenommen habe: La engañaron, a primera vista, el sello y el sobre; luego, la inquietó la letra desconocida. Nueve o diez líneas borroneadas querían colmar la hoja; Emma leyó que el señor Maier había ingerido por error una fuerte dosis de veronal y había fallecido el 3 del corriente en el hospital de Bagé. Un compañero de pensión de su padre firmaba la noticia, un tal Fein o Fain, de Río Grande, que no podía saber que se dirigía a la hija del muerto (ebd., S. 564, eigene Hervorhebung).

Gleichwohl ist Emma vom Erhalt des Briefes an überzeugt, dass es sich bei dem Tod ihres Vaters um einen Selbstmord handelt: »En la creciente oscuridad, Emma lloró hasta el fin de aquel día el suicidio de Manuel Maier, que en los antiguos días felices fue Emanuel Zunz« (ebd., eigene Hervorhebung). Emma interpretiert also die äußerst vagen Angaben und gelangt zu dem Schluss, dass es sich um einen

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Selbstmord gehandelt haben müsse. Diese Interpretationsleistung ist hochgradig subjektiv, beruht sie doch auf ihren emotional gefärbten Kindheitserinnerungen, denen zu Folge ihr Vater seine Unschuld beteuerte. Die Rolle ihres persönlichen Gedächtnisses bei dieser Interpretation wird hervorgehoben durch die achtfache Betonung des Verbs »recordar«: Recordó veraneos en una chacra, cerca de Gualeguay, recordó (trató de recordar) a su madre, recordó la casita de Lanús que les remataron, recordó los amarillos losanges de una ventana, recordó el auto de prisión, el oprobio, recordó los anónimos con el suelto sobre »el desfalco del cajero«, recordó (pero eso jamás lo olvidaba) que su padre, la última noche, le había jurado que el ladrón era Loewenthal (ebd., eigene Hervorhebung).

Es scheint dabei keinesfalls ausgeschlossen, dass der Vater die Unwahrheit sagte. Ein Indiz dafür ist, dass Emma sich mit diesem Wissen noch nicht einmal ihrer besten Freundin anvertraut, vielleicht aus Sorge, dass diese ihr nicht glauben könne oder aus dem Glauben heraus, dass dieses geteilte Geheimnis sie noch stärker an ihren Vater binden würde: »Emma, desde 1916 guardaba el secreto. A nadie se lo había revelado, ni siquiera a su mejor amiga, Elsa Urstein. Quizá rehuía la profana incredulidad; quizá creía que el secreto era un vínculo entre ella y el ausente« (ebd.). Emma, die sich kaum an ihre Mutter erinnern zu können scheint und offenbar ein umso engeres Verhältnis zu ihrem Vater hatte, will daran glauben, dass ihr Vater unschuldig war, obwohl sie nicht einmal gewusst zu haben scheint, dass er sich in Brasilien aufhielt, da sie sich von der Briefmarke zunächst täuschen lässt. Emma gelangt also zu einer äußerst emotional geprägten und somit subjektiven Interpretation der Situation. Sie überinterpretiert die äußerst vagen Informationen des Briefes, die ihr neben ihren subjektiv eingefärbten Erinnerungen als einzige faktische Grundlage dienen: Emma lee la carta en exceso, interpretándola a la luz de una historia que, para ella, es la única verdadera. Esta lectura en exceso pasa por alto lo que, por piedad o por respeto a los hechos, la carta le comunica: que el muerto había ingerido »por error« la dosis fatal. El exceso conduce a la hiperinterpretación: la carta le dice a Emma más que lo que está escrito efectivamente en ella y, por el camino de interpretar más allá de la letra, Emma decide el asesinato.187

187 Sarlo, Beatriz: La pasión y la excepción, Buenos Aires: Siglo XXI Editores Argentina 2003 (Metamorfosis), S. 120–121, Hervorhebung im Original.

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Eine zweite Interpretationsleistung Emmas stellt die Schilderung der Ereignisse dar, die sie der Polizei gegenüber abgibt, nachdem sie Loewenthal getötet hat. Während Emmas obige Überinterpretation ein Resultat fehlender Fakten und subjektiven Wunschdenkens zu sein scheint, stellt sie hier die Dinge, die sich aufgrund ihrer Planung »ereignet« haben, in einen bewusst falschen Kausalzusammenhang. Es handelt sich also weniger um eine exzessive Interpretation als um eine bewusst manipulierte Interpretation anhand gezielt geschaffener »Fakten« und deren narrativer Darstellung – eine absichtliche Fehlinterpretation. Nachdem Emma Loewenthal umgebracht hat, täuscht sie der Polizei gegenüber vor, in Notwehr gehandelt zu haben. Obwohl die Geschichte unglaublich klingt, wird Emmas Version der Geschichte nicht angezweifelt: La historia era increíble, en efecto, pero se impuso a todos, porque sustancialmente era cierta. Verdadero era el tono de Emma Zunz, verdadero el pudor, verdadero el odio. Verdadero también era el ultraje que había padecido; sólo eran falsas las circunstancias, la hora y uno o dos nombres propios (ebd., S. 568).

In der Tat scheint Emmas Plan nahezu der eines perfekten Mordes, denn fast alles an ihrer Geschichte ist substantiell wahr: Tatsächlich kursierten Streikgerüchte in der Fabrik, tatsächlich ist bekannt, dass Emma sich keinesfalls freiwillig Loewenthal hingegeben hätte, da ihre Abscheu gegenüber Männern bekannt ist, tatsächlich bebte ihre Stimme wie die einer Denunziantin, sowohl bei dem Telefonat mit Loewenthal wie auch im Gespräch mit ihm und tatsächlich verliert sie auf abstoßende Weise ihre Unschuld und entwickelt dadurch die Abscheu und den Hass, der eine Notwehrreaktion plausibel machen würde. Emma instrumentalisiert die Realität ähnlich wie Nolan in »Tema del traidor y del héroe« zu ihren Zwecken. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf den Matrosen: »El hombre, sueco o finlandés, no hablaba español; fue una herramienta para Emma como ésta lo fue para él, pero ella sirvió para el goce y él para la justicia« (ebd., S. 566, eigene Hervorhebung). Dennoch unterläuft Emma ein signifikanter Fehler: Sie nimmt Loewenthal erst nach der Ermordung die blutbespritzte Brille ab und legt diese im Büro ab (ebd., S. 567). Dies sollte der verständigten Polizei eigentlich Anzeichen genug gewesen sein, dass die Notwehrsituation erst nachträglich inszeniert wurde. Dazu kommt die Tatsache,

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dass bei einer kritischen Untersuchung hätte auffallen müssen, dass eine Verbindung zwischen der jungen Emma Zunz und dem nur sechs Jahre zurückliegenden Betrugsfall Emanuel Zunz188 bestand. Eine Episode der Kurzgeschichte thematisiert sogar die Auffälligkeit ihres jüdischen189 Namens, welcher in dem besuchten Frauensportclub zum wiederholten Male buchstabiert werden muss und Anlass zu derben Späßen bietet (ebd., S. 565). Nicht nur aufgrund des Namens sondern auch aufgrund des Umstandes, dass Emma sogar in derselben Firma arbeitet wie ihr Vater, hätte auffallen müssen, dass eine Verbindung zwischen beiden besteht und die Tötung Loewenthals hätte so zumindest in einem komplexeren Zusammenhang betrachtet werden müssen. Dies unterbleibt jedoch, da Emma eine stringente und plausible Version der Ereignisse präsentiert. Sie verleiht den Ereignissen eine Ordnung. Diese Ordnung sei wichtigen Ereignissen keinesfalls naturgegeben, so der Erzähler: Los hechos graves están fuera del tiempo, ya porque en ellos el pasado inmediato queda como tronchado del porvenir, ya porque no parecen consecutivas las partes que los forman (ebd., S. 566).

Die interpretatorischen (Fehl)leistungen Emmas lassen sich als Hinweis auf die in der Geschichtswissenschaft wirksamen Deutungen von Fakten verstehen. Während die Überinterpretation des Briefes wie gezeigt auf einem Mangel an Fakten und subjektiver Verbundenheit der Interpretin beruht und sich somit als ironischer Kontrast zur Objektivitätsforderung des Historismus lesen lässt, kann die zweite Interpretation der vergangenen Ereignisse als Anspielung auf die in der Ge-

188 Emanuel Zunz ist einer der bekanntesten jüdischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts, welcher die Wissenschaft des Judentums entscheidend prägte. Gershom Scholem kritisierte Zunz in seiner Auseinandersetzung mit der Wissenschaft des Judentums wiederholt wegen dessen Ablehnung irrationaler Phänomene in der jüdischen Geschichtstheorie, vgl. etwa: Biale: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, S. 10, S. 16 sowie S. 25). Auch Fishburn/Hughes weisen darauf hin, dass Emanuel Zunz bei der Namensgebung der Protagonistin eine Rolle gespielt haben könnte, vgl. Fishburn/Hughes: Un diccionario de Borges, S. 362. 189 Josefina Ludmer macht darauf aufmerksam, dass nicht zweifelsfrei feststehe, dass Emma Zunz jüdischer Abstammung sei, da die Erzählung keinerlei Hinweis auf die Religion der Mutter gebe, über welche die jüdische Tradition vererbt wird, vgl.: Ludmer, Josefina: El cuerpo del delito. Un manual, Buenos Aires: Libros Perfil 1999, S. 409.

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schichtswissenschaft verwandten Erklärungsschemata verstanden werden.190 Denn stattgefunden haben Emmas Erlebnisse sehr wohl, jedoch in einer anderen Reihenfolge. Die Überzeugungskraft von Emmas Darstellung scheint in ihrer narrativen Vermittlung zu liegen. Sie erschafft Realität durch ihre Erklärung, die sie der Polizei gegenüber abgibt. Der Erzähler betont, dass die Ereignisse am Nachmittag des Mordtages chaotisch und irreal gewesen seien: »Referir con alguna realidad los hechos de esa tarde sería difícil y quizá improcedente« (ebd., S. 565). Emma gelingt es dennoch, diese »stummen« Fakten des Streikes, der erlittenen Defloration und der daraus resultierenden Gefühle der Scham und des Hasses zum Sprechen zu bringen. Es gibt keinen vorgefundenen Kausalzusammenhang in den chaotischen und irrealen Ereignissen dieses Nachmittages, sondern Emma kreiert diesen durch Sprache. Ihre Version der Ereignisse ist somit eine nicht-referentielle Sprachkonstruktion, die aus Emmas Blickwinkel heraus geschaffen wurde, indem sie eine bestimmte Erzählstruktur wählte und auf eine bestimmte Art argumentierte, um damit ein genau definiertes Ziel zu erreichen. Sie führt damit einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen, wie sie für positivistische Erklärungsmodelle typisch sind, ad absurdum. Die Annahme, dass eine Vergewaltigung in Kombination mit einer vorhandenen Waffe zu einer Notwehrsituation führen kann, macht sie sich zu Nutzen und manipuliert die weitaus komplexeren Wirkungszusammenhänge dergestalt, dass diese auf eben jenen Kausalzusammenhang hindeuten. Hermeneutisch orientierte Erklärungsmodelle dagegen, zu denen auch das narrativistische gehört, betonen die Komplexität und Heterogenität von Ursache-Wirkung-Beziehungen und verzichten deshalb teilweise ganz auf den Begriff der Kausalität. Emma nutzt also die ontologische Nähe von historischer und literarischer Erzählung und konstruiert eine Erzählung, welche eine pure PhantasieVariation darstellt. Der Polizei gegenüber konstruiert sie jedoch eine vorgebliche Referenz auf Gewesenes. Diese Referenz wird nicht angezweifelt, da die Mörderin Emma Zunz ein glaubwürdiges Zeugnis ablegt. Emma Zunz ist Opfer und somit zugleich Zeugin eines angeblichen Verbrechens, ihrer vorgetäuschten Vergewaltigung, und bezeugt dies gegenüber der Polizei. Sie erfüllt damit wichtige der von Ricœur

190 Vgl. die Darstellung der historischen Erklärungsschemata in Kap. 5.4.

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genannten Kriterien. Zunächst behauptet sie die faktische Realität des Geschehenen, indem sie der Tat Ereignis-Charakter zuweist, und von sich aus auf die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses aufmerksam macht: »Ha ocurrido una cosa que es increíble…« (ebd., S. 567). Danach koppelt sie das somit als real etablierte Geschehen an ihre eigene Präsenz: »El señor Loewenthal me hizo venir con el pretexto de la huelga… Abusó de mí, lo maté…« (ebd.). Emmas Zeugnis findet Gehör, sie teilt es der Polizei direkt nach dem Verbrechen telefonisch mit. Die direkte Ablegung des Zeugnisses verleiht ihr Glaubwürdigkeit, ebenso hat sie dafür gesorgt, dass die Indizien darüber hinaus für sie sprechen. Es besteht für die Polizei zunächst kein Grund an der Aussage der aufrichtigen, strebsamen Arbeiterin zu zweifeln. Ein direkter Abgleich mit anderen Augenzeugen ist nicht möglich, aber Teile ihres Zeugnisses, den Streik betreffend, können von der Polizei bei anderen Angestellten mühelos überprüft werden. Emma ist bereit, ihr Zeugnis zu wiederholen: »Luego tomó el teléfono y repitió lo que tantas veces repetiría, con esas y con otras palabras« (ebd.). Der letzte von Ricœur benannte Punkt, der Vertrauensvorschuss, der einem Zeugnis in der Gesellschaft zunächst entgegengebracht wird, welcher sich auch in dem juristischen in dubio pro reo äußert, scheint Emma vor einer genaueren Überprüfung – neben ihrer, wie oben gezeigt, narrativen Kompetenz – zu bewahren, sprechen doch mehrere Indizien gegen sie. Nun könnte man argumentieren, dass der Testimonialakt integraler Bestandteil von Kriminalerzählungen ist und Emmas Zeugnis nichts weiter sei als die gewöhnliche Falschaussage einer Mörderin. Interessant ist jedoch in diesem Kontext, dass der prekäre ontologische Status ihrer Zeugenaussage in der narrativen Vermittlung gespiegelt wird. Auch das Zeugnis des Erzählers, welcher die Geschehnisse der Tage vom 14. Januar 1922 bis zum 16. Januar 1922 referiert, weist deutliche Leerstellen auf. Die Formulierung des Erzählers »hacer verosímil« zur Beschreibung dessen, was Emma später der Polizei gegenüber machen wird, trifft auch auf den Erzähler zu. Hervorzuheben ist jedoch, dass es sich hierbei nicht um einen der bei Borges oftmals auftretenden unzuverlässigen Erzähler handelt, welche das soeben referierte offen in Frage stellen oder anderweitig delegitimieren.191 Die Infragestellung des ontologischen Status’ der Zeugenschaft des Erzählers in »Emma Zunz« erfolgt subtiler. 191 Es kann jedoch sehr wohl argumentiert werden, dass das weiter oben beschriebene Phänomen des unzuverlässigen Erzählers, welcher eine

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Zunächst tritt der Erzähler als heterodiegetische, allwissende Instanz in Erscheinung. Er vermag es zum einen die Vorgeschichte zu der Tat zu rekapitulieren, indem er Emmas Erinnerungen wiedergibt. Denn Emmas testimonialer Akt ist eingebettet in Erinnerungsprozesse der Protagonistin. So löst bereits der Brief eine Kette von Erinnerungen aus und auch das Zimmer, welches sie mit dem Matrosen aufsucht, setzt Erinnerungsprozesse frei. Der Erzähler mutmaßt sogar, dass eine Erinnerung beinahe das Vorhaben durchkreuzt hätte, nämlich in dem Moment des Beischlafs, in dem sie daran gedacht haben müsse, dass ihr Vater ihrer Mutter dasselbe angetan habe. Es zeigt sich also hier die von Ricœur postulierte Verquickung von Gedächtnis und Geschichte mittels des Zeugnisses, wobei hier das Gedächtnis weniger den Inhalt des Zeugnisses liefert, sondern vielmehr als Auslöser fungiert. Darüber hinaus lässt der Erzähler durchblicken, dass er auch zum Zeitpunkt des Erzählens noch Einblick in Emmas Gedanken hat: »ese breve caos que hoy la memoria de Emma Zunz repudia y confunde« (ebd., S. 565). Diese scheinbare Allwissenheit des Erzählers wird konterkariert durch die Tatsache, dass sich die narrative Instanz an entscheidenden Punkten der Erzählung zurückzieht und somit Leerstellen eröffnet, die vom Leser nur unzureichend geschlossen werden können. Die erste dieser Leerstellen entsteht direkt im Anschluss an die Wiedergabe von Emmas Erinnerung an ihre Kindheit und an den Schwur ihres Vaters, der Täter sei nicht er sondern Loewenthal. Warum jedoch Emma diese wichtige Information – Grundlage und Legitimation ihres Verbrechens – nie mit jemandem geteilt hat, vermag der Erzähler nicht zu erklären. Er kann lediglich spekulieren, dass sie dies unterließ aus Angst, dass ihr nicht geglaubt würde, oder um das Geheimnis zwischen ihr und ihrem Vater nicht zu entweihen. Ungefähr in der Mitte der Erzählung meldet der Erzähler erneut Zweifel an: Referir con alguna realidad los hechos de esa tarde sería difícil y quizá improcedente. Un atributo de lo infernal es la irrealidad, un atributo que parece mitigar sus terrores y que los agrava tal vez. ¿Cómo hacer verosímil una acción en la que casi no creyó quien la ejecutaba, cómo recuperar ese breve caos que hoy la memoria de Emma Zunz repudia y confunde? (ebd., S. 565).

