Imaginarien des Bösen: Narrationen und Narrative der Verräumlichung von Sklavereien bei José Eustasio Rivera, Jorge Luis Borges und Alejo Carpentier [1 ed.] 9783737016186, 9783847116189


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German Pages [257] Year 2023

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Imaginarien des Bösen: Narrationen und Narrative der Verräumlichung von Sklavereien bei José Eustasio Rivera, Jorge Luis Borges und Alejo Carpentier [1 ed.]
 9783737016186, 9783847116189

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Global Poetics Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zur Globalisierung

Band 4

Herausgegeben von Christian Moser und Kirsten Kramer

Marius Littschwager

Imaginarien des Bösen Narrationen und Narrative der Verräumlichung von Sklavereien bei José Eustasio Rivera, Jorge Luis Borges und Alejo Carpentier

V&R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. Dissertation, Universität Bielefeld 2017. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Místicos (Xul Solar). Derechos Reservados Fundación Pan Klub – Museo Xul Solar. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-7901 ISBN 978-3-7370-1618-6

Evil fills space. (Michel Serres, The Parasit) The ambivalence of [evil] as a narrative strategy. (Homi Bhabha, The Location of Culture) When European civilization came into contact with the black world, with those savage peoples, everyone agreed: Those Negroes were the principle of evil. (Franz Fanon, The Wretched of the Earth) The conquest of the earth, which mostly means the taking it away from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves, is not a pretty thing when you look into it too much. (Joseph Conrad, Heart of Darkness) Denn nun gilt es, Relationen aufzusuchen, statt Oppositionen auszumachen (und das heißt zugleich, von dem Entwerfen eines transzendentalen Ortes entbunden zu sein, der immer dort notwendig war, wo es galt […] Fiktion und Wirklichkeit als Entgegensetzung auszuweisen. (Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre) [T]he plantation is a little world of its own, havin’ its own language, its rules, regulations and customs. (Fredrick Douglass) Facts should inspire imagination rather than tying it down. (Susan Buck Morss, Hegel and Haiti)

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Imaginationen des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Geokulturelle Imaginarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Räumlichkeit des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Interamerikanische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kolonialität/Postkolonialität: das Böse und die Moderne . . . . . 3.2 Thanatopolitik und die Verflechtungen von Biopolitik und Moral 3.3 Sklaverei und postkoloniale Räume . . . . . . . . . . . . . . . . .

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55 58 65 73

4. Narrationen und Narrative des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Narrative Ethik und Ethische Narratologie . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Erzählerische Vermittlung und entangled narrator . . . . . . . . .

81 88 92

II 5. Tropographien des Bösen in La vorágine von José Eustasio Rivera (1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 La vorágine – puesta en escena als mise en abyme . . . . . . . . . 5.2 Flucht, Verschwinden, Suche. Von der Verdichtung im Sog der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 »Es la muerte, que pasa dando la vida«: Die permanente Grenze

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101 104

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8

Inhalt

6. Jorge Luis Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen: El atroz redentor Lazarus Morell (1936), Deutsches Requiem (1946), El Evangelio según Marcos (1970) . . . . . 6.1 Genealogien des Bösen. Welten und Erzählen in Borges’ Modellen des relato breve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 El escritor argentino y la tradición: plantación – campo de concentración – estancia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 (In)habitable Zonen – zur (Un-)Bewohnbarkeit des Bösen . . . . . 7. El reino de este mundo (Alejo Carpentier): lo real maravilloso und Räume des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Nomadische Figuren und entangled narrator . . . . . . . . . . 7.2 Lo real maravilloso/horroso: Kontrapunkte der Imaginarien des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Utopie und Dystopie der Inselwelt(en) . . . . . . . . . . . . . .

145 150 173 193

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8. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Danken möchte ich Kirsten Kramer für Jahre der Förderung und der Geduld. Ihre kritische wie konstruktive Betreuung und der anregende und offene wissenschaftliche Austausch mit ihr haben meine Studie in der jetzigen Form erst ermöglicht. Bedanken möchte ich mich bei ihr zudem – wie bei Christian Moser – für die Aufnahme dieser Studie in die Reihe Global Poetics. Sebastian Thies und Willfried Raussert haben mein Projekt früh unterstützt und stets hilfreich begleitet. Für lange Jahre des Austausches gilt ihnen mein Dank. Das gesamte Team des BMBF Forschungsprojekts The Americas as Space of Entanglements (Johannes Bohle, Clara Buitrago, Joseph T. Farquharson, Clara Gläve, Cruz González, Yaatsil Guevara, Olaf Kaltmeier, Alexander Mosena, Mirko Petersen, Julia Roth, Anne Tittor, Paul Tyrell, Dorothee Wehrmann) hat mich in den mehr als vier Jahren unserer intensiven Zusammenarbeit über die Grenzen der Disziplinen hinweg konstruktiv, stets offen und nicht zuletzt freundschaftlich unterstützt. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Für die aufmerksame Durchsicht dieser Arbeit danke ich Leonard Moritz, Julia Engelschalt und Markus Pahmeier. Ohne die Unterstützung meiner Familie und Freunde, insbesondere ohne Anna, wäre ich nicht auf meinem jetzigen Weg. Danke. Für Maria.

I

1.

Einleitung

Wie lässt sich das Verhältnis von Literatur zum Bösen kritisch betrachten? Eine Vielzahl literaturwissenschaftlicher Studien widmet sich bereits der Frage nach dem Verhältnis zwischen Phänomenen des Bösen und der Literatur. Allerdings trifft diese Feststellung einer breiten Auseinandersetzung zum Verhältnis von Literatur und dem Bösen bislang nur schwerlich auf Literaturen aus den Amerikas zu, sehen wir einmal von der US-amerikanischen Literatur ab. Bei Autor: innen wie Herman Melville, Edgar Allan Poe, Henry James, Flannery O’Connor und auch Cormac McCarthy etc. ist man spontan geneigt, an die Kategorie des Bösen, Imaginationen des Bösen oder Ästhetiken des Bösen zu denken. Dasselbe lässt sich nicht so selbstverständlich sagen, hört man Namen wie Esteban Echeverría, Miguel Angel Asturias, Rosario Castellanos oder die hier zentralen Autoren José Eustasio Rivera, Jorge Luis Borges und Alejo Carpentier. Dabei waren und sind Vorstellungen und Figurationen des Bösen selbstverständlich in allen, d. h. auch amerikanischen Literaturen präsent. Diese Präsenz zu untersuchen und zu fragen, inwiefern die Kategorie des Bösen bei den genannten Autor: innen modelliert wird, ist bis dato weder systematisch umgesetzt noch an neuere Erkenntnisse zu den vielschichtigen Beziehungen zwischen Literatur und Bösem angepasst worden. Die vorliegende Studie führt mehrere Beobachtungen zum Verhältnis von literarischen Verfahren und Bösem zusammen, die innerhalb des Verflechtungsraumes der Amerikas fiktional generiert werden. Dabei gilt es, zunächst die Wechselwirkungen der Dimensionen des Bösen mit denen der Imagination herauszustellen, welche wiederum über die literarischen Verfahren geschaffen werden. In der Fiktion können das Imaginäre und das Böse als in Form gestellte Imaginationen narrativ – als Narration und als Narrativ – konzeptualisiert und beschrieben werden. Im Rahmen dieser Arbeit werden literarische Erzählungen als räumlich und verräumlicht verstanden. Innerhalb eines Raums der Fiktion machen sie materielle und imaginäre Transferprozesse als Zirkulationsbewegungen lesbar, bringen aber zur gleichen Zeit performativ in der Simulation disjunktive Prozesse und Phänomene zur Anschauung. Wendet man diese lite-

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Einleitung

raturwissenschaftliche Frage kulturanthropologisch, kommt es damit auch zu einer Restrukturierung und Reorganisation der in der Auslegung Appadurais als »flows« beschriebenen Dimensionen kultureller, sozialer und kollektiver geopolitischer Konstellationen.1 Ausgehend von der postkolonialen Konstituierung der Amerikas nimmt diese Untersuchung die Kategorie des Bösen unter Berücksichtigung des Einflusses der damit einhergehenden Transfer- und Transkulturationsprozesse auf die literarischen Perspektiven in den Blick. Mit dieser Prämisse als Ausgangspunkt werden sich Verschiebungen der Imagination des Bösen in Literaturen der Moderne in postkolonialen und kolonialen Strukturen beschreiben lassen und werden Begriffe und Theorien aus dem Bereich der Postkolonialen Studien bzw. postcolonial studies somit ihre Anwendung zur Klärung von Imaginationen des Bösen finden. Es gilt dabei aber, die teils schwierige und umstrittene Position der postcolonial studies innerhalb der Forschungen zu Lateinamerika bzw. in den Interamerikanischen Forschungen zu beachten. Deshalb ist es wichtig, die Momente des Zusammenwirkens unterschiedlicher Ansätze von Studien der Amerikas zu betonen.2 Der postkoloniale Ausgang dieser Studie an Schnittstellen von Kultur- und Literaturwissenschaft geht von der gesellschaftlichen Durchdringung des Themas der Sklaverei in unterschiedlichen historischen Manifestationen aus. Die Verbreitung von Ideologien des Rassismus und die Verarbeitung von Traumata als Revision und Konfrontation finden in allen Gemeinschaften statt, die mit der Geschichte der Sklaverei verflochten sind und dabei wiederum jeweils spezifische Diskurse, Metaphern und Bilder des Bösen hervorgebracht haben. Die Imaginarien des Bösen, wie sie hier untersucht werden, funktionieren mittels Verräumlichungen, die weder rein topologisch noch rein topographisch erschöpfend zu erfassen sind, sondern verflechtungshistorisch auf ästhetischen und narrativen Ebenen der Vermittlung operieren. Ausgehend von diesen Verräumlichungen leitet diese Arbeit eine Matrix der Herausbildung dieser Artikulationen von Formen oder Erzählweisen des Bösen ab. Verflechtungen werden auch durch die 1 Arjun Appadurai, Modernity at Large 1996. Hier: S. 1–47. 2 »Postcolonial thinkers such as Sebastian Conrad and Shalini Randeria […] have argued that colonialism has led to an entangled history, which entangles the local histories of different areas (colonizers and colonized) and which establishes a new colonial power-matrix. This is also the case for the Americas that have their origins in the European colonial expansion in the long 16th century, and that – especially since the end of the 19th century – have been shaped by inter-American entanglement.« Olaf Kaltmeier, »Inter-American Perspectives for the Rethinking of Area Studies«. In: fiar, Vol. 7.3, 2014, S. 171–182. Hier: S. 180. Vgl. auch zur Kritik an postkolonialen Studien in Lateinamerika Ella Shohat und Robert Stam, Race in Translation. Culture Wars Around the Postcolonial Atlantic 2012. José David Saldívar, »Foreword«. In: Julio Ramos, Divergent Modernities. Culture and Politics in Nineteenth Century Latin America 2001, S. xi–xxxvi.

Einleitung

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angelegte Textkonstellation des Korpus dieser Untersuchung offengelegt; diese exemplarische Konstellation zielt auf ein Aufdecken und ein Beschreiben multipler Verräumlichungsstrategien der untersuchten Erzählungen. Darüber hinaus bilden die hier ausgewählten Texte einen verflechtungsgeschichtlichen Zusammenhang, da sie als moderne Erzählungen einen gemeinsamen Bezugshorizont bilden. Das Böse in Zusammenhängen der literarischen Fiktion kann hierbei nicht in eine rein soziologische Kategorie transformiert werden, die dann literarisch verhandelt wird. Die Rede vom Bösen bzw. die Wahl der Kategorie des Bösen in der Rede bleibt in den Spannungen von theologischen und philosophischen sowie literarischen, aber insgesamt weltlichen Bestimmungsversuchen verflochten. Im erzählerischen und erzählten Raum wird dieses Spannungsverhältnis beschrieben, dargestellt und zur Anschauung gebracht. Literaturen, wie sie hier ausgewählt wurden, sind nicht in der Lage, autonom zu (er)klären, warum etwas böse ist, wohl aber darzustellen, wie etwas – sujethaft bzw. in den Logiken, Ambivalenzen und der Offenheit der erzählerisch vermittelten Welt – wann und wo als Böses imaginiert wird. Allerdings wird das Böse nicht allein innerhalb der fiktionalen Darstellung als relationales Phänomen untersucht, das in den Überschreitungen zwischen Realem und Imaginärem tradiert und dabei aber auch immer neu bestimmt wird. Dieser weitere Ausgangspunkt der Relationalität des Bösen soll in (fiktionalen) narrativen Texten nachgewiesen und nachvollziehbar beschrieben werden – in der Absicht, eine Perspektive zu eröffnen, die es erlaubt, eine perspektivische Erweiterung für das Verständnis des Bösen in literarischen Zusammenhängen anzubieten, dank der die hier gewonnenen Erkenntnisse und ihre narrativen, zeitlichen und räumlichen Verflechtungen auch auf andere Texte und Kontexte übertragen werden können. Denn von der Spezifik der hier versammelten Texte sollte nicht auf eine zu essentialistische Spezifik eines stets beliebigen »kulturellen Raumes« geschlossen werden; das würde einen konzeptionellen Kurzschluss wiederholen, den diese Arbeit in kritischer Distanz vermeiden möchte. Speziell an einem als universal betrachteten Phänomen wie dem Bösen lässt sich die geokulturelle Spezifik ablesen, die nicht gleichgesetzt werden darf mit einer Topographie ihrer Erscheinungen, dabei jedoch Zusammenhänge mit der Herstellung ihrer Topographie mittels der imaginären Möglichkeiten berücksichtigt. Den hier betrachteten Fiktionen von José Eustasio Rivera, Jorge Luis Borges und Alejo Carpentier wird jedoch auch von Beginn an unterstellt, sich keiner provokanten und in diesem Sinne bereits bösen ästhetischen Programmatik anzuschließen. Gleichwohl sind sie eingebunden in einen transnationalen Zirkulationsprozess und ein interamerikanisches Bedeutungsgefüge von Literaturen, denen eine transgressive Modellierung bösen Inhalts eingeschrieben ist. Zudem verbindet die ausgewählten Werke der Autoren, die bislang nicht in einer

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Einleitung

systematischen Betrachtung in dieser Art und Weise zueinander in Bezug gesetzt wurden, eine Auseinandersetzung mit dem Bösen als Imagination dehumanisierter Welten nicht allein inhaltlich voranzubringen, sondern vor allem als verräumlichte Vorstellungen fortzuführen, die sie über die narrative Verarbeitung kolonialer Residuen und Sujets der Sklaverei erreichen. Es stellt sich hierbei ein weiteres grundsätzliches Problem bei der Perspektivierung von Imaginarien des Bösen. Bei der Betrachtung des Bösen und der Imagination, auch wenn sie relational und in (postkolonialen u. a.) Differenzlogiken eingebunden und aufeinander bezogen werden, bleibt ein unbestimmter, damit aber nicht notwendigerweise unbestimmbarer Rest, der sich zunächst einer Definition zu entziehen mag. In der vorliegenden Arbeit wird dieses Problem nicht als unauflösliches Paradoxon, sondern vielmehr als produktives Spannungsfeld betrachtet, innerhalb dessen Verflechtungen in ihrer Widersprüchlichkeit dennoch näher bestimmbar sind. Dies geschieht zunächst durch eine synthetisierende Perspektive, die die Begriffe ›Imagination‹ und ›das Böse‹ zusammenführt. Bezogen auf literarische Prozesse und Verfahren der Verflechtung lässt sich konstatieren, dass ein solcher Ansatz innerhalb bestehender Forschungen zur Weltliteratur einen wichtigen Stellenwert einnimmt: Transkulturelle Zusammenhänge werden dabei ebenso mit einem perspektivischen Schwerpunkt auf räumliche Übersetzungs- und Transformationsprozesse durch Kulturkontakte analysiert. Der (insbesondere seit 2000 intensiv debattierte) Begriff Weltliteratur bietet daher auch hier einen kurzen Diskussionsrahmen, innerhalb dessen Positionen, Begriffe und Operationen des Vergleichs und der Interpretation verhandelt werden, die für den interamerikanischen Ansatz und die Perspektive auf Verflechtungen in dieser Arbeit von Bedeutung sind, weil sie transnational angelegt sind und transkulturelle Phänomene von Beginn an in den Blick nehmen, die bei ›nationalen Zugängen‹ zu Ästhetiken oftmals übersehen oder im anderen Extrem zu universalen Kategorien erhoben werden, ohne ihre Entstehungsnarrative und ihre Verbreitung zu hinterfragen.3 In einem Beitrag über Saids komparatistische Tätigkeit als Annäherung an die Praktiken von Weltliteratur spricht Debjani Ganguly von »immanent globalen« (immanently global) Eigenschaften literarischer Texte als »generated, and informed by political, cultural and linguistic forces not limited to any single nation

3 Der Ausgangspunkt einer hier ansetzenden interamerikanischen Perspektive dieser Studie ist damit nicht national oder territorial, d. h. nicht ontotopologisch verpflichtet. Siehe dazu u. a. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster 2004, S. 117.

Einleitung

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or region.«4 Obwohl die Autorin sich mit diesem Begriff vordergründig auf weltliterarische Konstellationen nach 1989 bezieht, trifft dieser ebenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven und unter der hier stärkeren Berücksichtigung ihrer interamerikanischen weltlichen Bezüge (wordliness) auf die globale Dimension der vorliegenden Texte der Untersuchung zu. Es ist daher durchaus angebracht, das Konzept um eine immanente koloniale Eigenschaft zu erweitern, da diese Literatur sich explizit in Szenarien, Sujets und Räumen der (post)kolonialen Geschichte der Amerikas entwickelt. Ausgehend von diesem globalen und weltlichen Ansatz bezieht Djelal Kadir eine weitere Position, welche um die Konjunkturen des Gebrauchs von und Bezugs auf Weltliteratur bemüht ist. Kadir weist zudem auf eine dezidiert und inhärent imperialistische Eigenschaft von Theorien der Weltliteratur im Sinne einer »globalen Perspektive« hin, die Differenzen glättet und somit Vergleichsmöglichkeiten von Welten und Literaturen bricht. Gleichzeitig ist mit seinem Ansatz ein interamerikanischer Zugang vertreten, der zwischen der Praxis der Komparatistik und den Prägungen von Weltliteratur vermittelnd und kritisch auftritt.5 Dieser Perspektivwechsel – von allein als geopolitisch gefassten nationalen oder kontinentalen Größen hin zur produktiven Zirkulation von Wissen und Waren, die entscheidend an der Herstellung oder Produktion sozialer, politischer und kultureller Räume teilhaben – ist den prominenten Vertreter:innen von Kadir über Damrosch6 bis Siskind7 gemeinsam, was sich in Gangulis Worten zusammenfassen lässt: It is much more productive to see world literature in terms of circulation and reading of literary works that go beyond their cultures of origin, their national underpinnings, and that connect or disconnect with other works in other eras and regions in uncanny ways. The result is a […] reinvigorated projection of literary studies on to a global domain of myriad conversations and crossovers that think the ›world‹ from multiple points of view.8

Die hier geforderten unterschiedlichen und vielzähligen Perspektiven sprechen auch eine Ethik des Erzählens an. Eine solche Ethik hat im Kontext dieser Arbeit mit der bereits erwähnten Idee der geteilten Geschichte vieles gemein. Ungleichheit meint u. a., dass zwei (oder mehrere) als potentiell gleich betrachtete 4 Debjani Ganguly, »Edward Said, World Literature and Global Comparatism«. In: Ned Curthhoys, Debjani Ganguly (Hrsg.), Edward Said. The Legacy of a Public Intellectual 2007, S. 176– 202. Hier S. 182. 5 Vgl. Djelal Kadir, »To World, To Globalize«. In: Comparative Literature Studies, Vol. 41, No. 1 2004, S. 1–9. 6 David Damrosch (Hg.), World Literature in Theory 2014. 7 Mariano Siskind, Cosmopolitan Desires. Global Modernity and World Literature in Latin America 2014. 8 Debjani Ganguly, »Edward Said, World Literature and Global Comparatism« 2007, S. 189.

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Einleitung

Größen aufgrund hierarchischer Beziehungen, die u. a. die Vergleichsparameter gleichermaßen durchqueren, nicht gleich sind und eine der beiden wichtiger und mächtiger in Erscheinung tritt als eine oder mehrere andere. Auch Räume der Weltliteratur sind von Ungleichheiten gekennzeichnet. Es existiert demnach kein gleichwertig geteilter und betrachteter Raum, sondern es existieren eine Vielzahl von räumlichen Relationen, in denen (Welt-)Literatur entsteht. An dieses Verständnis anknüpfend, ist die Bildung eines exemplarischen Bezugshorizonts – u. a. durch die Zusammenstellung eines Korpus von Texten unter vorher genannten Kriterien – ein möglicher Ausgangspunkt für Verflechtungsgeschichten und -räume. Der hier zusammengestellte Korpus von Texten im historischen Rahmen der Jahre 1920 bis 1949 zielt darauf, Verflechtungen sichtbar zu machen, die zuvor nicht einsehbar gewesen wären (bzw. es auch nicht waren). Der komparatistische Einschlag der Untersuchung zielt aber nicht vordergründig auf die Symmetrien bzw. Asymmetrien der Texte, sondern transversal und transareal auf die Untersuchung der Verflechtungen der Narrationen und Narrative der Literaturen des Korpus. Eine postkoloniale Position gilt daher vor allem für eine Ebene, die von den hier verhandelten literarischen Texten selbst eingenommen und beansprucht wird. Diese Ebene kann zunächst zeitlich verstanden werden, gleicht aber vielmehr einer Beobachterposition, welche die Dynamiken, Metamorphosen, Übersetzungen und Mobilitäten nicht nur der (historischen) Kolonialzeit, sondern auch der durch die Texte selbst besetzten Umbruchphasen zusammenschließt, die als postkolonial im Sinne der oben bereits dargestellten Praktiken zu bezeichnen sind. Die Bedeutung des Postkolonialen soll dabei für jede der im zweiten Teil dieser Arbeit folgenden Einzelstudien literarischer Texte entwickelt werden, wobei bereits offensichtlich ist, dass Formen des Postkolonialen und Residuen des Kolonialen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können bzw. an eine Vielzahl von bedeutungsgenerierenden Prozessen gebunden sind.9 Die hier relevanten Narrationen der Texte des Untersuchungskorpus sind historisch orientiert, in Ausrichtungen, die die kolonialen als postkoloniale Situationen (hier wörtlich verstanden als nach den Kolonien) betrachten und Momente des Übergangs (El reino de este mundo) oder die Vielzahl räumlicher Übergänge, Übersetzungen und Transfers (Historia universal de la infamia, 9 Verwiesen sei hier auch auf Diskussionen, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen postkolonialer Theorien im Bereich von Lateinamerikastudien, der Area Studies, der InterAmerican Studies oder auch der Global Studies und Decolonial Studies auseinandersetzen. Bill Ashcroft, »Modernity’s First-Born. Latin America and Post-Colonial Studies«. In: Alfonso de Toro (Hrsg.), El debate de la postcolonialidad en latinoamérica: Una postmodernidad periférica o cambio de paradigmas en el pensamiento latinoamericano 1999, S. 13–29. Sowie Walter Mignolo, The Idea of Latin America 2005.

Einleitung

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Deutsches Requiem, El Evangelio según Marcos, La Vorágine) in den Blick nehmen. Transkulturell agieren die Texte des Korpus, weil ihnen räumliche und zeitliche Ereignisse und Dimensionen des kulturellen Austausches eingeschrieben sind, sowohl als gewaltvolle Ent- oder Aneignung als auch in Form von Praktiken des Widerstandes. Die vorliegende Untersuchung ist in zwei Teile untergliedert. Diese Aufteilung ist als komplementär zu verstehen, weil der erste Teil zunächst dazu dient, die Entwicklung der oben genannten Thesen und Skizzen nachzuvollziehen, die dann anschließend im zweiten Teil in Textanalysen angewendet werden. Dies sei in den nachfolgenden Ausführungen kurz erläutert. Teil I ist in drei Hauptkapitel unterteilt. Zunächst werden paradigmatische Positionen der Forschungen zum Bösen in der Literatur vorgestellt und Ansätze zur Klärung ihres Verhältnisses zu literarischen Thematisierungen und Darstellungen unter dem Begriff der ›Imaginationen des Bösen‹ zusammengefasst. Damit wird eine kritisch und differenziert erarbeitete Grundlage bereitgestellt, die es erlaubt, von den Imaginationen ausgehend zu einem Modell der Imaginarien des Bösen zu gelangen (Kapitel 2). Über einen Zwischenschritt, der eine Verflechtungsgeschichte des Bösen zunächst als analytischen Hintergrund für die Untersuchung literarischer, fiktionaler Texte erarbeitet, geht es dann über in eine kulturwissenschaftliche Betrachtung, sowohl der theoretischen als auch der historischen und thematisch relevanten geokulturellen Verflechtungszusammenhänge der Imaginarien des Bösen im Kontext der Moderne (Kapitel 3). Da die Imaginarien des Bösen in einer kulturellen Verflechtungsgeschichte des Bösen untersucht werden, wird die Grundlage insgesamt als Theorie des räumlichen Erzählens dargestellt, die Fragen kulturwissenschaftlicher Methodik für die Ergänzungen von Narrationen und Narrativen sowie für Möglichkeiten und Grenzen ethischer Zusammenhänge erfassen soll (Kapitel 4). Die Einführung des sog. entangled narrator (Kapitel 4.2) ist als Abschluss des theoretisch konzeptionellen Anspruchs der Untersuchung und als Ausgangspunkt der Textanalysen zu verstehen, die im zweiten Teil der Studie vorgenommen werden. Im ersten Teil der Untersuchung wird es auch darum gehen, einen notwendigerweise selektiven Zugang zu Imaginarien des Bösen zu eröffnen. Die Klärung der Imaginationen des Bösen bringt vorübergehend zentrale und zu ergänzende Begriffe des Bösen sowie Positionen zur literarischen poiesis zusammen. Die Verflechtungsgeschichten des Bösen ergänzen diese Herleitung und bilden damit einen Standpunkt zur Erörterung der Verhältnisse von Literatur und den Vorstellungen des Bösen, die in der Untersuchung der Imaginarien des Bösen im Textkorpus ihre Entsprechung finden. Sowohl die Verflechtungsgeschichten als auch die Imaginationen des Bösen sind damit imstande, die Amerikas als integralen Bestandteil der Herstellung von Vorstellungen des Bösen in der Moderne herauszustellen.

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Einleitung

Der gesamte zweite Teil umfasst drei Studien, die mit den aus dem ersten Teil gewonnenen Erkenntnissen in jeweils drei Schritten Imaginarien des Bösen untersuchen. Vorangestellt ist jedem dieser Kapitel ein kurzer Forschungsüberblick, der die Positionen zielführend für die Frage nach den Imaginarien des Bösen auswählt und eine Lektürehypothese entwickelt, um zentrale Fragestellungen systematisch zu beantworten. Von der Narration ausgehend werden im anschließenden zweiten Schritt die auf dem Erzählen aufbauenden Narrative und wird drittens, in der Zusammenfassung der Raumerzählung und der Erzählung von Raum, die Herstellung von Vorstellungen des Bösen entwickelt. Die Einzelbetrachtungen werden somit zuerst die Heuristik des entangled narrators nutzen, um dann Narrationen und Narrative der Verräumlichung zu untersuchen; diese gewonnenen Beobachtungen münden dann jeweils in eine Perspektivierung der ethischen und (bio)politischen Dimensionen der narrativen Verflechtungen und bündeln die Argumentationen und Erkenntnisse im Hinblick auf die Dimension der Imaginarien des Bösen. Alle drei Autoren, deren Werke hier im Mittelpunkt stehen, zeichnen sich durch ihre narrative Modellierung von Sujets der Sklaverei aus, entwickeln aber jeweils unterschiedliche Narrative und Narrationen der Verräumlichung des Bösen auf Grundlage dieses Sujets. José Eustasio Riveras 1924 erschienener Roman ist zwar ein notwendigerweise beliebiger Beginn der Untersuchung im Kontext hispanoamerikanischer Literaturen, jedoch keinesfalls eine willkürlich gewählte Erzählung im Kontext der zuvor beschriebenen Thesen der Arbeit. Herausgehoben aus den sonst automatisch unterstellten Zusammenhängen tellurischer Literatur, geht die Lektüre von La vorágine den (post)kolonialen Verflechtungen der Darstellungen von Gewalt, Körperlichkeit und Raum (als Naturraum und Trope) nach. Ausgehend von der Struktur der mise en abyme, erfasst diese Lektüre das Böse als Tropographie, die die Entgrenzung als Thema des Bösen entwickelt. Das Werk von Jorge Luis Borges bietet für die Fragestellungen der Untersuchung drei Erzählungen an, anhand derer die Verräumlichungen des Bösen beobachtet werden können. Die Zusammenstellung einer Serie, bestehend aus El atroz redentor Lazarus Morell, Deutsches Requiem und El Evangelio según Marcos, wird ausgehend von der Herausstellung zentraler Elemente des Erzählens bei Jorge Luis Borges erarbeitet, um dann zu einer Erörterung zu gelangen, welche zu den Imaginarien des Bösen als räumliche Kategorie beiträgt. Insbesondere der Verflechtung historisch und kulturell heterogener Elemente wird dabei Aufmerksamkeit gewidmet und nachvollzogen, wie das Erzählen in den drei relatos in Verbindung mit anderen Werken des argentinischen Schriftstellers Imaginarien des Bösen in weltenden Verfahren der Fiktionen einen Zugang ermöglicht.

Einleitung

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Alejo Carpentiers El reino de este mundo stellt zwar das Wunder als poetologische und erzählerische Kategorie bereit, doch möchte die dritte und abschließende Untersuchung diesen Roman von 1949 in der narrativen Arbeit am Wunder und der Mythographie der Haitianischen Revolution ganz entschieden im Lichte der Imaginarien des Bösen betrachten. Diese Imaginarien entwirft und verhandelt der Roman in der Bearbeitung sich ausschließender Positionen, innerhalb einer verwobenen Geschichte, die die Verräumlichung des Bösen unentscheidbar zwischen einer utopischen und einer dystopischen Vorstellung von Inselwelt entstehen lässt. Das letzte, achte Kapitel wird die Ergebnisse der Untersuchung der einzelnen Kapitel mit Blick auf die narrativen Verflechtungen der Imaginarien des Bösen im hier entfalteten Zusammenhang kurz zusammenfassen.

2.

Imaginationen des Bösen

Die Fragen, wie das Böse in der Literatur dargestellt und wie das Böse der Literatur herausgebildet wird, sind als differenzierte und zu differenzierende Ausgangspunkte für Bestimmungen einer Verbindung von Bösem und von Literatur in der Praxis der vergleichenden Literaturwissenschaft (spätestens) seit den Arbeiten von Georges Bataille fest etabliert und schlagen sich seither paradigmatisch ebenso in medienwissenschaftlich, kulturphilosophisch wie kulturwissenschaftlich orientierten Studien nieder.10 Auch in der vorliegenden Arbeit werden zunächst diese seit Bataille immer stärker transdisziplinär fokussierten Ansätze über das Böse als Transgressionsstruktur zum Ausgangspunkt genommen. Auf Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen paradigmatischen Bestimmungsversuchen der Literaturwissenschaft wird anschließend ein Zugang zum Bösen in/der Literatur in einer theoriebasierten Synthese der genannten Ansätze erprobt. Insbesondere eine Perspektivierung des Bösen in postkolonialen Literaturen der Amerikas wurde bislang eher exemplarisch als systematisch erarbeitet.11 Dabei wird die Postkolonialität als Ausgangspunkt und Prisma der zu gewinnenden Theoretisierung des Bösen der vorliegenden Studie. Denn Böses zu benennen, zu erklären oder zu funktionalisieren und interpretativ zu nutzen, ist selbstverständlich in der literarischen Auseinandersetzung eng mit Fragestellungen verknüpft, die die Amerikas betreffen. Im Folgenden wird es daher nicht um die (erneute) Affirmation einer Wiederkehr des Bösen gehen,12 sondern vielmehr darum, mittels einer Synthese 10 Georges Bataille, Die Literatur und das Böse 2011, frz. Originalausgabe ders., La littérature et le mal 1957. 11 Siehe beispielsweise Esteban Ponce Ortiz, La idea del mal en el siglo XIX Latinoamericano 2009. 12 Vgl. u. a. die deutschsprachigen und philologisch, medial und disziplinär durchaus unterschiedlich ausgerichteten Sammelbände von Carsten Colpe, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.), Das Böse 1993. Alexander Schuller, Wolfert von Rahden (Hgg.), Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen 1993. Sowie Gerd Bergfleth, »Die Souveränität des Bösen« 2011, S. 173– 222. Werner Faulstich (Hrsg.), Das Böse heute 2008. Vgl. auch Sabrina Eisele, Entgrenzte

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unterschiedlicher, erprobter und aufeinander Bezug nehmender Ansätze zu kritischen Perspektiven auf das Böse zu gelangen. Diese Ansätze wiederum sollen als Ausgangspunkt dienen, eine narrativ und räumlich geschulte Perspektive auf Böses zu eröffnen, welches in und durch Literaturen erzählerisch vermittelt wird. Die Paradigmen zum Themenkomplex des Bösen und (der) Literatur lassen sich nach den folgenden Darstellungen über Zugänge zur Autonomie-Ästhetik gewinnen, die wiederum eng verbunden sind mit Zugängen über die Transgressionsästhetik und kritischen Einzelstudien oder Sammlungen von Einzel- oder Fallstudien diskursgeschichtlicher Art. Diese vermitteln systematisch zwischen Autonomie- und Transgressionsästhetik, als Revision der ihnen vorausgegangenen Überlegungen, und streben ein Verständnis für die historische Wandelbarkeit des Bösen als Begriff und Bild sowie in Begriffen und Bildern an. Im Fokus der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen steht hier der Versuch, eine Zentrierung primär europäischer Literaturen zu hinterfragen. Dabei eröffnet das Verständnis der Imaginationen des Bösen im interamerikanischen Verflechtungsraum einen eigenständigen Zugang, der sich an die hier erprobte Perspektive anschließen lässt, da literatur- und kulturhistorisch dennoch von einer langen Wechselwirkung transarealer und transatlantischer Literaturen auszugehen ist.13 Die Frage nach einer vermeintlichen Essenz des Bösen wird gerade in neueren Forschungen konsequent entkräftet und interdisziplinär revidiert, während zu Recht darauf verwiesen wird, dass das Böse eine dynamische Geschichte als Konzept, Begriff und Bild hat und abhängig ist von Ideen und unterschiedlichen Verständnissen von Kultur, welche wiederum räumlich und zeitlich situiert und damit ebenfalls einem steten Wandel unterworfen sind.14 Zudem divergieren die Formen und Funktionen anderer Vorstellungen, die in den historisch weit zurückreichenden Kulturgeschichten und Erzählungen des Bösen als Gestalt, Form oder Repräsentation gebunden sind.15 Neben sehr konkreten IdentifikationsFiguren des Bösen. Film- und tanzwissenschaftliche Analysen 2016. Sowie Lena Schönwälder, Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq 2018. 13 Diese Wechselwirkungen und Verflechtungen – zum Begriff des Verflechtungsraums siehe Kapitel 3 – finden wieder verstärkt Beachtung in Positionen zum Begriff und der Geschichte von Weltliteratur. Einige Positionen werden daher gezielt hier aufgegriffen, aber natürlich auch in interamerikanischen Ansätzen erarbeitet. 14 Siehe hierzu exemplarisch Susanne Hartwig, »Del culto y de la(s) cultura(s) del mal« 2014, S. 9–17, hier S. 9. Sowie Ottmar Ette, Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies 2012, S. 9–18. Ette übersetzt klassische biblische Narrative mithilfe der Terminologie Roland Barthes’ zur Analyse von Gewalt in sein Modell des ZusammenLebensWissens. 15 Gerade die Geschichte des Teufels ist vielfach geschrieben worden, wobei auf die Kategorie des Bösen mal implizit, mal explizit in die Überlegungen zur Teufelsfigur eingegangen wird. Siehe hierzu ebenfalls exemplarisch Robert Muchembled, Une histoire du diable XIIe–XXe siècle 2000. Sowie Fernando Cervantes, The Devil in the New World. The Impact of Diabolism in New Spain 1994. Serge Gruzinski, La guerre des images 1990. Insbes. S. 17–39.

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formen und Gestalten des Bösen sind aber auch abstrakte kulturelle Dimensionen, die sich in Praktiken niederschlagen – wie etwa unterschiedliche Verständnisse von Ethik und Moral in Theorie und Praxis –, einem historischen Wandel unterworfen.16 Dieser Wandel macht die Bestimmung der Imaginationen des Bösen abhängig von mehreren Faktoren, die (auch) außerhalb von Feldern literarischer Praxis zu suchen sind und gleichzeitig eine stetige Verbindung mit immer neu formulierten Praktiken des Literarischen eingehen. Somit bleibt das Böse, oder vielmehr Böses, in einem weiten Bestimmungsraum, obwohl es zunächst als leicht zu verorten erscheint. Ohne durch die Rede von dem Bösen die damit in Verbindung gebrachte Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit zu re-essenzialisieren, wird es darum gehen, das Böse mittels räumlicher Imaginarien in historischen Verbindungslinien und kulturellen Austauschprozessen beschreibbar zu machen. Dies kann in und anhand von Fiktionalisierungen beobachtet werden, die aktiv an literarischen, kulturellen und außerliterarischen Austauschprozessen mitwirken. Diese als Verflechtungsgeschichten und Verflechtungsräume verstandenen Fiktionalisierungen zeigen exemplarisch, wie symbolisch und pragmatisch wandelbar das Böse in unterschiedlichen Narrativen und deren Verarbeitung von Begriffen und Bildern zur Anschauung kommen kann. Der Blick auf Strukturen der Imagination ermöglicht es, Phänomene des Bösen beschreibbar zu machen; dieser Blick ist dann jedoch auch diskursgeschichtlich orientiert, da Literaturen und Imaginationen des Bösen selbst zwischen anderen Praktiken weiterer kultureller wie sozialer Räume zu verorten sind. Ein erster kritischer Zugang zu Imaginationen des Bösen ist damit bereits gemacht, da ihre Narrative sich von ontologischen bis zu de-essenzialisierenden Lesarten erstrecken und zunächst davon auszugehen ist, dass Bilder des Bösen über einen breit gefächerten Begriff des Bösen entstehen; dazu Sabine Friedrich: Das Böse ist zwar stets moralisch konnotiert, es handelt sich allerdings um einen rein relationalen Begriff, der erst in der jeweiligen historischen und soziokulturellen Kontextualisierung und diskursiven Spezifizierung semantisch bestimmt wird und dementsprechend […] divergierende Definitionen erfahren hat.17

Diesen Ansatz fasst die Autorin daraufhin unter folgenden Kriterien zusammen, nach denen Böses bestimmt werden kann: der ontologische Status des Bösen; eine strukturelle Bestimmung des Bösen als Verbotsüberschreitung; die Frage nach dem Ursprung des Bösen; und schließlich die nach der Funktion und dem

16 Diese Beobachtung macht auch Susanne Hartwig im gesamten Tagungsband Culto del mal, cultura del mal als Zugang zu den darin vorgestellten literarischen »Fallstudien« zum Bösen spanischsprachiger Autor:innen. Siehe dies. (Hrsg.) 2014, S. 9–17. 17 Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 9.

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Status des Bösen innerhalb eines Diskurses.18 Die Frage nach dem Bösen und der damit einsetzende Gebrauch der Kategorie des Bösen, unabhängig von literarischen Narrativen oder faktualen Narrativen – welche sich in einem ständigen Austauschprozess befinden –, können einen einzelnen Punkt der genannten Kriterien umfassen, aber auch alle Kriterien in unterschiedlicher Gewichtung und Berücksichtigung und Wertung aufeinander und untereinander beziehen.19 Das Böse tritt somit als Narrativ20 in Erscheinung, d. h., die Vorstellung von dem, was böse und was jeweils das Böse ist, erfolgt auf Grundlage ordnender Systeme oder Wissensordnungen und Organisationsformen kultureller Erfahrung und Wahrnehmung. Diese Abgrenzung kann nun sowohl als Ein- als auch Ausgrenzung verstanden und beide Bewegungen können paradoxerweise in beide Richtungen entfaltet werden. Bevor aber der Zusammenhang von Narrativen und Imaginationen des Bösen in theoriebildender Ausarbeitung erfolgt, die dann der Betrachtung der Herstellung von Vorstellungen in interamerikanischen Literaturen dient, ist es erforderlich, paradigmatische Narrative des Bösen zusammenzustellen, die das Böse damit über Strukturen von Imagination und Ästhetik beschreiben. Erst diese ermöglichen es, diesen anderen Standpunkt einzunehmen, der in den Narrativen als Zugang zum Bösen offengelegt wird. Anwendung finden gerade auch deshalb zunächst Positionen zum Verhältnis von Literatur und Bösem, die sich mit dem zeitlichen, philosophischen und literarischen Konstrukt der Moderne auseinandersetzen bzw. dezidiert mit den Traditionen moderner Perspektiven operieren und diese nutzen, um Phänomene und Begriffe des Bösen zusammenzubringen.21 Die vorliegende Arbeit geht ebenfalls von einem Zu18 Ebd., S. 9–21. 19 Nur »[u]nabhängig davon, welcher Teilaspekt betrachtet wird, stets bezeichnet das Böse etwas Negatives und Bedrohliches in Abgrenzung von dem Guten als dem Wahren und Vollkommenen. Daher ist es leicht verständlich, weshalb parallel zu der ›offiziellen‹ Ausgrenzung des Bösen immer wieder Gegenbewegungen entstehen, die eine Umwertung der vorgegebenen Moralvorstellungen vornehmen. Das vermeintlich Gute wird als repressive und eigentlich destruktive ›böse‹ Kraft entlarvt, oder – wie z. B. bei Nietzsche – gerade das negative, zerstörerische Potential des Bösen wird ausdrücklich valorisiert.« Ebd., S. 6. 20 Zum Gebrauch des Begriffs Narrativ in dieser Arbeit siehe insbesondere Kapitel 4. 21 Friedrich betrachtet die »moderne Ästhetik des Bösen« im Hinblick auf ihre Einordung der diskursgeschichtlichen Zusammenhänge des Bösen in der Ecole du mal. S. 7–49. Karl Heinz Bohrer argumentiert und entwickelt ein Konzept der Moderne, um das Böse zu denken bzw. um einen Begriff des Bösen der Moderne herauszuarbeiten. Vgl. ders., Die Imagination des Bösen 2004, S. 9–32 u. 33–62. Peter-André Alt macht die Begriffsbildung des Bösen und die Phänomene des Bösen abhängig von der philosophischen Entwicklung einer europäischen Moderne. Vgl. ders., Ästhetik des Bösen 2010, S. 11–30. Insbes. S. 19. Während Bohrer von der Imagination zur Ästhetik gelangt, ohne eine Theorie von ›Imagination‹ voranzustellen oder überhaupt zu erörtern, geht Alt von historischen Etappen einer Ästhetik des Bösen aus, die ihm eine Erörterung der Imagination als Hilfsmittel erlaubt. Bei Friedrich fallen beide Begrifflichkeiten wiederum ineinander.

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sammenhang zwischen dem Konstrukt Moderne und der narrativen Hervorbringung des Bösen aus, allerdings mit dem Anliegen, dies um eine postkoloniale Perspektive zu erweitern, weil gerade die Literaturen, die hier Gegenstand der Betrachtung des Bösen sind bzw. das Böse zum Gegenstand machen, aus postkolonialen Konditionen heraus zu lesen sind.22 Seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts werden vermehrt systematische Bestimmungsversuche einer Ästhetik des Bösen eröffnet. Diese lehnen sich meistens eng an Georges Batailles Transgressionsästhetik an, die schon 1957 in der bereits erwähnten Veröffentlichung von La littérature et le mal vorgestellt wird. Wie weit diese Bestimmungsversuche tragen bzw. fortgeschrieben werden, zeigt sich an der zuerst 2010 erschienenen Studie Ästhetik des Bösen des Germanisten Peter-André Alt.23 Seine Arbeit ist, allein aufgrund der darin enthaltenen Materialfülle, der bisher intensivste Versuch, eine moderne Ästhetik des Bösen nachzuweisen. Obwohl Alt bereits in kritischer Auseinandersetzung mit der nicht nur eurozentrischen, sondern auch aus historischer Perspektive, wenn nicht fragwürdig, so doch zumindest nur eingeschränkt gültigen Idee der Autonomie-Ästhetik24 argumentiert, weist der rote Faden der Argumentation seiner Ästhetik des Bösen auf die »poetische Umsetzung« und Entwicklung einer »selbstständige[n] Form der ästhetischen Erfahrung des Bösen« von der (europäischen) Antike bis zur (»Euro-Amerikanischen«) Postmoderne hin.25 Bei der Betrachtung von Ansätzen der Ästhetik des Bösen, ausgehend vom Paradigma der Transgressionsästhetik, fällt auf, dass – wie bereits Friedrich feststellt – »[i]n der Diskussion um eine moderne Ästhetik des Bösen […] offensichtlich zwei Aspekte kurzgeschlossen [werden] […]. Bei dem Begriff ›Ästhetik des Bösen‹ wird nicht genau zwischen dem genitivus objectivus und dem 22 Vgl. hierzu exemplarisch aus dem Bereich der Anglistik Barbara Puschmann-Nalenz, »The Evil Empire: Representations of Evil in Contemporary British and Postcolonial Fiction«. In: Jochen Achilles, Representations of Evil in Fiction and Film 2009, S. 125–136. Sowie Kathleen Starck, »Black Masculinity in The Birth of a Nation and Native Son«. In: Ders. 2009, S. 183–195. Und aus dem Bereich der Romanistik: Lena Schönwälder, Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq 2018, insbes. S. 81–89. 23 Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010. 24 Vgl. hierzu Anette Werberger, »Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte« 2012, S. 109–141. 25 Eine pointierte Kritik am Argument Karl Heinz Bohrers lässt sich bereits Niels Werbers Betrachtungen des Theodizeemotivs in der (deutschen) Literatur unter Anwendung einer systemtheoretischen Perspektive entnehmen: »Sicher gibt es eine solche Tradition des Motivs, jedoch ebenfalls eine markante Veränderung seiner Verarbeitung. Was Bohrer scharfsichtig beobachtet hat, ist die Verurteilung des Bösen als des Häßlichen in der philosophischen Ästhetik. In der Literatur jedoch wird das Böse als interessantes Medium geschätzt – aller Kritik Hegels, Heines, Hayms oder auch Habermas’ zum Trotz. Denn ästhetische und literarische Kommunikation sind auch gegeneinander differenziert, und was eine moralisierende Ästhetik als häßlich oder böse denunziert, vermag die Literatur durchaus interessant zu finden.« Nils Werber, Literatur als System 1992, S. 124–125.

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genitivus subjectivus unterschieden.«26 Es lohnt sich, Friedrichs Ansatz weiter zu folgen, denn sie macht mit der Betonung dieser Überschneidung bei der Beschäftigung mit dem Bösen im literarischen Kontext auch auf eine grundsätzliche Problematik aufmerksam, die nicht nur ›ästhetisch basierte‹ Arbeiten betrifft und die die Grenzen der ihnen eigenen Ansätze aufdecken; die Autorin spricht damit auch das Grundproblem der Komplexität der literarischen Aufnahme und Beobachtung des Bösen an, das von Beginn an sämtliche Ansätze begleitet bzw. diesen eingeschrieben ist.27 So ist ihr Ansatz insgesamt auf die so genannte Ecole du mal angewandt bzw. der Beschäftigung mit dieser Tradition entnommen, welche die Autorin selbst als Ästhetik bildend versteht und deutet und damit letztlich ebenfalls die von ihr kritisierte Unklarheit weiterträgt, wenn sie sich ihr nicht sogar unterordnet. Der Ansatz einer Verflechtungsgeschichte der literarischen Traditionen und des damit einhergehenden Transfers von ästhetischem und theoretischem Wissen ist als Ausgangspunkt für die Untersuchung interamerikanischer Literaturen zu nutzen. Dabei nennt auch Friedrich den zentralen Begriff der Imagination, der sich sowohl bei Bohrer als auch bei Alt in unterschiedlicher Gewichtung wiederfinden lässt und auch für die vorliegende Untersuchung eine wichtige Rolle spielt. Friedrich knüpft Imagination an Ästhetik und scheint beide Begriffe (zumindest in der oben zitierten Passage) synonym zu gebrauchen. Doch wenn sie sich gerade mit Bohrers Ansatz des Bösen als ästhetischer Kategorie und seinem Verständnis von Imagination kritisch auseinandersetzt, so unternimmt sie damit den Versuch, die enge Beziehung zwischen der Imagination und dem Bösen als Vorstellung der Gebotsüberschreitung nachzuweisen. Imaginationen des Bösen bezieht Friedrich auf eine erzählerische Transgression von herrschenden Moralvorstellungen, die aber nicht allein auf die »histoire-Ebene«28 beschränkt bleibt, sondern ebenfalls potenziell auf die Ebene der »Erzählverfahren selbst übertragen«29 wird. Diese Erkenntnis ist für den hier vorgestellten Ansatz, Imaginationen in ihrer Konstituierung innerhalb des interamerikanischen Verflechtungsraums und seiner historiographischen Verortungen zu denken, ebenfalls relevant, da anzunehmen ist, dass diese Beobachtung nicht allein für die 26 Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 47. 27 »So bleibt bisweilen undeutlich, ob nun von der ästhetischen Ausgestaltung eines bösen Inhalts oder aber von dem Status der Ästhetik bzw. der Imagination die Rede ist. Einerseits wird immer wieder betont, daß es nicht um die dargestellte Thematik des Bösen geht, sondern um den Status der Fiktion. […] Die Unklarheit rührt nicht zuletzt daher, weil beide Aspekte auf komplexe Weise in einer langen historischen Tradition miteinander verflochten sind.« Ebd., S. 47. 28 Ebd., S. 49. 29 Ebd.

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Ecole du mal oder andere von Europa aus vorgegebene und mit europäischer Kulturgeschichte kontextualisierte und konzeptualisierte Analysen von Bedeutung ist. Nun ist Friedrich ausdrücklich an der Struktur (der Verbotsüberschreitung) und Funktion des Bösen in der historisch bestimmbaren Ecole du mal interessiert und richtet die Analyse der Erzählverfahren an diesem Interesse aus.30 Ein differenzbildendes Mimesis-Modell strukturiert dabei das von ihr bezeichnete »Spannungsfeld« der diskursiven Figuration, Defiguration und Refiguration.31 Sie argumentiert folgendermaßen: In der Ecole du mal »entspringt« ein rein »ästhetisches Böses« als Refiguration dem Prozess der Figuration und Defiguration unterschiedlicher Diskurse oder »Diskursvorgaben« wie Moral und (auch im Zusammenhang mit) der Gewalt des revolutionären Frankreichs – als der Entstehungszeit der Texte. Ein historischer, außerliterarischer Ausgangspunkt wird »ästhetisch verarbeitet«, »vertextet«, »grotesk überzogen« und »dekonstruiert«. Daraus bildet sich ein ästhetisches Konstrukt, das böse ist und Böses zum Inhalt hat und anders beschaffen ist als vor der Figuration. Was Friedrich aber nicht deutlich genug herausstellt, ist die Beobachtung, dass die Transgression in jedem Schritt zwischen Figuration, Defiguration und Refiguration erfolgen kann und sich somit eine Vielzahl von Spannungsfeldern ergibt, die sich literarisch manifestieren. Die Untersuchung wird im Folgenden davon ausgehen, dass Transgressionsstrukturen als Verräumlichungen und somit zu Imaginarien des Bösen verhandelbar werden. Damit bleiben sie dem Transgressionsgedanken (der Ästhetik) des Bösen weiterhin verbunden und weisen gleichzeitig darauf hin, wie dieser selbst überwunden werden kann, weil er auch immer auf ein anderes verweist, welches mittels erzählerischer Verfahren konstituiert wird. Der Autor der Studie Ästhetik des Bösen wählt eine andere Variante, das Verhältnis des Bösen zur Literatur zu befragen. Alt untersucht darin den Ursprung, die Struktur und Funktion sowie die Ontologie des Bösen in ihrer literarischen und philosophischen Verwendung und Varianz und versucht, diese 30 Verwiesen sei hier auf Terry Eagletons freudo-marxistische Analyse, welche die Idee des Bösen bestimmt und bereits zu Beginn die Grenzen des eigenen Verfahrens nennt: »In the End, evil is indeed all about death – but about the death of the evildoers as much as that of those he annihilates.« Dazu passt, dass »[…] death reduces the body to a meaningless piece of matter. It represents the divorce of materiality and meaning«. Terry Eagleton, On Evil 2010, hier S. 18–21. Inwiefern Tod und Böses zusammenhängen und dabei Materialität und Bedeutung eher verflochten sind als dass sie sich auflösen, ist gerade das Anliegen dieser Arbeit. Das schließt Eagleton aber auch nicht automatisch aus der Diskussion aus, da er die Wichtigkeit von Materialitäten betont, ihnen jedoch andere Bedeutung beimisst; sein Zugang ist ein weiteres Beispiel für den hier gewählten Ausgangspunkt, dass das Böse gerade narrativ hergestellt wird, da Form und moralisches Produkt bei Eagleton das strukturbildende Prinzip darstellen. Ebd., S. 29. 31 Friedrichs Mimesis-Modell ist grundsätzlich dem Mimesis-Konzept von Paul Ricœur strukturell entlehnt. Siehe dazu Paul Ricœur, Time and Narrative I 1984, S. 52–84.

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historisch zu ordnen bzw. Hierarchien ihrer Wirkung zu bilden. Die Ansätze Friedrichs und Alts, die hier stellvertretend für Verfahren und Modelle aktueller Forschung und Theoriebildung vorgestellt wurden, sind grundsätzlich diskursgeschichtlich orientiert. Literatur und/als Imaginationen des Bösen sind zwischen anderen kulturellen und sozialen Praktiken zu verorten. Dabei zentrieren die genannten Autor:innen den Blick auf europäische Literaturgeschichten – und ausgehend von einer europäischen Kulturgeschichte. In der vorliegenden Arbeit wird hingegen von konkreten, Matrix-bildenden und phänomenologischen Bestimmungen des Bösen ausgegangen, die sich aus einer Vielzahl von Diskursen und Praktiken ergeben, die von postkolonialen Konditionen der Amerikas aus gedacht werden, die der seit 1492 initiierte, transareale Wissenstransfer von Verflechtungsgeschichten bereitstellt. Eine Vorgabe bösen Inhalts, die Friedrich der Literatur der Ecole du mal (korrekterweise) von Beginn an zuschreibt, übersetzt in Bilder und (neue, defigurierte) Begriffe, bringt resultierend neue Bilder und Begriffe hervor, die sich von den historischen Diskursvorgaben unterscheiden. Dieses Schema geht im Grunde bereits über die von Bohrer postulierte Ästhetik des Bösen hinaus, obwohl Friedrichs Untersuchung der Ecole du mal weiterhin einer »ästhetischen Konstitution des Bösen«32 nachgeht, die »im Status, der Struktur und sprachliche[n] Inszenierungsmodi«33 liegt. Die Autorin denkt das Böse aber entgegen der zuvor sinnvoll eingebrachten abstrakten Definition nur vermeintlich relational, da es als ästhetische Kategorie neu gedacht wird und somit eine essenzialisierende Vorstellung weiterträgt, welche dieser Kategorie zuvor durch den Hinweis auf den relationalen, d. h. inter- oder transdiskursiven Begriff zu Recht abgesprochen wurde. Dieser Hinweis kann für ihre Perspektive, in diesem Fall allein auf die Ecole du mal, geltend gemacht werden; für eine interamerikanische Perspektivierung sollte er jedoch weiterentwickelt werden. Dabei wird zu bestimmen sein, was wie relational zueinander arrangiert ist, d. h., auf welche Weise diskursüberschreitend die Narrationen und Narrative der in Betracht kommenden Literaturen Imaginationen des Bösen vermitteln – ohne dass zwingend eine ästhetische Form des Bösen entsteht. Während der Begriff der Imagination in Bohrers Autonomie-Ästhetik noch keine weitreichende theoretische Auseinandersetzung erfährt, vermag Alts Ästhetik des Bösen nicht nur auf die Leerstelle der ›Imagination‹ zu verweisen, sondern sie gleichfalls kritisch zu nutzen, um von ihrer Position aus zu argumentieren. Zwar geschieht dies weiterhin in kritischer Auseinandersetzung mit dem Autonomie-Postulat, aber aufgrund der zu undifferenziert argumentierenden 32 Vgl. Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 14. 33 Vgl. ebd.

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und beobachtenden Haltung bleibt in der Formulierung eines methodischen Programms letztlich der Nachweis einer Ästhetik des Bösen aus, die philosophisch differenzierend an den Texten argumentiert. In der Argumentation seines Ansatzes der Ästhetik des Bösen kommt Wolfgang Iser besondere Bedeutung zu.34 Das triadische Zusammenwirken von Fiktion, Wirklichkeit und Imaginärem, auf das Iser systematisch hinweist, ist für den hier gewählten Zugang zu den Imaginationen des Bösen ebenfalls relevant, weil es die welterzeugenden Zusammenhänge literarischer Performanz hervorhebt.35 Dieser Ansatz zeigt sich für das Verständnis des Bösen in der Literatur bereits in Alts Vorgehen und muss keineswegs einen nostalgischen oder universalistischen Rückgriff auf anthropologische Konzepte von Literatur bedeuten und damit einer universal-anthropologischen Sicht auf das Böse folgen.36 Alts Ästhetik des Bösen ist in ihrer Anlage an zwei Aspekten interessiert: erstens an der literarischen Form und Funktion des Bösen im Zusammenhang mit Affekten sowie zweitens an der wandelbaren (und mit der Formgestalt und Funktion im Zusammenhang stehenden) Selbstanzeige des Bösen im literarischen Text.37 Dabei erscheint das Böse als genitivus obiectivus und subiectivus der Literatur, wobei der Wirkung das größte Interesse gewidmet wird – und darunter fasst Alt in erster Linie, neben der Strukturiertheit von Literarisierungsakten, ein Verständnis von Ästhetik, das mit einer Erläuterung eines Imaginationsbegriffs nach Iser erweitert wird. Alts eigentliches Thema bleiben jedoch Affekte, die Wirkung und die Reaktion auf etwas – den Ekel, das Hässliche, die Angst –, das in der Vorstellung des Autors (Alt) im Bösen zusammenkommt und das aus der Betrachtung der literarisch-philosophischen und auch religiösen Inszenierung, Strukturierung und auch Vermittlung abgeleitet wird. Die Funktion des Bösen erfasst dabei aber noch nicht die Strukturiertheit der Beobachtung (zweiten Grades).

34 Vgl. Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010, S. 526–538. 35 Siehe dazu Kapitel 2.1. 36 In der anthropologischen Sicht, mit dem Blick auf Ursachen, geht man fast grundsätzlich von bösen Urtrieben des Menschen aus. Es ist eine primäre, aber nie erklärbare Erfahrung des Menschen. Dabei wird jedoch nur die Bedeutung des Begriffs verschoben, womit er selbst narrativ-bildend wirkt. Siehe dazu exemplarisch Sigmund Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«. In: Ders., Kulturtheoretische Schriften 1986, S. 191–270. 37 Siehe Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010, S. 29. Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre 1993, S. 36ff. zur Selbstanzeige als »Entblößung« der Fiktionalität literarischer Texte.

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Die Provokationsleistung des literarischen Textes macht die Ästhetik des Bösen bei Alt aus.38 Je nach Grad der Provokation ist diese Ästhetik dann als unmoralische Literatur mit dem Bösen identisch. Alt vermeidet es dabei, das Böse auf Begriffe und Phänomene zu reduzieren, allerdings um den Preis, dass damit diesem Anderen (dem Guten, dem Positiven, Humanen etc.) ein Wesen zugeschrieben wird, das sich in der Heteronomieästhetik39 verselbständigt. Es ist diese paradoxe Denkfigur – die Identität als Anderes zu denken –, die Alts Ansatz einen wesentlichen Vorteil gegenüber der Autonomieästhetik des Bösen nach Bohrer verschafft. Durch die Annahme, dem Bösen allein könne im Raum der Ästhetik eine Identität zugeschrieben werden, fällt Alts »Doppelentwurf von Alterität und Identität«40 allerdings hinter das von ihm zuvor selbst kritisierte Paradigma der Autonomie-Ästhetik zurück. An dieser Stelle ist auf den Versuch von Bernhard Teuber zu verweisen, der exemplarisch eine interpretative Verbindung antiker Positionen zum Bösen mit Baudelaires Blumen des Bösen nachweist.41 Dabei schreibt er beiden Ansätzen keine essentielle Wesenhaftigkeit der Bestimmungsversuche zu, sondern zeigt, wie Böses als (schlechte) »Simulation des Seins«, d. h. einerseits als Mimesis – als Nachbildung des Guten, Schönen, Wahren – und andererseits als contrasubsistentia – relational als Anderes einer Substanz, aber paradoxerweise in Form einer Substanz, also als »Mangel oder Defekt an Sein«42 – zu beschreiben ist. Teuber bringt in seiner Vorbereitung einer Poetik des Bösen in den Fleurs du mal Baudelaires eine Vielzahl klassischer Modelle der Privations-These zusammen.43 Der analytische Vorteil dieses Vorgehens für die Analyse der Imaginarien des Bösen liegt nun gerade darin, dass nach dieser Lesart Böses aus den Strukturen der Imagination sowohl abgeleitet als auch auf die Simulationen der Literatur übertragen wird, weil es durch unterschiedliche Stufen von Mimesis (Figuration/ Defiguration/Refiguration) der Fiktion eingeschrieben und dadurch lesbar wird. 38 Auch eine systemtheoretische Sicht auf das Böse im Prozess der Ausdifferenzierung von Literatur geht von der Provokationsleistung eines Textes aus, siehe dazu Niels Werber, Literatur als System 1992, S. 61–126. 39 Vgl. Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010, S. 537. »[D]ie Ästhetik des Bösen ist eine Heteronomieästhetik.« Zur Diskussion um »Heteronomieästhetik« siehe den Beitrag von Marcus Hahn, »Heteronomieästhetik der Moderne. Eine Skizze« 2013, S. 23–35. 40 Ebd., S. 536. 41 Teuber beschreibt seinen Ansatz folgendermaßen: »Es geht uns beileibe nicht darum, […] ein missing link zwischen der Lehre vom Bösen bei Proclus und Baudelaire zu rekonstruieren. Aber wir wollen dafür plädieren, im folgenden Baudelaires Fleurs du mal ganz entschieden im Lichte einer neuplatonischen Lehre von der Parypostasis zu lesen.« Bernhard Teuber, »Nachahmung des Bösen bei Baudelaire«. In: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation 1998, S. 603–630. Hier: S. 615. 42 Ebd., S. 610. 43 Ebd., S. 609–615. Teuber fasst die Privations-Positionen von Platon, Thomas von Aquin und Augustinus zusammen.

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Das Böse kann sowohl als genitivus subiectivus zeitgleich als genitivus obiectivus der literarischen Imagination ausgearbeitet werden und wirken. Teubers Ansatz bietet zudem noch einen Vorteil, denn er beschreibt das Böse nicht nur relational, sondern die Relationalität in der Logik von Identität und Alterität. Die Beobachtungen Teubers zur Herleitung dieser Logik sind zwar an Charles Baudelaires Fleurs du mal geschult, erlauben es aber auch, Böses heuristisch als Figur des Dritten im (post)kolonialen Kontext zu verwenden: Die Parypostasis [Kontrasubstanz] des Bösen bedarf eines Anderen, um sich zu manifestieren. […] Weder wirkt das Böse aus sich selbst heraus noch wird es um seiner selbst Willen vom Dichter aufgesucht. Vielmehr verweist dieses Böse auf ein Anderes, das es zu kopieren sucht und das mit ihm nicht identisch ist.44

Bei Alt bereits angelegt, jedoch überschrieben mit der stets implizierten Suche nach der ästhetischen Wirkung, ist eine theoretische und modellartige Konzeption des Bösen als relationales Modell, das mit den Kategorien der Alterität und Identität operiert: »[D]er Begriff [des Fremdheitscharakters] erfasst einerseits Zuschreibungsleistungen kultureller Diskurse, die das Unbekannte als Böses positionieren, und nimmt andererseits die Alterität des ästhetisch vermittelten Bösen selbst in den Blick.«45 Teubers und Alts Ansätze lassen sich somit in gegenseitiger Ergänzung auch für die postkoloniale Herangehensweise dieser Studie nutzen. Dabei wird jedoch bedacht, dass Alt der Literatur, die er der Ästhetik des Bösen zuordnet, stets die Funktion und Finalität unterstellt, unmoralisch, provozierend oder »Quelle der Lust im Raum des Imaginären«46 sein zu wollen. Diese eindimensionale und essenzialisierende Betrachtung von Literatur, insbesondere von Strömungen und Einteilungen wie der Romantik, bringt zumindest zwei Schwierigkeiten mit sich. Außer Acht geraten dabei zum einen die poiesis, d. h. hier welterschaffenden und weltsimulierenden Möglichkeiten (auch als weitere Funktionen) von Literatur, die vom Autor durchaus ins Feld geführt werden, die er jedoch allein als Strategien der Vermittlung von »als-ob«Möglichkeiten betrachtet. Zum anderen sind die für Alt als objektiv, literarisch und »verstörend« gefassten »Erscheinungsformen«47 als Böses erfahrbar. Dabei sind es diese »Erscheinungsformen«, nach Friedrichs Ansatz »Bilder des Bösen«, die ihrerseits auch postkolonialen Literaturen in kulturellen Austauschprozessen – wenngleich durchaus ambivalent in der Bedeutungskonstituierung – eingeschrieben sind. Der von Alt angebotene »doppelte Durchgang durch einen Betrachtungsraum, der sowohl die Konstruktion des Bösen als Fremdes im Sinne eines kulturell 44 45 46 47

Ebd., S. 619. Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010, S. 536. Ebd., S. 20. Ebd., S. 536.

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produzierten Phänomens als auch dessen objektiv verstörende Erscheinungsformen«48 berücksichtigt, sollte ergänzt werden um eine Perspektive, die (zunächst nicht nur metaphorisch gesprochen) beide Durchgänge zusammenführt. Diese Verbindung dient nicht allein der Ermittlung der »Möglichkeiten der moralischen Rezeption«,49 sondern einer Bewegung hin zur diskursgeschichtlichen Verflechtung literarischer und anderer kultureller sowie sozialer Praktiken, die im Sinne der Imaginationen des Bösen zu erweitern sind. Dies führt zu einer weiteren Prämisse, von der aus diese Untersuchung ihren Ausgangspunkt nimmt. Demnach sind Literaturen als Imaginationsformen des Bösen zwischen weiteren (auch) nicht literarischen Praktiken verortet. Die literarisch vermittelten Transgressionsstrukturen werden auch als diskursgeschichtliche Überschreitungen verstanden. Die damit angesprochene Heteronomie(ästhetik) bedeutet aber zugleich, dass sich das Ästhetische nicht allein auf das Fiktionale beschränken lässt, sondern vielmehr Einfluss auf eine angenommene Faktizität hat.50 Die bisherigen Beobachtungen zum Bösen, in den Ansätzen zu Begriff, Bild und Kategorie und den mit diesen Beobachtungen referierten literarischen Darstellungen als simulatorisch und poietisch oder ästhetisch, führen zum Vorhaben, die Imaginationen des Bösen in literarischen Verfahren als Narrativ des Bösen zugänglich und beschreibbar zu machen. Böses ist und hat Geschichte(n). Somit hat und ist das Böse als Geschichte(n) gleichfalls viele Erzählungen. Dieser Zusammenhang muss über die Wechselwirkungen von Narrationen und Narrativen erläutert werden. Albrecht Koschorkes Ansatz der (allgemeinen) Erzähltheorie51 als Synthese narratologischer Parameter, die die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung ergänzt und gleichzeitig die narrative Seite von Kultur befragt, bietet sich an, um einen erzähltheoretischen Zugang zum Bösen um weitere Fragestellungen zu ergänzen. Und auch hier gilt es, die Relationalität des Bösen als ein Strukturprinzip zu betrachten, welches selbst in Bildern und Begriffen (historisch) angeordnet wird. Die Verräumlichung des Bösen wird daher als eines der Strukturprinzipien fokussiert. Anstatt jedoch von geschlossenen Strukturen auszugehen, wird Böses in offenen Strukturen gedacht, die differenzlogisch verbunden werden mit der Idee kultureller Verflechtungen. Verflechtungen, wie zuvor dargelegt, tragen zusammen mit Figurationen des Dritten dazu bei, räumliche Eigenschaften literari48 Ebd. 49 Ebd. 50 »Die Alterität des Bösen erscheint in den Mustern der Paradoxie, der Zweideutigkeit und Wiederholung, des Exzesses und der Grenzverletzung, die es erst zu einem Gegenstand der Fiktion machen. Seine Abhängigkeit vom moralischen Urteil liegt darin, dass es als literarisches Objekt allein dort kenntlich wird, wo es dessen Regeln bricht.« Ebd., S. 537. 51 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung 2011.

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scher Fiktionen hervorzuheben; davon ist auch der Zusammenhang von Literatur und Bösem betroffen.52 Narrative, die die Binarität von Gut und Böse als Vorstellungen fiktionalisieren, werden daher den Fokus dieser Arbeit bilden. Damit handelt es sich um Narrative, welche die Codierungen von Bösem als Raum in der Literatur und Raum von Literatur, und genauer als Erzählungen im Raum und Raumerzählungen,53 zunächst differenzieren und dadurch topographische und topologische Erzählungen bilden. Dieser Ansatz der Imaginationen des Bösen ist nicht zu verstehen als Wiederkehr des Bösen allein als literarische Inszenierung von Infamie aus Gründen der Entdeckung eines Interesses an okkultem Wissen, der Funktion von Provokationen und/oder der Rezeption eines Faszinosums. Keiner dieser Effekte soll gleichwohl ausgeschlossen werden; ihr Gültigkeitsanspruch als alleiniger Effekt wird jedoch in Frage gestellt. Betrachtet man die hier diskutierte Literatur, dann fällt auf, dass darin Themen der Gewalt und Phänomene der Dehumanisierung als Bestimmung zwischen Leben und Tod sowie deren Problematisierung in der literarischen Beobachtung des Bösen als Beziehungsgefüge kultureller wie sozialer Konflikte, Abhängigkeiten und Ungleichheiten verhandelt werden. Dieses Gefüge soll nicht in eine weitere abstrakte Bezeichnung wie Macht überführt werden, wobei das Grundargument zur Bestimmung des Bösen für diese Arbeit durchaus ein machtkritisches ist (und als solches in der theoretischen Tradition nach Michel Foucault zu verorten wäre). Das Argument dieser Arbeit ist zugleich ihre These: Erst in den Imaginationsstrukturen dieser Relationen, so der Ausgangspunkt, werden böse Bilder und Begriffe des Bösen narrativ auch in ihrer Verwendungsgeschichte gebraucht bzw. affirmiert und literarisch reflektiert. Dabei werden die Wechselwirkungen von Begriffen und Bildern als Nachahmung – im Sinne Teubers54 – inszeniert, d. h. dargestellt und hergestellt. Sowohl diese Asynchronizität und Asymmetrie der untersuchten Einheiten von Bildern und Begriffen (auch wenn sie als Imaginationen des Bösen im Plural gebraucht werden) als auch diese hypothetische Einheit werden in der 52 Dazu Albrecht Koschorke: »Differenztheoretisch entstehen Effekte des Dritten immer dann, wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird. Zu den jeweils unterschiedenen Größen tritt die Tatsache der Unterscheidung in Verhältnis wie ein Drittes hinzu, das keine eigene Position innehat, aber die Position auf beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis setzt, indem sie zugleich verbindet und trennt: ein Drittes, das binäre Codierungen allererst möglich macht, während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich im Verborgenen bleibt.« Albrecht Koschorke, »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften«. In: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer u. Alexander Zons, Die Figur des Dritten 2010, S. 11. 53 Siehe Kapitel 2 dieser Studie. 54 Teuber übersetzt Nachahmung nicht als Mimesis, sondern mit dem Begriff der Simulation. Vgl. Bernhard Teuber, »Nachahmung des Bösen bei Baudelaire« 1998, S. 603–609.

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Imaginationen des Bösen

vorliegenden Studie als Verflechtung verstanden. Dies hat den Vorteil, dass sich auf diese Weise die Nähe des Themas zu Räumen und zu Räumlichkeiten fortsetzen lässt. Denn – so eine weitere Prämisse dieser Arbeit – die Vermittlung von Imaginationen geschieht mittels verräumlichter Praktiken in der Literatur. So mag das Modell der Transgressionsästhetik der postkolonialen Perspektive zunächst näher erscheinen, da durch sie zentrale Punkte der postkolonialen Analyse wie Grenze, Entgrenzung und Überschreitung aufgerufen werden. Das Simulations-Modell von Teuber betont jedoch nicht die Festsetzung dieser Grenze (die ja materiell und imaginär zusammengehört), sondern zeigt ihre relationalräumliche Struktur auf und betont gleichzeitig die Nachahmung als differentielle Simulation, die für die narrative Vermittlung wichtig ist. Die Betonung des Imaginations-Begriffs verdeutlicht zwei für die Zugänge zum Bösen relevante Aspekte. Zum einen weist sie auf den dem Bösen (in der Literatur) zugrundeliegenden bildlichen Charakter (image) seiner Bestimmungsversuche hin, auf den bereits Friedrich im Kontext der Imaginationen des Bösen in der sogenannten Ecole du mal hingedeutet hat. Die Beziehungen zwischen der literarischen Produktion und Refiguration von Bildern im Zusammenhang mit dem Bösen verweisen dann über die kulturellen auch auf die politischen Bedeutungen dieser Bilder als Objekt und Subjekt des Bösen im Zusammenhang mit Vorstellungen von Gemeinschaften. Noch fehlt es an einem Zugang zu Imaginarien des Bösen in postkolonialen Zusammenhängen. Um einen solchen Ansatz zu erarbeiten, erscheint es sinnvoll, auf die Kategorie des Bösen als relationale Imagination (Sabine Friedrich/Ecole du mal), die Simulation des Bösen (Bernhard Teuber/Fleurs du mal) und die Alterität des Bösen (Peter-André Alt/ Ästhetik des Bösen) als Möglichkeiten zu rekurrieren. Zunächst soll jedoch die Verhandlung des Bösen über die Kategorie der geokulturellen Imaginarien hergeleitet und als Analysekategorie anschlussfähig gemacht werden.

2.1

Geokulturelle Imaginarien

Mithilfe eines Konzeptes der Imagination, das als Zugang zum Bösen im Verhältnis zur Literatur dienen soll, sind die Dynamiken und Wechselwirkungen sowohl unterschiedlicher Imaginarien als auch von Imaginarien in der Konstitution der sozialen bzw. kulturellen Dimension in diesem Abschnitt näher zu bestimmen. Die Möglichkeit, die Imagination des Bösen in der literarischen Gestaltung zu denken bzw. als Verräumlichung, d. h. im Prozess von Strukturierungen des Raumes, beschreibbar zu machen, wird im Anschluss zu erörtern sein (siehe Kapitel 2.2). Damit wird eine Differenzierung zwischen Narration und Narrativ (dazu Kapitel 4.1) erreicht, welche wiederum eine Erweiterung dieses Imaginationskonzeptes innerhalb der (postkolonialen) Kulturtheorie erlaubt.

Geokulturelle Imaginarien

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Somit können die Verflechtungen, die die Fiktionen durch das Einnehmen einer Beobachtungsposition zum außerfiktionalen Referenzrahmen erfahren/eingehen, als relevant für Imaginationen des Bösen betrachtet werden. Es wird damit jedoch nicht darum gehen, eine eigenständige Fiktionstheorie zu formulieren, sondern vielmehr darum, über den Begriff der Imagination die Rolle der Imaginarien in geokulturellen Aushandlungen der Ebenen der Fiktion und des Realen sowie die gegenseitige Einflussnahme beider Ebenen zu erläutern. Die Annäherung an diese Wechselwirkungen über die Betrachtung narrativer Organisation (siehe Kapitel 4.) unter Berücksichtigung der Bedeutsamkeit der Konstruktion von Räumen in geokulturellen Kontexten ist angelehnt an den von Epple und Kramer vorgeschlagenen Begriff der geopolitical imaginaries, dem auch hier eine doppelte Funktion zuteil wird: als analytisches Konzept einerseits und als Objekt der betreffenden Untersuchung andererseits.55 Die Frage ist also zunächst, was mit geokulturellen Imaginarien gemeint ist bzw. wie diese bestimmt werden können und worin der Vorteil des Gebrauchs dieser Kategorie sowie ihr Status als Objekt der Analyse liegen, wenn von Verräumlichung des Bösen gesprochen wird. Während der Zusammenstellung unterschiedlicher Zugänge zum Bösen, die unter der Bezeichnung Imaginationen des Bösen zusammengefasst sind, wird bereits der erste Bezug zu den geokulturellen Imaginarien hergestellt. Ihre Definition ist zunächst ebenfalls gebunden an die Triade von Wolfgang Iser und die explizit sich daran anschließenden Auseinandersetzungen um das Imaginäre.56 Darüber hinaus wird auch nach den kulturell und sozial hervorgebrachten Imaginarien57 gefragt; ›geokulturell‹ spricht als Spezifizierung in erster Linie Weltbezüge an, insbesondere die Möglichkeiten der Bezüge, wie sie literarischen Weltkonzepten und Konzeptionen von Welt zugesprochen werden, insbesondere in Zuge verstärkter Globalisierungsdebatten der Kulturwissenschaften und sich fortsetzender Bestimmungsversuche im Kontext von Weltliteratur.58 Dabei soll es an dieser Stelle weniger darum gehen, den hier zur Diskussion stehenden »modernen Texten« einen gesteigerten, intensiveren oder unmittelbareren Weltbezug von Literatur zu at-

55 Siehe Angelika Epple und Kirsten Kramer, »Globalization, Imagination, Social Space«. In: fiar 9.1 Geopolitical Imaginaries in the Americas 2016, S. 41–63. 56 Siehe dazu Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre 1997. Andreas Mahler, »Konstruktion/ Gegen/Konstruktion«. In: Linda Simonis, Annette Simonis, Kirsten Dickhaut (Hrsg.), Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Band 6 Heft 1, 2014, S. 87– 102. Epple/Kramer, »Globalization, Imagination, Social Space« 2016. 57 Vgl. Chiara Bottici, Imaginal Politics: Images Beyond Imagination 2014. Christian Moser und Linda Simonis, »Das globale Imaginäre«. In: Ders. (Hrsg.), Figuren des Globalen 2014, S. 11– 21. 58 Christian Moser und Linda Simonis (Hrsg.), Figuren des Globalen 2014. Theo D′haen, David Damrosch, Djelal Kadir (Hrsg.), The Routledge Companion to World Literature 2012.

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Imaginationen des Bösen

testieren.59 Es ist vielmehr wichtig, zunächst festzustellen, wie es um das Verhältnis von Welt, Weltbezug und Literatur im Zusammenhang mit den hier relevanten Fragen zur literarischen Strukturierung bestellt ist bzw. wie dieses Verhältnis angenommen wird, um im Hinblick auf Imaginarien des Bösen angemessen mit den betreffenden Texten verfahren zu können. Denn ein Weltbezug ist nicht erst in den (aktuellen) Globalisierungsdebatten und -konjunkturen für Fragen nach literarischer Repräsentation und Verhandlung relevant. In der Aktualisierung von Wolfgang Isers Theorie zu Fiktion und Fiktionalisierungen für eine Bestimmung (literarisch) geokultureller Zusammenhänge lässt sich das »permanente Mischverhältnis«60 von Fiktion, Realem und Imaginärem als Dynamisierung und in der Konsequenz als Verflechtung verstehen, welche die (ihr selbst oft unterstellten) ontologischen Bestimmungen von Realem bzw. der Wirklichkeit und dem Fiktiven bereits überwindet und in das zuvor binär strukturierte Verhältnis mit dem Imaginären ein Drittes einführt.61 Dabei sollte das Imaginäre auch nicht ontologisch, d. h. als essenziell unveränderlich, betrachtet werden. Es ist bereits ein dynamischer Faktor und somit zugleich Subjekt und Objekt der Verflechtung in fiktionalen Texten.62 Seit diese anthropologisch basierte und ästhetisch ausgerichtete Theorie in den 1990er Jahren vorgestellt wurde, galt sie auch als kulturelles Modell in zahlreichen folgenden Ansätzen, die sie hinterfragt und weiterentwickelt haben. Nun kommt es zunächst darauf an, zu einem Verständnis geokultureller Imaginarien zu gelangen, das alternative Zugänge zu Imaginationen des Bösen ermöglicht, und sich dabei sowohl an Isers Modell als auch den ihm folgenden Modellen zu orientieren. Dabei fällt zunächst der Begriff des globalen Imaginären auf, welcher neben den geopolitischen Imaginarien verstärkt auf globale Austauschprozesse gerichtet ist und dazu dient, Literatur und andere Medien als Praktiken des Fiktionalen in ihren jeweiligen Weltbezügen oder ihrer Welthaltigkeit zu hinterfragen. 59 Siehe dazu exemplarisch die Diskussion zum Manifest Littérature-monde, wie sie von Christian Moser und Linda Simonis treffend zusammengefasst wird. Vgl. dies., Figuren des Globalen 2014, S. 11f. Sowie Djelal Kadir, »World Literature: The Allophone, the Differential, and the Common« 2013, S. 293–306. Für einen Überblick über die Vielfalt des Weltbegriffs in narratologisch orientierten Ansätzen und zur Diskussion unterschiedlicher Modelle in der Erzähltheorie siehe Christoph Bartsch und Frauke Bode (Hrsg.), Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven 2019. 60 Siehe Andreas Mahler, »Konstruktion/Gegen/Konstruktion. Über das Imaginäre als Vermögen und als Funktion« 2014, S. 87–102, hier: S. 87. 61 Ebd. 62 In ihrer Theorie des imaginal möchte Chiara Bottici die Imagination (»imagination«) und das Imaginäre (»imaginary«) als Konzepte einer politischen Theorie entflechten (»disentangle«); in der Argumentation des Gebrauchs und einer Geschichte der Imaginationen des Bösen geht es hier eher darum, die Konzepte zu verflechten, dabei aber gleichwohl differenziert zu betrachten. Vgl. dies., Imaginal Politics: Images Beyond Imagination and the Imaginary 2014, S. 13–72.

Geokulturelle Imaginarien

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Den Zusammenhang von globalen, politischen und kulturellen Dimensionen von Imaginarien nochmals genauer zu betrachten, ist an dieser Stelle das Ziel. Dieser Zusammenhang ergibt sich zum einen aus der Erläuterung des Weltbezugs bzw. der Weltherstellung und ihrer Bedeutung für das hier verwendete Konzept der geokulturellen Imaginarien. Dieser Bezug ist zum anderen eng verbunden mit räumlichen Praktiken bzw. spezifischer: mit der Herstellung des Weltbezugs als räumliche Praktik. Das Hinterfragen der Opposition von Wirklichkeit und Fiktion gelingt durch die Hinzunahme einer dritten Komponente, des Imaginären, wodurch eine Verflechtung der drei genannten Ebenen angedeutet ist.63 Wenn das Imaginäre ein Fundament einer jeden Gemeinschaft ist, worauf auch Iser unter Berufung auf Cornelius Castoriadis64 verweist, dann wird Fiktionen bzw. Fiktionalisierungen, wie sie in der Literatur und auch anderen Medien zu finden sind, eine wichtige Funktion zuteil. Für Iser ist die Wirkung eine zweifache: Eine vorausgehende Wirklichkeit wird durch die Fiktion »ir-realisiert«65. Dabei erhält das Imaginäre eine Form und wird dadurch real. Doch anstatt diesen Vorgang allein als zweifache »Grenzüberschreitung« zu verstehen, wird hier davon ausgegangen, dass Imaginarien als Verflechtungsimpulse66 und Verflechtungsgegenstände67 gleichermaßen zu verstehen sind, d. h. als Subjekt (»Vermögen«68) und Objekt des Imaginierten und Vorstellbaren der Fiktionswirkung und fortlaufenden Wirklichkeitskonstruktion. In den Ausführungen zu Tendenzen und Definitionen von Weltliteratur69 ist die Überlappung mit Isers Ansatz der Kombination anthropologsicher, rezep-

63 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre 1991. Insbes. S. 18–51. 64 Vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution 1984. 65 Siehe Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre 1993. Wilfried Fluck spricht in Bezug auf Iser im gleichen Zusammenhang von »re-definieren«. Siehe ders., Das kulturelle Imaginäre 1997, S. 20. 66 Simonis und Rohde würden an dieser Stelle vom Imaginären als »Vermittlungsinstanz« sprechen. Siehe Annette Simonis und Carsten Rhode, »Einleitung: Das kulturelle Imaginäre. Pespektiven und Impulse eines kulturwissenschaftlichen Schlüsselkonzeptes«. In: Linda Simonis, Annette Simonis, Kirsten Dickhaut (Hrsg.), Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Band 6 Heft 1, 2014, S. 1–12. Hier S. 4. 67 Ebd., S. 5. Die Autor:innen sehen in diesem Zusammenhang das Imaginäre als einen »Gegenstandsbereich«. 68 Ebd. 69 Für World Literature oder Literatura mundial siehe David Damrosch, How to Read World Literature 2009, für die englische Bezeichnung und Gesine Müller/Dunia Gras (Hrsg.), América Latina y la literatura mundial 2015, für lateinamerikanische Zugänge zu Räumen von Weltliteratur. Für eine Bestimmung von Weltliteratur aus dem Bereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft (Comparative Literature) siehe Emily Apter, The Translation Zone. A New Comparative Literature 2006, S. 42: »Lacking a specific country, or single national identity, Comp Lit necessarily works toward a non-nationality defined disciplinary locus,

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Imaginationen des Bösen

tions- und produktionsästhetischer Zugänge zur Literatur erkennbar. So hat Djelal Kadir mit der Übertragung des »Weltens«70 in die Bestimmungen von Weltliteratur und konkreten Analysen darauf hingewiesen, wie es zu einem permanenten Austausch von Welt und Literatur kommt: [L]iterature itself rehearses a performative function as a projection from the realm of literature into the lifeworld, or as a morphing translatio from the poetic to the pragmatic.71 [W]ithin literature itself dwells the precedent for literature’s own worlding and simultaneously, the world contains the potentiality for its own transformation into literary form.72

Kadir hebt damit die performativen und poietischen Eigenschaften von Literaturen hervor, die genau dadurch zu Weltliteratur werden, indem sie Räume konstituieren und diese als Erfahrungen realisieren. Damit steht er nicht nur Isers triadischem Denken konzeptuell nahe, sondern stimmt mit der damit einhergehenden räumlichen Bestimmung von Literatur als Fiktionalisierung von Welt(bezügen) überein.73 Während Christian Moser und Linda Simonis Imaginäres vordergründig mit Einheit(sstiftung) in Verbindung bringen, bezeichnet Mahler es als »konstruktivistische Beschreibung von Gesellschaft im Sinne einer beständig aus dem Imaginären gespeisten und sich entsprechend wandelnden Selbstschöpfung, einer ›Autopoiesis‹, von Aufbau und Zerstörung.«74 Diese Betrachtung geht einher mit Epples und Kramers Ansatz der geopolitischen Imaginarien (geopolitical imaginaries), welche sie als Konzept und Objekt zur Beschreibung globalisierter Prozesse in Anlehnung an Arjun Appadurai zur Interpretation anbieten. Imagination wird im Versuch Appadurais und in der Lektüre Epples und Kra-

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pinning high stakes on successfully negotiating the pitfalls of Weltliteratur especially in an increasing globalized economy governed by transnational exchanges and flows.« »In pursuing this examination, it might be apposite to the discussion of world literature and globalization to take the word ›world‹ as verb, and to read globalization not as boundless sweep but bounding circumscription. To world and to globalize, then, would have to be parsed in light of their subject agencies and their object predicates.« Djelal Kadir, »To World, To Globalize«. In: Comparative Literature Studies, Vol. 41, No. 1 2004, S. 1–9, hier S. 2. Djelal Kadir, »World Literature: The Allophone, the Differential, and the Common«. In: Modern Language Quarterly 74:2, 2013, S. 301. Ebd., S. 295. »The responses we receive may well lead us to conclude that world literature may be nothing more than of our engagement in notional or narrative acts of worlding. If we should still be possessed by any quotient of ethical precognizance and a certain grammatical intuition, we may well experience a nagging realization just to what extent the term ›world‹ is no longer merely a nominal noun or an expansive adjective. That ›world‹ is, in fact, a highly repercussive and consequential verb.« Djelal Kadir, »To World, To Globalize« 2014, S. 6. Andreas Mahler, »Konstruktion/Gegen/Konstruktion« 2014, S. 96.

