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German Pages 291
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 283
Sanktion, Norm, Vertrauen Zur Bedeutung des Strafschmerzes in der Gegenwart
Von
Markus Abraham
Duncker & Humblot · Berlin
MARKUS ABRAHAM
Sanktion, Norm, Vertrauen
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 283
Sanktion, Norm, Vertrauen Zur Bedeutung des Strafschmerzes in der Gegenwart
Von
Markus Abraham
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Jochen Bung, Hamburg Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2017 als Dissertation angenommen.
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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany
ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-15328-2 (Print) ISBN 978-3-428-55328-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85328-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Überlegung, dass ein Strafrecht ohne Strafschmerz möglich, nötig und wünschenswert sein könnte, ist kontraintuitiv. Ziel der Arbeit war, diese Idee in einer konstruktiven Weise und im Angesicht der beachtlichen Gegengründe zu denken und so weit aufzuführen, dass die Grundzüge eines alternativen Modells erkennbar werden. Prof. Dr. Jochen Bung bin ich als meinem Doktorvater auf zahlreichen Ebenen zu Dank verpflichtet. Nicht nur für den Hinweis auf das Problem des Strafschmerzes und den Beistand bei Gewissheitsverlusten, sondern vor allem dafür, dass er mir Vertrauen und Freiheit schenkte. Bei Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli möchte ich mich für die besonders zügige Erstellung des Zweitgutachtens bedanken. Für die Aufnahme in die Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge“ danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Dres. h.c. Friedrich-Christian Schroeder und Professor Dr. Andreas Hoyer, für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg. Zahlreichen weiteren Personen danke ich für unzählige Gespräche – besonders auch für solche, die nicht unmittelbar das Thema betrafen. Gewidmet ist das Buch meinen Eltern. Hamburg, im Mai 2018
Markus Abraham
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Spiegelfechtereien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausfallhaftung der Strafrechts-Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fragwürdige Dualismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Bearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Intuitive Begründungen für die Schmerzzufügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wer nicht hören will, muss fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ich hab’s dir doch vorher gesagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine ordentliche Abreibung hat noch niemandem geschadet . . . . . . . . . 4. Die Aussicht auf Schmerzen verhindert Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Willst du etwa Selbstjustiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Strafe ist’s nur, wenn’s weh tut! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Dem soll es doch nicht besser ergehen als den anderen Verbrechern . . 8. Strafen ist eben eine hässliche Angelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Intrinsische Begründungen: Der Strafschmerz ist im Unrecht . . . . . . . . . . . II. Strafschmerz im aufgeklärten Eigeninteresse (Norbert Hoerster) . . . . . . . . 1. Eine interessenstheoretische Fundierung der Strafpraxis . . . . . . . . . . . . 2. Probleme der generalisierenden Rechtfertigungsüberlegung . . . . . . . . . a) Wie der Blick auf die gesamte Praxis immunisiert . . . . . . . . . . . . . . b) Das allseitige, hypothetische Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Klugheitsgrund und Opfersolidarisierung (Tatjana Hörnle) . . . . . . . . . . . . . 1. Hybride Theorie aus Abschreckung und Tadelausdruck . . . . . . . . . . . . . 2. Ankündigung von Nachteilen als Klugheitsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die unterstellte Legitimität des Drohens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ernsthaftigkeit durch Handfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schmerz für die Wirklichkeit der Norm (Günther Jakobs) . . . . . . . . . . . . . . 1. Konzeption von Individuum und Person in „Norm, Person, Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafschmerz als objektivierter Widerspruch (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kognitive Untermauerung (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis a) Reformulierte, gespiegelte Abschreckungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . b) Intellektueller Schadensersatz (Theodor Welcker) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strafschmerz als notwendige kognitive Untermauerung . . . . . . . . . . . 4. Zur Zwei-Welten-Hypothese – Worte und Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterbelichtung des Einzelakteurs in der normativen Sphäre . . . . . . b) Normativität durch Anerkennung (Hegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schiffe und Anker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zweifelhafte Zweiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verzauberte Sprachverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anders auffangbare Intuitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Personalität von Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Einzelne, die Schuld und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Pflicht zur Mitwirkung am gemeinsamen Projekt der Freiheit (Michael Pawlik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Sekundärpflicht des illoyalen Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitwirken durch Strafschmerzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis zwischen Mitwirkung und Freiheitsgenuss . . . . . . . . b) Ermöglichung und Entzug von Freiheit: kein actus contrarius, sondern Demonstration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Substantialisierte Supraindividualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Schmerz, der richtig stellt (Jean Hampton) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafe als Beseitigung des falschen Anscheins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterjochung des Unterjochers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht (Victor Tadros) . . . . . . . . . 1. Pflicht zur Notwehrduldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwehr – Strafe: Übertragungshürden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Probleme, den Notwehrschmerz in den Strafschmerz zu transponieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kein erzwingbarer „Pflichtentauschvertrag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Normtheoretische Inkorrektheit des Pflichtentauschvertrages . . bb) Intuitives Ergebnis auch ohne Pflichtentauschvertrag . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis: kein erzwingbarer Pflichtentauschvertrag vor Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Instrumentalisierungs-Erlaubnis-Erhaltungssatz . . . . . . . . . . . . . c) Kriminelle Intentionen sanft und sorgfältig vermeiden . . . . . . . . . . . d) Organhandel als unerwünschte Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Der Strafschmerz als Reue (Antony Duff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine ideale politische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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2. Probleme der schmerzlichen Reue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ist das Abzielen auf Reue moralisch intrusiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis von Reueschmerz und Strafschmerz . . . . . . . . . . . . . c) Zur Möglichkeit, Strafe als Buße zu interpretieren . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Konventionalität des Strafschmerzes und Bindung der Worte . . . . . . . . . . . II. Sanktionalität und Normativität (Robert Brandom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was uns auszeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Deontische Kontoführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interne Sanktionen: die Hütte und das Blatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Am Grunde der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis zu Brandom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Locke und das ursprüngliche Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Was es heißt, normativer Kontoführer zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontoführen als Feststellen und Beobachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Multiperspektivität und Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Leistung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontoführen als Vertrauen: Warum ein guter Syllogist zu sein, nicht alles ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Noch mehr Vertrauen beim Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Misstrauen als Sanktion – Sieben Fürsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Spiel des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Staatliche Zertifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtliches Misstrauen als Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Inklusion durch Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Elektroschock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Körperstrafe im internationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die verlorene Kunst des Strafschmerzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Stellung des Verletzten in der Straftheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nicht: Opfer im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Opfer in der Straftheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strafrecht des Opfers – Anspruch des Opfers auf Bestrafung . . . . . . . . 4. Zur Neutralisierung des Opfers – Zwei Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Durchbrechung des Trennungsdogmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Praktische Entwicklungschancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Idealisiert: Genereller Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkrete Sanktionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Feststellungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) Absehen von Strafe, § 60 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verwarnung nach § 59 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verletzteninteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abschied vom Strafschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gründefolger, Kooperationsentzieher, Vertrauenssucher . . . . . . . . . . . . . 2. Zwei offensichtliche Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Refiduzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
A. Einleitung I. Spiegelfechtereien 1. Die Ausfallhaftung der Strafrechts-Schulen Harter Behandlung bedarf der Täter, denn seine Strafe, die soll er spüren. Eine solche Schmerzzufügung als nötig und legitimierbar auszuweisen, ist das zentrale Anliegen der Strafrechtstheorie. So an die Sache heranzugehen, legt bereits nahe, dass es mehr darum geht, eine hergebrachte Praxis zu begründen als sie zu hinterfragen. Blickt man nun auf die jüngere Geschichte der Suche nach einem Zweck von Strafe, bemerkt man ein Oszillieren zwischen den Polen Vergeltung und Prävention. Es scheint, dass, wann immer man auf einen der Ansätze zur Gänze vertraute, Bedenken laut wurden, deren durchschlagende Wirkung über kurz oder lang dazu führte, dass (wieder) die jeweilige Gegenansicht als Ersatz einsprang, um die Strafe zu begründen.1 Obgleich in diesem Zyklus die je führende Theorie die konkrete Ausgestaltung der Strafpraxis prägte, so übernahm sie dabei doch die Begründungslast für ein im Grunde fortbestehendes Strafsystem. Als etwa Franz von Liszt die vergeltende Sühnetheorie kritisierte, indem er die Einbeziehung anthropologischer und kriminalistischer Gesichtspunkte anmahnte,2 und die Strafe von einer intuitiven, repulsiven Triebhandlung zur zweckbewussten Willenshandlung umgewandelt sehen wollte,3 stellte er wie selbstverständlich sein Präventionskonzept unter das Regime der Freiheitsstrafe: „Der Wert eines konkreten Strafensystems hängt von der Sicherheit und der Elastizität ab, mit welcher es die Erreichung eines jeden der drei Strafzwecke [Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung; M. A.] ermöglicht. Und genau dasselbe gilt von dem einzelnen Strafmittel. Darin liegt die (. . .) Bedeutung der Freiheitsstrafe, welche, eben weil sie allen Strafzwecken sich anzuschmiegen geeignet ist wie keine andre Strafart, die erste und führende Stelle im Strafensystem einzunehmen unzweifelhaft berufen ist.“ 4
Wenn auch der von Franz von Liszt eingeführte Zweckgedanke, nach dem die Strafe an ihren Wirkungen zu (be)messen sei, langfristig erhebliche Veränderun1 So Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 5, die diesen Gedanken mit Blick auf die anglo-amerikanische Debatte ausführlich entwickelt (ebd., S. 15 ff.). 2 v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), insbes. S. 32 f. und 47. 3 Ebd., S. 17 ff. 4 Ebd., S. 34 f. (H. i. O. als Sperrdruck). Zu beachten ist freilich, dass v. Liszt sich später selbst für die Ersetzung der Freiheitsstrafe durch ambulante Sanktionen einsetzte, vgl. Schöch, Das Marburger Programm aus der Sicht der modernen Kriminologie, ZStW 94 (1982), S. 877.