Konstante im erzählerischen Werk von Borges darstellt, als Problematisierung des testimonialen Aktes interpretiert werden kann.

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Nicht nur macht der Erzähler hiermit darauf aufmerksam, dass es sich keinesfalls um ein normales Verbrechen aus Rache handelt, wie der Leser zunächst glauben mochte, sondern er beschreibt ihr Vorgehen mit dem Attribut »infernal« und bezeichnet jeglichen Versuch, dies wirklichkeitsgetreu wiederzugeben als unangebracht/unzulässig/unredlich (»improcedente«). So verbleibt auch die Hafenszene, in welcher sich Emma auf ihren Mord vorbereitet, im Spekulativen. Zwar kennt der Erzähler ihren genauen Wohnort, danach jedoch verliert sich ihre Spur: Emma vivía por Almagro, en la calle Liniers; nos consta que esa tarde fue al puerto. Acaso en el infame Paseo de Julio se vio multiplicada en espejos, publicada por luces y desnudada por los ojos hambrientos, pero más razonable es conjeturar que al principio erró, inadvertida, por la indiferente recova… Entró en dos o tres bares, vio la rutina o los manejos de otras mujeres (ebd.).

Die Auslassungspunkte, welche hier auch grammatikalisch die narrative Leerstelle symbolisieren, sowie die vagen Angaben unterstützen die Vermutung, dass in dieser Rekonstruktion einiges unerzählt bleibt. Gänzlich tritt der Erzähler die narrative Wissenshegemonie ab, wenn er im darauf folgenden Absatz die Frage nach Emmas Motiv zunächst an den Leser richtet und danach mit einer deutlich spekulativen Stellungnahme in der ersten Person Singular das Wort ergreift: ¿En aquel tiempo fuera del tiempo, en aquel desorden perplejo de sensaciones inconexas y atroces, pensó Emma Zunz una sola vez en el muerto que motivaba el sacrificio? Yo tengo para mí que pensó una vez y que en ese momento 192 peligró su desesperado propósito (ebd., S. 566, Hervorhebung im Original).

Ricardo Piglia bezieht sich auf eben diese Szene, wenn er schreibt: En »Emma Zunz« hay una escena vertiginosa donde la historia cambia y es otra, más antigua y más enigmática. […] el que narra irrumpe en el relato para hacer ver que hay otra historia en la historia y un nuevo sentido, a la vez nítido 193 e inconcebible, para la atribulada comprensión de Emma Zunz.

192 Alvarez charakterisiert diese plötzliche Präsenz der ersten Person Singular wie folgt: »En fin, cabe puntualizarse que la heterodiégesis es transgredida por una narratorialidad homodiegética agresiva […]«, Álvarez: Discurso e historia en la obra narrativa de Jorge Luis Borges, S. 136. 193 Piglia: Formas breves, S. 133.

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Piglia bezeichnet dieses plötzliche Erscheinen des Erzählers als typische narrative Strategie von Borges, mit der dieser die Enden seiner Erzählung gestalte: »La irrupción del sujeto que ha construido la intriga define uno de los grandes sistemas de cierre en la ficción de Borges«.194 Die Funktion dieser Strategie sei es, auf das relato secreto, die zugrundeliegende Erzählung einer jeden Borges’schen Erzählung hinzuweisen. Folge dieses Auftauchens ist auf jeden Fall eine Einbuße der vormals übersubjektiven Erzählperspektive, welche Einblick in die Gedankenwelt Emmas erlaubte. Der Erzähler kann auch nur über Emmas wahre Motive spekulieren. Im Folgenden jedoch gewinnt der Erzähler wieder an Sicherheit und zeichnet sich durch Einsicht in die anderen Figuren erneut als allwissender Erzähler aus: »Aarón Loewenthal era, para todos, un hombre serio; para sus pocos íntimos, un avaro« (ebd., S. 566). Als Emma das Fabrikgelände betritt um Loewenthal zu töten, wird die Szene durch Loewenthal fokalisiert: »La vio empujar la verja (que él había entornado a propósito) y cruzar el patio sombrío. La vio hacer un pequeño rodeo cuando el perro atado ladró« (ebd., S. 567).195 Danach wird wieder durch Emma fokalisiert, lediglich der letzte, viel zitierte Absatz der Kurzgeschichte, in welcher das Gelingen von Emmas Plan vermerkt wird, zeichnet sich durch eine Null-Fokalisierung aus. Der Vergleich der Diegese eines Erzählers mit dem von Ricœur beschriebenen Zeugnis als Grundlage der Historiographie scheint gewagt, jedoch in Bezug auf »Emma Zunz« durchaus legitim. Denn ebenso wie Emmas Zeugnis bei der Polizei über bestimmte Leerstellen verfügt, die von der Polizei zu ihren Gunsten gefüllt werden, so zieht sich auch der Erzähler der Kurzgeschichte an relevanten Stellen der Erzählung zurück und überlässt es dem Leser, diese zu füllen. Es wird hiermit die Möglichkeit angedeutet, dass sich gewisse Dinge einer Erzählbarkeit entziehen. Manche Dinge, so der Erzähler, lassen sich nicht narrativ konfigurieren, sie entziehen sich der konsonanzstiftenden Funktion der Erzählung, da sie außerhalb der Zeit liegen: Los hechos graves están fuera del tiempo, ya porque en ellos el pasado inmediato queda como tronchado del porvenir, ya porque no parecen consecutivas las partes que los forman (ebd., S. 566). 194 Ebd., S. 132. 195 Zu einer genauen Analyse der narrativen Vermittlung in »Emma Zunz« vgl. Álvarez: Discurso e historia en la obra narrativa de Jorge Luis Borges, S. 126–136.

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Der Erzähler bezieht sich in diesem Zusammenhang explizit auf die Szene der Defloration. In dem Moment in dem sich die Tür hinter Emma und dem Matrosen schließt, beendet auch der Erzähler seine Diegese.196 Der Verzicht auf Erklären, welchen Borges auch in dem Vorwort zu Adolfo Bioy Casares’ Roman La invención de Morel lobt, wird auch in dieser Erzählung zum poetischen Prinzip. In diesem Vorwort widerlegt er die These, dass es im 20. Jahrhundert keine »tramas interesantes«197 mehr gebe, mit dem Verweis auf Bioy Casares und u.a. Kafka. Auch »Emma Zunz« ist ein Beispiel für diesen Verzicht auf psychologische Motivierung zugunsten eines gelungenen Plots. In »El arte narrativo y la magia« hatte Borges die Kausalität als das zentrale Problem der Narrativik bezeichnet und auf das Beispiel eines Autors verwiesen, dem es gelungen sei, die Existenz von Zentauren glaubwürdig erscheinen zu lassen, indem er diese beiläufig erwähnt und zusammen mit Bären und Wölfen aufzählt. So sei es manchmal nicht nötig, argumentativ zu überzeugen, sondern es reiche allein die Macht der Worte – nicht nur im Roman sondern auch in der Realität: »Anotemos, de paso, que Morris puede no comunicar al lector su imagen del centauro ni siquiera invitarnos a tener una, le basta con nuestra continua fe en sus palabras, como en el mundo real« (ebd., S. 227). So gelingt es also der Protagonistin von »Emma Zunz«, die (diegetische) Realität durch narrative Verwebung – Dapía weist zu Recht darauf hin, dass Emma nicht zufällig in einer Textilfabrik arbeite198 – zu ihrem Vorteil zu beeinflussen. Dapía macht in ihrer Studie über den Einfluss Mauthners auf Borges’ Erzählwerk darauf aufmerksam, dass »Emma Zunz« ebenfalls auf das Mauthner’sche Konzept des Wortaberglaubens hinweise. So habe schon der von Borges überaus geschätzte Mauthner mit dem Begriff

196 Eben diese Leerstelle nutzt Martín Kohan für seine Erzählung »Erik Grieg« (1998), in welcher er den Sexualakt aus der Sicht des Matrosen darstellt. »Escrito en un pliegue de »Emma Zunz«, un pliegue »fuera del tiempo« donde según el narrador de Borges suceden »los hechos graves««, schreibt Beatriz Sarlo über diesen Text: Sarlo, Beatriz: »El saber del cuerpo. A propósito de ›Emma Zunz‹«, in: Variaciones Borges 7 (1999), S. 231–247, hier: S. 242. 197 Bioy Casares, Adolfo: La invención de Morel, Madrid/Buenos Aires: Alianza/Emecé 1999 (Biblioteca Bioy Casares), S. 8–9. 198 Dapía: »Why is There a Problem about Fictional Discourse?, S. 174.

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der Logokratie die »Macht der Worte«199 kritisiert, der die Menschen gehorchen würden. So gingen die Menschen fälschlicherweise davon aus, dass die Existenz eines Wortes Beweis für die Existenz einer bezeichneten Sache sei: Die meisten Menschen leiden an dieser geistigen Schwäche, zu glauben, weil ein Wort da sei, müsse es auch das Wort für etwas sein, weil ein Wort da sei, 200 müsse dem Worte etwas Wirkliches entsprechen.

Wie Dapía überzeugend darlegt, lässt sich Emmas Erklärung auch als Beispiel für Mauthners Wortaberglauben lesen, denn Emma benutzt Worte, denen keine Realität gegenüber steht. So hasst sie tatsächlich Loewenthal, aber aus anderen Gründen als den angegebenen, so ist ihr tatsächlich an diesem Nachmittag Schlimmes widerfahren, jedoch war der angegebene »Täter« falsch. Emmas Geschichte setzt sich durch, obwohl sie sich nicht auf etwas Außersprachliches bezieht, »bloß weil die Worte vorhanden sind«.201 Schon bei Mauthner findet sich also die Annahme angelegt, dass Wirklichkeit nurmehr verbal konstruiert sei, welche im Fahrwasser des linguistic turn ausgelotet wurde. Es scheint wahrscheinlich, dass die Lektüre Mauthners Einfluss auf die Entstehung von »Emma Zunz« hatte, einer Kurzgeschichte, die nur bei vordergründiger Betrachtung eine reine Kriminalgeschichte ist und sich bei näherer Betrachtung als Problematisierung des testimonialen Aktes und als kritische Auseinandersetzung Borges’ mit der »Macht der Worte« erweist, welche er schon 1932 in dem Essay »El arte narrativo y la magia« thematisierte.202 199 Dapía: Die Rezeption der Sprachkritik Fritz Mauthners im Werk von Jorge Luis Borges, S. 87. 200 Zitiert nach: ebd., S. 86. 201 Zitiert nach: ebd., S. 152. 202 Jaime Rest wiederum vermutet, dass die dargestellte Problematik in »Emma Zunz« auf der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, die Gottlob Frege traf, beruht. So habe Borges dessen Überlegungen entweder direkt rezipiert oder sei durch die Lektüre Bertrand Russells darauf gestoßen, der sich mit Frege beschäftigt habe. Zu einer Analyse von »Emma Zunz« aus dem Blickwinkel Freges vgl. daher: Rest, Jaime: El laberinto del universo. Borges y el pensamiento nominalista, Buenos Aires: Ediciones Librerías Fausto 1976, S. 114–120. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Borges’ »Kritik« an einem gängigen Kausalitätsmodell auf Schopenhauers Auffassung von Kausalität basiert, wie Ana Sierra in ihrer Studie über den Einfluss Schopenhauers auf Borges’ Erzählwerk nahe legt. So bestehe ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Borges’ Beschreibung der magischen Kausalität, in der Dinge, die nicht in

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Emmas Handlung lässt sich darüber hinaus als performativer Akt verstehen.203 Es war bereits in »Tema del traidor y del héroe« auf den Inszenierungscharakter der Handlung hingewiesen worden. Auch Emmas Tat lässt sich als Inszenierung oder – um den sprachphilosophischen Aspekt stärker zu betonen – als performativer Akt bezeichnen, entwickelte doch John L. Austin seine Sprechakttheorie in Anklang an Wittgensteins Sprachspielthese. Austin bezeichnete mit performativen Äußerungen nämlich eben jene, denen keine logisch-semantischen Wahrheitsbedingungen zugrunde liegen und deren Bedeutung sich nicht durch den Bezug auf ihren Wahrheitswert bestimmen lässt sondern nur mit Bezug auf das Gelingen der Äußerungen.204 Austin205 bezieht sich zunächst bekanntlich auf die Performativa, wie sie bei ritualisierten Handlungen wie z.B. der Taufe, der Heirat etc. zum Einsatz kommen. Später ersetzte er die Gegenüberstellung von konstativen und performativen Äußerungen durch die Triade der lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akte. Eine illocutionary force schreibt er fortan nicht nur den performativen Verben sondern auch Aussagesätzen zu. Während der lokutionäre Akt in der reinen Aussage besteht, kennzeichnet sich der illokutionäre Akt dadurch, dass eine Handlung ausgeführt wird, indem man etwas sagt. Der perlokutionäre Akt bezieht sich auf die beabsichtigte

einem räumlich-zeitlichen Verhältnis stehen, miteinander in Verbindung gebracht werden, mit Schopenhauers Auffassung, wonach der menschliche Wille eine geheime Ordnung der Dinge schaffe, die auf den ersten Blick nicht immer erkennbar sei: »El escritor argentino se inspira, más bien, en la teoría sobre la causalidad de Schopenhauer, teoría que defiende la existencia de una realidad distinta de la empírica, donde la voluntad establece una secuencia en los acontecimientos, de tal manera que, aunque a veces parezca que ocurren por azar, en realidad obedecen a un orden predeterminado«, Sierra: El mundo como voluntad y representación: Borges y Schopenhauer, S. 74–75. 203 Zum Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und performativen Akten siehe den aufschlussreichen Sammelband: Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und ›Performative Turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003. 204 Wirth, Uwe: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft), S. 9–60, hier: S. 10. 205 Austin, John L.: How to do things with words, Cambridge: Harvard University Press 1975.

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Wirkung, welche sich im Gegensatz zum illokutionären Akt nicht konventioneller Mittel bedient. In Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns werden perlokutionäre Akte als eine »spezielle Klasse strategischer Interaktionen« gewertet, die Illokutionen »als Mittel in teleologischen Handlungszusammenhängen« einsetzen.206 Gegen diese Annahme Habermas’, dass Kommunikation immer auf Konsens angelegt sei, richtet sich die dekonstruktivistische Kritik am Performanzbegriff. Während Austin selbst auf die Möglichkeit eines parasitären Sprachgebrauchs hinwies, wie er sich bspw. im Rahmen einer theatralischen Aufführung einstellen kann, so setzt Derrida dem Begriff des parasitären Sprachgebrauchs den der Iteration, also der ewigen Wiederholbarkeit und Rekontextualisierbarkeit entgegen. In der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Performanztheorie spielt diese Frage der Iteration eine wichtige Rolle.207 Es ließe sich in diesem Zusammenhang die Frage aufwerfen, inwiefern Emmas Inszenierung eine parasitäre Sprachverwendung im Austin’schen Sinne darstellt und inwiefern ihre Handlungen iterativtheatralischen Charakter haben. Erin Graff Zevin weist auf diesen Aspekt der Performanz in Zusammenhang mit »Emma Zunz« hin: Emma’s plan to eliminate Loewenthal is described as theater; it is a performance that she has rehearsed numerous times in her mind, repeating the lines until she is sure that she can execute it flawlessly. As a work of art, it is subject to interpretation and re-readings, as a created object, it exposes the constructed 208 nature of reality.