Geokulturelle Imaginarien

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mers aus den Dimensionen von »image« (Bild), »imagined« (Imaginiertes) und »imaginary« (Imaginäres) übersetzt als permanentes Zusammenspiel materieller, kreativer und sozialer Bedingungen und Elemente.75 Das ließe sich gleichfalls als ein Zusammenwirken von Inhalt, Form und Referenz auslegen; Imagination wird demnach als Verflechtung dieser Ebenen verstanden und Imaginarien werden fortan als begriffliche Präzisierung für das Zusammenspiel dieser Dimensionen verwendet. Moser und Simonis fassen unter den Begriff des globalen Imaginären Dimensionen des politischen und kulturellen Imaginären. Der hier verwendete Begriff der geokulturellen Imaginarien ist im Anschluss an die von Simonis und Moser getroffene Differenzierung zu sehen und möchte nicht nur auf die Pluralität der Austauschprozesse von Imaginationen globaler Dimensionen hinweisen, sondern ebenfalls die Verflechtung der einzelnen Dimensionen verstärkt in den Fokus rücken.76 Die Virulenz der vielfältigen Diskussion um das Konzept der Weltliteratur verweist bereits auf diese Verflechtungen; daher wird es auch hier darum gehen, den Weltbezug, der durch das Imaginäre der Fiktionen geschaffen wird, als einen weltlichen und weltenden zu betrachten, der nicht einen weltumspannenden, d. h. universalen Anspruch vertritt, sondern sich in Differenzlogiken äußert, die die Welt problematisieren.77 Daher wird die Idee der geokulturellen Imaginarien vertreten, mit denen Welt zum einen auf Geografie im Sinne eines Erd- und Landbezugs und zum anderen auf den eingeschriebenen und damit schriftlichen Charakter der Aufzeichnung verweist, der in der Bezeichnung Geografie aufscheint. Auch scheint die Bezeichnung der globalen Imaginarien, formuliert mit dem Anspruch, ihre Formungen und Formen aus historischer Perspektive zu betrachten,78 in Bezug auf das Anliegen der vorliegenden Studie und die Analyse der betreffenden Texte zu weit zu reichen und über die eigenen Anforderungen hinauszugehen. Keine der hier diskutierten Fiktionen erhebt den Totalitätsanspruch, auf den Simonis und Moser eingehen; stattdessen verorten sie sich als geokulturelle (postkoloniale) Imaginarien aufgrund ihrer jeweils spezifischen Weltbezüge, die deshalb jedoch nicht räumlich eingeschränkt sein müssen. Im Gegenteil: Sie stellen raumübergreifende Weltbezüge erst her und setzen Bezüge auf Welt in den weiter gefassten Kontext zu den Beziehungen innerhalb des interamerikanischen Verflechtungsraumes.

75 Angelika Epple und Kirsten Kramer, »Globalization, Imagination, Social Space« 2016, S. 44. 76 Christian Moser und Linda Simonis gehen so weit, das Globale als fundamentales und ästhetisch unverzichtbares Konzept zu bezeichnen, und dies trotz seiner Totalisierungstendenzen, die auch die Autor:innen wiederum kritisch hervorheben. Vgl. dies., »Einleitung: Das globale Imaginäre.« In: Figuren des Globalen 2014, S. 11–24, hier: S. 16. 77 Dazu exemplarisch Djelal Kadir, »To World, To Globalize« 2014. 78 Vgl. Christian Moser u. Linda Simonis, »Einleitung: Das globale Imaginäre« 2014, S. 14.

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Imaginationen des Bösen

Das politisch Imaginäre wird bei Moser und Simonis als »soziale Einbildungskraft« zusammengefasst, die einen »Vorrat an Bildern, Zeremonien und Narrativen« produziert, »mit deren Hilfe eine Gesellschaft sich eine Vorstellung ihrer Einheit vorspiegelt.«79 Das kulturelle Imaginäre bleibt in diesem Zugang zwar nicht unerwähnt, aber unerklärt, weshalb es sich lohnt, nochmals auf Isers und Flucks Ansätze zurückzukommen. Das globale Imaginäre, welches als Konzept für die Klärung des Weltbezuges unter Rückgriff auf einen hier zu gebrauchenden Begriff der Imagination eine wichtige Rolle spielt, wird von den Autoren als »Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen und Figuren« bezeichnet, »die den Menschen eine Vorstellung von der (geographischen, kulturellen, ökonomischen etc.) Einheit einer Welt vermitteln.«80 Die als »Vorrat« bezeichnete Imagination und dessen Vorratsformen stellen Motive und Themen zusammen, »mit der sich fiktionale Welten konstruieren lassen.«81 Darin liegen grundsätzliche »konstruktive und performative« Potenziale von Literatur, wie sie bereits hier von Iser und Kadir betont haben: »Indem Literatur fiktive Welten entwirft, verfehlt sie nicht etwa ihren Weltbezug, sie stellt ihn vielmehr erst her.«82 Ein Einwand ist an dieser Stelle jedoch nötig, da betont werden muss, dass nicht allein das einheitliche oder einheitsstiftende Prinzip des globalen Imaginären als Herstellung der Vorstellung einer Welt allein im Vordergrund stehen sollte. Diese Sicht würde zu kurz greifen, da das Moment des Globalen, das die Autoren für ihre Konzeption nutzen, nicht allein auf einer homogenen und universalen Kultur beruht oder diese gar selbst hervorbringt. Im Gegenteil ist das globale Moment durchdrungen von heterogenen kulturellen Feldern, die im Verhältnis einer komplexen Interaktion zueinander stehen. Epple und Kramer weisen auf diese multiplen Austauschprozesse in ihrer Anwendung der Terminologie von Appadurai hin, dessen scape-Theorie, die bereits auf eine räumliche Organisation sozialer und kultureller Dimensionen hindeutet, sie folgendermaßen zusammenfassen:

79 Ebd., S. 13. Auch Nestor García Canclini hatte in seinem methodologisch und theoretisch visierten Ansatz in La globalización imaginada 1999 den Begriff des Imaginären als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit globalen, d. h. für ihn aktuelleren, Prozessen herausgestellt. Dieser deckt sich mit der zuvor zitierten Sicht Mosers und Simonis’. »Es evidente […] el papel clave que juega en lo cultural lo imaginario. Pero lo imaginario intercultural, no como mero suplemento de lo que cada cultura local representa de lo vivido en esa sociedad. [L]as imágenes representan e instituyen lo social […]. [E]s evidente que representamos e instituimos en imágenes lo que a nuestra sociedad le sucede en relación con otras […]. Esas formas de organización de lo imaginario que son las metáforas y narrativas tratan de ordenar lo que el imaginar tiene de dispersión de sentido […].« Ebd., S. 62. 80 Christian Moser u. Linda Simonis, »Einleitung: Das globale Imaginäre« 2014, S. 12–14. Hier: S. 13. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 12ff.

Geokulturelle Imaginarien

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[G]lobal culture produces complex geopolitical imaginaries marked by multiple disjunctures, inconsistencies or contradictions, which present the globalized world as a highly heterogeneous assemblage or network of diverging scapes or imagined worlds.83 […] While disjunctions and flows tend to dissolve geopolitical and other entities, the culturally shared imaginaries help to reterritorialize them within a geographical order.84

Dem Imaginären als sozialer Dimension oder Referenz der Imagination gilt es nochmals Aufmerksamkeit zu widmen. Iser und Fluck beschreiben das Imaginäre zunächst als »Potential«, »Bilder«, »Gestimmtheiten« und »Verlangen« anzutreiben und zu bündeln, d. h. zu strukturieren, und somit Imaginationen eine Form zu geben und kenntlich zu machen.85 Das Imaginäre lässt sich daher zunächst über seine Funktion(en) bestimmen. Epple und Kramer betonen dies ebenfalls durch einen Rückgriff auf Castoriadis’ Modell des ›radikal Imaginären‹. Dieses operiert zunächst auf sozialer Ebene und ermöglicht zuallererst Prozesse der Vergesellschaftung.86 Es ist genau dieser Aspekt, der das Imaginäre – in der Erweiterung und Differenzierung: kulturelle Imaginarien – zu einer wichtigen Kategorie werden lässt, wie es auch Simonis und Rhode betonen; denn [a]ls Denkfigur des Möglichen [scheint es geeignet zu sein], den Blick des Beobachters auf die […] Konstruktionsprozesse selbst zu lenken: Sie richtet die Aufmerksamkeit auf das differenzierte Zusammenspiel und die Übergänge zwischen einer gegebenen Realität und ihrer imaginären Dimension, zwischen einen Bereich institutionalisierter Vorstellungen und deren produktiver Überschreitung.87

Für die hier im Raum stehenden Imaginationen des Bösen bedeutet dies, dass Imaginarien fortan selbst als Organisations- oder Strukturierungsräume von Praktiken aufgefasst werden, die zur Aushandlung von Feldern des Möglichen Formen und Funktionen haben und dabei individuell, kollektiv und global entstehen und zusammenwirken. Wie Narrative und Narrationen, die dieses Zusammenwirken durch performative Selektion und Kombination – in Anlehnung an Friedrichs Methode zu den Bestimmungen der Imaginationen des Bösen auch »Figuration« und »Defiguration«88 genannt – tragen und vermitteln, darauf wird im folgenden Kapitel einzugehen sein. 83 84 85 86

Angelika Epple und Kirsten Kramer, »Globalization, Imagination, Social Space« 2016, S. 49. Ebd., S. 58. Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre 1997, S. 346. »Although the social imaginary can only be perceived through the secondary imaginary articulations, images or self-representations by way of which every society assembles and institutes itself, these articulations need to be ascribed to the primary creative activity of the imaginary that functions as the foundational force for any social formation, and is held to be responsible for the dynamic making or re-making of social reality itself, including its particular historical practices and political institution.« Epple/Kramer 2016, S. 47. 87 Simonis/Rohde 2014, S. 6. 88 Siehe Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 7–43.

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Imaginationen des Bösen

Analog zu den von Epple und Kramer als Begriff und Konzept geprägten geopolitischen Imaginarien sind die geokulturellen Imaginarien im hier gebrauchten Subjekt- und Objektstatus mit Ideen und Vorstellungen von Räumen sowie der Herstellung von Vorstellung von Raum und Räumlichkeit verbunden. Diese Ausrichtung des Verständnisses von Imagination auf Raumorganisationen und Raumbezüge der hier referierten und nutzbar gemachten Theorien zur Erfassung der Herstellung von Vorstellungen durch Imaginarien ist zurückzuführen auf die in Globalisierungsschüben89 und -phasen90 und in Zusammenhängen der Darstellung von Weltliteratur oft verwiesenen Prozesse von De- und Reterritorialisierung.91 Insbesondere Mahlers Beobachtungen erweisen sich für den vorliegenden Ansatz relevant, Imaginarien des Bösen über räumliche Imaginationsstrukturen zu erfassen, weil seine Ausführungen zur Imagination und zum Imaginären Möglichkeiten bieten, die sich mit der Bedeutung von kognitiven Matrizen von Räumen auseinandersetzen.92 Für den vorliegenden Ansatz gleichfalls wichtig erscheint eine Beobachtung, die auch Achille Mbembe in einer Reflexion über die Zusammenhänge von biopolitics und necropolitics in (post)kolonialen Konstellationen gemacht hat und die darauf verweist, dass koloniale Besetzung als Schreiben neuer sozialer Sets und räumlicher Relationen zu verstehen ist, was wiederum gleichbedeutend ist mit der Herstellung eines Reservoirs kultureller Imaginarien.93 Diese Beobachtung lässt sich auch mit Arjun Appadurais Ansatz verbinden. Dieser bringt ebenfalls seine – wenn auch weniger systematisch gefassten – Überlegungen zur Imagination als soziale Praxis nicht nur implizit mit räumlichen Metaphern von flows und disjunctures zusammen, sondern überführt die gesamte kulturelle mobile Logik94 explizit in den Begriff der scapes, 89 Erhard Schüttpelz, »Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I« 2009, S. 339–360. 90 Ottmar Ette, TransArea 2012. 91 Siehe Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie? 2000, S. 97–131. Dazu prägnant Kirsten Kramer mit dem Verweis auf Deleuze: »Dieser Beschreibungssemantik [der Netzwerkgesellschaft und des global village als differenzfreie Gefüge] steht die alternative Vorstellung der globalisierten Welt als einer Raumordnung entgegen, die […] durch mannigfaltige soziale Einschluss- und Ausschlussmechanismen gekennzeichnet ist und hegemoniale Machtverhältnisse herstellt, welche sie durch materielle Grenzziehungen territorialer Art zu bekräftigen sucht. In dieser Perspektive erscheint die gegenwärtige Weltordnung als ein reterritorialisierter Raum sozialer Interaktionsformen, deren globales Funktionieren notwendig auf der räumlichen Unterscheidung und Wechselwirkung proliferierender lokaler Zentren und ihrer jeweiligen Peripherien beruht.« Kirsten Kramer, »Globalität und Weltbezug« 2012, S. 105–128. Hier S. 107. 92 Vgl. Andreas Mahler, »Imaginäre Karten. Performative Topographie bei Borges und Réda«. In: Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler (Hrsg.), Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens 2009. S. 217–239. 93 Vgl. Achille Mbembe, »Necropolitics«. In: Public Culture 2003, 15:1, S. 11–40, hier: S. 25f. 94 »mobile cultural logic«. Vgl. Angelika Epple und Kirsten Kramer, »Globalization, Imagination, Social Space« 2016, S. 48.

Geokulturelle Imaginarien

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dessen etymologische Implikationen auf die räumlichen Konzepte von Landschaft hinweisen. Wie Jörg Dünne ausführt, sind die scapes zu verstehen als eine »Möglichkeit zur Beschreibung globaler Dynamiken, die man losgelöst von festen topographischen Orten betrachten müsse.«95 An diesem Punkt ergänzt sich Kramers und Epples Verständnis von scapes mit demjenigen, welches von Dünne auf die literarische Imagination übertragen wird, in dem sich »literarische Situationsbildung[en] […] als Operationen beschreiben [lassen], die […] [sich] nicht nur in einem gegebenen Gesamtraum einschreiben, sondern ihn durch Knüpfung von Bezügen zwischen Gegenständen und Akteuren erst als solchen herstellen.«96 Für einen konzeptuellen Zugang zu verräumlichten Strukturen des Bösen bedeutet dies fortan, geokulturelle Imaginarien als Artikulationsformen eines vorgestellten Raums zu betrachten, der abhängig ist vom Zusammenspiel aus Bildern und imaginierten Welten. Dabei eröffnen diese Imaginarien sowohl eine disjunktive Logik als auch eine reterritorialisierende Dynamik, welche sich wiederum ableiten lässt vom kulturellen Einfluss und dem fließenden und losen Zusammenlaufen politischer und ästhetischer Grundlagen und Perspektiven.97 Somit sind die Verräumlichung der theoretischen Zugänge zu Verflechtungsgeschichten und der dabei gleichzeitig auf Praktiken im Raum gerichtete Fokus auf die Betonung der (imaginativen) Geographien postkolonialer Literatur zurückzuführen. Eine raumorientierte Forschung, die durch die Literaturwissenschaften mitinitiiert wurde, bietet sich daher an, um die Bezüge und Implikationen der literaturtheoretischen Auseinandersetzung als eine Facette (postkolonialer) Literaturen mit den bisherigen angebrachten Zugängen der Theorien zu verknüpfen. Der erste Ansatz zur Klärung möglicher Zusammenhänge der Imagination mit der Vorstellung von Raum zur Beschreibung vom Imaginarien des Bösen ist damit arrangiert und soll im folgenden Kapitel zur Räumlichkeit des Bösen zum einen vertieft und zum anderen um Perspektiven ergänzt werden, die im Stande sind, die kulturwissenschaftliche Dimension der hier untersuchten Imaginarien narratologisch zu betrachten. 95 Vgl. Jörg Dünne, »Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung«. In: Ders. u. Andreas Mahler, Handbuch Literatur und Raum 2015, S. 41–54. Hier: S. 47. Mit dem Suffix der scapes lassen sich nun literarische fiktionale Räume unter Berücksichtigung der Kategorie der Imagination denken, da Appadurai, wie Epple und Kramer zusammenfassen, sein Konzept an das der Imagination bindet. Jörg Dünne bezieht sich wie Epple und Kramer mit dem Suffix der scapes als Begriff auf Arjun Appadurais Ausführungen zu globalen Austausch- und Bedeutungszuweisungsprozessen, die er auf fünf miteinander verflochtenen Ebenen skizziert, den sogenannten »ethnoscapes«, »technoscapes«, »financescapes«, »mediascapes« und »ideascapes«. Siehe Appadurai, Modernity at Large 1996, S. 27–47. 96 Vgl. Jörg Dünne, »Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung« 2015, S. 48. 97 Vgl. Angelika Epple und Kirsten Kramer, »Globalization, Imagination, Social Space« 2016, S. 50.

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2.2

Imaginationen des Bösen

Räumlichkeit des Bösen

Die Relationalität, die den Bestimmungen des Bösen im Kontext von Imaginarien zugrunde liegt, lässt sich über die räumliche Strukturiertheit ihrer Vermittlung und ihren Vollzug in der Literatur darstellen. Dazu bedarf es einer Klärung der räumlichen Praktiken von Literatur. Da Raum bereits früh als zentrale Grundbestimmung von Literatur aller erdenklichen Genres, also nicht nur erzählender Texte, angesehen wurde, geht es bei der hier angestrebten Darstellung der Räumlichkeit des Bösen darum, den Blick in erster Linie auf narrative Texte zu richten, um den Gegenstand genauer fassen zu können und nicht die schon fundierten Überblicksdarstellungen zu reproduzieren.98 In diesem Zuge wird eine inter- und transdisziplinär entstandene Hinwendung zum Raum in den Kultur- und Literaturwissenschaften mit den Begriffen des spatial und topographical turn belegt.99 Ziel der Erörterungen dieses Kapitels ist es, die relevanten Raumkonzepte und -modelle kulturwissenschaftlicher Provenienz mit Beobachtungen und Erkenntnissen der Literaturwissenschaft ergänzend zusammenzubringen. Damit wird die Übersetzung der Imagination des Bösen in die räumlichen Praktiken der Literatur bzw. erzählerischer Darstellungen angestrebt. Diese werden es erlauben, das Böse als räumliche Kategorie von Narrationen zu verstehen, womit sich Anschlussmöglichkeiten an kulturelle Imaginarien und Narrative des Bösen ergeben, die weiteren verflechtungsgeschichtlichen Dimensionen entnommen werden können. Ein allgemeines Verständnis von Imaginarien als Organisationsräume spricht damit beide Punkte einer Opposition an, die Jörg Dünne als »Geschichten im Raum« und »Raumgeschichte« benannt hat, um diese dann mit der basalen Unterscheidung zwischen Topographie und Topologie zu verflechten.100 Im Rückgriff auf de Certeau101 trifft Dünne bei dieser raumorientierten Erfassung von dynamisierten Räumen durch die Literaturwissenschaft ebenfalls eine Unterscheidung zwischen gehen (Bewegung) und sehen (Fixierung) als Konstituierung und/oder Aktualisierung von Raum. Die Geschichte im Raum und/als Raumgeschichte wird in einem weiteren Schritt über die Differenzierung zwi98 Verwiesen sei hier auf die Überblicksdarstellungen und Bündelungen von Forschungsfragen. Siehe Jörg Dünne u. Andreas Mahler, Handbuch Literatur & Raum 2015. Franziska Kümmerling/Stephan Günzel, Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch 2010. Wolfgang Hallet (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur 2009. Jörg Dünne u. Stephan Günzel, Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften 2006. 99 Siehe zu einzelnen sogenannten turn-Debatten programmatisch Doris Bachmann-Medick, Cultural turns: Neuorientierung in den Kulturwissenschaften 2014. 100 Vgl. Jörg Dünne, »Geschichten im Raum und Raumgeschichte« 2009, S. 1–22, hier: S. 5. 101 Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life 1984.

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schen Narrationen und Narrativen (des Bösen) konsequenterweise in ein Erzählen im Raum und Raumerzählungen als poiesis (welten) sowohl von Räumlichkeit als auch von Erzählung erweitert. Anhand dieser Verbindung von Ansätzen ist das Böse als relationales Phänomen dann in der Literatur als Verflechtungsphänomen auszumachen, das jenseits der Unterscheidung zwischen geodeterministischen und sozialkonstruktivistischen Positionen liegen kann. Die Untersuchung von Imaginationen des Bösen im Hinblick auf ihre Räumlichkeit bedeutet, die Strukturiertheit der Räumlichkeit in der literarischen Vorstellung über die kreativen, materiellen und sozialen Verflechtungen aufzuzeigen. Das wiederkehrende Narrativ der Immanenz des Bösen als okkulte Kraft soll damit überwunden und der Blick auf Konstellationen und Zugänge frei werden, die literarisch hergestellte Imaginationen aus und in Machtkonstellationen schaffen. Äquivalent zu Zugängen des Bösen, die eine Vorbestimmung nicht durch eine transhistorisch gleichbleibende Essenz oder Kondition zu erklären und verstehen suchen, gilt es auch bei der räumlichen Strukturiertheit des Bösen, nicht von einem Raum-Container auszugehen oder transgressive und liminale Phänomene als wesenhafte Struktur der Dinge zu betrachten. Den kulturellen Imaginarien, die für die Imaginationen des Bösen an Relevanz gewinnen, ist das transgressive Moment gleichwohl eingeschrieben, jedoch als eines der Verbindung, die als paradoxe Relation Sinn abbauen kann und ihn gleichzeitig affirmiert. Mit Jörg Dünnes »theoretischem Parcours«102 gelingt es, die zuvor problematisierten Imaginationsstrukturen mit der narratologischen Betrachtung sowohl der Raumkonstitution als auch der Raumdynamisierung zu verbinden. So hinterfragt er Literatur – Dünne selbst spricht konsequent abstrakt von »Texten« – »als Produkt der Imagination in einer referentialisierbaren Topographie.«103 Auf Isers Theorie gemünzt, bewirkt die fiktionale »Ir-realisierung« eine Hervorbringung literarischer Weltbezüge; um Dünnes Ansatz erweitert, kann man davon ausgehen, dass »[d]iese Konstitution von größeren Raumzusammenhängen durch narrative Verknüpfungen […] sich in struktureller Homologie zu materiellen Kulturtechniken der Raumkonstitution sehen [lässt].«104 102 Jörg Dünne, »Geschichten im Raum und Raumgeschichte« 2009, S. 6. 103 Ebd., S. 9. 104 Jörg Dünne, »Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung« 2015, S. 44. In Die kartographische Imagination. Erinnern, erzählen und fingieren in der Frühen Neuzeit knüpft Dünne erzählerische Verfahren konsequent an die Medialität außerliterarischer Praktiken und zeigt auf, wie Imagination auf frühneuzeitliche kartographische Matrices zurückgeht. Vgl. ebd. 2011, S. 44–88. »Erst in Bezug auf eine konkrete formgebende mediale Praxis […] scheinen die […] Minimalbedingungen einer doppelten Artikulation [Deleuze/ Guattari] erfüllt, die sowohl operationale Gesten im Hinblick auf einen physischen Raum als auch die Imagination steuernde Semioseprozesse zur Konstitution eines symbolischen Raumes ermöglichen. Die Verlagerung der Fragestellung auf konkrete, positiv beschreib-

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Die verflechtungsgeschichtlichen Zusammenhänge und geokulturellen Imaginarien, die literarisch das Böse als verräumlicht gleichsam her- und darzustellen imstande sind, gewinnen in interamerikanischer Perspektive an Bedeutung durch die Hervorhebung der gewaltsamen postkolonialen Kontaktsituation und der damit konstituierten Konfliktzonen. Wenn sich Böses dabei als Residualkategorie der Kolonialzeit verstehen lässt, bedeutet dies nicht, dass die Räumlichkeit des Bösen mit einer festen Raum-Matrix einer binär strukturierten Terror- und Gewalttopographie gleichzusetzen sei. Oder, wie es Franz Fanon für die »koloniale Welt« (colonial world) im Allgemeinen und JanMohamed für afrikanische Kolonialgesellschaften im Speziellen als manichäistische Allegorie zu beschreiben versucht haben, welche räumlichen Dimensionen folgt: Given the theological sources of this ideology, Fanon’s definition of colonial society as a Manichean organization is by no means exaggerated. In fact, the colonial mentality is dominated by a Manichean allegory of white and black, good and evil salvation and damnation, civilization and savagery, superiority and inferiority, intelligence and emotion, self and other, subject and object.105

Der von Fanon hergestellte und von JanMohamed kommentierte Zusammenhang bietet mehr Möglichkeiten, als auf den ersten Blick erkennbar ist, und in der Tat werden die darin gezeigten Bezüge in der vorliegenden Arbeit wiederholt eine Rolle spielen. Im Hinblick auf die Problematik des Raumes lässt sich für das Böse als (post)kolonialer Begriff jedoch festhalten, dass die von beiden Autoren adressierten Relationen nicht in der starren Binarität bestehen, die hier festgeschrieben und festgesetzt wird. Stattdessen sollte von einer Dynamisierung der Machtbeziehungen ausgegangen werden, denn in erster Linie kommt in den Ausführungen von Fanon eine Asymmetrie zum Ausdruck, auf die sich die koloniale Herrschaft zweifelsfrei stützt und die sie selbst festschreiben will, damit sie fortbestehen kann. Der Begriff der imaginativen Geographien (imaginative geographies) stammt von Edward Said, der in seiner Studie Orientalism, wie Birgit Neumann zusambare Imaginationstechniken und -praktiken als Artikulationsformen menschlicher Operationalisierung und Symbolisierung von Welt bedeutet jedoch in letzter Konsequenz auch, dass es von einer allgemeinen Theorie des Imaginären Abstand zu nehmen gilt […].« Ebd., S. 46. 105 Abdul R. JanMohamed, Manichean Aesthetics 1983, S. 4. JanMohamed kommentiert Fanons bekannten Absatz, der die koloniale Welt als manichäistische Welt zusammenfasst: »The colonial world is a Manichean world. It is not enough for the settler to delimit physically, that is to say with the help of the army and the police force, the place of the native. As if to show the totalitarian character of the colonial exploitation the settler paints the native as sort of quintessence of evil … The native is declared insensible to ethics, he represents not only the absence of values, but also the negation of values. He is, let us dare admit, the enemy of values and in this sense he is absolute evil.« Franz Fanon, The Wretched of the Earth 2004 [1963], S. 6.

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menfasst, »auf die kulturelle Gemachtheit binärer Raumstrukturen und die damit verbundenen Verräumlichung kultureller Wertehierarchien«106 hinweist. Diese Perspektive auf Raum, Ordnung von Wissen und Macht kann als Bestätigung der topographisch-topologischen und raumsemantischen Konzeption der Literatur in Übereinstimmung mit Lotman einerseits gesehen werden, da sie eine eher zirkuläre Entstehungsgeschichte von Topographien und Topologien bündelt. Andererseits besteht der Versuch, mit den zu Grunde liegenden Relationen zwischen Raum und Kultur, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, gerade die binären Politiken der Verortung offenzulegen und für die Kritik zu öffnen. Postkoloniale Ansätze sind somit seit Beginn107 mit dem sogenannten Grenzdenken oder Denken an der Grenze assoziiert worden, wobei im gleichen Zuge die Kritik an den Möglichkeiten und Risiken im Hinblick auf die Politiken des Postkolonialen als ambivalente Praxen des Widerstandes geäußert wurde.108 Dies erkannte bereits Homi Bhabha, der die spatial imagination Fanons zum Konzept des third space weiterentwickelt hat.109 Der Raum des Dritten110 und Figuren des Dritten111 vermögen Raumgeschichten und Geschichten im Raum herzustellen, die im hier erarbeiteten Verfahren Imaginationsstrukturen des Bösen bilden. Das Böse als relationales Gefüge, welches in postkolonialer Perspektive Identität und Alterität zu beweglichen Faktoren werden lässt und narrativ vermittelt wird, bedarf selbst räumlicher Matrices. Als relevant für die Diskussion um Imaginationsformen und die an ihnen mitwirkenden geokulturellen Imaginarien erweist sich die Berück106 Birgit Neumann, »Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur«. In: Dies. und Wolfgang Hallet (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn 2009, S. 115–137, hier S. 115. 107 Der Beginn der postkolonialen Studien, gerade im Hinblick auf Untersuchungen der Amerikas, ist selbstverständlich relativ. Gefolgt wird an dieser Stelle der Einteilung von Castro Varela und Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie 2005, S. 29–49. 108 Vgl., »Overlapping Territories, Intertwined Histories«. In: Edward Said, Culture and Imperialism 1993, S. 3–61. Stuart Hall, »When Was ›the Post-colonial‹?« In: Ian Chambers (Hrsg.), The Post-colonial Question 1996, S. 242–260, hier: S. 250. 109 Siehe Homi Bhabha, The Location of Culture 1994. Zu Franz Fanon: »The critical language of duality—whether colonial or global—is part of the spatial imagination that seems to come so naturally to geopolitical thinking of a progressive, postcolonial cast of mind: margin and metropole, center and periphery, the global and the local, the nation and the world. Fanon’s famous trope of colonial compartmentalization, or Manichaeanism, is firmly rooted within this anticolonial spatial tradition.« Homi Bhabha, »Foreword« 2004, S. vii – xli. Hier S. xiv. Zur Zusammenfassung einer differenzierten Kritik an Bhabhas Konzepten, welche Perspektiven von Lateinamerika aus berücksichtigt und als Übersetzung von postkolonialen Modellen erfasst, siehe Gudrun Rath, »Displacements postkolonialer Modelle«. In: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2010, S. 137–149. 110 Ebd., S. 138. 111 Albrecht Koschorke, »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften« 2010, S. 9–31.

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sichtigung der Kategorie des third space, weil sie als »Ambivalenz […] einen metaphorischen Zwischenraum [eröffnet], der als Raum der kulturellen Aussage und Identifikation binäre Kategorisierungen unterläuft.«112 Auch der aus der Beschäftigung mit Reiseliteratur entstandene Begriff der Kontaktzone (contact zone), den Mary Louise Pratt in ihrer Studie Imperial Eyes geprägt hat, nimmt asymmetrische Kontakte zwischen Akteur:innen unterschiedlicher Kulturen in den Blick.113 Dieser Kontakt ist als Beziehung, d. h. relational zu verstehen; er reicht über das mit Gegensätzen operierende Verständnis kolonialer Grenzen hinaus, da Raum und Welt gleichermaßen aus der Bewegung, Aneignung und Transkulturation entstehen, die der (post)koloniale Kontakt ebenfalls erst ermöglicht hat. Der Blick auf interamerikanische Austauschprozesse im Zusammenhang mit Entstehungs-, Form- und Funktionsgeschichten des Bösen als kulturelles Konzept, verknüpft mit dem Konzept des Guten, ist auch auf spezifische Kontakt- und Konfliktzonen in Lateinamerika bzw. auf lateinamerikanische Literaturen gerichtet worden.114 Dabei reichen neuere Ansätze von machtsensiblen und genrespezifischen Analysen, die mit dem Begriff des Bösen arbeiten,115 bis hin zu medienspezifischen oder auch transmedialen Studien, die explizit nach dem Bösen fragen.116 Der bereits erwähnte Ansatz der Fallstudien zu 112 Gudrun Rath, »Displacements postkolonialer Modelle« 2010, S. 140. 113 Siehe Mary Louise Pratt, Imperial Eyes 1992. Transculturación wird als Konzept von Kulturkontakt und Verflechtungen wirtschaftlicher und kultureller Prozesse von Fernando Ortiz in seiner anthropologischen Studie zur Geschichte des Einflusses von Tabak und Zucker auf Kuba verwendet und geht in der Verwendung durch Mary Louise Pratt auf ihn zurück, ohne dass er allerdings namentlich erwähnt wird. Vgl. Fernando Ortiz, Contrapunteo Cubano del tabaco y azúcar 2002 [1940]. 114 Vgl. Susanne Hartwig, Culto del mal, cultura del mal 2014, S. 7–17. Die Fallstudien, die unter dem Titel Culto del mal, cultura del mal nach den Formen und Funktionen des Bösen fragen, nehmen zwar indirekten, aber dennoch starken Bezug auf Friedrichs Zugang zu Imaginationen des Bösen, ohne aber systematisch Bezug auf Transgressionsverfahren der analysierten Texte und Filme zu nehmen. 115 Christian Wehr untersucht den sog. Diktatorenroman und hinterfragt die heilsgeschichtliche Entstehung, messianische Figurationen und die Inversion der Heilsgeschichte als kulturgeschichtliche Voraussetzungen der Verfahren der Vermittlung für die (exemplarischen) Romane dieses Typs in einer Zeitspanne zwischen 1830 und 1975. Siehe Christian Wehr, »Allegorie-Groteske-Legende. Stationen des Diktatorenromans« 2005, S. 310–343. 116 Siehe hierzu die Aufsätze aus Hartwig 2014 als Fallstudien. Besonders auffällig ist der Fokus auf das erzählerische Werk Roberto Bolaños seit Beginn der 2000er Jahre. Die relatos und novelas des Autors werden unter unterschiedlichsten Perspektiven auf das Böse hin befragt im Zusammenhang mit Diktaturen, Terror und vor allem der Fiktionalisierung von Ciudad Juárez und dem feminicidio in 2666 dargestellt. Biopolitische Perspektiven werden in diesen Ansätzen erprobt, wobei eine Auseinandersetzung mit der daraus abzuleitenden Imagination des Bösen nicht stattfindet. Arndt Laink, Las figuras del mal en 2666 de Roberto Bolaño 2014. Alexis Candia, El paraiso infernal en la narrativa de Roberto Bolaño 2011. Sebastian Thies, »Nomadisches Erzählen und Ästhetik des Bösen in Estrella distante von Robeto Bolaño« 2011. Celina Manzoni, »Biografía mínmas/ínfimas y el equívoco del mal« 2006, S. 17–32.

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Kulten und Kulturen des Bösen, der ausgehend von einer heuristischen Definition den Blick auf lateinamerikanische Medien und Autor:innen richtet, ist dabei auch, wie hier berücksichtigt, um einen Ansatz der narrativen Ethik bzw. um ethische Narrative erweitert worden.117 Nicht nur bei den letztgenannten Ansätzen, sondern auch bei der Sichtung der Zugänge zu Lateinamerika (als Verflechtungsraum) ist eine starke Betonung der Eroberungsgeschichte und Eroberungsnarrative der Kolonialzeit bis hin zur Gewalt- und Terrorforschung erkennbar. Diese Ansätze betonen aber gerade dann nicht die Kategorie des Bösen oder Fragen nach Imaginationen des Bösen ausgehend von teils sehr spezifischen Topographien des Terrors und der crueldad (Grausamkeit).118 Jean Franco fragt ausgehend von unterschiedlichen Formen der politischen Räume der Moderne119 nach praktizierter und medial repräsentierter Grausamkeit. Franco gründet ihr Argument, ähnlich dem von Christian Wehr,120 auf den Beginn der Moderne im Zuge der spanischen Eroberung, wobei Enrique Dussels Paradigmen des Eurozentrismus121 als richtungsweisend herangezogen und hinterfragt werden: [T]he mentality and practice of conquest extend well into the twentieth century. Up to the near present, many areas of Latin America have remained outside legal restraints on the ill treatment of original peoples and the descendants of slaves. In remote areas like the Argentine desert in the nineteenth century and the rubber plantations in the Amazon in the early twentieth, where the robber baron Arana referred to the treatment of slave labor as conquestación, there was no outcry at the ill treatment of native peoples. […] Wars of extermination such as the Argentine ›war of the desert‹ and the drive against Mapuche of Chile was couched in terms of conquest, as was the exploitation of the indigenous during the rubber boom in Colombia at the end of the nineteenth century.122

Kritisch an diese Ansätze anschließend, ergeben sich jedoch Möglichkeiten, gezielt nach den Strukturen der Räumlichkeit des Bösen zu fragen. Spezifische Konfliktzonen in Lateinamerika werden allein nicht ausreichen, um diese dann 117 Vgl. Susanne Hartwig, »Introducción. Del culto y de la(s) cultura(s) del mal«. In: Dies. (Hg.), Culto del mal, cultura del mal. Realidad, virtualidad y representación 2014, S. 9–17. Insbes. S. 11ff. 118 Siehe hierzu exemplarisch Jean Franco, Cruel Modernity 2013. 119 Ebd., S. 17. 120 Christian Wehrs These lautet, dass das politische apriori der lateinamerikanischen Diktaturen nicht im wissenschaftlichen Diskurs, sondern in einer religiösen Erwartungshaltung begründet liege. Daher lassen sich »Darstellungsverfahren«, »Motive«, »Gattungsmuster« und Topoi aus dieser »diskontinuierlichen Überlieferung« und den »kontingenten Konstellationen« in Verbindung mit politischer Herrschaft ableiten. Siehe Christian Wehr, »Allegorie-Groteske-Legende. Stationen des Diktatorenromans«. In: Romanische Forschungen 117, Heft 3 2005, S. 310–343. Hier S. 310–317. 121 Enrique Dussel, 1492. El encubrimiento del Otro 1994. 122 Jean Franco, Cruel Modernity 2013, S. 17f. u. 24.

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als Imaginationen des Bösen zu beschreiben; vielmehr wird der Versuch unternommen, Konfliktdynamiken als Raumdynamiken zu lesen, um diese als an räumliche Strukturierungen gebunden zu betrachten. Denn die (post)kolonialen Kontaktzonen lassen sich aus der Geschichte der Eroberung als geokulturelle Erschließung von Herrschaft über Imaginarien von Landschaft, Wildnis und Territorium verstehen.123 Zusätzlich lassen sich geokulturelle Imaginarien der Verflechtungsgeschichte der Amerikas anhand der Geschichte der Sklaverei als Imaginationen des Bösen beschreiben. Kontaktzonen und kultureller Austausch sind in literarischen Texten narrativ vermittelt und als Codierungen des Bösen deutbar. Diese narrativen Vermittlungen fiktionalisierter Imaginationen lassen sich auch kulturwissenschaftlich deuten und kulturgeschichtlich einordnen. Die Kontakte und Austauschprozesse verlaufen dabei nicht unidirektional. Von Machtrelationen durchdrungen, werden Vorstellungen von Eigenem und Fremdem und deren Potenzial als Dritter Raum zum Ausdruck gebracht, der sich als Verflechtungsraum erklären lässt und sowohl negative als auch positive Effekte hat, dabei jedoch nie effektlos bleibt. Imaginationen des Bösen sind an räumliche Strukturen der Imagination der transkulturellen Verflechtungsprozesse gebunden und re-artikulieren und konstituieren simultan eine (post)koloniale Matrix. Dies lässt sich zumindest für die Literaturen im Untersuchungszeitraum (1920–49) und ihre teils sehr expliziten Bezüge zur Kolonialgeschichte nachvollziehen. Wendet man diese Verräumlichungen des Bösen124 auf literarische Praktiken, dann lässt sich in der Lotman’schen Terminologie von der Sujethaftigkeit des Lagers oder gar vom Lager als Sujet sprechen. Sklaverei narratologisch und narrativ zu interpretieren, bedeutet eine Kontextualisierung der erzählerischen Mittel, die eingesetzt, konstituiert und verwirklicht werden, wenn Sklaverei durch das Sujet des Lager(raum)s vermittelt, verhandelt und verflochten wird. Sklaverei 123 Auf diesen Punkt weist auch Tobias Döring indirekt hin: »Konstruktion und Fortdauer der vormals postulierten Zonen, wie überhaupt das Machtbegehren kolonialer bzw. orientalistischer Rhetorik, erscheinen so […] vielmehr als Wunschvorstellung.« Siehe ders., »Postkoloniale Räume« 2015, S. 137–147. Hier S. 141. 124 In seiner Reflexion über »Die Erfahrung des Bösen an fremden Orten« spricht Karlheinz Wöhler explizit von einer Verräumlichung des Bösen, wenn die Topographie und die Vorstellung als dessen Subsitut zusammenfallen. Dies geschieht laut Autor an touristischen Orten, die zur Simulation des Bösen imstande sind. Siehe dazu ders., 2008. S. 183–193. »Bei aller emotionaler Inszenierung des Bösen kann jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass an Orten des Bösen kulturelle Darstellungen stattfinden. Das Böse hebt zwar diese Orte symbolisch von alltäglichen sozialen Orten ab, nichtsdestoweniger ist die Erfahrung des Bösen an fremden Orten zugleich eine Teilhabe an Zeichen-Medien, die für eine Kultur konstitutiv sind. Wenn an diesen Orten Objekte interpretierend wahrgenommen werden, dann wirken sie als Zeichen für das Böse […], die für Mord, Tod, Verbrechen, Verfolgung, Leiden u. ä. stehen […], indem sie wertende Kognitionen und Emotionen bewirken […].« Ebd., S. 191.

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ist damit modellbildend für das Lager als ein Textereignis und damit in Erweiterung einer Grenzüberschreitung zu lesen, die über die phänomenologische Bestimmung des Bösen hinaus die Imaginationen des Bösen offenlegt. Sklaverei als Textereignis – auf der Handlungs- bzw. histoire-Ebene – vermittelt und verflicht über die Sujetbildung des Lagers erzählerisch (post)koloniale Biopolitiken, die im Sinne Fortis und Mbembes als »hypermorale necropolitics« oder »thanatopolitics«125 Böses diskutieren lassen. Der an dieser Stelle erwähnte Begriffsapparat von Lotman dient allerdings nur als erster Zugang zur räumlichen Strukturierung der Imaginationen des Bösen über das Sujet des Lagers, wie es zunächst genannt werden soll. Der Semiotiker Lotman geht indes von einer »Herstellung einer Relation der Differenz«126 aus, die in klar abgrenzbaren bzw. zugewiesenen Räumen stattfindet. Der hier erprobte Ansatz lotet darüber hinaus die Möglichkeit aus, die Differenz(en) innerhalb der ohnehin offenen Räume zu denken. Das Lager in biopolitischer Lesart ist räumlich oft als einschließender Ausschluss beschrieben worden. Diese Aushandlung der Differenz ist in den literarischen Beobachtungen abzulesen und bedeutet, einschließende Ausschließungen als Dynamisierung narratologisch zu untersuchen: Im Modell des ständig bewegten, flüssigen Raumes ist Handlung nicht mehr als Transgression eines statischen Ausgangszustandes anzusehen; Handlung stellt sich vielmehr her durch eine fortgesetzte indexikalische Verknüpfung zwischen etwas aktuell und etwas nur virtuell Präsentem, auf das aber eine Bewegung bereits zuläuft.127

Mit der Bewegung der Relationen lässt sich in räumlicher Theorie die für Imaginationen des Bösen dominante Transgression und Transgressionsästhetik in Frage stellen; die im Zitat erwähnte Transgression kann daher wörtlich genommen und auf Begriffe und Bilder des Bösen übertragen werden. Nach Eröffnung eines zunächst literaturwissenschaftlichen Zugangs zu Imaginarien des Bösen, der dann um eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung der Räumlichkeit des Bösen erweitert wurde, wird es im folgenden Kapitel darum gehen, einen verflechtungsgeschichtlichen Zusammenhang der postkolonialen Imaginarien zu erschließen; damit wird die Studie eine Matrix-bildende, transareale und kulturübergreifende Dimension der hier relevanten Literaturen beschreiben, die im vierten Kapitel wieder an narratologische Kategorien und Organisationsformen anschließen wird.

125 Siehe Simona Forti, New Demons 2014. Sowie Achille Mbembe, »Necropolitcs« 2003. Beide Autor:innen und ihre Begriffe werden in Kapitel 1.2 und 1.3 ausführlich erläutert. 126 Vgl. Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte 1993, S. 341. 127 Jörg Dünne, »Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung«. In: Ders. (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum 2015, S. 41–54. Hier: S. 42.

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Wenn das Böse – Phänomene des Bösen und die Kategorie des Bösen – über unterschiedliche literarische Imaginationsstrukturen untersucht werden kann, welche durch räumliche Vorstellungen thematisch und erzählerisch (d. h. in der Vermittlung der Themen) zur Anschauung gelangen, dann ist der Hinweis auf grenzüberschreitende Bewegungen wichtig, weil diese räumlichen Imaginationen nicht als etwas Statisches wahrgenommen werden, sondern weil sie aus einer Konstellation entstehen, »die selbst schon verflochten ist.«128 Hier gewinnt Gesine Müllers Beobachtung von synchronen Fragestellungen und unausweichlich diachronen Einbettungen der historischen Zusammenhänge von Vergleichen an Relevanz, weil diese Beobachtung es ermöglicht, sich ebenfalls kritisch mit den Prämissen der vergleichenden und gleichzeitig übersetzenden Transfergeschichte in Verflechtungsräumen auseinanderzusetzen.129 Der Blick wird sich daher im Folgenden zum einen auf den hemisphärischen Raum130 und zum anderen auf sogenannte Zwischenräume richten, die in den Verflechtungen und räumlichen Bewegungen zu verorten sind und welche es im Hinblick auf eine von Beginn an abstrakte Kategorie wie das Böse zu beachten gilt, die von spezifischen Phänomenen bis hin zu und universellen ethischen Vorstellungen sämtliche kulturelle Dimensionen der Vermittlung, Beobachtung und Wahrnehmung betrifft. Ausgerichtet an einer Verflechtungsgeschichte131 ist diese Studie damit 128 Gesine Müller, Die koloniale Karibik. Transferprozese in hispanophonen frankophonen und frankophonen Literaturen 2012, S. 11. 129 Ebd. 130 Siehe dazu Olaf Kaltmeier, »Inter-American Perspectives for the Re-Thinking of AreaStudies«. In: fiar 7.3 2014, S. 171–182. Wilfried Raussert, »Mobilizing ›America/América‹: Toward Entangled Americas and a Blueprint for Inter-American ›Area Studies‹«. In: fiar 7.3 2014, S. 59–97. Djelal Kadir, »Introduction: America and Its Studies«. In: PMLA, Vol. 118, No. 1, 2003, S. 9–24. 131 Diese Ausrichtung entspricht im Ansatz Anette Werbergers Programmatik einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte, wie sie die Autorin für die galizische Literatur skizziert hat. Siehe Anette Werberger, »Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als

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Interamerikanische Perspektiven

raumorientiert, da spezifische kulturelle Räume bestimmte literarische Semantiken oder Übersetzungsdynamiken hervorbringen können; weil sie keine vollständigen Karten aufzeichnet, sondern nur Linien durch riesige kulturelle Semiosphären zieht, die exemplarisch zeigen, welche literarischen Wege ins Abseits führten, begehbar oder gar semantisch überfüllt waren.132

Die Verflechtungsgeschichte der Literatur überschreitet mit dem Vorhaben einer Erfassung der nicht synchronen und nicht symmetrischen Wissensproduktion als Netz(werk) das komparatistische Moment einer als klassisch verstandenen Vergleichenden Literaturgeschichte, die nationale und sprachliche Merkmale als Ausgangspunkt und in der Kritik dieses Ansatzes auch als Endpunkt hat. Damit sind ein räumlicher Begriff und zusätzlich ein raumorientiertes Verständnis von Kultur angesprochen. Verflechtung(en) (entanglement/-s) dient (dienen) als topologischer Begriff oder Metapher zur Beschreibung von räumlich und zeitlich offenen und heterogenen Zirkulations- und Austauschprozessen, Dependenzen und Interdependenzen sowohl zur Betrachtung von Akteursrelationen als auch zur temporären Fixierung von Relationen durch Strukturen.133 Der Begriff bezieht sich sowohl auf einen Analysegegenstand als auch auf die Möglichkeit, eine bestimmte Perspektive auf einen Gegenstand einzunehmen, um dynamisierte (Transfer-)Prozesse zunächst sichtbar und dann erklärbar zu machen. Dabei bedeutet die Verflechtungsgeschichte (entangled history) keine eigenständige Methode, sondern setzt sich in der Perspektivierung von Prozessen reflexiv mit einer Vielzahl vergleichender und übersetzender Praktiken auseinander, um das »Wie« von Verflechtungen als Gemengelage/Ansammlung vorstellbarer Relationen (durch Medien- und Kommunikationsflüsse [flows], Migration, Vergemeinschaftungen, Integration und Desintegration, Konjunktionen und Disjunktionen etc.) gleichsam versteh- und erklärbar zu machen.134 Der interamerikanische Ansatz einer Verflechtungsgeschichte erreicht damit zusätzlich eine Nähe zu postkolonialen Theorien, weil es diesen entspricht, die Relationalität kolonialer und/oder kolonial geprägter UntersuchungsgeVerflechtungsgeschichte«. In: Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hgg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität 2012, S. 109–141. 132 Ebd., S. 131. 133 Siehe dazu auch Johannes Bohle, Marius Littschwager (Hrsg.), Caribbean Entanglements 2015. 134 »Inter-American Studies, in our understanding, conceptualize the Americas as transversally related, chronotopically entangled, and multiply interconnected. In that sense Inter-American Studies envision a post-territorial understanding of area(s). With its critical positioning at the crossroads of cultural studies and area studies the field pushes further the postcolonial, postnational and cross-border turns in studies of the Americas toward a model of horizontal dialogue beyond constructed areas, cultures as well as disciplines.« Wilfried Raussert, »Mobilizing ›America/América‹: Toward Entangled Americas and a Blueprint for Inter-American ›Area Studies‹«. In: fiar 7.3, Theorizing Hemispheric Studies of the Americas 2014, S. 59–97. Hier: S. 62f.

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genstände zu beobachten und die Perspektivierung der durch ihre Gegenstände in den Blick geratenden Relationen zu hinterfragen, die wiederum verstanden werden als »a history that takes several sides as one complex unit.«135 Wird diese komplexe Einheit verbunden mit der basalen Bestimmung von Postkolonialen Studien als »diverse set of regional reflections on the forms and legacies of colonialism«,136 dann meint interamerikanisch auch eine als Provinzialisierung Europas137 formulierte Bezugnahme auf die Verflechtung von Partikularem und Universalem, indem die Relationalität der geteilten Geschichten138 von postkolonialen Ansätzen aus gedacht wird. Bereits vorhandene Perspektivierungen der Imaginationen des Bösen von etablierten Blickrichtungen auf (normbasierte) Ästhetik, die die Imagination nur im Titel tragen, werden damit aber nicht einfach umgekehrt. Die vermeintliche und angenommene periphere Position wird aber zunächst als universalitätsbildend und formgebend herausgestellt. Eine postkoloniale Position gilt aber vor allem für eine Ebene, die von den hier verhandelten literarischen Texten selbst eingenommen und beansprucht wird. Diese Ebene kann zunächst zeitlich verstanden werden, gleicht aber vielmehr einer Beobachterposition, welche die Dynamiken, Metamorphosen, Übersetzungen und Mobilitäten nicht nur der (historischen) Kolonialzeit, sondern der durch die Texte selbst besetzten Umbruchphasen zusammenschließt, die als postkolonial im Sinne der oben bereits dargestellten Praktiken zu bezeichnen sind. Die Bedeutung des Postkolonialen soll für jede der im zweiten Teil dieser Arbeit folgenden Einzelstudien literarischer Texte entwickelt werden, wobei bereits offensichtlich ist, dass Formen des Postkolonialen und Residuen des

135 Angelika Epple u. Ulrike Lindner, »Introduction« 2011, S. 9. Der Begriff der Verflechtungsgeschichte, der auf die Postkolonialismus- und Globalitäts-Forschung in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften zurückgeht, findet zunehmend auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten Verwendung und ist sowohl als Diskussionsgrundlage konzeptueller Orientierung des Faches in transdisziplinärer Ausrichtung zu finden (siehe Werberger 2012) als auch als Begriff von mehrstufigen Interpretationen für alternative Literaturgeschichtsschreibug und der Analyse transkultureller Zusammenhänge. Siehe zur Anwendung in den Literaturwissenschaften insbes. Gesine Müller, Die koloniale Karibik 2012. Erhard Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960) 2005. 136 Vgl. Fernando Coronil, »Elephants in the Americas? Latin American Postcolonial Studies and Global Decolonization«, in: Mabel Moraña et al. (Hrsg.), Coloniality At Large. Latin America and the Postcolonial Debate 2008, S. 396–417, hier: S. 397. 137 Siehe dazu Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference 2000. 138 Angesprochen wird hier Shalini Randerias Prägung der geteilten Geschichte als shared and divided history. Siehe dies., »Geteilte Geschichte und verwobene Moderne«, in: Sozialanthropologische Arbeitspapiere Nr. 83, 1999, S. 1–10.

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Interamerikanische Perspektiven

Kolonialen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können bzw. an eine Vielzahl von bedeutungsgenerierenden Prozessen gebunden sind.139 Die Möglichkeiten, lateinamerikanische Literaturen anhand von postkolonialen Theorien als interamerikanische Imaginationen zu befragen, ist gleichfalls orientiert an mittlerweile etablierten Ermittlungen so genannter Widerstandspraktiken Kolonialisierter und Herrschaftsmechanismen der Kolonisierenden. In dieser skizzierten Konstellation ergibt sich jedoch vielmehr ein konstantes Pendeln zwischen mehreren Perspektiven. Die Bezeichnung oder Position des ›Postkolonialen‹ hat hier eine zeitliche, räumliche und kulturelle Dimension. Denn zum einen stehen Texte im Vordergrund, die die koloniale Situationen beobachten und fiktionalisieren, also zeitlich von einem Standpunkt aus schreiben und verfasst sind, zu dem die ehemaligen spanischen Kolonien längst als Nationen ihre Unabhängigkeit erklärt hatten und nationale Narrative ihre Eigenständigkeit als Nationen herstellen sollten.140 Die hier relevanten Narrationen der Texte des Untersuchungskorpus sind historisch orientiert, in Ausrichtungen, die die kolonialen als postkoloniale Situationen (hier wörtlich verstanden als nach den Kolonien) betrachten und Momente des Übergangs (El reino de este mundo) oder die Vielzahl räumlicher Übergänge, Übersetzungen und Transfers (Historia universal de la infamia, La Vorágine) in den Blick nehmen. Transkulturell agieren die Texte des Korpus dabei, weil ihnen räumliche und zeitliche Ereignisse und Dimensionen des kulturellen Austausches eingeschrieben sind, sowohl als gewaltvolle Ent- oder Aneignung als auch in Form von Praktiken des Widerstandes.

3.1

Kolonialität/Postkolonialität: das Böse und die Moderne

Anhand postkolonialer Positionen wird an dieser Stelle ›Moderne‹ als Prozess der Übersetzung und des Transfers von Wissen im Zusammenhang mit dem Bösen vorgestellt. Dieser Prozess ist jedoch nur schwerlich von der »Kolonialität«

139 Verwiesen sei hier auch auf Diskussionen, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen postkolonialer Theorien im Bereich von Lateinamerikastudien, der Area Studies, der InterAmerican Studies oder auch der Global Studies und Decolonial Studies auseinandersetzen. Bill Ashcroft, »Modernity’s First-Born. Latin America and Post-Colonial Studies«. In: Alfonso de Toro (Hrsg.), El debate de la postcolonialidad en latinoamérica: Una postmodernidad periférica o cambio de paradigma en el pensamiento latinoamericano 1999, S. 13– 29. Sowie Walter Mignolo, The Idea of Latin America 2005. 140 Siehe hierzu die mittlerweile klassische Studie über Gründungsfiktionen lateinamerikanischer Literaturen: Doris Sommer, Foundational Fictions: The National Romances of Latin America 1991.

Kolonialität/Postkolonialität: das Böse und die Moderne

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(colonialidad)141 der Zirkulationsprozesse von Waren und Wissen zu trennen. Die Verflechtungsgeschichten des Bösen in der literarischen Moderne Lateinamerikas werden daher im Sinne einer diskurs- und materialgeschichtlichen Konstitution der Moderne gelesen, wobei sie an den Referenzhorizont der Imagination des Bösen als Verräumlichung – d. h. als dynamische Raumstrukturen – geokultureller Imaginarien gebunden bleiben. Daher lohnt es sich, nochmals zu einem zentralen Kritikpunkt der obigen Erörterungen zurückzukommen: »Erst das Imaginationskonzept der Moderne erlaubt es, das Böse außerhalb von normativen Vorgaben als Produkt der menschlichen Psyche literarisch vorzustellen und damit eigenständig – wenngleich unter Bezug auf übergreifende kulturelle Bedeutungsprozesse – zu modellieren.«142 Auch wenn man geneigt ist, der Formulierung spontan zuzustimmen, und mit dem Zugang zum Bösen (oder zu Bösem) über das Konzept der Imagination Übereinstimmung mit dem Autor herrscht,143 so bleibt die Zusammenfassung, die hier einleitend als Fundament der Ausarbeitung von Alts Ästhetik des Bösen richtungsweisend ist, überaus ambivalent. Es ist nicht nur schwierig, von einem Imaginationskonzept zu sprechen, wenn nicht gleichzeitig geklärt wird, welches der sich anbietenden Konzepte warum gewählt wird; es ist darüber hinaus – gerade unter Berücksichtigung der hier gewählten postkolonialen Perspektive – überaus konfliktbeladen, von einem Konzept der Moderne auszugehen. Dabei ist nicht die Wahl des Singulars in Bezug auf mögliche Konzepte und Epochen oder Zeitabschnitte besonders problematisch, sondern der Umstand, dass die Moderne selbst als Narrativ nicht hinterfragt wird, obwohl die Formulierung im obigen Zitat auf diese Ambivalenz hindeutet. Nicht nur hat die Moderne eine Vielzahl von Imaginationskonzepten hervorgebracht; auch die Moderne selbst sollte nach dieser Formulierung folgerichtig als Imaginationskonzept verstanden werden.144 141 Der Begriff der colonialidad wurde von Aníbal Quijano geprägt und »beschreibt die bis heute wirksamen Effekte einer im 15. Jahrhundert mit der Kolonialisierung der Amerikas begonnenen ›Ordnung der Welt‹, die nicht nur die Neuregulierung der Warenkreisläufe, sondern auch die daraus resultierenden gesellschaftlichen Transformationen sowie Denkund Wahrnehmungsmuster betrifft, von denen die ›Peripherie‹ systematisch marginalisiert wird.« Isabel Exner, Gudrun Rath, »Kulturtheorien der Amerikas. Nachträgliche Sichtbarkeiten und zukünftige Intersektionen«. In: Dies. (Hgg.), Lateinamerikanische Kulturtheorien 2015, S. 9–22. Hier S. 15. Vgl. Aníbal Quijano, »Colonialidad y modernidad/racionalidad«. In: Perú Indíg. 13 (29), 1992, S. 11–20. 142 Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010, S. 15. 143 Dabei ist auch in dem Punkt mit Alt in der Kritik an Karl Heinz Bohrer übereinzustimmen, der, trotz Ankündigung, kein Imaginationskonzept bereitstellt, sondern es vielmehr unter die Ästhetik bzw. sein Ästhetikverständnis subsumiert. 144 Siehe hierzu Nestor García Canclini, La globalización imaginada 2005. Obwohl Canclini mehrfach angemerkt hat, dass er postkoloniale Theorien nur im Zusammenhang mit Ereignissen und Prozessen der Kolonialzeit für praktikabel erachtet, ist seine Perspektive auf

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Interamerikanische Perspektiven

Das vorliegende Kapitel will diese Kritik fortsetzen und daran mit einem kritischen, postkolonialen Verständnis von Moderne anschließen, das hier im Sinne eines »Latin American archive«, übersetzt als »plural and conflictive repertoire«,145 zu denken ist.146 Die Moderne ist damit als Narrativ in Verfahren der Wissensschöpfung, Vermittlung und Aneignung zu hinterfragen, aber in historischen Prozessen des kulturellen Austausches und dynamischer Konfliktpositionen und -räume sicher nicht verzichtbar.147 Als relevant erweist sich für eine postkoloniale Perspektivierung des Bösen an dieser Stelle wiederum Sabine Friedrichs treffende Beobachtung, wonach die von ihr konstatierte »Renaissance des Bösen«,148 die in den späten 80er und frühen 90er Jahren des 20. Jahrhunderts diskurs- und motivgeschichtlich basierte Ar-

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Moderne und Kulturen gerade aus der Sicht lateinamerikanischer Theorieproduktion aufschlussreich. Vgl. Mabel Moraña/Enrique Dussel/Carlos A. Jáuregui, Coloniality at Large 2008, S. 1–20, hier S. 4. Dieses Verständnis steht in Verbindung mit Stuart Halls Gedanken zur Postkolonialität, die er als Narrativ zusammengefasst hatte: »This re-narrativisation displaces the ›story‹ of capitalist modernity from its European centering to its dispersed global ›peripheries‹; from peaceful evolution to imposed violence; from transition from feudalism to capitalism (which played such a talismanic role in, for example Western Marxism) to the formation of the world market […]. In this way, the ›post-colonial‹ marks a critical interruption into that whole grand historiographical narrative which, in liberal historiography and Weberian historical sociology, as much as in the dominant traditions of Western Marxism, gave this global dimension a subordinate presence in a story which could essentially be told from within its European parameters«. In: Ders., »When was ›post-colonial‹? Thinking at the limit«. In: Ian Chambers (Hrsg.), The Post-colonial Question 1996, S. 242–260, hier: S. 250. Siehe dazu Isabel Exner und Gudrun Rath, »Kulturtheorien der Amerikas. Nachträgliche Sichtbarkeiten und zukünftige Intersektionen« 2015, S. 9: »In neueren Forschungen werden in diesem Zusammenhang die oftmals gewaltvollen Erfahrungen an den Peripherien der europäisch dominierten Weltordnung sowie die Austauschbeziehungen zwischen den europäischen Mächten und ihren Kolonien als Geschichte einer antizipierten Moderne gelesen. Anders als es das Narrativ einer genuin von Europa ausgehenden westlichen Moderne schreibt, wurden viele dieser Prozesse und Diskurse vorweggenommen und ›erprobt‹, die sich in Europa erst später in Folge transatlantischer Transfers etablierten. Dies zeigt sich beispielsweise an rassistischen Kategorisierungen, deren Konsequenzen im Kontext der Debatte über die ›Menschlichkeit‹ der ›Indios‹ zwischen Las Casas und Sepúlveda jahrhundertelang das Welt-Wissen in verschiedenen Regionen und Disziplinen strukturiert haben.« Diese Beobachtung der Verflechtung von Krise als Zäsur oder Wendepunkt mit der zunehmenden Beschäftigung mit der Relevanz der Kategorie des Bösen mag in einer ganzen Reihe paradigmatischer Untersuchungen und Essays zum Thema zutreffen. Siehe Carsten Colpe, Wilhelm Schmid-Biggemann, Das Böse: eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen 1993. Alexander Schuller/Wulfram von Rahden, Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen 1993. Beide sind nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetunion geschrieben worden. Weiterhin Jochen Achilles, Ina Bergmann, Representations of Evil in Fiction and Film 2009, und Faulstich (Hrsg.), Das Böse heute 2008, die beide explizit Bezug nehmen auf die terroristischen Anschläge auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001.

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beiten, aber auch jene der Ästhetik des Bösen prägt, eine Argumentation vorantreibt, welche sich »in eine Tradition der Vernunftkritik einreiht«, die »die vermeintliche Blindheit des Projekts der Moderne anprangert.«149 Postkolonialismus und (auch surrealistische) Vernunftkritik sind sich auf dieser Ebene der Betrachtung sehr ähnlich, beweisen sie doch die Nähe des Anderen und/als Nähe des Anderen als das Andere der Moderne und andere Moderne, indem sie die mit Europa identifizierte Zivilisation des Fortschritts der wilden, exotischen und romantischen bis grotesken Andersheit der Nicht-Europäer gegenüberstellen. Die Dämonisierung der als totalitär gesetzten Moderne entspräche damit der Konstruktion der ›bösen‹ Kolonisierenden auf der einen Seite gegenüber den ›guten‹ Kolonisierten auf der anderen Seite. Doch gerade in den vernunftkritischen und gegen Rationalität gerichteten Ansätzen ist das Böse als Kategorie des Raumes in sehr metaphorischer Weise betont worden: »Nicht mehr der Fortschritt und die Vernunft okkupieren unseren Alltag und unsere Phantasie, sondern das Böse. […] Nirgends demonstriert die Ästhetik ihre Herrschaft über den Diskurs brutaler als im imperial expandierenden Bösen.«150 Das Böse wird in derlei Aussagen als Kraft und substanzlose (Gegen-)Macht vorgestellt, die okkupiert, nach Herrschaft strebt und sich gewaltsam und kolonial ausbreitet. Eine Aussage über Böses als aussageabhängiges Phänomen und als Kategorie (historisch) unterschiedlicher Bedeutungen wird damit aber nicht ermöglicht. Eine Macht des Bösen als Kraft jenseits der Referenzialisierbarkeit zu verorten, lässt es vielmehr als Prinzip oder historisch unveränderliches Phänomen erscheinen. Auch die Transgression(sästhetik) kann, selbst in einem dynamischen Modell,151 letztlich »das transgressive Böse nur auf der Kehrseite derjenigen Diskurse entfalten, deren Grenzen es zugleich sprengt. Die Transgression entfaltet sich in Form der Dekonstruktion, und aus der Dekonstitution tradierter Diskurse konstituiert sich ein ambivalentes, substitutives Böses.«152 Die Umwertung der Herrschaft der Expansion bzw. der Herrschaft als Expansion bleibt somit letztlich den Modellen verhaftet, die sie kritisiert, und zwar dergestalt, dass die Bewegungen und Querungen nicht wahrgenommen werden. Die Transversalität und die damit angesprochenen räumlichen Querungen stehen aber, ausgehend

149 Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 15–18. 150 Alexander Schuller, Wolfert von Rahden, »Zur Renaissance des Bösen. Vorwort«. In: Dies., Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen 1993, S. VIII. 151 Siehe dazu Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 21–33, für eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit Batailles Konzeption des Bösen als anthropologische Idee der Transgression, die mit der Sünde und Profanation die Erfahrung des Heiligen in einer als entsakralisiert verstandenen Moderne vorantreibt. 152 Ebd., S. 33.

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Interamerikanische Perspektiven

von einer postkolonialen Geschichte, konstitutiv für die hier betrachtete Kategorie des Bösen. Dabei sollte bedacht und differenziert argumentiert werden, wie Raum und Postkolonialität zusammenzubringen sind und auch für die Frage nach Imaginationen des Bösen historisch relevante und für die Perspektivierung von Literaturen fruchtbare Heuristiken hervorbringen; denn »Raumentwürfe postkolonialer Provenienz bezeugen insgesamt ein Feld, auf dem die Konzeption globaler Raumordnungen infolge der Passagen- und Gewaltgeschichte der Moderne seit 1492 zur Debatte steht.«153 Weil (post)koloniale Geschichte als Verflechtungsgeschichte nachvollzogen werden kann und somit auch als Transferleistung lesbar wird, sind Überlagerungen der Bezugssysteme zur Bearbeitung von Raumerfahrung entstanden. Die durch diesen Prozess angestoßenen Verschiebungen sind als fortdauernd zu begreifen.154 Sehr eindrücklich und auch kontrovers wird dieser Standpunkt von Susan Buck-Morss vertreten, die die Geschichte der (Philosophie der) Moderne als nicht losgelöst von der Unabhängigkeit Haitis im späten 18. Jahrhundert betrachtet und argumentiert, dass der Prozess bzw. das Ereignis dieser Revolution erst zum Verständnis der Moderne beigetragen habe und dass dieses Verhältnis (noch immer) übersehen werde.155 Buck-Morss’ Studie will die Ursprünge der Modernität nicht als »westlich« übersetzen; denn man kann gewichtige Anteile an dieser Darstellung einer exklusiven Modernität herausstellen, die sich nicht mit der »westlichen Moderne« decken.156 Wie Leander Scholz treffend zusammenfasst, verändert Buck-Morss

153 Vgl. Tobias Döring, »Postkoloniale Räume«. In: Jörg Dünne u. Andreas Mahler, Handbuch Literatur & Raum 2015, S. 137. 154 Vgl. ebd. 155 »Conceptually, the revolutionary struggle of slaves, who overthrow their own servitude and establish a constitutional state, provides the theoretical hinge that takes Hegel’s analysis out of the limitlessly expanding colonial economy and onto the plane of world history, which he defines as the realization of freedom – a theoretical solution that was taking place in practice in Haiti at that very moment.« (S. 12) »The exploitation of millions of colonial slave laborers was accepted as part of the given world by the very thinkers who proclaimed freedom to be man’s natural state and inalienable right. Even when theoretical claims of freedom were transformed into revolutionary action on the political stage, it was possible for the slavedriven colonial economy that functioned behind the scenes to be kept in darkness.« Susan Buck Morss, Hegel, Haiti and Universal History 2009, S. 22. 156 Siehe Leander Scholz, »Sklaverei, die unsichtbare Tinte. Buck-Morss liest Hegel«. In: Ulrike Bergermann, Nanna Heidenreich (Hgg.), total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie 2015, S. 91–100. Hier: S. 92. Diese Beobachtung in Bezug auf Buck-Morss’ Argument findet sich vorweggenommen auch bereits bei Frey Bernadino de Sahagún, worauf sich Monika Walter bezieht. Siehe dies., »Selbstrepräsentation des Anderen im testimonio? Zur Archäologie eines Erzählmodus lateinamerikanischer Moderne«. In: Hermann Herlinghaus, Utz Riese (Hrsg.), Sprünge im Spiegel. Postkoloniale Aporien der Moderne in beiden Amerika 1997, S. 21–61.

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durch ihre Analyse von Austauschprozessen (Haiti-Hegel-Moderne) auch eine »Bedeutung dessen, was unter Universalität verstanden wird«, denn eine Universalität, die weder zu einem bestimmten historischen Moment als für jede Zeit und jede Kultur gültig verstanden wird, noch sich der Universalisierung einer ganz bestimmten Kultur verdankt, sondern in der Zirkulation zwischen verschiedenen Kulturen entsteht, bewahrt auch als Universalität noch ihre historische Beziehung zu einer Mehrzahl partikularer Kulturen.157

Modernität ist somit als Übersetzungsprozess zwischen unterschiedlichen Kulturen über verschiedene Grenzen hinweg zu verstehen. Die Fragen der postkolonialen Theorien bezüglich der postkolonialen Konditionen der Amerikas (aber auch Europas) im Zuge dieser Übersetzungen betreffen hier die Geschichte der Sklaverei und das slaving. Die Analysen von Buck-Morss sind hier nicht willkürlich gewählt, denn zum einen wird die Fiktionalisierung dessen eine Rolle spielen, was historisch seine Referenz in dem gründet, was als Haitianische Revolution bezeichnet wird. Zum anderen ist die Lektüre Hegels durch die englische Historikerin auch im Kontext der Idee der postkolonialen Moderne der Amerikas von Fernando Coronil aufgegriffen worden, welcher die Dialektik von Herr und Knecht metaphorisch und analytisch als Weltkarte (map of the world) bestimmt hat, die das westliche politische Imaginäre definiert, als geokulturelle Imaginarien im Kontext dieser Arbeit. Was Coronil beschreibt, ist somit eine Verflechtungsgeschichte des geo-politisch-philosophischen Denkens zwischen den Amerikas und Europa. Die geokulturellen Imaginarien versucht er systematisch zu erfassen und zu unterteilen – angelehnt an Edward Saids geopolitisches Imaginarium des Orientalismus – in occidentalist representational modes.158 Was dieses Vorgehen für die vorliegende Studie anschlussfähig macht, ist die relationale Aushandlung bzw. der Transfer von Wissen und Macht im Sinne einer Verflechtungsgeschichte, die sich direkt auf die Amerikas bezieht und konsequent räumlich gedacht ist: [R]epresentational practices assume a privileged center – the Occident, the first world, the West, the Self – from which difference continues to be defined as Otherness.

157 Leander Scholz, »Sklaverei, die unsichtbare Tinte. Buck-Morss liest Hegel« 2015, S. 94. 158 Coronil teilt diese folgendermaßen ein: »the dissolution of the Other by the Self«, »the incorporation of the Other into the Self«, »the destabilization of the Self by Other«. Vgl. Fernando Coronil, »Beyond Occidentalism, Toward Nonimperial Geohistorical Categories«. In: Cultural Anthropology 11 (1) 1996, S. 51–87. Hier S. 58–73. Exemplarisch sei an dieser Stelle die Kritik Coronils an Tzvetan Todorovs Die Eroberung Amerikas 1984 erwähnt. Coronil weist darin das geokulturelle Wirken der Hegel’schen Geopolitik nach: »Although Hegel’s dialectic engages master and slave in intimate reciprocity, one of the consequences of Hegel’s Eurocentric view of history is that the unfolding of the dialectic is confined to the West; the non-West remains fundamentally external to it.« Ders., »Beyond Occidentalism, Toward Nonimperial Geohistorical Categories« 1996, S. 59.

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Whether Otherness is dissolved in the service of the Self, subsumed within the Self, or celebrated in opposition to the Self, as in the three modalities […] is in the respect less significant than its ongoing definition as a counterimage to a Self in need of confirmation, critique, or destabilization. In this discussion I have called attention to the way these maps reinscribe certain imperial boundaries, it is because […] they do not sufficiently educate us to see forms of humanity ›that are not on the map‹.159

Coronil wählt für seine Blickwendung vom Said’schen Orientalismus (orientalism) zu den Modalitäten des Okzidentalismus (occidentalism) einen durchaus kritischen Zugang. Selbst die so genannte »Destabilisierung des Selbst durch den Anderen«, also die Modalität, die dem Hegel’schen geokulturellen Imaginären komplementär entgegensteht, verhilft nicht zu einem alternativen Zugang kultureller Differenz, die die Imaginationen des Bösen prägt und gleichzeitig die Vorstellung von Differenz zu beeinflussen im Stande ist. Dabei ist das von Coronil gewählte Beispiel für den angesprochenen Modus der Wahrnehmung ein sehr vielversprechendes, weil durchaus relevantes, denn es gibt einen weiteren Hinweis auf die räumlichen Verbindungen der Imaginationen des Bösen, wie sie im Anschluss weiterentwickelt und mit der literarischen Vorstellung verknüpft werden. Michael Taussigs anthropologische Studie zu Riten des Teufelspakts (contract with the devil/devil contract) auf kolumbianischen Plantagen und in bolivianischen Minen weist auch historisch auf den für die vorliegende Studie wichtigen Punkt hin, wie die aus der Sklaverei hervorgegangenen Arbeiter:innen als ›CoAutoren:innen‹ der Moderne zu lesen sind.160 Taussigs Anthropologie schreibt sich ein in eine Kulturkritik, welche zugrundeliegende Annahmen zum Anderen der Moderne de-mystifizieren möchte: Colonization and enslavement inadvertently delivered a special mystical power to the underdog of colonial society – the power of mystical evil as embodied in the Christians’ fear of the devil. The quasi-Manichaean dualistic cosmology of the conquerors coexisted with the polytheistic or animistic monism of the African slaves and Indians, so that the conquerors stood to the conquered as God did stamped with ethnic and class dualisms of this momentous order–ever susceptible to mercurial inversions in accordance with the shifting currents of caste and class power.161 159 Ebd., S. 76. 160 Siehe Michael Taussig, The Devil and Commodity Fetishism in South America 1980. Dazu Fernando Coronil: »Just as their slave ancestors contributed to the making of the Occident, these peasants are engaged today in reproducing Western capitalism. The books of magic that some of them read include codified responses to market forces whose roots may be traced back to the European Middle Ages and beyond. As if by a hidden historical affinity, their devil beliefs involve a transformation and adaptation of these European beliefs to their own conditions and traditions.« Ders., »Beyond Occidentalism, Toward Nonimperial Geohistorical Categories« 1996, S. 70f. 161 Michael Taussig, The Devil and Commodity Fetishism in South America 1980, S. 42.

Thanatopolitik und die Verflechtungen von Biopolitik und Moral

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Bevor aber ein Postkolonialer Zusammenhang der Imaginationen des Bösen mit slavings erfasst werden kann, ist ein weiterer Schritt zur Konzeption der Verflechtung nötig, der die Bildlichkeit und die Begrifflichkeit des Bösen zunächst an politische Dimensionen bindet.

3.2

Thanatopolitik und die Verflechtungen von Biopolitik und Moral

Der Referenzhorizont der Imaginationen des Bösen, der im ersten Abschnitt gebildet wurde, kann gewiss selbst als Narrativ bezeichnet werden. Nur steht dieses Narrativ nicht allein – oder autonom – da. Die Verbindung der Imaginationen des Bösen (in der Perspektive des ersten Abschnitts) mit einer nachaufklärerischen Genealogie des Bösen, die postkoloniale Verflechtungen berücksichtigt, soll in diesem Abschnitt erarbeitet werden. Während Susan Neiman die These vertritt, das Böse betreffe die Welt als Ganzes,162 erhöht gerade die hier begleitende Diskussion um Weltliteratur, die zur Imagination des Bösen hinzugenommen wird, die Aufmerksamkeit für die Schwierigkeit, von der Welt als Ganzem zu sprechen, da nicht von einer kontinuierlichen Ganzheit ausgegangen werden kann, sondern gerade in Disjunktionen nach Erklärungs- und Handlungsmöglichkeiten gesucht werden muss. Die dreischrittige Genealogie von Simona Forti, die sich auf zwei Paradigmata und einen Übergangs- bzw. Zwischenschritt beruft, um das Böse als Phänomenologie der Gewalt/Macht vorzustellen, dient dabei als Orientierung und Referenz.163 Sowohl Fortis phänomenologische Sicht auf das Böse als auch die konkrete Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Praktiken der Biopolitik und moralischen Vorstellungen sind gewinnbringend für das Verständnis, Böses als relationale und räumliche Imagination zu betrachten, um diese dann mit literarischen Praktiken zusammenzuführen.164 Forti hinterfragt in der Zusam162 Siehe dazu Susan Neiman, Evil in Modern Thought 2002, S. 1–13. Die Autorin geht auch vom Bösen als ein historisches und zu historisierendes Konzept aus, so aber auch von einer allumfassenden Version des Narrativs Moderne. Evil in Modern Thought spricht als Titel gleich von Beginn an die Ambivalenz des Status des Bösen als genitivus subiectivus und/oder obiectivus der Moderne an. 163 Simona Forti, New Demons 2014. Die Philosophin Forti führt in ihrer Argumentation über das so genannte Dostoevsky Paradigm über Hypermoral Biopolitics zu dem von ihr vorgeschlagenen Paradigma der New Demons. In diesem Abschnitt interessieren aus literarischer Sicht der Verflechtungsgeschichte und -räume insbesondere die Ausführungen zu Biopolitiken und ihr Zusammenhang mit der postkolonialen Perspektive, die die vorliegende Arbeit für sich in Anspruch nimmt. 164 Fortis Argument zu Beginn ihrer Ausführungen ist: das Böse ist in und als Machtbeziehung zu denken, enthält ein ethisches Moment; der Weg zur politischen Moralisierung bleibt

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Interamerikanische Perspektiven

menstellung einer Genealogie des Bösen die ontologischen Alternativen, die dabei auftauchen, wobei sie letztlich eine funktionalistische Prämisse zur Bestimmung des Bösen einhalten muss, welche es ermöglicht, die Phänomene des Bösen in die lange und dynamische Geschichte des Begriffs und der Idee zu unterteilen. Ihr Argument bleibt dann einer Form der Kontingenzbewältigung oder »human animal’s search for meaning«165 verbunden, wobei sie die Beziehungen zwischen normativ philosophisch argumentierender Moralpositionen und der politischen Immanenz der theologisch und metaphysisch konzipierenden Positionen zur Welt als miteinander in Beziehung stehend begreift. Forti macht für das 19. und 20. Jahrhundert eine narrative Schemabildung aus, die sie synthetisch bestimmt als Dostoevsky paradigm. Dieses Paradigma, das sich kritisch mit Kants Begriff des radikal Bösen auseinandersetzt und über die, laut Forti, selbst gesetzten Grenzen hinausgeht, verortet das Böse zunächst in Beziehung zur Frage der Macht.166 Ideen und Praktiken, die mit Nihilismus, Todestrieb, Trieben im Allgemeinen, dem Willem zum Nichts verbunden werden, dem Delirium, der Transgression und Unordnung nahestehen bzw. diese befördern, machen dieses moderne Paradigma des ›Destruktiven als Böses‹ bzw. der destruktiven Boshaftigkeit (wickedness) aus.167 Die Sichtbarkeit des Bösen jedoch verschlossen, da es keinen neutralen oder objektiven Standpunkt gibt, von dem aus diese Moral als Norm aufrechterhalten werden kann, ohne dass diese selbst bereits in den Verortungen des Bösen, d. h. innerhalb der Machtgefüge, einen Platz hätte. Vgl. ebd., S. 1. Eine ähnliche Schwierigkeit zeigt sich bereits während der Unterscheidung zwischen dem Bösen in der Literatur und dem Bösen der Literatur bzw. der Literatur als dem Bösen. Auch diese Modelle arbeiten mit dem Verständnis des Bösen in Beziehung zu Machtfragen (und damit auch Gewalt- und Herrschaftsfragen). Literaturen eröffnen Möglichkeitsräume und können dabei ein breites Spektrum von ethischen Bedeutungen aufzeigen, d. h. an ethische Fragen gebunden sein bzw. diese verneinen, unterwandern oder befördern. 165 Vgl. ebd., S. 2. 166 Vgl. ebd., S. 4. So sehr das von Forti identifizierte Narrativ als schlüssig erscheint und sich mit anderen Perspektiven deckt, die die Bestimmungen des Bösen »der Moderne« beschreiben, so muss dennoch kritisch angemerkt werden, dass die Autorin das Paradigma an den Protagonisten der Erzählungen Dostoevskys festmacht, die dieses »verkörpern«. Damit entgeht sie der mimetischen Interpretation der Abbildung der Idee des Bösen in der Literatur, übersetzt diese jedoch allein auf die Figurenebene. 167 Es sind dies Konzepte, die schließlich auch Alt als »Schwarze Messe«, »Archäologie der bösen Seele«, allgemein als »Introspektion oder Innensicht des Bösen« beschreibt. Selbstverständlich spielt die räumliche Fassung des Innen und Außen auch hier bereits eine große Rolle. Vgl. Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen 2010, S. 163–215. Es deckt sich aber auch mit den Beobachtungen Brittnachers zur »Biometrie des Bösen«, die sich besonders auf Strassers Auseinandersetzung mit der »kriminologischen Erzeugung des Bösen« beziehen und ebenfalls in ein postkoloniales Schema der Rassenkriminologie übersetzt wurden, wie dies die Beispiele Ortiz und, noch früher, Sarmiento zeigen, die das Delinquente rassenideologisch als Quelle und Aktion des Bösen gleichermaßen zu erklären suchen. Hans Richard Brittnacher, »Biometrie des Bösen« 2013, S. 371–386. Siehe dazu Fernando Ortiz, Los negros brujos (apuntes para un estudio de etnología criminal) 1906. Domingo Faustino Sarmiento,

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durch die Erklärung dieses Narrativs fasst die Autorin dann folgendermaßen zusammen: »Evil enters the world as a diabolical disease of power, a power that, because it exceeds all limits, can only be the pure energy of oppression and domination, an inexhaustible source of suffering and death.«168 Dieses Modell, welches in das 20. Jahrhundert hineinreicht, liegt einem Großteil der säkularisierten Formen der vormals vordergründig theologisch und bereits durch die Antike getragenen Konzeptionen zugrunde. Das Böse als Resultat der Perversion des freien Willens, also eines souveränen und zu absoluter Herrschaft fähigen kollektiven oder individuellen Subjekts, affirmiert jedoch ein eher eindimensionales Verständnis von Macht und untermauert ein Herrschaftsprinzip, welches Opfer und Täter:in, todbringende Allmacht und passives Objekt von Gewalt polarisiert. Dieses zugespitzte Modell überführt Forti in die Manifestationen des Bösen, wie sie im und überhaupt seit dem 20. Jahrhundert über den Todestrieb und den Wille[n] zum Nichts zusammengeführt werden: »The hermeneutic capacity of this schema has been expanded […] to include key experiences of the twentieth century: total war, planetary, destructive technology, repeated genocides, and above all, Auschwitz.«169 Die Kritik, die Forti als Ausgangspunkt nimmt, um das Böse als Kategorie des Sprechens über Macht zu überdenken, besteht nun in einem von ihr nach wie vor konstatierten einseitigen Gebrauch der Kategorie Macht in einer dämonologischen Version. Dieser unilaterale Gebrauch von Macht in Konzeptualisierungen des Bösen ist auszumachen, obwohl sich längst ein Perspektivwechsel in Hinblick auf Macht als Gegenstand vollzogen hat, welcher aber wiederum nicht explizit mit Begriffen des Bösen arbeitet oder gar einen eigenen Begriff des Bösen herausarbeitet.170 This change of perspective received a significant boost from Hannah Arendt’s thought, and above all from that of Michel Foucault, clearing the way to contemporary reflection on biopolitics and biopower, among other things. […] From historical studies on Conflicto y armonía de las razas en América 1883. Allgemein zur Kriminologie und Phänomenologie des Bösen Peter Strasser, Verbrechermenschen 1984. 168 Simona Forti, New Demons 2014, S. 4. 169 Ebd., S. 5. 170 Siehe ebd., S. 6. Diese Kritik wurde jüngst auch aus Sicht der Soziologie von M. Wieviorka in Evil 2012 geäußert. Fortis Argument folgend lässt sich festhalten, dass in der Betrachtung des Bösen und seiner Konzeptualisierung von einer Wende von der dominanten Beschäftigung mit »Tätern« hin zu einer größeren Auseinandersetzung mit »Opfern« gesprochen werden kann. Diese sollte jedoch als Fluktuation wahrgenommen werden. Angemerkt sei deshalb allein Harald Welzer, der überzeugend die Rechtfertigung zum Massenmord auf unterschiedlichen Ebenen – moralischen, politischen, sozialen etc. – zu konfrontieren und zu erklären versucht. Das »Verweilen beim Grauen« zeigt, dass »Grausamkeit […] eine Geschichte und sich wiederholende Aspekte hat und […] sich in Prozessen vollzieht, die man beschreiben kann.« Vgl. Harald Welzer, Täter: wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden 2005, S. 7–77, hier: S. 13.

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genocides to research on the theory of race, thought on biopolitics has contributed greatly to shifting the focus from the power of putting to death to strategies for maximizing life.171

Ihre Ausführungen zur Biopolitik (bzw. Biomacht) versteht Forti selbst als einen Zwischenschritt zu einem noch offeneren Paradigma des Bösen im Zusammenhang mit Macht; einen Zwischenschritt bedeuten sie, weil sie einer traditionellen Dichotomie von Gut und Böse verhaftet bleiben. Ähnlich dem Transgressionsmodell von Georges Bataille, der sich bekanntlich auch zur Struktur des Faschismus geäußert hat, funktioniert das Modell der Biopolitik als Form einer »totalitären Biomacht« (totalitarian biopower)172 – wie der Nationalsozialismus173 diese »verkörpert« – über die Annahme eines unhintergehbaren Wertes des Lebens in der Moderne.174 Es stellt sich nämlich, Forti folgend, zunächst durchaus die Frage, ob rassistische Diskurse tatsächlich den Körper des ausgemachten Opfers bzw. Objekts von moralischer und humaner Bedeutung reinigen bzw. leeren oder ob sie ihn nicht stattdessen mit hypermoralischer Bedeutung saturieren, welche beansprucht zu wissen, wie der Tod vom Leben zu trennen sei.175 Hier zeigt sich die Schwierigkeit, dieses Modell wiederum in postkoloniale Zusammenhänge zu stellen, die die Begriffe und Bilder in kolonialen Verflechtungen – ausgehend von einer nach-aufklärerischen Postkolonialität der Formen von Biopolitik, von denen Forti und andere Vertreter:innen der politischen Theorie und Philosophie sprechen – mit hervorgebracht haben. Zudem umfasst der Begriff der Biopolitik mehr eine Perspektivierung, nämlich der Souveränität, welche die Zirkulation von ethischen Instanzen in Machtrelationen in den Fokus rückt, um ihre Funktionsweisen zu reflektieren. Der damit einhergehende Wechsel von der Konzentration auf Täter:innen und deren vermeintliche Allmacht hin zu Akteur:innen des Leidens eröffnet jedoch zunächst selbst eine Zugangsweise, die die biopolitische Fokussierung mit Blick auf Praktiken im Raum und Vorstellung von Raum anschlussfähig macht an postkoloniale Zusammenhänge, die nicht primär oder ausschließlich mit Varianten totalitärer Herrschaft in Verbindung gebracht werden sollten.

171 Simona Forti, New Demons 2014, S. 6. 172 Ebd., S. 125. 173 Siehe dazu Michel Foucault, The society must be defended 2003, S. 239–264. Georges Bataille, La structure psychologique du fascisme 1970. 174 »Das Böse – eine akute Form des Bösen –, dessen Ausdruck sie [die Literatur] ist, stellt für uns meiner Ansicht nach den souveränen Wert dar. Aber diese Auffassung erfordert nicht das Fehlen der Moral, sie verlangt eine ›Hypermoral‹.« Georges Bataille, Die Literatur und das Böse, S. 7f. 175 Ebd., S. 7.