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A. Einleitung
gen bewirkte – wie etwa die Einführung der Bewährungsstrafe, die Ausweitung der Geldstrafen sowie die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen –,5 so blieb doch die Logik der intentionalen Übelszufügung auch in neuer Gewandung im Grundsatz erhalten. Und auch umgekehrt, als später das etablierte Resozialisierungsstrafrecht aufgrund seiner vorgeblich unzureichenden Rückfallreduktion in Misskredit geriet,6 brachte dies nicht das Konzept der intentionalen Übelszufügung als solches in Bedrängnis, sondern es kam zu einer „Renaissance der Vergeltungstheorie“ 7. Ohne die skizzenhafte Darstellung hier zu vertiefen,8 erscheint mir die Idee nicht unplausibel, dass die Historie der beiden Schulen des Strafrechts – die der Vergeltung des Verbrechens zum einen und die der Verhinderung des Verbrechen zum anderen – womöglich als eine der „gegenseitigen Ausfallhaftung“ beschreibbar ist: Sobald die eine Theorie nicht mehr haltbar erschien, wurde auf ihren Widerpart rekurriert, ohne dass jemals eine Strafbegründung hätte versuchen müssen, ihr Versprechen dauerhaft einzuhalten.9 Womöglich ist es sogar so, dass der Fortbestand der Kriminalstrafe als mutmaßlich legitime Institution gerade dadurch erleichtert wurde.10 2. Fragwürdige Dualismen Derweil bleibt der Streit zwischen vergeltender und präventiver Theorienfamilie in einem eigentümlichen Stellungskrieg verhaftet, der die Frage der Rechtfertigung gewissermaßen vertagt, während die Praxis des Strafens natürlich nicht innehält, sondern unbeirrt weiterläuft.11 Bezeichnend sind die dabei herausgear-
5 Schöch, Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung, ZStW 92 (1980), S. 157 m.w. N.; zur Ausstrahlkraft der Liszt’schen Konzeption auf den „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches“ von 1966 vgl. Roxin, Franz von Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs, ZStW 81 (1969), S. 614 ff. 6 Sinnbildlich Martinson, What works? – Questions and Answers About Prison Reform, The Public Interest 35 (1974), S. 22 ff., der jedoch entgegen der aus dem Aufsatz resultierenden „nothing works!“-Stimmung ein differenziertes Bild zeichnet, es sowohl für denkbar hält, dass „simply a more full-hearted commitment to the strategy of treatment“ nötig sei – und anmahnt, dass man angesichts der Dominanz der Behandlungsansätze überhaupt nichts über den Abschreckungseffekt wisse (ebd., S. 49 f.). 7 So die Analyse des straftheoretischen Meinungswandels bei Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 45 ff.; vgl. auch die Stimmungsentwicklung in der Bevölkerung mit Blick auf den Langzeitvergleich bei Schwind, Bevölkerungsumfragen zur Akzeptanz des Resozialisierungsgedankens im Langzeitvergleich (1976 – 1987 – 1999), in: Britz u. a., Müller-Dietz-FS, 2001, S. 841 ff. 8 s. zu einer ausführlichen Version Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 15 ff. 9 Ebd., S. 5. 10 Ebd., S. 21. 11 Ebd. „The indefinite prolongation of the debate over the theoretical grounding of punishment in a sense permits an indefinite suspension of judgment that enables the institution to persist and to expand, amid confusion over what it is supposed to be
I. Spiegelfechtereien
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beiteten Kampfbegriffe, mit denen die jeweilige Gegenseite, teils nur noch pro forma, bearbeitet wird. In einer Art Selbstbeschäftigung scheinen sich die beiden Seiten gegenseitig zu karikieren. Ganz nach der Weise eines binären, dualistischen Denkens werden alle möglichen Gegenbegriffe in die Auseinandersetzung hineingelesen: So sei die Prävention zukunftsorientiert, relativ und zweckgebunden, die Vergeltung dagegen zweckfrei, absolut und vergangenheitsbezogen. Die erste dressiere den Täter wie einen Hund, instrumentalisiere ihn konsequentialistisch zum kühlen Nutzen der Gesellschaft, die zweite sei metaphysische Vergeltung, heiße Rache, wolle jedem das Seine zuteilen, wobei sie nicht erklären könne, warum dann nicht jeder menschliche Akt verdienstbasiert bemessen und aufgewogen werden sollte. Die erste arbeite mit menschenverachtender Drohung, die zweite wolle weltentfremdet der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Die eine strafe, um Unrecht zu verhindern, die andere, weil Unrecht geschah. Man sieht sich vor die Wahl gestellt, den Dompteur oder den Racheengel mit dem Geschäft der Strafe zu betrauen. Behauptet sein soll nun keineswegs, dass die angedeuteten Argumente nicht Beachtung verdienten, wenn wir überlegen, wie wir mit Straftätern umgehen, und auch nicht, dass die einzelnen Gesichtspunkte nicht kunstvoll – die Dualisierung lässt sich theorieintern beliebig fortsetzen12 – vorgetragen werden. Über die elaborierte, gegenüberstellende Behandlung sollte man allerdings nicht den Eindruck gewinnen, es handle sich um eine geschlossene binäre Entscheidung, als ob also die Rechtfertigung der Strafe als Beweisziel unumstößlich feststünde13 und lediglich noch zu entscheiden wäre, welche Theorie den Beweis am besten führte. Für die Beweisführung ist grundlegend zu erkennen, dass die Schwächung der Gegenansicht nicht automatisch mit einer Stärkung der eigenen Position verbunden ist. Klingt das auch banal, so scheint diese Vorstellung dennoch durch, wenn die Schwäche der eigenen Theorie deshalb getilgt sein soll, da diese der anderen genauso anhafte. So ist dem Vorwurf, die Vergeltungstheorie könne nicht erklären, was der Verdienst, den es auszugleichen gilt, bedeute, schwerlich mit dem doing. We are building, from the crushed spirits of society’s despised, a bridge of dubious quality to a disputed destination.“ (Ebd.). 12 Paradigmatisch die Präventionstheorien: Man kann mit der Strafe auf den konkreten Täter (Spezialprävention) oder die potenziellen Täter (Generalprävention) zielen; diese Entscheidung kann man noch mit der Frage kreuzen, ob man mit Abschreckung (Negative Prävention) oder Stabilisierung (Positive Prävention) hantiert. Beispielhaft zu einer komplexen Systematisierung sämtlicher Strafzwecke und dadurch den begrenzten Nutzen demonstrierend Henrici, Die Begründung des Strafrechts in der neueren deutschen Rechtsphilosophie, 1961, insbes. S. 34 ff. 13 Auch Kunz hält die Kontroverse für überschätzt, würden doch die Positionen darin übereinstimmen, dass Strafe wegen ihrer gesellschaftlichen Funktion notwendig sei. Kunz, Muss Strafe wirklich sein?, in: Radtke u. a., Muss Strafe sein? Jung-Kolloquium, 2004, S. 73.