Zwar zielt sie auf die perlokutionäre Wirkung ab, die Polizei von ihrer Unschuld zu überzeugen, jedoch ist ihre Sprachverwendung insofern parasitär, als dass ihre Unschuldsbehauptung Teil ihrer Inszenierung ist. Umberto Eco weist auf die Verknüpfung der allgemeinen Semiotik mit derjenigen des Theaters hin und betrachtet das Alltagsleben als Fall der theatralischen Performanz: »Nicht das Theater kann das Leben nachahmen, sondern das soziale Leben ist eine fortgesetzte Perfor-

206 Zitiert nach: Wirth: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, S. 14. 207 Ebd., S. 34. 208 Graff Zivin, Erin: The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary, Durham/London: Duke University Press 2008, S. 108.

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mance, und aus diesem Grund sind Theater und Leben verknüpft«.209 Insbesondere die diskurstheoretisch geprägte Historiographie misst der Performativität, die nicht nur Text und Sprache sondern auch Handlungsweisen zugrunde liegt, Bedeutung bei.210 Jedoch findet sich auch ein weiterer performativer Akt211 in Emmas Handeln, konstruiert doch Emma in dieser Erzählung erst ihre Geschlechtsidentität.212 Zu Beginn der Erzählung heißt es: »[…] los hombres le inspiraban, aún, un temor casi patológico…« (ebd., S. 565). Emma setzt ihren Körper bewusst für ihre Inszenierung ein.213 Geschlechterzugehörigkeit wird bei Emma zum performierten Akt. Judith Butler weist auf den kulturell-gesellschaftlichen Zwang hin, eine klar abgegrenzte, polare Geschlechterzugehörigkeit einzunehmen.214 Em209 Eco, Umberto: »Semiotik der Theateraufführung«, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 262–276, hier: S. 271. Eco entspinnt seine Überlegungen zur Semiotik des Theaters übrigens anhand der Erzählung »La busca de Averroes« von Borges, in welcher Averroes über die Begriffe »Tragödie« und »Komödie« nachsinnt, während vor seinem Arbeitszimmer Kinder eine Theateraufführung inszenieren. 210 Vgl. Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen: »Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹: Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur«, in: Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und «Performative Turn». Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003, S. 1–31, hier: S. 11. 211 Erin Graff Zivin untersucht den performativen Aspekt der Erzählung in Bezug auf Emmas Akt der Prostitution in Zusammenhang mit ihrer jüdischen Abstammung: »Explorando el aspecto performativo del cuento, en el cual la noción de ›lo judío‹ so codifica como categoría inestable y la prostitución aparece como acto, planteo que la transaccción judía sirve para desmantelar sistemas de significación, y que el cuento se puede entender como ejemplo de un discurso promiscuo«. Graff Zivin, Erin: »Transacciones judías y discursos promiscuos en ›Emma Zunz‹«, in: Variaciones Borges 22 (2006), S. 191–199, hier: S. 191. 212 Daniel Balderston untersucht die mögliche homoerotische Lesart einiger Texte von Borges und verweist in diesem Zusammenhang auf eine mögliche feministische Lesart von »Emma Zunz«, Balderston, Daniel: »The ›Fecal Dialectic‹: Homosexual Panic and the Origin of Writing in Borges«, in: Borges Studies Online (2004), http://www.borges.pitt.edu/bsol/ bgay.php (21.01.2011). 213 Vgl. dazu: Sarlo: »El saber del cuerpo. A propósito de ›Emma Zunz‹. 214 Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft), S. 301–320, hier: S. 305–306.

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mas Performanz der Geschlechterzugehörigkeit vollzieht sich hier jedoch nicht unter dem gesellschaftlichen Zwang, sondern zur Vervollständigung ihres Planes. Während ihre Freundinnen nicht von ihr erwarten, dass sie sich für Männer interessiert (»se habló de novios y nadie esperó que Emma hablara« ebd., S. 565), performiert Emma ihre Geschlechterzugehörigkeit in einem theatralischen Akt. Es zeigt sich in dieser Erzählung, dass auch Identität auf privater Ebene Ergebnis eines performativen Aktes ist: »[…] the eponymous heroine of ›Emma Zunz‹ (re)invents her ›self‹ as both prostitute and rape victim and, in doing so, exposes the nature of identity in general as fictional or performative«.215

6.10 »E L

MILAGRO SECRETO «: D AS S CHEITERN DER NARRATIVEN K ONFIGURATION

Die Kurzgeschichte »El milagro secreto«, erstmals erschienen in der Ausgabe 2/1943 der Zeitschrift Sur und später Bestandteil der Sammlung Ficciones, erscheint überaus aufschlussreich im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von literarischem und historischem Erzählen und die sich überkreuzenden Zuständigkeitsbereiche der beiden Genres.216 Die Handlung der Erzählung ist eingebettet in den historischen Kontext des Nationalsozialismus und schildert das Schicksal des jüdischen Autors Jaromir Hladík, welcher von den Nationalsozialisten in Prag festgenommen und zum Tode verurteilt wird. Bereits der einleitende Satz der Geschichte liefert wichtige räumliche und zeitliche Koordinaten in Bezug auf den Protagonisten und sein bevorstehendes Schicksal: Es ist die Nacht des 14. März 1939, die Nacht vor dem deutschen Einmarsch in Prag, in welcher Hladík in der Zeltnergasse in

215 Graff Zivin: The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary, S. 108. 216 Die folgenden Ausführungen beruhen z.T. auf einem Aufsatz, welcher als Vorstudie zu dieser Arbeit und in Folge eines Vortrags auf dem Romanistentag 2007 erschienen ist: Rath, Christine: »Unerbittliche Uhren und geheime Wunder. Überlegungen zur narrativen Darstellung von Zeit in Jorge Luis Borges’ ›El milagro secreto‹«, in: Türschmann, Jörg/ Aichinger, Wolfram (Hrsg.): Das Ricœur-Experiment, Tübingen: Gunter Narr 2009, S. 163–174.

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Prag einen prophetischen Albtraum hat, in welchem die kosmische Zeit eine bedrohliche Rolle spielt. Hladík träumt von einer seit Jahrhunderten andauernden Schachpartie, welche von zwei verfeindeten Familien ausgetragen wird. An ihm als Erstgeborenem einer der beiden Familien liegt es, die unaufschiebbare Partie zu beenden. Gehetzt läuft er durch Sanddünen einer regnerischen Einöde und kann sich weder an die Figuren noch an die Regeln des Spiels erinnern. Über den vergessenen Einsatz des Schachspiels wird gemunkelt, er sei »enorme y quizá infinito« (OC 1, S. 508). Es findet sich also bereits im ersten Absatz ein Hinweis auf eine der zwei unterschiedlichen Zeiten, welche in dieser Geschichte eine Rolle spielen werden, nämlich der kalendarischen, chronometrischen Zeit und einer anderen Zeit des Traumes, über deren Unendlichkeit und Bedeutung bis dato nur gemunkelt wird. Diese positiv konnotierte Zeitlichkeit wird mit der als bedrohlich empfundenen chronometrischen Zeit kontrastiert. Unerbittlich verkünden die Türme die Uhrzeit der unaufschiebbaren Partie. Der Träumer Hladík kämpft sich durch Sanddünen, welche ebenfalls als Sinnbild für die sprichwörtlich verrinnende Zeit interpretiert werden können. Dann erwacht er: »Cesaron los estruendos de la lluvia y de los terribles relojes« (ebd.). Während der schreckliche Klang der geträumten Uhren erlischt, kann das Fortschreiten der Realität hingegen nicht aufgehalten werden. Begleitet von einem rhythmischen, eintönigen Lärm – »Un ruido acompasado y unánime« – marschieren die Nationalsozialisten in Prag ein (ebd.). Weitere konkrete Zeit- und Datumsangaben protokollieren das unaufhaltsame Schicksal Hladíks. Am 19. März geht eine Denunziation bei den Behörden ein, noch am Abend desselben Tages wird er verhaftet. Seine Hinrichtung wird auf den 29. März um neun Uhr morgens festgesetzt. Der Erzähler kommentiert diesen Aufschub von zehn Tagen wie folgt: »Esa demora […] se debía al deseo administrativo de obrar impersonal y pausadamente, como los vegetales y los planetas« (ebd., S. 509) Der Vergleich mit dem gleichmäßigen Lauf der Planeten beinhaltet hier also einen eindeutigen Verweis auf die kosmische Zeit. Dem entgegen stehen die Versuche Hladiks, auf seine scheinbar unabwendbare Zukunft Einfluss zu nehmen. Während er in der Zelle auf seine Hinrichtung wartet, malt er sich die Einzelheiten seiner Hinrichtung aus, um die Zukunft dahingehend zu manipulieren. Denn – so seine Überlegung – die Zukunft pflege eben nicht mit dem Vorausge-

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sehenen überein zu stimmen, daher seine Hoffnung, dass er bereits imaginierte Grausamkeiten nicht mehr zu erdulden haben werde. Darauf überkommt ihn die Befürchtung, dass seine Gedankenspiele vielleicht doch gerade prophetischen Charakter annehmen könnten. Kurzum – er versucht in diesen elenden Nächten des Wartens in der flüchtigen Substanz der Zeit Halt zu finden: »[…] procuraba afirmarse de algún modo en la sustancia fugitiva del tiempo« (ebd.). Die einzige Gewissheit in Bezug auf seinen bevorstehenden Tod liefert ihm jedoch erneut lediglich der Kalender. Er weiß, dass noch genau sieben Nächte verbleiben. Es ist der 22. März 1939, seine Hinrichtung ist geplant für den 29. des Monats. Hladík beschäftigt der Gedanke, dass es ihm nicht gelungen sei, sein Drama Los enemigos fertig zu stellen, welches ihn – im Gegensatz zu seinen bisherigen Publikationen – als Schriftsteller rechtfertigen würde. Hierunter befinden sich zahlreiche Schriften zur jüdischen Mystik und eine Refutación de la eternidad, ein Titel der selbstverständlich an Borges’ oben erwähnte Texte über die Zeit erinnert. Er bittet Gott, den er als Verwalter der Zeit apostrophiert, ihm noch ein Jahr zu gewähren, auf dass es ihm gelinge, das Drama zu vollenden. Wie um die Absurdität dieses Wunsches zu unterstreichen, erfolgt sofort ein Verweis auf den gleichmäßig fließenden Strom der Zeit: »[…] diez minutos después el sueño lo anegó como un agua oscura« (ebd., S. 511). Erneut träumt Hladík. In seinem Traum findet er Gott in einem Buchstaben in einer Landkarte, eine Stimme versichert ihm, die erbetene Zeit für sein Unterfangen werde ihm gewährt. Am Morgen der Hinrichtung jedoch scheint der zeitliche Ablauf unumstößlich: Die Zeitangaben werden jetzt minutengenau präzisiert. Es ist 8 Uhr 44. Es gilt noch die Zeit bis neun Uhr zu überbrücken. Selbst im Angesicht seines unmittelbar bevorstehenden Todes reflektiert Hladík noch einmal über das Verhältnis von Vergänglichkeit und der Möglichkeit einer (medialen) Konservierung von Zeit, lassen ihn doch die umständlichen Vorbereitungen der Soldaten in Bezug auf seine Liquidierung an die eines Photographen denken. Als das Erschießungskommando ertönt, zeigt sich jedoch, dass auch sein letzter Traum prophetischen Charakter hatte. Denn nun tritt ein, was der Titel der Kurzgeschichte als das geheime Wunder bezeichnet. Die Zeit scheint zunächst stehen zu bleiben. »El universo físico se detuvo« (ebd., S. 512). Die Wahrnehmung von Zeit wird gemeinhin eng mit der Notion von Bewegung und Veränderung in Verbindung gebracht und so

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scheint es, als sei die Realität in dem Augenblick der Hinrichtung Hladíks wie bei einem Standbild gefroren: Las armas convergían sobre Hladík, pero los hombres que iban a matarlo estaban inmóviles. El brazo del sargento eternizaba un ademán inconcluso. En una baldosa del patio una abeja proyectaba una sombra fija. El viento había cesado, como en un cuadro. […] Pensó el tiempo se ha detenido (ebd., Hervorhebung 217 im Original).

Dann jedoch wird Hladík klar, dass Gott ihm zwar ein Jahr Aufschub gewährt hat, um sein Werk fertig zu stellen, dass dies jedoch nicht den Ablauf der offiziellen Weltzeit beeinträchtigen wird, sondern nur für ihn erfahrbar ist: Otro »día« pasó, antes que Hladík entendiera. Un año entero había solicitado de Dios para terminar su labor: un año le otorgaba su omnipotencia. Dios operaba para él un milagro secreto: lo mataría el plomo alemán, en la hora determinada, pero en su mente un año transcurriría entre la orden y la ejecución de la orden. De la perplejidad pasó al estupor, del estupor a la resignación, de la resignación a la súbita gratitud (ebd.).

Hladík gelingt es, in diesem Einbruch der religiösen Zeit in die profane Zeitspanne seiner Hinrichtung einen würdigen Abschluss für sein Drama zu finden, und als ihm dies gelungen ist, wird im selben Moment auch sein Leben vom Hinrichtungskommando beendet. Der Erzähler verzeichnet im Stile eines Chronisten:218 »Jaromir Hladík murió 217 Die hier kontrastierten Zeiten lassen sich durch die expliziten Verweise auf dahinfließendes Wasser und Sanddünen mit der »Stromzeit« und der »Sandzeit«, die Flusser beschreibt, in Verbindung bringen. Diese beiden Zeiten, sowie die »Radzeit«, lassen sich den weiter oben schon beschriebenen geschichtlichen Stadien zuordnen. Kennzeichnend für die Sandzeit sei, so Flusser, dass sich darin Klumpen bilden könnten, die der Logik zuwiderliefen: »Die Sandzeit widerspricht sich mancherorts selbst«, bemerkt Flusser und fügt hinzu: »In der Radzeit würde man »Wunder« dazu gesagt haben«. Dieses Verklumpen der Sandzeit erscheint als passende Beschreibung für das geheime Wunder der Kurzgeschichte. Vgl.: Flusser: Nachgeschichte: eine korrigierte Geschichtsschreibung, S. 291–295, hier: S. 292, 293. 218 Stéphane Mosès bemerkt in Bezug auf die Erzählperspektive von »El milagro secreto«: »Dieser Eindruck [der Eindruck des Lesers, dass der von Hladík beobachtete Stillstand des Universums zu lange dauert, um eine bloße Sinnestäuschung zu sein, Anmerkung C.R.] wird zusätzlich durch die angewandte literarische Erzählperspektive verstärkt: die Szene ist ›von außen‹ beschrieben, als ob es sich um eine objektive Wirklichkeit handelte, bevor der Erzähler eingreift und die Erscheinung als eine

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el 29 de marzo, a las nueve y dos minutos de la mañana« (ebd., S. 513). Durch die oben gezeigte, ständige Parallelführung der kalendarischen Zeit und der mentalen Zeit des Protagonisten wird auf die Aufspaltung des Zeitbegriffes in eine öffentliche und eine private Dimension verwiesen.219 Ricœur zufolge gibt es keine reine Phänomenologie der Zeit ohne Aporie. Eine der Schwierigkeiten bestehe darin, Ewigkeit mit dem Tode in Einklang zu bringen.220 So kann es nicht verwundern, dass auch die Figuren der von Ricœur analysierten Romane sterblich sind. Die Figur des Septimus in Mrs. Dalloway begeht Selbstmord, weil sie »die unerbittliche Zeit der Uhren nicht mehr erträgt«;221 der Todgeweihte Jaromir Hladík empfindet die geträumten Uhren als schrecklich und bedrohlich. In »El milagro secreto« scheint die kosmische Zeit der Sukzession zu siegen, oder wie Borges an anderer Stelle formuliert: »[L]a eternidad, […] es un artificio espléndido que nos libra, siquiera de manera fugaz, de la intolerable opresión de lo sucesivo« (OC 1, S. 351). Ebenso wie die Titel der Essays »Historia de la eternidad« und »Nueva refutación del tiempo« die in diesen vorgeblich angestrebte Darlegung der Ewigkeit bzw. Widerlegung der Zeit ironisieren und damit die Argumentation dieser vorwegnehmen, so scheint es sich auch bei dem von Hladík erfahrenen »Wunder« lediglich um ein geheim bleibendes Wunder zu handeln, welches keine Implikationen für die letztendlich dominierende kosmologische Zeit Newtons hat. Oben war bereits im Hinblick auf die Bedeutung des Messianismus für Borges’ Texte hingewiesen worden. Stéphane Mosès beschreibt die Kurzgeschichte »El milagro secreto« als exemplarisch für die messianische Zeitauffassung, wie sie von Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Gershom Scholem beschrieben wurde.222 Mosès unterscheidet für alle Religionsgemeinschaften zwischen einer religiösen und einer

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psychische Erfahrung der Romanfigur enthüllt. Das physische Universum ist also nicht in Wirklichkeit zum Stillstand gekommen, sondern nur in der Vorstellung des Verurteilten«, Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 15. Eine ähnlich konstante Kontrastierung von innerer Zeit und offizieller Zeit, in diesem Fall symbolisiert durch das Glockenspiel des Big Ben, findet sich in dem von Ricœur analysierten Roman Mrs. Dalloway, Ricœur: Zeit und Erzählung II, S. 173ff. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 130–135. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 206. Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 12ff.