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Darauf weist auch Forti hin, indem sie betont, dass das Böse systemisch (wenn nicht systemtheoretisch) verstanden werden kann, ohne es dabei mit autoritärer Herrschaft gleichzusetzen: True: evil is a system, in the sense of a tangle of subjectivities, a network of relations, whose threads knit together thanks to the perfect complementaritybetween (a few) wicked actors and originators, (a few) zealous, committed agents, and (many) acquiescent, not simply indifferent, spectators. But why do these cogs and wheels fit together so well?176

Worin liegen demzufolge die Verbindungen von Biopolitik und Moral, die zu einer räumlichen Perspektive auf das Böse in postkolonialen Zusammenhängen verhelfen? Dazu ist es notwendig, nochmals kurz die Zusammenhänge von Biopolitik, Macht und Moral aufzuzeigen, die vom Begriff der thanatopolitics zusammengefasst werden, der die Konzeptualisierung des »biopolitischen Paradigmas« eröffnet.177 Dieses von Giorgio Agamben in den 1990er Jahren herausgearbeitete Paradigma muss aber auch zunächst als solches hinterfragt werden, ist doch der von Agamben beschriebene homo sacer phänomenologisch extrem und gleichzeitig exemplarisch, wobei die Figur des homo sacer in den Unterscheidungen von Leben, Freiheit und Tod nicht historisch oder linguistisch präzise sein möchte, sondern als Repräsentation des Paradoxons der Souveränität auftritt, über welches sich Böses verstehen lässt.178 Zu bedenken ist aber, dass mit moderner Souveränität ein fragwürdiger Kontrast zu Formen antiker Herrschaft etabliert wird und dass die Moderne bei Agamben, wie auch vor ihm bei Foucault

176 Ebd., S. 8. Vgl. dazu auch Anmerkung 217 von Kapitel 4. im Zusammenhang mit der Narration des Bösen (Hickethier). An anderer Stelle heißt es: »It [evil] is not only a systemic effect that crystalizes subjects and event, digging a wedge in the continuity of history. It exacerbates its intensity, qualitatively and quantitatively, along with what we might call an ontological rupture, to wit, when the axiological framework changes and life, its energy, its duration, and its productivity become the supreme good. The relationship between evil and power continues to be conceptually modeled on an ›anatomy of human destructiveness.‹« Vgl. ebd., S. 140f. 177 »Thanatopolitics is not just one specific case of this paradigm’s application, but rather, as we will show, the question that opens the path to its very conceptualization.« Ebd., S. 128. 178 Kritisch und folgerichtig dazu: »El régimen biopolítico como expresión última de la excepción soberana produce no una forma sino el Homo sacer en todo su abandono. El poder soberano no tiende a la producción del Homo sacer porque es perverso o encarna un principio de maldad radica. La producción del Homo sacer es en sí mismo un producto de la impotencia del poder soberano para asegurar la fusión efectiva e inquebrantable entre el sostén biológico de la experiencia humana y una forma que ya no sería distinguible de este soporte.« Horacio Legrás, »Biopolítica. Vicisitudes de una idea«. In: Mabel Moraña (Hrsg.), Heridas abiertas. Biopolítica y representación en América Latina 2014, S. 33.

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und Arendt, ohne postkoloniale Ansätze bestimmt wird.179 Hinzu kommt, dass der Begriff des homo sacer als beispielhafte Figur selbst stark mystifizierend zu lesen ist, dabei aber eine essenzielle Funktion von moderner Politik verkörpern soll. In Verbindung mit dem Konzentrationslager, verstanden als extreme Konzeption von Biopolitik und gleichzeitig als paradigmatischer Raum gegenwärtiger Politik im Zeichen der (kontinuierlichen) Moderne, werden jedoch wieder der Begriff und das Bild zusammengeführt, die mit dem Bösen verflochten sind. So ist es gleich eine ganze Reihe von Unterscheidungen, die nach Agamben in den Lagern kollabieren: neben der grundlegenden Unterscheidung von bios und zoé ist das vor allem die Unterscheidung von Recht und Tatsache und, wichtiger noch, die Unterscheidung von Regel und Ausnahme. Ist es nach Agamben ein wesentliches Merkmal der Moderne, daß die souveräne Ausnahme, früher gleichsam nur an den Rändern und Ritzen des Gemeinwesens eine untergeordnete Rolle spielend, in dessen Zentrum rückt, so bilden die Lager den Fluchtpunkt, in dem die Extreme schließlich ineinsfallen.180

Im Begriff des Lagers kollabieren aber zugleich die religiösen, mythischen und transzendenten Figuren als Bilder des Bösen (medial, vermittelt, imaginär) mit den mundanen Begriffen und Figuren des Bösen, die es systemisch mit dem Totalitarismus, dem Kapitalismus oder der Allmacht destruktiver Subjekte gleichsetzen, die diese Systeme wiederum anzutreiben im Stande sind. Beide Dimensionen – Bild/Begriff, transzendent/mundan – sind dabei nicht antithetisch als feste binäre Ordnungen zu verstehen, sondern als geokulturelle Imaginarien verflochten, noch bevor von Lagern, wie sie Agamben topologisch beschreibt, bzw. von ihrer Entstehung aus variablen und kontingenten Mechanismen von Macht gesprochen werden kann. Wenn das Böse als (biopolitisches) Prinzip entwickelt wird, welches die Maximierung des Lebens durch berechenbare Bewältigbarkeit von Körpern – rassisch/rassistisch, ethnisch und national – einfordert, die über Bestimmungen einer Norm hergestellt werden muss, wird dieses Prinzip selbst wieder mit moralischer Schuld oder Pflicht aufgeladen, die vom Individuum bis zur Gesellschaft erfüllt zu sein hat. Damit kommt es zur Veränderung der Imaginarien, also auch von Räumen der Imagination, des Bösen als etwas Destruktivem oder als einer Entität des Destruktiven hin zur Herstellung von Leben. Auf diese Weise ist das Verständnis Foucaults von Biopolitik bzw. Biomacht zu deuten, wenn es mit der Kategorie des Bösen unter Berücksichtigung des Paradigmas von Agamben 179 Siehe dazu Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären 2004, S. 190–205. Simona Forti, New Demons 2014, S. 126–152. Leland de la Durantaye, Giorgio Agamben. A Critical Introduction 2009, S. 207–211. Alle Autor:innen lesen Agamben, Arendt und Foucault ergänzend; Forti ist dabei die Einzige, die die Kategorie des Bösen explizit bei allen genannten Autor:innen betrachtet. 180 Vgl. Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft 2004, S. 192.

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betrachtet wird. Wie Forti aufzeigt, entwickelt Hannah Arendt – obwohl Biopolitik in ihren Schriften als Begriff nicht verwendet wird – einen ähnlichen Begriff des Lebens, welcher zu einem Verständnis der Bestimmung von Bösem genutzt werden kann und nicht unmittelbar aus dem kontroversen Paradigma der Banalität des Bösen181 resultieren muss: Spirit, Humanity, Race, Class are the many names by which Western culture has expressed its faith in the new, modern idol: the life of the great, organic – but immortal – body of the human species. For Arendt too, then, here the paradox of radical evil is already prefigured: not only an uncontrollable drive towards nothingness but also an insatiable need for life are what produced the horror of the twentieth century.182

Wenn nun die biopolitische Perspektive auf die Produktion von Leben eine eigene Genealogie hat, deren Verlauf hier in aller Kürze nachgezeichnet wurde, dann stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Lebens für das Verständnis des Bösen, sowohl mit Blick auf Moralisierungsformen, aber auch auf die damit imaginär verknüpften Raummodelle. Das Konzept des homo sacer in der von Agamben beobachteten Logik der Souveränität und der Konstituierung im Lager als Paradigma ist von räumlicher Metaphorik und Bedeutung durchzogen. Angefangen beim Lager, das bei ihm Topologie und Topographie zusammenfallen lässt, ist die Rede von der Ortung,183 der Zone184 und Sphäre,185 die mit der Ausnahme und dem Souverän als Denkfiguren operieren. Die Ausnahme und/ der Regel des Souveräns ist zu verstehen als Grenze, Begrenzung und Entgrenzung, die als dynamische Figurationen konsequent räumlich aufgefasst werden. Das Lager, die Position des Souveräns und die Figur des homo sacer als ›nacktes 181 Angemerkt sei an dieser Stelle ein Zitat von Djelal Kadir, der treffend die Auseinandersetzung der weitreichenden Debatten um die Formulierung, aber auch die Rolle von Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Bösen ebenfalls in Zusammenhängen mit Biopolitik beschreibt: »Herein lies the seed of vehemence driving the animus of Arendt’s vilification and her own trials: banality’s evil can be as radical, as evil itself can be banal. The treatment of evil as all-too-human and, therefore, sempiternal in human history – past and potentially, future – most threatens those who cannot differentiate between understanding the phenomenon of evil and its justification, or who fear such differentiation and understanding, lest they be implicated.« Siehe Djelal Kadir, Memos of the Besieged City 2011, S. 158–176, hier: S. 175. 182 Vgl. Simona Forti, New Demons 2014, S. 134. 183 »Sie [die Ausnahme] ist in diesem Sinn die fundamentale Ortung, die sich nicht darauf beschränkt, zwischen dem, was außen, und dem, was innen ist, zwischen normaler Situation und Chaos zu unterscheiden […].« Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben 2002, S. 29. 184 »Die souveräne Ausnahme (als Zone der Ununterschiedenheit von Natur und Recht) ist die Voraussetzung der juridischen Referenz in der Form der Aufhebung.« Ebd., S. 31 [Hervorhebungen M. L.]. 185 »Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in dieser Sphäre eingeschlossen ist.« Ebd., S. 93 [Hervorhebungen M. L.].

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Leben‹ sind bestimmt durch das Paradox der einschließenden Ausschließung bzw. ausschließenden Einschließung. Die Ausnahme als Struktur der Souveränität versteht Agamben als »originäre Struktur, in der sich das Gesetz auf das Leben bezieht und es durch eigene Aufhebung in sich einschließt.«186 Agambens strukturelles Prinzip folgt hermeneutischen Zirkeln. Hinzugefügt werden muss der Einwand, dass Souveränität und Macht, die in Homo sacer über »nacktes Leben« entscheiden, als eine Art metaphysisches Schicksal westlicher Politik gelesen und konzipiert werden.187 Biopolitik wird, gleichfalls kritisch gelesen von Horacio Legrás, demnach als transzendentales Prinzip verwendet, welches aber ständig auf ein anders Konzept verweisen muss, um erklärbar zu sein; häufig geschieht dies in Bezug auf ein Konzept, das Biopolitik für obsolet erklärt: die Souveränität.188 Die Figuration des homo sacer verbindet das biopolitische Paradigma mit der Vorstellung von Gemeinschaft und biblischen Gründungsnarrativen des Bösen, welche von der strukturellen, transgressiven und physischen Gewalt erzählen;189 allerdings kommt dabei oftmals die Kritik an den Implikationen der Figuration des homo sacer zu kurz. Dabei lassen sich biopolitische Paradigmen in der Tat mit den Imaginationen des Bösen verbinden und in den fiktionalen Modellierungen von Räumen des Erzählens und Erzählräumen fruchtbar anwenden. Dazu muss jedoch auf diese räumliche Modellierung hingewiesen werden, welche die auf juridische Vorstellungen reduzierte Figur des Tötbaren, aber nicht Opferbaren hinterfragt, da diese den Moment der Selektion von Leben und Tod übersieht, die zur Unterscheidung beider Dimensionen beiträgt. In der »Raumgeschichte politischer Ordnung«, wie Jörg Dünne die Topologie Agambens beschreibt, bleibt »in der Indifferenzzone des Ausnahmezustandes ungewiss, […] welcher Körper dazu bestimmt ist, der des Souveräns bzw. der des homo sacer zu werden«, da das »Verhältnis von Souverän und homo sacer eine Kippfigur darstellt«, die es zu einem Phänomen der Ungewissheit macht.190 Hier bieten sich zugleich zahlreiche Schnittstellen zwischen den bisher aufgeführten Raummodellen und der postkolonialen Figur des Dritten an, um Imaginationen des Bösen ab- und herzuleiten, die über »die Form des Übergangs oder die Verbindung zu höherer Einheit«191 hinauszugehen imstande sind. So kann das Verhältnis zwischen Souverän 186 Ebd., S. 39. 187 Etienne Balibar weist darauf ausführlich hin. Vgl. ders., Violence and Civility 2015, S. 185f. 188 Vgl. Horacio Legrás, »Biopolítica. Vicisitudes de una idea«. In: Mabel Moraña (Hg.), Heridas abiertas. Biopolítica y representación en América Latina 2014, S. 31–46, hier: S. 34. 189 Vgl. Ottmar Ette, Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies 2011, S. 11. 190 Vgl. Jörg Dünne, »Geschichten im Raum und Raumgeschichten« 2009, S. 16. 191 Siehe dazu den bereits zitierten Beitrag von Albrecht Koschorke, »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften« 2010, S. 9. Souveränität wird hier auch interessanterweise räumlich hinterfragt als »epistemischer Ausnahmezustand« (S. 13).

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und homo sacer, entgegen der essenzialisierenden Lesart Agambens, im Folgenden als räumliche Kippfigur in Ergänzung zur Figur des Dritten verstanden werden, die in literarischer, fiktionalisierter Form – beispielsweise als trickster, Parasit oder Rivale – als wiederkehrende Figur und Figuration gebraucht wird und so zu Beobachtungen und gleichzeitig zur Konzeptualisierung des Bösen (unter biopolitischen Perspektiven) dient. Paradigmen des Raumes, verbunden mit Paradigmen der Kulturtheorie, die Böses, wie eingangs beschrieben, relational und somit als Verhandlungsraum des Dritten beschreibbar machen, sind damit in Ergänzung zu gebrauchen, um eine Engführung von Imagination, Imaginarien und der Räumlichkeit des Bösen zu erreichen, die wiederum in und als Zonen des Übergangs modellhaft zu beschreiben sind. Auf die allgemeine Anschlussfähigkeit und Grenzen der Perspektiven eines biopolitischen Paradigmas an Formen der Kolonialität und insbesondere der Sklaverei wurde aus unterschiedlichen Disziplinen vielfach und differenziert hingewiesen und auf die atlantische Modernität der Plantagengeschichte (insbesondere Kubas) aufmerksam gemacht.192 Folglich wird es darum gehen, auch diese Positionen kritisch zu hinterfragen und ihre Implikationen für eine gewinnbringende Perspektivierung der Imaginarien des Bösen vorzubereiten. Daher werden Überlegungen zum Lager als Paradigma hier mit und gegen die Topologie Agambens verwendet, welche sich aus historischer Betrachtung auf einen verflechtungshistorischen Zusammenhang bezieht. Diese Argumentation wird ferner einen Anschluss und Übergang zu postkolonialen Räumen der Sklaverei und zu den Imaginationen des Bösen in den literarischen Praktiken der hier untersuchten Texte bereitstellen.

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Most professional humanists […] are unable to make the connection between the prolonged and sordid cruelty of practices such as slavery, colonialist and racial oppression, and imperial subjection on the one hand, and the poetry, fiction, philosophy of society that engages in these practices on the other.193 192 Vgl. Ian Baucom, Specters of the Atlantic 2005, S. 173–194. Jeanette Ehrmann, »Jenseits der Linie. Ausnahmezustand Sklaverei und Thanatopolitik zwischen Aufklärung und (Post-) Kolonialismus«. In: Daniel Loick (Hg.), Der Nomos der Moderne. Die politische Philosophie Giorgio Agambens 2011, S. 128–148. Achille Mbeme, »Necropolitics«. In: Public Culture 15,1 2003, S. 11–40. Horacio Legrás, »Biopolítica. Vicisitudes de una idea«. In: Mabel Moraña und Ignacio M. Sánchez Prado (Hrsg.), Heridas abiertas. Biopolítica y representación en América Latina 2014. Mabel Moraña, »Introducción: Heridas abiertas«. In: Dies. und Ignacio M. Sánchez Prado (Hrsg.), Heridas abiertas. Biopolítica y representación en América Latina 2014. S. 7–22. 193 Edward Said, Culture and Imperialism 1993, S. xii–xiv.

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Die von Edward Said zum Ausdruck gebrachte Kritik kann wissenschaftsgeschichtlich mittlerweile als Wunsch nach Verwirklichung eines eigenen kritischen Programms verstanden werden, das es zum Zeitpunkt der Äußerung gegenüber eher traditionell ausgerichteten Philologien und Regionalstudien zu verteidigen galt, die der Autor auch für die aktive diskursive Mitwirkung an Praktiken des Kolonialismus verantwortlich machte. So wichtig und wirkungsvoll das Argument Saids in Bezug auf die kolonialen Verhältnisse ist, erscheint es im Rahmen der postkolonialen Betrachtung doch zu eindimensional, da wir es bei der Herstellung von Vorstellungen und geokulturellen Imaginarien mit der Beobachtung der Konstitution und Entstehung von imaginative geography zu tun haben. Dies gilt ebenfalls für die Betrachtung geokultureller Imaginarien aus biopolitischer Perspektive, wie sie im vorangegangenen Kapitel entwickelt wurde und an dieser Stelle zurückgeführt werden soll auf die Zusammenhänge zwischen Imaginationen des Bösen und postkolonialen Raumdynamiken. Bei der Präsentation der unterschiedlichen und zum Teil durch topologisierte Denkweisen miteinander verwobenen Ansätze, displacements194 und beweglichen Theorien195 zur Herleitung eines konzeptuellen Verständnisses zu geokulturellen Imaginarien, die dazu dienen wird, die Organisationsstruktur des Bösen als Verräumlichung beschreibbar zu machen, diente Mary Louise Pratts Begriff der Kontaktzone (contact zone) dazu, die Bewegungen und Dynamisierungen von (literarischen) postkolonialen Kontaktsituationen herauszustellen. Es ist ebenfalls Pratt zu verdanken, dass sie auf Politiken des Kontakts hingewiesen hat, die es hier erlauben, Begriffe und Bilder des Bösen aus postkolonialen Imaginarien196 zu konstituieren. Dazu Pratt: The systematization of nature coincides with the height of the slave trade, the plantation system, colonial genocide in North America and South America, slave rebellions in the Andes, the Caribbean, North America and elsewhere. […] For what were the slave trade and the plantation system if not massive experiments in social engineering and discipline, serial production, the systematization of human life, the standardizing of persons?197

Die Lateinamerikanistin Pratt vermengt an dieser Stelle eine Foucault’sche Perspektive auf Wissensregime mit dem Hinweis auf koloniale Biopolitik und 194 Vgl. Gudrun Rath, »Hybridität und Dritter Raum. Displacements postkolonialer Modelle«. In: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer und Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2010, S. 137–149. 195 Vgl. Mieke Bal, Traveling concepts in the Humanities 2002. 196 Mariano Siskind, Cosmopolitan Desires. Global Modernity and World Literature in Latin America 2014, S. 85. 197 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation 1992, S. 36. Dazu einführend auch Mabel Moraña, Heridas abiertas. Biopolítica y representación en América Latina 2014, S. 7–22.

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argumentiert dabei bereits in den 1990er Jahren mit einer »planetary consciousness,«198 also einem Begriff des Weltbezugs, der gerade in den Diskursen des spatial turn und der Weltliteratur199 verstärkt Anwendung findet. An anderer Stelle hat Ottmar Ette prominent auf die topologisch-topographische Verflechtung von Lager, Insel und Plantage hingewiesen. Ausgehend von Kuba bezieht er sich auf die Topologie der Insel und setzt sich zum Ziel, die historische und geo-imaginäre Verknüpfung von Kolonialismus, Kolonialkrieg und Lager als Paradigma der Moderne im Verständnis von Agamben aufzuzeigen. Auch an dieser Stelle lohnt es sich, seine Überlegungen ausführlicher zu zitieren: In der Zuckerrohrplantage sind alle anderen Formen des Lagers, in der Menschen zusammengepfercht, gequält und ausgebeutet werden, in ihrer transtemporalen Ungleichzeitigkeit ko-präsent […]. Das Lager ist zum modèle réduit, zur mise en abyme einer Insel geworden, deren historisch akkumulierte Lagerstrukturen sich wechselseitig überlagern. Kaum eine andere Insel […] scheint geeigneter, die transnationalen und transhistorischen Verflechtungen des Lagers besser vorzuführen, als jenes Kuba, wo nicht nur zu Beginn der spanischen Kolonialherrschaft die indianische Bevölkerung durch Zwangsarbeit und faktische Versklavung ausgelöscht, sondern auch am Ende der Kolonialzeit – noch vor Errichtung der berüchtigten concentration camps der Engländer in Südafrika – die ersten Konzentrationslager (campos de concentración) eingerichtet wurden.200

Die hier herausgestellten Parallelen beider Autoren bezüglich ihrer Hinweise auf Sklavereien201 wie auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Verfahren, Räume mit geokulturellen Imaginarien biopolitisch zu besetzen, sind aufgrund ihres globalhistorischen Zusammenhangs relevant. Ette macht auch auf die prägende und konstitutive Dimension des kolonialen Kontakts (in den Amerikas) aufmerksam, ist dabei jedoch dem paradigmatischen Diktum von Agamben verpflichtet. Zwar wird das Lager bereits pluralisiert gedacht; die Verflechtungen von Topographien und Topologien des Lagers sowie ihre Dynamisierungen, die mit den bisherigen Erkenntnissen zur Genealogie von Biopolitik und der Entwicklung der Imagination des Bösen als Kategorie des Raumes zusammenfallen, müssen dabei jedoch noch markiert werden.

198 Ebd., S. 29. 199 Gayatri Spivak, Death of a Discipline 2003, S. 72. 200 Ottmar Ette, »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«. In: Marianne Braig (Hrsg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen: Lateinamerika im globalen Kontext 2005, S. 135–180, hier S. 168f. 201 Michael Zeuske, Handbuch Sklaverei 2013.

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Wenn der Blick von der Zuckerrohrplantage, die keinen ingenio tipo,202 d. h. sui generis keinen paradigmatischen Raum darstellt, den man sich weder als geschlossen vorzustellen noch als topographisch konstant vorzustellen hat, auf den Plantagenraum als eine offene und dynamische Struktur gerichtet wird, dann lässt sich mit Hector Legrás zusammenfassen: Ni el campo de concentración ni el ingenio son ejemplares de la biopolítica aunque tal vez sean, como se suele decir, su verdad. Al realizarse plenamente la biopolítica se niega a sí misma transformándose en técnica, regulación y objectivación. Para que exista biopolítica, la esfera biopolítica misma debe entrar en contacto o estar contaminado con otra esfera […].203

Da Legrás dies als Kritik an der Möglichkeit anführt, Sklaverei – und er hat insbesondere den atlantischen Sklavenhandel im Blick – als Biopolitik darzustellen, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass diese Kritik zu kurz greift. Sklaverei wird zur Biopolitik nicht nur topographisch im LagerRaum, den man sich im Fall des ingenio in der Tat nicht als modellartig vorzustellen hat; vielmehr wird sie zu einer Praxis durch die sie legitimierenden und legitimierten rassistischen Diskurse und das slaving, das sich mit Michael Zeuske als »Zugriff auf Körper, Kapital und Kapitalschöpfung« über »Gewalt, Repression und Terror« als Mittel »zur Erzwingung von Disziplin, Arbeit und Dienstleistungen« definieren lässt.204 Schließlich sind auch das slaving oder Sklavereien, 202 Die mittlerweile als klassisch rezipierte (postmoderne) Version der Karibik als Geschichte einer »máquina azucarera« (»plantation machine« in der engl. Übersetzung) von Antonio Benítez Rojo müsste auf die eigene Reproduktion eines ingenio tipo hin befragt werden. Siehe ders., The Repeating Island. The Caribbean and the Postmodern Perspective 1996. 203 Horacio Legrás, »Biopolítica. Vicisitudes de una idea«, S. 31–46. Hier S. 37f. Siehe dazu auch Ian Baucom, Specters of the Atlantic 2005, S. 173–194. Baucom setzt sich explizit mit der Auslassung von Sklavereien in Agambens Werken auseinander und diskutiert besonders Fragen von Archiv und Zeugenschaft im Zusammenhang mit der Räumlichkeit und Übertragbarkeit von Agambens Kritik auf den transatlantischen Skalvenhandel: »But if the camp […] exemplifies the planetary order it exhibits and steps out of, then for Agamben, the camp implies the planetary not as the class to which it belongs but as an additional term in a common set. The planetary, that is, belongs to this set but does not define it; it is a term better understood in parallel with the camp as the member of a class that Agamben suggests is now becoming the global rule, and that class, that set, is ›the state of exception.‹ This, he argues, is what the camp exemplifies, and this is what ›trans-Atlantic slavery may also be understood to instance or front.‹« Ebd., S. 185. 204 Michael Zeuske, Handbuch Sklaverei 2013, S. 93. »Das […] Problem ist eher eines der Legitimität von privatem Eigentum in heutigen ›westlichen‹ Gesellschaften. Sklaverei wird vom Begriff der ›Freiheit‹ her definiert und als Rechtsverhältnis auf der Basis von privatem Eigentum. Sklaverei ist aber nicht nur ein schriftlich definiertes und expressis verbis ›Sklaverei‹ genanntes Rechtsverhältnis, wie in Sklavereien in der griechischen und römischen Antike und in mediterranen sowie atlantisch-amerikanischen Gesellschaften in der Tradition des ›römischen‹ Rechts. Das essentielle Merkmal aller Sklavereien ist Gewalt gegen Köper avant la lettre.« Ebd., S. 81. Zeuske spricht an anderer Stelle in diesem Zusammenhang auch von »Biokapital«. Ebd., S. 27–96.

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wie sie von Zeuske bezeichnet und untersucht werden, besser als offene Netzwerke zu verstehen, die sich in Verflechtungsräumen bilden und bewegen, denn als geschlossene Systeme. Damit haben sie in der Relationalität geokultureller Imaginarien strukturelle Ähnlichkeiten mit Phänomenen des Bösen, die einhergehen mit wechselnden Gewalt- und Machtregimen und deren offener Logik.205 In den Worten des Historikers: »Slaving und Sklavereien waren (und sind) […] Basisprozesse der Globalgeschichte. Sklavereien sind ein politisches, soziales, wirtschaftliches und moralisches Problem der Geschichte und der realen heutigen Globalisierung in welthistorischer Tiefendimension.«206 Nun lässt sich slaving dazu in Dimensionen des scape-Modells von Arjun Appadurai übersetzen. Dadurch erscheinen Sklavereien in einer kulturellen, ethnischen, politischen, ökonomischen, rechtlichen und finanziellen mobilen Logik, welche sich in einem räumlichen Modell dieser scapes bewegt und selbst innerhalb dieser Logik bewegt wird. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit der Fokus auf die atlantische Sklaverei im Zusammenhang mit der Plantagensklaverei, der sogenannten second slavery, im Vordergrund der interamerikanischen Perspektivierung steht, so tragen scapes allgemein nicht nur dieser Perspektive Rechnung, sondern ließen sich theoretisch auch auf weitere historische slavings übertragen, die in welthistorischen Zusammenhängen stehen. Da an dieser Stelle der den mediascapes zuzurechnenden Literatur, Epple und Kramer folgend, eine Beobachterposition zukommt, ist es möglich, nicht nur die Vorstellung der Sklaverei, sondern auch die Herstellung der Vorstellung von Sklavereien zu betrachten. Mit der Übersetzung des scape-Modells würde auch Agambens Paradigma des Lagers auf Plantagenräume und Verfahren der sogenannten postslavery imagination207 gerichtet, grundlegend kritisch widerlegt bzw. erweitert. Da sowohl das Lager als auch die Sklaverei und im Besonderen (obschon kritisch betrachtet) die Plantagensklavereien der second slavery mit der Herausbildung der nach-aufklärerischen Moralphilosophie zeitlich und räumlich als translokale Moderne zusammenfallen, liegt es nahe, von einer Verflechtungsgeschichte zu sprechen.208 205 Damit ist auch eine Kritik daran befördert, automatisch das Böse mit Totalitarismus gleichzusetzen und damit totalitäre Systeme direkt als Repräsentation des Bösen zu verstehen. Dabei wird ein System-Begriff auf Begriffe und Bilder des Bösen mit einer sehr heterogenen Geschichte übertragen, die eine Vielheit von Perspektiven einschließt. 206 Michael Zeuske, Handbuch Sklaverei 2013, S. 97–128, hier S. 97. 207 Mit dem Begriff der postslavery imagination beziehe ich mich insbesondere auf zwei Arbeiten aus dem Bereich interamerikanischer Forschungen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen literarischer Imagination und der Geschichte der Sklaverei, vordergründig in thematischer und/oder topologischer Perspektive, auf Plantagen in einer Nord-Süd-Perspektive (USA-Lateinamerika) auseinandergesetzt haben. Siehe Elizabeth Christine Russ, The Plantation in Postslavery Imagination 2009. Sowie George B. Handley, Postslavery Literatures in the Americas 2000. 208 Siehe hierzu insbes. Susan Buck Morss, Hegel and Haiti 2009, S. 200.

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Interamerikanische Perspektiven

Die Raumlogik der einschließenden Ausschließung bzw. ausschließenden Einschließung ist somit nicht mehr als paradox zu betrachten, sondern als dynamische und offene Struktur der Organisation von Raum, die im Fall der slavings verflochten ist mit Formen des Rassismus, die als geokulturelles Imaginäres an der Raummatrix der Plantagen als Lager mitwirken. Dies ist an einem weiteren Konzept der transatlantischen Sklaverei zu beobachten, das Orlando Patterson in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Patterson spricht vom social death der Sklav:innen.209 Den Lager- und Souveränitätsdiskussionen um und nach Agamben vorausgehend, kann man dieses Modell des Imaginären analog zum homo sacer betrachten, wie es vom italienischen Philosophen beschrieben wurde, und es räumlich der Logik des einschließenden Ausschlusses bzw. ausschließenden Einschlusses gleichsetzen. Social death meint, dass Sklav:innen zwischen dem Herausgerissensein aus einer Gemeinschaft (der Herkunft) und der (unterworfenen) Mitgliedschaft in der Gruppe der Herren als untote Tote oszillieren. Dabei kann der soziale Tod ebenfalls als Kippfigur oder Figur des Dritten verstanden werden, da die Betroffenen ebenfalls in die neue Gemeinschaft der Sklav:innen überführt wurden und zudem »[u]nter dem Einfluss afrikanischer Religions- und Ritualformen vor allem die Einbeziehung der vielen Toten in der Welt der (Über-)Lebenden« zu berücksichtigen ist. »Insofern waren Sklavinnen und Sklaven […] nie soziale Tote«, sondern »extrem kreative Menschen […].«210 Konkret aufgegriffen wurde Pattersons Konzept des social death in Verbindung mit Agambens biopolitischem Paradigma von Achille Mbembe, der argumentiert, dass jeglicher historische Bericht zu modernem Terror Sklaverei zu adressieren habe, da diese als eines der ersten biopolitischen Experimentierfelder zu betrachten sei. Diese Beobachtung ist bereits in der Argumentation von Mary Louise Pratt und Ottmar Ette gemacht worden, und auch Achille Mbembes Ansicht folgt zunächst ganz dem Diktum Agambens und besonders Carl Schmitts zu Kolonien als »war without end«.211 So lautete Agambens Argument, dass das Lager zum Nomos der Moderne und Paradigma der Biopolitik werde, weil die Produktion des Lebens allein der Tötbarkeit des lebensunwerten Lebens unterstehe.212 Damit beschreibt Mbembe 209 Orlando Patterson, Slavery and Social Death 1982, insbes. S. 1–16 u. 35–76. 210 Michael Zeuske, Handbuch Sklaverei 2013, S. 58. 211 »[I]n modern philosophical thought and European political practice and imaginary, the colony represents the site where sovereginity consists fundamentally in the exercise of a power outside the law (ab legibus solutus) and where ›peace‹ is more likely to take on the face of a war without end.« Achille Mbembe, »Necropolitics« 2003, S. 11–40, hier S. 23. Zur Übereinstimmung mit Carl Schmitt siehe Anmerkung 16. 212 Carl Schmitt, neben Arendt, Foucault und Derrida ein weiterer Ideengeber Agambens, geht so weit, die Neue Welt als frühen westlichen Raum der Ausnahme zu bezeichnen, der dazu, wie das Konzentrationslager bei Agamben, exemplarisch im Sinne von paradigmatisch

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Formen der Biopolitik, die er um eine koloniale Perspektive erweitert und necropolitics nennt, zunächst auch in Verbindung mit Franz Fanons Lektüre der Kolonie als räumliche manichäistische Form von Besetzung und Besatzung:213 Colonial occupation itself was a matter of seizing, delimiting, and asserting control over a physical geographical area – of writing on the ground a new set of social and spatial relations; […] and, finally, the manufacturing of a large reservoir of cultural imaginaries. These imaginaries gave meaning to the enactment of differential rights to differing categories of people for different purposes within the same space.214

Damit ist jedoch bei Mbembe nicht nur der Übergang räumlicher Praktiken und Imaginarien von biopolitischen zu nekropolitischen, sondern ebenfalls zu disziplinarischen Zusammenhängen gemacht, die eher Foucaults Idee der Biomacht nahestehen.215 Beide Ansätze der Biopolitik, vertreten von Michel Foucault und Giorgio Agamben, bieten hilfreiche Topologien an, die es ermöglichen, räumlich Imaginäres und Böses als relationales Gefüge zu beschreiben, und offerieren dazu Perspektiven, mit denen sowohl die Geschichte als Imaginationsprozess als auch die Geschichte dieser Imaginationsprozesse beobachtet werden können. Jedoch reicht weder Agambens paradigmatische Lesart noch Foucaults Ansatz der Diskontinuitäten bzw. der historischen Biopolitik aus, um die Formen der postkolonialen Imaginationen des Bösen in ihrer Vielfalt beschreiben zu können – und das nicht nur, weil beide eurozentrische Perspektiven einnehmen. Es wird also darum gehen, die Imaginarien der postslavery entanglements als topologische, topographische und dynamisierte Vorstellung zu beschreiben, die narrativ vermittelt wird. Die Plantage, der Raum des Lagers, allgemein Räume des (post)kolonialen Terrors werden dahingehend literarisch, poietisch zu (bio)politischen Tropen, mittels derer ineinandergreifende Geschichten der Amerikas erzählt und wieder erzählt werden. Im transnationalen Kontext der Werke sowie ihres transnationalen Vergleichs der analytischen Zusammenführung wird der wörtliche physische Raum entrückt aus nationalen, regionalen und binären Schemata und Konzepten von Identität, was wiederum eine Neuverortung von erfasst wird. Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum 1974, S. 67f. 213 Franz Fanon, The Wretched of the Earth 2004 [1963], S. 30–40. 214 Achille Mbembe, »Necropolitics« 2003, S. 25f. 215 »Biomacht ist keine Form von politischer Souveränität, die als solche letztlich immer erkennbar und ansprechbar bleibt, sondern deren Negation; Biomacht ist die Transformation von politischer Macht in ein Bündel technischer, medizinischer und regulatorischer Verfahren, die sich ihre eigenen politischen Spielräume schaffen, um Leben zu produzieren und zu ›optimieren‹.« So Phillip Sarrasins Zusammenfassung der biopolitischen Perspektive von Foucault. Siehe ders., »Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus«. In: Martin Stingerlin (Hg.), Biopolitik und Rassismus 2003, S. 55–79. Hier: S. 61.

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Interamerikanische Perspektiven

postkolonialen Imaginarien ermöglicht.216 Wenn in den Betrachtungen der literarischen Imagination des Bösen auf Sklaverei rekurriert wird, so geschieht dies nicht allein durch einen thematischen Bezug auf unterschiedliche Formen der Sklaverei, sondern auf verflechtungsgeschichtliche – und damit räumliche – Darstellungsformen der Dehumanisierung. Diese Darstellungen bringen die erzählerische Auseinandersetzung durch Fiktionalisierungen hervor, wobei sie Imaginarien entspringen, die ihrerseits in kolonialen Kontakten entstanden sind und fortlaufend geformt wurden. Um der größtenteils kulturwissenschaftlich hergeleiteten Räumlichkeit der Imaginarien des Bösen biopolitischer Lesart durch die erzählerische Vermittlung in unterschiedlichen literarischen Fiktionalisierungen nachzugehen, werden im folgenden Kapitel Kategorien erzähltheoretischer Relevanz erörtert. Über die Differenzierung von Narrativ und Narration sollen die Imaginarien des Bösen für eine erzähltheoretische Untersuchung sowohl mit den Feldern der Ethik als auch mit den in erzähltheoretischer Perspektive wesentlichen Kategorien zusammengebracht werden. Diese Zusammenführung wird es erlauben, die Erzählungen des Korpus auf ihre Vermittlung und Beobachtung der Imaginarien des Bösen hin zu beobachten.

216 Vgl. Elizabeth Christine Russ, The Plantation in the Postslavery Imagination 2009, S. 3.

4.

Narrationen und Narrative des Bösen

Die Differenzierung und das gleichzeitig unabdingbare Ineinandergreifen von Narration und Narrativ vertieft ganz allgemein ein Verständnis für das Wechselverhältnis von Kultur(en) und Geschichte(n) bzw. Erzählungen, ohne dabei gleich von der anthropologischen Konstante des Erzählens auszugehen und diese absolut zu setzen.217 Da in dieser Studie mehrere Geschichten miteinander verflochten werden und somit Narrative (des Bösen) aufzuzeigen im Stande sind, bilden sie zugleich auch ein Narrativ des Bösen mit heraus. Ein Narrativ bzw. eine Vielzahl von Narrativen ist gleichzeitig innerhalb der Geschichten selbst angelegt. Über dieses Verständnis der Relation von Narration und Narrativ soll die Präsentation beider Begriffe eine Terminologie bereitstellen, die eine Vermittlung zwischen der narrativistisch orientierten Kulturwissenschaft und der kulturwissenschaftlichen Narratologie ermöglicht.218 Stellvertretend für diese Varianten 217 Kritik an der Auffassung, Erzählen sei als anthropologische Konstante zu betrachten, wäre demnach, dass sie selbst Bestandteil einer Kulturtheorie ist, die aber bereits interdisziplinär aufgefächert und differenziert wurde, da Erzählen nicht nur sprachlich gebunden ist, sondern transmedial und transgenerisch erfolgt. Siehe hierzu Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung 2012, S. 9–25. Der Versuch, die komplementären Vorstellungen des homo narrans und homo ludens in einer Kulturtheorie zu bündeln, erscheint dann allerdings wieder fragwürdig, impliziert er doch eine anthropologische Konstante, die der »Universalität des Erzählens« allein als sprachliches Vermögen Rechnung trägt. Siehe dazu auch Erhard Schüttpelz, der aber die universalhistorische Fragestellung, aus der heraus sich die universale Frage ergibt, gleich mitreflektiert und eine transmediale GlobalGeschichte skizziert. Erhard Schüttpelz, »Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I«. In: Özkan Ezli et al. (Hrsg.), Wider den Kulturenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur 2009, S. 339–360. Zur Funktion des Erzählens im Zusammenhang mit dem Bösen siehe auch Knut Hickethier. Dieser sieht den hermeneutischen Sinn in erzählerischen Konstruktionen des Bösen durch ihre Vermittlung von Wahrnehmung hergestellt. Siehe ders., »Das narrative Böse. Sinn und Funktionen medialer Konstruktionen des Bösen«. In: Werner Faulstich (Hg.), Das Böse heute 2008, S. 227–243. Die Bestimmung des Bösen aus der Funktion der Narration heraus erklärt jedoch allgemein noch nicht die Herstellung der Wahrnehmung unabhängig vom Medium bzw. medienspezifisch. 218 Siehe dazu Ansgar Nünning, »Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine Kulturwissenschaftliche Narratologie«. In: Alexander Strohmaier

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Narrationen und Narrative des Bösen

von kulturwissenschaftlicher Literaturwissenschaft, auf die man sich zur Vermittlung der Möglichkeiten die Imaginarien des Bösen – die sowohl primär räumlich als auch narrativ vermittelt werden – beziehen kann, bieten sich zunächst die Ansätze von Ansgar Nünning und Albrecht Koschorke an. Beide Autoren beziehen sich selbst auf paradigmatische Modelle sowohl der Narratologie als auch der Erforschung narrativer Modi der Vermittlung von Kultur. Mit Koschorkes Ansatz einer »allgemeinen Erzähltheorie«, die eher dem Typus einer narratologisch informierten Kulturtheorie entspricht, ist es möglich, unterschiedliche Anknüpfungspunkte zur erzählerischen und medialen Komponente beispielsweise der »handlungslogischen Voraussetzung« der Sündenfallgeschichte als (Ur-)Narrativ des Bösen hervorzuheben, welches neben dem Ursprung des Bösen auch nach den strukturellen und funktionalen Möglichkeiten der mit diesem Narrativ hervorgebrachten Möglichkeiten fragt.219 Zudem kann, um die andere Seite der kulturgeschichtlichen und wissenschaftlichen Einbettung der Narratologie zu beleuchten, ein weiterer Anschluss an die bisherigen Zusammenhänge des Bösen in den Begriffen der Mimesis220 bzw. Simulation221 und poiesis gefunden werden, auf die sich Nünning in seiner Nutzung des Mimesis3-Modells von Ricœur bezieht.222 Die bisher gemachten Aussagen und Zusammenführungen der Beobachtungen zu Imaginationen des Bösen, geokulturellen Imaginarien und Vorstellungen von Raum führen zu einem Verständnis im Sinne einer Verflechtung, das es erlaubt, die Themen der vorliegenden Studie und deren erzählerische Vermittlung auf unterschiedlichen Ebenen zu beschreiben. Der Erzählung – der Situationsbildung, dem Sujet, der Ereignishaftigkeit – kommt wie der Instanz des Erzählers Aufmerksamkeit zu, weil diese Instanz meist als Beobachter der Verräumlichungen eingebunden ist und damit selbst Teil der Verflechtung(sgeschichte) wird. Einerseits, so lässt sich mit Eva Blome ergänzen, »[greifen] [k]ulturelle Konstruktionen und soziales Leben, Literatur und Geschichte […] auf Grund der narrativen Strukturierungen und der ästhetischen Wirkung der literarischen Texte ineinander und treten damit in ein Wechselverhältnis.«223 Andererseits

219 220 221 222 223

(Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften 2013, S. 15–53. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie 2011, S. 371–376. Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 7–42. Bernhard Teuber, »Nachahmung des Bösen bei Baudelaire«. In: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation 1998, S. 603–630. Ansgar Nünning, »Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine Kulturwissenschaftliche Narratologie« 2013, S. 15–53. Hier: S. 34–44. Eva Blome, Reinheit und Vermischung. Literarisch-Kulturelle Entwürfe von ›Rasse‹ und Sexualität (1900–1930) 2011, S. 29.

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»eröffnen die literarischen Texte aber wiederum gerade durch ihren narrativen Charakter die Möglichkeit, Auskunft über die Art der Konstruktionen nicht nur der erzählten Wirklichkeit, sondern eben auch über die Herstellungsbedingungen der sozio-politischen Realität zu geben.«224 Dieses beiderseitige Wechselverhältnis von literarischen und nicht literarischen Räumen zeigt in dieser Studie die Imagination (des Bösen) anhand vielschichtiger Stratifikationen der Bedeutungen des Bösen auf. Dabei wird weiterhin die Aufteilung in Narration und Narrative hilfreich sein, die im folgenden Teil näher erläutert wird. Diese Differenzierung soll vermitteln, wie es Narrationen »als Bühne der Politiken des Imaginären bzw. des Imaginären der politischen Herrschaft«225 möglich ist, Böses zu inszenieren und in vielfältigen Formen Gestaltungsmöglichkeiten zu geben. Es wird somit darum gehen, was Hausmann und Wehr im Kontext der Erzählmacht als »jene organisierte Polyphonie« beschrieben haben, die »literarische Texte gemeinhin orchestriert und die im hiesigen Zusammenhang aus der Interaktion sprachlich verfasster Erzählmuster, weltbildender Vorstellungshorizonte und damit einhergehender (Mikro-)Politiken besteht.«226 Die Idee der Polyphonie, die seit Bachtin gemeinhin im Roman den privilegierten Ort gefunden zu haben scheint,227 »[folgt] einer relationalen Vorstellung von Macht, in der sich die Vielfalt nicht als plurale Ordnung einheitlicher Kategorien wie Akteure und Strukturen, sondern als ein Bewegungsprinzip äußert, das sich ähnlich […] im Nexus von Einheit und Differenz verortet.«228 Dieses Prinzip lässt sich narratologisch exemplarisch an den sogenannten Grundkategorien, wie Stimme, Figur, Perspektive, und damit jenen Kategorien der Situationsbildung von Narrationen nachvollziehen. Als Narrativ lässt sich Koschorke zufolge aus dieser polyphonen Ordnung eine basale Bestimmung ableiten, die »ein wesentliches Element der Organisation von Wissensordnungen«229 bestimmt. Diese gilt es aber auch als transmediale Ordnung zu berücksichtigen, mittels welcher die Formen der Organisation kultureller Erfahrung konstituiert, gespeichert, vermittelt und weitergegeben werden. Wie in den Ausführungen zu geokulturellen Imaginarien (siehe Kapitel 2.1.) betont worden ist, gilt jedoch auch hier, dass Narrative nicht nur als einheitsstiftende, sondern gleichsam disjunktive Elemente wahrgenommen werden 224 Ebd. 225 Kurt Hahn/Matthias Hausmann/Christian Wehr, »Vorwort: Erzählen macht Macht«. In: Ders. (Hrsg.), Erzählmacht. Narrative Politiken des Imaginären 2013, S. 7–20. Hier: S. 8f. 226 Ebd., S. 9. 227 Michail Bachtin, Ästhetik des Wortes 1979. 228 Frank Gadinger/Sebastian Jarzebski/Taylan Yildiz, »Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie«. In: Dies., Politische Narrative. Konzepte – Analysen – Forschungspraxis 2014, S. 3–39. Hier: S. 12f. 229 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung 2012, S. 329.

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Narrationen und Narrative des Bösen

sollten. Erzählen wird damit verstanden »als dynamisierender Prozess von sozialen und kulturellen Ordnungen sowie der Transformation und Selbsttransformation dieser Ordnungen.«230 Zurückbezogen auf die Narration ist diese somit räumlich zu verstehen als ein gleichsam mehrstöckiges Gebilde und spielt sich auf einer Vielzahl von Ebenen gleichzeitig ab. Als sprachliches Artefakt lässt sie sich auf ihre basalen linguistischkognitiven Leistungen hin befragen. Sie schreibt Symbole aus und löst Metaphern aus ihrer Erstarrung, indem sie die in ihnen schlummernden Geschichten erweckt. Sie verknüpft Ereignisse und Aktionen zu Episoden, den Untereinheiten der Erzählsequenz, und lässt durch deren Kombination Handlungsmuster entstehen, die ihrerseits auf die Weltorientierung und das Selbstverständnis der Akteure zurückwirken.231

Bei Mahler lässt sich in seiner Re-Lektüre von Foucaults Die Ordnung der Dinge eine auch hier relevante Parallele von der Erzählmacht zu Bohrers Imagination des Bösen finden, die dann als Ästhetik des Bösen ihre Form erhält. Bohrer hatte, wie bereits dargelegt, dem Bösen in der Literatur als genitivus subiectivus die weitaus größere Aufmerksamkeit gewidmet und dies mit dem angenommenen Autonomiestatus der Literatur begründet. Mahler unterscheidet aber, im Gegensatz zu Bohrer, explizit nicht zwischen Autonomie und dem Scheitern der Autonomie bzw. Nicht-Autonomie,232 wobei er im Rückgriff auf Foucaults Darlegungen die Opposition von transitiv und intransitiv herstellt. Er argumentiert ähnlich in Bezug auf »Akte narrativer Erzählermächtigung«, die durch die Erzählmacht als »Macht des Erzählens« im Sinne eines ebenfalls genitivus subiectivus zwar nicht autonom, aber intransitiv funktionieren.233 Da die vorliegende Studie nicht nur von einer erzählerischen Vermittlung des Bösen als genitivus subiectivus und obiectivus der Literatur ausgeht, sondern gleichzeitig an der narratologischen, d. h. pragmatischen Ebene der Vermittlung der Verbindungen beider Ebenen – in Modi der Herstellung der Vorstellung234 – interessiert ist, erscheint Mahlers Parallele zu der epistemologischen Überschneidung zur Imagination des Bösen im Allgemeinen und in der narrativen Überkreuzung in Bezug auf die Darstellung der Imaginationen des Bösen im 230 Vgl. ebd., S. 22–25. 231 Ebd., S. 20. 232 Andreas Mahler, »Akte narrativer Selbstermächtigung. Über transitive und intransitive Erzählmacht«. In: Kurt Hahn, Matthias Hausmann, Christian Wehr (Hrsg.), Erzählmacht. Narrative Politiken des Imaginären 2013, S. 25. 233 Ebd., S. 24–30. 234 In Jörg Dünnes Terminologie übersetzt und angeschlossen an die kartographische Herstellung von Vorstellungen, ist Narration als Eigenschaft zu verstehen, der zufolge »Teilräume von Welten mit ihren sujetträchtigen Grenzen zu dynamisieren« [und] Welten aus dem Schriftmedium heraus als Ganzes zu entwerfen.« Vgl. Jörg Dünne, »Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topographie: Wohin geht die Wende zum Raum?« 2009, S. 21.

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Besonderen als Bestätigung der Notwendigkeit, auf beide Weisen der Welterzeugung kritisch einzugehen.235 Weil die basale Differenz zwischen genitivus obiectivus und genitivus subiectivus bei der Imagination des Bösen auch im interamerikanischen Zugang und auch unter Berücksichtigung der postkolonialen Konstituierung des Imaginären in den Amerikas nicht als entscheidende Opposition, wohl aber als Problematisierung von Relationalität gelten kann, die in der historischen Verbindung von Narrationen und Narrativen begründet liegt, deutet Andreas Mahlers narratologisch argumentierender Ansatz236 von Erzählmacht auf die Verbindungslinien zwischen der Imagination, dem Bösen und dem Raum hin. Dafür muss nochmals auf die Räumlichkeit des Bösen im Zusammenhang mit den geokulturellen Imaginarien eingegangen werden. Denn wie die räumliche Kategorie der Topologie anhand der Terminologie zur Beschreibung der literarischen Handlung nach Juri Lotman als »Vorordnung des Topologischen« bezeichnet werden kann, das die verräumlichte Besetzung durch das Semantische eröffnet und das Topographische dazu arbiträr besetzt, lässt sich dies auf eine narratologische Ebene übertragen. Dazu kann ebenfalls Mahlers Ansatz herangezogen und mit dem vorherigen verknüpft werden, womit die Topologie als erzählte Geschichte und die Topographie als bloße Geschichte berücksichtigt werden. Raum ist damit als »Paradox des Fiktionalen« zu beschreiben, weil er als »Spiel der Illusion«237 real wird. Im Anschluss an Nünnings »Achsen-Modell«,238 welches er auf Grundlage der Ausarbeitung des Mimesis3-Verständnisses der literarischen und narrativen Fiktion nach Ricœur und unter Berücksichtigung der Iser’schen Triade (Reales, Fiktives, das Imaginäre) ausarbeitet, geht diese Studie von den genannten Achsen als Ebenen der narrativen Verflechtung aus. Diese bilden durch »Selektion« (Figuration), »Kombination« (Konfiguration/ Defiguration) und »diskursive Perspektivierung« (Rekonfiguration, Iser nennt es die »Selbstanzeige«) kulturelle Welten in Form von Ereignissen, Geschichten, Bewegungen etc. Die ästhetische Konstitution (des Bösen), die Sabine Friedrich für die Bestimmung der Imaginationen gewählt hat, lässt sich, so der Ansatz dieser Studie, 235 Angemerkt sei deshalb an dieser Stelle Werbergers Reflektion der konstatierten Zäsur »um 1800«. Diese wird bekanntlich nicht nur von Bohrer postuliert, sondern von Mahlers Ausführungen in Bezug auf Foucault gleich mitgedacht. Siehe Annette Werberger, »Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte« 2012, S. 112ff. 236 Andreas Mahler bezieht sich auf Gérard Genette, Narrative Discourse. Siehe ders., »Akte narrativer Selbstermächtigung«. In: Kurt Hahn et al. (Hrsg.), ErzählMacht. Narrative Politiken des Imaginären 2013, S. 21–43. Hier: S. 29f. 237 Ebd., S. 30. 238 Vgl. Ansgar Nünning, »Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine Kulturwissenschaftliche Narratologie« 2013, S. 34ff. Sowie Ricœur, Time and Narrative I, S. 56ff.

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allgemein als Mimesis der literarischen Fiktion beschreiben. Doch Mimesis kann darüber hinaus als Form der Simulation verstanden werden, wie es Teuber mit Bezug auf Deleuze und Guattari für Baudelaire exemplarisch gefasst hat.239 Diese Simulation wird demnach an dieser Stelle zunächst narratologisch als Verflechtung der narrativen Ebenen nach Mimesis3 begründet. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Berücksichtigung der dynamisierten Vielfalt, die im postkolonialen Verständnis der interamerikanischen Literaturen zu betonen ist. Narratologisch ist daher auszugehen von einer Vielzahl von Transgressionsbewegungen, die die Texte zwischen Wissensordnungen, transgenerisch, transmedial, mit unterschiedlichen Strategien, disjunktiv und sich selbst im Erzählprozess als verflochten darstellend inszenieren. Wenn davon auszugehen ist, dass literarische Texte imaginäre Ordnungen zweiten Grades sind und somit »imaginären Ordnungen ersten Grades aufsitzen und [diese] zitieren, wobei sie sie in besondere Konfigurationen überführen, ihren Spielraum erproben, blinde Flecken und Widersprüche pointieren und auf sie zurückwirken«,240 dann ließe sich im Anschluss an Albrecht Koschorke hinzufügen, dass sie als Figuren oder Figurationen des Dritten agieren und als Effekte des Dritten »nicht mehr bloß zwischen den Seiten einer Unterscheidung [zwischen Realem und Fiktivem] oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem«241 machen können. Mit anderen Worten, und damit zurückgeführt zur Triade von Sabine Friedrich, literarische Texte figurieren, dekonfigurieren und refigurieren das mimetische, simulatorische und imaginäre Verhältnis zwischen dem Realen (als Bezugsfeld) und dem Fiktiven. Diese Herleitung dient als Bestimmungsversuch der Verräumlichungen des Bösen, die in der weiteren Klärung und Anwendung dieser Studie als Anschluss an Phänomene des Bösen als Figurationen des Dritten konkretisiert werden, die die bisherigen Aussagen zum Imaginären und der Räumlichkeit der Literatur verbinden und zu methodischen (d. h. analytischen, operativen) Zugängen führen. Als Bestandteil der Frage nach einer Bestimmung der Imaginationen des Bösen sowie ihrer Herstellung wird im Folgenden auf Elemente von Erzähltheorien und -forschungen verwiesen, sind doch alle Werke des hier vorliegenden Korpus primär erzählerisch, d. h. narrativ vermittelt und grundlegend an die Frage der Narration – also der Erzählung etwa im Sinne Genettes als histoire, récit und narration – gekoppelt. Die dafür in Betracht kommenden Elemente der Narratologie sollen hier kurz vorgestellt und dann exemplarisch erprobt werden 239 Siehe Bernhard Teuber, »Nachahmung des Bösen bei Baudelaire«. In: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation 1998, S. 603–609. 240 Jan Dirk Müller, Höfische Kompromisse: acht Kapitel zur höfischen Epik 2007, S. 12. 241 Vgl. Albrecht Koschorke, »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften« 2010, S. 11.

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und zur Anwendung gelangen (siehe Teil II, Kapitel 5.–7.). Dabei sind folgende Fragen zentral für die Untersuchung der Imaginationen des Bösen im bisher vorgestellten Forschungskontext: Wie ergibt sich aus der mittlerweile klassischen Gliederung narratologischer Untersuchungen in das Was und das Wie des Erzählens – unabhängig davon, ob es kategorisch bis graduell als fiktiv oder faktual gekennzeichnet ist – ein Bereich der Ereignishaftigkeit, der das Verhältnis von Ästhetik und Ethik darzustellen vermag? Und wie wirkt die narrative Vermittlung durch Stimme, Perspektive und Figuren(konstellation) auf diese Verflechtung bzw. wie wird sie durch die drei genannten Grundbegriffe242 konstituiert? Im Anschluss an die Konstituierung räumlicher Orientierung im Sinne des Erzählens im Raum und von Raumerzählung, wie sie in Anlehnung an Dünnes dynamische Unterscheidung zwischen Geschichten im Raum und Raumgeschichten getroffen wurde, lässt sich nach den raumbildenden Elementen, Schemata, und generalisierenden Erzähltypen fragen.243 Übergeordnet bedeutet dies, das Medium der Fiktion, das dem Imaginären Ausdruck verleiht, auf die mediale und erzählerische Vermittlung hin zu befragen; alle Ausdrucksweisen des erzählerischen/erzählten Textes bedienen sich unterschiedlichster Mittel. Der Fokus der folgenden Ausführungen zur Raumerzählung liegt auf den Mitteln, die die Räumlichkeit der Diegese betreffen.244 242 Matías Martínez (Hrsg.), Handbuch Erzählliteratur 2011, S. 1–12. 243 Dazu Albrecht Koschorke: »Von taxonomischen oder seriellen Ordnungen unterscheidet sich das Schema durch die doppelte Verknüpfung seiner Elemente. Taxonomien organisieren sich allein über den vertikalen Bezug der ansonsten unverbundenen Einzelelemente auf den übergeordneten Begriff, Serien kennen nur die horizontale Abfolge. Im Schema dagegen beziehen sich die Elemente einerseits in einer Sequenz aufeinander, andererseits stehen sie im Verhältnis von Teil und ganzem zur Einheit der schematischen Struktur. Ein Plotschema etwa besteht als eine Folge von Ereignissen, die mit einer gewissen Konsequenz auseinander hervorgehen und zugleich in ihrer Gesamtheit eine episodische Einheit bilden, die mithin sowohl syntagmatisch als paradigmatisch verstrebt sind.« Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung 2012, S. 30. 244 Als einleitende Übersicht, aber auch als grundlegende Systematisierung unter dem Titel »Raumdarstellung und Grenzgängertum« aus postkolonialer Perspektive siehe Hanne Birk u. Birgit Neumann, »Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie«. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hgg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie 2002, S. 115–152. Hier: S. 135–139. »Besonders eng ist der Zusammenhang zwischen postkolonialer Literaturtheorie und erzähltheoretischen Überlegungen im Fall jener Kategorien, die zur Analyse der Raumdarstellung dienen, denn die literarische Darstellung von Räumen ist in vielen Fällen semantisiert. Untersuchungsansätze bieten besonders die Selektion, Rationierung und Struktur des erzählten Raumes sowie räumliche Oppositionen oder Bezüge. Für die erzählerische Vermittlung von Identität und Alterität sind im postkolonialen Kontext v. v. Grenzkonstrukte bzw. das Phänomen der Grenzüberschreitung relevant, da diese sowohl in sozialer, politischer wie philosophischer Hinsicht semantisch aufgeladen sein können.« Ebd., S. 135f. Wie wird nun der Raum durch das Erzählen von Ereignissen strukturiert und gewichtet? So lautet Karin Dennerleins Frage, die sie in ihrem Kapitel »Raum erzählen« systematisch zu beantworten versucht. Dennerlein unterscheidet dabei zwischen einer narratologischen und

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4.1

Narrationen und Narrative des Bösen

Narrative Ethik und Ethische Narratologie

Die Erzählung von Welt und Vermittlung von Welten – und damit jene Prozesse, die bislang zum umfangreichen und verbindenden Element der Zusammenhänge von Raum, Imagination und der hier im Vordergrund stehenden Imaginarien des Bösen als »welten«245 bezeichnet wurden – kann in der narratologischkulturwissenschaftlichen Perspektive weiter differenziert werden. Dafür wird mit der Verbindung von Ethik und von Narratologie in kulturwissenschaftlicher Perspektive eine (methodische) Möglichkeit aufgerufen, Imaginationen des Bösen in literarischen Entwürfen zu bestimmen, die zwischen den Feldern von Ethik und Narrativität zu verorten sind. Die Entwürfe und Ansätze an den Schnittstellen narrativer Ethik und ethischer Narratologie entsprechen grob dem bereits umrissenen Verständnis, welches in den Ausführungen zu den Imaginationen des Bösen im zweiten Kapitel erörtert wurde. Das Verhältnis zwischen der Kategorie des Bösen und literarischer Vorund Darstellung (d. h. der Verflechtung von Figuration, Defiguration, Refiguration) ist demzufolge in der Relation zwischen dem Bösen als genitivus subiectivus und genitivus obiectivus der Literatur zu suchen. Es geht also weniger um die »moralische Qualität von Literatur« als um »ethische Implikationen ästhetischer Entwürfe in literarischen Texten.«; diese Entwürfe von Ethik sind dabei

literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Raum als »Phänomen« der Literatur. Die Autorin verweist zwar auf den konkreten Raum als primären Untersuchungsgegenstand. Topographische und topologische Modelle werden zwar zusammengefasst, aber nicht für die Beschreibungsmodelle berücksichtigt. Dennerleins Fokus liegt auf einem Raumprinzip, eingeschränkt auf »Objekte […], die eine (potentielle) Umgebung der Figuren darstellen: etwas, in dem sich Figuren befinden können und in das sie hineingehen können.« Siehe dies., Narratologie des Raumes 2009, S. 71f. u. 115–136. Die Verräumlichungen des Bösen, wie sie hier untersucht werden sollen, gehen über dieses Prinzip des konkreten Raumes hinaus, möchten aber den narratologischen Impuls für die kulturwissenschaftliche Untersuchung vermittelnd nutzen. Dennerleins Vorhaben ließe sich idealerweise in seiner Gesamtausrichtung übertragen oder anwenden auf Franco Morettis Projekt der konkreten Bestimmung von Handlungsorten von Romanen der Weltliteratur in historischer Perspektive. Siehe ders., Atlas of the European Novel 1800–1900 1998, S. 3–11. Siehe auch MarieLaure Ryan, »Narrative Cartography: Toward a Visual Narratology«. In: Tom Kindt, Hans Harald Müller (Hg.), What is Narratology? 2003, S. 333–364. Ryan unterscheidet in narratologischer Perspektive mentale Modelle der erzählerischen Kartographie – und zwar in sechs Raum-Typen erzählender Literatur: »Maps of geographical context«, »Maps of the textual world«, »Maps of textual space, or database maps«, »Maps of spatial form«, »PlotMaps«, »The text itself as map«. 245 Vgl. Djelal Kadir, »World Literature: The Allophone, the Differential, and the Common«. In: Modern Language Quarterly 74.2 (June) 2013, S. 293–306. Gayatri Chakravorty Spivak, Critique of Postcolonial Reason. Towards a History of the Vanishing Present 1999, S. 112–197.

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»nicht als eine dem Text äußerliche Kategorie […], sondern der poetischen und poetologischen Struktur eines literarischen Textes inhärent.«246 Betrachtet man die Dynamiken zwischen Narrativen und Narrationen unter dem Begriff der Narrativität, dann fällt auf, dass die Klärung der Verwendbarkeit des Begriffs oftmals bei der Bestätigung ihres Status als Kategorie abbricht. Diese Beobachtung der Positionen des Gebrauchs in Diskursen eines breiten Spektrums der Geistes-, Geschichts- und Humanwissenschaften bleibt, wie bereits Karen Joisten bemerkt hat, zunächst der »Anwendungsperspektive« verpflichtet.247 Wo liegen aber die Vorteile der Narrativität bzw. was besagt Narrativität im hier vorliegenden Fall für die Imaginationen des Bösen? Im Zusammenhang mit den kulturellen Leistungen und sozialen Implikationen von Narrationen und Narrativen, wie Sinnerzeugung, das Schaffen von Zusammenhängen, Integration, Disjunktion, Darstellung von Desintegration, Kontingenz und Sinnlosigkeit, geht es mit dem Begriff der Narrativität um die Vermittlung der Gesamtheit dieser Möglichkeiten. Narrativität ist damit als Organisationsform, ähnlich der räumlichen Imagination, die hier als Organisationsstruktur beschrieben wurde, zu verstehen.248 Somit lässt sich sagen, dass man nicht vom Bösen und Literatur reden kann, ohne über Formen zu sprechen, mit denen man über das Böse spricht. Mit Formen sind hier in erster Linie Organisationsstrukturen der Vermittlung angesprochen, die sowohl räumlich als auch narratologisch zu verstehen sind und zu beschreiben sein werden. Die Frage nach Imaginationen des Bösen unter Berücksichtigung einer narrativen Ethik bzw. einer ethischen Narratologie ist weniger von einer festen Anwendungsperspektive her zu stellen, sondern vielmehr über eine dynamische Bezugnahme bzw. Akzentuierung der Dimensionen der Ethik bzw. der Narrativität zu beantworten. Betrachtet man das Verhältnis von Ethik und Narratologie/Narrativität,249 so lassen sich mindestens vier Schnittstellen vorstellen, die sowohl aus philoso246 Claudia Öhlschläger, »Narration und Ethik. Vorbemerkung«. In: Dies. (Hrsg.), Narration und Ethik 2009, S. 9–21. Hier: S. 11. 247 Karen Joisten, »Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen. Positionen, Anwendungen«. In: Dies. (Hrsg), Narrative Ethik: das Gute und das Böse erzählen 2007, S. 9– 24. Hier: S. 9. 248 Mit Narrativität geht es um den Zusammenhang von Erzählung(en) und dem Erzählen als unspezifischem Begriff des Erzählens, der von der Gattungsbestimmung »Erzählung« zu unterscheiden ist. Siehe dazu Matthias Aumüller, »Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe«. In: Ders., Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philosophischer und anthropologsicher Orientierung 2012, S. 141–168. 249 Der Einschätzung Öhlschlägers wird sich an dieser Stelle angeschlossen. Die Autorin geht davon aus, dass die Positionen zu den wechselseitigen Bezügen von Narration und Ethik einen Vorläufer in den Debatten um das Verhältnis von Ethik und Ästhetik hatten, wie sie seit Ende der 1980er Jahre bereits international, in unterschiedlichen Philologien und transdisziplinär geführt wurden. Siehe dazu dies., »Narration und Ethik. Vorbemerkung«.

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phischer als auch literaturwissenschaftlicher Perspektive als ›Lesarten‹ zusammengefasst wurden. Nimmt man den Begriff der Ethik als Ausgangspunkt, so lässt sich, Karen Joisten zufolge, »Narrativität zunächst ausgehend vom Adjektiv ›narrativ‹ […] als Weise des Sprechens bzw. Schreibens über Sachverhalte ethischer Valenz bezeichnen«250 – als eine Ethik also, die zwar narrativ vermittelt wird, aber in der Vermittlung – also der Art und Weise auch der Perspektivierung – nicht als Ethik konstituiert wird, sondern der Narrativität vorausgeht. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Verhältnis der beiden Felder über die Aufgabe der Vermittlung des Ethischen über Narrative, d. h. »moralische Phänomene und Zusammenhänge, die narrativ vermittelt sind, zu untersuchen.«251 Die dritte Möglichkeit, die für Vertreter:innen von Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaft in Betracht kommt, würde das im obigen Ansatz angenommene Verhältnis umkehren und die »narrative Dimension der Ethik/des Ethischen« betonen. In dieser Lesart wird das Ethische über die Möglichkeiten des Zugangs bestimmt, wobei das »Menschsein« durch ein »Narrativ sein« charakterisiert ist und Ethik somit ebenfalls narrativ ist. Eine vierte Möglichkeit bietet der Übergang der narrativen Ethik zu Positionen ethischer Narratologie. Demnach »[dient] das Erzählen von Geschichten der Vermittlung von Vorstellungen, Ordnungssystemen, Grenzziehungen, mit denen

In: Dies. (Hrsg.), Narration und Ethik 2009, S. 8–21. Auch Nora Berning geht bei dem von ihr entworfenen Modell der Critical Ethical Narratology (CEN) für nicht fiktionale Literaturen von einem Beziehungsgeflecht der Dimensionen Ethik und Narration aus, welches sie unter dem Begriff einer Ethical Narratology skizziert. Erst im Anschluss geht sie detailliert auf das Beziehungsgeflecht (»complex web of relationships«) zwischen der (philosophischen) Dimension der Ethik einerseits und der Literatur andererseits ein. Die Theorie und das typologische Modell der CEN gehen dabei grundsätzlich von der kulturellen Semantik von Ethik und Moral aus. Die Autorin argumentiert für die CEN aufgrund der Erweiterung der Narratologie in Richtung Fragen kultureller Semantiken. Wenn daher Werte-Konstruktionen und -Disseminationen in Bernings Ansatz untersucht werden, dann werden Konzepte der Narratologie, sowohl der strukturalistischen als auch der postklassischen, ethisch relevant. Systematisch widmet sie sich der Untersuchung der Konstruktion von Werten anhand der narrative situation, character-spaces, narrative time und narrative bodies. Siehe dies., Towards a Critical Ethical narratology. Analyzing Value Construction in Literary NonFiction across Media 2013. Weniger systematisch, dafür paradigmatisch orientiert an den gleichen Fragen zu Strukturen und Funktion ethischer Narrative und Narratologien in Literaturen der Amerikas sind Hermann Herlinghaus, Violence without Guilt. Ethical Narratives from the Global South 2009. Und Idelber Avelar, The Letter of Violence. Essays on Narrative, Ethics, and Politics 2004. Hier insbes. S. 51–78. Die letztgenannten Ansätze sind in ihrer Anlage mehr an der narrativen Ethik als an Möglichkeiten der ethischen Narratologie orientiert und formulieren in erster Linie Fragen nach dem Status und der Funktion des Ethischen in Narrativen. 250 Claudia Öhlschläger, »Narration und Ethik. Vorbemerkung« 2009, S. 11. 251 Ebd.

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wir Welt wahrnehmen und verstehen.«252 Der anthropologische Funktionalismus dieser Fassung von Narrativität, der allein deskriptiv von einer ethischen Wertschöpfung von Geschichten ausgeht und Erzählen als Etablierung und Vermittlung von Wahrnehmung eines Verständnisses von Moral innerhalb einer bereits bestehenden Ordnung bereithält,253 spricht dabei von zwei Operationen, die jedoch einseitig beschrieben sind. Denn die moralische Relation von Gut und Böse kann gleichzeitig auch als Wahrnehmungsstruktur zunächst dazu dienen, Ordnung zu stiften. So formuliert kann danach gefragt werden, wie Erzählungen vermittelt werden, wie Wahrnehmung (narrativ) etabliert wird und dazu befähigt, überhaupt von dieser Relation zu sprechen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Konzeption ethischer Narratologie findet sich bei Tilmann Köppe. Ausgehend von (klassischen) Narratologien, verstanden als theoriebasierte Studien von Narrationen, geht es demnach zunächst um ethische Konzepte als Zusatz zu narratologischen Konzepten. Erzähltheoretische Kategorien und Begriffe können dann der Analyse (bestimmter) ethischer Narrative dienen. Drittens können narratologische Begriffe und Modelle selbst ethisch relevant sein bzw. eine ethische Valenz besitzen oder erlangen.254 In die Richtung einer ›ethischen Narratologie‹ gehen damit die Ansätze, die »ethische Implikationen […] von Erzähltechniken, Erzählverfahren oder ästhetischer Konzepte akzentuieren.«255 Der Fokus liegt dabei auf der Konstituierung von Normen, Werten und Moral durch strukturbildende Modelle und Darstellungsformen des Erzählens als Vorgang, Praxis und Prozess, das jedoch zu unterscheiden ist von der Narratologie, verstanden als Bereitstellung und Anwendung von Begriffen.256 Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik ergibt sich somit ein Bild, das ein Beziehungsgeflecht veranschaulicht und spezifisch und differenziert das Ineinandergreifen von Ethik und Narration bzw. Narrativen befragen kann, indem – um Möglichkeiten der Narratologie erweitert – zwischen ethischen Fragen und Narrativität vermittelt werden kann. Die Fragen, welche von einer narrativen Ethik bzw. ethischen Narratologie aufgeworfen werden, sind in die Diskussionen um die Bedeutung der Beziehungen zwischen dem Was und dem Wie eines literarischen Textes übertragen 252 Knut Hickethier, »Das narrative Böse. Sinn und Funktionen medialer Konstruktionen des Bösen«. In: Werner Faulstich (Hg.), Das Böse heute 2008, S. 229. 253 Ebd. 254 Siehe Tilmann Köppe, »On Ethical Narratology« 2008, ohne Seitenangabe. 255 Claudia Öhlschläger, »Narration und Ethik. Vorbemerkung« 2009, S. 10. 256 »[N]arratology aims at the theoretical study and explication of the concepts used for the analysis of narratives, including theirs production, structure, forms or function.« Siehe Tilmann Köppe, »On Ethical Narratology« 2008, ohne Seitenangabe.

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und somit in eine Unterscheidung überführt worden, die in der Narratologie eine basale Operation bildet, wobei beide Fragen zunächst getrennt voneinander betrachtet werden und daraufhin Prozesse der Verflechtung geklärt werden können. Diese Verflechtung kann dabei einen Einblick geben, »[…] inwiefern Literatur dank ihrer fiktiven Beschaffenheit Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns eröffnet, die fremde, neue und alternative Deutungs- und Wahrnehmungsoptionen sichtbar machen.«257 Mit der dichten Beschreibung der Möglichkeiten der Verschränkung und des Ineinandergreifens ethischer und narratologischer Fragestellungen soll folglich ein Ansatz umrissen werden, der beide Dimensionen in den (literarischen) Wechselbeziehungen befragen und letztlich darstellen kann. Sowohl die ethische als auch die narratologische Dimension stellen für eine Herausstellung und Betrachtung der Imaginationen des Bösen zentrale Orientierungspunkte bereit, an denen entlang die Konstituierung und Verbreitung über geokulturelle Imaginarien verläuft, die ethischen Maßstäben und Systemen entsprechen und narrativ in Bewegung gehalten und transformiert werden. Wenn literarische, fiktionale Texte im Folgenden auf ihre ethischen Gehalte und Verfahren hin untersucht werden, dann ist die Herangehensweise einer solchen Analyse unweigerlich ethisch; denn Vergleiche und Vergleichspunkte müssen begründet werden, um eine Aussage über die Vermittlung von moralischen Gehalten und die vielzähligen Narrative von Moralität treffen zu können. Ethische Narratologie und narrative Ethik sind in der Konsequenz zwei Seiten der gleichen Betrachtung, die im folgenden Schritt um eine dritte Ebene ergänzt wird, damit ein kritisches Potenzial entwickelt werden kann. Diese Ebene der Betrachtung wird über die Klärung der Bedeutung der erzählerischen Vermittlung für die Imaginarien des Bösen erreicht.

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Es bietet sich zunächst an, auf eine klassische strukturalistische Organisation von histoire, récit und narration258 aus der Genette’schen Erzähltheorie zurückzugreifen, um damit auf eine Betrachtung von Text referieren zu können, die in 257 Claudia Öhlschläger, »Narration und Ethik. Vorbemerkung« 2009, S. 11. Dazu auch Norbert Meuter: »Im fiktionalen Raum der Geschichten werden traditionelle Bewertungsweisen für Handlung und Personen variiert und neue imaginiert.« In: Ders., »Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften«. In: Friedrich Jäger u. Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften II. Paradigmen und Disziplinen 2011, S. 140–155. Hier: S. 154. 258 Die histoire bezeichnet die Gesamtheit der erzählten Welt. Discours umfasst ergänzend zur histoire sowohl das Arrangement der Handlung als auch die formalistischen Aspekte in der

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reziproker Bezugnahme nach dem Wie und dem Was des Erzählens fragt. Die Perspektive – point of view – ist dabei in der Betrachtung der Imagination des Bösen von Interesse, weil sie ebenfalls als relationales Phänomen der dargestellten Welt bestimmt wurde.259 Die Aufmerksamkeit wird nun davon ausgehend umgelenkt von der (oft problematischen) Funktion des Erzählens bzw. einer allzu funktionalistischen Vorstellung des Erzählens auf die Position(en) der Erzählerinstanzen der Diegese. Mit Hilfe der Klärung der Positionen von Vermittlungsinstanzen, unterschiedlicher Perspektiven und Stimmen können auch die allgemein anthropologischen Bestimmungen des Erzählens, wie etwa die Kontingenzbewältigung, die Beförderung oder die Verhinderung des Verstehens oder eine Vermittlung der Wahrnehmung und Wirkung, voneinander unterschieden werden und kann jeweils ganz konkret die Involviertheit der vermittelnden Instanzen der erzählten Beobachtungen auf eine Rolle und Partizipation an der Herstellung von Vorstellungen des Bösen hin befragt werden. Für die Untersuchung von Imaginarien des Bösen sind damit Fragen nach jenen Erzählverfahren und -techniken bedeutsam, die die Narration betreffen und von der poetologischen Struktur des Narrativs ausgehend die ethische Relevanz der Form der Vermittlung hinterfragen. Grundsätzlich werden die zu Rate gezogenen Kategorien und Parameter der Narratologie bei der jeweils zu ermittelnden Matrix von Artikulationsformen und Bestimmungen des Bösen in den Texten des Korpus als Mittel angesehen und verwendet, deren analytischer Gehalt und deren produktive Tragweite sich an den zu analysierenden Texten bemessen lassen. Gleichwohl werden bei dieser Art der Anwendung die historische Geltung und Reichweite der Kategorien kritisch zu berücksichtigen sein. Dieses Vorgehen soll kurz anhand einer Kategorie erläutert werden, die sich selbst explizit mit Imaginationen des Bösen befasst. In einer kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ich-Erzählung untersucht Martin von Koppenfels die »strukturelle Infamie« (eines bestimmten

textuellen Vermittlung. Genette unterteilt die Diskurs-Ebene dazu nochmals; somit ergeben sich neben der erzählten Welt (histoire) die Erzählung (récit) und das Erzählen (narration) als gleichsam konstitutive Elemente. Siehe Gérard Genette, Die Erzählung 1998. Genette wird von der Narratologie, aber auch den philologisch arbeitenden Narratologien – wie der anglistischen, romanistischen, slawistischen etc. – bei dieser Differenzierung angeführt und ergänzt um andere Standpunkte. Siehe dazu Matías Martínez (Hrsg.), Handbuch Erzähltheorie 2011, S. 1f. 259 Susan Sniadar Lanser, The Narrative Act: Point of View in Prose Fiction 1981, S. 13. Nicht erst dieser relationale Gehalt der Vermittlung deutet auf die Kategorie der Perspektive als eine raum-zeitliche Kategorie, die als solche in der Narratologie oftmals ignoriert wird.

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Typus) des Erzählers oder »eines bestimmten Typus von Perspektive.«260 Die Perspektive wird in dieser thesenhaften Analyse an den Erzähler geknüpft. Die dabei beschriebene Infamie ist eine strukturell angelegte und aus der historischen Betrachtung heraus sichtbare Eigenschaft der Ich-Erzählung. Bei der Beschreibung dieses Erzähltypus wird, literaturhistorisch argumentierend, die erzählende Literatur durch Perspektivübernahme mit dem Laboratorium als einer räumlichen Metapher des Experimentierens verbunden, innerhalb dessen ein ›imaginäres Ich‹ entworfen wird. In ähnlicher Weise wie Peter-André Alt greift dieser Versuch einer Klärung des Zusammenhangs von Erzähler und Perspektive die Wirkung (auf den Leser) und Intention ihres Zusammenwirkens auf. Damit geht es in diesem Ansatz der strukturellen Infamie des Erzählens auch um den Blick auf die Steuerung von Emotionen und Affekten nicht nur des Erzählers, sondern auch der Leser:innen. Da von Koppenfels den erzähltheoretischen Einsatz von Perspektive hauptsächlich aus psychologischer Sicht begründet und dabei das Kognitions-Paradigma kritisch betrachtet, werden an dieser Stelle jedoch allein der analytische Wert der Perspektivstruktur und die angenommene Infamie der Ich-Perspektive als Ich-Erzählung betont. Denn grundsätzlich ist die Verbindung von Erkenntnisgenerierung, Erzähltypus und Erzähl(er)position, die in diesem Entwurf formuliert wird, sehr treffend und für eine Weiterentwicklung geeignet. Die Formen der »narrativen Modellierung« der Transgression sind als Ausdruck der Imaginationen des Bösen bereits innerhalb Friedrichs Ansatz insbesondere durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Erzählverfahren bestimmt und verweisen in der Beschreibung des Bösen nicht allein auf ästhetische, d. h. stilisierte und inhaltliche Mittel einer Verbotsüberschreitung.261 Damit gelingt es der Autorin, von den Literaturen ausgehend, Verfahren und Parameter offenzulegen, die gemeinsam mit den diskursiven Strukturen des Bösen (Mythen, Religionen, Orientalismen, Moral) wiederum eine transgressive Ästhetik des Bösen erstellen. Dieser gewählte Ansatz erscheint als anschlussfähig an die von 260 Siehe Martin von Koppenfels, »Infame Erzähler, unmögliche Stimmen (Mit einem Seitenblick auf William Faulkners The Sound and the Fury)«. In: Julian Klein (Hrsg.), Infame Perspektiven. Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 2015, S. 16– 29. Hier: S. 17–20. 261 Die Autorin fasst ihren Ansatz – der narratolgisch im Anschluss nicht weiter hergeleitet wird – folgendermaßen zusammen: »Zunächst gehen in die Texte unterschiedliche historische Diskursformationen ein, die eine spezifische Bestimmung des Bösen vorgeben und die Grundlage für die Figurationen des Bösen auf der histoire-Ebene bilden. In einem ersten Schritt ist daher zu untersuchen, auf welche Weise die historischen Konzepte des Bösen den Handlungsverlauf strukturieren (z. B. mit dem Modell der Verbotsüberschreitung) bzw. inhaltlich zu beschreiben sind (als Profanation, Sünde, usw).« Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 43. Insbesondere die Analyse erzählerischer Verfahren in Flauberts Salammbô, S. 160–209, sei hier erwähnt.

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Juri Lotman systematisch betrachtete Bedeutung von Raumstrukturen der Erzählung. Für Lotman ist die Grenzüberschreitung nicht allein das zentrale Moment, die Sujethaftigkeit eines Textes zu bestimmen, sondern diese als Grundlage einer (binären) Semantisierung von Räumen in Erzählungen zu nutzen.262 Da Friedrich ebenfalls die Strukturierung von Räumen in der Erzählung nutzen möchte, um auf die Semantisierungen des Bösen schließen zu können, und dann insbesondere die »Histoire-Ebene«263 für die Modellierungen des Bösen berücksichtigt, ist ihr Ansatz als eine (nicht explizit verhandelte) Kombination der Erzähltheorie von Genette und des topologischen Raummodells nach Lotman zu betrachten. Der vorliegende Ansatz geht auf das Verfahren dieser Verbindung insofern ein, als die histoire und die diskursiven Strukturen als Narrative den Erzählverfahren der Narrationen in den Analysen zunächst untergeordnet werden, aber letztlich ein sich ergänzendes Gesamtbild – d. h. Narrativ – ergeben können, das insgesamt überaus divergent gestaltet sein kann. Dazu soll die Lotmansche Methode der Raumstrukturierung von Erzählungen (oder Raumerzählung) genutzt werden, um in jedoch noch stärkerem Maße die Erzählung im Raum– wie sie hier Jörg Dünnes Ansatz entlehnt wurde (siehe Kapitel 2) – für die Analyse der Imaginarien des Bösen zu berücksichtigen. An Genettes Unterscheidung zwischen ›Wer sieht?‹ – unter Berücksichtigung des Modus der Sicht – und ›Wer spricht?‹ – unter Berücksichtigung möglicher Erzählebenen und der Stellung einer oder mehrerer Erzählinstanzen zum Geschehen – geschult, lässt sich eine Instanz des Wissens (und der Erkenntnis) berücksichtigen, welche in der Auseinandersetzung mit Genette zu Unklarheiten geführt hat, weil dessen ambivalente Erklärung der Teilhabe am Wissen nicht immer ausreichend geklärt wurde. Was nun damit und mit den in dieser Studie aufgeworfenen Fragen nach Imaginarien des Bösen in Zusammenhang mit den Spannungsfeldern einer narrativen Ethik und Positionen der ethischen Narratologie als relevant erscheint und in den vorliegenden Fällen der erzählerischen Vermittlung eindringlich betont werden soll, ist die Verflechtung einzelner Erzählebenen durch die Annahme einer dritten Instanz, d. h. eines entangled narrators.264

262 Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte 1993. 263 Siehe Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen 1998, S. 41. 264 Vgl. dazu auch Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung 2012, S. 84–90. »Sehen, Sprechen und Wissen sind im Prozess der Narration ineinander verwoben, aber niemals deckungsgleich oder simultan.« (S. 86) Das tool des entangled narrator schließt ebenfalls an die von Seymour Chatman gebotene Diskussion der Vermittlung durch einen agent der Narration an, der personalisiert sein kann, aber nicht (anthropomorph) personalisiert sein muss, um narrativ zu agieren. Siehe dazu ders., Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film 1990. Insbes. S. 109–123.

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Es bietet sich an, für die Untersuchung von Fragen der Vermittlung von Wissen in Bezug auf das Sprechen und das Sehen im Erzähltext von einem entangled narrator als heuristisches Instrument dieser Studie zu sprechen. Dieses Erzähler-Modell umfasst narratologisch gesprochen die Position, den Typus und die Perspektive einer Erzählinstanz, die wiederum in der Herstellung der Vorstellung der Erzählsituation münden soll. Die Verflechtung von Erzählebenen, die bei der Herstellung der Vorstellung des Bösen in narrativ vermittelten Imaginarien eine Rolle spielt, lässt sich dann von Text zu Text sehr unterschiedlich akzentuieren, untersuchen und in der Terminologie ›»klassischer‹ narratologischer Ansätze beschreiben. Dabei wird ferner vermieden, eine allgemeine Typologie des Erzählens aufzustellen, die bereits in Gänze vor der Untersuchung definiert wird und dann konsequenterweise in Analysen eine Entsprechung finden würde. Die Heuristik des entangled narrators ist explizit selbst an Fragestellungen und Zugänge zu den Imaginarien des Bösen geknüpft, die in den obigen Kapiteln erörtert wurden, und fügt sich damit in ein konzeptionelles, dynamisches Bild von Literaturen in transarealen, kulturellen und historischen Zusammenhängen. Als entangled narrator kann so auch räumlich die Narration mittels einer Instanz der Verflechtung und deren Vermittlung genutzt werden, die sich mit der optischen Metaphorik der Perspektive ergänzen lässt. Somit werden die Erzählung im Raum und die Raumerzählung gleichermaßen berücksichtigt und können zu den vorangegangenen literaturtheoretischen und kulturwissenschaftlichen Annäherungen zur Räumlichkeit des Bösen in Bezug gesetzt werden. Ein entangled narrator etabliert dann als Vermittlungsinstanz Dynamik und Prozessualität in aktiver Teilhabe an Strukturbildungsprozessen von Narrativen. Gleichzeitig sind die Positionsvariabilität und die multiple Adressierung interdependenter Erzählzusammenhänge und einzelner Figuren erfasst, die einer variablen Haltung in einem relationalen Gefüge von Positionen und Standpunkten entsprechen können.265 Hierbei wird durch den Grad der Eingebundenheit eines Erzählertypus das Problem der Souveränität der Narration und der daran anknüpfenden, ja davon abhängigen Narrative adressiert. Der entangled narrator hebt somit auf die Eingebundenheit in Erzählzusammenhänge ab, die es erlaubt, mittels der Kombination von klassischen und postklassischen narratologischen Modellen ethische Fragen in den Blick zu nehmen. Basierend auf den oft logisch und ontologisch widersprüchlichen Eigenschaften der Erzählung – wie u. a. unzuverlässiges oder unentscheidbares Erzählen – und nicht als Konzept, eingereiht in die Typologien und strukturellen Funktionen des Erzählens und von Erzählin265 Insofern besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit Käte Hamburgers Reflexion über das fiktionale Erzählen unter dem Begriff eines »fluktuierenden Erzählers«. Siehe Käte Hamburger, The Logic of Literature 1973 [1968]. Hier: S. 134–193.

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stanzen, vermittelt der entangled narrator ein Verständnis der Modellierung (insbesondere) der Räumlichkeit der erzählten Welt, das für ethisch orientierte Fragen der Imaginarien des Bösen relevant wird. Dabei ist zu betonen, dass diese Art, die Erzählung zu beschreiben, nicht auf eine abstrakte Funktion reduziert und automatisch als depersonalisiert wahrgenommen werden sollte, sondern durchaus als Untersuchungsperspektive und Gegenstandsbereich der Herstellung von Vorstellung agiert. Integriert werden bei den Fragen an die Literaturen des Korpus – der für die Imaginarien des Bösen exemplarisch stehen soll – somit die erzählerische Vermittlung und damit allgemein erzähltheoretische Fragestellungen in Verbindung mit kulturwissenschaftlichen Beobachtungen, die sich mit der räumlichen Konzeptualisierung von entanglement(s) auf unterschiedlichen Ebenen einer Narration befassen. Kurz zusammengefasst bedeutet dies: Ein entangled narrator dient der erzähltheoretisch fundierten Adressierung unterschiedlicher Modellierungen des Bösen in den hier relevanten und narrativ vermittelten Texten. Als heuristisches Instrument soll damit gezielt auf unterschiedliche räumliche Figurationen der Imaginarien des Bösen eingegangen und sollen diese differenziert beobachtet werden. Die Heuristik des entangled narrators verhält sich komplementär zu den poietischen, weltenden Eigenschaften der narrativen Textvermittlung, die in den folgenden Einzeldarstellungen helfen wird, die darin analysierten ›erzählten Welten‹ narratologisch geschult zu betrachten. Das Modell dient dazu, transkulturelle Transferdynamiken in jeweils spezifische Strukturbildungsprozesse zu übersetzen, um variierende Formen unterschiedlicher Erzähler:innen in transgressiven, grenzüberschreitenden, raum- und weltbildenden Funktionen für die Frage nach dem Bösen zu berücksichtigen. Der entangled narrator bildet dadurch einen Fluchtpunkt hier diskutierter kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, die in den Analysen der Frage nachgehen, wie auf verflochtenen Erzählebenen unterschiedliche Erzähler:innen thanatopolitisch wirken und im räumlichen Erzählen eine Reflexion über die Verhandlungen und Problematisierungen von Souveränitätsvorstellungen ermöglichen. Die Idee der kolonialen Matrix von Raum und Dynamisierungen von Räumlichkeit ist somit perspektivisch zurückgebunden an die Souveränität (der erzählerischen Vermittlung und der weltenden narrativen Verfahren), die in den Praktiken der Sklaverei ebenfalls eine (post)koloniale Matrix ›anbietet‹, die im zweiten Teil dieser Studie anhand des Textkorpus systematisch beschrieben wird.