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Hinweis14 beizukommen, auch die Theorie der Prävention komme nicht ohne abstrakte Begriffe aus. Zu erkennen ist ferner, dass auch eine Theorie, die die Strafe nicht erklärt, dann insoweit zwar keine Begründung für die Strafe, aber dennoch den Hinweis für den angemessenen Umgang mit Verbrechen liefern mag. Wenn zum Beispiel die Freiheitsstrafe nicht mit Hilfe des Gedankens der Resozialisierung gerechtfertigt werden kann, spricht das vielleicht nicht gegen die Theorie als solche, sondern womöglich gegen das eingesetzte Mittel. Man kann auch weitergehen und die Dualismen auf ihre Tragfähigkeit hin befragen: Eine gängige dualisierende Behauptung sagt, die retributiven Theorien würden die Strafe als vergangenheitsorientiert, die präventiven Theorien dagegen als zukunftsgerichtet verstehen. Betrachtet man nun die Standarddefinition, die unter Strafe die von einer zuständigen staatlichen Stelle in einem rechtlichen Verfahren dem Täter für seine Straftat auferlegte intentionale Übelszufügung versteht,15 so mag man bezweifeln, ob die besagte Behauptung durchzuhalten ist. Gegen eine reine Fixierung auf die Zukunft spricht, dass stets auf die bereits begangene Tat Bezug genommen werden muss, um den Konnex zwischen Tat und Strafe für die Adressaten fruchtbar machen zu können, sei es als Mittel zur Besserung, Abschreckung oder Einübung in Normvertrauen. Ohne Anknüpfung an diese vergangene Tat bliebe die Übelszufügung unverständliche – und womöglich unwirksame – Gewalt. Als Paradigma der reinen Vergangenheitsfixierung hingegen wird nicht selten das Inselbeispiel Kants bemüht. Dort meint dieser, dass selbst für den Fall, dass eine Staatsgemeinschaft ihre Auflösung beschlossen hätte, also etwa die eine Insel bewohnende Gemeinschaft einstimmig übereinkäme, getrennter Wege zu gehen, „der letzte im Gefängniß befindliche Mörder vorher hingerichtet werden [müsse], damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind“.16 Nur dann nämlich sei der Gerechtigkeit Genüge getan, die Gemeinschaft von ihrer „Blutschuld“ befreit.17 Man kann das Beispiel als überspitzte Kritik gegen ein „prinzipienloses Nützlichkeitsdenken“ lesen. Aber selbst wenn man darin mehr als Polemik sieht, wird auch in Kants Exempel kein ausschließlicher Vergangenheitsbezug behauptet: Auch für den Akt der Retribution wird ein zuteilendes Subjekt und empfangendes Objekt benötigt, ein Tribut-Subjekt und ein Tribut-
14 So Spycher, Die Legitimation der retributiven Kriminalstrafe, 2013, S. 48, der freilich noch mit weiteren Argumenten zur Rettung des Verdienstbegriffs aufwartet, ebd., S. 49 ff. 15 Vgl. dazu die vergleichbare Definition von Hart, die – erweitert man sie um das Element des Missbilligungsausdrucks – als Standarddefinition angesehen werden kann, so Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 405. 16 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Akademieausgabe, Kant’s gesammelte Schriften, Band VI, 1907, S. 333. 17 Ebd.
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Objekt. Bereits im Ausdruck „jemanden strafen“ ist ein Bezug zur Zukunft angelegt, ein Abzielen auf die Veränderung des Momentanen. Und ein solcher Bezug kann auch in Kants Inselbeispiel gefunden werden, sei es der Aspekt, dass sich die Strafenden „von der Blutschuld“ befreien wollen, sei es der – womöglich im Kern sogar identische – Gedanke, dass sie sich hinsichtlich einer folgenden, neuen Staatsgründung als zuverlässige, kooperative Akteure präsentieren wollen.18 Die Einsicht, dass beide Theoriestränge weder Vergangenheit noch Zukunft gänzlich hinwegdenken können, macht deutlich, dass ein darauf zielender Einwand, wie derjenige, dass die Vergeltungstheorie weder Präventions- noch Vergeltungsbedürfnisse berücksichtigen könne, weil die Befriedigung von Bedürfnissen doch in der Zukunft läge,19 nicht weit trägt. Es gehe, mag man einwenden, auch weniger darum, ob Vergangenheit beziehungsweise Zukunft für die jeweilige Straftheorie per se nicht von Belang sei, als vielmehr um die Beantwortung der Frage, worauf der Fokus20 unserer Motivation zum Strafen liege, welcher Art der angemessene Handlungsgrund für den Strafakt sei. Ob wir vornehmlich deshalb strafen, weil verbrochen wurde, oder eher, um Verbrechen zu verhindern. Mit anderen Worten: ob wir kausal oder final strafen. Wie sich die kausalen und teleologischen Handlungserklärungen zueinander verhalten, ist ein Thema nicht nur in der Straftheorie, sondern auch in der Philosophie des Geistes.21 Auch dort – man erlaube die assoziative Bemerkung – dürfte wohl gelten, dass jedenfalls die formale Separierung der Erklärungsansätze allein nicht weiter hilft. Denn auch kausale Handlungserklärungen benötigen, wollen sie überzeugen, ein Element der Richtigkeitsbeurteilung,22 sodass der ver18 In diese Richtung gehen Deutungen des Inselbeispiels, dass sich die Gesellschaft zwar auflöse, die Menschen aber anderenorts weiterleben wollten und daher zur Vermeidung der Blutschuld die Gebote der Gerechtigkeit zu beachten hätten, vgl. Spycher, Die Legitimation der retributiven Kriminalstrafe, 2013, S. 86; Hruschka, Die „Verabschiedung“ Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968 – Einige Korrekturen, in: ders., Kant und der Rechtsstaat, 2015, S. 241 f.; vgl. auch Zaczyk, Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten „Inselbeispiel“ in Kants Metaphysik der Sitten, in: Landwehr, Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, 1999, S. 73 ff. Zaczyk weist insbesondere darauf hin, dass, so die Strafe ausbliebe, in die Gesellschaft „die Inkonsequenzen in der Befolgung rechtlicher Grundsätze hinein[ge]tragen“ (ebd., S. 85) würden. Diese Deutung liegt nahe, spricht Kant doch explizit davon, dass das Volk, sofern es nicht auf Vollstreckung drängt, sich schuldig mache, „weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann“. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Akademieausgabe, Kant’s gesammelte Schriften, Band VI, 1907, S. 333. 19 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 48. 20 Die vergangene Tat als Anlass oder aber als Grund für die Strafe; künftige Folgen als erstrebt oder als nur hingenommen. 21 Vgl. etwa Horn/Löhrer, Gründe und Zwecke, 2010. 22 Denn auch die kausalistischen Handlungserklärungen müssen – um das Phänomen abweichender Kausalketten erklären zu können – ein normatives Moment [„Die Kausalkette muss auch in der richtigen Weise verlaufen“ (Donald Davidson)] ins Spiel bringen (und werden so für einen reduktiven Naturalismus problematisch), sodass dann der Unterschied zwischen teleologischen und kausalistischen Erklärungsmodellen ver-
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meintlich kategoriale Unterschied zur finalen Perspektive teleologischer Handlungserklärungen wankend wird. Weshalb die formale Fassung der Handlungserklärung einen Unterschied machen sollte, ist demzufolge auch dort rätselhaft. Dass ein causa-finis-Dualismus nicht ertragreich ist,23 lässt sich einfach auch an folgender Überlegung klarmachen: Es dürfte für mich schwer zu bestimmen sein,24 ob ich das Stück Brot darum esse, um satt zu werden oder es deshalb esse, weil ich hungrig bin.25 Als Vorbehalt ist sogleich anzufügen, dass der skizzierte Anti-Dualismus keineswegs einer eklektischen Theorie Vorschub leisten soll, sondern davor warnen will, über die rein formale Einordnung Gehalt und Reichweite von Argumenten zu ignorieren oder zu überschätzen. Um im Bild vom Brot zu bleiben: Statt darüber nachzudenken, ob unser Motiv für den Konsum nun am besten kausal oder final zu rekonstruieren sei, sollten wir uns womöglich stärker auf die Überlegung konzentrieren, ob ein Motiv existiert. Vielleicht wollen wir dieses Brot da überhaupt nicht essen – etwa weil es schimmelt.