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profanen Zeit und setzt diese in Verbindung mit zwei verschiedenen Konzeptionen von Gegenwart. Aufschlussreich für diese Erzählung erscheint insbesondere die Unterscheidung zwischen einer Brücken- und einer Sprungbrett-Gegenwart bei Franz Rosenzweig. Rosenzweig bezeichnet die Brücken-Gegenwart als typisch für die profane Zeit, da sie die Vergangenheit und die Zukunft linear miteinander verknüpft und Kontinuität erschafft. Der Sprungbrett-Gegenwart liegt nicht das Bild einer Horizontalen zugrunde sondern das einer Vertikalen. In ihr ist jeder Augenblick einzigartig; Zeit erscheint als diskontinuierliche Folge. Die Sprungbrett-Gegenwart bildet die ständige Dimension der religiösen Zeit für Rosenzweig.223 Der Zeitraum, den Hladík sich vor seiner Hinrichtung von Gott zur Fertigstellung seines literarischen Werkes erbeten hat, lässt sich nach Rosenzweig als Sprungbrett-Gegenwart beschreiben.224 Diese Spanne mentaler, innerer Zeit, die dem Protagonisten Hladík gewährt wird, nutzt dieser ausgerechnet zur Fertigstellung eines Dramas, das sich strikt an den aristotelischen Vorgaben zur Fabelbildung hinsichtlich der Wahrung von Zeit und Raum orientiert. »Este drama observaba las unidades de tiempo, de lugar y de acción« (ebd., S. 510). Jedoch scheitert der Konfigurationsakt offensichtlich, häufen sich doch im dritten Akt die Widersinnigkeiten. Schauspieler, die bereits aus der Handlung geschieden waren, kehren zurück, Szenen wiederholen sich, die Uhr zeigt immer noch dieselbe Uhrzeit an wie im ersten Akt. Die Wiedereinschreibung der phänomenologischen Zeit in eine kosmologische Zeit muss zwangsläufig misslingen, entspringt das Drama doch gänzlich der Wahnvorstellung des Protagonisten desselben: »El drama no ha ocurrido: es el delirio circular que interminablemente vive y revive Kubin« (ebd.). Im Angesicht von Hladíks baldiger Ermordung fällt dem Drama Los enemigos die Bedeutung zu, seine irdische Existenz zu rechtfertigen: »[…] la posibilidad de resca-

223 Ebd., S. 78–83. 224 Es sei daran erinnert, dass Borges die in der Einleitung angeführte Episode aus »Historia de la eternidad«, in welcher er das Einbrechen einer alternierenden Zeitlichkeit in die chronometrische Weltzeit während eines Spaziergangs durch die südliche Vorstadt von Buenos Aires beschreibt, zum ersten Mal in einem kurzen Text in dem Essayband El idioma de los argentinos von 1928 schildert und zwar unter dem Titel »Sentirse en muerte«, also etwa – »Im Angesicht des Todes«. Auch dem Protagonisten von »El milagro secreto« offenbart sich dieser messianische Riss im Gewebe der historischen Zeit im Angesicht des Todes.

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tar (de manera simbólica) lo fundamental de su vida« (ebd., S. 510– 511). Die identitätsstiftende Funktion des Dramas verbleibt jedoch auf rein individueller Ebene, verfügt Hladík doch über keine Möglichkeit der medialen Konservierung seines Werkes außerhalb seines Gedächtnisses: »No disponía de otro documento que la memoria; […] No trabajó para la posteridad ni aun para Dios, de cuyas preferencias literarias poco sabía« (ebd., S. 512). Hladík hinterlässt also kein Zeugnis, welches, so Ricœur, als Mittler zwischen Gedächtnis und Geschichte fungiert.225 In diesem Zusammenhang sei nochmals an den chronistisch anmutenden Stil des Erzählers in »El milagro secreto« erinnert. Die Tatsache, dass dieser im letzten Satz der Geschichte vermerkt, dass Hladík um zwei Minuten nach neun Uhr morgens verstarb, lässt sich in diesem Kontext als eines dieser »petty, insignificant details« verstehen, von denen Gershom Scholem sprach, welchem unter normalen Umständen keine Bedeutung zugemessen worden wäre. Jedoch werden diese zwei Minuten Verzögerung, die hier eben nicht erklärt werden, zum Anlass, eine andere Geschichte zu erzählen, eine, die aus der Perspektive des ermordeten Hladík von großer Bedeutung ist, rechtfertigt das darin geschaffene Werk doch sein Dasein als Schriftsteller. Borges verweist mit dieser Erzählung zum einen auf die Notwendigkeit des Erzählens, jedoch wird dies mit dem Scheitern des Konfigurationsaktes des Dramas zugleich problematisiert. Das Misslingen des Konfigurationsaktes von Hladíks Drama lässt sich als Verweis auf die Krise der Repräsentation in der Moderne deuten. Erzählen heißt bei Ricœur, verschiedene heterogene Elemente zu einer Fabel zu synthetisieren. Aus dieser essentiellen Verknüpfung von Zeit und Erzählung leitet er die anthropologische Dimension seiner Theorie ab. Während jedoch bei Borges in dieser Erzählung sowohl auf diegetischer als auch auf hypodiegetischer Ebene die Spannung zwischen Konsonanz und Dissonanz thematisiert wird, indem das Wunder des geschenkten

225 Ricœur: Gedächtnis Geschichte Vergessen, S. 48. Stéphane Mosès zufolge ließe sich die fehlende Spur, die das Drama auf individueller Ebene hinterlässt, auf eine kollektive Ebene transponieren: »Die Erfahrung, die der Prager Schriftsteller Jaromir Hladík in Borges’ Erzählung als eine rein individuelle macht, entspricht auf der Ebene der kollektiven Erfahrung jener in der jüdischen Mystik […] auf den gesamten geschichtlichen Prozeß bezogenen Wahrnehmung der historischen Zeit als eine ständig erneuerte Aktivierung der messianischen Utopie«. Mosès: Der Engel der Geschichte, S. 16–17.

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Jahres mit einer geradezu chronometrisch anmutenden Erzählweise konterkariert wird und Hladík seinerseits versucht, sich widersprechende Elemente in das strenge Formkorsett eines sich an aristotelischen Maßgaben orientierenden Dramas zu pressen, triumphiert bei Ricœur die Konsonanz über die Dissonanz. Tatsächlich scheint die scheinbar nebensächliche Bemerkung, dass Hladík sich an die aristotelischen Vorgaben zur Wahrung von Zeit und Raum halte, hier von einiger Bedeutung, bezieht sich doch auch Ricœur in seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Fabelkomposition auf Aristoteles, welcher im tragischen Gedicht den Triumph der Konsonanz über die Dissonanz verkörpert sah. Gerade dieser Akt der Konfiguration, dieses Überführen paradigmatischer Elemente hin zu einer syntagmatischen Ordnung scheitert – und damit auch die Nachvollziehbarkeit. Ricœur spricht zwar im zweiten Band von Zeit und Erzählung etwas nebulös von möglichen zukünftigen Erzählformen, in denen man »das Formprinzip der zeitlichen Konfiguration, das aus der erzählten eine einheitliche und vollständige Geschichte macht, nicht mehr erkennen kann«.226 Das mögliche Schwinden der Erzählform hatte ja bereits Walter Benjamin in »Der Erzähler« beschworen. Ricœur tritt dem jedoch mit einem Nachtrag entgegen, der an das berühmte Borges’sche And yet, and yet… aus »Nueva refutación del tiempo« erinnert: Und doch… Und doch… Vielleicht muß man trotz allem dem Konsonanzbedürfnis vertrauen, das noch heute die Leseerwartung bestimmt, und daran glauben, daß neue Erzählformen, die wir noch nicht benennen können, im Entstehen begriffen sind, die davon zeugen werden, daß sich die Erzählfunktion wandeln, jedoch nicht sterben kann.227

Diese Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer neuen Erzählform, die die Sinnlosigkeitserfahrung des 20. Jahrhunderts aufscheinen lässt, wird also in »El milagro secreto« sowohl auf histoire- als auch auf discours-Ebene thematisiert. Aufgrund der Einbettung der Erzählung in den historischen Kontext des Nationalsozialismus lässt sich damit auch bereits eine Auseinandersetzung mit der Frage sehen, wie und ob der Holocaust im Widerspruch zum narrativen Paradigma steht. Edna Aizenberg charakterisiert Borges’ Erzählungen, in denen sie eine kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Repräsentation 226 Ricœur: Zeit und Erzählung II, S. 50. 227 Ebd., S. 50–51, Hervorhebung im Original.

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sieht, als frühe Beiträge zur Holocaust-Literatur. So schreibt sie: »Much before Lyotard, who in his meditations on the Holocaust points to the necessity and the impossibility of representing the disaster, Borges inscribed this double movement in his prose«.228 Sie formuliert ihr Unverständnis darüber, dass Borges bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich unter dem Etikett der Irrealität bzw. Phantastik gelesen wurde, wie folgt: All of this talk of unreality was fine and good, except for one little problem – it wasn’t true. [...] For if Borges lived in »irreality«, how could his writings from the World War II period, writings that pointed unambiguously to its horrors, really be about those horrors? How could reality have anything to do with the articles, stories, and essays that denounced fascism, the maiming of German 229 culture, the fall of Paris, or the death camps?

Hladíks Schwierigkeiten bei der Komposition des Dramas lassen sich so als Beitrag zu der Frage lesen, inwiefern sich die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen im Angesicht des Holocaust verändern. Patterson/Berger/Cargas fassen die Problematik insbesondere in der Dramenkomposition wie folgt zusammen: Holocaust dramatists must stage human encounters from within the ruins of the undoing of the human image. They must compose dialogues in contexts where all dialogical relation has been undone. The framework within which Holocaust dramatists stage their drama also has its problems. Drawing upon scenery not of this world, they must nevertheless situate it within the world. To do a »scene« is to enact a segment of life from the space and time of the world;

228 Aizenberg, Edna: »Postmodern or Post-Auschwitz. Borges and the Limits of Representation«, in: Variaciones Borges 3 (1997), S. 141–152, hier: S. 148. 229 Aizenberg kritisiert die Tatsache, dass lateinamerikanische Literatur lange Zeit von den Holocaust Studies ignoriert wurde. Dieser »Euro-U.Scentrism«, wie Aizenberg ihn nennt, zeichnet wohl verantwortlich dafür, dass sowohl in der Borges-Forschung als auch in der HolocaustForschung wenig Beachtung gefunden hat, dass Borges bereits während des Zweiten Weltkriegs und kurz nach dessen Beendigung Erzählungen verfasst hat, die sich explizit mit dem Holocaust auseinandersetzen – lange bevor sich die Holocaust Studies als Forschungsansatz etablierten. Dies hat sich jedoch in der Forschung der letzten Jahre geändert. Siehe Aizenberg, Edna: »Deutsches Requiem 2005«, in: Variaciones Borges 20 (2005), S. 33–57 für einen Überblick über aktuellere Forschung zur Holocaust-Literatur, welche z.T. auch auf Borges eingeht. Aizenberg: »Postmodern or Post-Auschwitz, hier: S. 142.

216 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE but when the world is Auschwitz – a realm that revolves along different orbits 230 of space and time – the very notion of a »scene« becomes problematic.

Borges stellt mit dieser Erzählung also nicht nur die Repräsentierbarkeit des Holocaust durch Literatur oder Geschichtsschreibung in Frage, sondern er hinterfragt auch erneut die Vorstellung eines homogenen, linearen Zeitflusses.

6.11 »D EUTSCHES R EQUIEM «: D IE K RISE DER R EPRÄSENTATION Neben »El milagro secreto« ist »Deutsches Requiem« ein weiteres Beispiel für die Auseinandersetzung Borges’ mit dem Holocaust. »Deutsches Requiem« erschien erstmalig im Februar 1946 in Sur, nur wenige Monate nach den Nürnberger Prozessen. In dieser Erzählung vollzieht Borges einen gewagten Schritt und wählt als Erzählerfigur den deutschen Kriegsverbrecher Otto Dietrich zur Linde. Die auf den ersten Blick scheinbar nahegelegte Identifikation mit dieser Figur und deren daraus resultierende Rechtfertigung werden in der Sekundärliteratur gelegentlich als Grund für die bisher äußerst spärliche Forschung zu dieser Erzählung angeführt.231 Während der Großteil der Borges-Exegeten die Erzählung schlichtweg aussparte, so kritisierten sie einige wie zum Bell-Villada als schlecht und sprachen gar Borges die Fähigkeit zum Verstehen komplexer politischer Zusammenhänge komplett ab.232 Edna Aizenberg dagegen begründet die fehlende Auf-

230 Patterson, David/Berger, Alan L./Cargas, Sarita (Hrsg.): Encyclopedia of Holocaust literature, Westport, Connecticut: Oryx Press 2002, S. Xvii. 231 Vgl.: Graff Zivin: The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary, S. 156; Lawrence, Ramsey: »Religious Subtext and Narrative Structure in Borges’ ›Deutsches Requiem‹«, in: Variaciones Borges 10 (2000), S. 119–138, hier: S. 138. 232 So bezeichnet Bell-Villada die Erzählung als »one of Borges’s least satisfying narrative creations«, Bell-Villada: Borges and his fiction: a guide to his mind and art, S. 201. Er erläutert weiter: »›Deutsches Requiem‹ is Borges’s only extended attempt at ›political fiction‹. Strictly speaking, however, the narrative deals not with Nazi politics as such but with a species of intellect and personality, a cultural type. This limited focus is of a piece with Borges’s own political strengths and weaknesses, for though he consistently opposed Nazism and its local Argentine offshoots, he never demonstrated the slightest historical understanding of how a collective phenomenon such as the Third Reich can arise«, Bell-Villada:

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merksamkeit, die »Deutsches Requiem« in der Kritik erfuhr, wie folgt: »The Holocaust just didn’t make for a good read«.233 Otto Dietrich zur Linde schildert im einleitenden Paragraph der Erzählung zunächst seine illustre Herkunft und die Heldentode seiner Vorfahren. Er dagegen werde in Kürze wegen seiner Tätigkeit als stellvertretender Lagerleiter des Konzentrationslagers Tarnowitz234 hingerichtet. Ebenso wie Hladík in Erwartung seiner nahenden Hinrichtung über eine Möglichkeit nachdenkt, sein Dasein zu rechtfertigen, so sinniert auch zur Linde ausgehend von seinen Vorfahren über sein Leben. In seiner Lebensbeichte sieht er den Schlüssel für ein Verständnis der Geschichte Deutschlands und der zukünftigen Weltgeschichte. Beider Hinrichtungstermin ist für 9.00 Uhr morgens festgelegt. Während Hladík keine der gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen entkräften konnte, so verzichtete zur Linde im Prozess bewusst auf Rechtfertigungen, da er nicht feige erscheinen will. Auch soll seine Diegese nicht entschuldigen, denn ihn treffe keine Schuld, so zur Linde, er möchte lediglich verstanden werden. Borges liefert damit eine präzise Beschreibung der Verhaltensmuster der Täter des Holocaust, die diese nach Kriegsende zeigten. So schreibt Hannah Arendt: Die Täter andererseits zeigten nach Kriegsende, als bei Prozessen ein bißchen Selbstbezichtigung doch hätte hilfreich sein können, nicht einmal die Spur von Reue; […] Dies Verhalten scheint darauf hinzuweisen, daß die Furcht vor Verantwortung nicht nur stärker ist als das Gewissen, sondern unter bestimmten 235 Umständen auch stärker als die Angst vor dem Tod.