II

5.

Tropographien des Bösen in La vorágine von José Eustasio Rivera (1924) Soy un grávido río, y a la luz meridiana/ ruedo bajo los ámbitos reflejando el paisaje;/ y en el hondo murmullo de mi audaz oleaje/ se oye la voz solemne de la selva lejana/ […] Turbio de pesadumbre y anchuroso y profundo. (J. E. Rivera, Tierra de promisión)

The slave brought from the Guinea coast the mysteries of Obeah and dark practices of sorcery. The native Indians had ample store of superstitions, to cure or to injure, to provoke love or hatred; the colonists had their own credulous beliefs, to which they added implicit faith in those or to the inferior races. The land was overrun with this combination of occult arts of three continents, all of which was regarded by the inquisition, not as idle fantasies, but as the exercise of supernatural powers, involving express or implicit faith in the demon. (Henry Charles Lea, The Inquisition In The Spanish Dependencies 1908) … Stygii per flumina fratris. Per pice torrentes atque voragine ripas … . (Vergil, Aeneis, Buch X, Verse 113f.)

In der Auseinandersetzung mit den Imaginarien des Bösen iberoamerikanischer Literaturen hat La vorágine seit der Veröffentlichung 1924 einen festen Platz inne, sowohl seitens seiner Leser:innen im gesamten spanischsprachigen Amerika als auch in der internationalen Forschung und Literaturkritik. Doch ist die Projektion und Verortung des Bösen mittels der narrativen Figuration der selva weniger stabil und eindeutig, als von der Kritik zunächst angenommen wird. Denn so hat die Identifikation des Bösen mit la selva in der Geschichte der kritischen Rezeption eine Reihe von Perspektiven hervorgebracht, die, angefangen beim Status bis hin zur Erörterung der Wirkung und Funktion, das Böse in der Inszenierung von La vorágine gedeutet haben. La vorágine wurde und wird häufig unter den Genre-Bezeichnungen novela de la selva oder novela de tierra266 und in einem größeren Zusammenhang als 266 Wie früh diverse Klassifizierungslogiken einsetzen und wie lange diese fortgesetzt werden, zeigen u. a. Concha Melendez, »Tres novelas de la Naturaleza Americana: Don Segundo Sombra, La vorágine, Doña Bárbara«. In: Mensuario de Historia, Literatura y Ciencia, Año 1, Núm. 1, 1929, S. 270–273. Sowie Carlos J. Alonso, The Spanish American Regional Novel. Modernity and Autochthony 1990.

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sogenannte tellurische Literatur267 eingeordnet. Die Klassifizierung, die weitestgehend an den erzählten Ereignissen und innerhalb des kulturellen und politischen Rahmens der Diegese orientiert entwickelt wird, nimmt sich der teils sehr expliziten Darstellungen von Gewalt und grotesker Körperlichkeit an, um dann das Böse ausgehend von einer thematischen Ausrichtung des Romans zu bestimmen. Hinzu kommt eine räumliche Lesart von La vorágine, die bereits durch den Titel des Romans selbst evoziert wird. Doch entgegen der hier tatsächlich angestrebten Untersuchung von Räumlichkeit im direkten Zusammenhang mit Bösem wird La vorágine von der Forschung meist als fiktional realisierter Ort des Bösen herausgestellt und weniger als räumliche Darstellung des Bösen, die erzählerisch umgesetzt wird. Dabei spielt die Untersuchung des Erzählens schon seit langer Zeit eine wichtige Rolle, wie ein kurzer Blick in die Forschung verrät. Dieser Blick zeigt deutlich, inwiefern erkannt wurde, dass es sich um einen Text handelt, der kontinuierlich und explizit über sich selbst und das Schreiben reflektiert.268 Davor hat die Forschung sich lange Zeit vom Protagonisten als Erzähler Arturo Cova irritieren lassen, dessen widersprüchliche, schrille bis affektierte Darstellung eines Dichter-Ichs hier als eine Voraussetzung für die Imaginarien des Bösen betrachtet werden soll und nicht als ihre potenzielle Verhinderung, wie oftmals angenommen wurde. Die tatsächlich ausgelöste Irritation liegt darin begründet, dass José Rivera als Autor Autorenfiguren in der Anlage der erzählten Welt vervielfältigt, indem er mit Arturo Cova nicht nur einen fiktiven Doppelgänger seiner selbst erschafft, sondern auch unter der Verwendung seines Namens als Herausgeber eines fingierten Briefes auftritt, in dem die Überarbeitung und Veröffentlichung des Romanmanuskripts angekündigt wird. Diese Irritation, so ist zu vermuten, ist die Voraussetzung für die Deplatzierung Covas als Protagonist des Romans und die Zentrierung der selva, der ›grünen Hölle‹ des Dschungels, welche wiederum nicht mehr als Motiv oder 267 »La llamada ›novela de la tierra‹ la consagró en los años veinte con La vorágine (1924) de José Eustasio Rivera, aunque en realidad el telurismo lo habían inaugurado cronistas y poetas del período colonial y había sido enlazado ya por el romanticismo. […] El resultado es un auténtico subgénero temático: la novela de la selva.« Vgl. Fernando Ainsa, Del topos al logos. Propuestas de geopoética 2006, S. 51. Zur postkolonialen Konstellation von La vorágine im Gestus der novela de la selva: »The novela de la selva did not emerge during the first euphoric years of independence, but in a climate of cultural defensiveness, characterized by a longing for a peculiar American stylistics, for identity, both regional and intra-continental, and, most explicitly, for Otherness, both from Europe and from the impending imperial threat oft he US.« Lesley Wylie, »Colonial Tropes and Postcolonial Tricks: Rewriting the Tropics in the ›Novela de la selva‹,«. In: The Modern Language Review, Vol. 101, No. 3 (Jul., 2006), S. 728– 742, hier: S. 729. 268 Für einen ersten grundlegenden Überblick der Forschungen zu La vorágine siehe Montserrat Ordoñez, La vorágine: Textos críticos 1987. Zu Beobachtungen, die das Schreiben in La vorágine in den Fokus rücken, grundlegend darin ebd., S. 489–516.

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Handlungsraum eine Rolle spielte, sondern mit der Bezeichnung der novela de la tierra dieses gesamte Genre mitbegründen und dabei als ein (zu überkommendes) Vorbild für zeitlich nachfolgende Autoren werden sollte, die in den Jahrzehnten von 1950 bis in die 1990er Jahre mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren sollten und vielfach übersetzt wurden. Wichtig ist, dass die Eigenschaften von La vorágine als so genannter precursor des realismo mágico nicht auf Rivera/Cova, la selva oder ein Genre beschränkt bleiben; vielmehr hat man es mit einem Wiedergänger zu tun, dessen Narrative und Narration Imaginarien des Bösen aus einem transarealen Wissensraum heraus re-figurieren. Diese Formen des Wissens, die zweifellos mit der Idee des Bösen selbst verbunden sind, machen allein nicht den originellen bzw. differenzierenden Mehrwert von La vorágine für Imaginarien des Bösen aus. Eher ist es das Zusammenspiel von Konfiguration, De-Figuration und Re-Figuration von Narrativen, die der Roman realisiert und dann wiederum als Räume des Bösen übersetzt. Eine Aktualisierung oder auch ein als Re-Figuration erarbeitetes Feld des Wissens bietet Domingo Faustino Sarmientos Erzählung Civilización y barbarie, die als tropischer Wiedergänger der antagonistisch beschriebenen Kräfte der pampa und llanos des Argentiniers erscheint, dessen Werk als positivistische und säkularisierte Formel von Gut gegen Böse das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert der Amerikas prägte, insofern es selbst eine Konfiguration kolonialer Modelle in den Amerikas darstellte.269 Auch Erzählungen von Horacio Quiroga oder die Vielzahl sogenannter novelas de la tierra mit der darin als zerstörerische Kraft konzipierten Natur, die imstande ist, ›Besucher‹ und ›Bewohner‹ zu vergiften, krank zu machen und sich ihrer zu entledigen, sind grundsätzlich mit Imaginarien des Bösen in Verbindung zu bringen. Insofern es um das Böse in La vorágine im Blick kritischer Studien geht, bleibt festzustellen, dass diese oftmals den (theoretischen) Kurzschluss hervorgebracht haben, welcher den Bestimmungsversuchen einer Ästhetik des Bösen ähnelt: Veranschlagt wird ein »böser« Inhalt, der in La vorágine durch die Darstellung von la selva bestimmt wird, allein um dann diese Darstellung selbst als eine ästhetische Ausarbeitung des Bösen, nämlich der selva selbst, herauszustellen.270 269 Siehe Doris Sommer, »Plagiarized Authenticity: Sarmiento’s Cooper and Others«. In: Gustavo Pérez-Firmat, Do the Americas Have a Common Literature? 1990, S. 130–145. 270 Verwiesen sei hier insbesondere auf den Prolog zur Ausgabe der Biblioteca Ayacucho, welche selbst als Forschungsübersicht der Jahre 1925 bis 1974 betrachtet werden kann. Darin heißt es in diesem Zusammenhang: »El acierto y el nuevo aporte de La vorágine consistieron en la presentación grandiosa y fuerte de las dos tragedias americanas, olvidadas desde la obra literaria de los primeros conquistadores y significadas ahora de manera más artística y con emoción más sincera que nunca; tragedias que en la obra de Rivera se acoplan con maestría: la agresividad maligna y misteriosa de la selva tropical, que casi como factor humano penetraba también en la tragedia del hombre con el hombre.« José Eustasio Rivera, La vorágine 1974, S. XXXIII.

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Dieser identifikatorische Zirkelschluss von Bösem und/als selva geht so weit, ontologische und metaphysische Bestimmungen der geokulturellen Imaginarien des Raumes als Protagonisten hervorzuheben, um dann wiederum anthropomorphe Beschreibungen zu übernehmen, die von der Erzählung jedoch erst entwickelt werden; ein »böser« Inhalt und die Identifikation der Gewalt mit dem Bösen fallen in solchen Betrachtungen in einer Idee von Bild und Begrifflichkeit zusammen. Im Folgenden wird es jedoch darum gehen, die Herstellung dieser Vorstellung der selva als Raum des Bösen im Raum des Erzählens (der Literatur) zu untersuchen, um dann zu einer Beobachtung der Imaginarien des Bösen zu gelangen. Für die Bestimmung von Imaginarien des Bösen als räumliche Praxis in La vorágine wird es in den folgenden Betrachtungen zunächst um die Klärung der narration gehen. Das Erzählen wird hier angesehen als Schlüssel zur Untersuchung der Narrative, die in der Erzählung zur fiktionalen Herstellung der Imaginarien des Bösen aufgerufen und stetig neu geordnet werden. Über die Inszenierung – puesta en escena – der Handlung und des Erzählens soll dann durch die Analyse des Zusammenspiels von räumlichem Schreiben und räumlichen Vorstellungen ferner ein Zugang eröffnet werden, der zeigt, wie die Narration und die dadurch vermittelten Narrative eine Verflechtung von Raumerzählen und der Erzählung von Raum ergeben, die Böses als textuelles Ereignis konstituiert. Das Sujet der Sklaverei erscheint dabei stets zentral und wird in La vorágine inszeniert als Verflechtungsgeschichte, die nicht nur thematisch, historisch und räumlich deutbar ist, sondern auch fiktional realisiert wird durch einen entangled narrator, der sowohl den Subjekt- als auch den Objektstatus der Ereignisse der erzählten Welt zusammenführt und dabei eine multiple Position des Erzählens verwirklicht. Sklaverei als Sujet ist in La vorágine zugleich auch als ein ›Verflechter‹ denkbar, welcher die Erzählung entstehen lässt, sie zusammenhält und in weitere Narrative überführt und Aussagen über Imaginarien des Bösen in interamerikanischen Zusammenhängen erlaubt.

5.1

La vorágine – puesta en escena als mise en abyme

La vorágine beginnt mit einer mise en abyme. Dieser Beginn wird jedoch erst am Ende der Geschichte vom Erzähler selbst aufgedeckt. Die Repräsentation der Geschichte, die die Art offenlegt, in der das Erzählen sich selbst inszeniert, ist zweifellos seit dem Erscheinen des Romans von José Eustasio Rivera im Jahr 1924 Gegenstand der Forschung. Wie diese räumliche Metapher für das metafiktionale Erzählen Rückschlüsse auf das Erzählen von Imaginarien des Bösen erlaubt, wird hier zunächst im Mittelpunkt stehen.

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Die Herausgeberfiktion eines Briefes an einen ebenso fingierten Konsul, begründet durch die Einreichung eines Manuskriptes des unglücklichen/verunglückten271 Schriftstellers Arturo Cova, initiiert zugleich eine Rahmenerzählung für die Handlung der Erzählung. Mit dieser Initiierung beginnt ebenfalls die narrative Inszenierung der Imaginarien des Bösen, die diesen Roman an den Anfang der vorliegenden Untersuchung setzen. Die Herausgeberfiktion und die Darstellung des Buches im Buch – genauer hier: des Manuskriptes im Buch – lassen im Verlauf der Handlung die Binnen- und Rahmenerzählung ineinanderfallen. Die mise en abyme wird damit – narratologisch gesprochen – im Verlauf der narration/des Erzählens verstärkt. Diese Verstärkung272 wiederum besteht darin, dass Arturo Cova zu erkennen gibt, ab wann er aufzeichnet, was er bis zu diesem testimonio273 erzählt hat, sodass eine Rückschau – Covas Rückschau als Ich-Erzähler innerhalb der Geschichte – auf die Ereignisse deutlich wird. Dieser Aspekt betrifft die Ordnung und Anordnung der erzählten Geschehnisse in der fiktionalen Welt. Cova tritt damit aus der erzählten Welt in die Welt des Erzählens bzw. markiert einen Übergang von einer Ebene zu einer anderen. Dieses erzählerische Manöver ist von Bedeutung, weil es unmittelbar die Herstellung der Vorstellung des Bösen betrifft und beobachtet – und damit auch, nicht nur als Ausdruck von Transgression, sondern vielmehr als Verflechtung narrativer Ebenen, Imaginarien des Bösen aufbaut. Anhand von narratologischen Parametern – der mise en abyme, der Ich-Perspektive und der gleichzeitigen Heteroglossie274 – lässt sich in der Untersuchung von La vorágine nachvollziehen, dass die Erzählung nicht reduzierbar ist auf eine Formel der Imaginarien des Bösen, die aus der Darstellung von la selva oder der damit im 271 Cova als »escritor infortunado« zu bezeichnen, wäre an dieser Stelle zweideutig und kann einerseits auf die Fähigkeiten Covas als Schriftsteller, andererseits jedoch auch bereits auf sein Verschwinden hindeuten. 272 Die mise en abyme mündet nicht unmittelbar in einer Form der narrativen Metalepse. Vgl. zu den hier verwendeten Begrifflichkeiten u. a. Werner Wolf, »Metalepsis as Transgeneric and Transmedial Phenomena. A Case Study of the Possibilities of ›Exporting Narratological Concepts.‹« In: Jan Christoph Meister, Narratology beyond Literary Criticism 2005, S. 83– 107. 273 Monika Walter und George Yúdice folgend wird testimoniales Erzählen nicht als Gattungsoder Dokumentmerkmal betrachtet, sondern in historischer Begriffsbedeutung als »Erzählgestus«. Dabei ist zu betonen, dass die »Archäologie des Testimonio« im 16. Jahrhundert zu suchen ist, da es »zu einer bedeutenden Erzählmöglichkeit der zutiefst ungleichen, asymmetrischen Kulturbegegnung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten [wurde] und [a]uf diese Weise […] zu einem Paradigma der literarischen (Post-)Modernität aufgestiegen [ist].« Monika Walter, »Selbstrepräsentation des Anderen im Testimonio? Zur Archäologie eines Erzählmodus lateinamerikanischer Moderne«. In: Hermann Herlinghaus und Utz Riese, Sprünge im Spiegel. Postkoloniale Aporien der Moderne in beiden Amerika 1997, S. 21– 61. Hier: S. 35. George Yúdice, »Testimonio y concientización«. In: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana Año XVIII, No. 36, 1992, S. 211–232. 274 Siehe Michail Bachtin, The Dialogic Imagination 1983.

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Zusammenhang stehenden dargestellten Gewalt resultiert. Es bietet sich an, vom hier erprobten Verfahren der erzählerischen Vermittlung von Imaginarien des Bösen als Herstellung der Vorstellung durch einen entangled narrator zu sprechen, weil das Ineinanderfallen von Rahmen- und Binnenerzählung und das Einsetzen testimonialer Stimmen in die Bekenntnisse und durch den Ich-Erzähler Arturo Cova mit der histoire-Ebene zusammenwirken. Somit steht inhaltlich und formal eine textuelle Bewegung zur Diskussion, durch die das Erzählen im Raum mit der Raumerzählung als verflochten erscheint. Auf der histoire-Ebene eingebunden sind eine Reihe postkolonialer Begriffe des Bösen, die sowohl durch Narrative der kolonialen Eroberung als auch durch die Fiktionalisierung der caucherías und der damit hervorgebrachten Sklaverei zu identifizieren sein werden. Vom erzähllogischen Zusammenhang ausgehend, werden die folgenden Ausführungen dazu dienen, ihre gestaltende Funktion für die narrativ vermittelten Imaginarien des Bösen offenzulegen, denn La vorágine wird durch die Erzähllogik des entangled narrator über den narrativen Aufbau (post)kolonialer Imaginarien erzählt. Der Strom, Wirbel oder Sog der Bewegung als Trope der Tropen275 wird als gleichzeitig paradiesischer und infernaler Raum entsprechend topographisch, topologisch und darüber hinaus dynamisiert in Imaginarien des Bösen übersetzt und inszeniert. Der Herstellung der räumlichen Vorstellung wird dadurch Aufmerksamkeit zuteil, dass über ihre Vermittlung die thematische Darstellung der Sklaverei als Verflechtung von Begriffen und Bildern des Bösen erscheint.276 Aber nicht nur die mise en abyme ist dafür verantwortlich, dass die Welt, in der erzählt wird, enthalten ist in der Welt, von der erzählt wird. Das Epigraph zwi275 Vgl. Ottmar Ette, »Diskurse der Tropen, Tropen der Diskurse. Transarealer Raum und literarische Bewegung zwischen den Wendekreisen« 2009, S. 139–165. 276 Die Liste der literarischen Doppelgänger und/oder Wiedergänger für den Zeitpunkt der Veröffentlichung und den Zeitraum der Entstehung von La vorágine ist lang. Angefangen bei Heart of Darkness, wurde der Roman von der Forschung stets eingeordnet in ein transnationales Schema der novela de la selva, den Abenteuerroman der kolonialen Zeit bis hin zum Bildungsroman. Siehe Sylvia Molloy, »Contagio narrativo y gesticulación retórica en La vorágine«. In: Revista Iberoamericana 1987, Vol. III, No. 141 Oct.–Dec., S. 745–767. Hier S. 748. Mit Robert Müllers Roman Tropen (1915), von der neueren Forschung in die Reihe der Ästhetik des Bösen (Alt 2010) aufgenommen, verbindet La vorágine darüber hinaus eine biopolitische Lesart, die der Text ebenfalls in aktuellen Forschungen erfahren hat und die die Mischung von Sexualitäts- und Rassendiskursen untersucht (Eva Blome, Reinheit und Vermischung 2011). Zweifellos sind allein die literarischen Parallelen gerade dieser beiden Romane frappierend, sowohl was ihre Thematik als auch ihre erzählerische Umsetzung betrifft. Die Unterschiede zwischen beiden Romanen in der Perspektivierung der Erzählung des Bösen sowie der biopolitischen Verbindung der thematischen Auseinandersetzung liegen einerseits in der kolonialen Kontextualisierung (Tropen) und andererseits in der postkolonialen Verortung (La vorágine).

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schen dem fingierten Brief und dem Beginn von Covas Erzählen der Geschichte bricht mit der zuvor aufgebauten suspense, indem es offenlässt, was mit Cova und den caucheros geschieht und weil es bereits Informationen enthält, welche wiederum die eigentliche Erzählung erst hervorbringen und somit vorweggenommen werden: »[S] epan que el destino implacable me desarraigó de la prosperidad incipiente y me lanzó a las pampas, para que ambulara, vagabundo, como los vientos, y me extinguiera como ellos sin dejar más que ruido y desolación.«277 Diese textuelle und erzählerische Konstellation setzt einen Zirkulationsprozess in Gang, der sowohl wörtlich als zirkuläre Text-Bewegung vorzustellen ist als auch eine verflochtene erzählerische Situation darstellt, welche sich wiederum als textuelle Transgression im Sinne von Überschneidungen und Überlappungen bis hin zur Entgrenzung analysieren lässt.278 Arturo Cova erzählt, nicht obwohl er verschwunden ist; vielmehr erzählt er mit den Mitteln, die er hinterlassen hat. Sein Verschwinden schafft die Erzählung, und damit wird das Auslöschen zum Zeichen eines Schaffensprozesses, der Herstellung von Vorstellung. Die Rahmenerzählung des fiktiven Herausgebers, der den Namen des extradiegetischen und realen Autors trägt (José Eustasio Rivera), fällt in die Diegese Covas; Rivera als realer Autor macht sich zum fiktionalen Doppelgänger Arturo Covas, genauso wie Cova zum fiktiven Doppelgänger Riveras wird. Es stellt sich eine Bewegung (als Spiel) ein, deren Eindruck verstärkt wird durch den Umstand, dass Rivera in seiner Profession als Anwalt in der Grenzregion in diplomatischen Diensten stand und somit fiktionalisierte Erlebnisse und Erfahrungen mit der narrativen Erzählung verflicht bzw. diesen eine Rolle bei der Schaffung der Narrative der Erzählung verleiht. Die Erzählung Covas, als Manuskript zur Bearbeitung geschickt durch einen ebenso fiktiven Konsul Kolumbiens in Manaus, findet ihren Ort in der Welt, wobei im gleichen Zuge die Erzählung geweltet wird. Als erzählerisch verflochten erscheint damit die Repräsentation des Protagonisten, der versucht, ein Leben literarisch zu konstruieren, ebenso wie die Einführung eines Autors in das Erzählen, während dieser sein Werk verfasst. Die mise en abyme, in deren Zeichen La vorágine steht, ist somit kein autonommetafiktionales Spiel mit der Autorschaft, sondern wird als Hinweis der Narration auf Probleme der Souveränität gelesen. Diese problematisierte Souverä277 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 77. 278 Bereits Sylvia Molloy hat die Erzählkonstellation des Epigraphs in La vorágine als desborde, als »Entgrenzung« bezeichnet: »[E]l texto, prolijamento enmarcado, desborda; lo que apenas se menciona ›adentro‹ cobra existencia y encuentra su letra ›afuera‹. El encuadre que procuraba una verosimilitud narrativa, la realidad del documento, borra límites y contamina espacios: señala no sólo el carácter indudable ficcional de lo escrito, sino el desdoblamiento […] de la voz narrativa.« Dies., »Contagio narrativo y gesticulación retórica en La vorágine«. In: Revista Iberoamericana 1987, Vol. III No. 141 Oct.–Dec., S. 745–767. Hier: S. 748.

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nität wird von der Position und der Vermittlung durch den Ich-Erzähler auf die Ebene der Diegese übertragen und dort fortgeführt. Die Ich-Erzählung bestimmt La vorágine; doch zugleich ist die Erzählung durchwoben von Stimmen und Figuren, die dieses Ich aus dem Zentrum des Erzählens drängen. Wenn (erzähltheoretisch) davon ausgegangen wird, das Ich sei niemals ganz bei sich, so ist das Ich des Protagonisten, Poeten und Autors Arturo Cova von Beginn an hinterfragt oder zumindest problematisiert, und die Souveränität wird auf gleich mehreren Ebenen der erzählerischen Vermittlung begrenzt, entzogen oder annulliert. Der entangled narrator bringt durch die zeitliche und räumliche Strukturierung von Epilog, Epigraph und Prolog eine Erzählung mit mehreren Ebenen hervor. Eingeschoben, und erst später als Wechsel des Erzählens zum Berichten und damit auch zu der von Cova referierten Erzählung erkennbar, sind Übergangsräume, die einen Wechsel des Erzählens nicht unmittelbar offenlegen, sondern erst im Verlauf der Geschichte offenkundig werden lassen. Ein solcher Übergangsraum ist besonders stark markiert in der letzten der eingeschobenen Erzählungen, in der Ramiro Estévanez von Massakern berichtet, die von general Funes an Sklaven der caucho-Gewinnung begangen wurden.279 Im Hinblick auf das Sujet der Sklaverei ist dieses Beispiel bezeichnend, da eine Vielzahl der Übergangsgeschichten nicht nur von la selva, sondern von der Dehumanisierung in den caucherías handelt. Das Sujet Sklaverei wird damit auch zum Kompositions- oder Verflechtungsprinzip der Erzählung. Neben der Erzählerstimme von Ramiro Estévanez lassen sich ab dem zweiten Teil, gleichbedeutend mit der Aufnahme der Verfolgung Barreras, die mit dem Motiv der Rache begründet wird und den Eintritt in la selva markiert, die Stimmen von Helí Mesa und Clemente Silva identifizieren.280 Gerade bei ihnen ist die Möglichkeit, auf der Narrations-Ebene vom entangled narrator zu sprechen, hilfreich, weil ihre Positionen, oder auch ihre loci of enunciation, als vertauscht erscheinen. Der zweite Teil beginnt mit einem Anruf der selva, der die Anklage 279 Vgl. José Eustasio Rivera, La vorágine, S. 347f.: – […] Dígale a su paisano que le cuente las matazones. [Stimme von el Váquiro] ‒ Ya me las contó. Ya las anoté. [Stimme von A. Cova] *** En el pueblecito de San Fernando, que cuenta apenas sesenta casas, se dan cita tres grandes ríos que lo enriquezen […]. Todos aquellos ríos presenciaron la muerte de los gomeros que mató Funes el 8 de mayo de 1913. Fue el siringa terrible – el ídolo negro – quién provocó la feroz matanza. […] Y no pienses que al decir Funes he nombrado a persona única. Funes es un sistema, un estado de alma, es la sed de oro, es la invidia sórdida. [Stimme von R. Estévanez] 280 Vgl. ebd., S. 190: »[T]ras las huellas de una mujer me arrastré por montes y desiertos, en busca de la Venganza, diosa emplacable que sólo sonrié sobre las tumbas.« Und: »Pero yo era la muerte y estaba en marcha.« Ebd., S. 222.

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und Bewunderung ihrer Erhabenheit gleichsam zusammenfasst. Der dritte Teil der Geschichte beginnt mit einem überschwänglichen Monolog, der Clemente Silva zugerechnet werden kann, jedoch inhaltlich sowie rhetorisch an Arturo Cova, insbesondere zu Beginn des zweiten Teils, erinnert.281 ¡Yo he sido cauchero, yo soy cauchero! Viví entre fangosos rebalses, en la soledad de las montañas con mi cuadrilla de hombres palúdicos, picando la corteza de unos árboles que tienen sangre blanca, como los dioses. […] Esclavo, no te quejes de las fatigas; preso, no te duelas de tu prisión: ignoráis la tortura de vagar sueltos en una cárcel como la selva cuyas bóvedas verdes tienen por fosos ríos inmensos.282

Auch die formal eingeschriebene Oralität, insbesondere mittels Darstellungen direkter Rede der Figuren, der eingeschobenen und eingefügten Erzählungen in Form von Berichten ebenfalls unterschiedlicher Figuren (wie Clemente Silva in Teil 2, Helí Mesa ebenfalls in Teil 2 und Ramiro Estévanez im 3. Teil), macht das Erzählen, welches das Erzählen als solches ausstellt, als ein Gebilde sichtbar, das auf einer Vielzahl von Ebenen die eigentliche Handlung erst performativ hervorbringt.283 Das Erzählen des Geschriebenen (durch den Herausgeber Rivera) und das Schreiben des Erzählten (durch Arturo Cova) erlauben in der Anlage des Textes den Zugang zur Welt und zu ihrer Herstellung. Auf diese Weise werden die erzählerische Verflechtung sowie die von Narration und Narrativ vollzogen. Die Einverleibung fremder Stimmen, die die Narration in Manuskriptform darstellt, und die Aneignung modernistischer Traditionen, die die Lyrik der Ästhetik des Fin de Siècle in Prosa übersetzen, können im Sinne Carlos Jáureguis als Anthropophagie gelesen werden. Narration und Ästhetik der Geschichte etablieren La vorágine damit als postkoloniale Erzählung, die nicht nur inhaltlich die Imaginationen kolonialer Narrative aufgreift und verarbeitet, sondern auch auf Vermittlungsebenen der narration dekontextualisierte, neue Werte bildet, die als Imaginarien des Bösen zu untersuchen sind. Mit der Einverleibung und dem ›Verschlingen‹ – nicht nur symbolischer und moralischer Positionen innerhalb der Fiktion, sondern der transgressiven Struktur des Erzählens – ist gleichfalls die diskursive Bedeutung angesprochen. Auf diese Weise wird eine Nähe zum Text 281 Zum Beginn des zweiten Teils siehe Kapitel 5.2. Vgl. auch ebd., S. 189f. 282 Ebd., S. 287ff. 283 »La complejidad narrativa del texto coviano […] va más allá de sus relatos intercalados es un elaborado tejido de densidad lingüística que incorpora no solamente una variedad de estilos literarios sino también una multitud de dialectos e ideolectos para los cuales la voz de Cova sirve de marco autorial. […] Como narrador testigo de los llanos y la selva y como escritor de un texto que encarna su voz autorial, Arturo Cova integra en las suyas las voces, los estilos y las visiones del mundo de sus andreigos errantes […].« Vicky Unruh, »Arturo Cova y La vorágine: la crisis de un escritor«. In: Revista de Estudios Hispánicos, Jan. 1 1987, 21, S. 49–60. Hier: S. 54f.

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von La vorágine erreicht, die in der Geschichte (und speziell ihrem Ende, dem Epilog) angelegt ist. Der von Rivera in seiner Funktion als fiktiver Herausgeber vorgetragene Ausruf des Epilogs – »¡Los devoró la selva!« – findet somit in der formellen Anthropophagie eine Entsprechung.284 Die mise en abyme gibt dem (auto)diegetischen Erzähler Cova die Möglichkeit, sich selbst zu einem figuralen Teil des Erzählens und damit der Fiktion zu machen, indem er ein imaginäres Ich entwirft. Dieses imaginäre Ich Arturo Cova, welches schreibend die Beobachtungen seiner Beobachtungen als Dichter sowie die Beobachtungen anderer Figuren in der Erzählung zusammenbringt, hinterlässt ein metafiktionales testimonial, welches wiederum gebunden ist an die rhetorisch charakteristische Form der Beichte in der Ich-Perspektive.285 Va para seis semanas que, por insinuación de Ramiro Estévanez, distraigo la ociosidad escribiendo las notas de mi odisea, en el libro de Caja que el Cayeno tenía sobre su escritorio como adorno inútil y polvoriento. Peripecias extravagantes, detalles pueriles, páginas truculentas forman la red precaria de mi narración, y la voy exponiendo con pesadumbre, al ver que mi vida no conquistó lo trascendental y en ella todo resulta insignificante y perecedero.286

Unter Berücksichtigung dieser Form erzählerischer Inszenierung und der Tatsache, dass Arturo Cova als Dichter in Erscheinung tritt, der im Verlauf des Schreibprozesses und seiner Erfahrungen von Gewalt und Grausamkeit die Beziehung zwischen dem Schreiben und Verschriftlichung als Praxis und Thema offenlegt, wird ersichtlich, dass La vorágine durch das Erzählen »as a text where poiesis is a major concern«287 erscheint. Die damit gewonnene Ebene der (Selbst-)Beobachtung erscheint letztlich als eine Form entgrenzter Souveränität und entspricht den Merkmalen des IchErzählers288 als metafiktionalem Erzähler, der durch sein Verschwinden, und 284 »En la escena caníbal, el cuerpo devorador y el devorado, así como la devoración misma, proveen modelos de constitución y disolución de identidades.« Siehe zum Konzept der antropofagia Carlos Jáuregui, Canibalia. Canibalismo, calibanismo, antrofagia cultural y consumo en América Latina 2005, S. 11–63. Hier: S. 11. 285 Siehe Martin von Koppenfels, »Infame Erzähler, unmögliche Stimmen« 2015, S. 20f. 286 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 345 [Hervorhebungen M. L.]. 287 Carlos J. Alonso, The Spanish American Regional Novel 1990, S. 148. Auch Vicky Unruh merkt an: »[L]a preocupación por la escritura sirve como marco de la narración; constituye su prólogo y su epílogo.« Dies., »Arturo Cova y La vorágine: La crisis de un escritor« 1987, S. 50. Siehe auch Alejandro Mejías-López, »Textualidad y sexualidad de la selva: genealogías discursivas en La vorágine de José Eustasio Rivera«. In: MLN, Vol. 121, No. 2 Hispanic Issue 2006, S. 367–390. 288 »Der Akt des sich selbst Erzählens bringt dies [das Problem des Personalpronomens der 1. Person, das niemals ganz, niemals abgeschlossen sein kann] zutage, indem er zeigt, wie ein Ich in sich selbst von sich selbst fortgetragen wird. Und zwar gerade dadurch, dass es versucht, diesem Prozess im Akt des Sich-Selbst-Erzählens einzufangen.« Martin von Koppenfels, »Infame Erzähler, unmögliche Stimmen« 2015, S. 18.

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damit durch seine Selbstinszenierung als Leerstelle, erst zur Entstehung seines Narrativs verhilft. Ebenso wenig, wie José Rivera Arturo Cova ist, kann auch Cova letztlich nicht in Cova als Figur und Erzähler aufgehen, obwohl er sich als Erzähler inszeniert, weil sein Bericht zugleich ein vielstimmiges Bekenntnis bildet. Die durch die Kombination beider Erzählstrategien – Ich-Erzählung und metafiktionale Erzählung – erreichte Position des entangled narrator bindet die Entgrenzung nicht allein an die Fiktion, sondern lässt durch die Zirkulation – »la red precaria de mi narración« in den Worten Covas – alle Elemente des Erzählens und des Erzählten damit in Berührung kommen. An dieser Stelle kann bereits festgehalten werden, dass diese bewegliche Position auch eine schwankend unschlüssige Perzeption und Perspektive des Erzählens ergibt, die unmittelbar an den Raum der selva gebunden ist. In der mise en abyme wird la selva wörtlich zum Schreibtisch und damit gleichermaßen zum Ort und Raum des Schreibens für Cova, der als Poet Bogotá verlässt und dem es im Nachgang seiner eigenen Erfahrungen gelingt, in Worte und Form zu bringen, was zuvor als Matrix der Beobachtung und des Schreibens notwendig erschien, sich aber in la selva als nutzlos erweist: ¿Cuál es aquí la poesía de los retiros, dónde están las mariposas que parecen flores traslúcidas, los pájaros mágicos, el arroyo cantor? ¡Pobre fantasía de los poetas que sólo conocen las soledades domésticas! ¡Nada de ruiseñores enamorados, nada de jardín versallesco, nada de panoramas sentimentales! Aquí, los responsos de sapos hidrópicos, las malezas de cerros misántropos, los rebalses de canos podridos. Aquí, la parásita afrodisíaca que llena el suelo de abejas muertas; la diversidad de flores inmundas que se contraen con sexuales palpitaciones y su olor pegajosos emborrachan como una droga. […] Aquí, de noche, voces desconocidos, luces fantasmagóricas, silencios fúnebres. Es la muerte, que pasa dando la vida.289

Sämtliche Posen des Dichters und der Dichtung erweisen sich letztlich nicht nur als nutzlos, sondern geradezu als falsch und unbrauchbar für eine dichte Beschreibung. Dennoch werden in der niedergeschriebenen Odyssee diese Posen aufgegriffen und gleichzeitig angesprochen als Unmöglichkeit, eine eindeutige und harmonische Dichtung hervorzubringen, weil Cova weiter an dieser orientiert zu sein scheint: »[D] istraigo la ociosidad escribiendo las notas de mi odisea,

289 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 296f. Das Zitat verdeutlicht zudem eine zusätzliche Ebene der metafiktionalen Rahmung des Erzählens von La vorágine und hebt die »entgrenzte Souveränität« hervor, die textimmanent zum Ausdruck kommt. Denn das Zitat ist zusätzlich lesbar als Kommentar auf das poetische Projekt von Tierras de promisión, Riveras erstem Gedichtband. Siehe dazu Carlos J. Alonso, insbes. S. 153–162. »Rivera’s first work […] was the perfect synthesis of this poetic program, its attempt to textualize the entire geography of Colombia in a series of carefully crafted sonnets was a reaffirmation of modernista theories of composition adapted to the new thematic environment.« Ders., The Spanish American Regional Novel 1990, S. 153.

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en el libro de Caja que el Cayeno tenía sobre su escritorio como adorno inútil y polveriento.«290 Denn es ist, materiell betrachtet, gerade der verzierte und ungenutzte Schreibtisch – ungenutzt in den caucherías –, der das Schreiben erst ermöglicht. Auch entsteht die Erzählung Covas nicht im gewaltsamen Exzess, obwohl dieser ein immer stärker werdendes Thema seiner Erzählung wird. Das Erzählen ist motiviert von der ociosidad, welche als (Form des) ennui zu verstehen ist, und der Absicht, seinen alten Freund Ramiro Estévanez zu beeindrucken, den er in den caucherías wiedersieht: »Erraría quien imaginara que mi lápiz se mueve con deseos de notoriedad […]. No ambiciono otro fin que el de emocionar a Ramiro Estévanez.«291 Betrachtet man den Beginn der Geschichte, die Covas »Odyssee« (odisea) einleitet – »Antes que me hubiera apasionado por mujer alguna, jugué mi corazón al azar y me lo ganó la Violencia«292 –, erscheint die ociosidad, die den Prozess des Schreibens begleitet und trägt, angesichts des im Verlauf der Erzählung zusammengetragenen imaginären Ichs als Kontrapunkt zum darin vorgestellten Scheitern.293 Von der ersten Anrede Covas – »¡Oh poeta!« – bis zum »Nachlass«, der Clemente Silva,294 dem personifizierten »milden Wald«, übergeben wird, durchläuft die Selbstbeobachtung des testimonios Covas vielschichtige Identifikationsschemata.295 Dieses vielschichtige imaginäre Ich vereint »el amor ideal«296 mit der »venganza«,297 »la libertad del espíritu«298 mit der 290 291 292 293

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José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 345. Ebd. Ebd., S. 79. Die ociosidad und pesadumbre Covas als suchender und klagender Dichter lassen sich mit Julia Kristeva auch als Melancholie übersetzen, d. h. als Wunsch nach der Wiederherstellung von Harmonie zwischen Zeichen und Dingen, die laut Kristeva nach einer Verlusterfahrung auftritt. Siehe Julia Kristeva, Black Sun. Depression and Melancholia 1989, S. 6ff. »Casi todos los nombres de los personajes de La vorágine tienen significado dentro del texto. La conexión directa entre Clemente Silva y la selva (silva en latín) es una de las más notables y, sin duda, refuerza la conexión que la novela establece entre la violencia ejercida sobre el personaje y la establecida sobre el espacio selvático, así como la ›clemencia de ambos‹.« Alejandro Mejías-López, »Textualidad y sexualidad de la selva« 2006, S. 369. »Aquí, desplegado en la barbacoa, le dejo este libro, para que en él se entere de nuestra ruta por medio del croquis, imaginado, que dibujé. Cuide muchos esos manuscriptos y póngalos en manos del Cónsul. Son la historia nuestra, la desolada historia de los caucheros. Cuánta página en blanco, cuánta cosa que no se dijo!« José Eustasio Rivera, La vorágine, S. 383f. Vicky Unruh stellt die Wandlungen Covas dar und weist akribisch auf Brüche im Prozess dieser Wandlungen hin: »El escritor Arturo Cova: poeta maldito, ensisismado, conocedeor de todas la pasiones, predestinado a lo extraordinario; por otra parte, narrador-intérprete, geógrafo del conocimiento, guía para el lector a través de una vorágine de personajes, lenguas y presenciasculturales, de injusticias y atrocidades.« Vicky Unruh, »Arturo Cova y La vorágine: La crisis de un escritor« 1987, S. 49–60. Hier: S. 59. José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 79. Ebd., S. 189. Ebd., S. 79.

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Transzendenzlosigkeit und -abwesenheit, die Gewalt mit der Eloquenz des »discurso lírico«299. Die Erfahrung des Leids (»pesadumbre«) bringt das erzählerische Gewebe (»la red […] de la narración«) hervor und wird als Beobachtung von Beobachtung niedergeschrieben, um die Sinn- bzw. Bedeutungslosigkeit darzustellen, die hinter der Annahme einer eroberungswürdigen Transzendenz (»no conquistó lo trascendental«) der Dinge vermutet, doch vor allem in der selva verortet wird. Die Erfahrung des Leids dekonstruiert damit auch die Erhabenheit des Künstlers oder Dichters (poeta) und verhindert seine Gleichsetzung mit einer Vorstellung der Erhabenheit der Gewalt.300 Die Gewalt (»la Violencia«) ist dabei sehr wohl als ästhetische Pose von Cova, als (selbst) imaginierte Künstlerfigur, erkennbar, aber sie allein reicht nicht aus, um die Imaginarien des Bösen als Vorstellungsraum und Raum der Vorstellung zu ergründen. Das Übergleiten vom ›erzählenden Ich‹ zum ›erzählten Ich‹ hat als Erzählen von und im Raum eine erzählpraktische und -theoretische Bedeutung und findet seine Entsprechung in der Figuration von Narrativen, die La vorágine insgesamt als eine Raumerzählung modellieren. Im folgenden Kapitel wird der Weg nachzuzeichnen sein, welcher zeigt, wie beide narrativen Strategien ineinandergreifen und in der Diegese zu Bestimmungen von Imaginarien des Bösen führen, die auf einen interamerikanischen literarischen Verflechtungsraum schließen lassen.

5.2

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Der zuvor nachvollzogene erzähllogische Aufbau von La vorágine findet seinen Ausdruck sowohl in der topologischen als auch in der topographischen Gestaltung als Erzählung von Tropen, welche (zunächst allegorisch) für die Konfiguration der Imaginarien des Bösen stehen. Die Erzählung von Raum und die Raumerzählung sind damit an jener Doppeldeutigkeit ausgerichtet, die die Tropen rhetorisch als »Wende«301 beschreibt und als in der Fiktion re-figurierten Raum der Imagination darstellt. Wie aus dieser erzählerischen Wendung Ima299 Ebd., S. 319. 300 Die Imagination der Erhabenheit der Gewalt erscheint vielfach in der Erzählung. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf Covas Beobachtung des »bello morir«, die er als Augenzeuge beim Ertrinken zweier indígenas macht. Nachdem ihr Kanu gekentert ist, werden diese lautlos von einem Wassersog in den Tod gerissen. Vgl. ebd., S. 233. 301 Vgl. Ottmar Ette, »Diskurse der Tropen – Tropen der Diskurse: Transarealer Raum und literarische Bewegungen zwischen den Wendekreisen«. In: Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn 2009, S. 139–165.

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ginarien des Bösen abzuleiten sind bzw. wie diese durch den Einsatz weiterer Tropen/Wendungen befördert werden, ist zum einen vor dem Hintergrund des entangled narrator zu untersuchen. Bisher wurde insbesondere die mise en abyme zur Bestimmung der Position dieses Typus des Erzählers zum Erzählten herangezogen. Es wird weitere Beobachtungen brauchen, um die Möglichkeiten des Erzählers in Relation zu den Imaginarien des Bösen in La vorágine zu spezifizieren. Zum anderen werden Aussagen zu Imaginarien des Bösen in Ergänzung zu den bereits gemachten Erläuterungen zu den Darstellungen und Beobachtungen des Erzählten im Hinblick auf Verarbeitung einer Vielzahl von Narrativen, die La vorágine durchqueren, zu gewinnen sein. Die Trope des Kannibalismus (devoración), die für das Erzählen selbst bereits in Anspruch genommen wurde, wird auch in der folgenden Annäherung an die Imaginarien des Bösen eine Rolle spielen, die durch die Klärung des Einsatzes narrativer Modelle in La vorágine ihre Inszenierung untersuchen möchte. Dazu zunächst Carlos Jáuregui: »Y así como el tropo caníbal ha sido signo de la alteridad de América y ha servido para sostener el edificio discursivo del imperialismo, puede articular – como en efecto ha hecho – discursos contra la invención de América y el propio colonialismo.«302 Die Tropen des Konsums, der Aneignung und des Kannibalismus sind nicht nur als Dispositiv des Bösen eingesetzt, sondern stellen gleichfalls einen Bedeutungsraum der Imaginarien des Bösen zur Verfügung, die als koloniales Residuum dynamisch und illustrativ Begriffe und Bilder des Bösen entwickeln lassen, die wiederum seit der Eroberung der Amerikas bestehen, d. h. seit dem Beginn der Kolonialität der Amerikas.303 Die Erzählung von La vorágine setzt an der von Jáuregui beschriebenen Ambivalenz der antropofagia bereits im Titel an, um diesen Bedeutungsraum auch topographisch als Raum des Bösen in Form der selva inhumana – des Waldes, Dschungels – zu vermitteln. Dadurch wird der Wald zum Raum der Ausbeutung und der Entgrenzung – und damit zu einem Typus des Lagers (caucherías), in den die Metaphorik des (Über-)Lebens für Imaginarien des Bösen eingeschrieben wird. Die Geschichte beginnt neben der bereits erläuterten mise en abyme gleichfalls im Modus des Melodrams. Dieser Modus ist aus der theatralischen, normativhierarchischen und intriganten sozialen Konstellation abzuleiten, die nicht nur den Beginn der Erzählung markiert, sondern das Erzählen antreibt und die Ebene der sexuellen Imaginationen mit jenen der Macht als zentral für den Text festlegt. Alicia, von ihrer Familie einem reichen Latifundisten versprochen, lernt 302 Carlos Jáuregui, Canibalia. canibalismo, antroprofagia cultural y consumo en América Latina 2005, S. 13. 303 Siehe dazu aus historiographischer Perpektive insbes. Jorge Cañizares-Esguerra, Puritan Conquistadors. Iberianizing the Atlantic 1550–1700 2006.

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Arturo kennen. Alicias Familie, unterstützt von der Kirche und einem Anwalt, will die junge Frau verheiraten und/oder Arturo festnehmen lassen. Unter dem Vorwand, sie nicht verlassen zu wollen, unterbreitet Arturo Alicia den Vorschlag, aus Bogotá zu fliehen. Beide verlassen die Stadt und Alicia, infolge der Inszenierung einer weiteren Flucht, verschwindet daraufhin mit Barrera und Griselda. Daraufhin beginnt Arturos Suche nach Alicia. Arturo ist selbst ebenfalls mehr vor der drohenden Inhaftierung auf der Flucht, anstatt das gemeinsame Verschwinden aus Bogotá als ein Entkommen vor dominanten Normen sozialer Klassen zu betrachten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Erzählung wird Arturo gewahr, dass Alicia schwanger ist. Alicias vermeintliche Schwäche – oft melodramatisch markiert durch den Hinweis auf ihr ständiges Weinen, durch welches der autodiegetische Erzähler Cova Alicia charakterisiert – wird durchquert von eigenen Motiven zur Flucht aus Bogotá und der dynamischen Geschichte ihrer Flucht/Entführung, von der er nicht zuverlässig, sondern nur in Form seiner eigenen Projektionen erzählen kann. Die melodramatische Imagination bzw. der Modus des melodramatischen Erzählens ist in dieser Hinsicht passend, vermag er doch in seiner Funktion eine Affirmation der Existenz eines moralischen Regimes der Welt zu ermöglichen.304 Dieser Modus wird jedoch in der Folge nicht zur Anleitung eines dominanten Narrativs in La vorágine. Dieser Ausgangspunkt wird mit jeder Bewegung in Richtung la selva abgebaut, wodurch auch das vermeintlich feste moralische Regime und seine normgebenden Narrative als verbraucht erscheinen. Die direkte Charakterdarstellung, die fast archetypische Vorstellung von Figuren, ist vielmehr dem melodramatischen Modus geschuldet, welcher das Erzählen vorantreibt. Wie das folgende Beispiel zeigt, betrifft dies die Dialogfolge und im Übergang Covas (retrospektive) Sicht auf das stereotype Handeln Alicias als Reaktion auf seine Eifersucht: – De dónde salió este sujeto? – dije en tono brusco, encarándome con Alicia, apenas quedamos solos. – Llegó a caballo por aquella costa y la niña Grisela lo pasó en la curiara. – Tú lo conocías? – No. – Te parece interesante? – No. – Resuelves aceptar el perfume? – No. – ¡Muy bien! ¡Muy bien! Y rapándole el frasco del bosillo del delantal, lo estrellé con furia en el patio, casi a los pies de la niña Griselda que regresaba. – ¡Cristiano, usté tá loco, usté tá loco!

304 Siehe Peter Brooks, The Melodramatic Imagination 1995, S. 1–23.

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*** Alicia, entre humillada y sorprendida, abrió la máquina y empezó a coser.305

Sylvia Molloy weist zudem präzise darauf hin, wie die romantischen und modernistischen Klischees des ersten Teils der Erzählung als Zeichen gesetzt werden, die von Cova und durch die Edition des fiktionalisierten Rivera lediglich aktualisiert werden, um die idealisierte Version zu markieren, damit diese wirkungsvoller abgebaut werden kann.306 Während auf der einen Seite eine formelle lyrische Form des Erzählens des Dichters Cova zersetzt wird und sein Portrait als romantischer, dekadenter Dichter einer Transformation unterworfen ist, nimmt die Verdichtung von Gewalt stetig zu und entspricht damit der Spirale der Gewalt, die bereits im Titel bildhaft als Prinzip der Gewalt – das Verschlingen (vorágine, devoración als Zeichen des Konsums) und das Verschlungenwerden (Konsumiertwerden) – angedeutet wird. Bevor darauf genauer eingegangen wird, ist die Verflechtung weiterer Erzählmodi, Gesten und erzählerischer Strategien nötig, um die Entwicklung der Narrative des Bösen für die Imaginarien des Bösen herauszustellen. Dabei ist nochmals festzuhalten, dass La vorágine nicht allein la selva als eine Art Handlungsraum oder Sujet der Erzählung aufbietet, aus dem heraus das Böse für den Erzähler Arturo Cova allegorisch entsteht. Die Imaginarien des Bösen werden räumlich gebunden, indem Normen und Werte in la selva mit der Dynamik der Erzählung von Topographie und Topologie verschoben werden. In diesen Prozess der räumlichen Bindung ist der entangled narrator einbezogen und gleichzeitig ausgeschlossen. Die Flucht Arturo Covas und Alicias vor Klasse, Kirche und Staat beginnt in Bogotá, geht über die so genannten llanos, dreiteilig, hinab in den Wald und beschreibt eine Bewegung, die textuell einen Sog und in dieser Simulation Imaginarien des Bösen hervorbringt. So sind es in Bogotá Alicia und Arturo, die verschwinden, indem sie flüchten; in den llanos verschwindet Alicia, und beides setzt eine Suche in Gang, die wiederum in la selva – genauer in den caucherías – ihren Anfang hat und die Verschriftlichung des Manuskriptes initiiert, welches dann zurückbleibt, weil sich die Spuren von Cova und Alicia in la selva verlieren. Die Geschichte des Verschwindens ist dazu mittels des Prologs politisch gerahmt und entspricht somit auch dem Beginn der Erzählung, der stets die gesellschaftliche Verortung der Figuren betont.307 Dieser politische Rahmen der 305 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 116f. 306 Vgl. Sylvia Molloy, »Contagio narrativo« 1987, S. 751f. 307 José Eustasio Rivera als fiktiver Herausgeber gibt sich nicht nur als »ergebener Diener des Ministers« – »Su Señoría« – zu erkennen; das Manuskript selbst ist an den »Consúl del Ministerio de Colombia en Manaos« adressiert und von diesem zur Bearbeitung zurückgesandt worden. Zu den Zusammenhängen von Populismus, patria und Politik in La

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histoire steht ebenfalls ganz im Zeichen der Flucht und des Verschwindens. Hinzu kommen die Strukturmerkmale der Kriminalgeschichte, die mit der Suche, initiiert durch Alicias und Griseldas Verschwinden/Flucht, beginnt. Zusätzlich wird die Geschichte damit überführt in den Modus des Abenteuerromans, der wiederum durch das Erzählen ethnographische Züge annimmt,308 die Erzählung endet im Modus von Tagebucheinträgen,309 um dann die Knappheit von Telegrammen nachzuahmen.310 Was alle strukturbildenden Erzählmodi oder Gesten gemein haben, ist ihre diskursive oder qua Form eingeschriebene Bezugnahme auf Räume des Übergangs bzw. liminale Räume, die dann Bilder von Landschaft entwickeln, in der das Erzählen stattfindet. Auf diese Weise wird la selva als Text entworfen, in dem Raumerzählen und die Erzählung von Raum zusammenfallen bzw. miteinander verflochten werden. Erzählerische Übergangsräume, welche bereits in Kapitel 2.1 zur Herleitung des entangled narrator gebraucht wurden, sind auch innerhalb des ersten Teils markiert und helfen, die narrativen Verflechtungen in La vorágine im Hinblick auf die Imaginarien des Bösen herauszustellen. So sind Vorkommnisse, zwischen denen erst im Verlauf der Geschichte ein erzähllogischer Bezug hergestellt wird, oder solche, die mit und nach Eintritt in la selva Anteil an Imaginationen des Bösen haben, bereits im ersten Teil präfiguriert, der im Handlungsraum der llanos entwickelt wird. Der Sog der Gewalt wird somit motivisch, bildlich, metaphorisch und erzählerisch initiiert. Auf der Flucht vor den Autoritäten gelangen Arturo und Alicia durch die sogenannten llanos zum Haus von Fidel Franco, genannt La Maporita. Bereits in den llanos ist der Raum der selva als Versprechen und Verheißung angelegt. Damit wird zunächst ein positives Bild der selva aufgebaut, das gleich zu Beginn des zweiten Teils konterkariert wird, da dieser Raum aus der Retrospektive sowohl als sakral und zugleich moralisch korrumpiert beschrieben wird. Wichtig bleibt zunächst festzuhalten, dass die llanos de Casanare als »punto liminar, […] en el umbral de la selva«311 beschrieben werden und gleichzeitig ein Bild dessen vermittelt wird, was die Erzählung erst später offenlegt: In der Fotografie, auf die sich Griselda bezieht, um Cova über die Verheißungen der Arbeit auf den Plantagen in la selva (den caucherías) zu informieren, sind somit bereits eine

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vorágine siehe Doris Sommer, Foundational Fictions. The National Romances of Latino America 1991, S. 257–272. So, wie viele der Szenen, die bei Beginn der Suche in la selva den Beschreibungen von Ritualen und dem Alltag der indígenas gewidmet werden: »Afluyeron al baile más de cincuenta indios, de todo sexo y edad, pintarrajeados, y fueron amojoñandose en la abierta playa, con las calabazas de hervidora chicha.« José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 209. Ebd., S. 369: »Hoy escribo estas páginas en el Río Negro […]. Desde ha tres semanas, […] huimos de las barracas del Guaracú.« Vgl. ebd., S. 380–384. Siehe Silvia Molloy, »Contagio narrativo« 1987, S. 495.

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Vielzahl von Narrativen verflochten, die im Verlauf des Erzählens in allen weiteren Teilen wieder aufgegriffen werden, um dann selbst die Momente des Umschlagens von Gut und Böse zu thematisieren. Das Bild der caucherías wird in den llanos zunächst positiv mit dem Narrativ von El Dorado verbunden, indem es unbegrenzten Reichtum und Überfluss verspricht; erst im dritten Teil spricht Estévanez in einem Streit mit Cova wörtlich vom »el Dorado«312, und dies in einem Zusammenhang, der auch in der Erzählchronologie längst das anfangs positive Bild durch die Erzählungen Clemente Silvas und Helí Mesas von Sklaverei, Verrat und Massakern gebrochen hat. Cova fasst diese Erfahrungen dann wieder selbst zusammen: La servidumbre en estas comarcas se hace vitalicia para esclavo y dueño: uno y otro deben morir aquí. Un sino de fracaso y maldición persigue a cuantos explotan la mina verde. La selva los aniquila, la selva los retiene, la selva los llama para tragárselos. Los que escapan, aunque se refugien en las ciudades, llevan ya el maleficio en cuerpo y en alma. Mustios, envejecidos, decepcionados, no tienen más que una aspiración: volver, volver, a sabiendas de que si vuelven perecerán. Y los que se quedan, los que desoyen el llamamiento de la montaña, siempre declinan en la miseria, víctimas de dolencias desconocidas, siendo carne palúdica de hospital, entregándose a la cuchilla que les recorta el hígado por pedazo, como en pena de algo sacrílego que cometieron contra los indios, contra los árboles.313

Dazwischen wird das Bild der caucherías als El Dorado gleich mehrfach gebrochen und von Narrativen durchquert, die die Faszination der Herrschaft bekunden und widersprüchliche Positionen vereinen – und damit la selva als guten und bösen Raum besetzen: »No obstante es el hombre civilizado el paladín de la destrucción. Hay un valor magnífico en la epopeya de estos piratas que esclavizan a sus peones, explotan al indio y se debaten contra la selva.«314 Eine weitere Verflechtung von Erzählebenen ist am Ende des ersten Teils im Übergang zum zweiten Teil auszumachen. Alicia und Griselda sind in der Abwesenheit Covas und Francos aus La Maporita verschwunden; die Männer wissen nicht, ob sie von einer Entführung oder Flucht ausgehen sollen, während später ersichtlich wird, dass sie aus freien Stücken Narciso Barrera gefolgt sind. An dieser Episode der Flucht und des Verrats entspinnt sich jenes Motiv der Suche bzw. der Verfolgung – der entangled narrator vermag beides als ko-präsente Möglichkeiten aufzubauen –, die in la selva und die später in die caucherías führen. Dieses doppelt besetzte Motiv ergibt sich erzähllogisch insbesondere aus dem Brand, den Fidel Franco an seinem eigenen Haus, La Maporita, legt. Da dies nicht näher erläutert wird, bleibt erzähllogisch zunächst unklar, warum der 312 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 337. 313 Ebd., S. 355. 314 Ebd., S. 297.

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Brand gelegt wird. Er führt jedoch, und darin liegt die Möglichkeit des entangled narrator, zum Kommentar der Erzählung insgesamt, weil sich die Episode des Feuers narrativ einordnen lässt in die Beschreibung des Soges oder der Spirale der Gewalt und weil dieser Gewalt erzählerisch nicht nur das Potenzial der Zerstörung zugesprochen, sondern im zerstörerischen Akt der Beginn der Reiseerzählung angelegt wird. Nichts hält Cova und seinen Begleiter Franco in Casanare; beide sind flüchtig vor dem Gesetz,315 Franco wird als Deserteur gesucht und ist nun bereit, die Flüchtigen zu suchen, die jedoch als cautivas wahrgenommen werden. Mit dem Zusammenfall der Vorstellung von Alicia und Griselda als Flüchtige und Entführte erweist sich ihr Verschwinden als Hinweis auf die räumliche Dynamik der erzählerisch entwickelten Motive. Gerade das Bild der cautivas (Entführten) fügt sich in die Erhabenheit des Feuers, das Cova beschreibt, und den damit verbundenen Aufbruch in den erhabenen Raum von la selva.316 Entonces fue cuando Franco le prendió fuego a su propia casa. […] *** La lengua del fósforo hizo vibrar los flecos de la palmicha, abriéndose en ola sonante que llenó la comarca de resplandores cárdenos. […] A la manera de la víbora mapanare, que vuelve los colmillos contra la cola, la llamarada se retorcía sobre sí misma, ahumando la limpidez de la noche, y empezó a disparar bombas en la llanura, donde el viento – aliado luciferino – le prestó sus alas a la candela. […] La calurosa devastación campeaba en los pajonales de ambas orillas, culebreando en los bejuqueros, trepándose a los moriches […]. La devoradora falange iba dejando fogatas en los llanos ennegrecidos, sobre cuerpos de animales achicharrados, y en toda la curva del horizonte los troncos de las palmeras ardían como cirios enormes. El traquido de los arbustos, el ululante coro de las sierpes y de las fieras, el tropel de los ganados pavóricos, el amargo olor a carnes quemadas, agasajáronme la soberbia. […] ¡En medio de la llamas empecé a reír como Satanás!317

Neben dem offensichtlichen Schlangen-Vergleich, den Cova für das Feuer und die Zerstörung und letztlich für seine Suche und sein Verschwinden wählt, sind es 315 Im Verlauf der Erzählung wird klar, dass Fidel Franco als Deserteur gesucht wird. 316 »La pampa, la escena destinada por Sarmiento a las grandes transformaciones rioplatenses, no constituía en la tradición literaria decimonónica un único paisaje. El mismo espacio podía presentarse con acentos ominosos y sublimes, recurriendo a la inmensidad que metafóricamente podía dominarse desde los Andes, declinándola en el paralelo con el mar o el desierto, o animándola con el ›asunto‹ sublime por excelencia, el rapto de las cautivas.« Graciela Silvestri, »Paisaje con figuras en mundos opuestos: relaciones entre el Río de la Plata y América del Norte en los años de confirmación nacional«. In: Iberoamericana I, 4, 2001, S. 113–132. Hier: S. 121. Orientiert an Sarmientos Bildern der Landschaft, untersucht die Autorin klassische Topiken des Erhabenen und Pittoresken in Landschaftsdarstellungen der Amerikas, insbesondere Argentiniens. 317 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 186f.

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die expliziten Bilder christlicher Ikonographie, die hier ineinandergreifen und profaniert werden. Feuer, Tier und Mensch sind vereint im festlichen Akt einer sakralen Opferung. Die verschlingenden Flammen heben erneut die Trope des Kannibalismus (devoración) hervor, die insbesondere im espacio selvático Imaginationen des Bösen bedient und insgesamt auf la selva übertragen wird. Zweifellos kann die Beobachtung des von Franco gelegten Brandes als Konsequenz eines Verrats – durch Griselda und Alicia – gelesen werden, was auch die Hervorhebung der Schlange in der Beobachtung symbolisch einordnen lässt. Es entsteht in der Folge jedoch keine Geschichte um eine zu tilgende Schuld; viel wichtiger ist es hingegen, die wiederholte innere Logik der Darstellung der Beobachtung der Gewalt zu betonen, von der der Brand getragen wird. An dieser Stelle wird eine weitere detailliert beschriebene Szene der Gewalt angelegt, die mit dem Brand nicht erzähllogisch verbunden ist, die jedoch nachträglich einen direkten bildlichen Bezug zum Brand von La Maporita offenlegt: Aunque el asco, me fruncía la piel, rendí mis pupilas sobre el despojo. Atravesando en la montura, con el vientre al sol, iba el cuerpo decapitado, entreabriendo las yerbas con los dedos rígidos como para agarrarlas por última vez. Tintineando en los calcañales desnudos pendían las espuelas que nadie se acordó de quitar, y del lado opuesto, entre el paréntesis de los brazos, destilaba aguasangre el muñón del cuello, rico de nervios amarillos, como raicillas recién arrancadas. La bóveda de cráneo y la mandíbula que la sigue faltaban allí y solamente el maxilar inferior reía ladeado, como burlándose de nosotros. Y esa risa sin rostro y sin alma, sin labios que la corrigieran, sin ojos que la humanizaran, me pareció vengativa, torturadora, y aun al través de los días que corren me repite su mueca desde la ultratumba y me estremece de pavor.318

Nicht nur die detailreiche Beobachtung des Körpers von Millán, der enthauptet und zerfetzt aufgefunden wird – ein Stier hatte ihn während der Jagd tödlich verletzt und schlimm zugerichtet –, sondern die bereits angedeutete zerstörerische Gewalt, die ihren Sog von dieser Szene an entwickeln wird, ist in seinem grotesken Lächeln angelegt und wird kurz darauf in Covas Gesicht zurückkehren in der Beschreibung der risa satánica, des Lachens, welches ihn beim Brand des Hauses von Fidel Franco überkommt. Verbunden werden somit die plötzlich auftretenden Ausbrüche von Gewalt, groteske Körper und der Horror der präzisen Betrachtung. Was den Erzähler dabei meist kennzeichnet, ist sein Verweilen bei der Grausamkeit, um diese (möglichst) genau zu beschreiben, um von der Betrachtung einzelner Körperteile aus die Möglichkeit zu eröffnen, diese imaginär wieder zu einem Gesamtbild zusammenzutragen und -zusetzen. Sowohl der Tod von El Pipa zu Ende des dritten Teils als auch der erste gewaltsame Tod in der Geschichte, der Zubieta, einen Gefolgsmann von Fidel Franco, in La 318 Ebd., S. 179.

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Maporita trifft, illustrieren den Gebrauch dieser Gewalt in Bezug zum Erzählmodell. Bei Zubietas Tod und Folter bereits eingeschlossen ist auch ein direkter Bezug zu la selva, da ihm für die herausgerissene Zunge ein Blatt in den offenen Mund gelegt wird: Y tirándolo de la coyunda lo llevaba de rastra, entre las rechiflas de los gomeros, hasta que, furibundo, le cercenó los brazos con el machete, de un solo mandoble, y boleó en el aire cual racimo lívido y sanguinoso, el par de manos amoratadas. El Pipa, atolondrado, levantóse del polvo como buscándolas, y agitaba a la altura de la cabeza los muñones, que llovían sangre sobre el rastrojo, como surtidorcillos de algún jardín bárbaro.319 Viendo que Zubieta no se levantaba, desquiciaron la puerta de la cocina. Colgado por las muñecas en el lazo del chinchorro, balanceábase el vejete, vivo todavía, sin quejarse ni articular, porque en la raíz de la lengua le amarraron un cáñamo. […] [Y] el occiso fue sepultado en una de aquellas excavaciones […]. Y para mayor desgracia, tenían que cuidar ellos de que los marranos no revolcaran la sepultura, pues ya una vez había desenterrado un brazo del muerto y se lo tragaron entre horribles gruñidos.320

Nicht allein die Ausführung der Gewalt wird hier in die Nähe des Erzähl- und Textmodells von La vorágine gesetzt; es ist die Art und Weise der Beobachtung der Gewalt durch Cova, die das Erzählen, dessen Struktur und Textkörper simuliert, bei dem es erst um den Aufbau von Effekten und Wirkungen geht, um diese dann umso wirkungsvoller wieder abzubauen. Wie die beobachteten gefolterten Körper wird die Geschichte in der nachzeitlichen Beobachtung aus Einzelteilen hervorgebracht, die wieder kombiniert werden. Gewalt wird damit nicht bloß negativ als Effekt zersetzender Kräfte eingesetzt und vorgeführt; sie ist vielmehr lesbar als verbindendes Mittel der Beobachtung und damit der Erzählung.321 Die Motive der Gewalt – die groteske Ausstellung von Körpern und das Bild der verschlingenden Landschaft, die die Unterscheidung von Tod und Leben für den Erzähler erschwert bzw. das Leben in Tod übersetzt – werden mit dem Aufbruch zu den caucherías näher zu beschreiben und es werden das Wirken des entangled narrator sowie das entstehende Bild des Waldes als Verflechtungsraum in einem eigenen, textuellen Sinn näher herauszuarbeiten sein. La selva als Verflechtungsraum bietet zunächst die Möglichkeit, Imaginationen des Bösen im Sinne Teubers als Simulation und Alterität zu beschreiben. Mit Covas Diskurs über la selva zu Beginn des zweiten Teils, der als Schmähung und Ausdruck von Bewunderung gelesen werden kann, wird die Vorstellung eines Raumes angeboten, der das moralisch und auch das physisch Gute hervorbrin319 Ebd., S. 377. 320 Ebd., S. 184. 321 Gewalt ist damit auch mehr als eine »pose estética«, wie Sylvia Molloy sie beschreibt. Vgl. dies., »Contagio narrativo« 1987, S. 749.

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gen oder immer schon beherbergen kann. In der Bitte, dem Gebet, zugleich auch im Flehen, der Übertreibung und der Anklage in den Aussagen Covas erscheint dieses Böse zunächst simuliert. In der Simulation eines erhabenen Raums erscheint das Böse der selva als relationale Bezugnahme auf eine grundsätzliche Alterität. Diese Alterität wird nicht nur durch sakrale Elemente des Diskurses figuriert, sondern auch als Profanation realisiert, welche ästhetisch substanziell das Böse nachahmt.322 Das folgende Zitat aus La vorágine markiert den Beginn des zweiten Teils der Erzählung und fasst im lyrischen Ton den narrativen Entwurf eines vielschichtigen Raumes zusammen, dessen Dimensionen der Verflechtung zusammengebracht werden sollen: ¡Oh selva, esposa del silencio, madre de la soledad y de la neblina! ¿Qué hado maligno me dejó prisionero en tu cárcel verde? Los pabellones de tus ramajes, como inmensa bóveda, siempre están sobre mi cabeza, entre mi aspiración y el cielo claro que sólo entreveo cuando tus copas estremecidas mueven su oleaje, al ahora de tus crepúsculos angustiosos. ¿Dónde estará la estrella querida que de tarde pasea las lomas? […] Tú eres la catedral de la pesadumbre, donde dioses desconocidos hablan a media voz, en el idioma de los murmullos, prometiendo longevidad a los árboles impotentes, contemporáneos del paraíso, que eran ya decanos cuando las primeras tribus aparecieron y esperan impasibles el hundimiento de los siglos venturos. […] Tus multísonas voces forman un solo eco al llorar por los troncos que se desploman, y en cada brecha los nuevos gérmenes apresuran sus gestaciones. Tú tienes la adustez de la fuerza cósmica y encarnas un misterio de la creación. […] Déjame huir, oh selva, de tus enfermizas penumbras, formadas con el hálito de los seres que agonizaron en el abandono de tu majestad. ¡Tú misma pareces un cementerio enorme donde pudres y resucitas! ¡Quiero volver a las regiones donde el secreto no aterra a nadie, donde es imposible la esclavitud, donde la vida no tiene obstáculos y se encumbra el espíritu en la luz libre! […] Déjame tornar a la tierra de donde vine, para desandar esa ruta de lágrimas y sangre que

322 Das Erhabene lässt sich hier ebenfalls innerhalb der interamerikanischen Verflechtungsgeschichte als erzählerische Motivation und Rückgriff auf europäische und weitere amerikanische literarische Traditionen erklären. Autoren wie Rivera ging es auch wieder darum, precursores zu finden, also Vorbilder, anstatt sich von ihren Vorgängern ästhetisch abzusetzen. In La vorágine gelingt beides: die klare Orientierung an einer Ästhetik des Erhabenen und eine ironische Distanz, auch zum eigenen Werk, das im Zeichen des Erhabenen steht. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass in La vorágine ein locus of enunciation der Reiseliteratur und dabei ein koloniales Modell als Erzählmodell sichtbar wird. Wie Leslie Wylie anmerkt, ist dieses genauso ambivalent wie die imitierte Ästhetik des Erhabenen: »[…] as it equipped travellers not only with adjectival catch-all […], but also with the power to transform a vertiginious instantiation of Otherness into a source of self-edification.« Dies., »Colonial Tropes and Postcolonial Tricks« 2006, S. 734. Für Cova allerdings funktioniert diese Quelle des Erhabenen nicht als »Erbauung des Selbst«, wie Wylie betont; er geht in ihr auf und wird damit ein Teil seiner eigenen Beobachtung als stetiger Auf- und Abbau des Selbst, was ablesbar ist am Erzählen als metafiktionales Ich-Erzählen. Zur Rolle der precursores siehe Louis Parkinson Zamora, Usable Past 1995.

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recorrí en nefando día, cuando tras la huella de una mujer me arrastré por montes y desiertos, en busca de la Venganza, diosa implacable que sólo sonríe sobre las tumbas.323

Die Alterität der selva wird mit idealisierter, religiöser und orientalistischer Metaphorik bekräftigt, die immer auch in Vorstellungen des Leids, Horrors und Todes kippen kann; la selva als Vorstellung von Landschaft und Imagination von Raum wird dabei durchdrungen von einer sublimen Perspektive. Zugleich ist die Gewalt des Waldes aber auch als Delirium und Ekstase markiert, die in der Suche und der (eigenen) Verlorenheit begründet liegt. In diesem Zuge wird la selva selbst als Alteritätsraum simuliert und dabei sowohl mit Diskursen des Profanen als auch mit sakralen Elementen durchdrungen. Um diese Simulation des Heiligen nachzuvollziehen, ist ein Blick in die koloniale Geschichte notwendig, wird diese doch genealogisch durch den entangled narrator in der Verbindung der drei Hauptteile der Geschichte aufgebaut, die zusammen Imaginarien des Raumes mittels der Simulation des Bösen herstellen, welche wiederum durch die Verflechtung der Darstellungen von Phänomenen der Ähnlichkeit erreicht wird. Um diesen narrativen Prozess weiter nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll zu untersuchen, was wie in der Erzählung von La vorágine verflochten wird. Die Bilder des Bösen, die die Erzählung hervorbringt, werden bereits vor Eintritt in la selva aufgerufen und initiiert. Die eigentliche Simulation des Bösen wird aber erst im espacio selvático vorangebracht. Durch den ambivalenten Diskurs Covas, der an la selva adressiert ist, geht hervor, wie dieser Raum als ästhetische Substanz behandelt und dazu gebraucht wird, das Böse nachzuahmen. Innerhalb dieser Nachahmung finden sich jedoch noch weitere Elemente postkolonialer Mimesis, die sich an Narrativen (post)kolonialer Diskurse orientiert: Auf histoire-Ebene lassen sich Simulationen des Bösen beobachten, die sich an prominenten Narrativen orientieren: von den conquista-Diskursen und deren Ethnographie und Theologie bis hin zum positivistischen Modell Sarmientos, das im Antagonismus von Zivilisation und Barbarei seinen Ausdruck findet. Ihr Ineinandergreifen zeugt vom Potenzial des entangled narrator, destruktive Elemente als narrationbildende erscheinen zu lassen, womit die Herstellung der Vorstellung an Dynamik gewinnt. Eroberung und Entdeckung haben im Zuge der Kolonisierung der Amerikas komplexe Mythologien hervorgebracht, die die politische und spirituelle Dominanz des kolonialen Spaniens rechtfertigen, ausdehnen und festigen sollten und mittels einer narrativen Verflechtung von Evangelisierung und (später) staatlicher Mission gleichzeitig Gründungsmythen bereitstellten. In La vorágine ist es zunächst der Mythos von El Dorado und den Amazonen, vor dessen Folie die moderne Expansion des caucho-Imperiums als Narrativ des Raumes und als 323 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 189f.

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Erzählung im Raum von la selva die Geneaolgie des Bösen aktualisiert, für das Erzählen initiiert und damit zeitlich weit auseinanderliegende Geschichten innerhalb des Prozesses des Erzählens durch zahlreiche Stimmen evoziert und miteinander in Bezug setzt.324 Die Themen und Sujets des Romans stellen und besetzen somit nicht allein Fragen der Gewalt, die mit den caucherías in Beziehung gesetzt werden, denn sie eignen sich, um narrativ eine Simulation des Bösen vom Beginn der Eroberung und des Eintritts Amerikas in den kolonialen Diskurs einer okzidentalen Moderne im 15. Jahrhundert herzuleiten, welcher sich in seiner Macht und Souveränität gleichzeitig patriarchal, sexualisiert und textlich bzw. schriftlich äußert.325 Im Erzählen ist der Moment der Beobachtung des Textes markiert in der mise en abyme, die zusätzlich noch programmatisch den Widerspruch enthält, Einheit (»la red […] de mi narración«) durch ein brüchiges, flüchtiges oder offenes Netz (»la red precaria de mi narración«) zu vermitteln, im Modus der Melancholie, dessen Bild gleichfalls Einheit, Verlust und Suche vereint. Betrachtet man die folgenden Abschnitte der Teile I, II und III des Romans (»Primera parte«, »Segunda parte« und »Tercera parte«), dann wird ersichtlich, dass in diesen konsequent eine räumliche Imagination entwickelt wird, die die Erzählung von Raum mit der Raumerzählung verflicht. Die caucherías, aus denen die Erzählung letztlich hervorgeht, aber welche erst im zweiten Teil des Romans einen Handlungsraum bereitstellen, sind bereits angedeutet im ersten Teil der Erzählung als ein Versprechen, oder genauer: als ein Raum der materiellen Erfüllung und Verheißung. So beschreibt Griselda, die Frau Fidel Francos, eines späteren Gefährten Covas auf der Suche nach Alicia und seiner Frau, dass Narciso Barrera, Großunternehmer der caucho-Industrie, wie sie selbst der Verheißung zu folgen bereit ist.326 Durch diese Wendung vom 324 Alejandro Mejías-López spricht in diesem Zusammenhang vom momento fundador, der kulturellen Konstruktion eines Dschungel-Raumes seitens des okzidentalistischen Diskurses: »El Dorado y las Amazonas, explotación económica y violencia sexual, son pues los momentos fundacionales de la construcción cultural en Occidente del espacio selvático y es con ellos que la vorágine comienza su genelogía [de la violencia].« Ders., »Textualidad y sexualidad de la selva« 2006 S. 373. 325 Verwiesen sei mit diesem Argument auf die Genealogie der Gewalt, die Alejandro MejíasLópez in einer Beobachtung über La vorágine erarbeitet hat und die hier als die Vorbereitung auf eine Beobachtung der Simulation des Bösen dient, da Imaginarien des Bösen sich nicht allein in der Darstellung von Gewalt erschöpfen. Vgl. ders., »Textualidad y sexualidad en la construcción de la selva: genelogías discursivas en La vorágine de José Eustasio Rivera« 2006, S. 368. 326 »Digan imparcialmente si no son una preciosidá [sic] esos edificios y si estas fotografías no son primorosas. Barrera las ha repartío [sic] por toas [sic] partes. Miren cuántas tengo pegáas [sic] en el baúl. Eran unas postales en colores. Se veían en ellas, a la orilla montuosa de un río, casa de dos pisos, en cuyos barandales se agrupaba la gente. Lanchas de vapor humeaba en el puertecito. – Aquí viven má [sic] de mil hombres y tóos [sic] ganan una libra

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Erzählen des Raums zur Raumerzählung werden die Imaginarien des Bösen dynamisiert. Das Bild der caucherías ist in den llanos noch mit dem Narrativ von El Dorado verbunden, indem es unbegrenzten Reichtum und Überfluss verspricht. Erst während des überraschenden Treffens zwischen Ramiro Estévanez und Arturo Cova, und damit erzähllogisch vor der Markierung der mise en abyme, werden die narrativen Gründungsmomente der Erzählung beiläufig und verfremdet genannt und wird der erste Teil mit dem dritten Teil der Geschichte verbunden als geokulturelle Imaginarien zusammengefasst: – Hola, ¿no me preguntas qué vientos me empujan por esas selvas? – La energía sobrante, la búsqueda del Dorado, el atavismo de algún abuelo conquistador – ¡Me robé una mujer y me la robaron! ¡vengo a matar al que la tenga! – Mal te cuadra el penacho rojo de Lucifer.327

Selbst die Ironie, die der Erzähler Estévanez in den Mund legt, ist ein Kommentar auf die Frage desselben Erzählers (nämlich Cova) und als Kommentar auf die Genese des Textes zu verstehen; Cova beobachtet sich an entscheidender Stelle selbst, und damit auch die Simulation des Bösen, die er damit aber keinesfalls mindert, abbaut oder in Frage stellt; vielmehr wird sie aufrechterhalten, indem er auf sie verweist. Im zweiten Teil des Romans – es hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine Gruppe aus Arturo Cova, Fidel Franco, Clemente Silva und El Pipa geformt, die auf der Suche nach Narciso Barrera, Alicia und Niña Griselda sind – ist es die Erzählung Helí Mesas, die Cova als leyenda de la indiecita Mapiripana einbringt und die die Genealogie der Gewalt als Simulation des Bösen etabliert, die bereits vor dem Eintritt in la selva begonnen wurde und leitmotivisch alle Elemente enthält, die das weitere Erzählen nach dem Einschub der leyenda kennzeichnen. La indicieta Mapiripana es la sacerdotisa de los silencios, la celadora de manantiales y lagunas. […] Gracias a ella, tienen tributarios el Orinoco y el Amazonas. Los indios de estas comarcas le temen, y ella les tolera la cacería. […] Siempre lleva en las manos una parásita y fue quien usó primero los abanicos de palmera. […] En otros tiempos vino a estas latitudes un misionero, que se emborrachaba con jugo de palmas y dormía en el arenal con indias impúberes. Como era enviado del cielo a derrotar la superstición, esperó a que la indicieta bajara cierta noche de los remansos del Chupave para enlazarla con el cordón del hábito y quemarla viva, como a la brujas. Para castigarle el pecado de la lujuria, chupábale los labios hasta rendirlo, y el infeliz, perdiendo su sangre, cerraba los ojos para no verle el rostro, peludo. […] Ella a los pocos meses, quedó encinta y tuvo dos mellizos aborrecibles: un vampiro y una lechuza. [E]l diaria. […] Miren, estos montes son los cauchales. Bien dice Barrera que otra oportunidad como ésta no se presentará.« José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 102f. 327 Ebd., S. 336f.

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misionero […] se fugó de la cueva, pero sus propios hijos lo persiguieron, y de noche […] lo sangraba el vampiro, y la lucífuga lo reflejaba, encendiendo sus ojos parpadeantes, como lamparillas de vidrio verde.328

Die leyenda de la indiecita Mapiripana bedeutet, neben der offensichtlichen Bereitstellung und Verarbeitung von Elementen des Horrors, erzählpragmatisch somit eine Ko-Präsenz aller Erzählungen der Genealogie des Bösen als Ausdruck der Verflechtung und Meta-Erzählung, die die Eroberung, Evangelisierung, Inquisition, Kolonialität und Versklavung im Namen von Zivilisation (d. h. im Namen des vermeintlich Guten) zusammenfasst und la selva räumlich als Gefängnis, Kathedrale und Hölle verbildlicht. Diese Episode bringt nicht nur ein Erzählen (Helí Mesas) im Erzählen (Arturo Covas), sondern auch ein Erzählen über das Erzählen insgesamt zum Ausdruck und evoziert damit wiederholt eine Bewegungsstruktur, die sowohl zentral als auch marginal Relationen textuell darstellt, die zirkulär und als Verflechtungsdynamiken zu erfassen sind; die leyenda de la indiecita Mapiripana ist anders gesagt exemplarisch als Erzählen des entangled narrator nachvollziehbar. Bezeichnend ist es auch im Fall der leyenda als Erzählung in der Erzählung, dass die Geschichte ausgedehnt wird mit biblischen Allegorien329 und Genre-Elementen des Horrors, die eine eigene Genealogie der selva mit dem Bild Evas als indigener, vampiresker Lilith des Amazonas vereinen. Eine damit im Zusammenhang stehende Ausdehnung ist darüber hinaus für ein weiteres Narrativ zu beobachten, das für die Herstellung der Vorstellung der selva genutzt wird, aber von Cova in Bezug auf den weitreichenden Einfluss Sarmientos, in dessen Werk Schreiben gleichgesetzt wurde mit Zivilisieren, Ordnen und Modernisieren, in der Aktualisierung und Variation des Diktums von Zivilisation vs. Barbarei als Narrativ in sein Gegenteil gewendet wird: Schreiben wird in la selva gleichgesetzt mit Queren, Verbinden und Verflechten, um dann auf Brüche und Zerstörungen hinzuweisen. Dieses durch den argen328 Ebd., S. 225f. 329 »Eines der prägnantesten Beispiele solcher [unheimlichen] Ambivalenz ist die Gleichsetzung der Frau mit der Natur, denn als Körper ist die Frau zugleich auch Allegorie für die Gefährlichkeit sexueller Lust, unkontrollierbarer Leidenschaft und Spontanität. Tatsächlich gibt es zwei Kulturmütter, von denen eine Vielfalt weiblicher Typen abgeleitet ist – die Versucherin Eva und die heilende Jungfrau Maria. Diese stehen nicht nur in einem diametralen Gegensatz; beide sind, was noch entscheidender ist, Quelle der Kultur, indem sie gleichzeitig mit Aspekten des Todes gleichgesetzt werden und somit auch Grenze und Endpunkt eben der Kultur bezeichnen. Auf Eva zurückgehend, dient die Frau als Allegorie für das Böse, die Sünde, für Täuschung, Zerstörung und Negation, superlativisch verkörpert in der gefährlichen Sexualität der Hexe. […] Weil die Frau als Allegorie für den Verfall allen Fleisches dient, den das überlebende Subjekt leugnen will und doch als sein Schicksal kennt, wird die Schönheit der Frau als Maske der Fäulnis vorgestellt, und die sexuelle Beziehung als Tod, statt als Empfängnis.« Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik 1994, S. 100f.

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tinischen Schriftsteller und Politiker Domingo Faustino Sarmiento literarisch ausgedehnte und gleichzeitig populär gemachte Modell ist bereits im Facundo als Entwurf eines räumlichen Modells kultureller Ordnung angelegt; gerade aus interamerikanischer Perspektive sind die damit einhergehenden, dynamischen Raumvorstellungen (von Landschaft und Wildnis) als verflochten mit moralischen Erzählungen der Alterität (von Moderne) zu betrachten.330 Mit der Erzählung und dem Erzählen von La vorágine wird dieses ordnende Modell selbst als Narrativ auf la selva angewendet und wiederum mit Narrativen der conquista und der colonialidad der Amerikas zu Imaginarien des Bösen erzählerisch umgesetzt. La selva wird zwar als dualer Raum konzipiert, schließt aber andere Räume mit ein (wie die caucherías) und ermöglicht so Figurationen und Figuren des Dritten, die sich zwischen Infernal/Paradiesisch, Sakral/Profan und Kreativ/ Destruktiv hin und her bewegen. Dadurch wird die Möglichkeit des Spiels mit der Alterität und Identität des Bösen als Spiel der Differenz eröffnet. Es entsteht somit auch kein Endpunkt, den das Böse markiert, als Ende einer Reflexion, Beobachtung und Erzählung; das Spiel eröffnet diese drei Möglichkeiten: »[J]ugué mi corazón al azar y me lo ganó la Violencia!«331 Es findet damit keine manichäistische Auseinandersetzung zwischen Zivilisation und Barbarei und damit zwischen Gut und Böse statt, deren Opposition auch postkoloniale Narrative einer fundamentalen Gewalterfahrung der conquista hat entstehen lassen. Arturo Cova erzählt sich und von sich als Opfer und Täter – als Sklave und Herr – und damit als Autor und Figur, Subjekt und Objekt postkolonialer Repräsentation. Er bringt die beschriebene Dichotomie von Zivilisation vs. Barbarei, die als Narrativ für ein säkulares Projekt der Moderne selbst steht, im Begriff der »selva inhumana«332 auf ein tertium comparationis.333 330 Siehe hierzu insbes. Earl E. Fitz, Rediscovering the New World. Inter-American Literature in a Comparative Context 1991, S. 211–252. 331 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 79. 332 Ebd., S. 295. 333 Dieses ist angelehnt an Michael Taussigs Beschreibung von wildness: »Wildness also raises the specter of the death of the symbolic function itself, it is the spirit of the unknown and the disorderly, loose in the forest encircling the city and the sown land, disrupting the conventions upon which meaning and the shaping function of images rest. Wildness challenges the unity of the symbol, the transcendent totalization binding the image to that which it represents. Wildness pries open this unity, and in its place creates slippage and a grinding articulation between signifier and signified. Wildness makes of these connections spaces of darkness and light in which objects stare out in their mottled nakedness while signifiers float by. Wildness is the death space of signification.« Michael Taussig, Shamanism, Colonialism and the wild man 1987, S. 219. Ein ähnliches Argument mag auch für das paradiesische Bild kolonialer Imaginarien angeführt werden: »The Edenic image, […] is neither a static agrarian image of cultivated nature nor an opposing image of the wilderness, but an imaginative complex which, while including both images, places them in a dynamic relationship with other values. […] [T]he Edenic myth, it seems […] has been the most powerful and

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Die Erzählung La vorágine wird somit von einer Bewegungsstruktur durch den entangled narrator vorangebracht, die auf Narrations- und Geschichtsebene von einer metanarrativen Struktur ausgeht (mise en abyme) und selbst als Trope von topografischen und terrestrischen Tropen textuelle Dynamiken entwirft, die keiner festen Hierarchie folgen, und als Tropographie die Imaginarien des Bösen entwirft. Diese Tropographie des Erzählens ist motivisch und pragmatisch durch die gleichzeitige Darstellung von Einverleibung, Verdichtung und Entgrenzung gekennzeichnet. Einerseits ist die postkoloniale Einverleibung von Genre-Konventionen gebunden an eine Entgrenzung der räumlichen Imagination. Diese Entgrenzung – wie sie bereits in der Aufnahme der narratologischen Parameter festgehalten wurde – funktioniert nach dem Prinzip des einschließenden Ausschlusses bzw. ausschließenden Einschlusses. Andererseits ist die postkoloniale Mimesis (und die in deren Zuge initiierte Einverleibung der interamerikanischen und europäischen Traditionen und Narrative) gleichfalls eine Simulation des Bösen und vollzieht sich daher über den Aufbau der selva als Repräsentation und als Imaginationsraum. Dieser Vorstellungsraum wird postkolonialen Imaginarien entnommen und auf die für den Text gegenwärtige, zentrale Darstellung und Thematisierung von Sklaverei und Ausbeutung übertragen, die ein weiteres zentrales Sujet des Romans bildet. La selva – der Wald – fungiert somit als Projektions- und Ordnungsraum, der unterschiedliche Vorstellungen und Narrative kolonialer Alterität konstituiert und bündelt. La vorágine bringt diese erzählerisch als Imaginationen zusammen, wobei aus diesen Imaginationen kein neues einheitliches Narrativ des Bösen entsteht, sondern Narrationen in ihrer Entstehung gezeigt werden und Räume als moralische und ästhetische Elemente fungieren. Ein- und ausgeschlossen in diesem Entwurf der Alterität der Landschaft und des Raumes ist eine pastorale Ästhetik, die gegen den Strich erzählt wird – ein gutes Leben jenseits kolonialer Gewalt, wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung, inmitten einer als autonom idealisierten Natur, wie es in pastoralen Denkbildern aufgerufen wird, ist hier nicht möglich.334 Und so fragt Cova: »¿Cual es aquí la poesía de los retiros?«335 Der Garten, als welcher la selva nicht mehr zur Simulation dient, ist gleichzeitig Garten Eden und eingeschrieben in einen weltliterarischen Entwurf; dieses Pacomprehensive organizing force in American culture.« Charles Sanford, The Quest for Paradise. Europe and the American Moral Imagination 1961, S. vi. 334 Siehe Renate Böschenstein, »Idyllisch, Idylle«, in: Karlheinz Barck et al., Ästhetische Grundbegriffe Band III 2010, S. 119–137. Dies erklärt auch die nicht idealisierte oder romantisierende Sicht auf indigene Gemeinschaften im Verlauf der Erzählung. Die paternalistische Ignoranz Covas erschafft kein positives Bild, weil die selva-Welt als Ganzes korrumpiert ist. 335 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 297.