II. Gang der Bearbeitung Wie erwähnt, versteht man unter Kriminalstrafe herkömmlich eine intentionale Übelszufügung, die für eine Straftat gegenüber einem Täter durch eine staatliche zuständige Stelle in einem rechtlichen Verfahren verhängt wird. Diese Sichtweise verdeckt eine Komponente der Strafe, die gerade in den letzten Jahren durch die Anschauung der Strafe als wesentlich kommunikativem Vorgang herausgearbeitet wurde: Es handelt sich um die im Schuldspruch26 enthaltende Missbilligung der schwimmt. Horn/Löhrer, Einleitung: Die Wiederentdeckung teleologischer Handlungserklärungen, in: dies., Gründe und Zwecke, 2010, S. 23 ff. 23 Das dürfte zumindest häufig der Fall sein. Etwas anderes mag unter Umständen in der Naturalismus-Debatte zwischen naturalistischen Kausalisten und normativen Teleologen gelten. Man kann aber auch – wie ich gerade angedeutet habe – eine nicht-reduktive Kausalitätstheorie vertreten (und es ist nicht klar, dass man diese dann teleologisch nennen muss). Sprich: Es gibt auch nicht-naturalistische Kausalisten. Die formale Einteilung als kausal oder final klärt auch hier nichts. 24 Freilich ist damit nicht gesagt, dass die Erklärungen deshalb in eins zusammen fallen. Auch wenn beide korrekt sind, hebt das den Unterschied zwischen ihnen nicht auf. 25 Genauso fragt bereits v. Liszt zur Gegensätzlichkeit von Repression und Prävention: „Schwimme ich, weil ich ins Wasser gefallen bin oder damit ich nicht ertrinke? Nehme ich Medizin, weil ich krank bin oder damit ich gesund werde? Ziehen wir den Grenzkordon, weil im Nachbarlande Epidemie herrscht oder damit wir von ihr verschont bleiben? Stütze ich das Haus, weil es baufällig ist oder damit es nicht einstürzt?“ v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), S. 44 f. 26 Vgl. zur straftheoretischen Einordnung des Schuldspruches jüngst Freund/Rostalski, Verfassungswidrigkeit des wahldeutigen Schuldspruchs, JZ 2015, S. 164 f., die darauf hinweisen, dass der Schuldspruch den „Hauptbestandteil“ der Strafe, also die tadelnde Missbilligung der im Tatverhalten liegenden Aussage, nämlich die Verhaltens-
II. Gang der Bearbeitung
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Tat, die den Verurteilten als verantwortlichen Urheber des vorgeworfenen Verhaltens identifiziert und ihm dieses als sein Werk zuschreibt. Dem Strafgeschehen wird dabei eine expressive Bedeutung beigemessen, die die folgenden Wertungen enthält: Das Verhalten des Täters wird allgemeinverbindlich als vorwerfbares Unrecht deklariert. Die Erklärung, der Täter sei für das Geschehen verantwortlich, entlastet zugleich die übrigen Akteure, insbesondere die Opfer der Tat, spricht sie gewissermaßen frei. Außerdem stellt die strafende Reaktion symbolisch klar, dass das besagte Verhalten nicht einfach in Kauf genommen wird, und betont zudem auf nachdrückliche Weise, dass trotz der Tat an den rechtlichen Verhaltenserwartungen festgehalten wird, das Täterverhalten also nicht den Orientierungsmaßstab abgibt.27 Im Zentrum meiner Arbeit steht die Frage, ob nicht gerade diese kommunikative Komponente den Kern28 der Strafsanktion ausmacht29 und die Komponente des Strafschmerzes, also die der intentionalen Zufügung eines Übels, überhaupt legitimiert werden kann. Dieser Überlegung steht die starke Intuition entgegen, dass es bei der Strafe in der Hauptsache um harte Behandlung geht, dass es also gerade darauf ankommt, dem Täter eine ihn schmerzende Sanktion aufzuerlegen. Der Rest dieses Ersten Kapitels soll daher dazu dienen, einige der im Alltagsdenken verbreiteten Herleitungen des Strafschmerzes zu problematisieren, um dafür zu sensibilisieren, dass er einer tiefergehenden Begründung bedarf (A. III.). Eben solche elaborierten Begründungen werden wir uns im Zweiten Kapitel nach einer Hinführung (B. I.) ansehen. Zu argumentieren, etwas – namentlich der Strafschmerz – sei verzichtbar, ist insofern problematisch, als es dem Versuch norm nicht zu achten, bilde. Stuckenberg dagegen argumentiert (Erwiderung, JZ 2015, S. 714), dass der Schuldspruch nicht Strafe, sondern bloß Voraussetzung der sanktionalen Rechtsfolge sei, er die Tat lediglich registriere, während die „Gegenrede“ zur Täteraussage erst mit dem Strafschmerz erfolge. Freund/Rostalski wiederum verweisen auf den rechtlichen Vorwurfscharakter als zentrales Element der Strafe, der – auch unabhängig vom faktischen, subjektiven Belastungsempfinden des Adressaten – bereits im Schuldspruch liege (Schlusswort, JZ 2015, S. 716 f.). 27 Grundlegend Feinberg, The Expressive Function of Punishment, The Monist 49 (1965), S. 401 ff.; Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 205 ff. 28 Dass die symbolisch-expressive Funktion der Strafe zentraler ist als präventive Zwecke, zeige sich besonders am Beispiel des Völkerstrafrechts, wo Anerkennung des widerfahrenen Unrechts und Wahrheitsfunktion der strafrechtlichen Reaktion – auch von den Verletzten – als das Entscheidende wahrgenommen werden, so Günther, Falscher Friede durch repressives Völkerstrafrecht?, in: Beulke u. a., Haffke-Symposium, 2009, S. 89 f. 29 Vgl. auch Walther, Was soll „Strafe“, ZStW 111 (1999), S. 137; Günther, Verantwortlichkeit in der Zivilgesellschaft, in: Müller-Dohm, Das Interesse der Vernunft, 2000, S. 482 f. Für den Vorrang der Komponente der harten, stigmatisierenden und peinlichen Behandlung hingegen Androulakis, Über den Primat der Strafe, ZStW 108 (1996), S. 314 ff.; die Missbilligung als Nebenprodukt der verdienten Strafe betrachtet Davis, Punishment as Language: Misleading Analogy for Desert Theorists, Law and Philosophy 10 (1991), S. 321.
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ähnlich ist, etwas als nicht-existent zu beweisen. Man wäre erst dann am Ende einer stringenten Argumentation, wenn jeder Ansatz untersucht wäre, der die Notwendigkeit/Existenz behauptet. Aufgrund dieser praktischen Unmöglichkeit bleibt nur, sich mit einer Auswahl zu begnügen. Zu versprechen, dass die getroffene eine gute Auswahl darstellt, ist freilich nicht mehr als ein noch einzulösendes Versprechen. Es handelt sich bei der hier vorgestellten Auslese um sieben Theorieentwürfe, die jeweils eine Geschichte über den Strafschmerz erzählen. So sei die Schmerzzufügung eine zustimmungswürdige Praxis, weil sie – aufs Ganze betrachtet – für jeden profitabel sei (B. II.). Sie wäre, so eine etwas andere Deutung, ein probates Mittel, um die Missbilligung des Tatverhaltens dem Täter und auch dem Opfer ernsthaft erscheinen zu lassen (B. III.). Weiter wird vertreten, dass der Strafschmerz den Widerspruch gegen die Tat auf kognitiver Ebene untermauert und so die potenziell künftig Verletzten erst beruhigend orientiert (B. IV.). Der Schmerz, so sagen andere, demonstriere, dass der Genuss unser aller Freiheit auf jedermanns Bereitschaft, sich legal zu halten, beruht (B. V.). Weiter wird er für notwendig erachtet, um die den Verletzten herabsetzende Aussage, die im Täterverhalten liegt, richtigzustellen (B. VI.). Wieder andere meinen, der Strafschmerz sei die nachgeholte Schädigung, die der angreifende Täter bereits im Tatzeitpunkt als Notwehrhandlung gegen sich hätte dulden müssen (B. VII). Zuletzt wird erklärt, der Strafschmerz könne als angemessene Buße, die der Täter für sein Verhalten tut, gerechtfertigt werden (B. VIII). Diese Ansätze werden jeweils zunächst rekonstruiert und anschließend kritisiert. Im Dritten Kapitel soll erörtert werden, wie eine Praxis ohne intentionale Übelszufügung aussehen könnte. Dazu werde ich nach einer Hinführung (C. I.) mit einer Überlegung darüber beginnen, was uns als menschliche Lebensform auszeichnet. Hier wird es auch ein Stück weit um die Frage gehen, wie Normativität zustande kommt – ein Thema, das sich bereits im zweiten Kapitel (B. IV.) andeuten wird. Das dort zu ermittelnde Charakteristikum, die Tätigkeit des „deontischen Kontoführens“, werde ich sodann ausführen und darlegen, dass diese Praxis wesentlich etwas mit Vertrauen zu tun hat. Dies eröffnet ein Verständnis vom Strafrecht als vertrauensschaffender Institution (C. II.). Im weiteren Verlauf wird es um die Frage gehen, weshalb wir, wenn wir Vertrauen in das Verhalten des Verurteilten schaffen wollen, dieses Vertrauen nicht über die Androhung von „künstlichen Klugheitsgründen“ (C. IV.) oder über Schmerzen (C. V.) herstellen sollten. Damit zusammenhängend wird untersucht, welche Stellung dem Verletzten innerhalb einer Straftheorie zukommen kann. Vor einer abschließenden Betrachtung (C. VIII.) möchte ich einige hieraus folgende Ansatzpunkte für die Strafpraxis ansprechen (C. VII.).