Borges and his fiction: a guide to his mind and art, S. 197. Dies ist nicht die einzige Einschätzung Bell-Villadas, die nicht nur gönnerhaft anmutet, sondern auch schlichtweg den Entstehungskontext und die politische Dimension der Erzählungen ignoriert. 233 Aizenberg: »Deutsches Requiem 2005, hier: S. 37. 234 Hanke-Schaefer schlüsselt den Namen des Konzentrationslagers wie folgt auf: »In der südpolnischen Stadt Tarnow lag das Gefängnis, aus dem am 14. Juni 1940 728 Personen in das nahe gelegene Arbeitslager Auschwitz gebracht wurden. Tarnow + Auschwitz = Tarnowitz«, HankeSchaefer, Adelheid: Totenklage um Deutschland. Echo deutscher Stimmen im Werk von Jorge Luis Borges, Berlin: Edition Tranvía 2007, S. 114. 235 Arendt, Hannah: Nach Auschwitz. Essays und Kommentare I (hrsg. von Geisel, Eike/Bittermann, Klaus), Berlin: Ed. Tiamat 1989 (Critica diabolis 21).

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Das Ablegen eines Zeugnisses wurde durch Autoren wie Primo Levi integraler Bestandteil der Holocaust-Literatur. Jedoch legt in »Deutsches Requiem« der Täter ein Zeugnis ab. Dies lässt sich als Verweis auf die Lückenhaftigkeit des Zeugnisses im Falle des Holocaust lesen. Die von Giorgio Agamben236 untersuchten Autoren weisen einstimmig darauf hin, dass die Zeugnisse des Holocaust über eine Lücke verfügen, da nur diejenigen, die überlebten, ein Zeugnis ablegen können. Diese dem Zeugnis inhärente Paradoxie greift Borges in »Deutsches Requiem« auf, indem anstelle des KZ-Insassen David Jerusalem der Täter Zur Linde ein Zeugnis ablegt. Jedoch ist dieses Zeugnis nicht kohärent. So erfährt der Leser durch eine Fußnote des erneut in Erscheinung tretenden fiktiven Herausgebers (ähnlich wie in »El jardín de senderos que se bifurcan«) von einem weiteren Vorfahren zur Lindes, den dieser verschwiegen hatte: Es significativa la omisión del antepasado más ilustre del narrador, el teólogo y hebraísta Johannes Forkel (1799–1846), que aplicó la dialéctica de Hegel a la cristología y cuya versión literal de algunos de los Libros Apócrifos mereció la censura de Hengstenberg y la aprobación de Thilo y Geseminus (Nota del editor) (OC 1, S. 576).237

Graff Zevin bezeichnet diese Fußnote als »early voice of dissonance in the text«,238 mit welcher der Herausgeber noch des Öfteren die Darstellung zur Lindes konterkarieren wird. Die darauf folgende Ergän236 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 29ff. 237 Fishburn/Hughes weisen darauf hin, dass es sich bei Geseminus um einen Druckfehler handeln muss, vgl. Fishburn/Hughes: Un diccionario de Borges, S. 141. Enrique Federico Guillermo Gesenius war ein deutscher Orientalist und Bibelgelehrter, welcher gemeinsam mit Johann Karl Thilo 1820 seltene orientalische Manuskripte studierte und sich 1830 Attacken aus dem protestantischen Lager unter Führung von Ernst Wilhelm Hengstenberg ausgesetzt sah. Hengstenberg kritisierte dabei vor allem die vom Rationalismus geprägte Exegese des Alten Testamentes, welche Gesenius praktizierte. Bei Johannes Forkel handelt es sich um eine fiktionale Figur, jedoch scheint dies eine Referenz auf Johann Nikolaus Forkel (1749–1818), einen deutschen Musikforscher und ersten BachBiographen zu sein, vgl. Fishburn/Hughes: Un diccionario de Borges, S. 136. Kurios ist die Tatsache, dass Borges den fiktionalen Forkel (1799–1846) mit seinen eigenen Lebensdaten versieht, allerdings ein Jahrhundert früher. Borges’ Geburtsjahr ist bekanntlich 1899, die Erzählung entstand 1946. 238 Graff Zivin: The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary, S. 158.

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zung des Herausgebers bezieht sich auf die Amputation eines Beins, welche zur Linde nach eigener Darstellung in Folge einer durch eine Schießerei hervorgerufene Verwundung erlitt. Der Herausgeber merkt nun süffisant an, dass diese Verwundung sehr ernste Konsequenzen zeitigte, die über die Amputation des Beines hinausginge. Dieser Verweis wird in der Sekundärliteratur als Hinweis auf eine daraus resultierende Kastration bzw. Impotenz gedeutet.239 In jedem Fall dient die Korrektur des Herausgebers hier dazu, erneut aufzuzeigen, dass auch zur Lindes Rekonstruktion der Ereignisse nur eine partielle sein kann. Wie bereits in »Emma Zunz« gewisse erzählerische Leerstellen durch Auslassungszeichen auch grammatikalisch gekennzeichnet wurden, so bleibt auch die Schilderung der Leiden des Opfers, David Jerusalem, hier unerzählt: »Determiné aplicar ese principio al régimen disciplinario de nuestra casa y…« (ebd., S. 579). Dem folgt eine Fußnote, in welcher der Herausgeber erklärt, dass es unumgänglich gewesen sei, das weitere auszusparen. Die Perspektive des Opfers bleibt konsequent ausgeblendet. Im nächsten Satz wird lediglich mitgeteilt, dass David Jerusalem kurz darauf den Verstand verlor und sich am 1. März 1943 umbrachte. Dies ist nicht die einzige Spiegelung zwischen zur Linde und Jerusalem (zur Linde erlitt ebenfalls am 1. März seine Verwundung, welche zur Amputation führte). Der Erzähler thematisiert dieses Verhältnis selber: Ante mis ojos, no era un hombre, ni siquiera un judío; se había transformando en el símbolo de una detestada zona de mi alma. Yo agonicé con él, yo morí con él, yo de algún modo me he perdido con él, por eso, fui implacable (ebd.).

Graff Zevin deutet dieses Verhältnis mit Hilfe von Levinas’ Kritik an der Heidegger’schen Ontologie und das von ihm beschriebene Verhältnis von Selbst und Anderem.240 Sie stellt überzeugend dar, dass die fetischisierte Beschreibung einzelner Gesichtspartien bewusst eine Beschreibung des Gesichtes, welches für Levinas das Kernelement des Anderen darstellt, verdrängt. Levinas entwickelte seine Kritik an der zu totalitären Systemen führenden ontologischen Philosophie bekanntlich explizit vor dem Hintergrund des Holocaust. David Jerusalem wird also von der Repräsentation ausgeschlossen, eine ethische Auseinandersetzung mit dem Anderen unterbleibt. Die 239 Vgl. ebd., sowie Aizenberg: »Deutsches Requiem 2005, S. 51. 240 Graff Zivin: The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary, S. 159ff.

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dabei verwendeten Auslassungspunkte sind kennzeichnend für einen literarischen Diskurs, welcher später als kennzeichnend für die Holocaust-Literatur beschrieben wurde. Aizenberg spricht von einer Dialektik des Sagens und des gleichzeitigen Nicht-Sagens in Bezug auf die Holocaust-Literatur. So kennzeichne sich diese durch zwei unterschiedliche Pole, auf der einen Seite der mimetischen Annäherung, dem – wenn auch immer begrenzten Versuch – einer authentischen Darstellung, und auf der anderen Seite der fiktionalen Darstellung, einer Darstellung jedoch, die fragmentiert ist und auf ihre Unvollständigkeit verweist.241 Beide Pole finden sich in »Deutsches Requiem«. So sind ebenso wie in »El milagro secreto« zahlreiche Verweise auf den historischen Kontext enthalten, die rückblickenden Erzählungen des Otto Dietrich zur Linde verfügen über zahlreiche »Bindeglieder« im Sinne Ricœurs, mit denen dieser seine Erzählungen in der Zeit situiert. Auf der anderen Seite finden sich die gezeigten Auslassungspunkte, die Ergänzungen durch den Herausgeber, die Ironien und das Verschweigen als ständige Erinnerungen, als Markierungspunkte des Fiktionalen.242 Darüber hinaus trägt der Aufbau der Erzählung dazu bei, die retrospektive Sinnstiftung zur Lindes zu zerstören. Wie Hanke-Schäfer243 heraushebt, gliedert sich die Erzählung in verschiedene Subgattungen, wie die Sentenz, das autobiographische Erzählen, die meta-physischen Reflexion und etwa die Aufzählung. Wenngleich auch dieses Montieren verschiedener Erzählstile typisch für eine Vielzahl der Erzählungen in Borges’ Oeuvre ist, so scheint dies jedoch hier insbesondere zur Fragmentierung und Brechung des narrativen Diskurses der Erzählinstanz beizutragen. Eine nähere Betrachtung verdient auch der Verweis auf Walt Whitman in der Erzählung. So behauptet der Erzähler, dass Jerusalem von dem Literaturtheoretiker Albert Soergel mit Whitman verglichen worden sei. Dieser Vergleich sei jedoch nicht glücklich, »begehe« Jerusalem doch im Vergleich zu Whitman nie Aufzählungen und Kataloge. In Auseinandersetzung mit der Literatur Walt Whitmans spricht Bor241 Vgl. Aizenberg: »Postmodern or Post-Auschwitz, S. 146 und Friedlander, Saul: »Introduction«, in: Friedlander, Saul (Hrsg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge/London: Harvard University Press 1992, S. 3–21, hier: S. 17. 242 Aizenberg: »Deutsches Requiem 2005, S. 50ff. 243 Hanke-Schaefer: Totenklage um Deutschland. Echo deutscher Stimmen im Werk von Jorge Luis Borges, S. 140ff.

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ges an anderer Stelle244 von einer »peculiar poesía de la arbitrariedad« (OC 1, S. 208). Er spielt damit auf die oftmals kommentierten Aufzählungen im Werk des nordamerikanischen Schriftstellers an, welche insbesondere in der französischen Literaturkritik für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Dabei werde jedoch übersehen – so Borges – dass Aufzählungen zu den ältesten literarischen Verfahren der Menschheit gehörten. Schon in der Bibel und im berühmten Schiffskatalog Homers fänden sich diese Aufzählungen. Borges zufolge sei das konstitutive Merkmal dieser Aufzählungen nicht so sehr die Länge sondern vielmehr »el delicado ajuste verbal, las »simpatías y diferencias« de las palabras« (ebd., S. 206), also die Gegenüberstellung und Kombination scheinbar nicht zueinander passender Elemente. Auch Borges selbst bedient sich dieser scheinbar endlosen Aufzählungen in Erzählungen wie »El Zahir«, und »El Aleph« sowie in Historia universal de la infamia.245 Volker Klotz spricht von »asyndetische[n] Reihe[n]«.246 Gemein haben diese Reihen, sei es die Vielzahl der im Aleph erblickten Gegenstände oder der Dinge, die der Erzähler in »El Zahir« nicht vergessen kann, dass sie die Darstellbarkeit von subjektiv erfahrener Realität problematisieren und die zwanghafte Reduktion von Vielheit in die Linearität von Sprache, oder wie der Erzähler »Borges« in »El Aleph« in dem viel zitiertem Ausspruch formuliert: »Lo que vieron mis ojos fue simultáneo: lo que transcribiré, sucesivo, porque el lenguaje lo es« (ebd., S. 625). Der Erzähler beklagt hier also eben jenen von Ricœur als Mimesis II beschriebenen Akt der Synthese. Ein phänomenologisches Zeitempfinden der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Vorgänge wird erzählt, jedoch macht der Erzähler auf die Unzulänglichkeit der sprachlichen Darstellung aufmerksam: eine narrative Darstellung der gesehenen Objekte erscheint ihm als unangemessen, eine – wenn auch die Vielfalt nur partiell wiedergebende – Aufzählung erscheint ihm angemessener. »Dissonante Konsonanz«, so hatte Ricœur die Verbindung paradigmatischer Elemente in einer erzählerischen Synthese genannt. Dass diese Konsonanz nicht immer erreicht werden kann und die Erzählung in mancherlei Hinsicht nicht der adäquate Vermittlungsmodus von

244 Vgl. den Aufsatz »El otro Whitman« (1929) in Discusión (OC 1, S. 206– 208). 245 In der Erzählung »El inmortal« spricht der Erzähler ebenfalls von dem »famoso catálogo de las naves«, OC 1, S. 543. 246 Klotz, Volker: Erzählen, München: C.H. Beck 2006, S. 135.

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Wirklichkeit sein kann, scheint Borges mit diesen Aufzählungen sagen zu wollen. »Parataxen« schreibt Adorno, »fallen als kunstvolle Störungen […] auf, welche der logischen Hierarchie subordinierender Syntax ausweichen«.247 Diese »parataktische Auflehnung wider die Synthesis«248 erschüttere die Kategorie des Sinnes, so Adorno.249 Borges stellt demzufolge auch bei Whitman einige grundlegende Eigenschaften seiner Dichtung heraus: »Simplificación final del recuerdo, inconocibilidad y pudor de nuestro vivir, negación de los esquemas intelectuales y aprecio de las noticias primarias de los sentidos« (OC 1, S. 208).250 Die Vereinfachung von Erinnerung und die Schamhaftigkeit und Unerkennbarkeit unseres Daseins zeige sich also u.a. in den literarischen Verfahren Walt Whitmans. Es kann konstatiert werden, dass Borges den Prozess der Synthese heterogener Elemente, welcher jeglicher Erzählung zugrunde liegt und von Ricœur als die »dissonante Konsonanz« der Mimesis II beschrieben wird, mit Werken wie »Deutsches Requiem« und »El milagro secreto« durchaus problematisiert. Es war für »El milagro secreto« bereits auf den Erzählduktus hingewiesen worden, der an die Form der Chronik erinnerte. Eine Erklärung, ob es sich nun bei dem geschenkten Jahr um eine Wahnvorstellung, einen Traum oder etwa ein Eingreifen Gottes handelte, blieb aus. Der Chronist verkündigte lediglich am Ende der Erzählung nüchtern den genauen Todeszeitpunkt des Protagonisten. Die Ausführungen zur Lindes in »Deutsches Requiem« sind in einen autobiographischen Diskurs eingebettet, welcher durch die Kommentare des Herausgebers permanent perspektivisch gebrochen wird. Auch er verzichtet darauf, sein Handeln zu erklären oder gar zu rechtfertigen. 247 Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur (hrsg. von Tiedemann, Rolf), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 (Gesammelte Schriften 11), S. 471. 248 Ebd., S. 476. 249 In der Erzählung »El jardín de senderos que se bifurcan« wird die Dominanz der paradigmatischer Elemente über syntagmatische auf thematischer Ebene offensichtlich. Das Buch Yu Tsuns galt lange Zeit als unlesbar, weil eben jener Syntheseakt scheitert. Es werden alle denkbaren Möglichkeiten der paradigmatischen Ebene realisiert, der Erzählakt wird damit ad absurdum geführt und wird erst durch die Forschungen von Stephen Albert dechiffriert. 250 Eine weitere Aufzählung, die die Syntax zerstört und gefestigte Denkkategorien aufhebt, ist natürlich die von Michel Foucault untersuchte in »El idioma analítico de John Wilkins« (Otras inquisiciones). Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft), S. 17–28.