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radies entsteht, wird aufgerufen, dann aber aufgelöst, um in den Imaginarien der selva und caucherías verschlungen zu werden. Mittels der Darstellung von Gewalt, der Einverleibung unterschiedlichster Genres und kolonialer Narrative, der Dekonstruktion der Künstlerfigur (Cova), der Entgrenzung des Raumes und letztlich des Erzählens im Raum, aus dem die Geschichte hervorgeht, wird die Inszenierung vorangetrieben, das Böse simuliert und als Simulation zur Schau gestellt. La selva ist ein Passagen-Raum, und als solcher stellt er ein Kontinuum der ständigen Grenzziehung, Grenzübertretung und der Transgression dar. Dieser Raum wird, so scheint es, damit zur permanenten Grenze. Daraus sollte nicht geschlussfolgert werden, dass alles in la selva zur Grenze wird; wäre dies der Fall, würde die Grenze selbst verschwinden. Somit ist die permanente Grenze in La vorágine als Logik und/oder Spiel der (mit der) Differenz zu verstehen. Das Böse muss also identifiziert werden in diesem Raum oder durch diesen Raum. Auch hier hilft die Denkfigur des entangled narrator, die Frage nach der Identifizierung des Bösen zu beantworten, gerade weil diese Frage nach der Unterscheidung selbst erst durch den Erzähler hervorgerufen wird. La selva als Raum der Erzählung postkolonialer Mimesis, der Simulation und Alterität kann gleichfalls als Kippfigur (oder dritter Raum) der Imaginarien des Bösen verstanden werden, die es ermöglicht, die Unterscheidung/Trennung von Leben und Tod sowie Prozesse des Schaffens und der Zerstörung aufzuheben. Dieser Prozess führt zur Thanatopolitik des Erzählens, die im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels geklärt werden soll.

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Das Ineinandergreifen von Raumerzählung und der Erzählung von Raum als Herstellung der Vorstellung von Imaginarien des Bösen war in den bisherigen Betrachtungen Gegenstand der Beschreibung. Nicht allein auf der histoire-Ebene werden topographische bis topologische Verbindungen der erzählten Räume konfiguriert. Das Plantagen-Netz der caucherías, in dem die Erzählung entsteht und motiviert wird, erscheint als verbindendes Element einer Tropographie des Bösen, und zwar so weit, dass der Amazonas als interamerikanischer Projektions- und Verflechtungsraum den Horror des Dschungels und den Terror der Sklaverei in Ergänzung zu Narrativen kolonialer Diskurse aufnimmt. Die Kolonialität dieses Raumes erstreckt sich von der conquista bis zum caucho und bildet damit ein weiteres Narrativ; dieses wird die Matrix der Imaginarien des Bösen in den folgenden Ausführungen vervollständigen und die Räumlichkeit

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des Erzählens anschlussfähig machen an die Räumlichkeit des Bösen vor dem Hintergrund der Thanatopolitik des entangled narrator. Die eingeschriebenen Formen der Biomacht als Zeichen für die Beobachtung, Reflexion und Erzählung des Bösen lassen sich in der eigenen scape-Logik des Erzählens wiederfinden.336 Diese soll abschließend aufgezeigt werden, denn die Raumdynamik des scapeModells umfasst die Verflechtung von Aufbau und Zerstörung, welche wiederum das Prinzip der Imaginarien des Bösen dieser Erzählung eröffnet. Wie Sylvia Molloy pointiert bemerkt, ist la selva in zweifacher Hinsicht nicht allein als Raum des Destruktiven, des Todes und der Vernichtung von Körpern angelegt: »Sexo y selva convergen en el ambiguo líquido blanco – leche, semen, fluido vital –, que es a la vez manifestación de vida y de destrucción.«337 Um diese Beobachtung, durch welche la selva mit einer texteigenen Körperpolitik bzw. -macht verbunden wird, mit dem Begriff der Thanatopolitik338 zusammenzubringen, der das Herausarbeiten der vielfachen Implikationen für die Imaginarien des Bösen im Erzählen von La vorágine durch den entangled narrator ermöglicht, ist es notwendig, einzelne Stationen der Erzählung aufzurufen.339 Die narrativen Querungen und thematischen Verflechtungen, die der entangled narrator im Erzählen erreicht, können in der Vermittlung von La vorágine als Verbindungslinien und Knotenpunkte aufgefasst werden, weil sie sich nicht auf ein Konzept, ein Bild oder eine Idee reduzieren lassen. Diese Veflechtungen sind wiederum mittels der im Erzählen dargestellten scapes zu rekon336 Erinnert sei hier an Appadurai, dessen theoretischer Gebrauch der scapes Möglichkeiten auslotet, »Dynamiken […] losgelöst von festen topographischen Orten [zu] betrachten[,] [und] die scapes also zu einer Kategorie macht, die statt der in Verbindung gesetzten Personen und Gegenstände vielmehr die Formen und Prozesse der Verbindung selbst zu beschreiben versucht.« Appadurai spricht in diesem Zusammenhang von »deterritorialisierten räumlichen Strukturen einer transnationalen, diasporischen Welt.« Jörg Dünne, »Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung« 2015, S. 47f. Scapes werden in diesem Modell in einem globalen Maßstab gesehen, können aber auf den (welt)literarischen Maßstab von La vorágine übertragen werden. 337 Siehe Sylvia Molloy, »Contagio narrativo« 1987, S. 754. 338 Thanatopolitik wird nicht als ein spezifischer Fall von Biopolitik und ihrer Anwendung verstanden, sondern vielmehr als Fragestellung, die die eigentliche Konzeptualisierung von Biopolitk (als Paradigma) hinterfragt. Siehe dazu Simona Forti, New Demons 2014, S. 125– 179. 339 Insbesondere auf die Arbeiten von Rogers und Pinzón, welche überzeugend auf die in La vorágine figurierten und re-figurierten Diskurse der Medizin (sowohl aus Kolumbien als auch im Austausch zwischen den Amerikas und Europa) im Lichte modernistischer Ästhetik verweisen, sei hier hingewiesen. Mit der Aufnahme medizinischen Wissens sind in der textuellen Konstituierung Biopolitiken eingeschrieben, so das hier tragende Argument. Vgl. Felipe Martínez-Pinzón, »La voz de los árboles: fiebre, higiene y poesía en La vorágine«. In: Bulletin of Hispanic Studies, 91 (2014), S. 163–181. Charlotte Rogers, »Medicine, Madness and Writing in La vorágine«. In: Bulletin of Hispanic Studies, 87, 1 (2010), S. 89–108.

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struieren, die über die Verbindung von sangre, semen, leche und caucho gebildet werden. Diese trägt einerseits zu einem stark sexualisierten Bild der selva bei: ein überwiegend feminisierter Raum, der von ausnahmslos allen männlichen Eindringlingen erobert, dominiert und geschändet wird. La selva ist jedoch gleichzeitig ein Raum, der das vielfache Trauma der Gewalterfahrungen und -ausübungen aufnimmt und es bildlich auf diejenigen überträgt, die vom Sog der vorágine verschlungen, ja wörtlich konsumiert werden. Doch das Bild der selva erschöpft sich nicht in der Herstellung der Vorstellung des Bösen und der Simulation von Bösem; vielmehr setzt sich ein allegorisches Bild der selva durch, welches trotz der vielfach vertretenen Eindimensionalität in Bezug auf das Böse eine vielschichtige Erörterung der Imaginarien des Bösen voranbringt, die wiederum in der Kombinatorik narrativer Sujets und Dispositive des Bösen begründet liegt. Der Ausgangspunkt der Betrachtung des Erzählens anhand der poiesis führt also zur textuellen Thanatopolitik und damit zu den Bestimmungen der Imaginarien des Bösen. Die erzählerische Herstellung der Vorstellung des Bösen wird jedoch nicht durch eine allegorische oder bildliche Inszenierung des stromhaften und verschlingenden Sogs (vorágine) der selva vermittelt: Es sind vielmehr die Verknüpfungen von Sujets sowie räumlichen und kulturellen Imaginarien, die über den entangled narrator und seine Vorstellung und Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität mit der Gewalterfahrung verflochten werden. Der entangled narrator erschafft mit räumlicher Imagination und dem gleichzeitigen Agieren im Raum der selva eine Erzählung und damit einen Text, der die Sklaverei der caucherías mit der sexualisierten Körperlichkeit zu einer narrativen Thanatopolitik macht. Darin liegt das Potenzial begründet, das die Vervielfältigung der Imaginarien des Bösen voranbringt. Das poetische Prinzip der Gewalt (erläutert in Kapitel 5.2) verweist darauf, wie die Stimmenvielfalt, Ähnlichkeit und Überlagerung von einzelnen Erzählungen in der Gesamtstruktur des Erzählens analog zur erzählerischen Umsetzung der Gewalt zu betrachten sind, die ausgehend von der Darstellung des einzelnen und zerlegten toten Körpers eine erneute Zusammensetzung des Zerstörten suggeriert. Dieser narrativen Struktur ist eine biopolitische Dimension hinzuzufügen, die insbesondere den merkantilen Charakter der versklavten Körper der caucheros/as und zugleich eine rassistische Grundlage der Eugenik betrifft.340 La selva, die in der Simulation als infernaler, sakraler, paradiesischer und destruktiver Raum und damit als ein inhärent differenzbestimmter Raum erzählt wird, ermöglicht jedoch Figurationen des Dritten bzw. schließt Beobachtungen innerhalb dieser Pluralität des Raumes ein, die als Figuren des Dritten in Er340 Siehe dazu ausführlich Santiago Castro-Gómez, Tejidos Oníricos. Movilidad, capitalismo y biopolítica en Bogotá (1910–1930) 2009, S. 149–190.

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scheinung treten. Zwei dieser Figurationen lohnt es daher näher zu betrachten: den Rivalen und den Parasiten. Auf diesen Figurationen, mit denen der entangled narrator in einem triangulären Geflecht verbunden ist, baut die Erzählung auf. Diese Figuren und Figurationen des Dritten werden erzählerisch mit der Imagination von Körperlichkeit und Sexualität in ständiger Verbindung mit la selva zusammengebracht. Dieser Prozess soll kurz nachvollzogen werden, damit anschließend die scape-Logik der Verflechtungen ergänzt werden kann, welche letztlich für Imaginarien des Bösen in La vorágine in ihrer Herstellung von Bedeutung ist. Eingangs (siehe Kapitel 5.1) wurde die erzählerische Motivation nachvollzogen, die das »mangelhafte und ungewisse Netz der Erzählung« (»la red precaria de mi narración«) Covas zusammenhält und befördert. Initiiert wird die Handlung jedoch auch durch die trianguläre Beziehung zwischen Alicia, Narciso Barrera und Arturo Cova, und damit durch ein Verhältnis der Rivalität.341 Zur Erinnerung: Alicias Verschwinden, hervorgerufen von Barrera, dem Kopf des caucho-Handels, veranlasst Cova nicht nur zur Suche und damit zum Eintritt in den Raum der selva; die Beziehung zu Alicia wird grundsätzlich überdacht, die Asexualität Alicias wird zur »amor« und »esposa ideal« stilisiert, nachdem Cova, als er bereits nach ihr sucht, von ihrer Schwangerschaft erfährt.342 Insbesondere in der Herstellung dieses Beziehungsdreiecks zeigt sich der Erzähler als entangled narrator, da Alicia ihre Stimme allein im melodramatischen Modus erhält und ansonsten bei all der Stimmenvielfalt, mit der Cova seine Bekenntnisse und Beobachtungen niederschreibt, so gut wie stumm ist. Gleiches lässt sich für Barrera festhalten, der nur im ersten Teil zu Wort kommt und selbst dann umgehend als Rivale Covas vorgestellt wird, weil er sich durch einen Brief zu Wort meldet und damit als einzige aller Figuren in schriftlicher Form als Konkurrent des Dichters Cova inszeniert wird. Auch das Motiv der Rache ist in diesem Beziehungsgeflecht Motivation und Ziel zugleich. Cova sucht Alicia, um Barrera verfolgen und letztlich töten zu können, was ihm schlussendlich auch gelingt. ¡Tantos en el mundo se resignan a convivir con una mujer que no es la soñada, y, sin embargo, es la consentida, porque la maternidad la santificó! ¡Piensa que Alicia no ha delinquido, y que yo, despechado, la denigré! ¡Ven, sobre el cadáver de mi rival habrás de vernos reconciliados!343 341 Siehe Andreas Kraß, »Der Rivale«, in: Eva Eßlinger et al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2010, S. 225–237. 342 »Cova is seduced by the courtly literary myth of the woman who cannot be possessed, the ideal love […].« Susan Isabel Stein, »La vorágine: The Symbolic of Masculine Logic in the Open Vortex(t)«. In: Bulletin of Hispanic Studies, 72:2 (1995: Apr.), S. 195–211. Hier: S. 200. Ergänzen ließen sich diese Beobachtungen mit einer queeren Lesart der novela, die die Begehrensstrukturen hinter den heteronormativen Oberflächen aufzeigt, da hinter der Beziehung Barrarea-Cova auch ein homosoziales Begehren gelesen werden kann, welches die gesamte Erzählung durchquert. 343 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 376.

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Am Beginn steht somit ein sexuelles Begehren;344 dieses durchquert auf der Figurenebene und motivisch die gesamte Erzählung. Ein weiteres Element, und damit ein neues trianguläres Bild des Begehrens, wird mit der Figur der Zoraida Ayram eröffnet. Mit der »turca«, die sich vorzugsweise in weiße Gewänder (»vestidos blancos«) kleidet, geht Cova einen körperlichen Handel ein. Er wird zu ihrem Beischläfer, damit sie in den caucherías – innerhalb des von ihr geführten Lagers – für seine Sicherheit garantieren kann. Triangulär ist diese Beziehung, da Ayram zu einer, wenn auch verabscheuten, Nebenbuhlerin Alicias wird. Die »madona Zoraida Ayram« ist als »loba insaciable« damit aber nicht nur eine Umkehrung der idealisierten Mutter Alicia und ihrer Asexualität. Sie rückt zudem in die Nähe der als sexuell-vampiresk dargestellten indiecita Mapiripana, die die Männlichkeit des Dichters schwächt, verwoben mit der Legende, der zufolge der Missionar von der indigenen Gestalt verfolgt, gefangen gehalten und vergewaltigt wurde, wodurch das Geschlechter- und Herrschaftsgefüge umgekehrt wird: Calamidades físicas y morales se han aliado contra mi existencia en el sopor de estos días viciosos. Mi decaimiento y mi escepticismo tienen por causa el cansancio lúbrico, la astenia del vigor físico, succionado por los besos de la madona. Cual se agota una esperma invertida sobre su llama, acabó presto con ardentía esta loba insaciable, que oxida con su aliento mi virilidad.345

La leyenda de la indiecita Mapiripana ist mit dem Bild der caucherías innerhalb der infernalen Imagination des Raums der selva verbunden und erscheint motivisch als inhumane Wildnis in Covas Begegnung mit Zoraida Ayram, die zudem als Inbegriff der fleischfressenden »varona«346 die textuelle, motivische und erzählerische antropofagia in sich vereint und variiert. Auch ihr Name, ihre Herkunft und die interethnische Mischung,347 auf die das Erzählen abhebt, sind

344 »Nicht ein Akt der Identifikation, sondern das Verhältnis der Rivalität wird an den Anfang gesetzt und erzählt.« Andreas Kraß, »Der Rivale«, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2010, S. 229f. 345 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 356. 346 Ebd., S. 376. 347 »Zoraida es, pues, una encarnación más del espacio natural sexualizado y leído en términos perversos por el ojo patriacal, sea Carvajal y sus Amazonas […]. [L]a sexualidad desordenada del personaje está inscrita en su propio nombre: el apelativo de ›madona‹ con el que se llama evoca la doble figura virginal/maternal de la iconografía religiosa pero invertida: por un lado sus iniciales indican la inversión de un orden Z/A y por otro, su nombre es literalmente el reverso de María: Ayram.« Alejandro Mejías López, »Textualidad y sexualidad en la construcción de la selva« 2006, S. 385. Hinzuzufügen ist sicherlich, dass sie nicht nur Figur des Sklavenhandels, sondern durch die Bezeichnung »madona« gleichzeitig den merkantilen Ansatz der Prostitution im Namen trägt und damit eine Profanation der religiösen Ikonographie verkörpert.

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verbunden mit der Krankheit, dem Verrotten und der Degeneration, wie sie bereits im Zusammenhang mit der indiecita Mapiripana hervorgehoben wurden: En sucios chinchorros, extendidos sobre el humazo de los tizones que los ahuyentaban a los zancudos, se aburrían unas mujeres de fístulas hediondas a yodoformo y pañuelos amarrados en la cabeza. No me sintieron, no se movieron. […] La dueña salió. Gentes enfermas aparecieron.348

Wird Covas sexuelles Verhältnis zu Alicia als ein produktives vermittelt, so ist jenes mit der madona als ein Verhältnis markiert, das Krankheit und Niedergang befördert. Es bleibt noch auf sexuelle Beziehungen hinzuweisen, die körperlich keine Erfüllung finden, da sie von Cova aus rassistischen Gründen abgelehnt werden; diese bilden jedoch alle triangulären Konstellationen im Verhältnis zu Alicia und Arturo. Anziehend, aber abstoßend zugleich ist beispielsweise Griselda, die indigene Kind-Frau und Gefährtin von Fidel Franco: »Era una hembra morena y fornida, ni alta ni pequeña, de cara regordeta y ojos simpáticos. Se reía enseñando los dientes anchos y albísimos […].«349 Auch wenn sich zu Beginn der Bekanntschaft beider explizit eine Anziehung in den Berichten Covas andeutet – »Di en enamorar con la niña Griselda, con éxito escandaloso«350 –, so kommt es trotz der beiderseitigen Versuchung zu keiner sexuellen Handlung: »¡Que no lo vaya a sabé mi hombre! Ni tu mujé! Sin embargo, la lealtad me dominó la sangre y con desdén hidalgo puse en fuga la tentación.«351 In ähnlicher Weise verfährt Cova in la selva, wenn eine Verführung durch indigene Frauen angedeutet wird: Cuando me retiré a mi chinchorro, en la más completa desolación, siguieron mis pasos unas indias y se acurrucaron cerca de mí. Al principio conversaban a medio tono, pero más tarde atrevióse una a levantar la punta de mi mosquitero. Las otras, por sobre el hombro de su compañera, me atisbaban y sonreían. Cerrando los ojos, rechacé la provocación amorosa, con profundo deseo de liberarme de la lascivia y pedirle a la castidad su refugio tranquilo y vigorizante.352

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Ebd., S. 213. Ebd., S. 100. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd., S. 211. Charlotte Rogers verweist an ähnlicher Stelle nochmals auf die historischen und soziokulturellen Zusammenhänge, für die das Spiel aus Verführung und Indigenität stehen kann: »The vision of the Amazonian woman as a menace to the European male contributed to depictions of the wilderness as a site of female sexual voracity, and to the notion that the feminine earth itself had the power to destroy or consume outsiders in literary texts. Drawing on the colonial tradition, twentieth-century novels depict Amazonian women as both attractive and menacing. In La vorágine, Rivera’s Cova views contact with indigenous women as dangerous and resists their advances. Cova’s hesitance to have sex with native women reveals the socio-medical context in which the novel was written. The sexual desire of these nameless women and the Turkish Zoraida, with whom Cova does have sex, contrast

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Eine ähnlich ambivalente Vorstellung betrifft den Parasiten, welcher als Figur des Dritten »Bewegungen, Beziehungen [vertritt und] Folien vermittelt.«353 Eine Beziehung zu la selva als Raum der sexualisierten Körperlichkeit und der Gewalt wird von Cova gleich zu Beginn seiner Reise im Traum imaginiert und proleptisch vorweggenommen, in dem Alicia als Baum und Parasit vorgestellt wird und das Bild von Blut und das Weiß des Kautschuks in sich vereint: Volvía a ver a Alicia, desgreñada y desnuda, huyendo de mí por entre las malezas de un bosque nocturno, iluminado por luciérnagas colosales. Llevaba yo en la mano una hachuela corta y, colgando a cinto, un recipiente de metal. Me detuve ante una araucaria de morados corimbos, parecida al árbol del caucho, y empecé a picarle la corteza para que escurriera la goma. ¿Por qué me desangras?, suspiró una voz falleciente. Yo soy tu Alicia y me he convertido en una parásita.354

Der Traum nimmt den Horror der caucherías und damit auch die räumliche Imagination der Verbindung von Körper und selva vorweg. Die Imagination des eingeschlossenen Ausgeschlossenen, die Vorstellung einer Verflechtung von selva, Körper(n) und den fluiden Substanzen, schildert Cova gegen Ende seiner Reise, wenngleich nicht im Traum, sondern in der Halluzination: »Hablaba, hablaba, me oía la voz era oído, pero me sentía sembrado en el suelo, y, por mi pierna, hinchada, fofa y saviacaliente, petrificante. Quise moverme y la tierra no me soltaba.«355 Die Metamorphose Covas von Mensch zu Baum markiert aber nicht den Endpunkt der Transformation des Protagonisten, die nicht ins Fantastische gesteigert, sondern mit dem medizinischen Narrativ der Erzählung verflochten wird: »El martes seguiremos por el Río Negro, radiantes de esperanza, trémulos de ansiedad. El beriberi me dejó la pierana dormida, insensible, como de caucho.«356

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sharply with the pregnant Alicia, who embodies the racial future of Colombia. Yet it also responds to long-standing historical presentation of Amazon women as libidinous […]. Moreover, these non-European women are dangerous and seductive like the earth itself […].« Dies., »›La selva no tiene nada de inesperado‹: Amazonian disillusionment in Álvaro Muti’s La Nieve del Almirante«. In: Orillas, 4 (2015), S. 1–18, hier: S. 7f. Petra Gehring, »Der Parasit. Figurenfülle und strenge Permutation«, in: Eva Eßlinger et al. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2010, S. 180–192. Hier: S. 182. Ebd., S. 112. Ebd., S. 373f. Ebd., S. 380. Beriberi ist ein Sammelbegriff für Krankheitsbilder der Unterernährung und des Nährstoffmangels. Bereits bei Covas Metamorphose wird auf beriberi verwiesen, die in diesem Fall Halluzinationen auslöst. Dazu nochmals Charlotte Rogers treffend: »The use of medical discourse about degeneration makes up an underlying motif of the novel and contributes to Rivera’s political and aesthetic endeavours in the novel. […] His [Cova’s] repeated use of proto-psychiatric vocabulary is representative of his participation in the medical debates of the day, and forms an essential component of Arturo Cova’s personality.« Dies., »Medicine, Madness and Writing in La vorágine« 2010, S. 98.

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Auf eine biopolitische Lenkung der Beziehung zwischen Körper, selva und Schreiben im Aufbau der Figuren des Dritten, wie dem Rivalen und dem Parasiten, verweist letztlich das substanzielle und imaginierte Weiß – zum einen als Farbe in Zeichen wie esperma, leche, caucho und sangre, zum anderen in Bezug auf den Erzähler Cova selbst, der von Griselda konsequent als blanco und damit sowohl als weißer, andiner criollo angesprochen als auch in Bezug zur Dominanz des disseminierenden Weiß des Kautschuks gesetzt wird.357 Die zirkulierenden Anspielungen und expliziten, wechselnden Verweise auf das Materielle und gleichzeitig Substanzielle, der körperliche, sexualisierte und politisierte Einsatz werden mit dem metatextuellen Hinweis auf die »páginas en blanco«358 zum Hinweis auf die poiesis. Covas Bedauern über die zurückzulassenden weißen Seiten, die damit auch als Klage über die Transzendenzlosigkeit verstanden werden können, festgehalten auf ebenfalls weißen Seiten, ist explizit mit den Regulierungen, Zersetzungen und Verletzungen des Körpers, und somit einer Imagination von Biomacht, narrativ verbunden. Das Weiß der Seiten wird somit verbunden mit einer Herstellung der Vorstellung von Sexualität und Körperlichkeit. Während die Vorstellung des Raumes der selva konstitutiv verflochten ist mit der Imagination ihrer kannibalischen, gleichwohl selektiven Form der Einverleibung von Körpern, ist mit den caucherías als Lager-Raum innerhalb von la selva ein Raum angedeutet, dessen Grenzen weder klar umrissen noch beschrieben oder überhaupt benannt sind. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Grenzen zum einen mit den versklavten Arbeiter:innen den Flüssen folgend stetig weiterziehen und zum anderen mit la selva durch die Bäume, die als Quelle für caucho dienen, ineinanderfallen. Einzig die Ansammlung von »barracones« oder »caneyes/cayenes« wird angeführt, was für den einfachen und wenig statischen Raum der caucherías spricht. Bezeichnenderweise wird die mythische, infernale und sakrale selva zu einem Handelsnetz und Raum der Bewegung, durchzogen von Kanälen und Häfen.359 Auch der Verkauf von Menschen und der Tausch von Körpern gegen caucho oder/und sexuelles Begehren verweisen auf den Warenfluss, von dem La vorágine erzählt. Der Handel mit mercancías durchzieht die Erzählung von Beginn an – erinnert sei an Alicia: Sie wird einem 357 Ebd., S. 112. 358 »Son la historia nuestra, la desolada historia de los caucheros. Cuánta página en blanco, cuánta cosa que no se dijo!« Ebd., S. 383f. Diese »weißen Seiten« spielen gleichzeitig auf das postkoloniale Schreiben selbst an; dazu Carlos Jáuregui: »La imaginación conjunta de la hipóstasis del haber mercantil y del déficit cultural […] permitía pensar al Nuevo Mundo como depósito inagotable de mercancías y como una página en blanco; es decir, las dos condiciones imaginarias del colonialismo.« Ders., Canibalia 2005, S. 26. 359 Das Bild der selva als amazonischer Ozean des Menschenhandels wird durch die »embarcaciones« und »puertos« aufgebaut. Vgl. u. a. Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 273.

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Latifundisten als Braut versprochen, ist zunächst symbolisch als Tauschgegenstand gesetzt und wird in Casanare mit dem Auftreten Barreras handlungsleitend, bis in la selva die Suche mit dem Tausch und dem Handel mit caucho und Sklaven durchwoben wird. Auch hier muss auf Alicia verwiesen werden, die von Griselda getrennt und wie diese verkauft wird.360 Paradigmatisch für die Erzählung ist der Fall Clemente Silvas, der neben Cova, Ramiro Estévanez und Helí Mesa als Erzähler in der Erzählung auftaucht und mit dem Bericht Covas verflochten wird. Silva berichtet im zweiten Teil, wie er auf der Suche nach seinem Sohn und in der Hoffnung, ihn lebendig und frei aus den caucherías zurückzuführen, selbst in Abhängigkeit von caucheros gerät, insbesondere von Zoraida Ayram. Er berichtet von den Hintergründen der caucho-Gewinnung, vom Handel in den Händen der Casa Arana bis hin zu Benjamín Larrañaga und Barrera sowie von der Versklavung indigener Gemeinschaften und der Verschleppung von Arbeiter:innen.361 Die Geschichten, die Cova aus den caucherías erzählt und erzählen lässt, indem er Silvas Stimme mit seiner eigenen ›synchronisiert‹, stellen die erzählerische Verflechtung auf der discours-Ebene her (Beginn Teil 3, »Lamento del cauchero«); auf histoire-Ebene ist es Silvas Geschichte, die sich strukturell in die Covas einfügt und mit dessen Erzählung sie verflochten wird, denn auch Silvas Geschichte und Motivation ist geprägt vom Verrat, der Flucht, dem Verschwinden und der Suche.362 Beide Erzählungen sind geprägt von einer Art »razón patriarcal«,363 die jedoch durchquert wird von der ambivalenten Darstellung von Körperlichkeit in la selva und den caucherías. Die Pose des machos Cova, der sich als Verführer (Griselda) und Verführter (Zoraida Ayram) darstellt, fällt zusammen mit jener Pose der Gewalt, die angeklagt (caucherías) und verherrlicht (»bello morir«) wird und gleichermaßen als Text-Modell fungiert. Dieses Oszillieren – der ständige Widerspruch zwischen erzählten Eigenschaften und Einstellungen, die stets auch in das Narrativ der selva, der Körper und Räume eingebunden sind – spricht für den entangled narrator, der die Posen bündelt und gleichzeitig aufzeigt, wie sie aktualisiert und affirmiert werden und dabei künstlich erscheinen.

360 »Tras la camorra con el Barrera, me separaron de eya y me vendieron.« Ebd., S. 372. 361 »Negóse a decir quien era, ni de dónde venía, pero sus compañeros predicaban con regocijo que iban buscando las caucherías de Larrañaga, ese pastuso sin corazón, oscio de Arana y otros peruanos que en la hoya amazónica han esclavizado más de treinta mil indios.« Ebd., S. 254. Siehe zu den dokumentarischen, »faktischen« Zusammenhängen, die dem Roman zugrunde liegen, nach wie vor ergiebig und aufschlussreich, Eduardo Neale-Silva, »The Factual Bases of La Vorágine«. In: PMLA, Vol. 54, No. 1 (Mar. 1939), S. 316–331. 362 Siehe José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 251–271. In diesem Abschnitt wird Silvas Odyssee zusammengefasst. 363 Alejandro Mejías-López, »Textualidad y Sexualidad de la selva« 2006, S. 380.

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Diese erzählerische und räumliche Verflechtung sei nochmals anhand der Schicksale Covas und Silvas verdeutlicht. Der Beginn des zweiten Teils, Covas Anklage – »¡Oh selva, esposa del silencio, madre de la soledad y de la neblina! ¿Qué hado maligno me dejó prisionero en tu cárcel verde?« –, wird in Bezug auf den Beginn von Teil 3 (nachträglich) als Prolepse erkennbar, weil der Beginn von Teil 2 bereits die Motive und Themen der Gewalt und Sklaverei der caucherías vorwegnimmt, obgleich dieser Abschnitt zunächst auf die Imagination der selva als Landschaftsraum abhebt. Die Gefangenschaft und Einsamkeit im (Arbeits-) Lager der selva gelangen aber erst im dritten Teil vollends zur Entfaltung bzw. werden vom Erzähler explizit verhandelt, während die Sakralität der selva, die in der Betrachtung zur Simulation des Bösen führt, bekräftigt wird: »¡Yo he sido cauchero, yo soy cauchero! Viví entre fangosos rebalses, en la soledad de las montañas, con mi cuadrilla de hombres palúdicos, picando la corteza de unos árboles que tienen sangre blanca, como los dioses.«364 Noch dazu werden die Stimmen von Cova und Silva austauschbar, da inhaltlich die Geschichte, die zu Beginn des dritten Teils erzählt wird, auf beide Figuren zutrifft und der discours als unentscheidbar angelegt ist – und weil nicht festgelegt wird, wessen Stimme vom Schicksal der caucheros berichtet. Fest steht nur: Cova erzählt als entangled narrator und macht Silva und sich selbst zu Doppelgängern. Damit wird ein erzählerischer Prozess fortgeführt, der sich bemerkenswerterweise von dem Moment an fortsetzt, in dem Griselda Cova Fotografien zeigt, um den erwarteten Reichtum der Arbeit in den caucherías zu bezeugen; der Prozess setzt sich fort mit den Aufnahmen eines französischen Naturalisten von Clemente Silvas gefoltertem Körper und lässt sich in Bezug setzen zu den extradiegetischen visuellen Strategien der Erzählung. Auch die Abbildungen von Fotografien in unterschiedlichen Ausgaben von La vorágine seit der Erstausgabe verschieben die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, Imagination und Darstellung, womit sie dem metatextuellen Programm von La vorágine entsprechen, welches der Herausstellung der Herstellung von Vorstellung Bedeutung verleiht. Eine Kodak, die Silvas Körper ablichtet, zeugt fotografisch von der Gewalt der caucherías einerseits, verbindet darüber hinaus aber andererseits auch die

364 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 287. Auch die Körperlichkeit von selva und Mensch als sexualisierte Beziehung ist zu Beginn des dritten Teils motivisch gebunden: »Al recorrer la taimada tropa de vegetales para derribar a los que no lloran, suelo sorprender a los castradores robándose la goma ajena. Renimos a mordiscos y a machetazos, y la leche disputada se alpica de gotas enrojecidas. Mas qué improta que nuestras vena aumenten la savia del vegetal? El capataz exige diez litros diarios y el foete es usurero que nunca perdona. […] Mientras le cino al tronco goteante el tallo acanalado del caraná, para que corra hacia la tazuela su llanto trágico, la nube de mosquitos que los defiende chupa mi sangre […].« Ebd., S. 289.

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Imaginationen der selva mit denen der Körperlichkeit und trägt zu den Imaginarien der kolonialen Ausbeutung bei: Y levantándome la camisa, le enseñé mis carnes laceradas. Momentos después, el árbol y yo perpetuamos en la Kodak nuestras heridas, que vertieron para igual amo distintos jugos: siringa y sangre. De allí en adelante, el lente fotográfico se dio a funcionar entre las peonadas, reproduciendo fases de la tortura, sin tregua ni disimulo, aborchonando a los capataces, aunque mis advertencias no cesaban de predicarle al naturalista el grave peligro de que mis amos lo supieran. El sabio seguía impertérrito, fotografiando mutilaciones y cicatrices. ›Estos crímenes, que avergüenzan a la especie humana – solía decirme –, deben ser conocidos en todo el mundo para que los gobiernos se apresuran a remediarlos.‹365

Für die visuellen Strategien ist damit ein Zusammenhang hergestellt, innerhalb dessen die narrativen Strategien von selva und Körper sowie la selva als TextKörper – und somit wiederum die Raumerzählung und die Erzählung von Raum – verknüpft werden. Erheblich dazu beigetragen haben Fotografien, die in den ersten Auflagen von La vorágine dem Text hinzugefügt wurden. Eine dieser Fotografien zeigt einen cauchero, inmitten von Bäumen stehend, bei der Arbeit auf einer Kautschuk-Plantage – die Grenze zwischen Baum und Mensch verschwimmt, und die Figur des Clemente Silva erscheint fotografisch (simuliert). Eine weitere Fotografie zeigt José Eustasio Rivera in einer Baracke sitzend. Hier wird mittels der Bildunterschriften eine weitere Grenze überschritten: »(Fotografía Tomada Por la Madona Zoraida Ayram)« und »Arturo Cova En Las Barracas Del Guaracu« simuliert mittels eines Fotos die Existenz von Cova bzw. lässt die Imagination des Doppelgängers von José Eustasio Rivera in gleicher Weise entstehen, wie diese auch narrativ hergestellt wird (siehe Kapitel 5.1.).366 Die Fotografien des Autors, die vorgeben, den Protagonisten und Ich-Erzähler zu bezeugen; ein cauchero, der in der Erzählung fotografiert wird und dessen 365 Ebd., S. 267. Die Figur des naturalista francés ist dabei eingebunden in das Spiel der Differenz; er steht ebenfalls für die neo-koloniale Ausbeutung, wie er gleichzeitig dessen Opfer ist. Auch er verschwindet und wird von denen, die ihn bezahlt haben, ermordet. Zu den möglichen Hintergründen bzw. Vorlagen der (Re-)Figuration Riveras einer solchen Figur, die die historischen Hintergründe des caucho-Booms vor dem Ersten Weltkrieg mit den Schriften von W. W. Hardenburg, Roger Casement im Putumayo, mit der Geschichte von Eugenio Reobuchón zu Beginn des 20. Jahrhunderts verflechten. Siehe Eduardo Neale-Silva, »The Factual Bases of La Vorágine«. In: PMLA, Vol. 54, No.1 (mar. 1939), S. 316–331. Hier: S. 324ff. Das Manuskript, und somit auch der Roman, klagen an, was dem »mosiú« nicht gelingt; damit reiht sich Cova/Rivera ein in die Liste der prominenten Ankläger. 366 Die Biblioteca Nacional de Colombia bietet eine kommentierte Ausgabe von La vorágine, der als Roman zu Lebzeiten vier Mal von José Eustasio Rivera überarbeitet wurde. Laut Biblioteca Nacional, die auch die hier beschriebenen Fotos öffentlich bereithält, sind diese in den ersten Ausgaben 1924, 1925 und 1926 aufgenommen. Siehe: http://www.bibliotecanacio nal.gov.co/ebooks/voragine_web/index.html. Zur Publikationsgeschichte von La vorágine siehe Montserrat Ordóñez, La vorágine 2002, insbes. S. 14ff.

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Foto im Roman als Simulation der fiktionalen Welt gesetzt wird; Fotografien im Text und als Text: All diese Elemente sind, gebunden an histoire und discours, als eine Kennzeichnung des entangled narrator und von dessen entgrenzter Souveränität anzuführen, denn es werden keine Parallelgeschichten zusammengefügt, sondern die Erzählungen werden verflochten vom Entwurf einer Instanz, die sich selbst überschreiten möchte. Die einzelnen Schicksale verweisen nicht bloß aufeinander; sie durchdringen sich gegenseitig, haben aneinander teil und verschränken sich. Diese Durchdringung wird in der räumlichen Imagination der selva vollzogen, die durchquert wird von abermals räumlich vermittelten KörperPolitiken in der Imagination der caucherías (aus denen heraus die Erzählung verwirklicht wird). Die räumliche Matrix der Erzählung findet damit dank der Fotographien zu einer zusätzlichen visuellen Strategie. Aus der kolonialen Imagination der selva und der neo-kolonialen Imaginaton der caucherías ergibt sich eine postkoloniale Tropographie – und damit die Möglichkeit, Imaginarien des Bösen räumlich zu erfassen. La selva und die caucherías ähneln mittels dieser Tropographie zunächst strukturell dem Modell eines Lager-Raumes. In der Erzählung selbst bilden sie eine imaginierte Materialisierung einer fortgeführten (postkolonialen) Ausnahme und prinzipielle Entgrenzung, die Böses über ein verräumlichtes Schreiben erfasst. Dieses Böse entsteht in der Aufnahme und Transformation von Narrativen und in der Fiktionalisierung und ist als Möglichkeitsraum, Imaginarium der Literatur, mehr als dass es einen festen Ort der Zuschreibungen erhält. Wechselnde Besetzungen aller erzählten Akteur:innen bilden keine feste Bezugsgröße, die imstande wäre, die Imaginarien des Bösen für sich allein und autonom zu bündeln. In der Anlage des Erzählens und des Erzählten gelingt es dem entangled narrator, den Protagonisten Arturo Cova nicht nur aus der Geschichte, sondern aus der Fiktion selbst herauszunehmen und somit die paradoxe Dynamik eines einschließenden Ausschlusses zu initiieren. Er wird somit zu einer Fiktion der Autofiktion und simuliert(en) Souveränität. Sein Akt der Verführung, der darin besteht, der Rache nicht als eine Form von Beichte, sondern im heroischen Überlebenskampf beizuwohnen und sie auszuführen, lässt diesen entangled narrator letztlich als infamen Erzähler gänzlich in Erscheinung treten, auch wenn seine Infamie inmitten des Infamen der Verbrechen nur eine Pose zu sein scheint. Der eingeschlossene, ausgeschlossene Dritte, der die Figurenkonstellationen der gesamten Erzählung durchquert und nicht nur auf Cova und Alicia zutrifft, sondern auch für Helí Mesa, Clemente Silva, Fidel Franco, la niña Griselda und den naturalista francés in Anspruch genommen werden kann, simuliert eine Lager-Logik, innerhalb derer diese Figuren als ständige Kippfiguren arrangiert sind: Sie alle sind Opfer und Täter:innen, Subjekte und Objekte, Herren und Knechte gleichermaßen. Neben diesen Kippfiguren zeigt sich auf der histoire-

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Ebene die Figuration eines Souveräns, der die Verwaltung des Lebens durch Herrschende und ihre sanktionierende und todbringende Gewalt benennt. Es sind die Herren über die caucho-Plantagen und die Vertreter der Politik, die von ihr profitieren: Su señoría se contentará con decir que estuvo en la calumniada selva del crimen, les habló de habeas corpus a los gomeros, oyó sus quejas, impuso su autoridad y los dejó en condiciones inmejorables, facultados para el regreso al hogar ajeno.367 Aunque así fuera. ¿Qué ganaríamos con la evidencia de que fulano mató a zutano, robó a mengano, hirió a perencejo? Eso, como dice Juancito Vega, pasa en Iquitos y en donde quiera que existan hombres: cuanto más aquí en una selva sin policía ni autoridades. Líbrenos Dios de que se compruebe crimen alguno, porque los patrones lograrían realizar su mayor deseo: la creación de Alcaldías y de Panópticos, o mejor, la iniquidad dirigida por ellos mismos.368

Die explizite (biopolitische) Dimension, über welche die körperliche Verfügbarkeit der caucheros verhandelt wird und die eine räumliche Imagination des Lagers impliziert, die über die Verhandlung des Panopticons und des habeas corpus erreicht wird, spricht damit Techniken der Überwachung, Gerichtsbarkeit und Lebenssteuerung in den caucherías an, findet jedoch nur anekdotisch statt und tritt hinter das Ende der Erzählung zunächst zurück.369 Dieses Ende ist als Konfrontation zweier Souveränitätsfiguren arrangiert: Cova (in seiner entgrenzten Souveränität als entangled narrator) trifft auf die vom gleichen Erzähler mitgestaltete autoritäre Souveränität Barreras. In der Szene des Todeskampfes zwischen Barrera und Cova erscheint einerseits ein letztes Mal die Imagination einer Transgression, die das Sakrale mit der Idee der wilderness zu vermischen scheint. Dabei ist anzumerken, dass diese Szene oftmals entweder ignoriert oder aber als zu schrill, abenteuerlich und in ihrer Explizitheit zu melodramatisch kritisiert wurde. In ihr finden jedoch andererseits nahezu alle zuvor genannten Genre-Elemente des Melodrams, des Horrors, der Abenteuer- und der Kriminalgeschichte ihre Bestätigung bzw. diese werden in der finalen Gegenüberstellung zweier Souveränitätsfiguren zusammengebracht. Bevor es jedoch zu dieser finalen Konfrontation zwischen Cova und Barrera kommt, ist die Begegnung bereits in Covas Vorstellung mit dem Bild der »mándibula partida« von Millán prefiguriert und ruft damit unmittelbar das destruktive und konstruktive Po-

367 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 275. 368 Ebd., S. 277. 369 Auf das habeas corpus aus europäischer Sicht bezieht sich u. a. Giorgio Agamben in Homo sacer explizit und ausführlich, damit er es als nacktes Leben deuten kann. Siehe dazu ders., Homo sacer. Der Souverän und das nackte Leben 2002, S. 131–134.

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tenzial der Gewalt auf, welches Milláns Enthauptungsszene im ersten Teil von La vorágine zugesprochen wurde.370 So findet denn auch Covas Prefiguration ihre Entsprechung: Er tötet, nun am Ziel, zunächst aus Rache und um das Leben seines Sohnes zu sichern, indem er Alicia aus der Gefangenschaft Barreras befreit. Darüber hinaus wird diese Figuration durchquert von der Imagination des Prinzips der Gewalt der selva – »Es la muerte que pasa dando la vida« –, welches als ein Prinzip der Herrschaft erscheint: »Los devoró la selva.«371 Cova, Alicia und ihr Sohn verschwinden jedoch daraufhin wieder und finden vermutlich den Tod. Bevor allerdings dieses letzte, göttlich autoritäre Urteil gesprochen wird – »¡En nombre de Dios!«372 –, gilt es, den Sohn gegen den (kriminellen) Rivalen und später den (ansteckenden) Kranken zu verteidigen, der bereit ist, Covas Schiff zu entern.373 Pataleando, convulsos, arábamos la maleza y el arenal en nudo apretado, tocándonos el aliento de boca a boca, él debajo unas veces, otras, encima. Trenzábamos los cuerpos como sierpes, nuestros pies chapoteaban la orilla […] hasta que yo […] en supremo ímpetu, le agrandé con mis dientes las sajaduras, lo ensangrenté, y rabiosamente, lo sumergí bajo la linfa para asfixiarlo como un pichón.374

In Cova werden die kannibalischen Züge offenbar, die der entangled narrator erzähllogisch benötigt, um Covas tyrannischen Widersacher Barrera auszuschalten: Der Biss in das Gesicht des Antagonisten öffnet die zuvor von Alicia gesetzte Wunde und setzt wiederum das Blut frei, welches »cariben«375 anlockt, die Barrera nicht nur töten, sondern nichts von ihm übriglassen als das Weiß des »cuerpo radiografiado«376 und seines Skeletts (»esqueleto mondo, blancuzco«377). Zurück bleibt damit eine Bildsequenz, die die medizinischen, politischen und symbolischen Vorstellungen der selva in Dispositive der Biomacht als Imaginarien des Bösen bündelt. Die Ordnungen und Ortungen des hergestellten biopolitischen Raums in La vorágine entstehen abermals aus der Verschränkung der Imagination von Text, Körper und Raum und ermöglichen es, die Imaginarien des Bösen unter dem Aspekt der thanatopolitics zu erfassen. 370 371 372 373 374 375

José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 367. Ebd., S. 385. Ebd., S. 384. »¡Pueden contagiar a mi hijo!« Ebd., S. 383. Ebd., S. 382. Siehe zur Verbindung von caribe und caníbal im kolonialen Diskurs Carlos Jáuregui, Canibalia 2005, insbes. S. 65–89. Es ist, wie u. a. Simona Forti und auch Jacques Derrida bemerkt haben, eine Dimension politischer Imagination der Bestialität und Wildheit zuzurechnen, denjenigen oder dasjenige zu repräsentieren, der/das außerhalb des Gesetzten der polis steht oder ihr Gegenspieler ist. Vgl. Jacques Derrida, The Beast and the Sovereign, Volume I 2009, insbes. S. 305–334. Simona Forti, New Demons 2014, S. 125–179. 376 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 382. 377 Ebd.

»Es la muerte, que pasa dando la vida«: Die permanente Grenze

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Man kann angesichts der Anlage des Erzählens und der damit beförderten (biopolitischen) Imagination somit insgesamt auch von Formen einer scapeBildung sprechen, die die Narration insgesamt dynamisieren. Die Ordnungen der selva von La vorágine sind damit allesamt aus imaginären Räumen und einer Verräumlichung durch literarische Produktion hervorgegangen.378 In der Verflechtung der Elemente und ihrer Beziehungen ergeben sich damit Zeichen, die das Böse nicht nennen, Böses aber im Prozess der Erzählung zu rekonstruieren helfen. Anstatt also beispielsweise den Wahnsinn Covas für die Imaginarien des Bösen hervorzuheben, der als Erklärungsmodell problematisch ist, weil der Protagonist sein Ziel der Rache an Barrera letztlich rational erreicht, ist es auch mit Blick auf narratologische Kriterien entscheidender, dass der Erzähler auf narration-Ebene die Vorstellung des Wahnsinns nicht in das Phantastische, Abnorme oder Abstoßende steigert, sondern immer auf der histoire-Ebene erreicht.379 So bleibt einmal mehr zu betonen, dass die Beobachtung, die durch das Erzählen erfolgt, von Beginn an an die mise en abyme gebunden ist und damit auch an die räumliche Konstituierung aus dem Lager der caucherías, in dem die Erzählung Covas entsteht. Dieser Fakt wird narrativ stärker vermittelt, als dass der Wahnsinn zum Schreibprozess beiträgt oder zum Erzählmodell wird. Wahnsinn, Medizin und Anatomie bilden gewiss einen Subtext innerhalb der Erzählung; die Faktoren sind aber nicht imstande, eine Matrix der Imagination zu bilden. Diese kann einer entgrenzten Souveränität zugeordnet werden, welche wiederum aus den Modi des entangled narrator hervorgeht. Aus der kolonialen Imagination der selva und der postkolonialen Imagination der caucherías entsteht die Erzählung Covas als Tropographie und damit die Möglichkeit, Imaginarien des Bösen räumlich zu erfassen. Damit ist la selva eine säkulare und transversale Version des Bösen eingeschrieben, die nicht allein an Vorstellungen von sakraler Gewalt anknüpft, sondern auch an die geokulturellen Imaginarien der postkolonialen Amerikas gebunden ist, die hier im caucho als Ausdruck und 378 Vgl. dazu Jörg Dünne: »[Es] lässt sich das, was Appadurai für eine globalisierte transnationale Welt als Ausbildung von vernetzten scapes beschreibt, […] als eine genuine Leistung literarischer Räume verstehen: dass sie nämlich semiotische Verknüpfungen zwischen Gegenständen herstellen, die einander nicht notwendigerweise physisch benachbart sind.« Ders., »Dynamisierungen: Bewegung und Situationsbildung«, in: Ders. u. Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum 2015, S. 41–54. Hier: S. 48. 379 Zum Wahnsinn Covas siehe Charlotte Rogers, »Medicine, Madness and Writing in La vorágine«. In: Bulletin of Hispanic Studies, 87.1 (2010), S. 89–108. Die Autorin untersucht vier Formen des Wahnsinns in La vorágine: »[T]he way in which the vocabulary of medicine and mental illness is used to depict the jungle and Cova’s insanity; the protagonist’s madness as a reflection of the fears of national racial degeneration that plagued Colombia at the time La vorágine was conceived and written; and the process by which sickness transforms Cova into a writer uniquely capable of evoking the jungle’s power.« (S. 92).

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Substanz für ein Prinzip der Differenz liegen, die das Böse stetig zu benennen sucht. Kehrt man, wie die Erzählung es durch die mise en abyme selbst nahelegt, zu ihrem Ausgangspunkt zurück – obwohl dieser Punkt insbesondere vom Erzähler gleichzeitig überschritten wurde, indem die Geschichte nach der Übergabe des Manuskripts (welches gleichzeitig der Roman selbst zu sein scheint) noch nicht ihr Ende gefunden hat –, dann liegt es nahe, mit der abschließenden Beobachtung zur Narration und zu den Narrativen des Bösen einen Blick auf den Entwurf einer Ethik des Erzählens zu werfen. Denn in der »trayectoria de crueldad«380 entsteht die Idee einer Ethik, die das Scheitern als Versuch des Überlebens deutet: En cambio, yo sí puedo enseñarles mis huellas en el camino, porque si son efímeras, al menos no se confunden con las demás. Y tras mostrarlas quiero describirlas, con jactancia o con amargura, según la reacción que produce en mis recuerdos, ahora que las evoco bajo las barracas del Guaracú.381

Cova erscheint als infamer Erzähler, der als ›Kannibale‹ der Stimmen, Narrative und Imaginarien seiner Gefährten und als ›Kannibale‹, der seinen Widersacher bezwingt, zeigt, wie er sich selbst in der Autofiktion und damit sein entworfenes imaginäres Ich und andere Figuren im Erzählen ihrer Geschichten konsumiert, um dabei doch jegliche Souveränität im Akt des Scheiterns zu behalten. Covas Ethik ist damit eine Ethik des Überlebens und der Existenz der Form – das Verschwinden bringt das Manuskript hervor und wird dabei selbst als Verschlingen und Abstieg imaginiert; es bleibt jedoch in der Ambivalenz des Unglücks des Scheiterns und im Scheitern als Unglück verhaftet, womit das Böse der selva mit dem Schreiben des Bösen in la selva zusammenfällt. Die Topologien des Bösen werden narrativ invertiert, sobald Cova als Wiedergänger Riveras und der Roman als Wiedergänger des Manuskripts simuliert wird. Das Resultat einer Tropographie setzt eine Arbeit an den thanatopolitischen Imaginationen in Gang, die jedoch als Imaginarien im Erzählvorgang kein definitorisches Verständnis des Bösen vertreten. Vielmehr konstituieren diese Imaginationen einen relationalen Entwurf des Bösen als Imaginarium, eingeschrieben in ein weltliches Verständnis und wiederum selbst eng verbunden mit der Vorstellung von Geschichte und der Position der Äußerung dieser Geschichte.

380 José Eustasio Rivera, La vorágine 2002, S. 298. 381 Ebd., S. 346.

6.

Jorge Luis Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen: El atroz redentor Lazarus Morell (1936), Deutsches Requiem (1946), El Evangelio según Marcos (1970) La culpa no es sustancialmente de nadie. Los hombres de las diversas Americas permanecemos tan incomunicados que apenas nos conocemos por referencia, contados por Europa. (J. L. Borges, El otro Whitman) Más raro es ser el hombre que entrelaza palabras en un cuarto de una casa. (J. L. Borges, Yo) (Para Borges) toda historia es de infamia. (Juan José Saer) El ejecutor de una empresa atroz debe imaginar que ya la ha cumplido, debe imponerse un porvenir que sea irrevocable como el pasado. (J. L. Borges, El jardín de senderos que se bifurcan)

Der Maßstab der Untersuchung von Imaginarien des Bösen in Erzählungen von Jorge Luis Borges folgt im Vergleich zur Ausgangslage von La vorágine zunächst bei gleicher Fragestellung und Logik ihrer Herleitung, indes unter gänzlich anderen Voraussetzungen. Die Gründe dafür seien hier kurz umrissen, um anschließend auf die Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Untersuchung einzugehen. Augenscheinlich sind zunächst die Editions- und Rezeptionsgeschichten sowie die rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungen der Œuvres beider Autoren grundsätzlich unterschiedlich verlaufen. Anders als bei José Eustasio Rivera vermitteln und reflektieren die Erzählungen von Jorge Luis Borges poetologische Problematisierungen von Literatur und Welt auf eine multiple und letztlich variationsreichere Art und Weise und als Imaginarien des Erzählens im Verlauf des Erzählens. Borges liefert gewissermaßen eine Poetik bzw. Varianten der Reflexion und der Beobachtung des Schreibens und des Erzählens gleich bei jeder Lektüre explizit mit. So, wie die Intersektionen von Fiktion und Kritik für die Kurzgeschichte (relato breve oder cuento) seit dem 19. Jahrhundert mit den Reflexionen von Edgar Allan Poe an Bedeutung gewonnen haben, lässt sich auch für das Erzählen von Jorge Luis Borges eine konstitutionelle Arbeit an der Ver-

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Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen

flechtung der Praktiken des fiktionalen Erzählens und der Literaturkritik sehen. Diese Verflechtung wird zum einen in Borges’ konstanten editorischen Bemühungen und zum anderen in seiner Einflussnahme auf die Zusammenstellung des eigenen Schreibens als Werk deutlich. Zudem ist die Praxis der Kritik in einer Vielzahl unterschiedlicher Medien als Ergänzung zum erzählerischen Werk Borges’ zu betrachten. Dabei ergänzen und befördern sich Kritik und Fiktion gegenseitig.382 Borges’ Geschichten werden deshalb, und das ist gleichzeitig ein weiteres initiales Argument dieses Kapitels – und darüber hinaus das Argument in der Auseinandersetzung mit Imaginarien des Bösen im Gesamtzusammenhang der Texte der Moderne, die hier zur Diskussion stehen und untersucht werden –, eher von einer selbst entwickelten postkolonialen Position zu analysieren sein, weniger als Ausdruck postmoderner Literatur avant la lettre. Im Lichte des gewählten Zugangs zu Imaginarien des Bösen, welcher über das Verständnis der Simulation des Bösen eröffnet wurde, fällt unmittelbar ins Gewicht, dass das Erzählen und die Poetik von Jorge Luis Borges in poststrukturalistischer Terminologie bereits eine eigene Tradition herausgebildet haben (auf deren Grundlage die Bezeichnung der Postmoderne avant la lettre aufkommen konnte), die das Schreiben Borges’ – u. a. unter dem Stichwort der escriture und Simulakra des Schreibens – umfassend untersucht hat.383 Auch diese Arbeiten bieten eine hilfreiche Orientierung, die Simulation mittels des Erzählens in den zu untersuchenden Texten fruchtbar zu machen. Dabei soll das Interesse an postkolonialen Positionen in den Vordergrund rücken, die in den Verräumlichungen und Verflechtungen dieser Erzählungen erprobt werden. Besteht der postkoloniale Faktor von La vorágine noch in der Simulation des (post)kolonialen Diskurses und damit einer Form von postkolonialer Mimikry, 382 Dieses Argument ist gewiss kein neues; es als Grundlage für Forschungsfragen zu Borges im Kontext der Literaturen der Amerikas zu gebrauchen, ist jedoch weniger verbreitet, als zunächst angenommen werden kann. Die Verflechtung von Kritik und Fiktion in Borges’ Schreiben im Sinne einer écriture wird hier für Perspektiven auf das Erzählen genutzt. Wie die Intersektionen von Kritik und Fiktion immer wieder präzisiert, spezifiziert und an neue Forschungsfragen angepasst werden, zeigen u. a. Arbeiten ganz unterschiedlicher Ausrichtung von Beatriz Sarlo, Jorge Luis Borges. A writer on the edge 1993, über Pablo Brescia, Modelos y prácticas en el cuento Hispanoamericano: Arreola, Borges, Cortázar 2011, und Herminia Gil Guerrero, Poética Narrativa de Jorge Luis Borges 2008, bis zu Christine Rath, Schamhafte Geschichte. Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges 2011. 383 Cornelia Klettke bringt überzeugend philosophische Konzepte des Poststrukturalismus mit Erzählungen von Jorge Luis Borges zusammen und erbringt den Nachweis, dass »Borges bis zu einem gewissen Grade modellbildend auf das Schriftkonzept der Differenz gewirkt hat.« Dies., Simulacrum Schrift. Untersuchungen zu einer Ästhetik der Simulation bei Valéry, Pessoa, Borges, Klossowski, Tabucchi, Del Guidice, De Carlo 2001. Insbes. S. 63–85. Hier: S. 64. Das Argument von Klettke kann bereits als postkoloniale Kritik gewendet werden. Wenn man begründet davon ausgehen kann, dass Borges poststrukturalistische Vordenker modellbildend geprägt hat, dann verschieben sich die Koordinaten und Positionen der Blickrichtungen, und das starre Verhältnis von Zentrum und Peripherie wird dynamisiert.

Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen

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so ist die Poetik von Borges in der fiktionalen Anlage des Möglichen der Möglichkeiten384 weitaus komplexer figuriert und schließlich tendenziell vielseitiger als diejenige, die aus der Beobachtung des Erzählens von La vorágine selbst gewonnen wurde. Anhand der Erzählungen und Essays von Borges lässt sich eine Form der postkolonialen Kritik beobachten, die die unterstellte Hegemonie Europas gegenüber dem sogenannten Marginalen (Literaturen und Kulturen), also hier gegenüber lateinamerikanischen Autor:innen, in Fragen der Theoriebildung herausstellt, um sich aus dieser Unterlassung und Aussparung selbst herauszubilden. Insbesondere Borges’ ensayos, wie Kafka y sus precursores (1952) und El escritor argentino y la tradición (1932), können als Entwicklung genuin postkolonialer Positionen aufgeführt werden, die die Fragen von Einfluss, Tradition und Identität nicht entlang von Ideen des Nationalen argumentieren, sondern diese Fragen in der Übertragung und Verflechtung kultureller Bezugnahmen und von Aneignungsstrategien verhandeln. Dabei bedient sich Borges ebenso geschickt an orientalistischen Traditionen des Erzählens, wie er irische Literatur reflektiert, die im kolonialen Verhältnis zu England gesehen werden kann, und verflicht Imaginarien der jüdischen Diaspora mit argentinischer Kultur, und zwar so weit, dass kulturelle Grenzen variabel und als solche auch künstlich erscheinen. An dieser Künstlichkeit zu arbeiten und aus diesen Variablen und Relationen fiktionale Welten entstehen zu lassen, macht die postkoloniale Position von Borges’ Erzählungen im Allgemeinen und im Kontext der Imaginarien des Bösen im Besonderen aus.385 Damit geht es also um das Vorhaben, das Erzählen in Borges’ Texten auf Imaginarien des Bösen im Lichte der postkolonialen Positionierung und Argumentation seiner poetologischen Standpunkte hin zu befragen. Dieser Fragenkomplex umfasst dazu eine Problematisierung von Raum und Raumvorstellungen. Als relevant erweist sich in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die hier eingebrachte Beschäftigung mit Raum auch im Kontext der raumorientierten Kulturwissenschaften u. a. aus expliziten Auseinandersetzungen mit Modellen von Jorge Luis Borges hervorgegangen ist. Topologische Betrachtungsweisen etwa können in Michel Foucaults Werk vom Verweis auf Borges in der Einleitung zu Les mots et les choses (1966) bis hin zu den espaces autres aus dem gleichnamigen Beitrag von 1967 verfolgt werden. In beiden der sehr unterschiedlichen Texte von 384 Vgl. Victor Andrés Ferretti, Boreale Geltung. Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 19–36. 385 Eine postkoloniale Lektüre der Werke von Jorge Luis Borges wurde als solche erst zu Beginn der 1990er Jahre initiiert und wird weiterhin mitunter kontrovers diskutiert. Siehe zu Möglichkeiten der Stärkung von postkolonialen Positionen im Werk von Jorge Luis Borges insbes., exemplarisch und paradigmatisch Edna Aizenberg, »Borges, Postcolonial Precursor«. In: World Literature Today, 66.1 Winter 1992, S. 21–26. Sowie Djelal Kadir, The Other Writing. Postcolonial Essays in Latin America’s Writing Culture 1993.

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Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen

Foucault wird der Begriff der Heterotopie eingeführt. Diese an Borges’ Texten orientierten Beobachtungen zu Raum und Räumlichkeit, die prominent und paradigmatisch Analysen und Begriffe zu Schriftraum, zum Stadtraum und zur nationalen imaginären Geographie mitgeprägt haben, lassen sich weiterhin in Edward Sojas Konzeption eines third space wiederfinden, die als Metapher in den Postcolonial Studies weiterentwickelt und umbesetzt wurde.386 Diese Ansätze bieten bereits – wenig überraschend, gemessen am Einfluss des so genannten und nur vermeintlich marginalen Standpunktes des argentinischen Schriftstellers – eine postkoloniale Positionierung an. Das hier unternommene Vorhaben, durch die Untersuchung einer literarischen Verflechtungsgeschichte von postkolonial-(bio)politischen Imaginationen von Raum über Themen und Sujets der Sklaverei in den Amerikas zu Imaginarien des Bösen zu gelangen, möchte somit über diese topologisch-topographischen Bestimmungen hinaus der Frage nach der Verflechtung von Raumerzählung und Erzählung von Raum nachgehen.387 Der Zusammenhang der hier untersuchten Erzählungen von Borges resultiert damit nicht allein aus der Betrachtung des Gesamtwerkes von Borges und der darin geäußerten postkolonialen Position(en), sondern ist gleichfalls literaturund erzähltheoretisch an dem ausgerichtet, was Herminia Gil Guerrero als poética narrativa des argentinischen Schriftstellers herausgearbeitet hat.388 Dieser Poetik zufolge, die auch als »Überschreibung«389 charakterisiert wird, ist das 386 Vgl. Edward Soja, Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Criticl Social Theory 1995. 387 Vittoria Borsò hat wiederholt darauf verwiesen, dass bei Borges die »kritische Reflexion der Komplexität nicht nur des Raums selbst, sondern auch seiner Materialisierung im Raum des Textes« hervorzuheben ist, was sie u. a anhand von El Aleph demonstriert. Dabei gelangt sie zu folgendem Schluss: »Das Aleph ist also nicht das Werkzeug, das Ortungen des Raumes ermöglicht oder auch die Utopie eines anderen Raums ist, wo ich nicht bin. Offenbart wird vielmehr die unendliche Verflechtung der Lagerungen in der dichten Textur von Subjekt und Welt.« Vittoria Borsò, »Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift«. In: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Literaturwissenschaften 2007, S. 279–295. Hier: S. 280 u. 283. 388 Herminia Gil Guerrero, Poética narrativa de Jorge Luis Borges 2008. 389 »Nicht Nachahmung des Phantastischen, sondern [das] Variieren und Zerspielen von Modellen lässt Borges, Überschreitungen zu fiktiven Akten (Überschreibungen) werden, die den Text für imaginäre Besetzungen öffnen.« Victor Andrés Ferretti, Boreale Geltung. Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 32f. Verwiesen sei an dieser Stelle ausführlicher auf Victor Andrés Ferrettis Untersuchung zur »Nördlichkeit« in Borges’ Werk. Darin wird konzeptionell über die Klärung des Begriffs der Neophantastik (neofantástico) die Poetik des Imaginären in Borges’ Werken herausgestellt und dann explizit mit einer (»anthropologischen«) Sicht auf Räumlichkeit verknüpft. Ferretti stellt heraus, wie in Borges’ Texten (Neo-)Phantastik als ein Feld von Möglichkeiten abgesteckt wird, in dem nicht nur eine allumfassende Realität als Konstrukt hinterfragt, sondern die Problematisierung oder Infragestellung gleichzeitig und vielfach im Zusammenspiel mit »fiktionslösenden Fiktionen« und einer Reflexion des Imaginären verflochten wird. Im vorliegenden Ansatz wird diese Betrachtung des Zusammenspiels von Imagination,

Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen

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Erzählen in Borges’ Erzählungen bestimmt durch eine wechselnde Kombinatorik, parodische Miniaturisierung, Be- und Entgrenzung, Variabilität der Geschichte im Prozess des Erzählens, Dynamisierung von plot-Strukturen sowie Kerben von vielfachen und vervielfachten Ebenen der Diegese. Diese Verfahren betreffen das Verhältnis von Raumerzählung und der Erzählung von Raum, da durch sie die künstliche Hierarchie von Zentrum und Peripherie hinterfragt, aufgebrochen und austauschbar wird. Das heuristische Modell des entangled narrator legt jedoch nahe, diese erzählerischen Verfahren nicht allein für das Erzählen in Borges’ Erzählungen zugrunde zu legen, sondern sie darüber hinaus auch im Hinblick auf ihre verflechtungshistorischen Zusammenhänge zu betrachten. Beachtet man die Verflechtung von Kritik und Fiktion, die Kombinatorik der erzählerischen und rhetorischen Verfahren, zusammen mit dem, was u. a. Edna Aizenberg »Grenzen der Repräsentation« (»limits of representation«390) nennt, was also eher die Beobachtung der Setzung von Verhältnissen und damit die Relationalität von Konstellationen betrifft, in denen metaphysische und weltliche Aussagen und Zeichen religiöser, theologischer und sakraler Sphären mit denen des Politischen korrelieren, dann gelangt man zu ethischen Fragestellungen, welche für die Frage nach Imaginarien des Bösen relevant erscheinen: Borge’s literary corpus emanates from a world context where the interpretation of politics often entails equally dire consequences. It should not surprise us, then that this most notorious of Latin American writers should be dramatizing this predicament with the full force of its most foreboding and fatal consequences. Borges has often allegorized the ambivalent fate of reading and writing as an enterprise whose random contingencies could just as easily spell a saving grace – however deluded or illusionary – as a fatal blow, however indifferent and casual, but not less deadly for its matter-of-factness.391

So legen alle Narrationen – von El atroz redentor Lazarus Morell über Deutsches Requiem bis El Evangelio según Marco – bereits im Titel eine hermeneutische Spur bzw. simulieren eine Erzählung von Raum, die sich in biblisch-christlichen Realität und Fiktion größtenteils geteilt, aber um das Konzept der Imaginarien erweitert, um spezifischer auf den Raum des Denkbaren bzw. Imaginarien als Raum, in dem Ordnungen erprobt werden, zu fokussieren. 390 Edna Aizenberg, »Postmodern or Post-Auschwitz. Borges and the Limits of Representation«. In: Variaciones Borges 3 (1997), S. 141–152. 391 Vgl. Djelal Kadir, The Other Writing. Postcolonial Essays in Latin America’s Writing Culture 1993, S. 45. Die Voraussetzung für eine Öffnung zum Imaginären, wodurch Imaginarien wiederum eine Raumerzählung ermöglicht wird und durch die sie gleichzeitig auf eine Erzählung von Raum angewiesen sind, findet sich bei Borges in der als kontingent begriffenen Ordnung von Beziehungen von Welt insgesamt, die von der Erzählung figuriert werden und selbst Fiktion sind. Identität, Alterität und Differenz sind damit für die Bestimmung des Bösen in der Herstellung der Vorstellung zu finden.

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Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen

Imaginationen entwickeln. Mit welcher Art von Raumerzählung sich diese Narrationen jedoch diversen infamen Persönlichkeiten und Taten widmen, um sich dann einzureihen in Imaginarien des Bösen, die über die Poetik der einzelnen, raum-zeitlichen Textwelt hinausgehen, wird im folgenden Kapitel aufzuzeigen sein.

6.1

Genealogien des Bösen. Welten und Erzählen in Borges’ Modellen des relato breve

Den nötigen Zugang zur Untersuchung der Imaginarien des Bösen im Werk von Jorge Luis Borges im Kontext der vorliegenden Auseinandersetzungen zur Verräumlichung der Kategorie des Bösen im narrativen und imaginativen Prozess eröffnet eine Auseinandersetzung mit der poética narrativa der Erzählungen des argentinischen Autors. Es wird daher, wie zu Beginn der Untersuchung der Imaginarien des Bösen in La vorágine (Kapitel 5) und später in der Betrachtung von El reino de este mundo (Kapitel 7), um die Klärung der narration der zugrunde gelegten Erzählungen gehen. Als Rückbindung an Borges’ angenommene poética narrativa dient zum einen vor allem die Orientierung an den literarischen Texten des Autors und zum anderen das dichte und gleichzeitig weite erzählerische Netz der Literaturen, auf die sich Borges explizit und implizit beruft. Diese werden hier jedoch nicht immanent betrachtet. Vielmehr geht es bei der Untersuchung der Imaginarien des Bösen in den Literaturen Hispanoamerikas darum, diese im Kontext zu betrachten und somit aufzuzeigen, dass bei aller Immanenz eine Entdeckung zu machen ist, auch wenn das Erzählen an sich sie zunächst nicht enthüllen mag. Borges selbst beschrieb die ästhetische Erfahrung – und damit in erster Linie die Rezeption, mehr als den ästhetischen Akt oder ihre Tatsache (»la experiencia estética«) – als eine solche Erfahrung der Aufschiebung: »la inminencia de una revelación que no se produce.«392 Wenn eine gewisse Kohärenz in Borges’ erzählerischen Werken und zwischen diesen Werken und seiner Theorie und Praxis als Kritiker, Herausgeber und Anthologe angenommen wird, dann ist gleichfalls ersichtlich, dass diese Kohärenz von Brüchen und Umkehrungen der in Theorie und Praxis vorgetragenen Positionen geprägt ist. Diese im Einzelnen zur Diskussion zu stellen, würde über den Rahmen der hier vertretenen These zu Imaginarien des Bösen hinausgehen; 392 Vgl. Jorge Luis Borges, La muralla y los libros, in: Obras completas I 1996, S. 13. Borges’ Obras completas werden in den hier verwendeten Ausgaben mit der Kürzung OC und dann nach der Bandnummer (I, II, III, IV) aufgeführt; die Titel der einzelnen Erzählungen und Essays werden mit kompletten Titeln angegeben.

Genealogien des Bösen. Welten und Erzählen in Borges’ Modellen des relato breve

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dennoch erscheint es sinnvoll, auf die paradoxale Konstruktion im Erzählen der Geschichten von Jorge Luis Borges zu verweisen, da sie narrative Verfahren von Borges’ cuentos in Varianten und Variationen prägt. Rigardo Piglia hat dieses Paradoxon thesenhaft beschrieben: »Borges narra las maniobras de alguien que construye perversamente una trama secreta con los materiales de una historia visible.«393 Für die Figuration eines entangled narrator, der heuristisch der hier vorliegenden Serie von Erzählungen zugrunde gelegt wird, ist es notwendig, bei dieser Beobachtung des Erzählens von Borges’ Geschichten zu verweilen. Sie erinnert nicht nur an Paul de Mans bekanntes Diktum – »Borge’s stories are about the style in which they are written.«394 Der entangled narrator, der für die Erzählungen der Imaginarien des Bösen in der vorliegenden Serie eine (heuristische) Rolle spielt, kann als die von Piglia angesprochene Unbestimmtheit oder/und Auslassung relevant sein: »alguien que construye.« Weil dieses »alguien« unbestimmt als ein konstruierendes Subjekt oder als erzählende Instanz auftritt, an der Handlung teilhat und als Subjekt dabei selbst beobachtet wird und als Beobachtung Teil des Erzählens wird, liegt es nahe, im Zusammenhang des Ansatzes dieser Untersuchung von einem entangled narrator zu sprechen. Auf einer poetologischen Ebene der Argumentation lässt sich das Schema zum Modell der Kurzgeschichte, welches Ricardo Piglia aus den Erzählungen Borges’ abstrahiert, integrieren. Laut Piglia erzählt jedes cuento zwei Geschichten, dabei beobachtet er: »Para Borges la historia 1 es un género y la historia 2 es siempre la misma.«395 Eine offensichtliche Geschichte bestünde demnach aus der Variation von Genre-Literatur bzw. aus Genres, die von Borges als solche stereotypisiert werden; eine zweite, geheime Geschichte sieht er als »historia construida con la duplicidad y la condensación de la vida de un hombre en una escena o acto único que define su destino.«396 Auf die transnationale und gleichzeitig interamerikanische Verflechtung dieser Poetik des cuento, die paradigmatisch mit Edgar Allan Poes Reflexionen zur short story dynamisiert und variiert wurde und wird, sei hier nur am Rande eingegangen.397 393 Ricardo Piglia, Formas breves 2000, S. 111. 394 Paul de Man, »A Modern Master«, in: Jaime Alazraki, Critical Essays on Jorge Luis Borges 1987, S. 57. 395 Ricardo Piglia, Formas breves 2000, S. 110. 396 Ebd. 397 Eine ausführliche Betrachtung der Verfahren von Jorge Luis Borges im Zusammenhang mit einer Geschichte des cuento bzw. des cuento hispanoamericano lässt sich bei Brescia finden. Auch Herminia Gil Guerrero spricht von einer poética narrativa von Borges und kommt zu ähnlichen Befunden wie Brescia und Ferretti in der Problematisierung sowohl der Wirklichkeit bzw. eines Wirklichkeitsbegriffs als auch der damit bei Borges einhergehenden Problematisierung der Fiktion. Siehe dazu Pablo Brescia, Modelos y Prácticas en el cuento hispanoamericano: Arreola, Borges, Cortázar 2011. Sowie Victor Andrés Ferretti, Boreale Geltung. Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 55– 66.

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Borges’ Historia universal de la infamia als Modell der Imaginarien des Bösen

Die Beobachtung Piglias in all ihrer Klarheit der Abstraktion und Schematisierung findet sich bereits in der Historia universal de la infamia bestätigt, die als die erste Sammlung von Erzählungen von Borges erscheint und damit eine Art Initiierung des Werkes markiert.398 Im Prolog – und damit immer auch im Raum der poetologischen Reflexion des eigenen Werkes in der Diskussion von Intertextualität, Simulation und Übersetzung des Schreibens – findet sich folgender Hinweis: »Abusan […] de algunos procedimentos: las enumeraciones dispares, la brusca solución de continuidad, la reducción de la vida entera de un hombre a dos o tres escenas.«399 Damit ist bereits ein wichtiger Schritt zur Beobachtung der Imaginarien des Bösen gemacht. Die Aussagen von Piglia und Borges verbleiben jedoch zunächst ›nur‹ auf der Ebene der histoire-Betrachtung und von deren Genre-Bestimmung bzw. beim Verweis auf ihre Variation in Selektion und Kombination für das Erzählen. Dabei lässt sich festhalten, dass Borges mit der Variation von Geschichte 1 – einer Gattung, einem Genre – in erster Linie auch nur diese im Zusammenspiel mit dem reflektiert, was Piglia »die chiffrierte Konstruktion der Geschichte 2 als Thema der gesamten Erzählung« nennt.400 Über die Beobachtung dessen, was diese »Konstruktion der Geschichte als Thema« ausmacht, so das Argument für dieses Kapitel, eröffnen sich Wege zur Untersuchung von Imaginarien des Bösen in der Serie von Erzählungen, die hier zugrunde gelegt werden. Es knüpft damit an die Verflechtung von Narration und Narrativ als Austausch zweier Ebenen des Erzählens über das Böse und als Voraussetzung für die Herstellung der Vorstellung des Bösen an. Eine ähnliche und für den Zweck der Untersuchung der Imaginarien des Bösen relevante Be398 Man könnte an dieser Stelle leicht der Versuchung erliegen, die Historia universal de la infamia als Prototyp des Erzählens bei Jorge Luis Borges zu erklären; im Rahmen dieser Arbeit würde es damit naheliegen, zu argumentieren, dass Borges das, was sein Werk ausmacht, mit einer Auslotung der Bindung zwischen Infamie und Literatur und damit den Imaginarien des Bösen und dem Erzählen initiiert und in der Folge lediglich variiert. Dieses Argument wird aber für die Imaginarien des Bösen der hier vorliegenden Serie nicht angeführt. Zweifellos jedoch kann man von einem narrativen Modell ausgehen, das auch in Erzählungen nach der Historia universal de la infamia weitergeführt und variiert wird. In den Worten von Annick Louis: »[E]n ›Historia universal de la infamia‹ [puede leerse] la construcción de ciertos principios, retomados por Borges, explotados y desarollados a lo largo de su carrera de narrador. […] Los relatos de la infamia no tinen un carácter fundacioinal sino en la medida en que constituyen los primeros textos narrativos de Borges.« Dies., Jorge Luis Borges. Obra y maniobras 2014, S. 150. Louis’ Wahl der Bezeichnung »principio« lässt allerdings hier eine gewisse ambivalente Haltung zur Einschätzung erahnen. Denn »principio« meint sowohl einen Grundsatz und damit auch einen Beginn; zugleich aber auch ein Element und/oder Prinzip, welches nicht ursprünglich einzustufen ist, damit es einen fundamentalen Grundsatz erfüllen kann. Allgemein zum modelo narrativo siehe Herminia Gil Guerrero, Poética narrativa de Jorge Luis Borges 2008, S. 160–173. 399 J. L. Borges, OC I 1996, S. 289. 400 »La variante […] consistió en hacer de la construcción cifrada de la historia 2 el tema del relato«. Ricardo Piglia, Formas breves 2000, S. 110.

Genealogien des Bösen. Welten und Erzählen in Borges’ Modellen des relato breve

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obachtung formuliert auch Pablo Brescia in seiner Herleitung von Modell und Praxis der Kurzgeschichte. Ausgehend von Jorge Luis Borges, in dessen Erzählungen er eine Verbindung von literarischen Poetiken und philosophisch-literarischen Positionen verwirklicht sieht, führt er aus: »Esta conjunción determinará no tanto los temas de los cuentos sino la búsqueda de cada relato en el entretejido de dos historias en un mismo cuento.«401 Zu diesem poetologischen Aspekt der Erzählungen, den Jorge Luis Borges selbst zum strukturierenden und effektvollen Bestandteil des Erzählens macht und der der Literatur somit einen performativen Charakter verleiht, ist die poietische, d. h. textuell weltende Eigenschaft der hier analysierten Erzählungen hinzuzunehmen. Die Logik des Erzählens im Einzelnen und die des Erzählers im Besonderen spielen für die Untersuchung der Imaginarien des Bösen im Sinne einer Herstellung von (räumlicher) Vorstellung wiederholt eine zentrale Rolle. Dazu folgt im Weiteren eine parallele und serielle Betrachtung der Narrationen von El atroz redentor Lazarus Morell, Deutsches Requiem und El Evangelio según Marcos mit Fragen nach dem entangled narrator. Die Beobachtungen werden in einem nächsten Schritt zusammengeführt, um zu einer Aussage zu den Imaginarien des Bösen in den Erzählungen Borges’ mit Blick auf die Frage ihrer Verräumlichung zu gelangen. Die Vorstellung der Erzählungen als Serie ergibt sich zunächst aus der Möglichkeit, Borges’ Erzählungen mit einer synchronen Fragestellung in diachrone Zusammenhänge von kulturhistorischer Relevanz einzubinden. Die entsprechenden Texte sind von den 1930er Jahren bis 1970 entstanden und vermitteln die Idee der Umsetzung eines Narrativs bzw. der Variationen vielfältiger Narrative mit zusätzlich erzählerischer Varianz. Außerdem entspricht die Idee einer seriellen Erzählweise konzeptionell der Vorstellung einer Serie, wie sie Borges selbst der Historia universal de la infamia zugrunde legt, in welcher El atroz redentor Lazarus Morell als relato breve im Jahre 1935 erscheint. In der Zeitschrift Crítica erscheint dieselbe Geschichte zuvor im Jahr 1933 ebenfalls unter dem Titel Historia universal de la infamia, der mehrere Geschichten der 1935 veröffentlichten Serie vereint; damit wird die Serienpublikation in einer Zeitschrift zur Basis für eine Sammlung, die gleichzeitig den Beginn des erzählerischen Werkes von Borges markiert. Diese Beobachtung ist deshalb relevant, weil die Historia universal de la infamia eine offensichtliche und doch (strategisch) verdeckte Verflechtungsgeschichte mit Vies imaginaires von Marcel Schwob aufbaut, wie die Beobachtungen von Annick Louis nahelegen. Diese kommt zu dem Schluss, dass, während die Vies imaginaires durch ihre zeitgleiche Publikation in der argenti401 Vgl. Pablo Brescia, Modelos y Prácticas en el cuento hispanoamericano: Arreola, Borges, Cortázar 2011, S. 47. Brescia arbeitet differenzierter, d. h. ausführlicher und vergleichend mit dem Begriff der »dos historias«, die in einer Kurzgeschichte ineinanderwirken.

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nischen Crítica/Revista Multicolor de los sábados vereinzelt werden, die relatos der Historia universal de la infamia aus der Serialität zusammengefügt werden. Charakteristisch für Borges ist dabei bereits der Umgang mit fremden Texten (wie hier die von Marcel Schwob), die zum Zeitpunkt der Publikation als marginal einzustufen sind.402 Gleichzeitig zeigt sich in den relatos der Historia universal de la infamia bereits die Integration und Nutzung der Poetik von Edgar Allan Poe, der zufolge die Problematisierung der Formen des Erzählens zur Anekdote – und damit Begebenheit und Grundlage – der Erzählungen gemacht wird.403 Von einer postkolonialen Warte aus betrachtet, kann diese Integration und Wendung kultureller, literarischer Traditionen als Strategie betrachtet werden. Dabei soll hier jedoch weniger die bewusste Ein- und Ausgrenzung solcher Traditionen für das angenommene Gesamtbild einer Nationalliteratur wie der Argentiniens interessieren; vielmehr geht es um die Frage, wie diese Einflüsse in der zugrunde gelegten Konstellation als Imaginarien verarbeitet und in die Erzählung gebracht werden.404 Ein genauer Blick auf El atroz redentor Lazarus Morell wird diese Beobachtungen weiterführen. Diese Erzählung (auch im Zusammenhang der gesamten ersten Sektion der Sammlung der Historia universal de la infamia) kann dem Genre der Biografie

402 Für eine Interpretation der Historia Universal de la Infamia, entwickelt über ihre Editionsgeschichte, siehe Annick Louis: »[L]os relatos de la Historia universal de la infamia nacen de una reflexión sobre la relación entre crónica e historia. Presentado por Borges como un problema literario, este eje está vinculado al medio, dónde la crónica de la vida cotidiana, de la ciudad de Buenos Aires y los artículos sobre acontecimientos políticos y sociales del mundo eran trabajados por los periodistas en un estilo a menudo literario. Estas dos nociones pueden relacionarse con otra fuente, que aparece como un modelo narrativo de Borges cuando escribe los relatos.« Dies., Jorge Luis Borges. Obra y maniobras 2014, S. 109–159. Hier: S. 119. 403 Vgl. Ricardo Piglia, Formas breves 2000, S. 105–110. 404 Es lohnt sich an dieser Stelle, Beatriz Sarlos Argument nachzuvollziehen, welches hier das Kosmopolitische durch postcolonialism ergänzen bzw. in Frage stellen möchte: »In Borges cosmopolitanism is a condition that allows him to invent a strategy for Argentine literature. Conversely, the reordering of national cultural traditions enables Borges to cut, select and reorder foreign literatures without preconceptions, asserting the right of those who are marginal to make free use of all cultures. By reinventing a national tradition, Borges also offers Argentine culture an oblique reading of Western literatures. From the edge of the West, Borges archieves a literature that is related to foreign literature but not in any subordinate way.« Dies., Borges. A Writer on the Edge 1993, S. 5. Zu weiteren Verbindungen der Historia universal de la infamia sei auf Celina Manzoni verwiesen. Diese sieht gerade in Domingo Faustino Sarmiento, abseits des Facundo, eine weitere Vorlage des biographischen Schreibens bei Jorge Luis Borges. Vgl. dazu dies., »La vida de Aldao por Domingo Faustino Sarmiento«, in: http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/la-vida-de-aldao-por-doming o-faustino-sarmiento/html/00adfc90-f5c3-11e1-b1fb-00163ebf5e63_2.html#I_0_ [Januar 2022].