III. Intuitive Begründungen für die Schmerzzufügung Was zeichnet Strafe aus? Stellen wir uns vor, wir landeten in einer fremden Zivilisation und würden die dortige Sprache und auch sonst die sozialen Prakti-
III. Intuitive Begründungen für die Schmerzzufügung
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ken (noch) nicht verstehen. Wie könnten wir nun sagen, ob wir nicht gerade bestraft wurden? Einen von außen kommenden Stimulus als negativ zu empfinden, würde dazu nicht genügen: Wir könnten das Erlebnis von den natürlichen Folgen unseres Handelns oder Unglücksfällen nicht unterscheiden. Und auch wenn wir merkten, dass der negative Reiz von einem Akteur herrührt, der uns zielgerichtet traktiert, könnten wir doch nicht ausmachen, ob das nun Strafe, ein feindlicher Akt oder etwa seine Art ist, Zuneigung zu demonstrieren. Und selbst wenn wir zufällig herausgefunden hätten, dass es sich dabei um Strafe handelte, bliebe uns durch diese Information allein noch immer unverständlich, für welches Tun oder Unterlassen sie uns widerfuhr. Wie die Überlegung zeigt, beinhaltet Strafe über das bloße Setzen von Reizen hinaus ganz wesentlich eine kommunikative Komponente. Wir müssen, um etwas als Strafe zu verstehen, es nicht nur als Stimulus wahrnehmen, sondern verstehen, was uns derjenige, der in der besagten Weise handelt, damit sagen will. Dieses kommunikative Element wird gemeinhin als „Missbilligungskomponente“ der Strafe bezeichnet. Versucht man diese auszubuchstabieren, kann man zu folgender idealtypischen Beschreibung30 gelangen: Missbilligt wird durch den Schuldausspruch des Gerichts im Namen der Gemeinschaft die genau bezeichnete Verhaltensweise des Verurteilten. Durch den Ausspruch wird ihm das als Unrecht qualifizierte Verhalten zugerechnet. Das Gericht zieht außerdem so affirmativ die Grenze zwischen Recht und Unrecht, und versichert dem Verletzten, auf der Seite des Rechts zu stehen. Dem Verurteilten, der Öffentlichkeit wie auch dem Verletzen wird zugleich signalisiert, dass das Tatgeschehen nicht reaktionslos hingenommen wird. Zu dieser Missbilligung tritt nun das Element der „Schmerzzufügung“ hinzu. Schmerzzufügung soll dabei so verstanden werden, dass es sich dabei um die intentionale Auferlegung von Übeln handelt, die über die Zuschreibung von Unrecht hinaus erfolgt,31 und nicht lediglich die Erfüllung eines (nicht-strafrechtlich begründeten) rechtlichen Anspruchs – wie z. B. aus einer vertraglichen Verpflichtung, aus der Pflicht auf Schadensersatz oder der Steuerpflicht – darstellt. Es handelt sich also um die Komponente, die dem Täter wegen ihrer Eigenschaft als Übel auferlegt wird und dazu dient, ihn seine Verfehlung spüren zu lassen.32 In erster Linie ist damit der Vollzug der Freiheitsstrafe mit seinen Grundrechts30 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, The Monist 49 (1965), S. 401 ff.; Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 205 ff. 31 Vgl. zu der nicht notwendigen Verknüpfung von Zurechnung eines Verhaltens (Schuld) und Übel (Strafe) bereits Lüderssen, Recht, Strafrecht und Sozialmoral, in: ders., Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, 1996, S. 204. 32 Im Folgenden werde ich dieses Element der Strafe in Abgrenzung zur Missbilligungskomponente als „intentionale Übelszufügung“, „harte Behandlung“ oder „Strafschmerz“ bezeichnen.
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eingriffen und faktisch schmerzlichen33 und desozialisierenden34 Auswirkungen für den Verurteilten35 gemeint. Angesichts ihrer relativ geringen Anwendungshäufigkeit – so wird sie nur gegen 6,6 % der Verurteilten verhängt36 – könnte man zwar meinen, dass sie im Vergleich zu anderen Sanktionen – eine im Rückzug befindliche Sanktionsform ist. Bezogen auf die Kerndelikte kann von einer Verdrängung allerdings keineswegs gesprochen werden37 – und auch bei allen „alternativen“ Sanktionen steht sie als Auffangnetz bereit.38 Dass die eine Komponente, nämlich die der Missbilligung, die andere, nämlich die der Übelszufügung, nicht ohne Weiteres mitumfasst,39 sondern unterschieden werden kann, ist eine relativ neue Einsicht.40 Die Einsicht macht deutlich, dass eine eigenständige Rechtfertigung auch der Komponente der „harten Behandlung“ notwendig ist. Man kann zwar die Schmerzzufügung als mit der Missbilligung verbunden verstehen, etwa dass sie jene ausdrückt, materialisiert, unterstreicht oder ernsthaft erscheinen lässt. Man kann ihr aber auch eine etwas eigenständigere Funktion zuschreiben, etwa die eines künstlichen Grundes oder die eines Mittels zur Demonstration. Solche Ideen genauer zu untersuchen, wird das Thema von Teil B. sein. Beginnen werde ich jedoch mit einigen intuitiven Denk33 Siehe zum trotz aller Humanisierung existierenden Schmerzelements der Strafe, insbesondere bei der Freiheitsstrafe, Britz, Strafe und Schmerz – eine Annäherung, in: Müller-Dietz-FS, 2001, S. 87 ff. 34 Zu den desozialisierenden Wirkungen der totalen Institution des Gefängnisses, vgl. nur Gutachterin Helga Einsele in BVerfGE 45, 187, 208 f.; Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 2 f. 35 Siehe zur Drittwirkung des Freiheitsentzugs Müller-Dietz, Zur sog. „Drittwirkung“ des Freiheitsentzugs, in: Heinrich u. a., Roxin-FS, 2011, S. 1159. 36 Bezogen auf das Jahr 2012 wurden von den ca. 607 000 Verurteilten etwa 40 000 Personen zu unbedingter Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt (Straftaten gegen den Straßenverkehr sind ausgenommen), s. Statistisches Bundesamt, Justiz auf einen Blick, 2015, S. 6. Und die Quote wäre noch viel geringer, wenn man die faktischen Sanktionierungen (Einstellung wegen Geringfügigkeit, Einstellung unter Auflagen), bei denen es nicht zu einer Verurteilung kam, miteinbezöge. 37 Bezogen auf die Kerndelikte kann von einer Verdrängung der Freiheitsstrafe nicht gesprochen werden, vgl. dazu Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?, 2014, S. 13 f. 38 Vgl. den Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe (§ 56f Abs. 1 StGB) und die Ersatzfreiheitsstrafe für den Fall der Nicht-Leistung der Geldstrafe (§ 43 S. 1 StGB). Zu denken wäre auch an § 145a StGB, der erlaubt, einen Verstoß gegen eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht mit Freiheitsstrafe zu ahnen. 39 Denkbar wäre freilich auch, in der ausdrücklichen Missbilligung eine Übelszufügung zu sehen. Strafe wäre dann nicht Missbilligung und Übelszufügung, sondern Übelszufügung durch Missbilligung. Die hier behandelte Frage wäre dann, inwieweit das Strafrecht auf die Zufügung eines zusätzlichen Übels jenseits der Missbilligung angewiesen ist. S. die Überlegung bei Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 8 f. 40 Siehe Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 207; dazu auch Kühl, Zum Missbilligungscharakter der Strafe, in: Arnold u. a., Eser-FS, 2005, S. 156 ff.
III. Intuitive Begründungen für die Schmerzzufügung
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weisen, die einem in alltäglichen Vorstellungen über die Strafe begegnen. Sie sind allesamt Antwortversuche auf die Frage, weshalb das Element der Schmerzzufügung gerechtfertigt ist. So findet sich ein erstes Argumentationsmuster, das die Schmerzzufügung als natürliches Lehrmittel ausweist: Wer nicht hören will, der muss eben fühlen (1.). Und wenn vorher die harte Behandlung angekündigt wurde, sei sie wohl nachher gerechtfertigt (2.). Wenn die Züchtigung schon bei Kindern unentbehrlich und fruchtbar sei, sollte dies doch bei Verbrechern ebenfalls funktionieren (3.). Die zweite Gruppe der Überlegungen kreist um die Vorstellung, dass erst durch die Komponente der Schmerzzufügung die Reaktion auf die Tat ausreichendes Gewicht erhält: Erst die Schmerzzufügung führe dazu, dass mögliche Verbrecher vor kriminellen Handlungen zurückschrecken (4.). Auch die Geschädigten seien nur dadurch zu besänftigen, dass den Tätern über die reine Missbilligung hinaus eine harte Behandlung widerfahre (5.). Die dritte Version der Rechtfertigungsnarrative versucht das Element der Schmerzzufügung als althergebrachtes und akzeptiertes Institut auszuweisen: Schon immer sei es das Medium der Strafe gewesen (6.). Überdies würden die etablierten Strafquanten als gerecht empfunden (7.). Und wem die harte Behandlung bedenklich erscheint, der müsse bedenken, dass die Aufgabe des Strafrechts eben unschön, aber gleichwohl unabdingbar sei (8.). So wenig der Verweis auf Alltagseinsichten oder Redensarten genügt, den Strafschmerz zu begründen, so wenig reicht die Fragwürdigkeit jener Denkweisen hin, um deren Berechtigung gänzlich zu widerlegen. Ziel sein kann allein, die intuitive Gewissheit zu erschüttern, die derartige Denkstrukturen im Hinblick auf den Strafschmerz erzeugen. Dies ist umso dringlicher, als auch strafrechtstheoretische Überlegungen – teils absichtlich, teils billigend – auf solche Intuitionen gegründet sind. Es geht im folgenden Abschnitt also darum, die intentionale Zufügung eines Übels als Bestandteil der strafrechtlichen Reaktion als zumindest problematisch und verstärkt der Rechtfertigung bedürftig zu präsentieren. 1. Wer nicht hören will, muss fühlen Wer nicht hören will, muss fühlen. Im paradigmatischen Anwendungsfall, dem der Herdplatte, bedeutet die Mutter dem Kind, nicht auf die heiße Platte zu fassen, da es sich sonst zu verletzen drohe. Das Kind tut es doch und verbrennt sich. Wer nicht hören will, muss fühlen! Der Ungehorsame bekommt die Folgen seines Verhaltens zu spüren. Ungehorsam und Schmerz scheinen hier klar verbunden. Der postulierte Zusammenhang erscheint doch ganz natürlich. Ist dieser Gedanke nicht auch auf die Frage der Strafe zu übertragen? Der Staat „kommuniziert“ dem potenziellen Verbrecher durch die Gesetze, sich legal zu verhalten. Dennoch verstößt dieser gegen das Gesetz. Wäre es nicht angebracht, dass er nun „fühlt“? Betrachten wir ein wenig genauer, was das Szenario der Herdplatte ausmacht: Der Rat der Mutter, die auf die schmerzlichen Folgen der Verhaltensweise hin-