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Wenngleich auch diese Erzählverfahren hier nicht als einzigartig für diese beiden Erzählungen bezeichnet werden sollen – tragen doch bspw. Fußnoten oftmals bei Borges zur polyphonen Ausgestaltung der Texte bei, – so ist doch auffällig, dass Borges just für diese beiden Erzählungen, welche sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, Erzählinstanzen einsetzt, welche die konsonanzstiftende Funktion des Narrativen unterwandern. Borges verfasst also fiktionale Texte über den Holocaust in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Zweiten Weltkrieg, noch bevor im Anschluss an Adornos Diktum, ein Gedicht nach Auschwitz zu verfassen sei barbarisch, die Frage nach der Repräsentierbarkeit des Holocaust gestellt wurde. Hayden White weist in seinem Essay »Historical Emplotment and the Problem of Truth« auf den »intransitiven Stil«, wie er von Roland Barthes beschrieben wird, hin, einer Schreibart also, in der das Schreiben nicht für etwas steht, sondern in der der Autor für sich selbst schreibt. Bereits bei Barthes wurde der Begriff des intransitiven Schreibens benutzt, um zwischen Modi des realistischen und des modernistischen Schreibens zu unterscheiden.251 White verweist ferner auf Erich Auerbachs Analyse der Wandlung der realistischen Darstellungsformen in Europa und diejenigen literarischen Darstellungsformen, welche Auerbach als kennzeichnend für die moderne Literatur anführt. In Techniken wie der erlebten Rede, dem Schwinden einer objektiven übergeordneten Erzählperspektive und neuen Darstellungsformen in Bezug auf das Erleben von Zeit sieht White ein neues Verhältnis von Geschichte und Repräsentation manifestiert, welches sich auch für die Darstellung des Holocaust eigne. So postuliert White: In point of fact I do not think that the Holocaust […] is any more unrepresentable than any other event in human history. It is only that its representation, whether in history or in fiction, requires the kind of style, the modernist style, that was developed in order to represent the kind of experience which social modernism made possible, the kind of style met with in any number of moder252 nist writers […].

Borges’ einzigartiger Schreibstil erweist sich also durch seine ständige Infragestellung der Möglichkeit und Grenzen von Repräsentation als

251 White, Hayden: »Historical Emplotment and the Problem of Truth«, in: Friedlander, Saul (Hrsg.): Probing the Limits of Representation, Cambridge/London: Harvard University Press 1992, S. 37–53, hier: S. 48. 252 Ebd., S. 52.

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überaus geeignet, ja sogar als notwendig, für die Darstellung solcher Ereignisse, die sich einer Repräsentation zu entziehen scheinen.253 Die Tatsache, dass sowohl David Jerusalem als auch Jaromir Hladík Schriftsteller sind, lässt sich als Verweis auf die Funktion des Erzählens verstehen, als die Notwendigkeit den Unterdrückten eine Stimme zu verleihen, wie Ricœur schreibt. Diese anthropologische Notwendigkeit auch – oder gerade – im Angesicht des Holocaust betonen auch Patterson: What, then, is Holocaust literature? […] This literature attests that a human being, even and especially after the Shoah, is homo narrans, struggling to tell a tale that defies telling even as it compels the writer to bear witness.254

Jedoch stellt sich diese Frage nach der Funktion und den Möglichkeiten des Erzählens nicht nur für die Literatur sondern auch für die Geschichtswissenschaft. Historisches Erzählen muss – so Rüsen – angesichts der Sinnlosigkeitserfahrungen des 20. Jahrhunderts zu einem eigenen Modus finden, welcher die präsentierte Geschichte nicht als abgeschlossen gedeutete Sinngestalt präsentiert, sondern die Brüche und Abwesenheit von Sinn sichtbar macht. Als paradigmatisches Beispiel dafür nennt Rüsen die Literatur Kafkas, welche die »Abwesenheit von Sinn ästhetisch sinnhaft aufscheinen läßt«255 und verweist damit auf ein dezidiert literarisches Vorbild für eine mögliche Neuorientierung der Geschichtsschreibung. Borges’ Texte verzichten generell auf eine psychologische Motivierung ihrer Handlungsschemata, insbesondere jedoch unterbleibt ein

253 Wie im Verlaufe dieser Arbeit gezeigt wurde, bildet sich diese Erzählweise jedoch keineswegs erst mit diesen beiden zuletzt analysierten Erzählungen heraus, sondern zeigt sich bereits in frühen Texten wie Evaristo Carriego und Historia universal de la infamia. Aizenberg betont jedoch die Bedeutung, die der Holocaust auf die Poetik seiner späten Werke ausgeübt habe: »Borges’s early, poetic voice was generated under the impact of expressionism, born out of the trenches of the First World War; his mature narrative expression, poised between a fractured history and a problematic representation, articulating reality and evading it, was the product of the Holocaust era, seen with penetrating lucidity from his position as »mere« Argentine«, Aizenberg: »Postmodern or PostAuschwitz, S. 148. 254 Patterson/Berger/Cargas (Hrsg.): Encyclopedia of Holocaust literature, S. xiii. 255 Rüsen: Zerbrechende Zeit: über den Sinn der Geschichte, S. 101.

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Erklären und damit eine Sinnstiftung in denjenigen Texten, welche sich mit dem Holocaust auseinandersetzen. Historisches Erzählen kann dieser negativen Dialektik der Sinnbildung durch einen Modus des Erzählens Rechnung tragen – durch Verweigerung und Verkehrung üblicher Erzählstrategien, die Erfahrung in Geschichte aufgehen lassen, und durch gesteigerte Reflexivität des Erzählmodus, in der die begrenzte Reichweite der verwendeten Sinnkriterien aufgewiesen wird. Mit dieser Integration der Nicht-Erzählbarkeit von Geschichte als Bedingung des historischen Erzählens wird die historische Vernunft bescheiden […].256

Diese Nicht-Erzählbarkeit von Geschichte hatte Borges bereits in dem Essay »El pudor de la historia« heraus gestellt. Auch den Repräsentationsansprüchen der realistischen Literatur erteilt er mehr als einmal eine Absage, da sich auch die Literatur immer nur darauf beschränken könne, Teile der Realität zu evozieren, der Rest müsse der Imagination des Lesers überlassen werden. Aufgrund der von Ricœur herausgestellten ontologischen Überkreuzung von Literatur und Geschichtsschreibung kann es somit zum Plätzetausch kommen, kann die Fiktion und – gerade die immer schon reflektierte und auf die Grenzen ihrer Darstellbarkeit aufmerksam machende historiographische Metafiktion – als alternativer Entwurf zu einem historischen Erzählmodus für das 20. Jahrhundert gelesen werden.

6.12 »G UAYAQUIL «: D ER KARTHAGISCHE B LICKWINKEL »Guayaquil« ist die Erzählung mit den offenkundigsten historiographischen Referenzen im Werk von Jorge Luis Borges.257 Die Erzählung erscheint 1970 in dem Band El informe de Brodie.258 In der Erzählung »Guayaquil« stellt Borges eine der umstrittensten und meist diskutierten Begebenheiten der lateinamerikanischen Geschichte in den 256 Ebd., S. 102–103, Hervorhebung im Original. 257 Daniel Balderston schreibt über diese Erzählung: »›Guayaquil‹ is Borges’s most explicit reflection on the relations between the writing of history and the writing of fiction […]«, Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 130. 258 Der genaue Entstehungszeitpunkt der Erzählung ist unbekannt. Bereits seit Mitte der 50er Jahre erläuterte Borges Bioy Casares wiederholt die Grundidee der Erzählung, vgl. Bioy Casares: Borges, S. 90, S. 132 und S. 417.

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Mittelpunkt. Auch hier geht es um die Neubewertung bzw. das Zutagebringen bisher nicht bekannter Einzelheiten aus einer für die Frage nach einer nationalen Identität zentralen Episode: das historische Treffen zwischen Bolívar und San Martín, das im Jahr 1822 in Guayaquil stattfand. Politischer Hintergrund war der Befreiungskampf Lateinamerikas gegen Spanien. Der Distrikt Guayaquil in Ecuador lud die militärischen Führer San Martín und Bolívar zu einem Treffen ein, und stellte sich unter ihren gemeinsamen militärischen Schutz. San Martín galt bereits als Befreier Chiles und Perus und hatte die ihm angetragenen Diktaturen dort abgelehnt, da er republikanische Verfahren befürwortete. Was genau in dem Gespräch der beiden Führer geschah, wurde nie bekannt, da sich beide später darüber ausschwiegen. Jedoch zog sich San Martín zurück und stellt seine Truppen unter Bolívars Befehl. Dieser machte sich zum Diktator von Großkolumbien, das nach seinem Tod 1830 in die Staaten Kolumbien, Venezuela und Ecuador zerfiel. San Martín dagegen, mitverantwortlich für die republikanische Verfassung Chiles, ging nach Europa, wo er 1850 starb.259 Das jahrzehntelange Schweigen San Martíns und Bolívars war Anlass zahlreicher Spekulationen seitens der Historiographie. In »Guayaquil« greift Borges dies auf. Die Erzählung widmet sich also einem der von Brian McHale als »dark side of history« bezeichneten, unbeleuchteten Bereich der offiziellen Geschichte.260 Wie mit Ricœur gezeigt, gilt es von jeher als Privileg der Fiktion, diejenigen Bereiche der Geschichte zu erschließen, die dem an Quellen gebundenen Historiker verschlossen sind. Umso mehr ist dies natürlich für den historischen Roman gültig, wie auch z.B. der historische Roman El general en su

259 Die bekannteste Biographie zu San Martín verfasste Bartolomé Mitre (1877–88): Mitre, Bartolomé: Historia de San Martín y de la emancipación sudamericana. 3 Bde., Buenos Aires: Editorial de la Universidad de Buenos Aires 1968. Zu der San Martín zugewiesenen Rolle als »Padre de la Patria« Argentiniens und für einen Überblick über die Polemik, welche im Anschluss an das Treffen der beiden Führer entbrannte, siehe: Correas, Edmundo: »En torno a la polémica sobre San Martín y Bolívar. La entrevista de Guayaquil«, in: Revista de la junta de estudios históricos de Mendoza 1, 7 (1972), S. 389–403; zur Biographie San Martíns siehe z.B.: García Hamilton, José Ignacio: Don José, La vida de San Martín, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 2000 sowie: Terragno, Rodolfo H.: Maitland & San Martín, Quilmes: Universidad Nacional de Quilmes 1998. 260 Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion 1, S. 176.

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laberinto von Gabriel García Márquez261 beweist, der die letzten Jahre des Generals Bolívars zeigt und diesen darin – abseits dokumentierter Quellen – überaus menschlich darstellt, was für zahlreiche Kritik sorgte. Der Ausgangspunkt von »Guayaquil« besteht darin, dass angeblich Briefe Bolívars auftauchten, die nun abgeschrieben, bewertet und zur Veröffentlichung vorbereitet werden sollen. Das Interesse an diesen Briefen ist groß, da Bolívar darin angeblich seine Sichtweise der damaligen Geschehnisse schildert. Der Erzähler, ein Ordinarius für Amerikanische Geschichte, ist auserwählt worden, die prestigeträchtige Arbeit des Abschreibens und Veröffentlichens zu übernehmen. Dann jedoch erfährt er, dass von der konkurrierenden Universität Argentiniens ein gewisser Dr. Zimmermann,262 ein jüdisch-argentinischer Geschichtswissenschaftler,263 vorgeschlagen wurde. Die beiden Männer verabreden ein Treffen, in dessen Verlauf sich das Geschehen von Guayaquil zu wiederholen scheint. Obwohl der Erzähler eingangs ledig261 García Márquez, Gabriel: El general en su laberinto, Barcelona: Mondadori 1996. 262 In der vorliegenden Primärtextausgabe wird der Name mit Zimmermann angegeben. In der zunächst (1970) erschienenen Ausgabe hieß die Figur Zimerman, erst bei Aufahme der Erzählung in die Obras Completas (1974) wurde sie zu Zimmermann. Balderston vermutet, dass die Änderung aufgrund der offenkundigen Ähnlichkeit mit Jacobo Timerman erfolgte. Dieser war Direktor der Zeitung La Opinión, bei der Borges seinen autobiographischen Essay veröffentlichte, und das Bild Zimermans stimmte wohl nur zu leicht mit dem überein, das Gegner Timermans von ihm zeichneten, Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 116–117. 263 Auch hier zeigt sich, dass Borges sich nicht nur mit Motiven der entfernteren Vergangenheit auseinandersetzte, sondern auch insbesondere politische Ereignisse der Gegenwart in seinen Erzählungen thematisiert. Neben »El milagro secreto« und »Deutsches Requiem« ist diese Erzählung auch als Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich zu verstehen. Der jüdische Protagonist dieser Erzählung musste aus Deutschland fliehen, nachdem ein öffentlich ausgetragener Disput mit Martin Heidegger über die Rolle eines Staatschefs zu seiner Diskreditierung und Offenlegung seiner jüdischen Herkunft führte. Dieser Seitenhieb auf Martin Heidegger zeigt einmal mehr, dass Borges nicht etwa nur den zeitgenössischen philosophischen Diskurs verfolgt, sondern durch die Einführung dieses Protagonisten auf diegetischer Ebene ergibt sich zusätzlich zu der hypodiegetischen Ebene, auf welcher zentrale Fragen der lateinamerikanischen Geschichte verhandelt werden, eine zweite Ebene der Auseinandersetzung mit politischer Geschichte. Darüber hinaus karikiert er durch die Art und Weise, wie der Erzähler Zimmermann beschreibt, subtil antisemitische Clichés.

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lich davon ausgeht, dass er Dr. Zimmermann darüber informieren wird, dass er selbst bereits ausgewählt wurde, gewinnt jener im Verlauf des Gesprächs die Oberhand und überzeugt den Erzähler schließlich davon, dass er selbst die Arbeit übernehmen werde. Der Erzähler stellt fest, dass Zimmermann schon vorher von dem Ausgang des Gesprächs überzeugt war, denn er hat bereits eine Einverständniserklärung für den Erzähler vorbereitet, in der dieser offiziell von der Arbeit Abstand nimmt und Dr. Zimmermann dafür vorschlägt. Darüber hinaus sieht er durch einen Blick in Zimmermanns Tasche, dass dieser bereits das Flugticket nach Sulaco, den Aufbewahrungsort der Briefe, gekauft hat. Borges nimmt mit dieser Geschichte nicht nur explizit Bezug auf das historische Treffen von Guayaquil sondern auch auf die sich daran anschließende Diskussion der Historiographie über eben dieses Treffen: Las explicaciones son tantas… Algunos conjeturan que San Martín cayó en una celada; otros, como Sarmiento, que era un militar europeo, extraviado en un continente que nunca comprendió; otros, por lo general argentinos, le atribuyen un acto de abnegación; otros, de fatiga. Hay quienes hablan de la orden secreta de no sé qué logia masónica (OC 2, S. 442).264

Dabei geht er jedoch nicht auf den sogenannten »Lafond-Brief« ein. Denn tatsächlich tauchte zwanzig Jahre nach dem Treffen zwischen Bolívar und San Martín ein Brief auf, der angeblich von San Martín stammte. Der Brief ist benannt nach G. Lafond de Lurcy, einem Kapitän, der ihn in französischer Übersetzung veröffentlichte. Datiert ist der Brief auf den 29. August 1822, geschrieben angeblich in Lima. Darin erläutert San Martín Bolívar die Gründe für seine Entscheidung, sich zurückzuziehen. Der Brief wurde zum Gegenstand bitterer Polemik in der lateinamerikanischen Historiographie des 19. Jahrhunderts.265 264 Zur Mitgliedschaft San Martíns in der Loge Lautaro, siehe: Onsari, Fabián: San Martín, la logia lautaro y la francmasoneria, Buenos Aires: Avellaneda 1951. 265 Eine interessante Lesart der Erzählung schlagen Chibán/Guzmán Pinedo vor, die darin besteht, den Diskurs des Erzählers als eben jene Erläuterungen San Martíns in besagtem Lafond-Brief zu lesen. Sie weisen auf verschiedene ähnlich lautende Formulierungen hin und darauf, dass auch der Erzähler am Ende verkündet, das Geschriebene zu vernichten, eben so, wie das Original der Lafond-Briefe nie auftauchte. Chibán, Alicia/Guzmán Pinedo, Martina: »›Guayaquil‹ de Jorge Luis Borges: un espacio

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1940 erweiterte sich die Situation dadurch, dass ein angeblicher Briefwechsel zwischen San Martín und Bolívar bekannt wurde, der insgesamt sieben Briefe umfasste.266 Publiziert wurde dieser Briefwechsel unter dem Titel San Martín y Bolívar en la Entrevista de Guayaquil, a la luz de nuevos documentos definitivos von dem ehemaligen argentinischen Botschafter in Peru, Eduardo L. Colombres Mármol.267 Über diese Briefsammlung entwickelte sich dann eine ähnliche Diskussion wie über die »Lafond Briefe«. Einer der vehementesten Verfechter der These, die Briefe seien gefälscht, war der venezolanische Historiker Don Vicente Lecuna, welcher seine Thesen in La Entrevista de Guayaquil – Restablecimiento de la verdad histórica darlegte.268 Balderston zitiert den chilenischen Historiker Irarrázaval Larraín, einen Verbündeten Lecunas im Kampf für die Fälschungstheorie hinsichtlich der Briefe, mit den Worten: The exposition and development of their respective theses (die Thesen der Befürworter der Echtheit der »Lafond« wie der »Colombres Mármol Briefe«, C.R.) can serve as an example to explain how fictions acquire the shape that 269 allow them to be taken for history.