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oder dem Portrait zugerechnet werden.405 Im Fall von El atroz redentor Lazarus Morell fallen beide Formen ineinander, da die Erzählung sowohl die Kürze des Portraits bedient als auch biographische Daten in einen Rahmen historischer Bedeutung setzt, der über die Kürze des Portraits hinausgeht. Damit fällt ebenfalls die Extension der Geschichte mit der Reduktion des Lebens der portraitierten Figur zusammen. Nicht zuletzt weist der (erweiterte) Prolog (von 1954) zur gesamten Sammlung der Historia universal de la infamia auf die »naturaleza barroca«406 des Vorhabens hin und meint damit einen Exzess zu benennen, der sich in der erschöpfenden Handhabung aller Möglichkeiten zeigt: »Yo diría que barroco es aquel estilo que deliberadamente agota (o quiere agotar) sus posibilidades y que linda con su propia caricatura.«407 Damit ist zum einen die Reflexion der parodistischen Komposition des Erzählens hervorzuheben – und zum anderen der damit zusammenhängende Überschuss an Materialien zum Erreichen der Parodie. Was folgt, sind Daten, Ereignisse und kulturelle Beziehungen als Koordinaten amerikanischer Geschichte, welche als Verflechtungsgeschichte zu verstehen ist; diese (barocke) Simulation historiographischer Untersuchung408 bietet sich zudem als Genealogie der Hauptfigur an. Vom Titel führt die Erzählung direkt zum fernen/unwahrscheinlichen Grund – »La Causa Remota.« Der Grund ist gleichzeitig und in beliebiger Chronologie viele Gründe; anders ausgedrückt: Dieser Grund wird ersetzt durch die Vorstellung einer Geschichte, deren kausale Zusammenhänge ad absurdum geführt werden. Mögen diese Zusammenhänge als beliebige Kausalketten erscheinen, so steht hier am Beginn der Geschichte des infamen Lazarus Morell, dessen Leben als falscher Priester und Menschenhändler nacherzählt wird, eine Übersetzungskette historischer Koordinaten, die den Beginn der Sklaverei in den Amerikas durch den Handel mit Menschen aus Afrika und deren Verkauf in der Karibik als zentral setzten: »En 1517 el P. Bartolomé de las Casas tuvo mucha lástima de los indios que se extenuaban en los laboriosos infiernos de las minas de oro antillanas, y propuso al emperador Carlos V la importación de negros, que se extenuaban en los

405 Auch Herminia Gil Guerrero beginnt ihre Analyse mit diesem Befund: »Historia universal de la infamia, primera sección del volume, pertenece al género de la biografía.« Dies., Poética narrativa de Jorge Luis Borges 2008, S. 99. Sylvia Molloy beginnt ebenfalls mit dem biographischen Charakter, allerdings betont sie direkt die Simulation von Biographie mittels der Inbesitznahme der Biographie durch das Schreiben der Geschichte: »In a History of Infamy the narrator does not take possession of biography, does not account for the life of another as so to account for himself; rather he takes possession of the other’s stories.« Dies., Signs of Borges 1994, S. 14. 406 J. L. Borges, OC I 1996, S. 291. 407 Ebd. 408 Man kann durchaus auch von einem »simulacro de historiador« ausgehen, welches hier aufgebaut wird. Vgl. Annick Louis, Jorge Luis Borges. Obra y maniobras 2014, S. 135ff.

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laboriosos infiernos de las minas de oro antillanas.«409 Darin eingewoben ist die Kenntnis über einen zuvor gescheiterten Versuch von Menschenhandel zum Zwecke der Ausbeutung, der die indigene Bevölkerung der Amerikas betrifft. Es ist diese Wiederholung, die rhetorisch die »simetría poética« vorwegnimmt, deren Fehlen am Ende der Erzählung von Morells Leben beklagt wird, die der Biografie innerhalb der Verflechtungsgeschichte Kohärenz und Redundanz verleiht und die darüber hinaus die Wichtigkeit des Erzählers und des Erzählens für das gesamte Unterfangen der Biografie des Infamen als infame Biografie aufführt.410 Das zeigt zudem das Argument, welches des Weiteren am Ende der »Causa Remota« unausgesprochen bleibt, aber zugleich den Anfang der Geschichte von Morell markiert und die Verführung durch den entangled narrator als infamen Erzähler zeigt: Die Geschichte der Sklaverei, die in den Amerikas gleichzeitig eine des Genozids ist, hat positive wie negative Effekte hervorgerufen; vor allem aber hat diese die Gewalt des Infamen (Morell) produziert und ist zugleich als Produzent und ›Verflechter‹ in Erscheinung getreten. Dies vermittelt der Erzähler, der gleich zu Beginn – durchaus ambivalent – betont, dass man dem Vorschlag von Las Casas über das Verwalten der »infiernos« »infinitos hechos« »zu verdanken« (»debemos«) habe bzw. diese »hechos« auf Las Casas’ Vorschlag »zurückzuführen« (»debemos«) seien:411 A esa curiosa variación de un filántropo debemos infinitos hechos; los blues de Handy, el éxito logrado en París por el pintor doctor oriental don Pedro Figari, la buena prosa cimarrona del también oriental don Vicente Rossi, el tamaño mitológico de Abraham Lincoln, los quinientos mil muertos de la Guerra de Secesión, los tres mil trescientos millones gastados en pensiones militares, la estatua del imaginario Falucho, la admisión del verbo linchar en la decimotercera edición del Diccionario de la Academia, el impetuoso film Aleluya, la fornida carga a la bayoneta llevada por Soler al frente de sus Pardos y Morenos en el Cerrito, la gracia de la señorita de Tal, el moreno que asesinó Martín Fierro, la deplorable rumba El Manisero, el napoleonismo arrestado y encalabozado de Toussaint Louverture, la cruz y la serpiente en Haití, la sangre de las cabras degolladas por el machete del papaloi, la habanera madre del tango, el candombe. Además: la culpable y magnífica existencia del atroz redentor Lazarus Morell.412

409 J. L. Borges, OC I 1996, S. 295. 410 »Contrariamente a toda justicia poética (o simetría poética) tampoco el río de sus crímenes fue su tumba.« Ebd., S. 300. 411 Vgl. ebd., S. 295. 412 Ebd. Annick Louis bemerkt zu dieser Passage passend: »Asi la relación causa/consecuenica no es pensada como una relación entre dos acontecimientos del mismo orden sino entre dos que pertenecen a categorías diferentes.« Dies., Jorge Luis Borges. Obra y maniobras 2014, S. 151. Dieses Vorgehen erinnert an die Reihung in der chinesischen Enzyklopädie aus »El idioma analítico de John Wilkins«. Diese Reihe ist bekanntlich grundlegend für Foucaults Les mots et les choses und damit nicht zuletzt für die topologische Ordnung der Heterotopie. Siehe J. L. Borges, Obras Completas II 1996, S. 84–87.

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Die Diegese wird nach dieser Einführung, die ihrerseits schon integraler Bestandteil des Themas und der Handlung ist, auch wenn sie als fern bzw. unwahrscheinlich eingeordnet wird, mit den in ihr vorgebrachten historischen Verflechtungen auf das Subjekt der Geschichte übertragen. Lazarus Morell wird damit als ein Resultat oder eine Konsequenz inmitten der arbiträren Chronologie vorgestellt und, wie im Prolog angekündigt, auf »zwei bis drei Szenen« reduziert. Wie genau ist diese Vermittlung der Erzählung, die als historische Inszenierung beginnt, im Hinblick auf die Frage nach der titelgebenden Infamie der Hauptfigur nachzuvollziehen? Die einleitende Verflechtungsgeschichte, die genutzt wird, um die Geschichte des Infamen (d. h. des Verbrechers) Morell in Szene zu setzen, kann an dieser Stelle dazu dienen, die Modi des Erzählers mit dem Wirken des entangled narrator zu klären. So tritt nämlich mittels der aufgebrochenen Struktur von Ursache/Wirkung bzw. Effekt eine Instanz zutage, die die Erzählbarkeit der Biographie als Geschichte von Beginn an als entscheidendes Kriterium voranstellt. Es wird zudem darauf hingedeutet, dass ein Prinzip der Infamie, welches als causa remota bereits durch Las Casas initiiert wurde – der Tod vieler wird beklagt und soll verhindert werden, indem andere versklavt werden –, als Erzählprinzip bis zum Leben des Lazarus Morell, und damit räumlich und zeitlich versetzt, aufrechterhalten wird. Nur der Tod von Morell unterbricht dieses gleichfalls poetische Prinzip (»simetría poética«), wodurch ebenfalls die Ironie des Erzählers der Infamie herausgestellt wird, der in der Lage ist, die eigenen Möglichkeiten des Erzählens zu karikieren. Aber nicht allein die Niedertracht Morells, sondern diese in Kombination mit der Geschichte, mit der die Infamie verflochten ist, ist erzählenswert. Das Thema und die Geschichte des Themas rücken damit in den Fokus des entangled narrators. Der Erzähler von El atroz redentor Lazarus Morell legitimiert sein Wissen auf der Basis von Quellen; diese werden in den Prologen sowie einem »Quellenverzeichnis« (»Índice de las fuentes«413) genannt. Dabei gestaltet sich der Umgang mit den Quellen als frei: Der Erzähler kopiert, schreibt und zitiert, ohne diese Quellen am oder im Text kenntlich zu machen. So findet sich die Beschreibung des Mississippi als pointierte Zusammenfassung des ersten Kapitals von Mark Twains Life on the Mississippi wieder.414 Die Verschriftlichung ist gleichzeitig nicht als kreativ im Sinne eines von den Quellen losgelösten Erzählens zusam413 J. L. Borges, OC I 1996, S. 329. 414 »El Mississippi es río de pecho ancho; es un infinito y oscuro hermano del Paraná, del Uruguay, del Amazonas y del Orinoco. Es un río de aguas mulatas, más de cuatrocientos millones de toneladas de fango insultan anualmente el Golfo de Méjico, descargadas por él. Tanta basura venerable y antigua ha construido un delta, donde los gigantesos cipreses de los pantanos crecen de los despojos de un continente en perpetua disolación […].« Ebd., S. 295f. Siehe Mark Twain, Life on the Mississippi [1883] 1986.

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menzufassen, sondern als vorangebracht von einer Instanz, die die Originalgeschichte in Frage stellt, indem u. a. die Figur(en) und ihre Aktionen gerechtfertigt werden. Dies ist insbesondere im Zuge der Einführung von Morell415 nachzuvollziehen: Los daguerrotipos de Morell que suelen publicar las revistas americanas no son auténticos. […] Es verosímil suponer que Morell se negó a la placa bruñida; esencialmente para no dejar inútiles rastros, de paso para alimentar su misterio… Sabemos, sin embargo que no fue agradecido de joven y que los ojos demasiado cercanos y los labios lineales no predisponían a su favor.416

Diese Rechtfertigung wird allerdings nur unter erzählerischen Prämissen nachzuvollziehen sein, da der entangled narrator wiederum keine moralische und/ oder gesetzliche Verurteilung der kriminellen Persönlichkeiten in Aussicht stellt, außer der im Erzählen selbst entworfenen und sich dann selbst erschöpfenden – zumindest sofern man den Worten des Prologs glauben und die Geschichte als Ausdruck des »estilo barroco«417 verstehen möchte. Somit scheinen ästhetische Ansprüche zunächst mit einer moralischen Vorstellung von Kriminalität zusammenzufallen. Die erzählten Verbrechen werden aber nicht als Verbrechen denunziert, sondern einzig im Sinne ihrer erzählerischen Produktivität beurteilt.418 Im obigen Zitat können noch weitere Strategien des entangled narrator herausgestellt werden, der Morell eine geradezu spektrale Eigenschaft unterstellt:419 Er ist nicht zu fotografieren bzw. die Fotos, die von ihm existieren, stellen die offizielle Version in Frage, da sie als nicht authentisch eingestuft werden können.

415 Im engeren Sinn wird Morell dreimal eingeführt: als »Konsequenz« der Causa Remota, als poor white und dann als betrügerischer redentor. 416 J. L. Borges, OC I 1996, S. 297. 417 Ebd., S. 291. 418 Zu einer ähnlichen Einschätzung der moralischen Dimension des Erzählers und des Erzählens kommen auch Gil Guerrero und Louis. Die Beobachtungen der beiden Autorinnen können als einander ergänzend verstanden werden: »En los relatos [Historia Universal de la infamia] no encontramos un juicio moral por parte del narrador sino todo lo contrario, es frecuente que dicha voz narrativa se funda con la del protagonista apoyando así los pensamientos viles del mismo.« Herminia Gil Guerrero, Poética narrativa de Jorge Luis Borges 2008, S. 181. »Las consideraciones de orden legal o moral no forman parte de la materia narrativa del scriptor [so betitelt die Autorin den Erzähler in HUI], es lo que lo hace aparecer como un narrador objetivo aun cuando trata de imponer su propia justicia poética: una justicia regida por la productividad narrativa y por los gustos personales del narrador.« Annick Louis, Jorge Luis Borges. Obra y maniobras 2014, S. 137. 419 Es kann an dieser Stelle erwähnt werden, dass Lazarus Morrell selbstverständlich kulturgeschichtlich als sog. Lazarus-Figur betrachtet werden kann, die als solche bereits räumlich lesbar wird, da es sich um eine Figuration einer Grenzfigur zwischen Leben und Tod handelt. Siehe zur Lazarus-Figur ausführlicher: Ursula Hennigfeld (Hg.), Lazarus – Kulturgschichte einer Metapher 2016, S. 7–17.

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Spekulationen über Morells Erscheinungsbild gründen lediglich auf Annahmen des Erzählers (»Es verosímil suponer«), der dazu neigt, sich selbst zu widersprechen bzw. Morells »misterio« mit Hilfe der Auslassung zu betonen (»alimentar su misterio«). Dabei vermischt der Erzähler das historiographische Wissen mit eigenen Spekulationen und einem angenommenen Allgemeinwissen sowie einer vulgären Form des L’Uomo delinquente von Cesare Lombroso: Morell wird mittels der Schilderung seiner schmalen Lippen und zusammenstehenden Augen im Rückgriff auf das Bild eines Verbrechermenschen porträtiert, der sich bereits in die Imagination des Bösen zu fügen scheint.420 Zu diesem Zeitpunkt tritt jedoch insbesondere die Infamie des entangled narrator hervor, welcher ebenfalls als versteckter Ich-Erzähler oder imaginäres Ich im Erzählen auftaucht, sobald betont wird: »debemos«, »sabemos« und »copio«.421 Die Markierung des simulierten Historikers als imaginäres Ich ist aus zwei Gründen anzuführen: Zum einen offenbart sie die zweifelhafte Zitierpraxis des Erzählers, der keine Quellen angibt;422 zum anderen wird dieses imaginäre Ich mit dem Ich von Morell verflochten, sobald das erste eigentliche (organisierte) Verbrechen über verschiedene testimonios rekonstruiert und folgendermaßen eingeführt wird: »Otro buen testimonio de esas efusiones sagradas es el que sumiestra el propio Morell. Abrí al azal la biblia […].«423 Morell als boshafter ›Verbrechermensch‹ tritt auch deshalb hinter den Erzähler zurück, weil sowohl eine psychologisierende als auch eine realistische Ästhetik zwar immer wieder einen Zusammenhang zwischen dem Protagonisten und seiner Boshaftigkeit bzw. etwas Bösem andeuten, dann aber beide ästhetische Formen als Parodie erscheinen, da Morells Einbettung in die Verflechtungsgeschichte der Causa Remota sowie in die Vielzahl von angebotenen Topographien424 und damit seine multiple Herkunft willkürlich (assoziiert) erscheinen. Als infam kann dieser entangled narrator aufgrund seines offenen und zugleich verdeckten Spiels mit der Identität des Lazarus Morell bezeichnet werden, durch das die Figur als Teil einer größeren, faszinierenden Geschichte stilisiert (»La Causa Remota«) und gleichzeitig die Faszination und Klarheit des Aufbaus, der expansiven Ausweitung und Umsetzung seines Betrugssystems umrissen werden. Das Betrugssystem wird von der kolonialen Eroberung, der conquista, 420 Ebenfalls sehr treffend hingewiesen wurde von Annick Louis auf die Figur »fuera de la ley« und auf partikulare Funktionen der Literatur im Kontext argentinischer crónicas policiales im Zusammenhang des Positivismus: »[D]enunciar la delincuencia, de mostrar el vocabulario, los dispositivos y el modo de funcionamiento de un mundo secreto e ilegal.« Dies., Jorge Luis Borges. Obra y maniobras 2014, S. 133f. 421 J. L. Borges, OC I 1996, S. 295, 297 u. 299. 422 »Copio su narración de ese viaje«. Ebd., S. 300. 423 Vgl. ebd., S. 297. 424 Siehe dazu ausführlich Kapitel 6.2.

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als ein bis in das 19. Jahrhundert hineinreichendes Prinzip zusammengefasst. Der Erzähler suggeriert, die Entscheidung von Bartolomé de Las Casas habe zur Revolution auf Haiti und zum nordamerikanischen Bürgerkrieg geführt, der die Abschaffung der Sklaverei zur Folge gehabt und den Neologismus linchar in die Welt gebracht habe. Zudem wird der Zugang zur kriminellen Organisation von Morell begründet, die darin besteht, den Menschenhandel zu nutzen, um einen Handel mit den von ihm bestohlenen Menschenhändlern zu betreiben. Der Antrieb des kriminellen Systems liegt in der Ausbeutung des Wunsches der Sklav:innen nach Freiheit, der wiederum angetrieben wird von dem Wunsch, selbst eine plantation zu besitzen; damit wird die Causa Remota wiederholt, da deren Anfänge in der Ausbeutung der Menschen zum Zwecke der Profitsteigerung liegen. Morell bedient sich somit einer guten Absicht, um seine Ziele zu erreichen. Die Imaginarien des Bösen kommen mit dieser Ausgangslage zu einer erzählerischen und auch räumlichen Ausgestaltung. Im Rückgriff auf das Modell Piglias lässt sich für El atroz redentor Lazarus Morell festhalten, dass das Genre der Biographie, welches wiederum auf die Enzyklopädie verweist und unter Einschluss einer Vielzahl intertextueller Verweise – Mark Twain, Bartolomé de la Las Casas, Martín Fierro etc. – auch auf weitere Genres hindeutet, die erste Geschichte prägt. Die chiffrierte oder codierte zweite Geschichte des Lazarus Morell, die auf der Reduzierung von dessen Leben auf wenige Szenen aufbaut und das Thema der Erzählung ausmacht, ist hiermit erreicht: Durch den entangled narrator werden die beiden Geschichten verflochten, wobei dieser Erzähler seine Eingebundenheit in den Aufbau der Erzählung zwar offenlegt, dabei aber großen Aufwand betreibt, um möglichst unsichtbar zu bleiben. Als Thema erscheint dann nicht die Infamie als solche, sondern vielmehr die Möglichkeit, Infamie (produktiv) zu erzählen als Imaginarien des Bösen. Diese Erschließung des Themas der Erzählung durch den entangled narrator gilt es für die folgenden Erzählungen – Deutsches Requiem und El Evangelio según Marco – zu nutzen, um an ihnen gleichfalls das Erzählen und in einem nächsten Schritt die Verräumlichung der Imaginarien des Bösen zu untersuchen. An Deutsches Requiem425 fällt zunächst der Einstieg in die Erzählung über das imaginäre Ich Otto Dietrich zur Linde auf: »Mi nombre es Otto Dietrich zur 425 »›Deutsches Requiem‹ remains Jorge Luis Borges’ most understudied short story.« Diese Beobachtung von Ramsey Lawrence kann heute sicher nicht mehr aufrechterhalten werden. Ähnlich der konsequenten Anwendung einer postkolonialen Perspektive auf das Werk des argentinischen Schriftstellers, ist es hier u. a. Edna Aizenberg zu verdanken, dass die Bedeutung der Geschichte des Holocaust und insgesamt die jüdische Geschichte und hebräische Traditionen im Werk von Borges erkannt und systematisch untersucht worden sind. Deutsches Requiem wurde dafür erst zögerlich berücksichtigt, nimmt aber etwa seit dem Jahr 2000 einen festen Platz in der Forschungsliteratur ein, wenn Fragen der Ethik, der

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Linde.« Was folgt, ist die Zusammenfassung einer Familiengenealogie, die ebenfalls aus der Sicht dieses Ichs vorgetragen wird, welches sich im Sinne der vorgebrachten Anklage schuldig bekennt: En cuanto a mí, seré fusilado por torturador y asesino. El tribunal ha procedido con rectitud; desde el principio yo me he declarado culpable. Mañana cuando el reloj de la prisión dé las nueve, yo habré entrado en la muerte; es natural que piense en mis mayores, ya que tan cerca estoy de su sombra, ya que de algún modo soy ellos.426

Aufgrund dieser Beichte, die sich aber auch (er)klärend und selbsterklärend darzustellen versteht (»es natural«), lässt sich der Erzähler als infamer Erzähler427 bezeichnen. Als entangled narrator tritt dieses infame Ich in Erscheinung, weil von Beginn an, proleptisch und analeptisch zugleich, eine Präsenz vermittelt wird, die die Herstellung der Vorstellung eines verwobenen Zusammenhangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft simultan entwirft und darzustellen vermag, als könnte dieses imaginäre Ich innerhalb und zugleich außerhalb der Geschichte verortet werden: [P]puedo hablar sin temor. No pretendo ser perdonado, porque no hay culpa en mí, pero quiero ser comprendido. Quienes sepan oírme, comprenderán la historia de Alemania y la futura historia del mundo. Yo sé que casos como el mío, excepcionales y

(Grenzen der) Repräsentation und Möglichkeiten bzw. Grenzen des Politischen in Borges’ Werk und in der Literatur allgemein untersucht werden. Es ist also möglich, den Blick auf die in dieser Studie aufgeworfene Frage nach den Imaginarien des Bösen zu lenken, da gerade das Erzählen und insbesondere die Figur Otto Dietrich zur Linde für diesen Zusammenhang die mit ihr implizierten und/oder direkten Auseinandersetzungen mit Bösem (den Tätern, dem Genozid, dem Totalitarismus) anbietet. Siehe Ramsey Lawrence, »Religious Subtext and Narrative Structure in Borges’ ›Deutsches Requiem‹«, in: Variaciones Borges 10 (2000), S. 119–138. Edna Aizenberg, El tejedor del Aleph y otros ensayos 1997. Dies., »Postmodern or Post-Auschwitz. Borges and the Limits of Representation«, in: Variaciones Borges 3 (1997), S. 142–152. Dies., »›Nazismo es inhabitable‹: Borges, el Holocausto y la expresión del conocimiento«, in: Alfonso de Toro (Hg.), Jorge Luis Borges. Pensamiento y saber en el siglo XX 1999, S. 273–280. Siehe auch Edna Aizenberg, On the Edge of Holocaust: The Shoah and Latin American Literature and Culture 2016, S. 1–24. Darin werden viele zuvor gemachte Beobachtungen der Autorin zusammengefasst. 426 J. L. Borges, OC I 1996, S. 577. 427 Martin von Koppenfels deutet dieses infame Ich Otto Dietrich zur Lindes rezeptionsästhetisch und psychologisch, weil Deutsches Requiem für »das Potential erzählender Literatur [steht], im Raum der Fiktion extreme Perspektiven zu konstruieren, Perspektiven, die den Leser, trotz aller Abneigung, die er gegen sie empfindet, in Faszination an den Text bindet.« Ders., »Infame Erzähler, unmögliche Stimmen (mit einem Seitenblick auf William Faulkners The Sound and the Fury)«, in: Julian Klein et al. (Hrsg.), Infame Perspektiven. Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 2015, S. 16–30. Hier: S. 21. Erin Graff Zivin spricht zudem von einem nicht näher spezifizierten, »ethically questionable move«. Dies., The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary 2008, S. 156ff.

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asombrosos ahora, serán muy en breve triviales. Mañana moriré, pero soy un símbolo de las generaciones del porvenir.428

Diese simultane Verortungsstrategie ist auch ein Spiel mit Masken; diese Masken des Erzählers werden jedoch gleich zu Beginn offengelegt, was nicht ohne Spannungen vollzogen werden kann – so etwa bei der Frage der Schuld, in die der Erzähler selbst einführt, um sie jedoch wenig später als Vorbereitung des eigentlichen Bekenntnisses wieder abzubauen: »[D]esde el principio, yo me he declarado culpable. […] No pretendo ser perdonado porque no hay culpa en mí.«429 Dieses Bekenntnis, welches zugleich eine Beobachtung der eigenen Position ist, um für sich und (imaginäre) andere erklärbar und verständlich zu sein, setzt dann mit der Autobiographie des Otto Dietrich zur Linde an. Beginnend mit der Geburt wird eine Abfolge von Szenen zusammengefasst, die wiederum über das eigene Ich hinausweisen – es in zeitliche und räumliche Zusammenhänge mit der Welt setzen –, um mit dem Blick in den Spiegel zu enden, der die Erzählung zu ihrem Anfang zurückzuführen scheint und den eigenen Tod in den zuvor erzählten Relationen als Imagination des infamen Ichs erscheinen lässt: »Miro mi cara en el espejo para saber quién soy, para saber cómo me portaré dentro de unas horas, cuando me enfrente con el fin. Mi carne puede tener miedo; yo, no.«430 Eine weitere Instanz, die in Deutsches Requiem zum Erzähler in Beziehung steht, erscheint in Gestalt des editor. Damit tritt eine Herausgeberfiktion zur Erzählung des entangled narrator als infamer Erzähler hinzu; diesem fiktiven Herausgeber werden gleich mehrere Funktionen zuteil, einschließlich der der Konstruktion einer Beziehung, die erzähltechnisch mit der zuvor analysierten Erzählung von El atroz redentor Lazarus Morell entsteht, beiden Erzählungen jedoch anders eingeschrieben ist. Zum einen wird ein fingierter übergeordneter Kontext hergestellt, welcher der Beichte und dem Bekenntnis von zur Linde einen (Publikations- oder Äußerungs-)Rahmen bereitstellt, der jedoch nicht näher spezifiziert wird. Dabei entsteht aber zum anderen zumindest die Simulation eines historiographischen Zusammenhangs dank des Simulakrums eines Historikers (in diesem Fall des editor), der die Erzählung von zur Linde kommentiert. Dieser editor sorgt als Stimme, oder genauer, als Simulation einer Stimme, dafür, dass eine Dissonanz zu den Bekenntnissen von zur Linde entsteht.431 428 J. L. Borges, OC I 1996, S. 577. 429 Ebd. 430 Ebd., S. 581. Die Art der Verneinung des Ichs hebt hier nochmals seinen imaginären Charakter hervor, als ein Ich, das sich vorstellt, aber nie ganz bei sich, nicht in einem Bereich sein kann, in dem die Vorstellung und ihre Materialisierung eins werden. 431 »Es significativa la omisión del antepasado más ilustre del narrador, el teólogo y hebrísta Johannes Forkel (1799–1846), que aplicó la dialéctica de Hegel a la cristología y cuya versión literal de algunos libros Apócrifos mereció la censura de Hengstenberg y la aprobación de

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Enigmatisch im Sinne einer (ethischen) Provokation erscheint der Fakt, dass der Erzähler, und damit das imaginäre Ich des Nationalsozialisten zur Linde, auf poetologische Strategien zurückgreift, die in einer Vielzahl anderer Erzählungen von Borges zu finden sind, in welchen jedoch keine so offensichtliche Spaltung der Persönlichkeit zutage tritt und die stärker in Verfahren des neofantástico eingebunden sind. Der genealogische Aufbau der Erzählung, der als Beginn und Rahmung der Erzählung genutzt und später diegetisch weitergeführt wird, um die Geschichte auf multiplen Ebenen fortsetzen zu können – so, wie es beispielsweise in den Texten El Sur, El jardín de los senderos que se bifurcan und auch El Evangelio según Marco geschieht –, gestaltet sich in Deutsches Requiem als Aufteilung in eine heroische Geschichte der Familie zur Lindes im Dienste des Militärs (von Preußen über das Deutsche Kaiserreich bis hin zum Zweiten Weltkrieg) und die intellektuelle Geschichte der Familie.432 Der Protagonist Otto Dietrich zur Linde präsentiert sich zwar in starkem Bezug zum militärisch geprägten Teil der Familie, erzählt sich jedoch in erster Linie aus einem intellektuellen Verständnis der »[d]os pasiones: […] la música y la metafísica.«433 Die Gewalt, mit der die militärische Geschichte der Familie assoziiert wird, kennzeichnet zur Lindes »años de aprendizaje« nach dem Parteieintritt, da ihm eine Berufung zur Gewalt ursprünglich fremd war oder fehlte: Noch im Präsens des Bekenntnisses gesteht zur Linde: »[M]e falta toda vocación de violencia.«434 Wie die Fußnote des simulierten Historikers der Herausgeberfiktion zeigt, ist die in den Bekenntnissen ausgelassene Familiengeschichte aber nicht nur eine Geschichte der transkulturellen Herkunft, sondern zudem die Geschichte eines intellektuellen transkulturellen Hintergrunds, die jedoch allein von der Stimme des fiktiven Herausgebers angeführt wird, um die Familiengenealogie zu ergänzen und zu zeigen, dass diese Auslassung (»omisión«) von jüdischer Kultur in der Darstellung der Erzählung des imaginären Ichs von zur Linde nicht nur inkohärent oder widersprüchlich ist, sondern als gleichfalls unzuverlässig erscheint. Die Erzählung zur Lindes führt nur durch eine Auslassung linear von einem durch die militärische Gewalt präfigurierten Intellektuellen zur Gewalt des stellvertretenden Leiters eines Konzentrationslagers. Thilo y Geseminus. (Nota de editor.)« Ebd., S. 576. Erin Graff Zivin kommentiert die Fußnote als »an early voice of dissonance in the text.« Dies., The Wandering Signifier. Rhetoric of Jewishness in the Latin American Imaginary 2008, S. 158ff. 432 Adelheid Hanke-Schaefer analysiert und fasst zusammen, wie autobiographisches Erzählen von J. L. Borges mit dem Erzählen von Otto Dietrich zur Linde korrespondiert. Vgl. dies., Totenklage um Deutschland. Echos deutscher Stimmen im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 122–128. Diese Korrespondenz ist eine weitere Facette der Provokation, die Deutsches Requiem darstellt, d. h. performativ nutzt, und die ethische Seite des Erzählens markiert als untrennbar verbunden mit einer angenommenen, rein fiktiven Seite. 433 J. L. Borges, OC I 1996, S. 576. 434 Ebd., S. 577.

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Die Auslassung ist auch eine zusätzliche – dialogische – Strategie des editor; ihr Gebrauch wird zwar angekündigt, aber der Grund der Auslassung wird nicht erklärt. Mit anderen Worten: Die Auslassung erscheint als (Selbst-)Zensur – »ha sido inevitable, aquí, omitir unas líneas. (Notas del editor).«435 Dieser Einsatz ist ebenfalls nicht eindeutig nachzuvollziehen, da er den (fingierten) potenziellen Leser:innen die Ausführungen zur Folter ersparen möchte, die Folter jedoch der Imagination überlässt und damit bei der (Herstellung der) Vorstellung von Grausamkeit eindeutig uneindeutig wird und so zumindest in Kauf nimmt, imaginativ gewaltsam einzuwirken. Auch die Amputation von zur Lindes Bein, erforderlich nach einer Schussverletzung, wird vom editor kommentiert: »Se murmurra que las consecuencias de esa herida fueron muy graves. (Nota del editor).«436 Hier erscheint aber eine unausgesprochene Erklärung der Konsequenzen für zur Linde eine implizite Ergänzung zur Erzählung des infamen Ichs der Erzählung zu sein, denn das autobiographische Bekenntnis verrät kurz darauf, wie die Verletzung ihn zu einer Schärfung seines (ideologischen) Bewusstseins angeregt habe. Denn während ihrer Heilung hat sie dazu geführt, dass es zur Linde gelingt, inspiriert durch die Lektüre Schopenhauers, eine Ordnung nachzuvollziehen, der zufolge Niederlagen positiv, als Präfiguration »der Dinge« (»los hechos«), angesehen werden können: ¿Qué ignorado propósito (cavilé) me hizo buscar ese atardecer, esas balas y esa mutilación? No el temor de la guerra, yo lo sabía; algo más profundo. Al fin creí entender. Morir por una religión es más simple que vivirla con plentitud […]. El siete de febrero de 1941 fui nombrado subdirector del campo de concentración de Tarnowitz.437

Der editor bestätigt damit: Die Verletzung ist folgenreich, für das imaginäre Ich zur Linde, aber letztlich für das Erzählen insgesamt, da es ohne zur Lindes Position als stellvertretender Leiter des Konzentrationslagers nicht zu der Anklage gekommen wäre, dessen Grundlage wiederum das Erzählen im Modus des Bekenntnisses des infamen Erzählers bildet. Die Kommentare des editor und das Erzählen des infamen Erzählers erscheinen ebenfalls miteinander verflochten; sie bilden keinen klaren Dissens oder eine Abgrenzung der Positionen, sondern ergänzen sich in ihren Strategien und Inhalten. Dazu kommt eine weitere Strategie, die wiederum beide Stimmen – die des editor und des infamen Ichs zur Linde – untrennbar zusammenführt. In der zweiten Fußnote zum Text fehlt der sonst übliche Zusatz »(Nota del editor)«438, und der Kommentar erscheint als Ergänzung zu den Positionen, auf die er sich bezieht und die zur Linde im Hinblick auf die Bewertung Goethes in der Terminologie Oswald Spenglers 435 436 437 438

Ebd., S. 579. Ebd., S. 577f. Ebd., S. 578. Ebd., S. 577. Zur inhaltlichen Diskussion dieses Kommentars von zur Linde siehe Kapitel 6.2.

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vertritt. Besonders hier wird die Intersektion von Fiktion und faktischem Wissen weit getrieben, da die Herausgeberfiktion und -funktion des editor nicht greift und das infame Ich, welches im Kommentar (»No lo censuro, pero no veo […]«439) auftaucht, als in den Text eingeschrieben erscheint. Die intellektuelle (philosophische oder bereits ideologische) Position von zur Linde vertritt sich hier selbst als differenziert, so dass der Eindruck entsteht, man könne ihr unter Einschränkung folgen. Der Kommentar lässt sich damit als Simulation eines bewusst schriftlich gemachten Bekenntnisses in Form eines autobiographischen Essays einordnen, weil die eigene Position zur Lindes in mehrfacher Hinsicht erläuternd und sich erklärend dargestellt wird, um im Sinne einer Rechtfertigung verständlich zu sein, die intellektuell nachvollziehbar erscheinen will. Dies geschieht durch die Erläuterung philosophischer Positionen, die einen Referenzrahmen und damit eine Raumerzählung der Geistesgeschichte bereitstellen, deren Aufbau in Form ihrer Narrative es noch zu ergänzen gilt. In Ricardo Piglias Schema überführt – oder vielmehr zurückgeführt, da er dieses Schema anhand von Borges’ Erzählungen entwickelt –, stellt die erste Geschichte ein Bekenntnis (als Genre) und zugleich eine Beichte dar, verstanden als Rechtfertigung einer Tat, die auch der Erzähler dieses Bekenntnisses vor dem Hintergrund der Zusammenstellung seiner geistigen Väter und Vorgänger als verabscheuungswürdig einschätzt: »No puedo mencionar a todos mis bienhecheros, […] yo el abominable.«440 Durch die zweite Geschichte wird die autobiographische Erzählung des Protagonisten zur Linde auf wenige Szenen reduziert (Bildungsjahre, Eintritt in die Partei, Verletzung/Amputation, Ernennung zum stellvertretenden Lagerleiter, Folter von David Jerusalem, Todesurteil), dabei jedoch verflochten in eine intellektuelle und militärische Geschichte, die den Rahmen der Reduzierung erweitert. Die codierte zweite Geschichte dieser Reduktion bei gleichzeitiger Expansion vermittelt die Instanz des entangled narrator als Thema der Erzählung: Ähnlich dem Verfahren in El atroz redentor Lazarus Morell werden Imaginarien des Bösen erzählt und wird nicht die infame (böse) Tat par excellence repräsentiert. Die Erzählung El Evangelio según Marcos (1970), als letzte der hier untersuchten Erzählungen der Serie zu Imaginarien des Bösen in Kurzgeschichten von Jorge Luis Borges, verortet die diegetischen Ereignisse im Argentinien der späten 1920er Jahre. Es ist zum einen diese räumlich-zeitliche Referenz, dank derer sich dieser Text innerhalb der hier untersuchten geokulturellen Imaginarien der Moderne verorten lässt, und zum anderen die poética narrativa, d. h. die literarische Kontinuität des Erzählens und der Narrative im Werk von Jorge Luis

439 J. L. Borges, Obras completas II., S. 577. 440 Ebd.

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Borges, die es ermöglicht, diese späte Erzählung in die Analyse mit einzubeziehen. Auch El Evangelio según Marcos erzählt zwei Geschichten und entspricht damit dem Schema der kurzen Formen, das Piglia anhand der Erzählungen von Jorge Luis Borges entwickelt. Die erste Geschichte folgt als Erzählung dem Genre der Biographie und ist hier durch die Ankündigung eines außerordentlichen Ereignisses markiert; die zweite Geschichte – codiert in einem Gleichnis – reproduziert und simuliert die Struktur eines biblischen Evangeliums (El Evangelio según Marcos/Das Markusevangelium), welches wiederum zentraler (d. h. diegetischer und strukturbildender) Bestandteil der ersten Erzählung ist und gleichzeitig den Titel der gesamten Erzählung aufgreift. Baltasar Espinosa verbringt, der Einladung eines Freundes folgend, den Sommer auf dessen estancia und bleibt allein mit dem capataz und dessen Familie, den Gutres, auf dem Besitz zurück, als sein Freund geschäftlich nach Buenos Aires zurückkehren muss. Nachdem große Regenfälle das Land und Teile der estancia unter Wasser gesetzt haben, sind Baltasar und die Familie des capataz gezwungen, zusammenzuziehen. Espinosa wird als patrón behandelt, nimmt diese Rolle an und liest der Familie das Markuseangelium aus einer Bibel vor, die er im Hause vorfindet. Nach wiederholtem Vorlesen wird Espinosa eines Nachmittags zu einem Kreuz geführt. Wie in den oben untersuchten Erzählungen kann auch hier von einer Vermittlung der Geschichte(n) durch einen entangled narrator gesprochen werden, der es vermag, unterschiedliche Ebenen der Diegese zusammenzuführen und als Raumerzählung nachzuvollziehen bzw. als nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Nach der Nennung des Evangelio según Marcos441 in der Erzählung El Evangelio según Marcos setzt sich ein Verständnis der Vermittlung des Erzählens als mise en abyme durch, dem zufolge der Protagonist Baltasar nicht nur zum Leser (Subjekt/Objekt) und Akteur (Subjekt/Objekt) seiner eigenen Geschichte wird, sondern damit auch die inhaltliche und strukturelle Umsetzung des (extradiegetischen und intradiegetischen) Erzählens mit der Übertragung der Struktur des Evangeliums aus der biblischen Überlieferung (diegetisch) verflochten wird.442 Ein Erzähler setzt zunächst zeitlich und räumlich an, ein in der Vergangenheit liegendes Vorkommnis zu berichten, woraufhin ein Protagonist genannt und in 441 J. L. Borges, OC II 1996, S. 448. 442 Man kann diese erzählerische Verflechtung auch – wie Renate Lachmann argumentiert und mit dem Begriff der Neophantastik zusammenbringt – als »Logophantasma« bezeichnen oder »Überschreibung« nennen, womit Victor Andrés Ferretti wiederum »Überschreitungen [der Fiktionen von Borges erfasst], die den Text für imaginäre Besetzungen öffnen.« Vgl. Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte 2002, S. 375–435. Victor Andrés Ferretti, Boreale Geltung. Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 32–36.

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der Folge näher betrachtet wird. Die Tatsache, dass dieser entangled narrator Baltasar Espinosa als Protagonisten einführt, lässt bereits aufgrund der Verwendung der technischen Terminologie auf eine metaliterarische Fiktion oder Simulation von Fiktion schließen, die die fiktionale Geschichte als fiktionale Geschichte – oder Logophantasma – markiert: »El hecho sucedió en la estancia Los Álamos, en el partido de Junín, hacia el sur, en los últimos días del mes de marzo de 1928. Su protagonista fue un estudiante de medicina, Baltasar Espinosa. Podemos definirlo por ahora, como uno de tantos muchachos porteños […].«443 Als einer von vielen, d. h. als eher gewöhnlich beschrieben, wird diesem Protagonisten etwas zustoßen, das außerhalb seiner Gewöhnlichkeit liegt, weil die Charakterisierung, die der entangled narrator wiederum mit der Präsentation des Wissens um die Genealogie von Espinosa und einiger weniger (für die Erzählung und das Erzählen444) wichtiger Eigenschaften vorbringt, proleptisch aufgebaut wird (»por ahora«). Aus dem Wissen der zuvor untersuchten Erzählweisen des entangled narrator in Erzählungen von Jorge Luis Borges lässt sich außerdem schließen, dass die Geschichte mit Espinosas Tod enden wird, womit die Prolepse, die in der Anrede eines extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählers (»Podemos […] por ahora«) liegt, zugleich mit einer Analepse verbunden wird: In allen biografischen Erzählungen des entangled narrator als infamer Erzähler (sowohl extra- als auch heterodiegetisch) läuft das Erzählen auf den Tod bzw. das Todesurteil der porträtierten Protagonisten hinaus. Damit ist eine simetría poética gemeint und eingehalten, die wenige Szenen aus dem Leben des Protagonisten nacherzählt und mit dessen Tod endet und somit die Protagonisten reduziert, während sie zusätzlich als verflochten und in größere historische Ereignisse eingebunden erscheinen. Dieser Erzähler, der die erzählten Ereignisse den letzten Monaten des Jahres 1928 zuordnet, überlässt die Beobachtungen zur weiteren historischen Einordnung einer Vagheit, die zwar nicht den Eindruck von Zeitlosigkeit vermittelt, wohl aber eine Erweiterung des zeitlichen Rahmens bewirkt, der über die Geschehnisse im März des Jahres 1928 hinausgeht:445 »En la cocina había una guitarra; los peonoes, antes de los hechos que narro, se sentaban en rueda; alguien la templaba y no llegaba nunca a tocar. Esto se llamaba una guitarreada.«446 Eingebettet in eine realistisch-costumbristische Beobachtung, setzt dieser Erzähler 443 J. L. Borges, OC II 1996, S. 446. 444 Man kann im Sinne Borges’ von einer simetría poética sprechen, wie sie bereits in der Historia universal de la infamia genutzt wird, um das Wie der Erzählung neben den inhaltlich dargestellten Begebenheiten zu betonen. 445 Der rurale Kontext, die costumbristischen Beschreibungen und die damit verbundene Vorstellung der Entbundenheit von zeitlicher Linearität erinnern wiederholt an die Beschreibung des »gaucho extático« in El Sur. 446 J. L. Borges, OC II 1996, S. 449.

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eine zeitlich ambivalente Markierung; die Präposition »antes« bezieht sich demnach sowohl auf zeitlich weit zurückliegende Ereignisse als auch auf die erzählten Ereignisse im unmittelbar vorausgehenden Zusammenhang. Der Erzähler, der die Geschichte von Baltasar Espinosa in Form und als Thema eines Evangeliums vermittelt, ist somit an dieser Stelle wiederholt als eine Instanz markiert bzw. tritt als solche hervor und vereint im Prozess des Erzählens eine Stimme der allwissenden Übersicht mit einer Perspektive, die einhergeht mit der Sicht von Baltasar – und damit einer Sichtweise, die wiederum stärker an die Subjektivität der Figur gebunden ist.447 So wird die nächtliche Begegnung Baltasars mit der Tochter des capataz zugleich mit auktorialer Präzision eingeleitet und als sexuelle Beziehung angedeutet, unterdessen aber aus Baltasars Sicht nicht explizit ausgeführt: »El temporal ocurrió un martes. […] Era la primera vez que conocía a un hombre. […] Urgido por una íntima razón que no trató de averiguar, juró que en Buenos Aires no le contaría a nadie esa historia.«448 Insbesondere die Adressierung multipler Erzählzusammenhänge wird an dieser Passage deutlich: Der Erzähler vermittelt die Perspektive Baltasars, der in seiner Reflexion voraussieht, in Buenos Aires selbst erzählen zu können und daher nicht vollständig erzählen zu müssen. Der entangled narrator bringt hingegen die Erzählung im Wissen ihres Ausgangs voran, vermag es aber, das Ende nicht vollständig auszuführen, wobei er jedoch das subjektive Detail der Beobachtung Baltasars beim Wiedererkennen von Vogelgeräuschen erwähnt: »Cuando le abrieron, vio el firmamento. Un pájaro gritó; pensó: Es un jilguero. El galpón estaba sin techo; habían arrancado las vigas para construir la Cruz.«449 Zudem lässt sich eine poetologische Ebene der Verflechtung hinzugewinnen, die, herbeigeführt durch den entangled narrator, die Erzählung semantisch und pragmatisch als mit einer weiteren Kurzgeschichte aus Borges’ Œuvre verbunden erscheinen lässt, welche in mehrfacher Hinsicht für ein disseminatorisches Erzählen steht: Es handelt sich um El Sur aus der Sammlung Ficciones (1944). Demnach ist El Evangelio según Marcos als (invertierter) Doppelgänger von El Sur lesbar, was die erste Erzählung in die Nähe des neofantástico rücken lässt, da die zweite als neophantastische Erzählung par excellence dieser Überschreibung angesehen werden kann.450 Die Unbestimmtheit ungelöster Spannungen, 447 Eine ähnliche Beobachtung lässt sich für El Sur anführen. Auf Ähnlichkeiten der Verfahren zwischen El Evangelio según Marcos und El Sur wird im Verlauf der Untersuchung noch genauer eingegangen; damit ist das Erzählen in El Evangelio según Marcos auch – eher als in El atroz redentor Lazarus Morell und Deutsches Requiem – konzeptuell in die Nähe des neofantástico zu bringen. Die Elemente des neofantástico sowie ihre Bedeutung für Imaginarien des Bösen werden noch zu erläutern sein. 448 J. L. Borges, OC II 1996, S. 449. 449 Ebd., S. 450. 450 Pablo Brescia beschreibt und analysiert El Sur als »máquina de narrar.« Berücksichtigt man die Beobachtung von Pablo Brescia, erscheint die Inversion von El Sur in der Erzählver-

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die verflochten sind in das Spiel der Kontingenz und der Präfiguration der Dinge, ist in El Evangelio según Marcos nicht in der Komplexität angelegt, die El Sur erreicht; als (invertierter) Doppelgänger ist aber ein solches Spiel von Zufall und Determination gerade im Hinblick auf den Aufbau der mise en abyme auffällig. Nach dem Fund einer Bibel im Haupthaus der estancia schlägt Baltasar Espinosa unvermittelt die Seiten des Markus-Evangeliums auf: »Hojeó el volumen y sus dedos lo abrieron en el comienzo del Evangelio según Marcos.«451 Dabei handelt es sich um eine englischsprachige Version der Bibel, was den Erzähler bereits zuvor gemachte Kommentare über die Identität der Gutres ergänzen lässt und ihn veranlasst, sie mit der Identität des Protagonisten zu verbinden: Den Rhetorik-Unterricht hat Espinosa als Schüler in der englischen Schule – Ramos Mejía – erhalten, was der Erzähler zweimal erwähnt (und damit betont).452 Zudem wird nach dem Fund der Bibel erklärt: »En las páginas finales los Guthrie – tal era su nombre de genuino – habían dejado escrito su historia. Eran oriundos de Iverness, habían arribado a este continente, sin duda como peones, a principios del siglo diecinueve, y se habían cruzado con indios.«453 An dieser Stelle – wie auch an anderen Stellen der Erzählung – lässt sich El Sur wörtlich in die Beobachtungen einbringen. »A la realidad le gustan las simetrías y los leves anacronismos«,454 wie der Erzähler in El Sur herausstellt. Dieser Kommentar ist sowohl extradiegetisch – in Bezug auf die Verflechtung beider Erzählungen – als auch intradiegetisch übertragbar, da Symmetrien und Wiederholungen El Evangelio según Marcos durchsetzen, strukturieren und gleichzeitig erzählerisch verflechten. Das Kreuz, enigmatisch am Ende der Erzählung errichtet, ist eine Geste der Gläubigkeit, die Espinosa nur nach Aufforderung der Mutter ausführt, und wird bereits am Beginn und in der Darstellung der Identität des Protagonisten erwähnt.455 Ebenfalls am Beginn und am Ende der Erzählung wird erwähnt: »No le gustaba discutir« – und fatalerweise diskutiert Espinosa nicht, als er zum Kreuz geführt wird, das die Gutres errichtet haben, womit suggeriert wird, er akzeptiere, was auf der anderen Seite der Tür auf ihn wartet: »Espinosa entendió lo que le esperaba del otro lado de la puerta.«456 Diese Zuwendung zum erwartbaren Tod – vermittelt im Erzählen – verbindet Espinosa

451 452 453 454 455 456

mittlung bzw. innerhalb der Erzählvorgänge von El Evangelio según Marcos nur konsequent: »Borges hace de la literatura realista un subconjunto de la literatura fantástica y así enfatiza la calidad de artificio de ambas.« Ders., Modelos y prácticas en el cuento. Hispanoamericano: Arreola, Borges, Cortázar 2011, S. 70. J. L. Borges, OC II 1996, S. 448. Ebd., S. 446 u. 448. »Recordó las clases de Ramos Mejía y se ponía de pie para predicar las parábolas.« Ebd., S. 448. Ders., OC I 1996, S. 525. Ders., OC II 1996, S. 446. Ebd., S. 450.

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ebenfalls mit Juan Dahlmann, dem Protagonisten aus El Sur. Auch dieser übertritt eine Türschwelle, um dann in die llanura hinauszutreten, als er der Aufforderung zu einem Messerkampf nachkommt, von dem er weiß, dass er ihn verlieren wird. Ist das Ende der Erzählungen in eindeutigen Symmetrien vermittelt und perspektiviert, finden sich aber auch von Beginn an weitere erzählerische Überschneidungen und Überschreitungen, die als erzählte Verflechtungen erscheinen. El Sur, als Topographie und Topologie der gleichnamigen Erzählung aufgebaut, disseminiert auch in Evangelio según Marcos, wodurch die Geschichte einen Anteil der militärischen Genealogie erhält, die bei der identitären Konstruktion von Baltasar Espinosa zunächst keine Rolle spielt. Es ist die Rede von »el partido de Junín, hacia el sur.«457 Nicht allein die Rede von den »Partidos de Norte«,458 die der Erzähler von El Sur im Zusammenhang mit Diskussionen kultureller Verortungen anführt und welche ihren ›Gegenpart‹ erhalten, ist hier von Bedeutung, sondern eine zusätzliche narrative Verbindung der Schlacht bei Junín (La Batalla de Junín) sowie die Gründung der Stadt als Außenposten zum Schutz vor indigener Bevölkerung in Zeiten der pre-independencia finden ihren Eingang und Eintrag in die Erzählung von El Evangelio según Marcos, nicht zuletzt über die Imaginarien der Erzählung von El Sur.459 Die Verbindung beider Geschichten trifft den Protagonisten aber noch deutlicher. Während Juan Dahlmann auf dem Weg zu einer estancia im Familienbesitz ist, die er schließlich nie erreicht, ist die Handlung von El Evangelio según Marcos auf einer estancia angesiedelt, die von Beginn an in den Fokus rückt. Der Bart, den sich beide Protagonisten wachsen lassen, markiert in beiden Erzählungen einen von mehreren Wendepunkten: Für Juan Dahlmann ist der Bart ein (zusätzliches) Zeichen für die ungelöste und unlösbare Spannung der zwei Geschichten zwischen Sanatorium und der Zugfahrt bzw. Ankunft und Konfrontation im almacén; für Baltasar Espinosa ist der Bart als Zeichen allgemeiner Veränderung und narratologisch als Spiel des entangled narrator zu verstehen, das Erzählen offen bzw. spannungsvoll zu gestalten; es wird schließlich erzählt, wie Espinosa sich das Erzählen der eigenen Geschichte in Buenos Aires im Kreis seiner Freunde vorstellt; so wird es später in Bezug auf die angedeutete sexuelle Beziehung zur Tochter des capataz erwähnt: »Espinosa se había dejado crecer la barba, solía demorarse ante el espejo para mirar su cara cambiada y sonreía al pensar que en Buenos Aires aburriría a los muchachos con el relato de

457 Ebd., S. 446. 458 Ders., OC I 1996, S. 527. 459 So wird aus Sicht Baltasars in der Befragung der Gutres zur Erinnerung an Ereignisse im 19. Jahrhundert erwähnt: »Espinosa les preguntó si la gente guardaba algún recuerdo de los malones, cuando la comandancia estaba en Junín.« Ders., OC II 1996, S. 447.

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la inundación del Salado.«460 In diesem Zusammenhang steht die Aussicht, die Geschichte der Überschwemmung zu erzählen, allerdings im Konjunktiv, und ist dazu weiter verbunden mit dem Gefälle zwischen Gewöhnlichkeit und dem Außergewöhnlichen. Auch die konfliktreichen Paarungen oder Auseinandersetzungen, die im Zeichen der kulturellen Differenz gestaltet sind, gewinnen für die Erzählung von El Evangelio según Marcos eine weitere Ebene der Bedeutung, die für die Herstellung von Vorstellung im räumlichen Verständnis des Erzählens der Imaginarien des Bösen genutzt werden kann, wenn man sie in der Verflechtung mit El Sur betrachtet. So ist es nicht unerheblich, zu erwähnen, dass die Gutres und der Vater als capataz allgemein an die peones von El Sur erinnern, weil sie im Narrativ des Erzählers ähnlich, ja fast identisch beschrieben werden. Transkulturelle Geschichten werden in Episoden von Herkunft, Gewohnheiten und Glauben sowie ethnischer Mischung erzählt. Dieses Verfahren bestimmt den Beginn von El Sur, der Juan Dahlmann im Konflikt zwischen »dos linajes« beschreibt. Die Unentscheidbarkeit dieses Konfliktes ist lesbar als third space im Modus der neophantastischen Erzählung und macht das dekonstruktive Moment im Ausspielen der zwei Kulturen aus, welches nicht antagonistisch, sondern als sich ergänzend beschrieben wird. In El Evangelio según Marcos sind es die Gutres, die im Konflikt von Herkunft und transkultureller Bedeutungsverschiebung stehen; sie sind gleichzeitig aber auch mit der Darstellung und den Imaginarien der peones verbunden: Se habían cruzado con indios, […] ya no sabían escribir. Al cabo de unas pocas generaciones habían olvidado el inglés; el castellano les daba trabajo. Carecían de fe, pero en su sangre perduraban, como rastros oscuros, el duro fanatismo del calvinista y las supersticiones de la pampa.461 Los Gutres eran tres: el padre, el hijo, que era singularmente tosco, y una muchacha de incierta paternidad. Eran altos, fuertes y huesudos, de pelo que tiraba a rijizo y de caras aindiadas. Casi no hablaban.462 Los parroquianos de la otra mesa eran tres: dos parecían peones de chacra; otro, de rasgos achinados y torpes […].463

Nun wird der Konflikt in El Sur ausgelöst oder dynamisiert vom Bewerfen des Protagonisten mit Brotkrumen – migas; Baltasar Espinosa wird als patrón bedient, und der Erzähler informiert: »Mientras leía, notó que le retiraban las migas que él había dejado sobre la mesa.«464 Anstatt die Hauptfigur – die hier patrón 460 461 462 463 464

Ebd., S. 448. Ebd. Ebd., S. 446. Ders., OC I 1996, S. 557. Ders., OC II 1996, S. 449.

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und damit Herr ist – zu bewerfen, was Dahlmann als Zeichen fehlenden Respekts deutet, sind die migas hier als Zeichen des Respekts zu deuten und liefern außerdem einen Hinweis auf biblische Zusammenhänge, weil Baltasar, der Herr, von den Gutres durch die Kreuzigung zum Doppelgänger Jesu – sinnbildlich also für denjenigen, der das Brot teilt – gemacht wird. Als letzte hier relevante Inversion, die ergänzend zu den bereits genannten Inversionen im Sinne einer narrativen Verflechtung gelesen werden kann, sind auch Verdoppelungen anzuführen, die in El Sur räumlich zwischen dem Sanatorium und der Zugfahrt zu Dahlmanns estancia wie auch in der Bewegung zwischen den Räumen – Buenos Aires/el sur/El Sur; El libro de las mil y una noches,465 auf dem Weg von der Bibliothek zu seiner Wohnung, in den Alpträumen im Sanatorium, als Lektüre auf der Zugfahrt, aber auch im almacén etc. – angelegt sind und das neophantastische Moment hervorbringen. Die Figuren betreffend, sind in El Evangelio según Marcos Hinweise auf ein Doppelgängertum erkennbar, das die Unheimlichkeit von El Sur zu imitieren scheint: »[A]hora ausente el patrón, el había tomado su lugar y daba órdenes tímidas, que eran inmediatamente acatadas. Los Gutres lo seguían por las piezas y por el corredor, como si anduvieran perdidos.«466 So ist bereits räumlich und zugleich atmosphärisch der Korridor angedeutet, durch den Baltasar zum Kreuz geführt wird, noch bevor Baltasar und der capataz einen inhaltlichen Austausch über die Opferung Jesu als Selbstopferung auch im Namen und zur Erlösung seiner Richter (Verräter etc.) haben. Nach einer langen siesta – in El Sur ist es der tiefe Schlaf im Zug, durch den ein möglicher Wendepunkt im Erzählen markiert ist – schreitet Baltasar verloren den Korridor ab, wie zuvor die Gutres verloren auf dem Korridor erscheinen; seine Stimme wird verdoppelt, als würde sie Gedanken laut aussprechen, und ergänzt durch den capataz, welcher ihm folgt: »Espinosa durmió una siesta larga. […] Hacia el atardecer se levantó y salió al corredor. Dijo como si pensara en voz alta: – Las aguas están bajas. Ya falta poco. – Ya falta poco – repitió Gutre como un eco.«467 Wenn nun das Erzählen (die Fiktion selbst) das Thema von El Sur ist, das vom Modus des neofantástico ein- und zugleich ausgeführt wird, das Ende als span465 »Las mil y una noches es el elemento de ES que permite el pasaje entre ambos argumentos. Pero ¿cuál es el punto de cruce entre las dos historias, el poste donde está marcada (inevitablemente) un nuevo recorrido? Aqui aparece el postualdo fantástico que provoca la desestabilización y la indecibilidad; es el momento en que la narración plantea que una historia puede ser otra, o que una historia son dos historias.« Siehe dazu auch ausführlicher Pablo Brescia, Modelos y prácticas del cuento hispanoamericano: Borges, Arreola, Cortázar 2011, hier S. 90. 466 J. L. Borges, OC II 1996, S. 449. 467 Ebd., S. 450.

El escritor argentino y la tradición: plantación – campo de concentración – estancia

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nungsvolle, unentscheidbare Zone erscheinen lässt und in El Evangelio según Marcos als eine ihrer Variationen enthalten ist, dann stellt sich die Frage, ob oder in welchem Ausmaß die neophantastische Lesart für die Untersuchung der Imaginarien des Bösen relevant wird. Zu vermuten ist, dass es sich bei der Neophantastik um ein Narrativ handelt, das (konstitutiv) an weitere, noch eingehend zu untersuchende Narrative räumlicher und verräumlichender Ordnungen gebunden ist. Der entangled narrator, der in den hier relevanten Erzählungen herausgestellt wurde, ist für die Untersuchung von Imaginarien des Bösen als Möglichkeit zu betrachten, die Herstellung der Vorstellung dieser Imaginarien zu vermitteln; zugleich erlaubt es diese verflechtende Instanz, die den Raumerzählungen verbundenen Vorbereitungen der Erzählung von Raum hervorzuheben. Dieser narrativen Dynamik wird sich das folgende Kapitel widmen, denn innerhalb der Raumerzählung verflicht der entangled narrator eine Vielzahl von Narrativen und damit Darstellungsmöglichkeiten und Geschichten als Imaginarien des Bösen. Das räumliche Verständnis von Text wird konsequenterweise im Folgenden um die Erzählung von Raum ergänzt. Somit wird aus der Kodierung der zweiten Geschichte, die ein entangled narrator in jeder der hier untersuchten Erzählungen mit der ersten Geschichte als der Oberfläche einer Erzählung verflicht, ein Thema erklärbar, das auf Imaginarien des Bösen hindeutet. Insbesondere die in den hier diskutierten Texten aufgebauten Genealogien der Protagonisten, die zumeist auf eine militärische Kontextualisierung und auf eine intellektuelle Herleitung verweisen bzw. den Verweis selbst problematisieren, halten Spannungen und Dynamiken bereit, durch die die einzelnen Erzählungen auf unterschiedliche Art und Weise auf eine Simulation der Präfiguration (innerhalb) der erzählten Welt und Vorstellungen von Kontingenz hinweisen. Dieses Spiel der Möglichkeiten, die diese Erzählungen bereithalten, soll als räumliche Vorstellung untersucht werden.

6.2

El escritor argentino y la tradición: plantación – campo de concentración – estancia

Den Impuls der Diskussion über postkoloniale Positionen im essayistischen und erzählerischen Werk von Jorge Luis Borges aufnehmend, wird das räumliche bzw. verräumlichende Potenzial der bisher gemachten Beobachtungen zum Erzählen durch den entangled narrator weitergeführt, um die Imaginarien des Bösen der hier untersuchten Kurzgeschichten miteinander in Verbindung zu bringen und argumentativ zusammenzuführen.

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Die postkoloniale Position, die in Borges’ fiktionalen Welten in Form diskursiver Räume vertreten ist und kulturelle wie soziale und politische Dimensionen produziert – ohne sie explizit als postkolonial zu bezeichnen –, die jedoch u. a. durch die variable und performative Umsetzung seinen poetologischen Reflexionen zugerechnet werden kann, wird insbesondere in zwei seiner Essays impliziert: Kafka y sus precursores468 und El escritor argentino y la tradición.469 Während der erste ensayo am Beispiel Kafkas die Künstlichkeit von (Künstler-)Genealogien zeigt und die konstruierte Kausalität, aber oftmals (strategisch) notwendige Bezugnahme auf Autor:innen begründet, zeichnet sich der zweite Aufsatz durch die Dekonstruktion der Totalität von nationalen (bzw. nationalistischen) Bezugsrahmen aus und argumentiert gegen einen ontotopologischen Horizont von Literaturen im Allgemeinen und für argentinische Literatur im Besonderen. Borges argumentiert, mit anderen Worten, mit Literatur aus Argentinien gegen ein alleiniges, exklusives Verständnis argentinischer Literatur.470 Es sind gleichfalls diese Gesten, die Borges von einem marginalen Standpunkt aus in die Nähe oder gar das Zentrum der Positionen von Weltliteratur rücken. Es ist in diesem Sinne auch der aus diesen Beobachtungen gewonnene Blick auf weltende Manöver der hier relevanten Texte, der an Bedeutung gewinnt.471 Der allgemein performative und poietische Aspekt von Borges’ Erzählungen und der postkolonialen Dimension, der hier als Referenzrahmen dient, ist an die Beobachtung gebunden, dass diese Erzählungen mit räumlichen Zuweisungen und verräumlichenden Mitteln operieren, kurz: Der Erzählung von Raum wird eine zentrale Bedeutung gegeben. Diese Beobachtung gilt es, mit den bisherigen Erkenntnissen zu Modi des entangled narrator zu ergänzen, um letztlich auf die 468 Ebd., S. 88ff. 469 Ders., OC I 1996, S. 267–274. 470 Diese Argumentation endet bekanntlich mit dem geäußerten Anspruch und dem Recht auf Teilhabe an Traditionen, die nicht allein national zu betrachten sind: »¿Cuál es la tradición argentina? Creo que podemos contestar fácilmente y que no hay problema en esta pregunta. Creo que nuestra tradición es toda la cultura occidental, y creo también que tenemos derecho a esta tradición, mayor que el que pueden tener los habitantes de una u otra nación occidental.« Ebd., S. 272. 471 Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf Mariano Siskinds Reflexionen zum Kosmopolitismus und zur damit reklamierten politischen Dimension der Literatur von Borges. Auch Siskind bezieht sich dafür (kritisch) auf El escritor argentino y la tradición und fasst folgendes Argument zusammen, das sich hier mit der postkolonialen Lesart deckt: »La idea de que ›Nuestro patrimonio es el universo‹ sintetiza en cinco palabras el argumento de ›El escritor argentino y la tradición‹ y, junto con muchas otras alusiones universalistas, apuntala la postulación de un horizonte cosmopolita para la práctica discursiva de Borges. […] En oposición a […] formas de entender el cosmopolitismo como fenómeno estético y como actitud vital distanciada, desarraigada, heredada de una mala lectura del modernismo, me interesa pensar el cosmopolitismo como un espacio discursivo para la producción de subjetividades modernas […].« Ders., »El Cosmopolitismo Como Problema Político: Borges y El Desafio De La Modernidad«, in: Variaciones Borges 24 (2007), S. 75–92. Hier: S. 80f.

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Verflechtungsgeschichte der Imaginarien des Bösen in den Texten von Borges differenziert verweisen zu können. Damit gehen auch ethische Dimensionen der hier diskutierten Texte in einem postkolonialen Fokus einher. Die Erzählung von Raum wird über die Herstellung der Vorstellung erreicht, die der entangled narrator durch Narrative vermittelt; wie diese Vermittlung von Narrativen wiederum die Verflechtungsgeschichten der Imaginarien des Bösen in den Erzählungen von Jorge Luis Borges übergreifend befördert, ist zu Beginn dieses Kapitels zu klären. Um weiterhin die Verflechtung des räumlichen Erzählens nicht als Spiel selbstreferentieller Manöver, sondern vielmehr die durch die Verflechtungen arrangierten Transgressionen als semantische Kippfiguren zu erfassen, in denen Opfer-Täter-Relationen als Bedeutungsstratifikationen des Verhältnisses von Leben und Tod selbst bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten entworfen und hervorgerufen werden und damit ethische Fragen aufwerfen, soll es im Folgenden darum gehen, die Erzählung von Raum mittels der Raumerzählung aller drei Erzählungen zunächst getrennt zu untersuchen. Am Beginn der folgenden Beobachtungen steht El Evangelio según Marcos, vermag doch diese Erzählung, obgleich nach El atroz redentor Lazarus Morell und Deutsches Requiem veröffentlicht, selbst als Vermittler der Imaginarien des Bösen aller drei Erzählungen zu gelten und somit zwischen den beiden erstveröffentlichten zu stehen: In dieser späten Kurzgeschichte werden sowohl postkoloniale Positionen, wie sie in El escritor argentino y la tradición vertreten werden, performativ umgesetzt als auch postkoloniale Narrative der Amerikas mit einer Vielzahl von kulturellen Kontexten verflochten. Dabei wird Böses in Topographien dieser Erzählungen simuliert und werden auch Imaginarien des Bösen als Topologien und ihre Variationen narrativ umgesetzt. Zu beobachten ist demnach, wie in Borges’ Erzählungen die argentinische Topographie dazu dient, in Verbindung mit einer Vielzahl von geokulturellen Imaginarien die Herstellung der Vorstellungen von Welt fiktional umzusetzen. Inwieweit die Raumerzählung und die Erzählung von Raum in dieser Geschichte verflochten sind und sich wechselseitig zu konstituieren vermögen, zeigt gleichfalls (einen) ihre(r) (möglichen) Wendepunkt(e), der mit der mise en abyme erreicht wird (siehe Kapitel 6.1): »Explorando la casa siempre cercada por las aguas, dio con una Biblia en inglés.«472 Der erzählte Raum der vagen Topographien führt von Buenos Aires in die pampa des Südens (nahe Junín), wird dann eingegrenzt auf die estancia, ihre estancia, bis diese nur noch wenige Räume und schließlich den Schuppen umfasst. Zugleich lässt der entangled narrator eine Art Niemandsland entstehen, das die Insel der überschwemmten estancia topologisch als miniaturisierte Welt erscheinen lässt. Dieses räumliche Erzählen umfasst die zeitliche Dimension der 472 J. L. Borges, OC II 1996, S. 446.

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erzählten Welt, insofern das Geschehen von Ostern 1928 innerhalb weniger Tage zusammengefasst wird, dabei aber auch der Eindruck von Zeitlosigkeit und Irrealität entsteht, wodurch die Raumerzählung wiederum an das Narrativ des neofantástico gebunden wird. Das Geschehen wird räumlich und zeitlich entgrenzt und damit zu einem kulturellen Grenzraum: Die vom casco der estancia Ausgeschlossenen erhalten Zugang und überwinden damit eine soziale Grenze; dabei wird durch die Überschwemmung das Haus zu einer Insel auf der Insel der estancia, die zunächst eine neue Gemeinschaft entstehen lässt. Doch diese Gemeinschaft wird durch die Rollenverteilung von Vorleser und Zuhörer:innen erneut geteilt. Die topographischen Koordinaten Sur, Junín, Los álamos, estancia, campo, Río Salado, la casa del capataz, casco de la estancia, corredor und galpón etc. korrespondieren mit der Raumerzählung der Biblia en inglés, die während des Vorlesens übersetzt werden muss, damit sie den Gutres überhaupt und dann als Rede vorgetragen werden kann. Das Vorlesen/Vortragen wird vom Erzähler einerseits als bloßer Zeitvertreib eingeführt, aber nicht allein aus dieser Motivation heraus begründet, weil andererseits von genau diesem Erzähler – und damit dem entangled narrator – suggeriert wird, den Gutres fehle jeglicher weitere Zugang zur Welt, der nicht praktisch begründet sei. Eine weitere Erzählung wird in diesem Zusammenhang zentral für das Erzählen von El Evangelio según Marcos und das darin umgesetzte Argument aus El escritor argentino y la tradición: Don Segundo Sombra wird neben der Bibel als das kanonische Werk und diskursiver Raum innerhalb der Erzählung genannt. Dieses Buch, welches Baltasar Espinosa neben einem tiermedizinischen Handbuch,473 landwirtschaftlichen Zeitschriften, erotischen und kriminalistischen Geschichten, dem Tabaré474 und einer Geschichte des shorthorn cattles in Argentinien vorfindet, wird als »una novela reciente«475 beschrieben und erscheint damit sowohl gegenwartsbezogen und aktuell als auch zugleich traditionell, kanonisch und wissenschaftlich – und erschließt sich den Gutres nicht. Sein Inhalt muss nicht benannt werden, da er ihr tägliches Leben bereits bestimmt: »Espinosa […] leyó un par de capítulos a los Gutres, que eran analfabetos. Desgraciadamente, el capataz había sido tropero y no le podían importar las andanzas de otro.«476 Eine Identifikation der eigenen 473 Es erscheint mit Blick auf die simetría poética konsequent, dass die Behandlung der Tochter des capataz nach einer Verletzung am Drahtzaun durch Espinosa, der Medizinstudent ist, wie ein Wunder auf die Übrigen wirken muss. Dazu passt das für sie belanglose Handbuch für Veterinäre im Haus. Siehe J. L. Borges, OC II 1996, S. 449. 474 Uruguayisches Versepos von Juan Luis Zorilla de San Martín, veröffentlicht 1888. Inhaltlich zusätzlich passend, enthält dieses Epos doch mit der Entführung von Spanierinnen durch indígenas den asunto sublime par excellence, der mit dem primitivistischen Bild der Gutres koinzidiert. 475 J. L. Borges, OC II 1996, S. 445. 476 J. L. Borges, OC II 1996, S. 446.

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Welt mit der literarischen Welt Don Segundo Sombras,477 die auf der Simulation einer gauchesken Tradition aufbaut, gelingt nicht. Im Gegenzug gelingt die Identifikation des Anderen (der Bibeltext, das Evangelium), die gleichzeitig eine Identifikation mit dem Anderen (in der Person Espinosas) ist, mithilfe des Bibeltexts; somit dringt die durch das Lesen/Vorlesen/Übersetzen und Zuhören inszenierte Welt in die Welt des Vorlesers und der Zuhörer:innen ein. Was Don Segundo Sombra478 an Weltwissen479 für die Gutres nicht bereithält, ersetzt und ermöglicht dafür die Bibel: die Vermittlung einer Anleitung zum Handeln nach dem Verständnis ihres patrón, der bereit ist, dieses Wissen der Handlungsanleitung in den vorgetragenen Parabeln zu vermitteln (»predicar las parábolas«480). Baltasar vollzieht damit als reenactment die christliche, koloniale Mission der Entdeckungsfahrten und damit einen zentralen politischen Auftrag der conquista, indem er den Gutres – vom Erzähler beschrieben als Analphabet:innen das Evangelium bringt und vorliest. Die Gutres, so informiert der entangled narrator, hießen jedoch vor wenigen Generationen Guthrie und waren dem christlichen Glauben nicht nur im Hinblick auf die calvinistische Lehre verbunden, sondern banden wortwörtlich ihren Stammbaum – oder: ihre Genealogie – an die Heilige Schrift, indem sie ihre Familiengeschichte wie ein Palimpsest in der Bibel notierten, die Baltasar auffindet. Der beschriebene kulturelle Niedergang – diese Sicht ist aus Baltasars Perspektive erzählt, da der Erzähler sie ihn an Kinder erinnern lässt, deren Verständnis des Vorgelesenen für ihn zweifelhaft bleibt481 – fügt sich in das Schema (post)kolonialer Narrative, die den Primitivismus von Europäer:innen im Kontakt mit der indigenen Bevölkerung und dem amerikanischen Raum thematisieren bzw. befördert haben. Die Gutres (das Gute) tragen dazu die Göttlichkeit und den Verweis auf die estancia (das 477 Dazu J. L. Borges in El escritor argentino y la tradición: »Los nacionalistas nos dicen que Don Segundo Sombra es el tipo de libro nacional; pero si comparamos Don Segundo Sombra con las obras de la tradición gauchesca, lo primero que notamos son diferencias. Don Segundo Sombra abunda en metáforas de un tipo que nada tiene que ver con el habla de la campana y si con las metáforas de los cenáculos contemporáneos de Montmartre. En cuanto a la fábula, a la historia es fácil comprobar en ella el influjo del Kim de Kipling, cuya acción está en la India y que fue escrito, a su vez, bajo el influjo de Huckleberry Finn de Mark Twain, epopeya del Misisipí.« Ders., OC II 1996, S. 271. 478 Roman von Ricardo Güiraldes, veröffentlicht 1926. 479 Die weiteren Elemente dieses textuellen und literarischen Weltwissens lesen sich zudem wie eine parodierte Fassung poetologischer Elemente und von genre-Varietät: Die Kriminalgeschichte und die Erotik, die Borges’ Werke selten andeuten, in El Evangelio según Marcos aber erzählerisch sehr wohl genutzt werden, das enzyklopädische Wissen eines Handbuches und schließlich das Versepos. 480 J. L. Borges, OC II 1996, S. 446. 481 »[Y]a no sabían escribir. […] Para ejercitarse en la traducción y acaso para ver si entendían algo, decidió leerles ese texto después de la comida. […] Espinosa sintió que eran como niños, a quienes la repetición leas agrada más que la variación o la novedad.« Ebd., S. 448f.

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Gut482) in ihrem Namen und somit als Teil ihrer Identität den Raum und den Glauben bereits in sich. Darüber hinaus konstituiert El Evangelio según Marcos in einer weiteren Verflechtung von biblischer Raumerzählung und Erzählung von Raum auch Narrative der nationalen Mythographie und Kulturkritik. Zum Narrativ dieses biblischen reenactment im Zeichen der estancia-Gemeinschaft mischt sich die Erzählung der Überschwemmung des Río Salado als (biblische Flut) oder Sintflut aus dem 1. Buch Mose. Die erzählerisch hergestellte Insularität des Raumes der pampa oder des desierto, hervorgerufen durch Regen und anhaltende Überschwemmungen, ist somit gepaart mit der Metapher, die die pampa mit dem Meer gleichsetzt. Dieser Vergleich gehört seit Esteban Echevarrías La cautiva (1837) zu jenen geokulturellen Imaginarien, die das Erzählen über die argentinische Landschaft jenseits von Buenos Aires charakterisieren können, und zwar sowohl in Berichten Reisender als auch in nationalen Betrachtungen, in Ezequiel Martínez Estradas Radiografía de la Pampa (1933) und in gegenwärtigen Erzählungen.483 482 »Un examen superficial del nombre de estos descendientes de escoceses e indios, muestra dos líneas etimológicas con una raíz básica. Por una parte se remite a la palabra alemana Gott (›Dios‹), derivada de la antigua germánica Got y el teutónico Guda (›el ser invocado = Dios‹), que a su vez proviene del Indo-Europeo Ghu-tó-m, donde Ghu = ›orar, rezar, invocar‹. Los Gutres serían entonces los que invocan a Dios, los que buscan y llaman a Dios. Por otro lado, el inglés da – como el alemán – además de la línea God (›Dios‹), la de Good, cuyo correspondiente alemán Gut significan ›bueno‹ y ›bien‹, pero también ›estancia, estancia, propiedad‹. El adjetivo gut, gutes, da en español ›bueno‹, ›lo bueno‹. Esta otra línea podría llevar a descubrir en el nombre Gutres a ›los buenos, los bondadosos, los inocentes‹, algo así como los pobres de espíritu, los limpios e inocentes de espíritu. El sufijo -IER, así como la forma -RIE en inglés, denota ›ocupación carrera, forma de trabajo, condición‹, y está relacionada con el latín – arius. Por tanto el nombre de los autores y ejecutores del drama debe (o puede) ser traducido como ›los que hacen lo bueno‹, ›los invocadores de Dios‹, ¿los que buscan, inocentes y buenos, a Dios …? Es evidente que Borges juega aquí con el aura significativa, con el entorno aludido y evocado por estos significados, y ellos conllevan toda esta suma de sugerencias semánticas que, de alguna manera, se corresponden con la función que los Gutres desempeñarán, sin saberlo, en el trágico relato.« Treffender kann man die etymologischen Verflechtungen nicht zusammentragen, die die vorausgehenden Beobachtungen ergänzen. Adolfo A. Borello, »El Evangelio según Borges«, in: Revista Iberoamericana. 40 Inquisiciones sobre Borges. Número especial dedicado a Jorge Luis Borges. Vol. XlIII, Núm. 100–101, Julio–Diciembre 1977, S. 503–516. Hier: S. 506. 483 Siehe zu unterschiedlichen Aneignungsstrategien und Imaginarien des Südens die Überblicksdarstellungen von Jenny Haase, Patagoniens verflochtene Erzählwelten. Der argentinische und chilenische Süden in Reiseliteratur und historischem Roman (1977–1991) 2009. Insbes. S. 45–94. Siehe dazu auch Ernesto Livon-Grosman, Geografías imaginarias. El relato de viajes y la construcción del espacio patagónico 2003. Ironischerweise erwähnt der entangled narrator dieses enzyklopädische Wissen, indem auf William Henry Hudsons Idle days in Patagonia (1893) verwiesen wird. Vgl. J. L. Borges, OC II 1996, S. 447: »Baltasar Espinosa, mirando desde la galería los campos anegados, pensó que la metáfora que equipara la pampa con el mar no era, por lo menos esa mañana, del todo falsa, aunque

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Das zentrale Argument der postkolonialen Position, die die programmatische Intervention von Borges’ El escritor argentino y la tradición im Erzählen des Raumes von El Evangelio según Marcos und, wie später auszuführen sein wird, (rückblickend und verflechtend) auch von Deutsches Requiem bis El atroz redentor Lazarus Morell einbringt, besagt, dass die geokulturellen Imaginarien, die in Borges’ Geschichten aus Narrativen argentinischer Traditionen gewonnen werden (bzw. gewonnen wurden), es ermöglichen, diese Modelle nationaler Partikularität als Universalität auf Modelle von Welt zu übertragen, und dass durch diese Verflechtungen (auch) Imaginarien des Bösen hervorgebracht werden.484 Die erzählerische und textuelle Autorität, die der entangled narrator vermittelt, ist in zweierlei Hinsicht von einem marginalen Standpunkt aus generiert. Zum einen ist Baltasar Espinosa, der Protagonist (»protagonista«) und temporäre patrón, als Autor in der Funktion des Übersetzers und damit als Leser seiner eigenen Geschichte tätig und kann im Kontext der Imaginarien des Bösen als Opfer des von ihm selbst herbeigeführten Todes betrachtet werden;485 er kann durch die Übersetzung und das Vorlesen demnach aber auch als Subjekt des eigenen Handelns verstanden werden, da er es durch die Übersetzung autorisiert. Der entangled narrator positioniert Espinosa und die Gutres andererseits auf einer gemeinsamen Grenze des Handelns, da die vom Erzähler dargestellte kulturelle Rückständigkeit und Naivität die Legitimation geben kann, den Horizont der missionarischen Worte in Funktion einer ebenso missionarischen Rede nicht ermessen zu können, und die Handelnden das Evangelium wörtlich Hudson había dejado escrito que el mar nos parece más grande, porque lo vemos dede la cubierata del barco y no desde el caballo o desde nuestra altura.« 484 Dieses Argument deckt sich mit Mariano Siskinds Beobachtungen zur Beziehung von Kosmopolitismus und Moderne bei Borges: »Borges escribe una literatura que propone la universalización de la particularidad marginal que determina su producción y su aspiración universalista.« Ders., »El Cosmopolitismo Como Problema Político: Borges y El Desafio De La Modernidad«, in: Variaciones Borges 24 (2007), S. 75–92. Hier: S. 87. 485 Diese Sichtweise deckt sich mit bisherigen Lesarten. Siehe dazu Beatriz Sarlo, Borges. A Writer on the Edge 1993, S. 29f. Marcey E. Schwartz, »Tradition and Treason, or the Tricks of Translation in Borges’ Prose« 1998, S. 3. Humberto R. Núñez Faraco ruft die thematischen Verbindungen auf, die El Evangelio según Marcos in die Nähe von El matadero (Esteban Echevarría, 1838) bringen, und deutet über den inhaltlichen Vergleich beider Erzählungen unter Berücksichtigung von Domingo Faustino Sarmientos Facundo und den darin zum Ausdruck gebrachten Konflikt zwischen Zivilisation und Barbarei (civilización vs. barbarie) auf soziokulturelle Vorurteile hin, die in den Erzählungen von Borges allgemein eine Rolle spielen. »In my view, Borges created an intertextual link with [El matadero] in order to reinforce the ideological continuity between Echevarría’s epoch and his own. […] In particular, what is at stake here is the incomprehension and incommunication of two radically different sectors of Argentinian society.« Über die inhaltliche Ebene der Erzählungen im Zusammenhang mit Borges’ Äußerungen zu Sarmientos Modell, übertragen auf die argentinische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, geht der Vergleich jedoch nicht hinaus. Siehe Humberto R. Núñez Faraco, »Gauchos and Martyrs in ›El Evangelio según Marcos‹«, in: Variaciones Borges 2012 34 (2), S. 143–159. Hier: S. 156.

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nehmen lässt. Die Opferung wäre damit eine Selbstopferung. Doch lässt der entangled narrator nicht allein diesen Schluss zu, da auf die kontingenten Zusammenhänge der für Espinosa tödlichen Gemeinschaft hingewiesen wird – wie etwa das zufällige Auffinden der Bibel und das ebenso zufällige Aufschlagen des Markusevangeliums –, so dass die erzählerische Unentscheidbarkeit zudem als eine ethische markiert wird, welche durch das verflochtene Narrativ der Neophantastik (El Sur) noch verstärkt erscheint. Damit entsteht die Herstellung der Vorstellung einer Zone der Unentscheidbarkeit, die die topographischen und topologischen Räume konstitutiv mit der Frage nach der Bewertung von Leben und Tod in Verbindung bringt und letztlich für Imaginarien des Bösen öffnet. Opfer, Selbstopfer, Täter und ›Jünger‹, Herr (»patrón«) und Diener werden austauschbar im Raum der Erzählung(en), der mit der Insel der estancia als erzähltem Raum verflochten ist, und verbleiben als Vektoren in einer Zone der (ethischen) Unentscheidbarkeit. Nun legt Deutsches Requiem als Erzählung auch von Beginn an eine biblischhermeneutische Spur, die das Erzählen von Raum präfiguriert; dabei wird vom entangled narrator als infamer Ich-Erzähler das Erzählen von Raum mit dieser Präfiguration durch den Titel und das Epigraph verflochten. Als Requiem ambivalent gerahmt, bezeichnet der Titel die Erzählung bereits als Totenmesse (in lateinischer Sprache) für den Protagonisten und gleichzeitig als Totenmesse des Protagonisten, der sich vor seiner Hinrichtung bekennend seiner autobiographischen Erzählung widmet und seine Überzeugungen als Kriegsverbrecher darlegt.486 Das Epigraph zitiert aus dem Buch Hiob – »Aunque él me quitare la vida, en él confiaré (Hiob 13:15)« – und vermittelt die Idee von Vertrauen bis in den Tod bzw. über den Tod hinaus; dazu entsprechen »Prophetie, Sentenz, Maxime, Bekenntnis und Monolog« des Erzählens von Deutsches Requiem der »inneren Form des Buches Hiob und [geben] […] Otto Dietrich zur Linde eine Sprechsituation.«487 486 Mit Esteban Buch sind zudem die weltlichen und weltenden Elemente der intertextuellen Verflechtung von Deutsches Requiem als Erzählraum aus dem Titel aufrufbar: »Borges’s title, which remains enigmatic given that the author does not reference its source, creates multiple echoes from the association, itself enigmatic, between death and what is German. A German requiem, a requiem in German, a requiem for a German, a requiem for Germany … These are all possible meanings for the service for the dead, originally a Catholic sung mass, which Brahms transposes into the Lutheran ethos. The requiem asks for eternal rest for the dead and in doing so promises earthly peace for the people or things that survive.« Ders., »Ein deutsches Requiem: Betweeen Borges and Furtwängler«, Journal of Latin American Cultures Studies, Vol. 11, No. 1, 2002, S. 29–38, hier: S. 29. 487 Siehe Adelheid Hanke Schaefer, Totenklage um Deutschland. Echos deutscher Stimmen im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 108. Die Autorin geht akribisch auf das intertextuelle Geflecht insbesondere der deutschen Philosophie ein, auf das der Erzähler zurückgreift, und analysiert dieses treffend als Bedeutungsträger der autobiographischen Form und der ideologischen Rechtfertigung des Erzählers von Deutsches Requiem. Siehe ebd., S. 107–148.