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A. Einleitung
weist, wird nicht befolgt. In dem nachträglich geäußerten, zur Redensart gewordenen Satz könnte man die Botschaft sehen: „Der Schmerz war die zwingende Folge deines Handelns. Hättest Du besser auf mich gehört! Du hattest alles nötige Wissen zur Verhinderung.“ Es handelt sich somit um eine Selbstzufügung von Schmerzen. Die Mutter verweist auf den Eintritt von Folgen, die nicht in ihrer Hand liegen. Es ist also eine Warnung, keine Drohung. Insgesamt stellt dieses Verständnis des Sprichworts mithin eine Beschreibung der naturgesetzlich eintretenden Verhaltensfolgen dar: poena naturalis. Man kann das Sprichwort freilich alternativ als Drohung verstehen. Dann ist es die Darlegung der Idee, die Angst des Adressaten vor schmerzhafter Behandlung dafür herzunehmen, um dessen Gehorsam zu erreichen, die Sicherstellung des Gehorsams durch Angst vor Schmerz. Ob diese einleuchtet, sei hier dahingestellt.41 Klar aber ist, dass hierfür die zwingend einleuchtende Idee der ersten Deutung nicht mehr Pate stehen kann. Es führt, so könnte man sagen, keine legitimatorische Brücke von der ersten Deutung, nämlich der als Warnung, zur zweiten Deutung, nämlich der als Drohung. Es ist also nicht so, dass wir, da wir vor Unglück warnen dürfen, deswegen mit ihm drohen dürfen. Bei der ersten Deutung der Redeweise handelt es sich um ein natürliches Evidenzerlebnis, bei der zweiten um eine nicht weiter begründete Ankündigung von Gewalt, eine Botschaft von der Insel, „where dead oxen attack living men“ 42. Anders gesagt: Dass wir gemäß den „Gesetzen“ der Natur schmerzlich gestraft werden, besagt nichts dazu, dass die Gesetze des Menschen ebenso funktionieren sollten. Das „muss“ in der Redensweise gilt also nur für die Variante der Herdplatte, nicht für die Variante der Peitsche. Dass diese Differenz hier jedoch häufig – nicht nur in kriminalpolitischen Überlegungen – bedenklich verwischt wird, kann man etwa an den Geschichten des Struwwelpeter, von den Kindern, die nicht brav sind, sehen. So fällt der gedankenversunkene Hans-Guck-in-die-Luft aus Unaufmerksamkeit ins Wasser – poena naturalis. Dem Daumenlutscher Konrad dagegen werden, wie von der Mutter angekündigt, vom Schneider die Daumen abgeschnitten. 2. Ich hab’s dir doch vorher gesagt Kann die Berechtigung der Schmerzufügung, wenn nicht aus dem Gedanken der poena naturalis, so doch aus dem Gedanken der Androhung gefolgert werden? Zu strafen, ohne vorher anzukündigen, welches Verhalten strafbar ist, erscheint unsinnig und unbegründet.43 Heißt das aber umgekehrt, dass die ange41
Dazu mehr unter C. Plautus, Asinaria, in: Riley, The Comedies of Plautus, 1852, Band 1, S. 481 (Akt 1 Szene 1). 43 Hinsichtlich der Androhungsprävention, die die Abschreckung potenzieller Täter erreichen will, folgt das aus ihrer Eigenlogik. Für andere Theorien ergibt sich aus das aus dem Vorwurfscharakter der Strafe. Ein Vorwurf ist nur sinnvoll, wenn der Täter den 42
III. Intuitive Begründungen für die Schmerzzufügung
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drohte Strafe sinnvoll und begründet ist? Liefert die Androhung der Strafe vor dem Verbrechen die Legitimation dafür, nach dem Verbrechen das Angedrohte auszuführen? „Ich habe Dir doch vorher gesagt, was ich machen würde, wenn Du dieses Verhalten an den Tag legst!“ Führt das Wissen um die Folge zu deren Zulässigkeit?44 Offensichtlich nicht. Genauso wenig wie die Ankündigung des Räubers im Falle der Nichtherausgabe des Geldes, den Adressaten zu erschießen, dem Räuber bei Bedingungseintritt das Recht hierzu einräumt. Auf das staatliche Handeln übertragen, kann beispielsweise die Folter nicht deswegen legitimiert werden, weil sie für den Fall nichtkooperativen Verhaltens angedroht wurde.45 Die vorherige Auskunft, ein bestimmtes Verhalten als widerrechtlich zu bewerten und mit Strafe zu bewehren, sagt offenkundig darüber nichts aus, was legitimerweise Inhalt der Drohung sein darf. Die Sanktionsankündigung ist nicht hinreichende, sondern bestenfalls notwendige Bedingung einer legitimen Strafe.46 3. Eine ordentliche Abreibung hat noch niemandem geschadet Mit dem Gedanken des „wer nicht hören will, muss fühlen“ verbindet sich häufig die Vorstellung, dass die schmerzliche Erfahrung aufgrund ihrer Eindringlichkeit ein gutes Lehrmittel abgibt, um jemanden „auf die rechte Bahn zu lenken“. Damit kann nicht der mit der Herdplatte ebenfalls oft assoziierte Effekt gemeint sein, dass man aus Fehlern, die man selbst begeht, besser als aus theoretischen Ausführungen lernt. Um von diesem Effekt zu profitieren, wäre es nicht nötig, der Feststellung des Fehlers als Fehler noch eine Zufügung von Schmerzen anzuhängen. Vorgebracht wird die besagte Vorstellung folglich auch vielmehr im Kontext der eigenen Kindheits- oder Elternerfahrung. Trotz des rechtlich vollständigen Banns der körperlichen Züchtigung von Kindern47 ist die Rechtsverstoß vermeiden konnte, er also darüber informiert war, dass das infrage stehende Verhalten verboten ist. 44 Naheliegender, aber verwandt, ist der Gedanke, dass aus dem Wissen um die Folge bei Bedingungseintritt das Wollen der Folge wird, die Tat also konkludente Einwilligung in die Strafzufügung darstellt. Dieser Gedanke einer vorausgesetzten Zustimmung wird in zwei Varianten vertreten: Zum einen in der Weise, dass der Täter dem konkreten Bestrafungsakt vernünftigerweise begrüßen müsse (vgl. dazu „Selbstwiderspruch“, s. u. B. Fn. 317), zum anderen in der Form, dass er im Vorhinein einem System der Bestrafung vernünftigerweise zustimmen müsse (vgl. dazu B. II. 2.). 45 So weist auch Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 52 (= 2. Aufl. 2017, S. 52 f.), darauf hin, dass man sich auch dann auf die Illegitimität einer Behandlung berufen kann, wenn man vor ihrem Eintreten gewarnt wurde. 46 Ebd., S. 52 (= 2. Aufl. 2017, S. 53). 47 Für Deutschland der § 1631 Abs. 2 BGB durch Art. 1 des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2. November 2000 (BGBl. 2000 Teil I, S. 1479). Ebenso die Ansicht des Committee On the Rights of the Child in Auslegung des Art. 19 Convention on the Right of the Child (vom 20. November 1989): „There is no ambiguity: ,all forms of physical or mental violence‘ does not leave room for any level of legalized violence against children.“
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Erfahrung körperlicher Gewalt, wenn auch rückläufig, noch immer weit verbreitet.48 Vorgetragen wird oftmals, man sei zwar einige Male gezüchtigt worden, doch habe es einem letzten Endes nicht geschadet.49 Dieses Rezept, den nötigen Gehorsam durch Züchtigung zu erlangen, scheint nun dafür prädestiniert, auch der Legitimierung einer schmerzenden Kriminalstrafe zu dienen.50 Denn was für Kinder gut und billig sei, könne auch bei Straftätern so falsch nicht sein. Jedoch ist diese – oft unbewusste – Übertragung aus mindestens zwei Gründen bedenklich: Erstens, und das betrifft schon das zu Übertragende selbst, ist die Vorstellung, die Zufügung von Schmerz sei bei der elterlichen Erziehung ein probates Lehrmittel, verfehlt. Es ist, nach allem, was wir heute wissen, vielmehr davon auszugehen, dass körperliche Züchtigung zum einen nicht langfristige, internalisierte Normbefolgung, sondern bloß momentane Verhaltensanpassung befördert, zum anderen statt einer sozialverträglichen Einstellung trotziges, aggressives und weniger empathisches Verhalten produziert und als Mittel der Erziehung somit ungeeignet ist.51 Der zweite Grund betrifft die Unterschiedlichkeit der Szenarien von elterlicher Erziehung und staatlicher Strafe. Denn selbst wenn die als Kind erfahrene körperliche Züchtigung keine (wahrgenommenen) negativen Folgen bei einem selbst nach sich gezogen hat, so mag dies daran liegen, dass der Akt der Züchtigung innerhalb des größeren Rahmens familiärer Wertschätzung erfolgte, wodurch das Kind von der grundlegenden emotionalen Anerkennung durch die jeweilige Bezugsperson ausgehen konnte. Strafen durch staatliche Stellen hingegen sind nicht in einen solchen „kognitiv-emotionalen Kontext fragloser Anerkennung“ eingebunden, können