Damit ist also bereits die reale historische Vorlage für Borges’ Geschichte durch ein bis heute unentwirrbares Netz aus Fiktion und Fakt gekennzeichnet. Dieses Verhältnis von Fakt und Fiktion ist auch für die Kurzgeschichte kennzeichnend. Im zweiten Absatz kommentiert der Erzähler seinen eigenen Erzählstil, welchen er als melancholisch und hochtrabend bezeichnet, ihm sei es doch etwas peinlich, die für ihn unrühmlichen Ereignisse im Folgenden schildern zu müssen. Dieser Schreibstil gleiche demjenigen des berühmtesten Geschichtsschrei-

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para el enigma«, in: Alba de América (Número Especial: Reescritura de la historia en la literatura del mundo hispánico) 17, 32 (1999), S. 129– 138. Darin enthalten waren auch Briefe an andere Personen, so z.B. Briefe von Bolívar an Santander und an Sucre sowie Briefe San Martíns an La Serna, vgl. Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 124. Den Prolog schrieb der weiter oben bereits mehrfach erwähnte Rómulo D. Carbia, einer der prominentesten Vertreter der Nueva Escuela Histórica. Lecuna, Vicente: La Entrevista de Guayaquil – Restablecimiento de la verdad histórica, Caracas: Imprenta Nacional 1947. Balderston: Historical Reference and the Representation of Reality in Borges, S. 124, Hervorhebung im Original.

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bers jener (fiktiven) Republik des Karibischen Meeres, in welcher sich die Briefe befänden. Dieser berühmte Geschichtsschreiber trägt den denkwürdigen Namen José Korzeniovski – der polnische Geburtsname des Schriftstellers Joseph Conrad.270 Über Conrad schreibt Borges an anderer Stelle, dass dieser die poetische Qualität des alltäglichen Lebens geschätzt und seinen fiktiven Charakteren Eigenschaften des Realen zugeschrieben habe: Joseph Conrad pudo escribir que excluía de su obra lo sobrenatural, porque admitirlo parecía negar que lo cotidiano fuera maravilloso […]. Conrad y Henry James novelaron la realidad porque la juzgaban poética […] (OC 2, S. 45). »Creo que Schomberg es real«, escribió Joseph Conrad de uno de los personajes más memorables de su novela Victory y eso podría honestamente afirmar cualquier novelista de cualquier personaje (OC 2, S. 52).

Weitere Anspielungen auf Joseph Conrad stellen die Figur des Archivars Dr. Avellanos dar, ist doch Dr. Avellanos der Name der Hauptfigur im Roman Nostromo (1904) des britischen Schriftstellers. Ferner der Name der fiktiven Stadt Sulaco, welche in demselben Roman Conrads eine Minenstadt ist und bei Borges zu dem Aufbewahrungsort des nicht minder wertvollen historischen Dokumentes wird. Es kann also nicht verwundern, dass Borges hier für seine versteckten intertextuellen Anspielungen Joseph Conrad als Gewährsmann für eine Aufhebung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion wählt. Borges greift mit »Guayaquil« die in der lateinamerikanischen Historiographie vorherrschende Kontroverse um Authentizität und Fälschung in Bezug auf den Nachlass von Guayaquil auf. Verwalter der Briefe ist in der Erzählung der Archivar Dr. Avellanos, der als Verfasser des denkwürdigen Titels Historia de cincuenta años de desgobierno dargestellt wird. In dessen Archiv werden die Briefe Bolívars aufgefunden und verschiedenen lateinamerikanischen Republiken angeboten. Verantwortlich für die Entscheidung zugunsten Argentiniens zeichnet dann ebenfalls ein Botschafter, Dr. Melaza, und Zimmermann erinnert den Erzähler daran, dass der Name des Herausgebers der Briefe unwiederbringlich mit den Briefen verbunden bleibt: »Permítame asimismo agregar que el nombre del divulgador de la carta quedará vinculado a la carta« (ebd., S. 441). Die Parallelen zu den »Lafond« und den »Colombres Mármol« Briefen sind unübersehbar.

270 Vgl. Fishburn/Hughes: Un diccionario de Borges, S. 191.

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Eine weitere Parallele zwischen der Erzählung und der Vergangenheit zeigt sich darin, dass das Augenmerk bei der Veröffentlichung der angeblichen Bolívar-Briefe nicht auf deren bloße Veröffentlichung gerichtet ist, sondern vielmehr auf die Prüfung ihrer Authentizität und eine mögliche Widerlegung. Borges greift damit den Skeptizismus auf, der sich hinsichtlich der möglichen Echtheit angeblich unwiderlegbarer Fakten im Anschluss an die Guayaquil Polemik entwickelte.271 In ironischer Weise stellt er die wissenschaftlichen Techniken dar, die anscheinend in der Frage nach der Echtheit der »Lafond«- und »Colombres Mármol«-Briefe dennoch versagten und keine Einigkeit bezüglich ihrer Authentizität erzielen konnten: En todo caso, la cacareada epístola nos revelará lo que podríamos llamar el sector Bolívar, no el sector San Martín. Una vez publicada, habrá que sopesarla, examinarla, pasarla por el cedazo crítico y, si es preciso, refutarla. Nadie más indicado para ese dictamen final que usted, con su lupa. ¡El escalpelo, el bisturí, si el rigor científico los exige (ebd., S. 441)!

Doch nicht nur die historiographische Debatte im Anschluss an das Treffen von Guayaquil, sondern auch der vermutete Ablauf des Gesprächs zwischen Bolívar und San Martín, in dem ersterer dem anderen seinen Willen »aufzwang«, wird in der Geschichte verarbeitet. Zunächst ist der Erzähler, auch ein erfahrener Historiker, siegessicher, dass er die Arbeit übernehmen wird. Beim Eintreten Zimmermanns stellt er beschämt fest, dass er sich ihm sogar körperlich überlegen fühlt: Al saludarnos, comprobé con satisfacción que yo era el más alto, e inmediatamente me avergoncé de tal satisfacción, ya que no se trataba de un duelo físico ni siquiera moral, sino de una mise au point quizá incómoda (ebd., S. 439, Hervorhebung im Original).

Zimmermann jedoch bietet dem Erzähler scheinbar unabsichtlich die Möglichkeit, ihn zu korrigieren. Er bezieht sich auf eine Schlacht, in der der Urgroßvater des Erzählers kämpfte und macht einen faktischen Fehler. Die Korrektur des Erzählers kontert er mit einem theatralischen Ausruf, indem er seine eigene Fehlbarkeit als Geschichtswissenschaftler betont und den Erzähler als Verkörperung der lebendigen Geschichte hervorhebt: »¡Mi primer error, que no será el último! Yo

271 Vgl. Correas: »En torno a la polémica sobre San Martín y Bolívar.

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me nutro de textos y me trabuco; en usted vive el interesante pasado« (ebd., S. 440). Die Büchersammlung des Erzählers inspizierend, entdeckt er Werke Schopenhauers: »Ah, Schopenhauer, que siempre descreyó de la historia…« (ebd.). Er merkt an, dass er in Prag dieselbe Ausgabe besessen habe, bevor ihn der Nationalsozialismus von dort vertrieben habe. Interessanterweise benutzt er dieselbe Metapher für die Verkörperung von Geschichte in einer Person, die er vorher auf den Erzähler anwendete, nun für Hitler: Esa misma edición, al cuidado de Grisebach, la tuve en Praga, y creí envejecer en la amistad de esos volúmenes manuables, pero precisamente la historia, encarnada en un insensato, me arrojó de esa casa y de esa ciudad (ebd.).

Unbeirrt trägt der Erzähler jedoch sein Anliegen vor und informiert Zimmermann darüber, dass er vom Minister mit der Mission, die er gewissermaßen im Blut trage und die die Krönung seines Lebenswerkes darstelle, betraut worden sei. In unterwürfiger Manier hebt Zimmermann die eigentlich disqualifizierend wirkende Tatsache, dass der Erzähler durch seine Familienabstammung parteiisch beeinflusst ist, lobend hervor und bezeichnet ihn als echten Historiker: En la sangre. Usted es el genuino historiador. […] Usted lleva la historia en la sangre, según sus elocuentes palabras; a usted le basta oír con atención esa voz recóndita. Yo, en cambio, debo transferirme a Sulaco y descifrar papeles y papeles acaso apócrifos. Créame, doctor, que lo envidio (ebd., S. 441).

In dieser Äußerung liegt auch bereits der Schlüssel für die Wende, die sich im Laufe des Gesprächs vollzieht. Zimmermann stellt die Tatsache, dass er die Aufgabe übernehmen wird, bereits fest und präsentiert sie als unabwandelbares Ereignis in der Zukunft: »esas palabras […] eran ya la expresión de una voluntad, que hacía del futuro algo tan irrevocable como el pasado« (ebd.). Damit bezieht sich der Erzähler erneut auf Schopenhauer, dessen Theorie des Primats des Willens hier zugleich explizit als Erklärung für den Gesprächsverlauf zwischen dem Erzähler und Zimmermann und implizit somit auch als Folie für das Gespräch zwischen San Martín und Bolívar dient. In dem Essay »Nathaniel Hawthorne« fasst Borges diesen Leitgedanken Schopenhauers prägnant zusammen: »Schopenhauer ha escrito, famosamente, que no hay acto, que no hay pensamiento, que no hay enfermedad que no sean voluntarios« (ebd., S. 56). Die Entdeckung dieser Tatsache,

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dass der menschliche Wille im Sinne Schopenhauers die eigentliche Erklärung für dieses mysteriöse Treffen gewesen sei, scheint das »schamhafte« Moment dieser Erzählung zu sein. Denn, so erklärt Zimmermann, es sei völlig egal, ob die Briefe nun authentisch seien oder nicht, denn dies erkläre noch lange nicht die wahre Schreibabsicht Bolívars: Que sean de puño y letra de Bolívar […] no significa que toda la verdad esté en ellas. Bolívar puede haber querido engañar a su corresponsal o, simplemente, puede haberse engañado. Usted, un historiador, un meditativo, sabe mejor que yo que el misterio está en nosotros mismos, no en las palabras (ebd., S. 441).

Das wahre Geheimnis entziehe sich der schriftlichen Darstellung, so Zimmermann. Als der Erzähler jedoch darauf beharrt, dass es doch sehr interessant sei, die genauen Worte herauszufinden, die die beiden Heerführer zueinander sagten, erwidert Zimmermann: Acaso las palabras que cambiaron fueron triviales. Dos hombres se enfrentaron en Guayaquil; si uno se impuso, fue por su mayor voluntad, no por juegos dialécticos. Como usted ve, no he olvidado a mi Schopenhauer (ebd., S. 442).

Zimmermann bezeichnet sich aufgrund seiner jüdischen Abstammung explizit als einer Gruppe angehörig, die Benjamin als die der Verlierer der Geschichte bezeichnen würde. In Bezug auf den beeindruckenden Stammbaum des Erzählers bemerkt er: »Su gente anduvo por los campos de América y libró las grandes batallas, mientras la mía, oscura, apenas emergía del ghetto« (ebd., S. 441, Hervorhebung im Original). Eine von Zimmermanns Arbeiten als Geschichtswissenschaftler bestand in einer Ehrenrettung der semitischen Republik Karthago. Dies lässt sich als erneuter Verweis auf die fehlende Geschichtsschreibung aus Sicht der Karthager deuten, welche bei Borges sinnbildlich für eine den Hegemonieanspruch sichernde Geschichtsschreibung durch die jeweiligen Sieger der Geschichte steht. So begründet auch der Jude Zimmermann seine Eignung für die Aufgabe eben mit seiner randständigen Position, die ihn gegenüber dem durch seine Familientradition parteiischen Erzähler priviligiere: »En materia bolivariana (perdón, sanmartiniana) su posición de usted, querido maestro, es harto conocida. Votre siège est fait« (ebd., Hervorhebung im Original). Er dagegen beharrt auf seiner völligen Unvertrautheit mit der Materie und bezeichnet seinen Blickwinkel als karthagisch:

234 | S CHAMHAFTE G ESCHICHTE Usted, como el día, abarca el Occidente y el Oriente, en tanto que yo estoy reducido a mi rincón cartaginés, que ahora complemento con una pizca de historia americana. Soy un mero metódico (ebd., S. 443, eigene Hervorhebung).

Auf die Frage nach seiner Herkunft entgegnet Zimmermann wie folgt: »Usted es de Praga, doctor? – Yo era de Praga« (ebd., S. 442). Fishburn bezeichnet Zimmermann als die Personifikation eines neuen argentinischen Nationalgefühls und »übersetzt« den Subtext dieses Dialogs folgendermaßen: »¿Usted es de Praga, doctor?«: You’re a foreigner, aren’t you, an outsider, not conversant with our ways? »Yo era de Praga.«: Once I was, but not any more. Now I belong to Argentina. My people are at home anywhere, and as an immigrant, and a Jew, I am the representative of the post-Roca liberal order, of a new, dynamic nation which 272 only a mind as agile as mine can understand.

Der Erzähler versteht, dass der Mythos zerstört würde, wenn er sich der Aufgabe annähme. Das Publikum würde seiner Erklärung Glauben schenken und für immer mit ihm in Verbindung bringen. Zimmermann dagegen würde Bolívars Brief unvoreingenommen präsentieren und so die mythische Unsicherheit bewahren: If Zimmermann interprets the letter for the public, he will preserve the mythic ambiguity by weighing Bolívar’s words in the proper perspective. But the biased narrator feels that if he publishes a commentary, the effect will be deadly; […] The public will link him with the letter, and the myth (the suggestive indeterminacy) will be destroyed by some miserable »explanation« which the pub273 lic will suppose has been made by his conclusions on the subject.

Um Zimmermann zu signalisieren, dass er verstanden hat, erzählt er ihm zwei Parabeln. In der ersten spielen zwei Könige Schach auf einem Hügel, während unten im Tal ihre Krieger kämpfen. Einer der beiden Spieler gewinnt die Partie und zur selben Zeit informiert ihn ein Reiter darüber, dass sein Heer gewonnen habe. Auch hier spiegeln sich die beiden Handlungen. Zimmermann tut dies als magischen Vor-

272 Fishburn, Evelyn »Reflections on the Jewish Imaginary in the Fictions of Borges«, in: Variaciones Borges 5 (1998), S. 145–156, hier: S. 153. 273 Wheelock, Carter: »Borges’ New Prose«, in: Bloom, Harold (Hrsg.): Modern Critical Views: Jorge Luis Borges, Philadelphia: Chelsea House Publishers 1986, S. 105–132, hier: S. 122.