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Man kann von dieser Rahmung des Erzählens durchaus im Sinne einer Profanation eines Heiligen sprechen, wie es etwa Bernhard Teuber in Hinblick auf Charles Baudelaires Fleurs du mal ausführt.488 Das Böse ist demnach auch hier zu verstehen als parypostasis, die als schlechte Mimesis am Guten gelesen wird; das Böse ist zunächst bestimmt durch diese Form der Simulation, die zugleich eine Präfiguration der Erzählung darstellt. Das infame Ich des Erzählers stellt sich in seinem autobiographischen Bekenntnis gegen die jüdisch-christlichen Traditionen, die hier aufgerufen werden, und zielt explizit auf die Destruktion dieser Moralvorstellungen als Ordnungssystem, indem es die Sprechsituationen und -dimensionen dieser zu zerstörenden Traditionen nutzt, um sein Bekenntnis artikulieren zu können: »El mundo se moría de judaísmo y de esa enfermedad del judaísmo, que es la fe de Jesús. […] Lo importante es que rija la violencia, no las serviles timideces cristianas.«489 Mit der Stimme des Totalitarismus wird damit die Sicht auf die Verhältnisse als Utopie dargestellt – die Zukunft ist hier wörtlich ein Nicht-Ort und Hölle zugleich: »Yo había comprendido hace muchos años que no hay cosa en el mundo que no sea germen de un infierno posible […]. Que el cielo exista, aunque nuestro lugar sea el infierno.«490 Zur Lindes sentenzartige Darstellungen sind durch Deplatzierungen, Rekonfigurationen und Kippbewegungen charakterisiert, die sich an dem für Borges grundlegenden Modell geokultureller Imaginarien orientieren bzw. diese Erzählung als Erzählung von Raum immer neu besetzen und von Argentinien auf das nationalsozialistische Deutschland und den Holocaust übertragen: civilización vs. barbarie. Beide Elemente werden in einer dynamisierten Relation übersetzt, die als säkularisierte Formel die relationale Beziehung von Gut und Böse darstellt. Mit den Mitteln der Zivilisation rechtfertigt zur Linde seine Taten als Lagerleiter und Folterer und die ihn leitende Ideologie als Selbstverständnis, dem er aus Überzeugung und Glauben an eine (von ihm empfundene und nach seinem Ermessen gerechtfertigte) bessere zukünftige Welt folgte.491 Die Zuweisungen von Verortungen der 488 Siehe Bernhard Teuber, »Nachahmung des Bösen bei Baudelaire«, in: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation 1998, S. 603–630. Diskutiert wird der Ansatz in Kap. 2 dieser Arbeit. Siehe auch Ramsey Lawrence, der zur Linde als Märtyrer und Inversion einer Heiligenfigur analysiert: »Otto zur Linde, the Nazi officer who narrates the story, represents the paradigm of an inverted Christian saint.« Deutsches Requiem allein in dieser Dimension zu betrachten, greift allerdings zu kurz; dem Autor gelingt aber eine Berücksichtigung der Kategorie des Bösen. Ders., »Religious Subtext and Narrative Structure in Borges’ ›Deutsches Requiem‹«, Variaciones Borges 10 (2000), S. 119–138. 489 J. L. Borges, OC I 1996, S. 581. 490 Ebd. 491 »Otto Dietrich zur Linde ist kein Nazi, der nur angeordnete Befehle ausführt, ohne sie zu reflektieren, er ist kein Eichmann, […] der die Banalität des Bösen exemplifiziert. [S]eine Foltermethoden zeigen […], wie er sein Opfer zum Verstummen bringt, ohne sich vorzustellen, was dieses empfindet. Es geht ihm […] um die Auseinandersetzung mit sich selbst, um seine Überwindung und seine Wandlung zum ›neuen Menschen‹, und dafür eignet sich

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Ordnung dessen, was Zivilisation und Barbarei sein können, werden sicher nicht beliebig, aber austauschbar, und diese Dynamik wird an diesem dualen Schema entlang erarbeitet.492 Als Narrativ ist das Modell von civilización y/o barbarie493 reduktionistisch und expansiv zugleich: Als relationales Gefüge und transhistorische Variation wird es in moderne politische Zusammenhänge übertragen und das Partikulare damit als universelle Konstante stilisiert. Die Genealogie, die (zur Linde) dazu dient, sich individuell in Raum und Zeit zu verorten, seine Geschichte als Familiengeschichte zu entwerfen und zu erzählen, ist zugleich durchdrungen von einer Version ›deutscher Geistesgeschichte‹: von Hegel über Schopenhauer, Nietzsche und Spengler im Aufbau seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus, bis hin zu Arminius und Martin Luther, die er in der Beschreibung des Niedergangs anführt, der dann auch eine persönliche und familiäre Niederlage bedeutete: Der Beginn ist von den militärischen Erfolgen seiner Ahnen bestimmt. Das Ende setzt ein mit dem Tod des Bruders und der Zerstörung seines »Laboratoriums« (»mi laboratorio«494), womit das bombardierte Konzentrationslager Tarnowitz gemeint zu sein scheint, folgt man der intradiegetischen zeitlichen Logik.495 Offensichtlich dienen diese

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die bekenntnishafte Autobiographie.« Adelheid Hanke Schaefer, Totenklage um Deutschland. Echos deutscher Stimmen im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 139. Diesen Ansatz vertritt bekanntlich auch Beatriz Sarlo, um nur die prominenteste Vertreterin zu nennen, dank derer das Werk Borges’ einer philosophisch-politischen Kritik geöffnet wurde. Siehe dazu dies., Borges. A Writer on the Edge 1993. Hier: S. 80–92. Insbesondere das Kapitel »A Question of Order« argumentiert und zeigt konsequent, wie Gewalt ein zentrales Thema in Borges’ Texten ist, Annäherungen und Fragen an soziale und kulturelle Ordnungen ermöglicht und somit durchsetzt ist mit Perspektiven geokultureller Imaginarien, anstatt nur ein einziges, autonomes Verständnis von Literatur zu vertreten. Zu ergänzen ist hier, dass diese geokulturellen Imaginarien als Ordnungsräume von einem historischen und räumlichen Verständnis der Amerikas geprägt sind bzw. Anteil an ihrer narrativen Konstitution und Vervielfältigung haben. In einem Prolog zum Facundo von Domingo Faustino Sarmiento aus dem Jahr 1974 ersetzt Borges Zivilisation und Barbarei, wie der Untertitel im Original lautet, durch »civilización o barbarie« und argumentiert: »El Facundo nos propone una disyuntiva – civilización o barbarie – que es applicable, según juzgo, al entero proceso de nuestra historia. Para Sarmiento, la barbarie era la llanura de las tribus aborigines y del gaucho; la civilización, las ciudades. El gaucho ha sido reemplazado por colonos y obreros; la barbarie no solo está en el campo sino en la plebe de las grandes ciudades y el demagogo cumple la función del antiguo caudillo, que era también un demagogo. La disyuntiva no ha cambiado.« Ders., OC IV 1996, S. 149. Ders., OC I 1996, S. 580. Zur Linde berichtet, dass sich David Jerusalem Ende März 1943 das Leben im Konzentrationslager nimmt, das zuvor als »nuestra casa« bezeichnet wurde. Ende 1943 wird »mi laboratorio« zerstört: »En octubre o noviembre de 1942 mi hermano Friedrich pereció en la segunda batalla de El Alamein, en los arenales egipcios; un bombardeo aéreo, meses después, destrozó nuestra casa natal; otro, a fines de 1943, mi laboratorio.« Ebd. El Alamein gilt gemeinhin als Anfang vom Ende des deutschen Eroberungskrieges und als ein signifikanter Wendepunkt des Krieges zugunsten der Alliierten. Die Familiengeschichte ist durch den Tod

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Referenzen, die auch mit einzelnen Werken der deutschen Philosophen ergänzt werden, sowohl einzeln als auch in ihrer Zusammenstellung als intertextuelle Räume, Subtexte und Genres, die auf der histoire-Ebene den Inhalt und die Geschichte von zur Lindes Beichte simulieren und dabei einen Bedeutungsüberschuss produzieren. Man findet die Erklärungen zur Lindes in einer Vielfalt, die das Erzählen in einer justicia poética als simetría poética bei einer dissonanten Konsonanz erscheinen lässt. Dies zeichnet nicht allein die narrative Strategie von Deutsches Requiem aus, es kennzeichnet aber in besonderem Maße die hier im Fokus stehenden Erzählungen allgemein. Mithilfe der genealogischen Herleitung gelingt es, das Erzählen in die Vorstellung einer Präfiguration des Protagonisten einzubinden, die als intellektuell und militärisch dargestellt wird. Zugleich erreicht dieselbe Herleitung ein Spiel der Kontingenz, die die Erzählung insgesamt als im Hinblick auf die Erklärung der Motivation durch das Narrativ civilización o barbarie unentscheidbar erscheinen lässt. Damit führt Deutsches Requiem tatsächlich eine Grenze der Repräsentation der Erzählung und innerhalb der Erzählung aus, welche die Imaginarien des Bösen kennzeichnet. Zur (späten) Anerkennung von Deutsches Requiem als früher Ausdruck der Intervention und der kritischen sowie produktiven Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sowohl als Thema der Literatur als auch der essayistischen Reflexion, bemerkt Edna Aizenberg: »The lateral lucidity of the periphery was well operational here in a new way.«496 Die Autorin argumentiert, dass es Borges, noch bevor es kritische Kategorien wie Holocaust literature gegeben habe und das Problem der Grenzen von Repräsentation aufgeworfen und diskutiert worden sei, gelang, in Texten wie El milagro secreto und Deutsches Requiem zu erkennen, dass »the reality of Auschwitz demanded a poetics of saying and unsaying – on the one hand, mimetic approximation, documentary accumulation; on the other, escape, fantasy, fragmentation, fractured discourse.«497 In ihrer Betrachtung von Deutsches Requiem ist es unter anderem Christine Rath, die auf die Verflechtung heterogener Elemente hinweist, welche sie Paul Ricœurs Ausführungen folgend als Verbindung paradigmatischer Elemente in einer erzählerischen Synthese beschreibt.498 Angesprochen sind damit sowohl die bereits genannten Simulationen von Genres im Erzählen als auch die Aufzählungen, die bereits in Historia und die Zerstörung, aber auch durch die damit einhergehende Imagination der Präfiguration und Bestimmung des Protagonisten, verflochten mit der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands. 496 Edna Aizenberg, On the Edge of Holocaust: The Shoah and Latin American Literature and Culture 2016, S. 16. 497 Ebd. 498 Vgl. Christine Rath, Schamhafte Geschichte. Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges 2011, S. 220ff.

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universal de la infamia – La Causa Remota und in El Evangelio según Marcos auffallen. Diese Aufzählungen vereinen eine Vielzahl geokultureller Imaginarien, die die Grenzen der Repräsentation als Ordnungsräume von Darstellbarkeit und Nicht-Darstellbarkeit subjektiver Beobachtung aufzeigen und die Verflechtung kultureller Dynamiken reduktionistisch und expansiv zugleich vermitteln: [A] través de los siglos y latitudes, cambian los nombres, los dialectos, las caras, pero no los eternos antagonistas. También la historia de los pueblos registra una continuidad secreta. Arminio, cuando degolló en una ciénaga las legiones de Varo, no se sabía precursor de un Imperio Alemán; Lutero, traductor de la Biblia, no sospechaba que su fin era forjar un pueblo que destruyera para siempre la Biblia; Christoph zur Linde a quién mató una bala moscovita en 1758, preparó de algún modo las victorias de 1914; Hitler creyó luchar por un país, pero luchó por todos, aun por aquellos que agredió y detestó. No importa que su yo lo ignorara; lo sabía su sangre y su voluntad.499

Es ist die Verflechtung dieser kriegerischen Ereignisse und intellektuellen (theologischen) Errungenschaften, die den Sumpf zum Imperium, das Volk zu einem Land, den Kampf zum Schicksal und Willen und die Zerstörung kreativ werden lassen, angetrieben von einer »continuidad secreta«, hinter der als antagonistische Auseinandersetzung civilización y barbarie erscheint. Als problematisch mag diese Reihe auffallen, weil darin Kontinuität behauptet wird, wo man Brüche sieht und Disjunktionen offensichtlich sind. Die Annahme der Identität der weltlichen und weltenden Dynamiken und deren Entsprechung und Verwirklichung in einem sich selbst identischen Bild bedeuten eine starke Reduktion, eine Simplifizierung, und sind irreal. Es sind die rechtfertigenden Worte eines Nationalsozialisten, der die Zerstörung der vorhergehenden Ordnung als das einzige Mittel, die einzige Möglichkeit und daher totalitäre Vorstellung erkennt, sich von der Vergangenheit, der Krankheit (»esa enfermedad del judaísmo, que es la fé de Jesús«500) und der Imagination des eigenen auserwählten Selbst zu lösen (»El nazismo, intrínsecamente, es un hecho moral, un despojarse del viejo hombre, que está viciado, para vestir el nuevo«501). Aber auch hier wird das Partikulare zum Universalen: Die Worte erscheinen vielleicht weniger problematisch als die Mittel, die bekannt sind und in den Worten eines Nationalsozialisten übersetzt werden in die Rechtfertigung seiner Taten und seiner Vorstellungen, d. h. seiner (ganz eigenen) geokulturellen Imaginarien. Wenn von sangre und voluntad, beispielsweise in El Sur, aber auch in El Evangelio según Marcos502 gesprochen, damit unter anderem auch an la 499 500 501 502

J. L. Borges, OC I 1996, S. 580. Ebd. Ebd., S. 578. So, wie der Erzähler den kulturellen und ethnischen Snobismus Baltasars formuliert, der, geschult am Positivismus Herbert Spencers (wiederum als Vorläufer des Sozialdarwinismus), in den ihn sein Vater einführte, zu ideologsichen Aussagen gelangt: »Acaso la pre-

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Campaña del desierto erinnert wird und somit die continuidad secreta im Kontext der Amerikas aufgerufen ist, so können diese als weniger problematisch erscheinen, da ihre essentialisierenden Dimensionen ironisiert, dekonstruiert und zerspielt werden. Nun ist Deutsches Requiem aber auch, gerade mit der vom entangled narrator als infamem Erzähler hergestellten Vorstellung, eine von der Position des Totalitarismus aus betrachtete Dystopie, die aber wiederum vom infamen Erzähler als Utopie entworfen dargestellt wird: Se cierne ahora sobre el mundo una época implacable. Nosotros la forjamos, nosotros ya somos su víctima […] Lo importante es que rija la violencia […] Si la victoria y la injusticia y la felicidad no son para Alemania, que sean para otras naciones. Que el cielo exista, aunque nuestro lugar sea el infierno.503

Diese Dynamik zwischen Expansion und Reduktion des Erzählens findet sich im Antagonismus (des Duells504) zwischen Otto Dietrich zur Linde und David Jerusalem und, aus seiner Sicht erzählt, über seinen Häftling David Jerusalem wieder. Jerusalem nimmt sich nach Aussage zur Lindes das Leben, nachdem zur Linde ein Prinzip angewendet hat, welches für die disziplinäre Ordnung seines Hauses und damit als Folter für die Inhaftierten gelten sollte: »Determiné aplicar ese principio al régimen disciplinario de nuestra casa […]«;505 damit sind gleich drei räumliche Elemente aufgerufen, die hier der Klärung bedürfen, weil sie unmittelbar an Vorstellungen gebunden sind, die sowohl das Erzählen von Deutsches Requiem selbst als auch die Erzählung von Raum bei Borges im Allgemeinen betreffen und zu postkolonialen Imaginarien des Bösen führen. David Jerusalem ist Dichter und wird über einen Vergleich zu Walt Whitman eingeführt – aus Sicht zur Lindes ein unglücklicher Vergleich, da er Whitman für einen Dichter hält, welcher das Glück besingt: »[H] había consagrado su genio a cantar la felicidad. Creo recordar que Albert Soergel, […] lo equipara con Whitman. La comparación no es feliz; Whitman celebra el universo de un modo previo, general, casi indiferente; Jerusalem se alegra de cada cosa, con minucioso amor.«506 Walt Whitman wiederum ist hier ein Dichter nicht nur der Welt, sondern des Universums, des Expansiven und grenzenlosen Raums. Folgt man zudem der

503 504 505 506

sencia de las letras de oro en la tapa le diera más autoridad. Lo llevan en la sangre, pensó.« Oder auch: »Espinosa recordó que su padre solía decir que casi todos los casos de longevidad que se dan en el campo son casos de mala memoria o de un concepto vago de las fechas. Los gauchos suelen ignorar por igual el año en que nacieron y el nombre de quien los engendró.« Ders., OC II 1996, S. 448 u. 447. Ders., OC I 1996, S. 581. Zur Bedeutung des Duells im Erzählen bei J. L. Borges siehe Alan Pauls, El factor Borges 2004. J. L. Borges, OC I 1996, S. 579. Ebd., S. 578.

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Betrachtung, die Borges in El otro Whitman ausführt, trennen Whitman von David Jerusalem Welten. Whitman »entendió que lo gigantesco puede ser una forma de lo invisible y aun de lo abstracto.«507 David Jerusalem hingegen sucht minutiös, d. h. hier reduziert, Werte, Bilder, Vorstellungen wie Liebe und Glück. Beide Dichter ergänzen sich im Kontrast. Die perfide Methode zur Lindes besteht nun unter anderem darin, den Dichter Jerusalem abstrakt, wiederholend und weltlich expansiv sein zu müssen, indem er gezwungen wird, sich Ungarn in der Miniatur und im Detail der Welt als Karte vorzustellen. So entwickelt sich aus dem kleinen (kontingenten) Gegenstand der Karte die Welt zu einer Hölle, nicht nur in der Vorstellung zur Lindes, sondern fatalerweise auch für den jüdischen Dichter, der wahnsinnig wird und Suizid begeht: »Yo había comprendido […] que no hay cosa en el mundo que no sea el germen, de un Infierno posible; un rostro, una palabra, una brújula, un aviso de cigarillos, podrían enloquecer a una persona, si ésta no lograra olvidarlos: ¿No estaría loco un hombre que continuamente se figurara el mapa de Hungría?« Zwei Dimensionen räumlicher Imaginarien werden hier zusammengeführt: zum einen durch das poetische Mittel expansiver Aufzählung, welches als topographische Figur der Miniaturisierung von Welt in der Reduktion auf einzelne Gegenstände oder Merkmale aufscheint und von zur Linde – wie von Borges in El otro Whitman – Walt Whitman zugeschrieben wird; zum anderen wird es damit wiederum als Bestandteil und Funktion der simetría poética des argentinischen Dichters verflochten mit der Genealogie der Familiengeschichte, oszillierend zwischen einer militärischen und intellektuellen Seite, die mit der identischen Strategie erzählt wird und durch die Herstellung der Vorstellung biblischer Spuren, Motive und Hermeneutik die Grenzen und Möglichkeiten von Repräsentation als räumliche Imaginarien verdeutlicht. Auch die Foltermethode zur Lindes ist an die Vorstellung von Karte und Territorium gebunden, genauer: an die kontinuierliche Imagination der Karte Ungarns. Dazu zunächst zwei Anmerkungen: Ungarn bedeutet nicht nur das untergegangene Imperium Österreich-Ungarn, sondern ist ein erneuter Hinweis auf den Ersten Weltkrieg und die von zur Linde angeführte Geschichte seiner Ahnen.508 Im Erzählen wird somit die Expansion des Imperiums hervorgehoben und zugleich im Kleinen reduziert auf die Familiengeschichte. In der Poetologie von Borges finden sich zudem zwei weitere Figurationen dieses Gedankens, jedoch recht unschuldig im Vergleich zu ihrer Anwendung durch einen nationalsozialistischen Folterer; die Transgression oder Grenzüberschreitung zwischen Zivilisation und Barbarei ist dynamisch, relational und selbst spatiales Imagi507 Ebd., S. 206. 508 »[E]l capitán Dietrich zur Linde, mi padre se distingió en el sitio de Namur, en 1914, y dos años después en la travesía del Danubio.« Ebd., S. 576.

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narium. Dieses wird im bereits erwähnten Essay El otro Whitman vom Versuch Zohars berichtet, seinen Gott zu beschreiben: »[E] remoto compilador del Zohar […] discurrió un modo prodigioso de hacerlo. Escribió que su cara era trescientas setenta veces más anchas que diez mil mundos.«509 Auch zur Linde führt, nachdem er die Dichtung des polnischen Poeten David Jerusalem gewürdigt hat, dessen Gesicht an, um ihn als Teil einer Identität und Welt zuzuordnen: »Hombre de memorables ojos, de piel cetrina, de barba casi negra, […] era el prototipo del judío sefardí […].«510 Nun ist dasselbe verräumlichende Motiv der weltenden Abbildung von Identität im Epilog zu El hacedor (1960) zusammengefasst: »Un hombre se propone la tarea de dibujar el mundo. A lo largo de los años puebla un espacio con imagenes de provincias, de reinos, de montañas, de bahias, de naves, de islas, de peces, de habitaciones, de instrumentos, de astros, de caballos y de personas. Poco antes de morir, descubre que ese paciente laberinto de lineas traza la imagen de su cara.«511 Und schließlich führt das Verhältnis zwischen Karte und Territorium als prozessuale mise en abyme, ebenfalls in El hacedor zusammengefasst, bis an das Ende eines Imperiums, das als Karte in einer Ruine des Imperiums liegt.512 Diese Wendungen und Variationen des immer gleichen Motivs der räumlichen Imagination als geokulturelle Imaginarien des Erzählens sollen im Fall von Deutsches Requiem nun nicht bedeuten, dass der entangled narrator letztlich als oder mit Borges selbst zu identifizieren sei. Stattdessen soll die Wendung der poetologischen Mittel zur Herleitung der Imaginarien des Bösen in den Vordergrund gerückt werden, ohne damit zu unterstellen, diese seien selbst intrinsisch böse. Otto Dietrich zur Linde sorgt durch seine Folter nicht nur für den Tod David Jerusalems, sondern bezeichnet diesen selbst herbeigeführten Tod als »Tod einer Zone seiner eigenen Seele« und damit eines Teils seiner Identität: »[…] Ante mis ojos, no era un hombre, ni siquiera un judío; se había transformado en el símbolo de una detestada zona de mi alma.«513 Es ist ein Tod, der erst Zerstörung und das 509 510 511 512

Ebd., S. 206ff. Ebd., S. 579. Ders., OC II 1996, S. 232. »DEL RIGOR EN LA CIENCIA. . . En aquel Imperio, el Arte de la Cartografía logró tal Perfección que el mapa de una sola Provincia ocupaba toda una Ciudad, y el mapa del imperio, toda una Provincia, con el tiempo, esos Mapas Desmesurados no satisfacieron y los Colegios de Cartógrafos levantaron un Mapa del Imperio, que tenía el tamaño del Imperio y coincidía puntualmente con él. Menos Adictas al Estudio de la Cartografía, las Generaciones Siguientes entendieron que ese dilatado Mapa era Inútil y no sin Impiedad lo entregaron a las Inclemencias del Sol y de los Inviernos. En los desiertos del Oeste perduran despedazadas Ruinas del Mapa, habitadas por Animales y por Mendigos; en todo el País no hay otra reliquia de las Disciplinas Geográficas. Suáiez Miranda: VIAJES DE VARONES PRUDENTES, LIBRO CUARTO, CAP. XLV, LÉRIDA, 1658.« Vgl. ebd., S. 225. 513 Ders., OC I 1996, S. 579.

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Zerstören dann als Opferung erfordert, um die Zukunft zu ermöglichen. Deshalb ist »el nazismo« für zur Linde auch ein »hecho moral« – der »alte Mensch« wird nach dieser Rechtfertigung »entfernt«, um den »neuen Menschen« zu ermöglichen; so die abstrakte Formel, die Identität und Differenz selbst nicht zu differenzieren vermag. Die Beziehung zwischen dem nationalsozialistischen intellektuellen Subjekt, das zur Linde darstellt (entangled narrator) und als das er sich selbst porträtiert (infamer Erzähler), und dem jüdischen Dichter David Jerusalem ist eine Miniaturisierung der Welt aus der Sicht des fiktiven Nationalsozialisten, der die Zerstörung der eigenen Werte rechtfertigt – Werte, die in seinen Augen die Zukunft des Lebens verhindern und zerstören –, damit eine neue Zukunft eintreten kann. Daher wird das Lager, »el campo de concentración Tarnowitz«,514 von zur Linde zuerst als »nuestra casa«515 und später als »mi laboratorio«516 bezeichnet. Dieses Lager ist ein familiärer Raum, der das Experiment mit Identität und Alterität ermöglicht. Er ist ein wechselnd internalisierter und externalisierter Raum, Miniatur des Verhältnisses zwischen dem Selbst und dem Anderen und des Verhältnisses beider zur Welt zugleich. El atroz redentor Lazarus Morell ist als Erzählung bereits durch die Titelgebung gerahmt, einerseits durch die biblische Figur des Lazarus und andererseits durch die Anspielung auf die kriminologische Geschichte des Gauners John Murrell, der als historische Figur (John Andrews Murrel) fiktionalisiert wird. Als Lazarus-Figur ist Morell damit bereits einmal als eine Art Wiedergänger und ein weiteres Mal als armer Bettler gekennzeichnet. Beide Versionen treffen für die Figur des Bösen als schlechte Mimesis am Guten durchaus auf die verbrecherischen Bedeutungen des Protagonisten in seiner Biographie als infame Persönlichkeit zu. Morell wird zunächst als Konsequenz und Resultat der Causa Remota gekennzeichnet und ist unter Betrachtung und Berücksichtigung der biblischen Überlieferung präfiguriert. Die negative Konsequenz fataler Ereignisse lässt ihn als negative Wiederholung – oder Wiederholung des Negativen – und somit als Wiedergänger infamer Prinzipien erscheinen. Zur Profanation gerät diese Präfiguration, weil Lazarus in der biblischen Überlieferung des Johannes-Evangeliums ein Freund Jesu war und auch durch ihn von den Toten ins Leben zurückgeholt wurde. Der Protagonist ist ebenso ein armer Bettler, ein poor white, der laut Erzählung des entangled narrator Lebensmittel von den afrikanischen Sklav:innenstehlen muss, aber gleichzeitig seinem rassistischen Stolz darüber Ausdruck 514 Bereits vielfach wurde auf die mögliche Zusammensetzung von »Tarnowitz« aus Tarnow und Auschwitz hingewiesen; siehe u. a. Adelheid Hanke-Schaefer, Totenklage um Deutschland. Echos deutscher Stimmen im Werk von Jorge Luis Borges 2007, S. 114. 515 J. L. Borges, OC I 1996, S. 579. 516 Ebd., S. 580.

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verleiht, »reinen Blutes« zu sein. Beide Figurationen des Protagonisten werden eingangs innerhalb der Geschichte der Amerikas verortet und verflechten die Geschichte der Schuld mit der Idee des Wertvollen, der Großartigkeit und (göttlichen) Herrlichkeit. Der Nachname Morell entspricht dazu in hispanophoner Intonation des englischen Wortes von Moral; insofern wird eine Namensspur aus hebräischer Bedeutung im argentinischen Kontext zu einer göttlich gestützten Moral vorangestellt und die Simulation der biblischen Raumerzählung mit weiteren Narrativen verbunden. Erlösung und Gefangenschaft, wie Aufbau und Zerstörung, Wiederholung und Variation als Wiederholung und Differenz sind als Prinzipien im Narrativ von civilización y barbarie innerhalb der Geschichte von Lazarus Morell und innerhalb des Erzählens einer Geschichte der Sklaverei in den Amerikas produktiv umgesetzt; der infame Charakter dieser Historiographie als historia universal de la infamia und damit der Geschichte, die abwesend ist von der Historiographie, liegt im Sprechen – Erzählen – einer Geschichte, die unausgesprochen, aber zugleich im Sprechen ihrer Auslassung erzählt wird. »La Causa Remota«, der Grund und das Fundament, die den entangled narrator unmittelbar als Bild zu Morell führen lassen, sind von Beginn an durchsetzt mit den (post)kolonialen Narrativen der Eroberung, die direkt zu einer Geschichte führen, die von Sklaverei, Bürgerkrieg, Befreiung und Unabhängigkeit (independencia) geprägt ist. Die Verflechtungsgeschichte der Causa Remota ist somit nicht als Kausalkette oder Zusammenführung arbiträrer Ereignisse, Personen und Schauplätze zu verstehen, sondern als Übersetzungskette, die das Naheliegende und das Ferne reduktionistisch und expansiv verbindet; damit vermittelt diese Aufzählung als vermeintliche dissonante Konsonanz ebenfalls eine Idee von Kontinuität.517 Aus der Frage nach den verbindenden Elementen ergibt sich auch ein postkolonialer Vermittlungsstandpunkt dieser Verflechtungsgeschichte, denn allumfassend erzählt wird hier die Universalgeschichte als dezidiert amerikanische Geschichte und dies wiederum als Geschichte der Amerikas von einem argentinischen Standpunkt aus. Damit führt nun auch die Raumerzählung zu der Erzählung vom Raum, wobei die Vorstellungen und damit die geokulturellen Imaginarien von civilización y barbarie in das Erzählen der Amerikas eingeschrieben werden. Durch die Präsentation der Aufzählung der dargestellten kulturellen Elemente sowie der gewaltreichen und revolutionären Ereignisse als Verflechtungsgeschichte wiederholt der entangled narrator von El atroz redentor Lazarus Morell die Aufnahme von Lazarus Morell als Erscheinung des Partikularen im Universalen. Denn obwohl er die Geschichte von Lazarus Morell als ein Modell zu 517 Christine Rath, Schamhafte Geschichte. Metahistorische Reflexionen im Werk von Jorge Luis Borges 2011, S. 110f.

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wiederholen scheint, weicht sie mit den Umständen seines Todes auch von der Imagination ab, gleichsam als Differenz in der Wiederholung; die Tatsache, dass die Geschichte damit Teil der Historia (universal) de la infamia wird, verdankt sie der damit einhergehenden Erzählbarkeit und ironischerweise dem Umstand, dass sie so per definitionem (gr. pheme, das auf Infamie verweist) abwesend von der Geschichte ist – seine Anerkennung und sein Tod sind Themen, die seine bislang fehlende Berücksichtigung rechtfertigen, womit das Erzählen für den entangled narrator erst seine »schuldhafte und großartige Existenz« (»la culpable y mágnífica existencia«)518 begründet. Verflochten und aufrechterhalten werden die Biographie und die leitenden infamen Prinzipien als System von Verbrechen jedoch, ausgehend von Sklaverei als Verflechter – als Subjekt und Objekt – von Geschichte. Was findet auf diese Weise aus Sicht des entangled narrator Eingang in jene Geschichte der Sklaverei, die durch die Sklaverei allererst wirkmächtig werden konnte? Es sind zunächst Musik, Malerei, Literatur und Tanz. Diese vier Elemente der Verflechtung finden ihren Platz auf der imaginären Karte der Amerikas, vom Norden (»blues de Handy«) über die Karibik (»la habanera madre del tango, el candombe«) bis nach Uruguay (»el doctor oriental don Pedro Figari, la buena prosa cimarrona del también oriental don Vicente Rossi«)519 und in die pampa (»el moreno que asesinó Martín Fierro«520). Mit diesen geokulturellen Imaginarien von Unterdrückung, Kriegen, Befreiung und Revolutionen ist das Verb linchar verflochten, das in das Wörterbuch der Academia, d. h. der Real Academia de Lengua Española, aufgenommen wird; dazu erscheint Abraham Lincoln im mythologischen Maßstab und steht viel diskutiert als Präsident der USA während des Bürgerkrieges, dessen zentraler Konflikt sich an der Frage der Sklaverei entzündete, für den Beginn der Abschaffung der Sklaverei in den USA. Ihm zur Seite gestellt wird als imaginäres Denkmal Falucho, ein afroargentinischer General der Unabhängigkeitskriege an der Seite von José Martí, der als Kriegsheld verehrt wie vergessen wurde;521 Toussaint Louverture und der Vodou schließlich führen die erste erfolgreiche Revolution schwarzer Sklaven in den Amerikas auf Haiti an.

518 J. L. Borges, OC I 1996, S. 295. 519 Ebd. Als »oriental« kann man jemanden bezeichnen, wenn man von Buenos Aires aus spricht. Vicente Rossi ist Autor des Buches Cosas de negros (1926), einer kulturhistorischen Betrachtung afroamerikanischer Kulturen. 520 Ebd. 521 Mit Falucho ist Antonio »Falucho« Ruiz gemeint, ein afroargentinischer Soldat des Unabhängigkeitskrieges an der Seite von General José de San Martí in Lima. Siehe Carole Boyce Davies (Hg.), Encyclopedia of African Diaspora. Origins, Experience and Culture 2008, S. 427f. Falucho ist bezeichnenderweise auch ein Ort in der Provinz La Pampa, Argentinien.

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Das positivistische Diktum von civilización y barbarie wird hier über die Kontinentalgeschichte verflochten mit der imaginären Genealogie des Mississippi. Neben dem Mississippi als ›Vater‹ aller Flüsse erscheinen andere Flüsse, die die Amerikas von Norden nach Süden und Osten nach Westen durchziehen wie ›Brüder‹: der Orinoco, der Paraná und der Amazonas. Die Geographie wird zum geokulturellen Imaginarium, in dem die Geschichte des Südens der USA eine geteilte Geschichte ist, die trennt und zugleich verbindet; so lässt es der entangled narrator durch seinen Bruch in der Kontinuität vermuten, der von La Causa Remota zu El Lugar – dem Mississippi als Zentrum des Kontinentes – und von diesem ausgehend zu einem weiten Netz historischer und kultureller Zusammenhänge der und innerhalb der Amerikas führt. Die Karte der Verbrechen und des Verbrechers, der daraufhin im Mittelpunkt steht, ist als eine Karte der Amerikas zu lesen, wie es dieser Erzähler suggeriert, der den Mississippi als »aguas mulatas« definiert: El Mississippi es río de pecho ancho; es un infinito y oscuro hermano del Paraná, del Uruguay, del Amazonas y del Orinoco. Es un río de aguas mulatas, más de cuatrocientos millones de toneladas de fango insultan anualmente el Golfo de Méjico, descargadas por él. Tanta basura venerable y antigua han construido un delta, donde los gigantescos cipreses de los pantanos crecen de los despojos de un continente en perpetua disolución, y donde laberintos de barro, de pescados muertos y de juncos, dilatan las fronteras y la paz de su fétido imperio.522

Die Leichen, die vom beispielhaften Kriminellen der Erzählung in den Fluss geworfen werden, werden mit diesem und zugleich werden die dabei aufgerufenen Bilder der »perpetua disolación« verflochten mit den Verfahren der Auflistung und mit den Motiven der Causa Remota. Der narrative und relationale Horizont, der hinter dieser Art (parodierter) Geschichtsschreibung steht, ist civilización y barbarie – und damit Gutes gegen Böses in einer Dynamik von Bestimmungen, jedoch im Bezugsrahmen menschlichen Lebens, das wiederum erzählerisch nach rassischen und kulturellen Kategorien definiert ist, die an Geographie und Klima gebunden sind und gleichzeitig doch selbst relativ sein können. Ausdruck dieser Relativität und Relationalität sind versklavte Menschen als Initiator:innen afroamerikanischer Identitäten, die den Mississippi nicht nur besingen, weil sie nicht schreiben können, sondern mit ihm den Glauben an ihre Befreiung verbinden: A principios del siglo diecinueve […] las vastas plantaciones de algodón que había en las orillas eran trabajadas por negros, de sol a sol. […] No sabía leer. Su enternecida voz de falsete canturreaba un inglés de lentas vocales. […] A un sedimento de esperanzas bestiales y miedos africanos había agregado las palabras de la Escritura: su fe por

522 J. L. Borges, OC I 1996, S. 296.

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consiguiente era la de Cristo. Cantaban hondos y en montón: Go down Moses. El Mississippi les servía de mágnifica imagen del sórdido Jordán.523

Erweitert bedeutet dies, dass die Sklaverei und die daraus resultierenden interamerikanischen Identitäten der Sklaven, die die Gewalt und das Trauma hervorgebracht haben, nicht trotz, sondern vielmehr gerade wegen ihrer Unterdrückung und der Unbeweglichkeit ihrer Gefangenschaft in kulturelle Dynamiken eingebunden sind und den Ausschluss invertiert haben, der im Erzählen der infamen Biographie selbst unterdrückt bleibt, aber von einer Position der Marginalität aus gleich zu Beginn der Historia Universal de la infamia in das Zentrum der Erzählung rückt. Poor whites, capatazes und propietarios stehen hier den Sklaven gegenüber, die, sobald sie fliehen, von bärtigen Männern auf Pferden und ihren Hunden verfolgt werden: ein Bild der conquistadores, das den Beginn der Causa Remota wiederholt aufruft. Die poor whites werden aber ebenso als Ergebnis der Plantagen-Wirtschaft und Sklaverei dargestellt, denn sie leben in den »desiertos« – dem Ödland –, das durch Praktiken der Monokultur entsteht.524 Der Protagonist ist als solcher einzureihen in die Geschichte der Infamie, da er ein Produkt der Sklaverei ist und weil er versucht, das Prinzip des Menschenhandels zu nutzen, um sich zu bereichern – wie es die Universalgeschichte zu lehren vorgibt. Das Erzählen der Biographie entspricht somit erneut selbst, in »perpetua disolación«, der Geschichte, die es erzählt und die zugleich ihre Grundlage bildet. Mit anderen Worten: Civilización y barbarie im geokulturellen Imaginarium von El atroz redentor Lazarus Morell schließen sich als Teil der Historia universal de la infamia paradoxerweise gegenseitig ein und aus. Als räumliche Vorstellung ist hier eine parodierte Version von Sarmientos grundlegendem Argument am Werk: Die Landschaft, mit deren Vorstellung ein Bild der Amerikas universalisiert wird, wird von der Opposition zwischen Kultur und Natur als civilización y barbarie dominiert. Die Dynamik, die durch das Erzählen und die Narrative des Atroz redentor Lazarus Morell vorangebracht wird, liegt in der wiederholten und wiederholenden Transgression dieser grundlegenden Opposition durch die Verflechtung der argentinischen Narrative des Südens mit einer Re-Inszenierung von Erzählung im Süden – dem Deep South – der USA begründet. Diese Übertragung der argentinischen Themen in das MississippiDelta ist oberflächlich betrachtet über einen Vergleich mit El Evangelio según Marcos bereits erkennbar: Auch hier vereinen Menschen konfliktive religiöse Überzeugungen, wachen capatazes über die Arbeit anderer, sind die Bewohner – Sklaven, Herren, poor whites – des desierto und des weiten Landes ungebildet und von ungewisser Abstammung, schlagen Menschen die Bibel nach dem Zufallsprinzip auf, um zu predigen, und das Land wird von verheerenden Über523 Ebd. 524 Ebd.

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schwemmungen heimgesucht. Es sind diese Konstanten, die jedoch zugleich für eine sich ständig ändernde Geschichte stehen. Der entangled narrator reduziert dieses Motiv der Vorstellung der räumlichen Expansion auf die Figur des Lazarus Morell. Auch er ist eingebunden in die militärischen Geschichten und die Genealogien der Amerikas und damit eine Persönlichkeit, die eine Vielzahl von Persönlichkeiten verbindet. Diese Figuration ist ebenfalls in Lazarus Morell aufgerufen, der nicht nur widersprüchlich und auf der Oberfläche der Beschreibung als Erlöser grässlich ist, wie es bereits der Titel sagt, sondern der auch die Sklaven nach ihrer mehrfachen Befreiung und dem damit ermöglichten Weiterverkauf ermorden lässt. Das Verb linchar wird hier wiederholend in der vorgestellten Praxis des Mordes eingesetzt (»Un balazo, una puñalada baja o un golpe, y las tortugas y os barbos del Mississippi recibían la última información.«525) und verleiht der sprechenden Sprachlosigkeit Ausdruck, mit der der infame und nicht berücksichtigte Mord letztlich doch Eingang in die schriftlichen Aufzeichnungen derjenigen findet, die nicht schreiben können. Der erhoffte Reichtum durch die simulierte Befreiung der Sklaven soll es Morell ermöglichen, eine eigene Plantage und damit eigene Sklaven zu besitzen. Auch die Persönlichkeit des Predigers dient lediglich als Maske, um den Diebstahl von Pferden zu ermöglichen. Er verkörpert damit überaus stereotyp Elemente eines imaginären Guten und Bösen und vereint in dieser Verkörperung die Widersprüche historischer Verflechtung. Nur das Ende des Infamen ist selbst nicht infam: In der Hoffnung, den Wunsch der Sklaven nach Freiheit auszunutzen, indem er sich vorstellt, ihre Revolution anzuführen, um auf diese Weise selbst zur Unabhängigkeit zu gelangen, die wiederum auf Reichtum gründet, stirbt Morell im Bett eines Krankenhauses, einem Gefangenen gleich zur Unbeweglichkeit gezwungen, der darauf warten/hoffen muss, dass seine Geschichte erzählt wird.

6.3

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Die vorangegangene Untersuchung dreier cuentos von Jorge Luis Borges und ihre Einordnung in dessen Poetik folgte auch hier der grundlegenden These, dass die Räumlichkeit des Erzählens und die Räume der Erzählung (estancia, plantación, campo de concentración) für Imaginarien des Bösen konstitutiv sind. Es geht daher nicht allein um die Vorstellungen des Bösen (und Guten) in den einzelnen Texten, sondern um die Imagination des Bösen im Zusammenhang mit dem narrativen und erzählerischen Umgang mit ethisch grenzwertigen Perspektiven der Erzähler, Erzählstrategien und Handlungszusammenhänge, die eine solche 525 Ebd., S. 299.

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Verflechtung von Erzählraum und erzähltem Raum in der tradición argentina und mit den Konstanten der zugrunde gelegten poética narrativa von Jorge Luis Borges aufbauen, um einen Zugang zu Imaginarien des Bösen zu ermöglichen. Nachdem der Weg der Untersuchung in den obigen zwei Kapiteln ausgehend von der El atroz redentor Lazarus Morrell über Deutsches Requiem und El Evangelio según Marcos und in umgekehrter Reihenfolge wieder zurück zum Ausgangstext (El atroz redentor Lazarus Morell) führte und dabei Intersektionen und Verflechtungen der Erzählungen sowohl miteinander als auch mit weiteren Narrationen von Borges angeführt wurden, wird es in der noch ausstehenden Klärung der räumlichen Imaginarien des Bösen um die Anbindung der bisher gewonnenen Erkenntnisse an die Verflechtungsgeschichte der politischen Imagination gehen, die diese Erzählungen narrativ hervorbringen. Vorangestellt wird, ohne der Betrachtungslinie oder ihrer erneuten Inversion folgen zu wollen, ein Zitat von Sylvia Molloy, die im Hinblick auf die Historia universal de la infamia festhält: »The ›infamous biographies‹ do away with topographical illusion; the impulse behind fiction now points to a purely literary space.«526 Wieder, so wird hier nahegelegt, liegt die Antwort nach dem Bösen im Verweis auf eine literarische, ästhetische oder – nach Borges – poetische Qualität als autoreferentiellem Verweis oder Hinweis auf die Autopoiesis des literarischen Raumes. Doch Molloy bemerkt auch, dass mit der Historia universal de la infamia Kannibalismus zur Konversation wird: »Cannibalism now becomes conversation.«527 Mit dieser Beobachtung legt die Autorin wiederum einen Hinweis auf die poetologische postkoloniale Lesart nahe, die in den vorangegangenen Kapiteln erörtert wurde und nun zu einer Sicht auf die politische Herstellung der Vorstellung führen soll, die die Erzählungen eröffnet. So soll die Beobachtung selbst eine weitere Ebene der Verflechtung von Raum und Erzählen herausstellen, um untersuchen zu können, wie in den zugrundeliegenden Texten die räumliche Simulation des Bösen als politische Imagination funktioniert. Wenn die Erzählungen von Borges als Reihe für die Imaginarien des Bösen im hier erörterten interamerikanischen Raum der Verflechtung von Biopolitik und Moral relevant erscheinen, dann kann es nicht mehr um die Frage gehen, ob diese Erzählungen mit der Vorstellung des Bösen überhaupt in Verbindung gebracht werden können.528 Vielmehr stellt sich zum Abschluss dieses Kapitels die Frage, wie die politischen Positionen auch performativ umgesetzt werden und als dynamische Relationen und selbst wechselnde Dynamiken von Absichten, Aktionen und Zielsetzungen beschrieben werden können, die Bewegungen von Bösem 526 Sylvia Molloy, Signs of Borges 1994, S. 14. 527 Ebd. 528 Siehe dazu etwa Donald L. Shaw, »Borges, Ethics and Evil«, Variaciones Borges 2012 34 (2), S. 59–67.

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narrativ umsetzen, anstatt die Vorstellungen des Bösen als Substanz zu re-essentialisieren. Was alle hier untersuchten Erzählungen als politische Narrationen und Narrative umsetzen, sind mögliche, aber gleichzeitig unmögliche Gemeinschaften, die, zwar auf unterschiedliche Art, aber immer im Zuge einer verflechtenden Erzählinstanz und -position Konstellationen von Ein- und Ausschluss vermitteln. Lazarus Morell führt ein System an, dessen Ziel es ist, Sklaven zu befreien, um sie wieder in Gefangenschaft zu bringen oder sie gar zu töten, wobei die Geschichte ihres Todes über die Biographie des einzelnen Verbrechers hinausgeht. Otto Dietrich zur Linde rechtfertigt in seinem Bekenntnis, dass der Tod nicht von, sondern der Juden und die Vorstellung von Welt, die der jüdischen Überlieferung entsprechen, die zukünftige Welt und die Welt der Zukunft ermöglichen, und stirbt – wird hingerichtet – für diese Überzeugung. Baltasar Espinosa präsentiert die (sakrale) Rechtfertigung seiner Hinrichtung, ausgeführt von Menschen, denen er sich überlegen fühlt, und nimmt seinen Tod auf eine weltliche Weise an. Es sind diese räumlichen Figuren von Einschluss und Ausschluss, welche das Erzählen dieser vorgestellten Gemeinschaften im Hinblick auf Vorstellungen vom Bösen antreibt – das Narrativ von civilización y barbarie dient dabei oft als dynamisierendes Mittel, um diese Vorstellungen zu transportieren. Gleichzeitig sind es die paradoxen Konstellationen von Einschluss und Ausschluss selbst, die als verflochten in eine Kippbewegung von Identität und Differenz, Kontingenz und Präfiguration, Partikularität und Universalität sowie von den Vorstellungen von Tod und Leben erscheinen; diese Bewegung, als ein Zerspielen von Möglichkeiten, setzt narrativ die Unentscheidbarkeit als Unbestimmtheit des Erzählens um, obwohl die Erzählinstanz gleichzeitig eingebunden ist und sich nachweislich explizit in die Konstitution einer Geschichte einbindet,. Das heißt, der entangled narrator, auch als infamer Ich-Erzähler, gibt kein moralisches Urteil preis oder konstruiert im Erzählen eine klar definierte Anleitung ethischen Handelns nach der Unterscheidung von Gut und Böse; diese Erzähler zeigen vielmehr, wie schwierig es sein kann, einem ethischen Imperativ zu folgen. Der entangled narrator ist selbst in einer Zone der Unbestimmtheit positioniert, innerhalb derer sich ethische Fragen wiederum geradezu aufdrängen.529 Dafür füllt der entangled narrator die Erzählräume und den erzählten Raum mit Imaginationen und Simulationen des Bösen, so dass dieses aktive Herstellen von Vorstellungen es erlaubt, von Imaginarien des Bösen zu sprechen. Die gewalt529 Auch Idelbar Avelar, am Beispiel von El etnógrafo (Jorge Luis Borges, Elogio de la Sombra 1969), bindet die Annäherung an die Verhandlung von ethischen Fragen an narratologische Beobachtungen der Unentscheidbarkeit des Erzählens: »It seems fairly obvious that the story is talking about ethics, but unlike most tales that thematize ethical codes, Borges does not advocate any choice in particular. In fact, the story implodes the common association between ethics and morality.« Ders., The Letter of Violence 2004, S. 56ff.

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samen Ordnungen, etabliert und ausgeführt in Räumen der Fiktionalität, in denen dynamische Formen der Souveränität des Erzählens erprobt werden, adressieren Vorstellungen gewaltsamer Erfahrung als Simulationen des Bösen, die in postkolonialen Konstellationen der Amerikas zu finden sind: ein rassistisches Kastensystem, wie es in der Folge der Kolonialisierung zur Ausführung von Herrschaft etabliert wurde, zur Ausbeutung von Sklavenarbeit und zum Mord an indigenen Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften. Über diese Imaginationen sind auch die hier relevanten Erzählungen verflochten, auch wenn sie in erster Linie von einem Südstaatengauner und Sklavendieb, dem stellvertretenden Leiter eines Konzentrationslagers der Nationalsozialisten oder einer Kreuzigung auf einer estancia, durchgeführt von einer Familie im Hinterland von Argentinien, erzählen. Böses wird damit weder als metaphysische Kraft noch als universales moralisches Prinzip erzählt und vorgestellt. Gleichzeitig kann es aber auch kein rein ästhetisches Prinzip sein, denn vielmehr zeigen alle narrativen Simulationen eine Verflechtung von ästhetischer und politischer Erzählung. Diese Form der Imaginarien des Bösen ist zum einen verbunden mit Formen der räumlichen Vorstellungen der Gemeinschaften und zum anderen damit, wie das Sprechen des Anderen in diesen Gemeinschaften erzählt wird, das über die Abwesenheit dieses Anderen vermittelt wird. So ist David Jerusalem ein jüdischer Poet und markiert damit die Verbindung zu einem Teil der Persönlichkeit, die zur Linde verschweigt und ausblendet; als infames Ich kann er sich für die Schönheit der Lyrik seines Opfers im Akt der Erinnerung an seine Werke begeistern, während er zurückschaut und rechtfertigt, bevor er in der Verantwortung eines Massenmordes hingerichtet wird. Bis auf die Titel – die selbstreferenziell wieder auf die Erzählung selbst und damit auf das Bekenntnis verweisen – ›sprechen‹ seine Verse nicht im Erzählen; sie sind vielmehr internalisiert in zur Lindes Vorstellung, in seiner Persönlichkeit. Die Persönlichkeit des (Kriegs-)Verbrechers muss vergessen, verdrängen oder töten, um ihre Ziele zu erreichen, wie es der Erzähler als infamer Ich-Erzähler selbst nahelegt und begründet: Der Tod von David Jerusalem ist ein Selbst-Mord, Symbol einer verabscheuten Zone von zur Lindes Persönlichkeit, seiner Geschichte, seines Hauses (»nuestra casa«). Auf eine fast klassische Art ist der Fremde für zur Linde doch familiär und damit unheimlich. Dennoch erfährt man durch David Jerusalem als Chiffre für die im Holocaust ermordeten Juden nichts – kein Zitat und keine Zeile, die Jerusalem sprechen lässt – außer, paradoxerweise, im Zentrum des Raumes der Zerstörung des Selbst, das die Zerstörung imitiert (»[…] yo lo destruí, […] para destruir mi piedad.«530). Alles über Jerusalem und von Jerusalem verweist auf das totalitäre Selbst zur Lindes, das die Vernichtung des eigenen Selbst zu rechtfertigen vorgibt: »Muchas cosas hay que 530 J. L. Borges, OC I 1996, S. 580.

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destruir para edificar el nuevo orden; ahora sabemos que Alemania era una de esas cosas.«531 Doch je mehr sich zur Linde zu rechtfertigen vorgibt, desto mehr identifiziert er sich mit David Jerusalem: El mundo se moría del judaísmo y de esa enfermedad del judaísmo, que es la fe de Jesús; nosotros le enseñamos la violencia y la fe de la espada. Esa espada nos mata y somos comparables al hechicero que teje un laberinto, y se ve forzado a errar en él hasta el fin de sus días o a David que juzga a un deconocido y lo condena a muerte y oye después la revelación: Tú eres aquel hombre.532

Diese Art der Rechtfertigung ist sehr bemerkenswert, denn Jerusalem wird hier nicht nur durch und gleichzeitig mit Otto Dietrich zur Linde gespiegelt, sondern beide Persönlichkeiten werden im Diskurs von zur Linde verflochten. Die Karte, die David Jerusalem in den Wahnsinn und Suizid treibt, wird transformiert – als mise en abyme – in das Labyrinth, in dem sich der Magier, der es herstellt, verliert, um bis an das Ende seiner Tage – und damit bis zu seinem Tod – darin zu verbleiben. David Jerusalem wird zum biblischen David, zum König, der, wie zur Linde als Souverän des Konzentrationslagers, einen Unschuldigen zu Tode verurteilt, um zu erfahren, dass er es selbst ist, den er umgebracht hat. Damit wird die gesamte Einschätzung des Bekenntnisses in ihrer Vorstellung einer ethischen Unterscheidung von Gut und Böse erschwert, grenzwertig und selbst labyrinthisch. Es gibt eine Wahl allein für zur Linde, und diese bedeutet Zerstörung im Namen einer Verabsolutierung von Leben: »(Yo quizás nunca fui plenamente feliz, pero es sabido que la desventura requiere paraísos perdidos.) No hay hombre que no aspire a la plentitud, es decir, a la suma de experiancias de que un hombre es capaz, no hay hombre que no tema ser defraudado de alguna parte de este patrimonio infinito.«533 Die Verabsolutierung des Lebens verläuft an den Grenzen und überschreitet die Grenzen, die vom Menschen (»hombre«) gesetzt werden zwischen dem »paraíso perdido«, der »plentitud« und dem »patrimonio inifinito«. Läuft diese Zerstörung aber auf eine Selbstzerstörung hinaus, so ist sie selbst nicht mehr als grenzwertig, sondern als Selbstopferung zu verstehen. Damit ist jedoch die Figur eines Nationalsozialisten gleich diskreditiert. Im Erzählen wird aber genau diese Bewegung vollzogen: eine Diskreditierung der eigenen Position, zu der zur Linde hat aufsteigen können, dank der Überzeugungen, Vorstellungen und Erfahrungen (Musik, Metaphysik, Philosophie), die es ihm ermöglicht haben, diese Vorstellungen in destruktive Taten umzusetzen und sich selbst zu diskreditieren. Das Labyrinth, das zur Linde geschaffen hat, ist wahrlich unüberwindlich, denn als Welt ist es ein Raum »orbicular y perfecto«534 531 532 533 534

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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– kreisförmig und perfekt. Die Imaginarien des Bösen finden damit einen Ausdruck in der Unbewohnbarkeit des Konzentrationslagers und der Unbewohnbarkeit einer totalitären und paradoxen Version von Welt, die im Namen der Freiheit und des Lebens ein Regime der Zerstörung errichtet und somit selbst unbewohnbar wird.535 Dieses fiktive Bekenntnis bleibt provokativ, weil es nachvollziehbar, selbst in dieser paradoxen Rechtfertigung der Selbstzerstörung, eine heroische Position eines Täters vermittelt. Die Version von Imaginarien des Bösen, die El Evangelio según Marcos vermittelt, ist im Vergleich zu Deutsches Requiem nicht vom gleichen Umfang, der einer totalitären Perspektive und Vorstellung von Welt entspricht. Das Erzählen dieser Geschichte folgt jedoch einem ähnlichen Entwurf, der in der Erzählung durch den entangled narrator verhandelt wird. Auch Baltasar Espinosa ist durch seinen Namen, der auf Baal und damit Jesus, den König, verweist, einerseits nach christlicher Überlieferung präfiguriert und auch durch seine Bildung und Einnahme der Stellung als patrón zunächst die Simulation eines Souveräns der Erzählung. Andererseits ist er dabei aber niemals sicher im alleinigen Besitz aller Souveränität über die Familie, die er zum Schutz in sein Haus – die estancia – aufnimmt, welches er aber ebenfalls nur stellvertretend in seinem Besitz hält. Gleichzeitig ist (auch) er von Beginn an Opfer in der Ausgestaltung der Welt, die er dank seiner rhetorischen Fähigkeiten und seiner Leistung als Übersetzer den Gutres evoziert. Damit machen ihn die Gutres zum Opfer und paradoxerweise zum Selbstopfer der Geschichte, die er zufällig auswählt und vorbringt, um durch ihren Vortrag sich selbst und den anderen die Zeit zu vertreiben. Die estancia-Gemeinschaft, bestehend aus dem capataz, dessen Familie und dem patrón, verbindet zunächst nicht allein die Bibelgeschichte im Vortrag von Baltasar Espinosa, sondern auch das biblische Bild der Überschwemmung, durch welche die estancia-Gemeinschaft bereits als eine biblische Miniaturisierung von Welt, reduziert auf die Insel der estancia bzw. die estancia als Insel, erscheint. Die mise en abyme verbindet somit als Mittel des Erzählens die erzählte Welt mit der räumlichen Imagination des Bösen im Erzählen. Die Sicht des entangled narrator entsteht aus Baltasars Blick; dessen vom Erzähler eingenommene Perspektive vermag aber nicht zu sehen und zu erklären, warum er gekreuzigt wird. An diesem Punkt ist es von Nutzen, die Unterredung zu betrachten, die der entangled narrator in die Erzählung zwischen dem capataz und Baltasar einflicht, der die Fragen des anderen Herrn, des Familienvaters, 535 Im Jahr 1952 veröffentlicht in Otras Inquisiciones, hatte Borges selbst die des Nazismo (Nationalsozialismus) angesprochen in der Anotación Al 23 de Agosto de 1944, der Tag der Befreiung von Paris von Buenos Aires aus betrachtet: »Ser nazi ( jugar a la barbarie enérgica, jugar a ser viking, un tártaro, un conquistador del siglo XVI, un gaucho, un piel roja es, a la larga una imposibilidad mental y moral. El nazismo adolece de irrealidad, como los infiernos de Erígena. Es inhabitable […].« Ders., OC II 1996, S. 106.

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beantwortet. Es gibt eine Fülle von Erklärungsmöglichkeiten, wie es zur anschließenden Kreuzigung kommt, die schließlich nur erzählend angedeutet wird und der Geschichte erst an ihrem Ende eine Form von suspense ermöglicht, indem sie das konkrete Ende offenlässt, der Bedeutungsüberschuss des Erzählens jedoch dafür sorgt, dieses Ende, den Tod zur Rettung aller (sowohl der Gläubigen als auch der »Verräter«/»Täter«), als Raum der Gewalt zu imaginieren: El dia siguiente comenzó como los anteriores, salvo que el padre habló con Espinosa y le preguntó si Cristo se dejó matar para salvar a todos los hombres. Espinosa, que era librepensador pero que se vio obligado a justificar lo que les habia leído, le contestó: – Sí. Para salvar a todos del infierno. Gutre le dijo entonces: ¿Que es el infierno? Un lugar bajo tierra donde las animas arderán y arderán. ¿Y también se salvaron los que le clavaron los clavos? Sí – replicó Espinosa, cuya teologia era incierta.536

Der capataz erbittet die Auslegung des ihm und seinen Kindern vorgetragenen Evangeliums; was genau er verlangt, bleibt jedoch sehr vage, was wiederum die Antwort für Baltasar erschwert, da sein theologisches Verständnis unklar ist. Der capataz kann nach dem Grund, dem Ziel oder der Intention Jesu fragen; sein Verständnis beruht aber auf der Annahme, dass er sich töten und nicht opfern ließ (»se dejó matar«). Folglich wird die Familie ihn kreuzigen, in dem Wissen, ihn umzubringen. Espinosa erscheint dieser Tod aber zugleich als Leser und Protagonist seiner eigens erzählten, eigens geschaffenen Geschichte. Im gleichen Maße, wie der capataz nicht weiß oder nicht zu wissen vorgibt, was die Hölle sei – hier sind die calvinistischen Imaginarien eingebracht, von denen der entangled narrator in Bezug auf die Gutres spricht, denn von der Hölle kann im Markusevangelium nicht die Rede sein537 –, ist die estancia bereits der Ort, an dem das Imaginarium der brennenden Seelen wirkt, wenn auch nicht als topologische Simplifizierung, sondern in Form einer heterogenen Verzerrung: »Carecían de fe, pero en su sangre perduraban, como rastros oscuros, el duro fanatismo del calvinista y las supersticiones del pampa.« Espinosa ist es dann aber wieder selbst, der auf den Bedeutungsüberschuss des Verbs arder verweist: »[B]ajo tierra dónde lás ánimas arderán y arderán.«538 Denn das Lodern wird unter anderem im Zusammenhang mit einem Gebäude, nämlich mit der estancia, gebraucht, die durch die Überschwemmung ebenfalls unter der Erde liegt. Zugleich rekurriert es auch auf die sexuelle Beziehung, die Espinosa mit der »muchacha de incierta

536 Ebd., S. 449. 537 Ebd., S. 448. 538 Ebd.

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paternidad« eingegangen ist, die er für die Tochter des capataz hält: »Había temido que el capataz le exigiera cuentas de lo ocurrido anoche con su hija.«539 Die Art des (bio)politischen Paktes zwischen Espinosa und der Familie des capataz, die das pastorale Machtverhältnis der estancia-Gemeinschaft zwischen Gehorsam und Unterordnung und im Austausch von Schutz und Wohlstand für beide Seiten zu verorten scheint, lässt eine Dynamik entstehen, die letztlich nicht den Mord als Böses erscheinen lässt, sondern die Frage der Bewertung des Lebens und wiederum deren Bedeutung für die Vorstellung des Bösen in den Mittelpunkt rückt. Hatte Jorge Luis Borges im (erweiterten) Prolog zur Historia universal de la infamia (1954) noch (humorvoll) über einen Vergleich der Erzählungen mit einem Teil des Universums reflektiert und auch angemerkt, dass beide bewohnt seien von Piraten und Hinrichtungen, verortet er die Bedeutung der infamia des Titels dieser Geschichten auf einer Oberfläche von Bildern, unter der es nichts zu finden gebe.540 Diese reine Oberfläche von Bildern der Geschichte (als histoire) konstituiert sich jedoch, und das ist das paradoxe Paradoxon des Erzählens bei Borges, aus dem Verborgenen und Nicht-Gesagten. So verhält es sich auch beim Erzählen der Infamie als Universalgeschichte. Die Erzählung von El atroz redentor Lazarus Morell, die hier von dieser Oberfläche genommen wurde, zeigt gerade, dass sich hinter dem Individuum Lazarus Morell, als dem Partikularen, zwar nichts verbirgt, keine Identität zum Vorschein kommt, die nicht stereotyp und präfiguriert erscheint, dass aber in der Auslassung seiner Infamie, dem Ausschluss aus der Geschichte etwas anderes, Unsagbares, als Ungesagtes zum Vorschein kommt. Die in der Erzählung selbst ausgelassene Geschichte der Sklaven, und damit ihre Version der Erzählung der De-Humanisierung, liegt unter der Oberfläche der Geschichte, im gleichen Moment, in dem sie der entangled narrator in der Auslassung erzählt. Die Hölle – Unterwelt – (»infiernos«) der Minen der Amerikas ermöglicht im Austausch der Sklaven – von indígenas bis hin zu afrikanischen Arbeitskräften – unter Verlust ihrer Leben, in Form einer (post)kolonialen causa remota canibalia, eine historische Kontinuität der Erzählung, welche in der Idee der plantación ihre Fortsetzung findet, dadurch, dass Morell die Sklaven zu seiner ganz eigenen Währung und zum Objekt des Tauschhandels macht: »No era un yankee, era un hombre blanco del Sur, hijo y nieto de blancos, y esperaba retirarse de los negocios y ser un caballero y tener us leguas de algodonal y sus inclinadas filas de 539 Ebd. 540 »Los doctores del Gran Vehículo enseñan que lo esencial del universo es la vacuidad. Tienen plena razón en lo referente a esa mínima parte del universo que es este libro. Patíbulos y piratas lo pueblan y la palabra infamia aturde en el título, pero bajo los tumultos no hay nada. No es otra cosa que apariencia, que una superficie de imágenes […].« Ders., OC I 1996, S. 291.

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esclavos.«541 Das Leben der Sklaven, mehr als ihr gewaltsamer Tod, der keinen Goldertrag bedeutet hätte und letztlich Morell nur vor dem Verrat schützt, gewinnt durch seine gewaltsame Aneignung etwas Absolutes als Materialität. Und dennoch erzählen diese Sklaven Geschichten der Amerikas und sind deren integraler Bestandteil eben durch die Infamie – durch ihr Ausgeschlossensein vom Bericht der Äußerung der Universalgeschichte. Die Ironie dieser Form der Imaginarien des Bösen liegt in den Wendungen von Einschluss und Ausschluss, die sich sowohl gegen die vermeintliche Hauptfigur der Erzählung als auch gegen sich selbst wendet: Morell stirbt arm und unerkannt – unter falscher Identität – in einem Krankenhaus und bleibt selbst, nicht von der Geschichte, aber dem Prinzip der »justicia poética«542, vergessen; die Sklaven hingegen können nicht auf den »aspecto jurídico de estos hechos«543 zählen, denn Morell ist vom Gesetz geschützt, da er juristisch keinen Diebstahl begeht, indem er befreite/gestohlene Sklaven als Ware handelt. Schließlich ist es der Aufstand dieser ›Befreiten‹, in einer letzten Wendung einschließenden Ausschlusses – d. h. ihrer Emanzipation durch denjenigen, der sie zuvor als Ware gehandelt hat –, dem der Erfolg versagt bleibt. Morell führt nicht, wie in seiner Vorstellung der Rache als Erlösung und Erlösung aller in seinem Akt der Rache, die emanzipierten (»emancipados«) Sklaven an. Sie selbst begehren auf – »los esclavos de ciertas plantaciones«544 – und unterliegen. Das alles geschieht zeitlich, d. h. auch historisch in den USA, ante bellum, und damit vor vielen Ereignissen, von denen in der Aufzählung der Causa Remota erzählt wird. Die Geschichte von Morell ergibt sich lediglich als ein Teil der Zusammenhänge, und somit als eine Geschichte in der Geschichte. Abschließend sei nochmals an die neophantastischen Verbindungen erinnert, die El Evangelio según Marcos mit El Sur verbinden. Der Zufall als kontingentes Moment der Erzählung ermöglicht ein »Phantasma der Alternative, die auch das Auch-Anders-Sein-Können der Welt als deren Verkehrung ins Exzentrisch-Unwahrscheinliche erscheinen lässt.«545 Diese Alternative betrifft, narrativ entwickelt, auch die Entscheidung zwischen Gut und Böse, aber als immanente Unentscheidbarkeit bzw. als Eröffnung der Möglichkeit von Entscheidungen. Die fehlende Garantie auf eine Entscheidung in einem Zerspielen von Möglichkeiten bleibt eingebunden zwischen Leben und Tod, dabei aber nicht beschränkt auf ein Entweder-oder. Leben und Tod bleiben Kategorien der Ordnung der Imaginarien des Bösen; nur ihre Positionen sind in 541 542 543 544 545

Ebd., S. 299. Ebd., S. 300. Ebd., S. 298. Ebd., S. 299. Vgl. Renate Lachmann, »Zum Zufall in der Literatur, insbesondere der Phantastischen«, in: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquart (Hrsg.), Kontingenz 1998, S. 403–432. Hier: S. 428.

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kulturelle Dynamiken eingebunden. Zur Verräumlichung trägt die imaginative Bezugnahme und Referenz auf Welt bei, mittels derer diese alternativen Welten entworfen werden. El Evangelio según Marcos bietet über diesen Umweg der Verflechtung mit der Text-Welt des Erzählens und den erzählten Welten von Jorge Luis Borges selbst die Möglichkeit, fiktionale unverwirklichte Phantasmen als Imaginarien des Bösen zu betrachten, die gerade das historisch Unangenehme, Unsagbare und Abwesende weltend einsetzen. Das gilt auch für Deutsches Requiem und El atroz redentor Lazarus Morell, die den Text-Welten von Borges verbunden bleiben, aber explizit nicht mit der neophantastischen Literatur verflochten sind. Die in ihnen vorgestellten Raumentwürfe von plantación, campo de concentración und estancia, ohne eine festgelegte Hierarchie oder topographische Ordnungen, aber als Signaturen geokultureller und geopolitischer Positionen, eröffnen diese Möglichkeiten zusätzlich, da in ihnen Simulationsformen des Bösen konstituiert werden, die durch ihre Räumlichkeit (bio)politische Relevanz erhalten und damit auf ein erweitertes Spektrum erzählerischer Grenzüberschreitung als Frage nach dem Bösen verweisen. So gestellt, geht die Frage nach dem Bösen in diesen literarischen Räumen über die Fragen der Literatur hinaus; gleichwohl ist sie selbst der Raum, der diese Frage erst ermöglicht. Man kann Sylvia Molloys Sentenz zum frühen Erzählen bei Jorge Luis Borges – »Cannibalism becomes conversation« – in der Historia universal de la infamia damit anschlussfähig machen an postkoloniale Imaginarien, wie sie Borges selbst mit Blick auf Dantes Divina Comedia kommentiert: »Negar o afirmar el monstruoso delito de Ugolino es menos tremendo que vislumbrarlo.«546 Böses lässt sich in der Unentscheidbarkeit des entangled narrator, seinen alternativen Ordnungssystemen und narrativen Korrespondenzen, undeutlich erahnen und damit sichtbar machen, aber nicht abschließend identifizieren.

546 J. L. Borges, OC III 1996, S. 385.

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El reino de este mundo (Alejo Carpentier): lo real maravilloso und Räume des Bösen DEMONIO Licencia de entrar demando. PROVIDENCIA ¿Quién es? DEMONIO El rey de Occidente. PROVIDENCIA Ya sé quién eres, maldito. Entra. [Entra ahora] DEMONIO ¡Oh tribunal bendito, Providencia eternamente! ¿Dónde envías a Colón para renovar mis daños? ¿No sabes que ha muchos años que tengo alli posesión (Lope de Vega, El nuevo mundo descubierto por Cristobal Colón) Surviving the barbarity within has always been much more difficult than holding the barbarians at bay. (Djelal Kadir, The Other Writing)

Carpentiers El reino de este mundo von 1949 steht im Zentrum der abschließenden Betrachtungen unter den hier leitenden Fragestellungen nach Verräumlichungen des Bösen in postkolonialen Zusammenhängen der Amerikas. Bevor die Imaginarien des Bösen dieses Textes herausgestellt werden (können), soll eine kurze Einbettung des Textes in einen postkolonialen, poetologischen und ästhetischen Zusammenhang nicht nur zur Kontextualisierung von Carpentiers Werk beitragen, sondern ebenfalls nachhaltig – wie in den Kapiteln zuvor – die Parameter der Untersuchung der im Mittelpunkt stehenden Erzählung dieses Kapitels bereitstellen. Ausgehend von einem relationalen räumlichen Verständnis von Bösem, wird es dabei vordergründig um jene narrativen Dynamiken gehen, die räumliche Vorstellungen des Bösen im literarischen Raum mit der Narration von Raum verflechten.

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El reino de este mundo (Alejo Carpentier): lo real maravilloso und Räume des Bösen

Neben dem Interesse an der reflexiven, poetologischen Form des Romans ist es die historiographische Imagination der Karibik – deren Bedeutung von Carpentier für die Amerikas insgesamt hervorgehoben wird –, die das Erzählen von El reino de este mundo für diese Untersuchung als relevant erscheinen lässt. Dabei erscheint es im Hinblick auf die Frage nach Imaginarien des Bösen ergiebiger, das Wie der Geschichte als Verflechtungsgeschichte zum Ausgangspunkt zu nehmen, anstatt die Geschichte (im narratologischen Sinn) auf ihren Umgang mit Fakten und gesicherten Erkenntnissen hin zu befragen.547 Das Epigraph, das dem Stück El nuevo mundo descubierto por Cristobal Colón des spanischen Dramatikers Lope de Vega entnommen ist und welches diesem Kapitel und El reino de este mundo vorangestellt ist, führt bereits klar an die Spannungen heran, die auftreten, sobald man es zusammen mit den von Alejo Carpentier im Prolog zu El reino de este mundo entwickelten poetologischen Anmerkungen betrachtet, die sich unter dem Begriff des real maravilloso de América zusammenfassen lassen.548 Doch wie sind Imaginarien des Bösen mit dem Wunderbaren, dem wirklich Wunderbaren dieser geokulturellen und geopolitischen Imagination der Amerikas, vereinbar, wenn sich (auch in ironischer Argumentation verstandene) antagonistische Platzhalter des Geistigen und Spirituellen, die zugleich den Westen (»occidente«) beherrschen, den Eingang zum Besitztum Amerikas gegenseitig streitig machen? Die Programmatik dieses Prologs als poetologischer Impulsgeber für das Erzählen von El reino de este mundo, der als solcher auf vielfache Weise interpretiert und anhaltend diskutiert wird,549 wird hier mit dem real maravilloso als 547 Diese Herangehensweise setzt sich in den aktuelleren Studien, sowohl zum Werk Carpentiers als auch zur Betrachtung von El reino de este mundo im Kontext afro-karibischer Literatur- und Kulturproduktion insgesamt durch, wobei im Hinblick auf das Erzählen und die Imagination von Geschichte bei Carpentier differenzierter mit anthropologischen, historiographischen und musikethnologischen Zusammenhängen argumentiert wird. Siehe dazu insbes. Paul B. Miller, Elusive Origins: The Enlightenment in the Modern Caribbean Historical Imagination 2010. Sowie Julia Cuervo Hewitt, Voices Out of Africa in TwentiethCentury Spanish Caribbean Literature 2009. 548 Der Text, der zu Lo real maravilloso de América als Prolog von El reino de este mundo (1949) wurde, ist zuvor einzeln und ohne Titel 1948 veröffentlicht worden. 549 Mit dem Begriff des real maravilloso kommt beinahe zwangsläufig der Begriff des Magischen Realismus (realismo mágico) ins Spiel. Zur Unterscheidung, Kritik, Anwendung und Differenzierung von Lo real maravilloso und Magischem Realismus existiert eine Fülle von Einzelstudien und vergleichenden Ansätzen, sowohl im amerikanischen als auch im weltliterarischen Kontext. Hier soll allerdings allein die Programmatik des lo real maravilloso, gemessen an seiner Übernahme und Verwirklichung in El reino de este mundo, in den Fokus gerückt werden. Kritisch ist allerdings zu beobachten, dass beide Begriffe als Konzepte austauschbar erscheinen, obwohl sie sich durchaus über ihre Ähnlichkeit definieren lassen. Beide Begriffe, ihr Gebrauch und ihre Rezeption in vielen Künsten, unter anderem in der Literatur, sind doch vor allem weltliterarisch verflochten, wobei es zur transkulturellen Genese beider Begriffe, zwar nicht unabhängig voneinander, aber auch konstitutiv, im ge-

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Konzeption und Ausdruck eines Strukturverhältnisses behandelt, innerhalb dessen narrative Verschiebungen und Verortungen postkolonialer Imaginarien und essentialistisch-ontologische Kritik die Vorstellung eines real maravilloso als mimetisch einzuholende Wirklichkeit sowohl produzieren als auch mit ihr verflochten werden. Denn anders als der Magische Realismus, der ein ästhetisches Programm bzw. die Vorstellung einer Ästhetik als Programm hervorgebracht hat, stellt die Konzeption des real maravilloso eine von Carpentier bestimmte Kondition des Kontinents dar, die er für sein Erzählen nachträglich entdeckte und vorschlug. Hiernach sah der kubanische Autor El reino de este mundo als unmittelbaren Ausdruck einer realen und gleichzeitig wunderbaren (d. h. vor allem einer außergewöhnlichen und fantastischen) Geschichte.550 Diese Geschichte ist also als solche für Carpentier abhängig von der Betrachtung; es gilt zu akzeptieren, dass Realität vielfach wahrzunehmen ist: [L]o maravilloso comienza a serlo de manera inequívoca cuando surge de una inesperada alteración de la realidad (el milagro), de una revelación privilegiada de la realidad, de una iluminación inhabitual […] de las escalas y categorías de la realidad, percibidas con particular intensidad en virtud de una exaltación del espíritu que conduce a un modo de ›estado límite‹.551

Imaginarien der transgressiven, grenzüberschreitenden Dynamiken der Wahrnehmung und des Erzählens sind diesem postkolonialen Projekt damit von Beginn an als Programmatik eingeschrieben, die auf einem als genuin begründeten Verständnis der Amerikas aufbaut. Die Kombination von anthropologisch geschulten Theorien und Ausführungen zur Ästhetik, verbunden mit der Praxis des Erzählens und angewandt vom Prolog auf den Roman, strebt nach einem Widerstand gegenüber Europa und einem als eurozentrisch empfundenen Kultur-, Kunst- und Geschichtsverständnis. Die Infragestellung der europäischen Ästhetik, ihrer Kunsttraditionen und künstlerischen Tendenzen von einem karibischen Standpunkt aus wird für Carpentier durch ihre Ersetzung im Zuge des real maravilloso als Performanz der Poetologie erreicht. Dadurch aber werden die historische und politische Realität in einem imaginativen Prozess konstituiert, weil mit der Kritik und dem ihr zugrunde gelegten Antagonismus von Amerika – dem Wunderbaren – und Europa – dem Künstlichen – vielmehr die Produktion und Dissemination kulturellen Wissens angesprochen werden, zu meinsamen Gebrauch beider Termini gekommen ist. Die vielfältigen Wege vom real maravilloso zum realismo mágico und zurück sind somit eine Frage der Forschung und auch Teil bereits tradierter Betrachtungen. Siehe dazu insbes. Mariano Siskind, Cosmopolitan Desires. Global Modernity and World Literature in Latin America 2014, S. 60ff. 550 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 17f. 551 Ebd., S. 15.

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deren (parteinehmendem und polemischem) Vermittler Carpentier sich aufschwingt.552 Die Beobachtung des real maravilloso wird vorangebracht durch die Betrachtung und Diskussion der surrealistischen Ästhetik; diese dominiert selbst in großer Kenntnis ihrer Entwicklung, Programmatik und Methoden den gesamten Prolog. Diese Diskussion kann daher als ein historischer Zugang zur kulturellen Produktion der französischen Surrealisten gesehen werden, mit dem Ziel, ihren als künstlich bewerteten Charakter der Kunst und Kultur zu analysieren, der wiederum das merveilleux erzeugt.553 Carpentier markiert damit einen Kontrapunkt als Widerstand zu europäischen kulturellen und künstlerischen Traditionen, die jedoch mit der historischen und politischen Vision als verflochten erscheinen und das poetologische Projekt von El reino de este mundo zum Ausdruck bringen: »Pisaba yo una tierra donde millares de hombres ansiosos de libertad creyeron en los poderes licantrópicos de Mackandal, a punto de que esa fe colectiva produjera un milagro el día de su ejecución.«554 Neben der Kontinuität, die zwischen dem Wunder des maravilloso/Wunderbaren und dem kritisierten merveilleux der Surrealisten zu konstatieren ist und die unter anderem in der Beanspruchung einer höheren Form oder eines höheren Ausdrucks der Wirklichkeit liegt (sei es »la revelación privelegiada de la realidad« oder die Wirklichkeit durch das poetische Bild des Unbewussten), ist Carpentiers bewusster Versuch, das Wunderbare als real zu manifestieren.555 Aber das Wunder 552 Fernando J. Rosenberg formuliert es folgendermaßen: »Lo real maravilloso is always entangled in the historical, aesthetic, and epistemological consequences of the colonial encounter. The continuing reenactment of this clash is what keeps returning. Despite the fact, that lo real maravilloso was proposed as a break with surrealism, we can trace a continuity, albeit a contentious one, between the avantgarde texts […] and the aesthetic politics of lo real maravilloso, a continuity that doesn’t depend on the development of European modernisms or on decontextualized stylistic features.« Ders., The Avantgarde and Geopolitics in Latin America 2006, S. 137. 553 »La sugerencia del escritor cubano es que todo es artificial: el arte es artificio si no conduce con la realidad. Y la realidad europea no es maravillosa.« Vgl. Edmundo Paz Soldán, »Alejo Carpentier: teoría y práctica de lo real maravilloso«. In: Anales de la Literatura Hispanoamericana 37 (2008), S. 35–42. Hier S. 37. Auch Leonardo Padura macht auf diese Konstruktion aufmerksam. Vgl. Leonardo Padura, Un camino de medio siglo: Alejo Carpentier y la narrativa de lo real maravilloso 2002. 554 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 17. 555 Vgl. auch die Kritik von Sylvia Molloy, die allerdings lo real maravilloso als Äußerung des Magischen Realismus einordnet: »The history of magic realism has been written elsewhere and it is not my intention here to retrace its long and tenacious life. It should be recalled, however, that from its very inception, this figuration of Latin America was a selfconscious, literary effort by a self-conscious, literary writer, Alejo Carpentier. An excrescence of French surrealism ›transculturated‹ to Cuba and, by extension, to the rest of Latin America, magic realism was a strategical, polemical element in a transnational literary quarrel. It was Carpentier’s response both to the Surrealists’ conception of poetic image and to the avantgarde’s discovery of ›primitive‹ art. More than sprouting the ›naturally,‹ from Latin American ›reality,‹ as Carpentier himself, in a burst of nativistic fervor, would have his reader

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wird nur Realität im Glauben an das reale Wunder: »Para empezar, la sensación de lo maravilloso presupone una fe.«556 Dieser Glaube an eine andere Realität sieht die Konzeption des Wunderbaren als kulturelle Kondition und weniger als ein ästhetisches Prinzip von Wahrnehmung. Für die Imaginarien des Bösen in dieser Vorstellung einer anderen – positiven – Wirklichkeit ist die Kritik am Surrealismus und dessen weltenden Verfahren von Bedeutung, weil Carpentier diese mit ihrem eigenen Argument der Kritik an der rationalen Wahrnehmung der Welt und Wirklichkeit anzugehen versteht und sie gegen das französische, d. h. auch europäische, Programm wendet, das Leben und Kunst miteinander zu vereinen sucht. So richtet sich Carpentier in seiner Vorstellung von den Surrealisten gegen die Kritik der Rationalität: »Pero a fuerza de querer suscitar lo maravilloso a todo trance, los taumaturgos se hacen burócratas.«557 Das Ausgeschlossene, Andere, wird in der Logik des Prologs nicht als Böses oder das Böse aufgewertet, weil es sich gegen die Rationalität der Moderne richtet – wie es infolge der surrealistischen Vernunftkritik vorangebracht wurde.558 Aufgewertet werden soll dieses Andere als Ausdruck einer Geschichte der Emanzipation, wie sie für Carpentier nur in den Amerikas möglich war und ist: Esto se me hizo particularmente evidente durante mi permanencia en Haití, al hallarme en contacto con algo que podríamos llamar lo real-maravilloso. Pisaba yo una tierra donde millares de hombres ansiosos de libertad creyeron en los poderes licantrópicos de Mackandal, a punto de que esa fe colectiva produjera un milagro el día de su ejecución. […] Había estado en la Citadela La Ferrière, obra sin antecedentes arquitectónicos, únicamente anunciada por las Prisiones imaginarias del Piranese. Había respirado la atmósfera creada por Henri Christophe, monarca de increíbles empeños, mucho más sorprendente que todos los reyes crueles inventados por los surrealistas, muy afectos a tiranías imaginarias, aunque no padecidas.559

Die Faszination Carpentiers, die sein literarisches Interesse an der Haitianischen Revolution begründet, das sich in El reino de este mundo niederschlägt, ist gleichzeitig von der Grausamkeit, Gewalt und Tyrannei durchzogen, gerade weil der Horror ein realer Teil des Wunderbaren ist und/oder gar selbst Anteil an seinen Wundern hat und nicht erfunden werden muss. Dieses sehr ambivalente

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believe, magic realism was born on the same operating table on which Lautréamont’s umbrella hobnobbed with the sewing machine.« Dies., »Postcolonial Latin America and the Magic Realist Imperative: A Report to an Academy«. In: Sandra Berman, Michael Wood (Hrsg.), Nation, Language and the Ethics of Translation 2005, S. 370–379. Hier: S. 374. Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 14. Ebd. Siehe dazu auch: Sabine Friedrich, Imaginationen des Bösen. Zur narrativen Modellierung der Transgression bei Laclos, Sade und Flaubert 1998, S. 15–20. Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 16.

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Verhältnis zu den reyes crueles als Architekten dieses Teils der Amerikas sowie zu den Surrealisten und ihren tyrannischen Imaginarien wird den Zugang zu den Imaginarien des Bösen in der Erzählung von El reino de este mundo ermöglichen. Die postkoloniale Perspektive, die die Spannung zwischen Prolog und Erzählung (Roman) ausmacht, liegt im Widerstand und Widerspruch zwischen der Herleitung des real maravilloso im Manifest dieses Prologs und seiner von Carpentier beabsichtigten performativen Wirkung in El reino de este mundo. Denn die Beziehung zwischen beiden Texten schafft einen kritischen Dialog, welcher die Widersprüche postkolonialer, geteilter560 Geschichten als Verflechtungsgeschichte zum Ausdruck bringt und die Karibik (dessen Inselwelt für Carpentier als Erweiterung für die Amerikas steht) mit Afrika und Europa sowohl in Konflikten und Ungleichheiten als auch in kreativen Transkulturationsprozessen verbindet. Die narrative Vermittlung von Misere, Sklaverei und Unterdrückung bei gleichzeitigem Widerstand gegen diese Formen der Dehumanisierung in imaginativen Räumen bezieht Aktionen und nomadische Praktiken in die sich schließenden Kreise der Institutionen der Herrschaft und ihrer despotischen Anführer mit ein und verweist auch auf ihren Verflechtungszusammenhang, der nicht als starre Opposition oder ganzheitlicher Antagonismus zu durchdringen ist. Die Vermittlung einer Perspektive, welche die Geschichte der Erfahrung des Wunderbaren als zugleich gewaltsame Erfahrung erzählt, wird in den folgenden Betrachtungen der Verräumlichung des Bösen in El reino de este mundo den Übergang zu einem Entwurf der Inselwelt als utopischer und dystopischer Raum literarischer Imaginarien des Bösen markieren.561

560 Der Begriff der geteilten Geschichte wird hier explizit im Rückgriff auf Shalini Randerias Beitrag zur Idee von Verflechtungsgeschichte aus dem sozialanthropologischen Bereich gebraucht. Vgl. dies., »Geteilte Geschichte, verwobene Moderne«, in: Sozialanthropologische Arbeitspapiere, Nr. 83, 1999, S. 1–10. 561 Dieser Gedanke deckt sich mit Mariano Siskinds Anmerkungen zu Carpentiers Prolog und El reino de este mundo, mit denen er die Beziehung zwischen beiden vor dem Hintergrund der erzählerischen Strategie des Romans zu beurteilen sucht: »But the importance of Carpentier’s marvelous real to postcolonial determinations of the definition of magical realism may be said to reside in the contradiction between what the preface of El reino de este mundo says and what the novel does. While the preface stresses the lack of mediations in the way aesthetic formations—such as these new marvelous novels—express a Latin American social reality constituted by marvelous phenomena visible ›at every turn,‹ the novel itself performs the cultural presence of the marvelous as a result of mediation marked by the socially bound perspective of the spectator.« Ders., Cosmopolitan Desires, Global Modernity and World Literature in Latin America 2014, S. 80.

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Die Folge außergewöhnlicher Ereignisse, die Carpentier im Prolog für das Erzählen von El reino de este mundo ankündigt, entpuppt sich als Geschichte – und als other-writing562 – von Geschehnissen im Vorfeld der Haitianischen Revolution und der Zeit unmittelbar nach dem Umsturz des französischen Kolonialregimes auf der Karibikinsel. In der Erzählung wird eine offizielle Version globalgeschichtlicher Rahmenereignisse mit realen und imaginierten Mythologien verflochten, die als Quellen von der offiziellen Historiographie und institutionellen Pädagogiken ausgeschlossen sind.563 Die zentralen Themen des Romans sind daher die Revolution auf Haiti und der Widerstand der dortigen Sklav: innen, wobei beides – folgt man dem Prolog – einer Neuinterpretation aus karibischer bzw. amerikanischer Sicht unterzogen werden soll. Betrachtet man das Erzählen, dann ist diese Sicht konfliktiv und als narratives Gebilde überaus heterogen. Während Carpentier also im Stile des Manifests des Prologs von einer Unterscheidung zwischen zwei ontologischen Bestimmungen ausgeht, mit dem Ergebnis einer Gegenüberstellung der Authentizität (Amerikas) mit der Künstlichkeit (Europas), lässt sich festhalten, dass die Erzählung zwar diesen konfrontativen und antagonistischen Rahmen aufrechterhält, diesen jedoch – unter Berücksichtigung narrativer Verfahren – zugleich zu verlassen scheint. Die dynamische Konzeption der Erzählung ist selbst auf einer Künstlichkeit aufgebaut, die in der multiplen Perspektivierung der Ereignisse begründet liegt und welche als entangled narrator den Raum der Äußerung als gleichzeitig außerhalb der Welt der Figuren, und doch zugleich an sie gebunden, vermittelt. Somit ver562 Vgl. Djelal Kadir, The Other Writing. Postcolonial Essays in Latin America’s Writing Culture 1993, S. 1–17. 563 Die Imaginationen des Vodou als Inspiration für den ersten Aufstand auf Saint-Domingue bis hin zu dem, was gemeinhin als Haitianische Revolution bekannt ist, werden hier narrativ verflochten. Dazu gelten auch folgende Überlegungen: »Anyone who has read Carpentier with some care will not hesitate to take these words quite seriously. And, in fact, even a cursory knowledge of the historical circumstances narrated in The Kingdom of This World seems to confirm his statements. The story relates fairly well-known incidents: Mackandal’s rebellion, Bouckman’s uprising, the French colonists’ arrival in Santiago de Cuba, General Leclerc’s campaigns, Henri Christophe’s agitated monarchy. Even a closer preliminary investigation will reveal that M. Lenormand de Mezy was indeed a rich colonist from the northern region of Limbe in Saint-Domingue; that, in fact, it was at his plantation that Mackandal’s revolt began, as in The Kingdom of This World; that Rochambeau succeeded Leclerc on the island; that Labat and Moreau de Saint-Mery were, in fact, contemporary historians of the events; that Cornejo Brelle was actually Corneille Breille; that Esteban Salas, as we saw, was a composer from Santiago whom Carpentier discovered while doing research for La musica en Cuba; that there was a slave called Ti Noel.« Roberto González Echeverría, Alejo Carpentier. The Pilgrim at Home 1990, S. 131.

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mengen sich die (häufig gelehrten) Äußerungen im Stile barocker564 Verkettung und Überlappung von Bildern, vermittelt vom entangled narrator, mit Episoden aus der Sicht der Sklaven – hauptsächlich jedoch aus der Sicht von Ti Noel. Weiterhin ist die Bedeutung zu erwähnen, die der entangled narrator der Herstellung der Vorstellung der Gedankenwelt und des Bewusstseins dieser nomadischen Figur zukommen lässt.565 Als entangled narrator verfolgt die Erzählinstanz von El reino de este mundo jedoch eine zweifache narrative Strategie: Der Erzähler selbst erscheint innerhalb der Geschichte als verflochten, indem er sie von multipolaren Perspektiven aus erzählt und somit als dynamische Autorität Nähe und Distanz als Wissen, Glauben und Imaginationen unterschiedlicher Parteien, Kulturen und Gemeinschaften konstituiert; damit ist zugleich der aktive oder verflechtende Anteil dieses Vermittlers von Welt angesprochen. Die Herstellung der Vorstellung folgt einem erzählerischen Kontrapunkt, der als Schema der musikalischen Kompositionstechnik – punctum contra punctus – folgt und auf diese Weise immer mindestens zwei unterschiedlichen Perspektiven und Stimmen Raum gibt, um ein und dasselbe Ereignis zu berichten.566 Dabei wird dieses Ereignis zum einen von den aristokratischen Kolonialherren aus Frankreich und zum anderen aus der Sicht eines Sklaven – überwiegend aus der Perspektive von Ti Noel – erzählt: Monsieur Lenomard de Mezy y su esclavo salieron de la ciudad por el camino que seguía la orilla del mar. Sonaron cañonazos en lo alto de la fortaleza. La Courageuse, de la armada del rey, acabada de aparecer en el horizonte, de vuelta de la Isla de la Tortuga. […] Asaltado por recuerdos de sus tiempos de oficial pobre, el amo comenzó a silbar una marcha de pífanos. Ti Noel, en contrapunteo mental, tarareó para sus adentros una

564 Vgl. Mabel Moraña, La escritura del límite 2010, S. 51–92. 565 Hermann Herlinghaus beschreibt in der Terminologie Hartmut Stanzels die »Erzählsituation« in von El reino de este mundo als »Vernetzung von personaler (unmittelbar auf Ti Noel bezogener) und auktorialer (intellektuell ›souveräner‹) Perspektive […] zur Aufhebung [von] Ti Noels [Weltsicht].« Ders., Alejo Carpentier 1991, S. 97f. Amaryll Chanady ist in Hochzeiten strukturalistischer narratologischer Untersuchungen akribisch an die Untersuchung der Fokalisierung von El reino de este mundo herangetreten und gebraucht die Terminologie von Gérard Genette; dabei stellt sie in der Differenzierung, die die Fokalisierung für die Fragen nach Perspektive und Sicht zwischen Erzähler und Figur bereitstellt, in Übereinstimmung mit dem zuvor zitierten Herlinghaus fest: »[H]ay una antinomia dentro de la focalización misma a causa de la vacilación del focalizador entre posiciones contradictorias. Por medio de esta vaciliación, que puede ocurrir dentro de un solo paisaje, el focalizador no corresponde siempre al personaje a quién debería corresponder.« Sie stellt daher eine multiple oder plurale Fokalisierung für das Erzählen (»focalización múltiple«) fest. Dies., »La focalización en El reino de este mundo«, in: Miguel Ángel Garrido Gallardo (Hg.), Crítica semiológica de textos literarios hispánicos 1986, S. 485–492. Hier: S. 486. 566 Vgl. dazu die grundlegende Studie von Emil Volek, »Análisis e interpretación de ›El reino de este mundo‹ de Alejo Carpentier«. In: Helmy Fuad Giacoman (Hg.), Homenaje a Alejo Carpentier: Variaciones interpretativas en torno a su obra 1970, S. 147–178.