Committee On The Rights of The Child, General Comment No. 8 (2006), Nr. 18; vgl. auch die Empfehlung des Europarats, Rec. 1666 (2004). 48 So berichtet Pfeiffer von zwei Befragungen 16–40-Jähriger. Im Jahre 1991 hätten 58,4 % leichte elterliche Gewalt (z. B. Ohrfeige), 15,2 % schwere elterliche Gewalt (z. B. das Schlagen mit einem Gegenstand) erfahren, im Jahre 2011 war der Anteil auf 36,0 % und 11,9 % zurückgegangen (Stichproben 3 300 und 11 500 Befragte). Pfeiffer, Parallel Justice – warum brauchen wir eine Stärkung des Opfers in der Gesellschaft?, in: Erich/ Wiebke, Mehr Prävention – weniger Opfer, 2014, S. 182. 49 Diese Grundhaltung betrachtet, wie es scheint, auch der Europarat als weit verbreitet, vgl. Europarat, Abolishing corporal Punishment of Children – Questions and Answers, 2007, S. 35: „I was hit as a child and it didn’t do me any harm. In fact, I wouldn’t be where I am today if it were not for my parents physically punishing me.“ 50 Vgl. auch zum Gedanken des strafenden Umgangs im Familienalltag als Wurzel für Vergeltungsrecht und Gefängnisglauben, Wolf, Ende der Vergeltung – Utopie, in: Ortner, Freiheit statt Strafe, 1986, S. 38. 51 Den körperlich Bestraften drohen zahlreiche unbeabsichtigte Nebeneffekte (Ängstlichkeit, Depression und Stress), die Beziehung zwischen Kind und Eltern wird beschädigt, Gewalt als Problemlösungsstrategie erlernt, sowie eine bloß instabile, mit der Anwesenheit des Strafstimulus bedingte Verhaltensanpassung erreicht. So Gershoff/ Bitensky, The case against corporal punishment of children, Psychology, Public Policy, and Law 13 (2007), S. 233 ff. m.w. N.
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vom Bestraften somit nur in einer repressiven Weise verstanden werden.52 Die Übertragung der genannten Erziehungserfahrungen („Hat doch nicht geschadet!“) auf den Gedanken der strafrechtlichen Schmerzzufügung erweist sich somit als ein geradezu gefährlicher Fehlschluss. 4. Die Aussicht auf Schmerzen verhindert Verbrechen Dazu aufgefordert, sich die Schmerzufügung vom Akt des Strafens einmal hinwegzudenken, wird nicht selten behauptet, dass ebendieses Gedankenexperiment die Alternativlosigkeit der Schmerzzufügung demonstriere: Der potenzielle Täter werde doch gerade durch den in Aussicht gestellten Strafschmerz von der Begehung einer Tat abgehalten – beziehungsweise positiv gewendet: der Bürger durch die Zufügung des Strafübels in seinem Vertrauen in die Normbefolgung bestärkt. Entfiele diese Aussicht, wäre kriminellem Verhalten Tür und Tor geöffnet. Die Hypothese suggeriert also, dass die Androhung des Strafübels der einzige oder zumindest doch der entscheidende Motivationsfaktor für legales Verhalten sei. Eine derartige Annahme überschätzt die verhaltenssteuernde Wirkung des Strafrechts jedoch immens. Insbesondere, wenn man auf die kernstrafrechtlichen Normen blickt, wird schnell klar, dass wir von der Begehung einer solchen Straftat – etwa einem Gewaltverbrechen – nicht um der Strafbewehrung willen absehen, sondern eine ganze Reihe anderer Handlungsmotivationen uns davon abhält.53 Die Palette dieser Motive reicht von ethisch hochstehenden und moralischen bis hin zu rein pragmatischen Gründen, kann auf in- oder extrinsischer Motivierung beruhen. Im Kontrast zur vorgebrachten Hypothese ist daher anzunehmen, dass die Strafe und damit die angedrohte Schmerzzufügung in den wenigsten Fällen handlungsbestimmender Gründegeber ist. Die wenigsten Tatgeneigten – von einigen Fallgruppen abgesehen – folgen einer rationalen Abwägungsstrategie.54 Dies gilt umso mehr, je affektgeladener ein Verbrechen ist.55 52 So Günther, Kritik der Strafe II, WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), S. 135, der diesen Gedanken generell gegen die bedenklich (unbewusste) Übertragung der erzieherischen Sanktionslogik auf die Kriminalstrafe vorbringt. Eine solche Übertragung würde womöglich nicht mehr bedrohlich erscheinen, da dort eine mittlerweile positive, auf Selbständigkeit und Einsichtsfähigkeit zielende Sanktionierung stattfinde; vgl. auch Koch, Jenseits der Strafe, 1988, S. 23 f. 53 Oder eben nicht. Aber in diesen Fällen ändert auch die Strafdrohung in aller Regel nichts. 54 Die Täterpsychologie ist sicher nicht unwichtig, jedoch deutlich komplexer, hängt sie unter anderem von der Beziehung zur Norm, vom geschützten Rechtsgut und der Persönlichkeitsstruktur ab, so Lüderssen, Die generalpräventive Funktion des Deliktsystems, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 118 ff. 55 Vgl. einschränkend Hörnle, Claus Roxins straftheoretischer Ansatz, in: Heinrich u. a., Roxin-FS, 2011, S. 8 f.: Wirkungsskeptische Argumente zeigten lediglich, dass die Verhaltenssteuerung durch Strafandrohung nicht überschätzt werden sollte.
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Und in jenen Fällen, in denen die Strafandrohung mitkausal den handlungshemmenden Grund abgibt, bleibt unklar, welches der Elemente der Strafpraxis entscheidend ist: das strafrechtliche Verbot als solches, die invasiven staatlichen Ermittlungen, das Publik-Werden der Sache, die Unannehmlichkeiten rund um den Strafprozess, wie etwa die Auswirkungen auf Privat- und Berufsleben oder die Prozess- und Anwaltskosten, die Belastung des Strafprozesses selbst, die Zuschreibung des Unrechts zur eigenen Verantwortlichkeit, die Forderungen des Geschädigten, die Schädigung der Reputation, die Eintragung ins Bundeszentralund sonstige Register, das Stigma des Verurteilung in Bezug auf das soziale und berufliche Leben, oder eben: die eigentliche, staatlich intendierte Schmerzzufügung in Form von Geld- oder Freiheitsstrafe. Es ist wohl nicht unwahrscheinlich, dass Furcht vor Entdeckung und öffentlicher, sozialer Stigmatisierung den wesentlichen Part ausmachen,56 die präventive Wirkung der Schmerzzufügung hingegen nicht allzu groß ist.57 Diese Ungewissheit über die Relevanz der Komponente der Schmerzzufügung wird häufig übersehen, und auch in wissenschaftlichen Analysen überspielt. So wird etwa bei kriminalpolitischen Aussagen zur strafrechtlichen Verhaltenssteuerung von einem sanktionalen Amalgam, also einer untrennbaren Vermischung, ausgegangen58 oder bei einer empirischen Untersuchung die Komponente der Schmerzzufügung gänzlich in den Vordergrund gestellt.59 Um den Strafschmerz aufgrund der abschreckenden beziehungsweise stabilisierenden Wirkung zu rechtfertigen, wäre jedoch zu zeigen, dass gerade dieses Element das relevante, (mit)kausale Handlungsmotiv bildet. Zum Manko, dass die besagte Wirkung des Strafschmerzes eine wenig befragte Annahme ist, kommt für die Beweisbarkeit dieser Hypothese erschwerend hinzu, dass sich der rechtfertigende Effekt der Abschreckungswirkung in einem Unterlassen niederschlägt, und zwar in der Nicht-
56 Vgl. zum sozialen Stigma als Quelle der Abschreckung Nagin, Criminal Deterence Research at the Outset of the 21st Century, Crime and Justice 23 (1998), S. 4 f. Im Anschluss daran, m.w. N. Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 26 Fn. 10 und 11. 57 Selbst bei der lebenslangen Freiheitsstrafe: Wahrscheinlichkeit und Gleichmäßigkeit der Bestrafung hätten größeres Gewicht als Härte der Strafe (so Heinz MüllerDietz). Die Schwere der Strafe trete gegenüber der persönlichen Wertorientierung, der Einschätzung des Entdeckungsrisikos sowie konkreten situativen Bedingungen zurück, und zwar auch und gerade beim sogenannten Rationaltäter. Wichtig erscheine dagegen Struktur und Intensität des gesamten Präventionssystems in einer Gesellschaft (so Günther Kaiser), beide als Gutachter in BVerfGE 45, 187, 211 ff. 58 Etwa Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 67 f. 59 Etwa Curti, Abschreckung durch Strafe – eine ökonomische Analyse der Kriminalität, 1999, S. 98 ff. paradigmatisch S. 114: „Soziale Stigmatisierung und Ansehensverlust können allerdings aus vorhandenen Daten statistisch nicht erfasst werden“, was Curti gleichwohl (zu Recht) bedauert, ebd., S. 179.