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gang ab, der Erzähler jedoch entgegnet: »O la manifestación de una voluntad en dos campos distintos« (ebd., S. 443). Die zweite Parabel berichtet von einem Wettstreit unter zwei keltischen Barden. Der erste begleitet sich selbst auf der Harfe und singt vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung. Er übergibt die Harfe dem anderen, der sie zur Seite legt und aufsteht. Daraufhin bekennt der erste seine Niederlage. Wheelock interpretiert dies folgendermaßen: »We can take the second parable to mean that the best song remains unsung – limitless, unending, like a promise«.274 Am Ende verschreibt sich der Erzähler, ein Geschichtswissenschaftler, der sein Leben damit verbracht hat, die Wahrheit über die Geschichte herauszufinden, der Ästhetik des Unbestimmten. Er zieht es vor, die Geschehnisse von Guayaquil im Ungewissen zu lassen, als eine immer unzureichend bleibende Erklärung anzubieten, die darüber hinaus subjektiv gefärbt sein würde. Melancholisch stellt er fest, dass er aufhören werde zu schreiben: »Presiento que ya no escribiré más. Mon siège est fait« (ebd. S. 443). Der argentinische Geschichtswissenschaftler schweigt also und überlässt das Feld der Forschung Zimmermann, welcher aus seiner »karthagischen« Perspektive heraus besser geeignet erscheint, die stark nationalistisch geprägte historiographische Auseinandersetzung um Guayaquil zu leiten. Nachdem Borges also bereits mit Erzählungen wie »El milagro secreto« und »Deutsches Requiem« auf die Geschichtsschreibung der Sieger verwiesen hatte, greift er in »Guayaquil« diese dem Zeugnis inhärente Paradoxie auf.275

274 Ebd. 275 Ab den 50er Jahren hatte der Revisionismus – wie gezeigt – in Argentinien enorm an Bedeutung gewonnen und in den darauf folgenden Dekaden entstand eine enge Verbindung zwischen den von jeher nationalistischen Bestrebungen des Revisionismus mit Zielen des Peronismus, vgl. Cattaruzza: »El revisionismo: itinerarios de cuatro décadas«, insbesondere S. 169ff. Das dem argentinischen Historiker in »Guayaquil« auferlegte Schweigen kann also vor diesem Hintergrund ebenfalls als später Kommentar zum historischen Diskurs in Argentinien aufgefasst werden.

7. Schlussbetrachtung »Revisando mi biblioteca, veo con admiración que las obras que más he releído y abrumado de notas manuscritas son el Diccionario de la filosofía de Mauthner, El mundo como voluntad y representación de Schopenhauer, y la Historia de la guerra mundial de B.H. Liddell Hart« (OC 4, S. 284).

Es ist in dieser Publikation eine Leseart von Borges vorgeschlagen worden, die seine Erzähltexte nicht auf ihren phantastischen Charakter reduziert, sondern deren Bezüge zu historischen und historiographischen Fragestellungen betont. Borges’ Werke kennzeichnen sich von Beginn an durch eine profunde Auseinandersetzung mit der Geschichte, sowohl verstanden als res gestae als auch als historia rerum gestarum. Seine Erzählungen stellen eine originelle Überkreuzung von historischem und fiktionalem Erzählen dar. Dass diese beiden großen Modi des Erzählens über zahlreiche gegenseitige Anleihen verfügen, hat Ricœur paradigmatisch in Zeit und Erzählen heraus gestellt. Der fiktionale Diskurs bedient sich Mitteln der Historisierung, indem er bspw. durch Bindeglieder die phänomenologische Zeit in die Weltzeit einbindet. Auch der historische Diskurs ist auf Strategien der narrativen Vermittlung angewiesen. Ricœur hebt durch das Verfahren der dreifachen Mimesis den prozessualen und konstruktiven Akt der literarischen Repräsentation hervor und lenkt das Augenmerk auf die Techniken der literarischen Konfiguration von Geschichte. Die konsonanzstiftende Funktion der Erzählung und die damit verbundene, notwendige Komplexitätsreduzierung wird von Borges bereits in frühen Essays thematisiert. Er erforscht essayistisch verschiedene Variationen von Zeit, jedoch zwinge die menschliche Sprache

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diese in eine ihnen nicht gerecht werdende Linearität. Sowohl die Repräsentation durch die Geschichtsschreibung als auch durch die Fiktion ist damit immer unvollständig, beide verweisen auf eine dahinter liegende, komplexere Realität. Ja, in der Literatur bestehe gerade die Kunst darin, durch kleine, scheinbar unwichtige Details auf diese andere Realität hinzuweisen. Auch die Geschichte sei schamhaft, postuliert Borges, sie entziehe sich der vollständigen Repräsentation. Die politische Geschichte mit ihren historischen Daten und Fakten kann immer lediglich nur ein Gerüst bilden, dahinter verbirgt sich die wahre Geschichte. Der von Ricœur beschriebene quasi-historische Charakter der Fiktion ermöglicht es der Fiktion jedoch, andere, unverwirklichte Geschichten zu erzählen. Dies macht sich Borges zu Nutzen, nicht nur greift er in seinen Erzählungen Strategien des historischen Erzählens parodierend auf, z.T. erfüllen seine Fiktionen auch die Funktion, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Geschichten zu erzählen. Wie gezeigt, war die argentinische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert eng mit dem Prozess des »nation-building« verbunden. Daher wurden viele Bereiche von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossen. Zu der von ihm postulierten Schamhaftigkeit der Geschichte, den historiographischen Leerstellen also, gehört zum Beispiel die Tatsache, dass sich hinter den hagiographischen Darstellung nationalistischer Geschichtsschreibung die Geschichten von Unbekannten verbergen, denen er beispielsweise in »Historia universal de la infamia« Ausdruck verleiht. Auch in »El jardín de senderos que se bifurcan« etwa wird durch die implizite Aufdeckung des Kausalaberglaubens auf eine solche Leerstelle verwiesen. Die Erzählung wird vom Erzähler als Alternative zur offiziellen Geschichtsschreibung angepriesen, einer monokausalen Erklärung wird ein »tejido infinito e incalculable de efectos y causas« entgegengestellt. Diesen Fokus auf die Ausschlussmechanismen der Historiographie teilt Borges mit Walter Benjamin, der mit der positivistisch verstandenen Geschichtsschreibung des Historismus hart ins Gericht ging und forderte, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. Borges’ Werk verfügt somit von Beginn an über eine politische Dimension, da er in seinen Erzählungen dominierende Machtverhältnisse in Frage stellt und die Ein- und Ausschlussmechanismen, die immer mit der Durchsetzung von Machtverhältnissen einhergehen, beleuchtet. Bei beiden

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Autoren steht Karthago als Sinnbild für die Perspektive der Unterlegenen und damit von der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen. Aus seiner »karthagischen Perspektive« heraus gelingt es somit dem Franzosen Pierre Menard in der gleichnamigen Erzählung, durch eine wortgleiche Wiederholung des Don Quijote den historischen Roman zu revolutionieren, ebenso wie der jüdische Geschichtswissenschaftler Zimmermann geeigneter erscheint, die Hinterlassenschaften der nationalen Ikone San Martín zu publizieren. Mit Erzählungen wie »El milagro secreto« zeigt sich, dass Borges den Sieg der Konsonanz über die Dissonanz, welcher für Ricoeurs Verständnis von Erzählung essentiell ist, problematisiert. Er nimmt damit Fragen, welche die Rolle der Historiographie nach dem Holocaust betreffen, vorweg. Auch die grundlegende Bedeutung, die Ricœur dem Zeugnis für die Geschichtsschreibung zuweist, wird mit »La otra muerte« und »Emma Zunz« in Frage gestellt. Während bei »La otra muerte« die Partialität der Zeugen in Versionenpluralität endet, wird bei »Emma Zunz« eine gefälschte Zeugenaussage durch Interpretation zum Faktum. »Emma Zunz« zeigt darüber hinaus auf eindrucksvolle Weise, dass Kausalitätsschemata und narrative Erklärungsmuster ad absurdum geführt werden können. In ihrer Inszenierung von Wirklichkeit spielt das Ablegen eines Zeugnisses eine wichtige Rolle. Wie bereits in »Tema del traidor y del héroe« wird in dieser Erzählung darauf aufmerksam gemacht, in welcher Weise auch die Realität immer schon Resultat einer oder mehrerer performativer Akte ist. Borges’ Literatur lässt sich als historiographische Metafiktion beschreiben. Es hat sich dabei gezeigt, dass die offen angelegten Analysekriterien von Nünning erlauben, den vielschichtigen historischen Referenzen und historiographischen Reflexionen in Borges’ Erzählungen gerecht zu werden. Borges’ Fiktionen kennzeichnen sich durch zahlreiche Verweise auf die argentinische, die lateinamerikanische und die europäische Geschichte. Die Spannweite reicht dabei von den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriegen bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Diese historischen Bezüge sind Teil einer weit gestreuten Auseinandersetzung mit dem »Machen« von Geschichte. Borges geht darüber hinaus, die bloße Nähe von Geschichtsschreibung und Fiktion offen zu legen und verweist wiederholt auf den performativen Charakter von Geschichte. Mit Texten wie Evaristo Carriego und Historia universal de la infamia experimentiert Borges mit der historiographischen Paradegat-

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tung der Biographie. Während sich Evaristo Carriego als »Milieubiographie« nach dem Vorbild Groussacs lesen lässt, in der ein eher marginaler Akteur zurück tritt hinter seinem sozio-kulturellen Umfeld, ersetzt in Historia universal de la infamia ein Ensemble von Partikulargeschichten die angekündigte Universalgeschichte. Beide Texte rekurrieren damit auf die methodischen Kontroversen der argentinischen Historiker im 19. Jahrhundert. Borges erteilt der Kanonisierung vermeintlich nationaler Epen wie des Martín Fierro eine klare Absage und stellt die Gültigkeit der angeblich für das argentinische Selbstverständnis so grundlegenden Teilräume von Zivilisation und Barbarei mit Erzählungen wie »Historia del guerrero y de la cautiva« in Frage. Identität, so zeigt sich in Erzählungen wie »El fin«, »Tema del traidor y del héroe« und auch »Historia del guerrero y de la cautiva«, ist fließend und ständigem Wandel unterzogen, das kulturelle Gedächtnis eine austauschbare Größe, wie »La memoria de Shakespeare« vor Augen führt. Auch persönliche Identität, so führt »Emma Zunz« vor, ist performativ inszeniert und beruht darüber hinaus auf dem persönlichen Gedächtnis, welches – wie »La otra muerte« zeigt, – überaus unzuverlässig ist. Mit »El jardín de senderos que se bifurcan« rückt die Frage nach der Funktion des historischen Romans in den Vordergrund, bietet doch die Erzählung eine Alternative zur offiziellen Geschichtsschreibung. Darüber hinaus spielt die Zeit eine wichtige Rolle in dieser Erzählung, weshalb die Frage nach der Bedeutung von Zeit für Erzählungen – und insbesondere für die historische Erzählung – aufgegriffen wurde. Chronosophische Fragestellungen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch nicht nur von Borges diskutiert, auch in der Physik oder etwa in der (französischen) Geschichtswissenschaft spielten Fragen nach dem Wesen, der Richtung und der Ausdehnung der Zeit im Anklang an Henri Bergson eine wichtige Rolle. Die in Erzählungen wie »El jardín de senderos que se bifurcan« und »La otra muerte« vorgestellte, sich verzweigende Zeit sprengt die Vorstellung des vom Historismus vorgesehenen Geschichtskontinuums und lehnt sich an Zeitvorstellungen der jüdischen Mystik an. Anhand von »Deutsches Requiem«, einer Erzählung, die von der Forschung lange Zeit fast vollständig ignoriert wurde, lässt sich aufzeigen, dass Borges’ Schreibstil, welcher von Beginn an die Möglichkeiten der Fiktion, Realität zu repräsentieren hinterfragt hat, geeignet erscheint, unmittelbar nach dem Holocaust und der damit in Verbin-

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dung stehenden Krise der Repräsentation in der Historiographie und Literatur wichtige erzählerische Impulse zu setzen. »Guayaquil« stellt wohl die offenkundigste Auseinandersetzung mit Geschichte und Historiographie im Werk von Jorge Luis Borges dar. In der Erzählung steht das Treffen San Martíns und Bolívars im Vordergrund. Die sagenumwobene Unterredung der beiden Generäle in Guayaquil ist zentraler Gegenstand der lateinamerikanischen Historiographie; die Erzählung kondensiert zahlreiche der zuvor bereits untersuchten Stichpunkte. In seinen Erzählungen finden sich zahlreiche Verweise auf die geschichtstheoretischen Debatten, die in Argentinien Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgetragen wurden. Neben der ironischen Auseinandersetzung mit dem Genre der Biographie lassen sich die Erzählungen »El fin« und »Biografía de Tadeo Isidoro Cruz« als Revisionen der nationalistischen Vereinnahmungen lesen. Fragen zum Anspruch der Geschichtsschreibung, Gewesenes zu repräsentieren sowie die damit in Verbindung stehenden Objektivierungskriterien werden bei Borges ebenfalls Gegenstand der Auseinandersetzung. Es ist dabei gezeigt worden, dass sich Borges’ Erzählweise, welche geprägt ist von Reflexionen über das Wesen der Geschichte und die Möglichkeiten und Funktionen der Geschichtsschreibung, nur vor diesem Hintergrund verstehen lässt.

Danksagung

Diese Publikation wäre nicht ohne die Hilfe und Unterstützung zahlreicher Menschen zustande gekommen. In erster Linie gebührt mein aufrichtiger Dank meinem Doktorvater Wolfram Nitsch, der mich während meiner Promotion angeleitet und stetig unterstützt hat. Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Zweitgutachter Matei Chihaia, der mir wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der Arbeit gegeben hat. Durch die Gelegenheit, die unterschiedlichen Stadien meiner Dissertation im Kreise des Oberseminars des Romanischen Seminars der Universität zu Köln vorzustellen, entstanden viele neue Ideen, die in die Arbeit eingeflossen sind. Bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen Maria Imhof, Wiebke Heyens, Kirsten Kramer, Martin Kasch und Frauke Bode für ihr Interesse an meiner Arbeit, ihre Anregungen und Unterstützung. David Segura verdanke ich wertvolle inhaltliche Ratschläge und neue Denkansätze. Vor allem danke ich ihm, dass er mich mit seinem Humor und unendlicher Geduld durch die Jahre begleitet hat. Mein Vater hat während seiner wiederholten kritischen Lektüren nicht nur zahlreiche Fehler aufgespürt, sondern durch sein rigoroses Hinterfragen geisteswissenschaftlicher Worthülsen auch zu einer klaren Ausdrucksweise beigetragen. Fabian Greiff danke ich für sein Verständnis, seine liebevolle Begleitung in der Endphase der Dissertation und dafür, dass er sich von meiner Begeisterung für Argentinien hat anstecken lassen.

Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet.

Siglenverzeichnis

OC 1: Borges, Jorge Luis: Obras completas I. 4 Bde., Buenos Aires: Emecé 2002. OC 2: Borges, Jorge Luis: Obras completas II. 4 Bde., Buenos Aires: Emecé 2002. OC 3: Borges, Jorge Luis: Obras completas III. 4 Bde., Buenos Aires: Emecé 2003. OC 4: Borges, Jorge Luis: Obras completas IV. 4 Bde., Buenos Aires: Emecé 2003. OCC: Borges, Jorge Luis: Obras completas en colaboración, Buenos Aires: Emecé 1997. TR 1: Borges, Jorge Luis: Textos recobrados I. 1919–1929, Buenos Aires: Emecé 1997. TR 2: Borges, Jorge Luis: Textos recobrados II. 1931–1955, Buenos Aires: Emecé 2001. TR 3: Borges, Jorge Luis: Textos recobrados III. 1956–1986, Buenos Aires: Emecé 2003. IN: Borges, Jorge Luis: Inquisiciones (1925), Buenos Aires: Seix Barral 1993. TE: Borges, Jorge Luis: El tamaño de mi esperanza (1926), Buenos Aires: Seix Barral 1993. IA: Borges, Jorge Luis: El idioma de los argentinos (1928), Madrid: Alianza 2000. BS: Borges, Jorge Luis: Borges en Sur 1931–1980, Buenos Aires: Emecé 1999. EH: Borges, Jorge Luis: Borges en El Hogar. 1935–1958, Buenos Aires: Emecé 2000.

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machina Matei Chihaia Der Golem-Effekt Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos März 2011, 392 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1714-6

Marina Ortrud M. Hertrampf Photographie und Roman Analyse – Form – Funktion. Intermedialität im Spannungsfeld von nouveau roman und postmoderner Ästhetik im Werk von Patrick Deville November 2011, ca. 406 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1718-4

Maria Imhof Schneller als der Schein Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1890-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

machina Frank Lestringant Die Erfindung des Raums Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Erfurter Mercator-Vorlesungen Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1630-9

Jochen Mecke (Hg.) Medien der Literatur Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1675-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de