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copla marinera, muy cantada por los toneleros del puerto, en que se echaban mierdas al rey de Inglaterra.567

Die Erzählung wird so in der Kombination vom entangled narrator und dessen kontrapunktischem Erzählmodus vorangebracht und konstituiert auf diese Weise eine Raumerzählung, die wiederum durch elliptische, inverse und zyklische Strukturen entsteht und auf einem säkularen, nachaufklärerischen Weltbild sowie auf christlich-liturgischen und synkretistischen Modellen des Vodou aufbaut.568 Lässt man kurz die Bedeutungsschichtungen, die ein solches transkulturelles Netz von Daten und Relationen mit sich bringt, außer Acht, dann ist zunächst festzuhalten, dass diese narrative Dynamik eine »Handlungsgeographie«569 entstehen lässt. Diese Beobachtung ist der Analyse von Hermann Herlinghaus entnommen und wird hier nicht nur auf die vier »relativ eigenständigen Zyklen«570 der Geschichte übertragen, sondern soll auch für die hergestellten Dynamiken des Erzählens gelten, die infolge des Aufbaus transkultureller Bedeutungsfelder in der Verflechtung von Diskursen des Barock des spanischen Siglo de Oro, der Anthropologie Fernando Ortiz’, der avantgardistischen Mittel der Grupo Minorista, des Surrealismus, der Geschichtsphilosophien Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Oswald Spenglers und der Kosmogonien des Vodou entstehen. Diese Handlungsgeographie soll hier im Lichte der Verflechtungen von Raumerzählung und der Erzählung von Raum betrachtet werden. Durch sie wird eine dynamische Bewegung in der Vorstellung von Einschluss und Ausschluss erreicht, die auf eine Position des Dritten hindeutet. In der Forschung zu Carpentier überwiegt jedoch meist das antagonistische Bild eines gegenseitigen Ausschlusses der kulturellen Modelle und der Narrative, die diese befördern.571 567 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2, S. 25. 568 Der Gebrauch der Bezeichnung Vodou (als Bezeichnung für haitianische religiöse Praktiken) im Unterschied zu Voodoo (als in der Populärkultur imaginierte Religion) geht auf Adam McGee zurück. Siehe ders., »Haitian Vodou and Voodoo: Imagined Religion and Popular Culture«, Studies in Religion/Sciences Religieuses, vol. 41, no. 2, 2012, S. 231–256. Die Herstellung der Vorstellung von Ellipsen und Zyklen, meist zeitlich analysiert, ist ein einschlägiges Feld der Forschung zu El reino de este mundo. Dem Roman sind Daten des christlichen Kalenders und kirchlicher Festdaten eingeschrieben. Siehe dazu insbes. Roberto González Echeverría, »Isla a su vuelo fugitivo: Carpentier y el realismo mágico«, in: Revista Iberoamericana, Vol. XL, Núm. 86, Enero–marzo 1974, S. 9–63. Hier: S. 45–59. Die detaillierteste Analyse zur Verflechtung der Erzählung mit Imaginarien des Vodou und seiner Riten, Götter und Feste bietet Julia Cuervo Hewitt, Voices Out of Africa in Twentieth-Century Spanish-Caribbean Literature 2009, S. 62–110. 569 Vgl. Hermann Herlinghaus, Alejo Carpentier 1991, S. 91. 570 Ebd. 571 Vgl. dazu Amaryll Chandy mit ihrer narratologischen Betrachtung: »El reino de este mundo es caracterizado por la yuxtaposición de dos visiones del mundo, que se excluyen mutua-

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Eine solche Position des Dritten zeigt sich insbesondere in der Figur von Ti Noel in der Vermittlung durch den entangled narrator. So beginnt der gesamte Roman mit Ti Noel und endet, nach dessen transversalen, nomadischen Querungen, mit seinem Verschwinden, welches wiederum unentscheidbar erzählt ist, wodurch letztlich das Wunder des real maravilloso affirmiert wird. Dies geschieht, indem Ti Noel sich in einen Geier verwandelt; gleichzeitig wird jedoch eine rationale, d. h. in der Summe seiner sozialen, kulturellen und politischen Beobachtungen, Bewusstwerdung Ti Noels vermittelt, in deren Zuge er dem Wahnsinn oder einer Senilität verfällt und von einem aufkommenden Hurrikan fortgerissen wird. Als einziger Zeuge bleibt letztlich der entangled narrator zurück, der zwar infolge der Naturkatastrophe Ti Noels Gedanken kennt, aber dennoch offenlässt, wie dieser in genau dem Moment verschwindet, in dem alles irdisch Beobachtbare vom Sturm fortgerissen wird. Damit wäre in der Tat eine exterritoriale Perspektive erreicht, die sich darüber hinaus auch zeitlich in einem Raum der Unbestimmtheit positioniert. Dennoch ist es vor dem Hintergrund des offenen Endes der Erzählung notwendig, das Nomadenhafte der Figur Ti Noel nachzuvollziehen, um daraufhin die Figuration des Dritten, verkörpert von Ti Noel, im Zusammenhang der Imaginarien des Bösen in El reino de este mundo zu betrachten. Ti Noel befindet sich im Besitz des französischen Aristokraten Monsieur Lenormand de Mezy und lebt als Sklave auf dessen hacienda. Vorgestellt wird er jedoch nicht auf dem Gut seines Herrn, sondern in einer Szene in Cabo Francés, dem Hafen von SaintDomingue, beim Kauf eines Pferdes für de Mezy, welcher wiederum den Kenntnissen von Ti Noel bei der Anschaffung des Tieres vertraut. Hier sind Leben und Herrschaft der Kolonie bereits als kontrastreiches Leben zwischen Herrn und Sklave als Weiß und Schwarz beschrieben. Der Widerstand der Sklaven und die Schaffung alternativer, auch imaginärer Räume, die sich dieser Herrschaft zu widersetzen verstehen, deuten sich bereits an. Das zweite Kapitel geht weiter auf Ti Noel und auch auf die für die historische Imagination so bedeutsame Geschichte von Mackandal ein: Sein Ende als Sklave auf der Zuckerrohrplantage ist besiegelt, als nach einem Unfall – mit einem

mente por ser lógicamente antinómicas, pero que coexisten al nivel del texto por medio de una focalización múltiple, en la cual ambos focalizadores no invalidan el enfoque del otro.« Dies., »La focalización en El reino de este mundo«, in: Miguel Ángel Garrido Gallardo (Hg.), Crítica semiológica de textos literarios hispánicos 1986, S. 485–492. Hier: S. 490. Auch Paul B. Miller bemerkt dazu aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: »The Kingdom of this World will go back in time to revisit the originary epistemological and material encounter between European Enlightenment and the Afro-Caribbean world of sugar and slavery in the late eighteenth and early nineteenth centuries to more effectively portray his preferred paradigm of mutual exclusion.« Ders., Elusive Origins: The Enlightenment in the Modern Caribbean Historical Imagination 2010, S. 42.

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Pferd, welches die Mühle der hacienda antreibt – sein Arm amputiert werden muss. Ti Noel kommt durch Mackandal auf der hacienda nicht nur mit Erzählungen des »Gran Allá«, dem Reich der anderen Seite des Ozeans, in Berührung, sondern wird auch in die Fähigkeit zur Metamorphose und die Kräuterkunde initiiert. Der Erzähler vermittelt zunächst vor allem das Erstaunen, das den jungen Ti Noel in der Gegenwart von Mackandal überkommt; so zum Beispiel, als er ihn in eine Höhle begleitet, um gemeinsam mit einer Art Hexe namens Mamán Loi – einer »anciana que vivía sola, aunque recibía visitas de gentes venidas de muy lejos«572 – einen giftigen Trank aus Pilzen, Gräsern und Blättern zu mischen. Dabei ist die Rede von Verwandlungen und Vergewaltigungen von Frauen durch Menschen in Tiergestalt.573 Ti Noel ist hier zunächst ein Zeuge, und dazu einer unter vielen, jedoch auch eine Figur, die im engeren Kontakt zu Mackandal steht, obwohl sich ihm seine Welt nicht als zugänglich darstellt. Kurz darauf flüchtet Mackandal von der hacienda: Aquella tarde, al regresar a la hacienda, Mackandal se detuvo largo rato en contemplar los trapiches, los secadores, de cacao y de café, el taller de la anilería, las fraguas, los aljibes y bucanes. – Ha llegado el momento – dijo. Al día siguinte lo llamaron en vano. El amo organizó una batida, para mera edificación de las negradas, aunque sin darse demasiado trabajo. Poco valía un esclavo con un brazo menos. Además, todo, mandinga, -era cosa sabida- ocultaba un cimarrón en potencia. Decir mandinga era decir díscolo, revoltoso, demonio.574

Die zitierte Passage zeigt sehr deutlich, wie der Konflikt zwischen Weiß und Schwarz, Herren und Sklaven, vom entangled narrator aus der Sicht Mackandals präsentiert wird, der von de Mezy und einer dritten Person begleitet wird – markiert durch »era cosa sabida« –, die jedoch eher der Sicht der Weißen entspricht, da diese nicht fähig sind, den Aufstand und die spätere Revolution zu erkennen, obwohl auch sie das Dämonische bereits mit der Vorstellung von 572 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2, S. 29. 573 »Ella los examinaba cuidadosamente, apretando y oliendo unos, arrojando otros. A veces, se hablaba de animales egregios que habían tenido descendencia humana. Y también de hombres que ciertos ensalmos dotaban de poderes licantrópicos. Se sabía de mujeres violadas por grandes felinos que habían trocado, en la noche, la palabra por el rugido. Cierta vez, la Maman Loi enmudeció de extraña manera cuando se iba llegando a lo mejor de un relato. Respondiendo a una orden misteriosa, corrió a la cocina, hundiendo los brazos en una olla llena de aceite hirviente. Ti Noel observó que su cara reflejaba una tersa indiferencia, y, lo que era más raro, que sus brazos, al ser sacados del aceite, no tenían ampollas ni huellas de quemaduras, a pesar del horroroso sonido de fritura que se había escuchado un poco antes. Como Mackandal parecía aceptar el hecho con la más absoluta calma, Ti Noel hizo esfuerzos por ocultar su asombro.« Ebd. 574 Ebd., S. 30.

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Widerstand in Verbindung bringen. So entspricht es auch dem kontrapunktischen Modus der Erzählung, dass der Vodou aus Sicht der Sklaven als Praxis des Widerstandes erscheint, welche die Vorstellung der Gottheiten und Kenntnisse nutzt, um im Verborgenen gegen das Kolonialregime aufzubegehren. Der Erzähler hält zunächst fest, dass Ti Noel die Abwesenheit von Mackandal niedergeschlagen aufnimmt: »Ti Noel estaba profundamente acongojado por la desapareción de Mackandal. […] La partida de Mackandal era también la partida de todo el mundo evocado por sus relatos.«575 Zur selben Zeit ist dessen Aufstand bereits von den Plantagen aus vorbereitet worden: Lo que más asombró a Ti Noel fue la revelación de un largo y paciente trabajo, realizado por el mandinga desde la noche de su fuga. Tal parecía que hubiera recorrido las haciendas de la llanura, una por una, entrando en trato directo con los que en ella laboraban. Sabía, por ejemplo, que en la añilería del Dondón podía contar con Olaín el hortelano, con Romaine, la cocinera de los barracones, con el tuerto Jean-Pierrot; en cuanto a la hacienda de Lenormand de Mezy, había enviado mensajes a los tres hermanos Pongué, a los congos nuevos, al fula patizambo y a Marinette, la mulata que había dormido, en otros tiempos, en la cama del amo, antes de ser devuelta a la lejía por la llegada de una Mademoiselle de la Martinière, desposada por poderes en un convento de El Havre, al embarcar para la colonia. También se había puesto en contacto con los dos angolas de más allá del Gorro del Obispo, cuyas nalgas acebradas conservaban las huellas de hierros al rojo, aplicados como castigo de un robo de aguardiente. Con caracteres que sólo él era capaz de descifrar, Mackandal había consignado en su registro el nombre del Bocor de Millot, y hasta de conductores de recuas, útiles para cruzar la cordillera y establecer contactos con la gente del Artibonite.576

Doch kommt der Widerstand im Zeichen des Vodou nicht in Form eines bewaffneten Aufstandes über die weißen Kolonisatoren, sondern durch ein Gift, »de profundis«, aus der Tiefe der Höhle des Mackandal, wie das Kapitel in Anlehnung an Psalm 130 (»Aus der Tiefe, rufe ich dich zu mir, Herr«) überschrieben ist. Von dort breitet es sich vernichtend und für die weißen Landbesitzer apokalyptisch aus: En la Llanura sonaba, lúgubre, el mismo responso funerario, que era el gran himno del terror. Porque el terror enflaquecía las caras y apretaba las gargantas. A la sombra de las cruces de plata que iban y venían por los caminos, el veneno verde, el veneno amarillo, o el veneno que no teñía el agua, seguía reptando, bajando por las chimeneas de las cocinas, colándose por las hendijas de las puertas cerradas, como una incontenible enredadera que buscara las sombras para hacer de los cuerpos sombras. De misereres a de profundis proseguía, hora tras hora, la siniestra antífona de los sochantres. […] La guarnición del Cabo había desfilado por los caminos, en risible advertencia de muerte mayor al enemigo inapresable. Pero el veneno seguía alcanzando el nivel de las bocas 575 Ebd., S. 31. 576 Ebd., S. 32.

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por las vías más inesperadas. […] El manco Mackandal, hecho un houngán del rito Radá, investido de poderes extraordinarios por varias caídas en posesión de dioses mayores, era el Señor del Veneno. Dotado de suprema autoridad por los Mandatarios de la otra orilla, había proclamado la cruzada del exterminio, elegido, como lo estaba, para acabar con los blancos y crear un gran imperio de negros libres en Santo Domingo. Millares de esclavos le eran adictos. Ya nadie detendría la marcha del veneno. Esta revelación levantó una tempestad de trallazos en la hacienda.577

Dieser Kontrapunkt, der den Vodou als Religion, Lebensweise und Initiator der Befreiung einerseits und als Prinzip und Verwirklichung des Dämonischen und des Todes andererseits lokalisiert, wird weiter fortgesetzt, von multiplen Perspektiven und Sprecherpositionen affirmiert und kulminiert mit der Ergreifung Mackandals nach Jahren der Flucht und Verwandlungen, während derer er den Glauben an die Möglichkeit des Gelingens des Aufruhrs aufrechterhalten hat, in einem drastischen Bild des Rausches: Un día daría la señal del gran levantamiento, y los Señores de Allá, encabezados por Damballah, por el Amo de los Caminos y por Ogun de los Hierros, traerían el rayo y el trueno, para desencadenar el ciclón que completaría la obra de los hombres. En esa gran hora – decía Ti Noel – la sangre de los blancos correría hasta los arroyos, donde los Loas, ebrios de júbilo, la bebe rían de bruces, hasta llenarse los pulmones.578

Eine dieser mehrfachen Wendungen von Festlichkeiten in den Tod ist dann auch in der vielfach zitierten Szene von Mackandals Hinrichtung zu finden, die von den Sklaven als Rettung durch seine Metamorphose wahrgenommen wird, während sie aus Sicht der Weißen, die die Sklaven als Masse von oben beobachten und ihren Blick auf den Scheiterhaufen für Mackandal richten, die Exekution des Anführers bedeutet. Die Forschung zu El reino de este mundo stößt sich vor allem an der Tatsache, dass der Erzähler – hier: der entangled narrator – den Blick und die Sicht der Weißen übernimmt und die Szene so beschreibt, dass einige der Sklaven Zeugen des Todes von Mackandal sind, während zuvor die Erleichterung über seine Rettung vor den Flammen qua Transformation von der zusammengepferchten Masse wiedergegeben wird.579

577 Ebd., S. 33f. 578 Ebd., S. 38. 579 Diese Szene wird, sobald sich Autor:innen darauf beziehen, seit dem Ansatz von Chanady (1983) und auch Echeverrías Studie (1974) zumeist in Gänze zitiert. An dieser Stelle wird darauf verzichtet, bleibt es doch streitbar, aber für die Aussage über die Darstellung eines grundsätzlichen Konfliktes unerheblich. Die Szene ist so fokalisiert, dass dem Urteil der Weißen kein Privileg vorauseilt und dieses vom Erzähler vermittelte Urteil vielmehr der Imagination einer Erscheinung der Sklav:innen entgegensteht; die Glaubwürdigkeit der Herren wird eher parodiert (der General muss den Zug des Säbels aus der Scheide üben, die Damen werden ohnmächtig etc.) und die Haltung der Masse, auch in Bezug auf den Märtyrertod Mackandals, tritt hervor.

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Folgt man den Figuren im zweiten Teil, so erreicht die Kolonie nach kurzer Zeit des Aufstiegs die Revolution. Die haciendas werden verwüstet, es wird gemordet und der Umsturz des Regimes gefordert. Doch auch der nachhaltige Erfolg dieser Revolution bleibt aus, und es kommt zur Hinrichtung Boukmans, des Anführers des gescheiterten Umsturzes. Ti Noel wiederum wird kurz vor seiner Hinrichtung durch seinen Besitzer vor dem Tod bewahrt und begleitet anschließend, auch inmitten der sich ständig verändernden politischen Umstände, den flüchtenden de Mezy nach Santiago de Cuba. Der dritte Teil findet fast ausschließlich ohne Ti Noels Beteiligung statt; es wird berichtet, wie er auf Cuba an einen anderen Herrn verkauft wird und weiterhin sein Leben in Sklaverei fortführt. Dafür treffen mit General Leclerc und seiner Frau Pauline Bonaparte zwei Figuren aus Europa auf Saint-Domingue ein. Der General soll die ständigen Aufstände unter Kontrolle bringen, erkrankt aber so schwer, dass er von Pauline nur tot nach Frankreich zurückgebracht werden kann. Ti Noels Bewegung ist hier wiederum mit den episodenhaften Geschehnissen dieses dritten Teils in der Handlungsgeographie verbunden, die die Geschichte Paulines als Annäherung an die Praktiken des Vodou erzählt, da sie den Priester und Medizinmann Soliman mit der Heilung ihres Mannes betraut. Soliman hilft somit dem Mann, der den Vodou und seine synkretistischen Praktiken als Feind und auch als Imagination des Bösen betrachtet. Dies ist jedoch nur auf inhaltlicher Ebene und der der Figuren zu behaupten. Beide stehen im Zeichen eines Austausches, der trotz des Krieges und der Vernichtung stattfindet, die dieser mit sich bringt. Während beide mit dem Leichnam von Leclerc nach Paris bzw. nach Rom aufbrechen, kehrt Ti Noel nach Saint-Domingue zurück. Seine erste Wanderung führt vom Hafen zur Ruine der hacienda seines ehemaligen Besitzers. Nach Ti Noels Ankunft, und mittlerweile selbst im Besitz derselben Fähigkeiten wie Mackandal, berichtet der entangled narrator, dass Ti Noel sich in Tiere verwandeln kann und wechselnd die Gestalt unterschiedlicher Lebensformen annimmt, um auch ihre sozialen Lebensformen, Kulturen und Kommunikationen kennen zu lernen. Dabei jedoch durchlebt Ti Noel, der weiterhin als Wanderer, nicht nur zwischen der Welt der Menschen und der der Tiere, sondern auch in der Welt der Menschen dargestellt wird, zwei Formen totalitärer Herrschaft. Eine dieser Herrschaftsformen setzt sich bereits während seiner Abwesenheit von Saint- Domingue durch und schlägt sich im Reich des Henri Christophe nieder, der nach der Revolution als absolutistischer König regiert: »Ti Noel comprendió que se hallaba en Sans-Souci, la residencia predilecta del rey Henri Christophe, aquel que fuera antaño cocinero en la calle de los Españoles,

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dueño del albergue de La Corona, y que hoy fundía monedas con sus iniciales, sobre la orgullosa divisa de Dios, mi causa y mí espada.«580 Unter Christophes Herrschaft wird Ti Noel gefangen genommen; als Arbeitssklave ist er an der Fertigstellung der Festung Ciudadela La Ferrière beteiligt und wird dabei wiederum Zeuge des Niederganges der Herrschaft des absolutistischen Christophe, welcher den meuternden Soldaten seines Hofes und den Aufständischen durch Suizid entgeht. Die nächste Form der Herrschaft und Unterdrückung nimmt Ti Noel, zurückgekehrt zu den Ruinen der Plantagen und haciendas der ehemaligen französischen Kolonialherren, im Moment ihrer Entstehung wahr und erlebt auch hier die Unmöglichkeit einer gewaltfreien Gemeinschaft: Mackandal no había previsto esto del trabajo obligatorio. Tampoco Bouckman, el jamaiquino. Lo de los mulatos era novedad en que no pudiera haber pensado José Antonio Aponte, decapitado por el marqués de Someruelos, cuya historia de rebeldía era conocida por Ti Noel desde sus días de esclavitud cubana. De seguro que ni siquiera Henri Christophe hubiera sospechado que las tierras de Santo Domingo irían a propiciar esa aristocracia entre dos aguas, esa casta cuarterona, que ahora se apoderaba de las antiguas haciendas, de los privilegios y de las investiduras. El anciano alzó los ojos llenos de nubes hacia la Ciudadela La Ferrière. Pero su mirada no alcanzaba ya tales lejanías. El verbo de Henri Christophe se había hecho piedra y ya no habitaba entre nosotros. De su persona prodigiosa sólo quedaba, allá en Roma, un dedo que flotaba en un frasco de cristal de roca, lleno de agua de arcabuz.581

Das Erzählen wechselt in ständiger Abkehr und Wiederkehr von einzelnen Figuren und episodenhaften Geschehnissen, womit die Herstellung der Vorstellung ständiger Übergänge und einer fluiden raum-zeitlichen Erfahrung vorangebracht wird, die vor allem den zum Protagonisten entwickelten Ti Noel betrifft. Dieser nimmt auf seinen Reisen, Wanderungen und Metamorphosen immer die hacienda – zuerst als aufstrebenden Teil der Insel, dann als Raum des Widerstandes und später als Ruine verwüstet – in den Blick und trägt diese im Prozess ihres Niederganges als verlorenen und in diesem Sinne auch familiären Raum mit sich. Inmitten aller Veränderung durch Umstürze und wechselnde Regime bleibt dieser Raum als Konstante angelegt, die als solche die Gewalt und die Imagination eines Wunders zugleich vermittelt. Dieser erzählerische Prozess zwischen dem Imaginären und der konkreten Erfahrung der Unterdrückung und Gefangenschaft ist deshalb am ehesten als Entwicklung zu beschreiben, weil dieser Protagonist erst später vom Hörer der Geschichten zu Beginn der Erzählung von El reino de este mundo zum Akteur und schließlich zum Herrn seines eigenen Lebens und seiner eigenen Welt wird. Dies zeigt sich insbesondere am bereits 580 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2, S. 80. 581 Ebd., S. 114f.

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betrachteten Ende der Geschichte, auch wenn dieses unentscheidbar erzählt ist und sich eine Vielzahl an Möglichkeiten bietet, dieses vieldeutige Ende für die hier im Vordergrund stehenden Imaginarien des Bösen fruchtbar zu machen. Die paradoxe Verflechtung der räumlichen Bindung mit nomadischen Bewegungen soll im folgenden Kapitel anhand des narrativen Kontrapunktes des real maravilloso als real horroroso nachvollzogen werden. So wird ersichtlich, wie die Programmatik des Prologs in widerstrebender und widerständiger Art und Weise im erzählerischen Programm der Geschichte umgesetzt wird. Der Vodou, der im gesamten Roman als Mittel des Widerstandes affirmiert wird – zuerst gegen das französische Kolonialregime und später gegen den selbstermächtigten Monarchen Henri Christophe –, ist für die narrative Herstellung der Vorstellung des Bösen nur eingeschränkt von Bedeutung. Schließlich, so gilt es zu zeigen, liegt die Herstellung der Vorstellung der Imaginarien des Bösen in El reino de este mundo eher in den Möglichkeiten einer Raumerzählung, die das Wunder und den Horror kontrapunktisch vermittelt.

7.2

Lo real maravilloso/horroso582 : Kontrapunkte der Imaginarien des Bösen

Auch in den folgenden Beobachtungen wird zu zeigen sein, wie sich durch den entangled narrator die Verflechtung von Narrativen des Raumes und der Imaginarien des Bösen nachvollziehen lässt. Es ist dabei zunächst grundlegend, die poetologische Komponente und den Zugriff auf Elemente des Wunders bzw. des Wunderbaren im Erzählen von El reino de este mundo offenzulegen.583 Wie bereits dargelegt, erzeugt das Vorhaben einer Gegenüberstellung der afro-karibischen Welt der Sklaven mit der der weißen Kolonisatoren in sich Widersprüche im Vorhaben, ein imaginäres und imaginiertes Reales als ›wunderbar‹ abzubilden, d. h. zu imitieren. Ist es die (nachträgliche) Absicht Carpentiers, einen 582 Auf die Bezeichnung lo real horroso im Zusammenhang mit lo real maravilloso konnte Carpentier laut einer Anekdote in Erwiderung auf den kritischen Einwand eines Studenten selbst eingehen. Vgl. ders., Obras Completas Vol. 14 2004, S. 214. 583 Paul B. Miller gelingt dies sehr überzeugend anhand der musikalischen Elemente des Erzählens und der Erzählung, neben dem bereits hervorgehobenen Kontrapunkt: »The narrative recurrence to music as a vehicle for expressing this absolut incongruence renders the split incomplete, since music […] is a metonymic device, suggesting a formal or inherent comparability even if the result is contrastive. In other words, despite the enormous differences between Afro-Caribbean and European conceptions of music, the very category of music is what brings the two sides of the equation into the same semantic field. Blancas (half notes) and negras (quarter notes) are visually antithetical, but, like the opposing voice of a fugue, are united within the totality of musical staff.« Ders., Elusive Origins: The Enlightenment in the Modern Caribbean Historical Imagination 2010, S. 41–53, hier: S. 51.

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Eingang in die Geschichte der Amerikas zu finden, im Entwurf des Realen das Wunderbare herauszustellen, dann scheint dies jedoch nur über die Herstellung der Vorstellung des Bösen als Teil dieser wunderbaren Wirklichkeit möglich, die Carpentier im Prolog in den Ruinen der ehemaligen Kolonie und Sklavenhaltergesellschaft entdeckt: A fines del año 1943 tuve la suerte de poder visitar el reino de Henrí Christophe – las ruinas, tan poéticas, de Sans-Souci; la mole, imponentemente intacta a pesar de rayos y terremotos, de la Ciudadela La Ferrière – y de conocer la todavía normanda Ciudad del Cabo – el Cap Françáis de la antigua colonia –, donde una calle de larguísimos balcones conduce al palacio de cantería habitado antaño por Paulina Bonaparte. Después de sentir el nada mentido sortilegio de las tierras de Haití, de haber hallado advertencias mágicas en los caminos rojos de la Meseta Central, de haber oído los tambores del Petro y del Rada, me vi llevado a acercar la maravillosa realidad vivida a la acotante pretensión de suscitar lo maravilloso que caracterizó ciertas literaturas europeas de estos últimos treinta años.584

Anders formuliert: Das wirklich Wunderbare ist in erster Linie in Imaginationen des Bösen bzw. in kontrapunktischen Erzählräumen zu finden, die das Wunder und den Horror als verflochten erscheinen lassen, weil es entsprechend der Vorstellung der Räume von El reino de este mundo multiple Positionen und Perspektiven auf die Welt, und damit letztlich in der historiographischen Imagination, die dieser Roman entwickelt, ja überhaupt mehr als eine Welt zu betrachten gibt.585 Dem Prolog von El reino de este mundo ist ebenfalls ein Epigraph vorangestellt, das das Problem näher spezifiziert: »… Lo que se ha de entender desto de convertirse en lobos es que hay una enfermedad a quien llaman los médicos manía lupina …«586 So wird Cervantes bzw. einer der Erzähler aus Cervantes’ Los trabajos de Persiles y Segismunda zitiert. Die damit angesprochene Lykanthropie wird damit nicht allein als Leitmotiv in Bezug auf das Siglo de Oro vorangestellt, sondern überhaupt als die Möglichkeit vorausgesetzt, Imaginarien des Bösen in Verbindung mit der historiographischen Imagination von Herrschaft und Macht

584 Ebd., S. 13. 585 Siehe dazu auch grundlegend Joan Dayan, Haiti, History and the Gods 1998. Die Autorin stellt darin die Rolle der Haitianischen Revolution und die diesem Ereignis zugrundeliegende Gewalt als narrativ für das Erzählen des kolonialen Terrors in der Karibik heraus. Siehe ferner Lizbeth Paravisini-Geberts Einführung zur postkolonialen Gothic-Literatur der Karibik; auch wenn hier keine Gothic-Elemente untersucht werden, sind diese als allgemeiner Hinweis auf die Zusammenhänge von Sklaverei, Revolution und den Imaginarien des Bösen zu verstehen. Dies., »Colonial and postcolonial Gothic: the Caribbean.« In: Jerrold E. Hogle (Hg.), Cambridge Companion to Gothic Fiction 2002, S. 229–257. 586 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2, S. 13.

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zu ermöglichen und über das Sujet der Sklaverei zu entwickeln.587 Carpentier lenkt jedoch alle Aufmerksamkeit des Prologs zunächst auf das Wunder; die Wirklichkeit der Imagination des Bösen ist der Erzählung ausgehend von diesem Prolog und in den kulturellen Bezugnahmen eingeschrieben. Herlinghaus bemerkt zur Lykanthropie: »Literarisch werden aus übernatürlichen Vorgängen natürliche, was der Gebrauch eines der klassischen Motive fantastischer Literatur […] anschaulich macht. Doch Carpentier meidet von vornherein das Abnorme (Schreckliche, Bestialische) der Verwandlungen; sie werden aufgrund ihrer realhistorischen Funktion künstlerisch legitimiert.«588 Eine realhistorische Funktion des Wunders gehört zweifellos zum Projekt der historiographischen Imagination, die Carpentier legitimieren möchte und die ihm als Herstellung der Vorstellung des real Wunderbaren dienen soll. Hier ist es jedoch notwendig, zu differenzieren, denn der entangled narrator lässt die Lykanthropie und Metamorphosen Mackandals und Ti Noels nicht als Figuration des Bestialischen und Monströsen erscheinen; die Verwandlung vom Mensch in eine Mücke, Gans oder Ameise – niemals in einen Wolf – wird fließend vollzogen und stets aufgewertet, da sie im Sinne des Gebrauchs der VodouReligionen in der Erzählung als Praxis des Widerstandes gegen Formen gewaltsamer, willkürlicher und totalitärer Herrschaft fungiert. Anders sieht es jedoch aus, wenn Gewalt nicht aus dem Erleben des Wunderbaren der Anderen im Detail einer barocken Betrachtung erzählt wird. Der Prolog allein in ist in vielen Passagen bereits drastisch und wird in einer grotesken Monstrosität auf die Erzählung übertragen, sobald die Figuren als Akteure der Gewalt dargestellt werden. Die Übertragung der Programmatik des Prologs ist in dieser Hinsicht in sich selbst transgressiv, d. h., sie affirmiert das Ziel und den Gegenstand der Kritik (den Surrealismus) und steigert den wirklichen Horror zusätzlich. Der entangled narrator ist in diesem Zusammenhang auch als dynamische Autorität zu verstehen, die ein Oszillieren der Differenzierung nicht

587 Vgl. dazu auch Jacques Derrida, The Beast and the Sovereign Volume 1 2009, S. 9ff.: »[O]ne cannot be interested in the relation of beast and sovereign, and all the questions of the animal and the political, of the politics of the animal, of the man and the beast in the context of state, the polis, the city, the republic, the social body, the law in general, war and peace, terror and terrorism, […] etc., without recognizing some privilege to the figure of the ›wolf‹; and not only in the direction of a certain Hobbes and the fantastic, phantasmic, insistent, recurrent alteration between man and wolf, between the two of them, the wolf for man, man for the wolf, man as wolf for man, man as humankind, […] within his human space, to give himself, to represent or recount to himself this wolf story, to hunt the wolf by making it come, tracking it […] in a fantasy, a narrative, a mytheme, a fable, a trope, a rhetorical turn, where man calls himself the story of politics, the story of the origin of society, the story of the social contract, etc.: for man, man is a wolf.« 588 Hermann Herlinghaus, Alejo Carpentier 1991, S. 97.

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nur als solches inszeniert, sondern es zum Objekt und Problem der eigenen Erzählung macht.589 Nachvollziehen lässt sich dies zunächst im Bezug zu der Figur, die sich als Protagonist der Erzählung herausstellt, während der entangled narrator sie bei der nomadischen Wanderung zwischen den Inseln und unterschiedlichen Welten in einer Innensicht und Außensicht begleitet. So präsentiert dieser Erzähler gleich zu Beginn jedwede Kritik und re-inszeniert in der Vorstellung der »Unmengen von Köpfen an jenem Morgen« – »la abundancia de cabezas aquella mañana«590 –, an dem der Sklave Ti Noel im Hafen im Vertrauen seines Besitzers ein Pferd kauft, eine dichte Bildsequenz, die surrealistische, kinematographische und photographische Montagetechniken der gleichzeitigen Überblendung von ähnlichen Bildern und Motiven suggeriert, die gewaltsamen Aufstände impliziert und teils als kannibalistische Akte vorstellt:591 Mientras el amo se hacía rasurar, Ti Noel pudo contemplar a su gusto las cuatro cabezas de cera que adornaban el estante de la entrada. Los rizos de las pelucas enmarcaban semblantes inmóviles, antes de abrirse, en un remanso de bucles, sobre el tapete encarnado. Aquellas cabezas parecían tan reales […] como la cabeza que un charlatán de paso había traído al Cabo, años atrás […]. Por graciosa casualidad, la tripería contigua exhibía cabezas de terneros, desolladas, con un tallito de perejil sobre la lengua, que tenían la misma calidad cerosa […].592

Im Folgenden wird zudem ersichtlich, wie die gesamte Szenerie des Hafenraumes als Kontrapunkt der Vorstellung und der Wahrnehmung Ti Noels markiert ist, die der entangled narrator als Dekadenz der Kolonialgesellschaft näherbringt, während gleichzeitig vermittelt wird, dass Ti Noel sich als Sklave nicht als untergeordnet wahrnimmt, obwohl er gewaltsam unterworfen bleibt: Das kannibalische Mahl, das er bei der Betrachtung der Köpfe und Tiereingeweide imaginiert, ist Widerstand im Raum der Imagination. Trotz der Dekadenz herrschen diejenigen, dessen Souveräne nicht befugt sind, Rechtsstreitigkeiten zu klären, und unfähig sind, selbstständig zu jagen.593 Eingeschlossen ist damit auch gleich 589 Man kann auch bereits hier im Sinne Albrecht Koschorkes von einer Position des Dritten sprechen. Vgl. ders., »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften«, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2010, S. 9–31. 590 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 22. 591 Vgl. dazu auch Carlos Jáuregui, Canibalia. Canibalismo, calibanismo, antroprofagia cultural y consumo en América Latina 2005, S. 693–694. Auch wenn Jáuregui dieselbe Szene eher als Rückkehr zu stereotypen Bildern des »principio africano« betrachtet, zeigt dieses doch eher deutlich die Uneindeutigkeit der Imaginarien des Bösen auch im Rückgriff auf das Dispositv des Kannibalismus. 592 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2, S. 21f. 593 »En Francia, en España, en cambio, el rey […] era incompetente para dirimir litigios […].« Ebd., S. 24.

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zu Beginn der Hinweis auf die Beziehung von Ti Noel zur Tierwelt, wie sie in den späteren Vodou-Praktiken vertieft wird. Aber mehr noch: Menschen und Tiere haben hier einen direkten Bezug zu Imaginarien von Herrschaft, Macht und Souveränität. Diese Kontinuität der Problematisierung betrifft nicht nur den Surrealismus, sondern auch die Vorgänger der Avantgarde. So heißt es zunächst im Prolog: »Hay todavía demasiados adolescentes que hallan placer en violarlos cadáveres de hermosas mujeres recién muertas (Lautreamont), sin advertir que lo maravilloso estaría en violarlas vivas.«594 Das Kapitel »La llamada de los caracoles«595 ist damit in monströser Weise verbunden, da dieses zum einen das kontrapunktische Erzählen umsetzt – in den Muscheln, die als Blashörner den Beginn eines Aufstandes der Sklaven ankündigen, während das Signal von den Herren nicht verstanden wird – und zusätzlich die kulturelle Opposition und den gegenseitigen Ausschluss von Weiß und Schwarz markiert, wobei ebenfalls – und hier verflochten – im Kontrapunkt von der Gewalt der Weißen und Sklaven gegeneinander erzählt wird. So steht am Beginn des Kapitels Monsieur Lenormand de Mezy, der danach trachtet, junge Sklavinnen zu vergewaltigen, im Moment des – wörtlichen – Hereinbrechens des Aufstandes über die hacienda, während Ti Noel inmitten des Aufstandes mit seinen Söhnen die zweite Frau des Herrn verfolgt, um diese zu vergewaltigen.596 Zu konstatieren ist, dass der entangled narrator das Wunder des real maravilloso in einen ständigen Kontrast und narrativen Kontrapunkt zur Gewalt und den sich abwechselnden postkolonialen Herrschaftsregimen stellt. Dabei verfolgt dieser Erzähler eine doppelte Strategie: Einerseits stellt er die Praktiken des Vodou als Produzent und Funktion des Wunders (und damit affirmativ als Unterstützung), später das Gelingen und letztlich die Ausführung der Herrschaft – der Despotie Henri Christophes – dar. Andererseits figuriert dieses ›Wunderbare‹ als konstitutives Element der in erzählerischen Zyklen und Handlungsgeographien nahegelegten Geschichte als Prozess eines sich permanent wiederholenden manichäischen Konfliktes zwischen Kolonisatoren und Sklaven, Herrschern und Beherrschten, Herrschaft und Widerstand. 594 Ebd., S. 14. 595 Ebd., S. 53ff. 596 »Serían las diez de la noche cuando Monsieur Lenormand de Mezy, amargado por sus meditaciones, salió al batey de la tabaquería con el ánimo, de forzar a alguna de las adolescentes que a esa hora robaban hojas en los secaderos para que las mascaran sus padres. Muy lejos, había sonado una trompa de caracol. […]« / »Sin meterse en la turbamulta, Ti Noel pegó la boca, largamente, con muchas bajadas de la nuez, a la canilla de un barril de vino español. Luego, subió al primer piso de la vivienda, seguido de sus hijos mayores, pues hacía mucho tiempo ya que soñaba con violar a Mademoiselle Floridor, quien, en sus noches de tragedia, lucía aún, bajo la túnica ornada de meandros, unos senos nada dañados por el irreparable ultraje de los años.« Ebd., S. 53 u. 55.

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Der Kontrast zwischen der Beobachtung des Prologs und der narrativen Modellierung der Vorstellung der Ciudadela La Ferrière zeigt dies in gleich mehrfacher und kondensierter Weise. So wird einleitend die Ruine des Festungsbaus direkt mit der Vorstellung des Wunders und des Wunderbaren verbunden und dient somit nicht nur als Einleitung, sondern zudem als konstitutives Element der dargelegten poetologischen Programmatik. Im letzten Drittel des Prologs wird die Festung erneut genannt und beschrieben: Había estado en la Ciudadela La Ferrière, obra sin antecedentes arquitectónicos, únicamente anunciada por las Prisiones Imaginarias del Piranese. Había respirado la atmósfera creada por Henri Christophe, monarca de increíbles empeños, mucho más sorprendente que todos los reyes crueles inventados por los surrealistas, muy afectos a tiranías imaginarias, aunque no padecidas. A cada paso hallaba lo real maravilloso.597

Der Ciudadela La Ferrière wird gerade im dritten und damit vorletzten Teil der Erzählung, der die Reise Ti Noels beschreibt, viel Platz in der Geschichte eingeräumt. Dabei wird diese Festung aus unterschiedlichen Perspektiven beobachtet und somit die Herstellung der Vorstellung eines irrealen Raumes der Gewalt und der Kontinuität der Unterdrückung dargestellt. Das Wunder des Prologs weicht so der positiven Affirmation des Prologs zugunsten einer Perspektive, die von außen in das Innere eindringt. Pronto supo Ti Noel que esto duraba ya desde hacía más de doce años y que toda la población del Norte había sido movilizada por la fuerza para trabajar en aquella obra inverosímil. Todos los intentos de protesta habían sido acallados en sangre. Andando, andando de arriba abajo de abajo arriba, el negro comenzó a pensar que las orquestas de cámera de Sans-Souci, el fausto de los uniformes y las estatuas blancas desnudas que se calentaban al sol sobre sus zócalos de amocárabes, entre los bojes tallados de los canteros, se debían a una esclavitud tan abominable como la que había conocido en la hacienda de Monsieur Lenormand de Mezy.598

Der entangled narrator ist zunächst nahe an Ti Noels Sicht orientiert, welcher sich nach Gefangenschaft und Zwangsarbeit plündernd aus dem Palast des toten Henri Christophe zurückzieht. Dieser Palast ist somit Gefängnis und Schloss zugleich und mehr noch, wie der entangled narrator in seiner Beobachtung darlegt: En aquella mole de ladrillos tostados, levantada más arriba de las nubes con tales proporciones que las perspectivas desafiaban los hábitos de la mirada, se ahondaban túneles, corredores, caminos secretos y chimeneas, en sombras espesas. Una luz de acuario, glauca, verdosa, teñida por los helechos que se unían ya en el vacío, descendía sobre un vaho de humedad de lo alto de las troneras y respiraderos. Las escaleras del infierno comunicaban tres baterías principales con la santabárbara, la capilla de los 597 Ebd., S. 16. 598 Ebd., S. 83.

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artilleros, las cocinas, los aljibes, las fraguas, la fundición, las mazmorras. En medio del patio de armas, varios toros eran degollados, cada día, para amasar con su sangre una mezcla que haría la fortaleza invulnerable.599

Mit dem letzten Satz ist auch hier nochmals der Hinweis gegeben, dass Christophes Herrschaft nicht als bloße Fortsetzung und/oder Variation eines Absolutismus europäischer Prägung zu verstehen ist, weil er auch unter dem Schutz und im Namen des Pantheons der Orishas regiert und dadurch den SanteríaGlauben mit den Vodou-Praktiken der Karibik in seine Herrschaft integriert hat. Vodou und Wunder sind insofern nicht allein als Affirmation des Widerstandes zu verstehen, sondern haben einen funktionalen Anteil an der Gewaltherrschaft: La sangre de toros que habían bebido aquellas paredes tan espesas era de recurso infalible contra las armas de blancos. Pero esa sangre jamás había sido dirigida contra los negros, que al gritar, muy cerca ya, delante de los incendios en marcha, invocaban poderes a los que se hacían sacrificios de sangre. Christophe, el reformador, había querido ignorar el vodú, formando, a fustazos, una casta de señores católicos. Ahora comprendía que los verdaderos traidores a su causa, aquella noche, eran San Pedro con su llave, los capuchinos de San Francisco y el negro San Benito, con la Virgen de semblante obscuro y manto azul, y los Evangelistas, cuyos libros había hecho besar en cada juramento de fidelidad.600

Der Glaube, den das Wunder voraussetzt, ist insbesondere im Narrativ der Festung als Kulmination der Herrschaft aller Herrschaften und Christophe als Souverän aller Souveräne angelegt. Das Wunder der Festung, ihre Irrealität, ihre groteske Konstruktion aus Tier- und Menschenopfern, wird dargestellt, nur um in der Folge und Abfolge eines weiteren Glaubens überboten zu werden. Was einst Aufstand und Revolution bedeutet hat, wurde in der Folge in Unterdrückung und Ausbeutung transformiert. In diesem Prozess der narrativen Verflechtung wird Christophe nach dem Suizid, den er im Wahn, in Krankheit und aus Furcht vor den meuternden Soldaten des Palastes begeht, zu Stein, und sein lebloser Körper wird nach und nach von der trocknenden Masse bedeckt, die zum Aufbau seiner Festung genutzt wurde.601 Diese Festung, die somit den 599 Ebd., S. 81. Bei der ersten Beschreibung der Festung findet auch der Vergleich mit der Malerei Piraneses, der bereits im Prolog angedeutet wurde, seinen Platz: »Sobre ejes de carretas empotrados en las murallas se afianzaban los puentes volantes por los cuales el ladrillo y la piedra eran llevados a las terrazas cimeras, tendidas entre abismos de dentro y de fuera que ponían el vértigo en el vientre de los edificadores. A menudo un negro desaparecía en el vacío, llevándose una batea de argamasa. Al punto llegaba otro, sin que nadie pensara más en el caído. Centenares de hombres trabajaban en las entrañas de aquella inmensa construcción, siempre espiados por el látigo y el fusil, rematando obras que sólo habían sido vistas, hasta entonces, en las arquitecturas imaginarias del Piranese.« Ebd., S. 82. 600 Vgl. ebd., S. 96. 601 »Después, obedeciendo una orden, los pajes colocaron el cadáver sobre el montón argamasa, en el que empezó a hundirse lentamente, de espaldas, como halado por manos viscosas. El

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Glauben an das Wunder versinnbildlicht und für Carpentier die Erfahrung des real maravilloso initiiert, ist für den entangled narrator seiner Erzählung zugleich das Imaginarium tyrannischer Herrschaft, die zuvor wieder durch die Einmauerung von Cornejo Breille, Erzbischof der Ciudad del Cabo, kontrapunktisch durchbrochen wird. Der Akt der Einmauerung wird aus der Sicht Ti Noels und einer anonymen Masse der Einwohner:innen erzählt und hüllt die einst lebendige Stadt in Stille angesichts des Wissens um das Grab des lebendig Begrabenen. Ti Noel, der zuvor zur Ruine der hacienda zurückgekehrt ist, als kenne er keinen Ort als den der Gewalt und Befreiung zugleich,602 nimmt nun die Stadt als einen Ort der lebendigen Toten wahr: Ti Noel sentía que un gran frío se le iba metiendo en la médula de los huesos. Y añoraba grandemente aquellos frascos de otros tiempos – los del sótano de la hacienda –, cuadrados, de cristal grueso, llenos de cáscaras, de hierbas, de moras y berros macerados en alcohol, que despedían tintas quietas de muy suave olor. […] Pero Ti Noel halló a la ciudad entera en espera de una muerte. Era como si todas las ventanas y puertas de las casas, todas las celosías, todos los ojos de buey, se hubiesen vuelto hacia la sola esquina del Arzobispado […].603

Sowohl Henri Christophe, »lebendig begraben« in der Festung, die er nur als lebloser Stein verlassen kann, als auch der von Henri Christophe lebendig begrabene Erzbischof, der die ehemalige Kolonie Haiti nicht verlassen kann, bleiben als Kontrapunkte der wechselnden und sich überbietenden Herrschaft bestehen, die die Imaginarien des real maravilloso und real horroroso miteinander verflechten. Neben der Darstellung des Kolonialregimes der französischen Aristokratie und ihrer Version einer Sklavenhaltergesellschaft inmitten der Aufklärung, die bereit ist, die Sklaven nach den Aufständen und der allgemein herrschenden Dekadenz in der vom entangled narrator dargestellten Atmosphäre aus Fest, Orgie und Massenmord auszulöschen,604 sowie dem tyrannischen Regime des cadáver se había arqueado un poco en la subida, al haber sido recogido, tibio aún, por los servidores. Por ello desaparecieron primero su vientre y sus muslos. Al fin el cadáver se detuvo, hecho uno con la piedra que lo apresaba. Después de haber escogido su propia muerte, Henri Christophe ignoraría la podredumbre de su carne, carne confundida con la materia misma de la fortaleza, inscrita dentro de su arquitectura, integrada en su cuerpo haldado de contrafuerte.« Ebd., S. 100f. 602 Der Erzähler vergleicht die hacienda gar mit dem Raum von Ti Noels Geburt: »Entre los que dejaron marchar por ser menos útiles se escurrió Ti Noel, una mañana, sin volver la cabeza hacia la fortaleza ya limpia de andamios por el flanco de la Batería de las Princesas Reales […] sólo ansiaba instalarse sobre las antiguas tierras de Lenormand de Mezy, a las que regresaba ahora como regresa la anguila al limo que la vio nacer.« Ebd., S. 85. 603 Ebd., S. 86. 604 Viele Zitate der Passagen über die Zeit der Aufstände könnten hier angeführt werden, da diese in dichter Folge erzählt werden: »La colonia iba a la ruina. Los negros habían violado a

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Henri Christophe als erstem König nach der eigentlichen Revolution – die der Erzähler ausspart – und der angedeuteten und ebenfalls gewaltvollen Herrschaft der »mulatos«, die als Feldmesser insektenartig Besitz von der Insel ergreifen, gilt es, die Figur Ti Noel inmitten aller Wandlungen zu betrachten. Denn nicht allein die Gewalt, entwickelt über die Verbindungen der wechselnden dehumanisierenden Regime, ist Thema und narrativer Kontrapunkt der Geschichte. Auch Ti Noel figuriert die Verflechtung von Wunder und Gewalt, die als Kontrapunkt der Erzählung Imaginarien des Bösen bietet. Die Figur Ti Noel wird in diesem Sinne vom entangled narrator als trickster und somit als eine Figur des Dritten der Erzählung inszeniert, in deren Verlauf er nicht nur passiver Zeuge und Opfer von Gewalt ist. Der entangled narrator arrangiert dieses Leben als nomadische Transgression und Verdichtung einer Liminalität in extremen Formen: »ziellose Reisen, Fluktuation und Turbulenz, Statusumkehrungen, Travestie und Spott; Verwandlungsfähigkeit und Unbestimmtheit; Geschlechtswechsel, Verwilderung und Erniedrigung durch das eigene Bewusstsein.«605 Die Bestimmung, die Erhard Schüttpelz zur Reflexion über die Figur des trickster anbietet, bringt zudem den entscheidenden Vorteil, dass er diese Reflexion über die Gottheit Eshu-Elegba/Legba anregt, welche wiederum einen der zentralen Vermittler des Yoruba (Kuba) bzw. Vodou (Haiti) darstellt und als Herr über Kreuzungen und Zugangsräume im Allgemeinen eine zentrale Rolle im narrativen Aufbau von Struktur und Anti-Struktur in El reino de este mundo zugewiesen bekommt. So heißt es bei Schüttpelz weiter: »Die Frage nach dem Trickster wird zur Frage nach dem Wesen und der inneren Begrenzung jeder narrativen Vermittlung von Gegensätzen, ihr steht eine unendliche Flucht von Äquivalenten zur Verfügung […]. [D]ie Vermittlerfiguren (und die Tricksterfiguren) behalten eine unüberwindliche kategoriale und moralische Zweischneidigkeit.«606 Ti Noel bietet im Verlauf seines nomadischen Lebens eine Vielzahl an »Zweischneidigkeiten« an, die es erschweren, von einem gegenseitigen Ausschluss zu sprechen, und erneut das Paradox eines einschließenden Ausschlusses casi todas las señoritas distinguidas de la Llanura. Después de haber destrozado tantos encajes, de haberse refocilado entre tantas sábanas de hilo, de haber degollado a tantos mayorales, ya no habría modo de contenerlos. Monsieur Blanchelande estaba por el exterminio total y absoluto de los esclavos, así como de los negros y mulatos libres. Todo el que tuviera sangre africana en las venas, así fuese cuarterón, tercerón, mameluco, grifo o marabú, debía ser pasado por las armas.« Ebd., S. 56. 605 Vgl. Erhard Schüttpelz, »Der Trickster«, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2011, S. 208–224. Hier: S. 222. Zur Diskussion des trickster im weltliterarischen Zusammenhang siehe ders., Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960) 2005. 606 Erhard Schüttpelz, »Der Trickster« 2015, S. 214f.

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in die narrative Vermittlung zurückbringen bzw. dieses fortschreiben, weil das Wunder des maravilloso mit dem horror ebenfalls eine Verbindung von Einschluss und Ausschluss eingegangen ist. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass es Ti Noel ist, der zu Beginn des Aufstandes im Gefolge von Mackandal das Gift seines »anderen Meisters« in die Ställe der Tiere bringt und damit eine Epidemie unter den weißen hacienda-Besitzern initiiert.607 Auch die schon angeführte Vergewaltigungsszene nach dem Aufstand findet eine Fortsetzung im Sinne des trickster: Un pequeño polvorín acababa de volar hacia la Encrucijada de los Padres. El amo se acercó a la casa, pasando junto al cadáver hinchado del contador. Una horrible pestilencia venía de las perreras quemadas: ahí los negros habían saldado una vieja cuenta pendiente, untando las puertas de brea para que no quedara animal vivo. Monsieur Lenormand de Mezy entró en su habitación. Mademoiselle Floridor yacía, despatarrada, sobre la alfombra, con una hoz encajada en el vientre. Su mano muerta agarraba todavía una pata de la cama con gesto cruelmente evocador del que hacía la damisela dormida de un grabado licencioso que, con el título de El Sueño, adornaba la alcoba.608

Diese zunächst aus der Sicht Lenormand de Mezys geschilderte Szene kommentiert der Erzähler dann mit einem Vergleich, der die Betrachtung der hingerichteten Frau des Sklavenhalters in einen makabren Kommentar steigert, der nicht notwendigerweise an die Sicht von de Mezy gebunden sein muss, aber in jedem Fall auf die Schändung durch Ti Noel und seine Söhne zurückverweist. Damit wird ihre Grausamkeit herausgestellt, die im Moment der Ausführung zunächst keine Erwähnung fand. Hervorstechend ist diese nachträgliche Inszenierung der Schändung zudem deshalb, weil sie im episodenhaften Erzählen direkt mit jener Episode verbunden ist, die davon berichtet, wie Ti Noel von seinem Herrn vor dem Tod bewahrt wird, auch wenn diese »Rettung« in Abschätzung des ökonomischen Wertes Ti Noels erfolgt.609 Der auffällige Kontrast zwischen der Ermordung der Frau von de Mezy und der Rettung des Mörders durch de Mezy setzt sich in der Flucht des Kolonisten nach Santiago de Cuba fort. Ti Noel befindet sich unter den Sklaven, die er mitnehmen kann, um sie dann in 607 »Ti Noel se enteró ese día de lo que el manco esperaba de él. Aquel mismo domingo, cuando volvía de misa, el amo supo que las dos mejores vacas lecheras de la hacienda – las coliblancas traídas de Rouen – estaban agonizando sobre sus boñigas, soltando la hiel por los belfos. Ti Noel le explicó que los animales venidos de países lejanos solían equivocarse en cuanto al pasto que comían, tomando a veces por sabrosas briznas ciertos retoños que les emponzoñaban la sangre.« Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 33. 608 Ebd., S. 56. 609 »El amo llegó a tiempo para impedir que Ti Noel y doce esclavos más, marcados por su hierro, fuesen amacheteados en el patio del cuartel, donde los negros, atados de dos en dos, lomo a lomo, esperaban la muerte por armas de filo, porque era más prudente economizar la pólvora. Eran los únicos esclavos que le quedaban y, entre todos, valían por lo menos seis mil quinientos pesos españoles en el mercado de La Habana.« Vgl. ebd., S. 56f.

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Cuba zu verkaufen. Auf der Insel ist Ti Noel wiederum Zeuge der Kriegsvorbereitungen gegen die Aufständischen, zu denen er bis dahin selbst zählte, und bewegt sich somit selbst inmitten derjenigen, die massenhaft Hunde in die Stadt bringen, um sie für die Menschenjagd einzusetzen: Una mañana el puerto de Santiago se llenó de ladridos. Encadenados unos a otros, rabiando y amenazando tras del bozal, tratando de morder a sus guardianes y de morderse unos a otros, lanzándose hacia las gentes asomadas a las rejas, mordiendo y volviendo a morder sin poder morder, centenares de perros eran metidos, a latigazos, en las bodegas de un velero. – ¿Adonde los llevan? – gritó Ti Noel a un marinero mulato que estaba desdoblando una red para cerrar una escotilla. – ¡A comer negros! – carcajeó el otro, por encima de los ladridos.610

Der entangled narrator vermittelt in diesen Episoden, wie es Ti Noel gelingt, sich aus jeder Form der Gefangenschaft und auch der Gefahr, die diese für ihn bedeutet, zu befreien, und wie er sich nach der lebenslangen Wanderung durch Sklaverei, Zwangsarbeit und Vertreibung auf die hacienda von Lenormand de Mezy zurückzieht.611 Bevor aber Ti Noel aus dem Sichtfeld des entangled narrator verschwindet, richtet er sich in der Ruine mit dem Mobiliar aus dem Palast des ehemaligen Königs Henri Christophe ein und transformiert sich zudem in den zu Stein gewordenen Tyrannen, indem er diesen in seiner alten Uniform verkörpert.612 In der Gestalt eines Nomaden zwischen der Geschichte und dem Mythos der Erzählung des entangled narrators ist Ti Noel selbst als trickster613 und somit 610 Ebd., S. 63. 611 »Ti Noel era de los que habían iniciado el saqueo del Palacio de Sans-Souci. Por ello se amueblaban de tan rara manera las ruinas de la antigua vivienda de Lenormand de Mezy.« Ebd., S. 111. 612 »Pero lo que hacía más feliz al anciano era la posesión de una casaca de Henri Christophe, de seda verde, con puños de encaje salmón, que lucia a todas horas […].« Ebd. 613 In der Kombination und Überschreitung des Heiligen und Profanen in der Gestalt des Ti Noel trägt auch folgende Annäherung zur Einordnung Ti Noels als trickster-Figur bei; dabei sollte Ti Noel nicht mit der Gottheit selbst verwechselt werden, aber der narrative Bezug auf Eshu-Elegba/Legba ist in der gesamten Erzählung angelegt: »Die Tricksterfiguren dieser Welt sind vielgestaltig, und ihre Streiche sind nicht alle von der gleichen Machart. Während ›Aflakete‹ das Aktive Eshu-Elegbas betont, seine göttliche Potenz, Übermacht und Performativität, zeichnen sich die Geschichten anderer Trickster dadurch aus, dass ihnen übel mitgespielt wird, dass sie den aus ihnen hervorbrechenden Gelüsten und den Streichen anderer Mitspieler und Gegenspieler hilflos ausgeliefert bleiben oder dass sie durch ihre Unbesonnenheit ihren eigenen Anschlägen und deren unbeabsichtigten Konsequenzen zum Opfer fallen. Aber diese Vielgestaltigkeit spricht nicht gegen das Wort ›Trickster‹; man sollte es nur anders definieren, um alle diese Varianten mit zu erfassen: Trickreichtum und Ausgetrickstwerden in aktiver, passiver und reflexiver (sich selbst austricksender) Hinsicht. Und wie Eshu-Elegba sollte man das Wort vor allem als einen Beinamen verstehen, dem man Gestalt geben kann, die viele andere Namen oder Titel tragen – mitunter auch den zweideutigen oder dreideutigen Namen des ›Ausgetricksten‹.« Erhard Schüttpelz, »Der Tricks-

Lo real maravilloso/horroso: Kontrapunkte der Imaginarien des Bösen

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als eine Figur des Dritten angelegt, die zwischen den Welten der Aufklärung, der Revolution, des Voduo, des Katholizismus und der Versklavung hin- und herwandert und dabei zunehmend als Gestalt erscheint, die selbst über der Geschichte steht, die erzählt wird. Im Verlauf der Erzählung konstruiert und zersetzt der entangled narrator die Idee des Lebens des Protagonisten in Strukturen und Anti-Strukturen, Perspektivübernahmen und Gegen-Fokalisierungen. Wie der Zwischenraum des Erzählens von Beginn und Ende des Prologs und der Erzählung selbst, ist auch das Ende von El reino de este mundo mit einem weiteren Beginn markiert, der Ti Noel als trickster-Figur zur kubanischen Santería und dem haitianischen Vodou in Beziehung setzt und das Bild von Eshu-Elegba und Legba in den Imaginarien von Scheidewegen und der Naturgewalt vereint: In […] Carpentier’s The Kingdom of this World, the Caribbean wind force is the symbol for an imaginary historical revolution envisioned after Fernando Ortiz’s allegorical interpretation of Huracán as symbol for change. This change, imagined by Ortiz and by the Minoristas in the thirties and forties, had been closely associated […] with the representation of afrocubanía as an act of rebellion.614

Der Hurrikan als mythologischer Raum und als konkrete, sich wiederholende Katastrophe steht damit am Ende als Konstante und Veränderung gleichzeitig und ist als Idee des Neubeginns durch die Zerstörung narrativ in die Geschichte integriert, während er zugleich so inszeniert ist, als hätte das Ende (der Geschichte) bereits längst begonnen: En aquel momento, un gran viento verde, surgido del Océano, cayó sobre la Llanura del Norte, colándose por el valle del Dondón con un bramido inmenso. […] Todos los árboles se acostaron, de copa al sur, sacando las raíces de la tierra. Y durante toda la noche, el mar, hecho lluvia, dejó rastros de sal en los flancos de las montañas. Y desde aquella hora nadie supo más de Ti Noel ni de su casaca verde con puños de encaje salmón, salvo, tal vez, aquel buitre mojado, aprovechador de toda muerte, que esperó el sol con alas abiertas […].615

In dieser letzten Szene der Geschichte verschwindet nicht nur Ti Noel aus der Sicht des entangled narrator, sondern auch der Erzähler selbst, welcher nicht zu berichten vermag, welchen Weg Ti Noel genommen hat, und somit unentscheidbar sein Überleben des Sturms, seinen möglichen Tod durch den Hurrikan oder die Metamorphose in einen Geier nebeneinander als Möglichkeiten des Endes oder eines Beginns für Ti Noel zulässt.

ter«, in: Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma 2011, S. 208–224. Hier: S. 212. 614 Vgl. Julia Cuervo Hewitt, Voices Out of Africa in Twentieth-Century Spanish Caribbean Literature 2009, S. 108. 615 Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 119.

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Das fragmentierte Erzählen der Phasen von Aufständen und Gewalt, die sowohl ihre Umsetzung als auch ihre Niederschlagung bedeuten, ist in den erzählten Phasen des Überganges auszumachen und fällt besonders im Auslassen des historiographischen Ereignisses der Haitianischen Revolution auf, welches dann ersetzt wird durch ein Erzählen der postrevolutionären Zeit, in der sich die Regierung als neue Monarchie und tyrannische Herrschaft Henri Christophes entpuppt. Alle weiteren Verläufe bleiben episodenhaft, fragmentiert und in den räumlichen Positionen vermittelt, die es zulassen, dass von einer Geschichte der Verflechtung von utopischer und dystopischer Inselwelt gesprochen werden kann, deren Imaginarien Böses als Genese dynamischer Relationen erscheinen lassen. In einem letzten Schritt wird an diesen Weltentwurf angeschlossen, in der Absicht, die Imaginarien des Bösen im Gefüge der Macht über Leben und Tod herauszustellen.

7.3

Utopie und Dystopie der Inselwelt(en)

Die über die Beobachtung des Erzählens gewonnenen Einsichten zur Herstellung der Vorstellung der Figurenwelt in ihrem Zusammenhang mit der Darstellung ihrer Wege und ihrer Teilhabe an gewaltsamen Konflikten werden im letzten Kapitel das Verständnis der Imaginarien des Bösen auch in ihrer Verbindung zu den Imaginarien von Herrschaft ermöglichen, die El reino de este mundo in der Verwirklichung von Dystopien und dem ständigen Nichterfüllen der Entwürfe von Gesellschaft vermittelt und durch das fragmentierte Erzählen der Geschichte impliziert. Mittels der Simulation der Chronik616 des real maravilloso, die das Erzählen von El reino de este mundo charakterisiert, wird dieses »Wunderbare« durch eine doppelte Geste beschrieben: Die Historiographie als Referenzrahmen der Erzählung wird zunächst in eine Serie von Mythographien umgewandelt. Dabei helfen diese Mythen, die modellierte Geschichte zu unterlaufen, und werden im episodenhaften Erzählen von Revolten und Widerständen sowie dem Entfliehen aus der permanenten Gefangenschaft und andauernden Unterdrückung deplatziert. Hierbei ist es wichtig, zu betonen, dass El reino de este mundo eine Form künstlerischen Widerstandes und die Möglichkeit eines poetischen Gedächtnisses erzählt, basierend auf anderen Wissensformen, welche wiederum nicht auf ein angenommenes literarisches Feld begrenzt sind. Denn diese Formen anderen 616 So fragt der Autor Carpentier im Prolog zum Roman abschließend: »¿Pero que es la historia de América toda sino una crónica de lo real-maravilloso?« Ebd., S. 18. Und auch die vielfachen Hinweise auf die Chronisten und Literaturen des Siglo de Oro lassen den Roman als mit der Chronik als Narrativ verflochten erscheinen.

Utopie und Dystopie der Inselwelt(en)

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Wissens und des other writing werden nicht einfach ästhetisiert, sondern sie erweitern und welten das Literarische. In diesem Modus des Erzählens oszilliert die Chronik zwischen der Beobachtung und dem Entwurf einer Inselwelt.617 Der Kombination von entangled narrator und der trickster-Figur Ti Noel wird hierbei eine besondere Bedeutung zuteil; denn dem Roman sind Hegels philosophische Ausführungen zur Beziehung zwischen Freiheit und Geschichte eingeschrieben, zum einen intradiegetisch als Narrativ und zudem als Narrativ der politischen Imaginarien, die die Auseinandersetzungen um den von Hegel nicht genannten Einfluss der Haitianischen Revolution auf seine Philosophie einschließen.618 Der entangled narrator zeigt so, wie Ti Noel dank der Verbindung der Idee des Geistes, mittels der Praktiken des Vodou und mittels weiterer synkretistischer Glaubensformen und -praktiken zu einer Art Bewusstsein gelangt, die es ihm ermöglicht, aus der Geschichte – der erzählten und der referenziellen der Revolution – wortwörtlich herauszutreten (indem er vieldeutig und aus erzähltheoretischer Perspektive unentscheidbar verschwindet). Somit wird aus Hegels Konzept von Geschichte und Geist die Geschichte Haitis, wodurch es zu einer narrativen Inversion und polyphonen Öffnung von Hegels Philosophie der Dialektik von Herr und Knecht kommt, die zusätzlich durchquert wird.619 Julia Cuervo Hewitt formuliert dies folgendermaßen: Ti Nöel’s experiences through more than a hundred years of historical turmoil and reversals allows him to arrive by the end of the novel to a knowledge that could not be obtained through theoretical abstractions. This is a Hegelian concept that Carpentier applies to an otherwise Spenglerian Ti Nöel. At the same time, contrary to Spengler, Hegel’s concept of historical Time proposes that consciousness arrives through a series of inverted (dialectical) movements, to self-consciousness. This is the moment in which, for Hegel, consciousness arrives to Absolute Knowledge/Freedom: a moment that ›arises from our governing together.‹ […] Conscious ›becomes‹ self-consciousness only through a process of understanding, of ›becoming through experience,‹ always as a return from the ›other,‹ […] when a new consciousness arises from the old one. For Hegel, Knowledge is Freedom, and Freedom is the essence of Spirit. […] This process is a difficult phenomenological road that must be lived (experienced), not learned from books. In The Kingdom of This World this is the life-road traveled by Ti Nöel before he reaches an understanding of humanity’s being-in-the world. In this process, and 617 Siehe zur topographischen und topologischen Modellierung der Insel und des Insularen in interamerikanischen Literaturen der Karibik und Hispanoamerikas: Ottmar Ette, »Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln, Archipele und Atolle aus transarealer Perspektive«, in: Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi, Helge Wendt (Hrsg.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung 2011, S. 13–56. 618 Vgl. Susan Buck-Morss, Hegel, Haiti and Universal History 2009. 619 Oder, wie es bei Joan Dayan heißt, deren Spiel mit dem Begriff des Geistes/spirit hier besonders zutrifft: »The dispossession accomplished by slavery became the model for possession in voudou: for making a man not into a thing but into a spirit.« Dies., Haiti, History and the Gods 1998, S. 36.

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through a dialectical encounter with the other, Ti Nöel learns that the causes of human bondage are not just racial, but a condition created (as in Marx’s reading of Hegel) by economic and political power.620

Dem Umriss der Wechselbeziehungen, den die Autorin zwischen Ti Noels Entwicklung von Bewusstsein und Hegels philosophischen Ausführungen zu Freiheit, Geschichte und Geist entwirft, die an anderer Stelle zweifellos mit Oswald Spenglers621 Thesen zur Zivilisation verknüpft werden, ist grundsätzlich zu folgen. Allerdings bleibt dieser Entwurf allein an Carpentiers intellektueller Geschichte und deren Anwendung auf die Geschichte der Erzählung ausgerichtet; hier gilt es zu differenzieren, denn es ist wichtig, die erzählerische Vermittlung des entangled narrator und dessen Einbettung der trickster-Figur Ti Noel in diesen Prozess zu fokussieren. Der trickster selbst provoziert Fragen über Formen und Begrenzungen der erzählerischen Vermittlung von Gegensätzen. Der entangled narrator präsentiert dabei lo real maravilloso als mythologisches Denken, das nicht von einer A-priori-Ontologie der Kultur geleitet ist, aber selbst im trickster-Modus – »bald wohlgesinnt, bald bösartig, je nachdem«622 – zwischen Hegels Philosophie, den Ritualen Eshus (mit wechselnder symbolischer Bedeutung) und den Kräften, die mit Legba assoziiert werden (wie etwa die Metamorphosen), funktioniert. Darin fügt sich Ti Noel, wie zuvor analysiert, insbesondere ein, weil er selbst diese kulturelle mobile Logik verkörpert.623 Man kann somit im Sinne Ettes von einer »viellogischen Strukturierung der Insel wie des Insularen«624 sprechen, an welche auch die Imaginarien des Bösen in der narrativen Verflechtung des Erzählens gebunden sind. In Ergänzung dazu 620 Julia Cuervo Hewitt, Voices Out of Africa in Twentieth-Century Spanish Caribbean Literature 2009, S. 70f. 621 So spricht Carpentier im Prolog von »la presencia fáustica del indio y del negro« und verweist somit auf das Faustische als essentialistisches Kulturprinzip von Oswald Spengler. Vgl. Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. XXX. Siehe dazu ausführlicher: Richard A. Young, »El reino de este mundo y la producción del espacio histórico«, in: Rita de Maessener, Patrick Collard (Hg.), En el centenario de Alejo Carpentier (1904–1980) 2004, S. 131–144. 622 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Strukturelle Anthropologie 1967, S. 250. 623 »Embodying a culturally mobile subjectivity, Ti Noel is the spectator of a drama that he simultaneously directs and enacts. But […] he becomes fully aware of his intersticial position when, using the transformational powers learned from Mackandal, he immerses himself in another culture by joining a flock of geese. Like the anthropologist who goes native […] he learns painfully that, participation mystique notwithstanding, crossing the proscenial boundary to assume a role will not guarantee community […].« Vicky Unruh, »The Performing Spectator in Alejo Carpentier’s Fictional World«, Hispanic Review, Vol. 66, No. 1, 1998, S. 57–77. Hier: S. 70. 624 Vgl. Ottmar Ette, »Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln, Archipele und Atolle aus transarealer Perspektive«, in: Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi, Helge Wendt (Hrsg.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung 2011, S. 13–56. Hier: S. 17.

Utopie und Dystopie der Inselwelt(en)

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lässt sich das räumliche, »fraktale Muster«625 von El reino de este mundo – die hacienda – als Herstellung der Vorstellung einer »heterogenen Totalität«626 im Zusammenhang mit dem Entwurf totalitärer Ordnungen wie dem Kolonialregime, der Monarchie Henri Christophes und der am Ende der Erzählung sich abzeichnenden Herrschaft der »Mulatos Republicanos627« sehen. Diese queren selbst, Insekten gleich, als Ingenieure das Land, welches zuvor von Henri Christophe besetzt wurde, um darauf seine Festung zu bauen. In der Idee der totalitären Nutzung der Insel durch unterschiedliche, sich abwechselnde Herrschaftsformen ist letztlich wieder das Prinzip des einschließenden Ausschlusses und der Verabsolutierung des Lebens zu erkennen, das sich im Kontext dieser Untersuchung für die Herausstellung der Imaginarien des Bösen als fruchtbar erwiesen hat. Betrachtet man zunächst die folgende Beschreibung der Ciudadela La Ferrière als eine der vielen fantastischen Beschreibungen der Festung, in denen normalerweise auf den Tod der Zwangsarbeiter und Sklaven verwiesen wird,628 dann fällt auf, dass die Festung in den erzählten Imaginarien des Souveräns die Fortsetzung und Erweiterung des vorherigen Herrschaftsprinzips bedeutet und erst als Insel – und als solche wiederum in der Vorstellung einer abgeschlossenen, d. h. autarken Welt – erscheint: En caso de intento de reconquista de la isla por Francia, él, Henri Christophe, Dios, mí causa y mi espada, podría resistir ahí, encima de las nubes, durante los años que fuesen necesarios, con toda su corte, su ejército, sus capellanes, sus músicos, sus pajes africanos, sus bufones. Quince mil hombres vivirían con él, entre aquellas paredes ciclópeas, sin carecer de nada. Alzado el puente levadizo de la Puerta Única, la Ciudadela La Ferrière sería el país mismo, con su independencia, su monarca, su hacienda y su pompa mayor. Porque abajo, olvidando los padecimientos que hubiera costado su construcción, los negros de la Llanura alzarían los ojos hacia la fortaleza, llena de maíz, de pólvora, de hierro, de oro, pensando que allá, más arriba de las aves, allá donde la vida de abajo sonaría remotamente a campanas y a cantos de gallos, un rey de su misma raza esperaba, cerca del cielo que es el mismo en todas partes, a que tronaran los cascos de bronce de los diez mil caballos de Ogún.629

So sind es nicht die absolute Machtfülle und die Macht des Absoluten, die hier zu einer Verräumlichung des Bösen und ihrer Imaginarien beitragen, sondern ist es 625 626 627 628

Ebd., S. 16. Ebd., S. 34. Alejo Carpentier, Obras Completas Vol. 2 2004, S. 114. »Sobre ejes de carretas empotrados en las murallas se afianzaban los puentes volantes por los cuales el ladrillo y la piedra eran llevados a las terrazas cimeras, tendidas entre abismos de dentro y de fuera que ponían el vértigo en el vientre de los edificadores. A menudo un negro desaparecía en el vacío, llevándose una batea de argamasa. Al punto llegaba otro, sin que nadie pensara más en el caído.« Ebd., S. 82. 629 Ebd., S. 84f.

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die Vorstellung einer Maximierung des Lebens. Somit ist die räumliche Figur des Dritten in El reino de este mundo als ein Oszillieren zwischen den Polen von Leben und Tod, Herrschaft über das Leben und Befreiung aus dieser Herrschaft zu verstehen, welches die Imaginarien nicht mit Destruktion und Unterdrückung als einer Form von Todestrieb identifiziert, welcher die Auslöschung des anderen bedeutet. Sicher sind der Rassismus der Kolonialherren und der invertierte Rassenhass Christophes – er lässt nach der Revolution zunächst alle Weißen ermorden – der Ausdruck eines Willens zur totalen Dominanz; aber ein Lebenstrieb bleibt dann der extreme Wert. Dies trifft nun in provokanter Weise sowohl auf den Sklaven als auch auf den Herrscher zu. Die Verräumlichungen dieser Imaginarien des Bösen sind in der landnehmenden Bewegung der Feldmesser (Agrimensores630) nochmals nachzuvollziehen, deren plötzliches Auftreten Ti Noel letztlich an die Grenzen seiner menschlichen Existenz bringt, weshalb er sich nach seiner Flucht und der imaginierten Enteignung seines Stückes Land entscheidet, als Tier (mittels Metamorphose) unter Tieren zu leben, obwohl auch die neuen Herrscher bereits in tierischer Figuration erscheinen: Pero una mañana aparecieron los Agrimensores. Es necesario haber visto a los Agrimensores en plena actividad para comprender el espanto que puede producir la presencia de esos seres con oficio de insectos. Los Agrimensores que habían descendido a la Llanura, venidos del remoto Port-au-Prince por encima de los cerros nublados, eran hombres callados, de tez muy clara, vestidos – era preciso reconocerlo – de manera bastante normal, que desenrollaban largas cintas sobre el suelo, hincaban estacas, cargaban plomadas, miraban por unos tubos, y por cualquier motivo se erizaban de reglas y de cartabones.631

Ti Noel entwickelt somit eine Ethik des Überlebens, die von der Kritik bisher kaum als solche gewürdigt wurde. Das ständige Ineinander-Umschlagen von Utopie und Dystopie der Inselwelten erfordert die Suche nach Auswegen, wo es keine zu geben scheint. Zwar wurde bereits früh und durchaus emphatisch auf die »alternativen Räume der erzählten Lebenskulturen«632 hingewiesen; ein ethisches Bewusstsein und die darin selbst eingeschlossenen Imaginarien des Bösen wurden jedoch bisher kaum akzentuiert. 630 Ebd., S. 113. 631 Ebd., S. 113f. 632 Vgl. etwa Hermann Herlinghaus, Alejo Carpentier 1991, S. 92: »Für die Literarisierung von Belang ist weniger der faktische Aspekt des Gelingens der Rebellion, als die Entdeckung einer Lebenskultur, die Kreativität gerade in den alltäglichen Niederungen sozialer Misere zu entfalten vermag. Ihr Grundprinzip ist die Schaffung alternativer Räume (diese erlauben visionäre Betätigung) nicht einfach durch die Ablehnung der aufgezwungenen soziopolitischen Ordnung, dafür durch jene Art des Umgangs mit ihr, dessen Zwecke und Bezugspunkte […] dem herrschenden System fremd sind.«

Utopie und Dystopie der Inselwelt(en)

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Gebunden bleibt diese Ethik jedoch auch nach wie vor an die Spannungen und Widersprüche, die die Programmatik des Manifests des real maravilloso aus einer für den zu beobachtenden Raum fremden Perspektive verfasst; die Geschichte Ti Noels ist dann wiederum im Erzählen als Verflechtungsgeschichte inszeniert, die eine Beobachterposition als dynamisch und relational erfassen lässt und somit letztlich keine identitätspolitische Repräsentation von Gut gegen Böse festschreibt. Die hacienda des Kolonisten Lenormand de Mezy stellt als räumliches Imaginarium dazu selbst das zu simulierende Sujet der Sklaverei auch als erzähltes Phantasma bereit, welches die Dimensionen des Bösen als Verwirklichung eines Inneren in ein Außen verschiebt und die eigene Entgrenzung zum immer möglichen Missbrauch neuer Grenzen hin öffnet.

8.

Schluss

Der Rundgang der zurückliegenden Untersuchungen der Imaginarien des Bösen in den ausgewählten Werken hispanoamerikanischer Autoren, in denen die Amerikas von Süd nach Nord und von West nach Ost durchschritten wurden, hat Böses insbesondere als Simulationsmöglichkeit kultureller, sozialer und politischer Räume der Fiktionen aufgerufen. Die Konstellation der Untersuchung der Erzählungen entspricht zwar der Chronologie der Publikation der Werke, von 1924 bis 1970, aber die Figuration des Bösen über das Sujet der Sklaverei in diesen Werken ist verflochten mit postkolonialen Imaginarien, die über die Grenzen dieser (literatur)geschichtlichen Konstellation hinausgehen. Dabei legen diese modernen Werke ihre Narrationen und Narrative offen als Imaginarien dar und modellieren sie damit als räumliche Organisationsstrukturen. In der Perspektive dieser narrativen Verräumlichungen ließ sich ein kritischer Begriff des Bösen integrieren, der nicht als ersetzende, aber sicherlich als produktiv ergänzende Alternative zu Ansätzen der Imagination(en) bzw. Ästhetik(en) des Bösen zu verstehen ist. Die Übernahme und die Veränderung von kulturellen Praktiken wurden in kritischer Perspektive als Dynamiken des Austausches räumlich gedeutet. Die (Post-)Kolonialität und Kolonisierung – als vielschichtiger Prozess der longue durée und der Konjunkturen – sind in Verflechtungsgeschichte(n) und Verflechtungsräumen zusammengebracht worden und wurden unter Berücksichtigung spezifischer literaturkritischer Zugänge und der (bisherigen) literaturhistorischen Zusammenhänge der einzelnen Erzählungen und mit der Frage nach Imaginarien des Bösen durchdrungen. Dabei wurde gezeigt, wie in der Engführung einer modernen Verflechtungsgeschichte des Bösen in Dynamiken, Ähnlichkeiten und wiederkehrenden narrativen Verfahren auf Sklaverei rekurriert wird, eine Vielzahl von kolonialen Narrativen als residuale Imaginarien des Bösen offengelegt wird (Kannibalismus, moralische Bewertung der Aushandlungsräume, Problematisierung des Erzählraums in ethischer Hinsicht etc.) und postkoloniale Möglichkeiten der kulturellen Bezugnahme entworfen werden. Nun sind den hier untersuchten Texten

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Schluss

keine als genuin lateinamerikanisch zu verstehenden Verfahren eingeschrieben oder in diesen performativ umgesetzt. Es sind vor allem räumliche Kontaktzonen, die in den literarischen Texten narrativ vermittelt und als Codierungen des Bösen deutbar wurden. Diese narrativen Vermittlungen von fiktionalisierten Imaginationen lassen sich auch kulturwissenschaftlich deuten und kulturgeschichtlich einordnen. Kultureller Kontakt verläuft dabei nicht unidirektional. Von Machtrelationen durchdrungen, werden Vorstellungen und deren Potential von Eigenem und Fremden als Dritter Raum zum Ausdruck gebracht, der sich als Verflechtungsraum erklären lässt und sowohl negative als auch positive Effekte hat, aber dabei nie effektlos bleibt. Imaginationen des Bösen sind an räumliche Strukturen der Imagination der transkulturellen Verflechtungsprozesse gebunden und re-artikulieren und konstituieren simultan eine postkoloniale Matrix. Dies lässt sich exemplarisch für die ausgewählten Literaturen im historischen Rahmen der Jahre 1924 bis 1970 und ihren teils sehr expliziten Bezug zur Kolonialgeschichte der Amerikas konstatieren. Im Vordergrund der Arbeit stand insbesondere die Frage nach der Herstellung von Verflechtungen und der Art und Weise der narrativen Vermittlung von Verflechtungen. Dabei stellt sich im Dialog mit narratologischen Methoden und Kategorien die heuristische Figuration eines entangled narrator als aufschlussreich und für die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Bösem als weiterführend heraus. Diese Figuration erzählerischer Vermittlung kann als Verflechtungsinstanz der erzählten Welt sowohl als Subjekt und Objekt einer Erzählung konzipiert sein. Der entangled narrator kann neben der Perspektivierung von Verflechtungsräumen und -geschichten helfen, die Herstellung der Vorstellung in fiktionalen Erzählsituationen nachzuweisen, und somit ein Erklärungsmodell anbieten, das sich auf klassische Modelle der Narratologie beruft und postklassische Zugänge zum Erzählen berücksichtigen möchte. So lässt sich die Figuration eines entangled narrator mit dem Erzählen eines infamen IchErzählers ergänzen, wie es insbesondere in La vorágine, Deutsches Requiem und El atroz redentor Lazarus Morell aufgezeigt wurde, die eine polyphone Erzählung mit narrativen Standpunkten teils multipler Erzählinstanzen ergänzen. Außerdem konnte mit dem Ansatz des entangled narrator die Position des Dritten in El reino de este mundo basierend auf klassischen Ansätzen der Narratologie nachgewiesen und analytisch ergänzt werden, um Ansätze zur kontrapunktischen Erzählweise zu erweitern, die von den Forschungen zu El reino de este mundo bereits überzeugend nahegelegt, aber noch nicht mit der Frage nach Imaginarien des Bösen verbunden wurden. Der entangled narrator erweist sich somit in allen Fällen der hier untersuchten Erzählungen als hilfreich für die Klärung der komplexen Vermittlung von Beobachter- und Äußerungspositionen, die für die Herausstellung der relationalen Dynamik des Erzählens des Bösen angemessen ist und dazu als räumliche Ka-

Schluss

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tegorie zugleich die hier im Mittelpunkt stehende Verräumlichung des Bösen vermitteln kann. Auch über die Vermittlung der Erzählung anhand von Kippfiguren oder Figuren des Dritten, wie dem Rivalen, dem trickster oder dem Parasiten, wurden Imaginarien des Bösen ermittelt. Dabei haben sich die räumliche Figuration und die narrative Refiguration der caucherías (La vorágine), der plantación (El atroz redentor Lazarus Morell), des campo de concentración (Deutsches Requiem) und der estancia (El Evangelio según Marcos) sowie der hacienda (El reino de este mundo) als Imaginarien des Raumes herausgestellt, die in ihrer jeweils spezifischen Modellierung und dem Entwurf einer Raummatrix weniger auf einen festen historischen Ort verweisen, sondern vielmehr als narrative Zwischenräume die Vorstellung von Topographien und Topologien des Bösen narrativ dynamisieren. Die Analysen haben in letzter Konsequenz ethische und politische Dimensionen der Texte aufgerufen und zu fokussieren beabsichtigt (Thanatopolitik, Biopolitik und Nekropolitik). Dieser besondere Zugang diente gerade auch dazu, eine a-politische abstrakte Haltung zu vermeiden oder die historischen intradiegetischen Dimensionen der Texte (Entstehung, Horizonte, Referenzen) als bloße Textlichkeit zu identifizieren. Dennoch ist die historische Dimension der Imaginarien des Bösen in hispanoamerikanischen Erzählungen, aber auch selbstverständlich in vielzähligen weiteren Gattungen und Medien, in der vorliegenden Untersuchung lediglich andeutungsweise und nicht umfassend erreicht worden und bedarf einer intensiveren Auseinandersetzung und erweiterter Analysekriterien und Vergleichsmöglichkeiten. Um in Zukunft zu einer relevanten Aussage im Hinblick auf Imaginarien des Bösen zu gelangen, ist es bedeutsam, weitere kulturelle, d. h. transkulturelle Zusammenhänge betreffender Literaturen zu berücksichtigen. So ist das Verständnis interamerikanischer Perspektiven für zusätzliche Untersuchungskonstellationen, historische Zusammenhänge und kulturelle Transfers von Vorstellungen des Bösen in den Amerikas und darüber hinaus nicht nur für das 20. Jahrhundert, sondern ebenfalls für größere historische Zusammenhänge und historiografisch übergreifende Einordnungen nach Jahrhunderten und/oder Epochen bzw. für einen etablierte Epochenbegriffe infrage stellenden Rahmen historischer Tiefe, längst nicht ausgeschöpft und bedarf weiterer Forschungen durch die Fokussierung von literarischen, (trans)medialen und kulturellen Vergleichen und Verflechtungen. Bestimmungsversuche des Bösen über Literaturen und literarische Verfahren sind nicht allein in der Rückschau und unter Berücksichtigung des amerikanischen Verflechtungsraumes als ethische Operationen relevant, sondern lassen das Böse vielmehr als nach wie vor relevante Kategorie erscheinen. Denn in der relationalen, offenen und dynamischen Bestimmung ermöglicht die Kategorie

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des Bösen, als Ressource kulturelle Verflechtungen und historische Zusammenhänge globalgeschichtlich zu kartographieren und zu verhandeln. Die Kategorie, der Begriff und die Imaginationen des Bösen werden somit auch in Zukunft neu zu bestimmen sein und noch sind nicht alle Bedeutungsstratifikationen des Bösen als räumliche Kategorie erfasst. Beklagte vor gut 20 Jahren noch ein Teil der Wissenschaft die Irrationalität des Bösen, während ein anderer Teil die Intelligenz des Bösen633 in den Vordergrund stellte, so zeigen sich heute in wissenschaftlichen Diskursen eine eher strategische Sicht auf Böses und eine rationale Fokussierung des Bösen. Demnach macht es Sinn, von den Konjunkturen des Begriffs oder der Kategorie und den wandelbaren Imaginarien unterschiedlicher Akteur:innen und deren Bezugnahmen auf das Böse und der Bemühung um die Bedeutung des Bösen zu sprechen, denn auch ein eklektischer Gebrauch und die Belebung der Imagination des Bösen im Prozess der Bedeutungszuschreibung sind nicht befreit von einer re-essenzialisierenden Verwendung. Auch in der ständigen Auslotung der Spannungen des Verhältnisses von Literatur und Bösem werden das Subjekt und das Objekt des Bösen fortlaufend zu befragen und neu zu bestimmen sein.

633 Selbstverständlich Jean Baudrillard, Le pacte de lucidité ou l’intelligence du mal 2004.

Literaturverzeichnis

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