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Begehung einer Straftat.60 Gezeigt werden müsste also, dass es eine Anzahl von Menschen gibt, die genau wegen der angekündigten Schmerzzufügung, nicht aber wegen anderer Aufarbeitungsmechanismen und Konsequenzen der Tat, dieses oder jenes Verbrechen nicht begehen.61 Diesen gegenüber wäre die Schmerzzufügung wirksam – was freilich nur ein erster Schritt wäre, da die Wirksamkeit allein nichts darüber sagen würde, dass die Schmerzzufügung eine Methode ist, derer wir uns bedienen sollten, sie also angemessen ist. Der besagte Wirksamkeitsbeweis steht bislang aus, auch scheint ihn niemand erbringen zu wollen.62 Vielmehr verlegt man sich darauf, dem „Anscheinsbeweis der Plausibilität“ zu vertrauen – was angesichts der historischen und faktischen Immanenz der Strafpraxis funktioniert. Die Kombination aus amalgamierender Betrachtungsweise der strafrechtlichen Sanktion und dem Vertrauen auf einen Effekt, der schwer beweisbar ist, könnte den Gedanken aufkommen lassen, dass es sich bei der Schmerzzufügung um ein unnötiges Relikt handelt, an dessen Unabdingbarkeit bloß irrtümlich geglaubt wird. Bildlich die beruhigende Mutter zum Kind: „Siehst du, wie es wirkt, wenn ich die bösen Geister fernhalte, indem ich sie auffordere, wegzubleiben? Siehst du, wie sie wirklich nicht kommen? Nein, aufhören sie anzurufen, will ich nicht. Sonst würden sie doch kommen!“ 5. Willst du etwa Selbstjustiz? Der Annahme verwandt, dass ohne Schmerzzufügung eine große Zahl zum Täter mutieren könnte, ist das Narrativ vom Rückfall in die Selbstjustiz, das sich folgendermaßen erzählen lässt: Ohne Zufügung eines Übels würde ein Verbrecher die bloßen Worte der Ermahnung verlachen und achselzuckend weitergehen, das Opfer hingegen nähme die „Bestrafung“ mit Unverständnis auf und würde zur Selbstjustiz getrieben, die ihm in Ermangelung von Schmerzandrohung wiederum selbst akzeptabel und sogar attraktiv erscheinen würde. Der Strafschmerz, so die Essenz, sei nötig, um einer Regression zu Blutfehde und Selbstjustiz zu
60 Vgl. auch Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 25. Ganz ähnlich verhält es sich bezogen auf das Normvertrauen: der Effekt der Strafe, das Vertrauen in die Geltung der Normen zu stärken, zeigt sich darin, dass die Akteure zu Recht darauf vertrauen, dass also keine Straftaten begangen werden. 61 Gezeigt werden müsste auch, dass es Täter gibt, die genau deswegen die Tat begingen, weil sie aufgrund der fehlenden Schmerzzufügung nicht abgehalten wurden. Der zu beweisende Effekt wäre dann freilich ein positiver (begangene Tat), die fehlende Schmerzzufügung aber lediglich ein nicht bestehender negativer Grund („ich handelte, weil die Schmerzzufügung nicht existierte“). Die Schwierigkeit der Beweisführung verschiebt sich lediglich. 62 Zu den Schwierigkeiten einer empirischen Überprüfung vgl. die Metaanalyse von Dölling u. a., Zur generalpräventiven Abschreckungswirkung des Strafrechts, Soziale Probleme, 17 (2006), S. 193 ff.
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entgehen.63 Postuliert wird damit eine strenge Dichotomie in Form der rhetorischen Frage: „Willst Du Schmerzzufügung oder Selbstjustiz?“ Ähnlich wie bei der Verhaltenssteuerung durch Strafschmerz dürfte man hier zur scheinbaren Plausibilität durch eine (bewusste?) Ausklammerung oder Verkürzung der übrigbleibenden Reaktion gelangt sein: Zunächst wäre die Feststellungskomponente in ihrer vollen Bedeutung zu beachten, die dem Verurteilten das Unrecht als vorwerfbares zuschreibt, den Geschädigten ins Recht setzt und stellvertretend für die Gemeinschaft die Missbilligung ausdrückt. Des Weiteren umfasst die staatliche Reaktion auch die Ermittlung des Delikts und die prozessual-formelle Befassung.64 Nicht unerheblich ist überdies, dass die Zuschreibung der Verantwortlichkeit die Grundlage für den Entzug der Tatvorteile, die Restitution des entstandenen materiellen Schadens und die Leistung von Schmerzensgeld ist. Rechnet man aus der besagten Warnung vor Selbstjustiz das zirkuläre Element, nämlich dass die Warnung vor Selbstjustiz zur Schmerzbegründung gerade deswegen plausibel erscheint, weil man die Schmerzzufügung als einzige, den Geschädigten zufriedenstellende Reaktion unterstellt, heraus, bleibt von dieser Warnung lediglich die Forderung nach einer angemessenen Reaktion zurück. Was im Einzelnen das Kriterium der Angemessenheit erfüllt, und ob es gerade die Schmerzzufügung ist, die eine unangemessene in eine angemessene Verbrechensreaktion verwandelt, wird dadurch nicht geklärt. Das Bestreben, dem wilden Zustand privater Rechtdurchsetzung zu entgehen, mag die staatliche Befassung und Reaktion, womöglich den Staat überhaupt65 begründen. Es dürfte auch das Anliegen unterstreichen, in Überlegungen zum Strafzweck verstärkt die Interessen des Geschädigten zu berücksichtigen.66 Ob es die Rechtfertigung der strafenden Schmerzzufügung liefert, steht hingegen auf einem anderen Blatt. 6. Strafe ist’s nur, wenn’s weh tut! Statt von den unguten Folgen her zu denken, findet sich oftmals der Versuch, den Strafschmerz dadurch einsichtig zu machen, dass man ihn zum Wesenskern
63 Vgl. dazu auch Günther, Kritik der Strafe II, WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), S. 131 f. 64 Zur Formalisierung der sozialen Kontrolle in der Strafprozessordnung als Gelingensvoraussetzung für die Rechtfertigung des Strafrechts, Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2009, S. 203. 65 So unter Verweis auf Autoren der klassischen Staatstheorie, wonach der Staat aus der Überwindung privater Rechtsdurchsetzung entsteht, Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 212 mit Bezug auf Lüderssen, Die Perspektive der Wiedergutmachung, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 211 Fn. 30. 66 Siehe dazu C. VII.
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der Strafe erklärt. Auch wenn die Rede vom „Wesen“ überhaupt nur haltbar sein dürfte, wenn man die dynamische Komponente einer Rezeption, also deren Wandelbarkeit, im Blick behält, ist gleichwohl der Hinweis beliebt, dass die Schmerzzufügung der historisch etablierte Modus sei, auf Verbrechen zu reagieren. Sie bilde das Medium für den Ausdruck von Missbilligung. Sie verhalte sich zur Missbilligung in eben derselben Weise, wie die Farbe Schwarz zur Trauer stehe.67 Die Praxis der Schmerzzufügung habe sich als vorteilhafte Praxis erwiesen und sich deshalb so nachhaltig perpetuiert. Das Moment der Übelszufügung sei jedenfalls in der gesellschaftlichen Praxis fundamental verankert. Nicht zuletzt wird hierfür auf etymologische Herleitungen verwiesen: So verweise bereits die Wurzel des Wortes „strafen“ von straff ziehen (germ. *strappon) wohl auf die körperliche Pein als dem Ursprungsmoment der Wortentwicklung.68 Nahe liegt auch die Assoziation von „punishment“, „pain“ und Pein: eben zur Zufügung von Schmerz. Doch so zwingend ist die Verbindung von „Strafe“ und dem Zufügen von Schmerzen nicht. Denn schon die Verbindung des Wortes „strafen“ zu „straff/ streng behandeln“ ist unsicher.69 Jedenfalls scheint der Gebrauch des Wortes „strafen“ im Sinne des körperlichen Züchtigens nicht so alt wie der Gebrauch im Sinne des Scheltens mit Worten zu sein.70 Die Schmerzbehandlung ist also wohl gerade das Hinzutretende. Und der Begriff der Pein, der auf die griechische poinÞ zurückgeht, verweist auf ein Modell, bei dem der Ersatz des Schadens im Zentrum stand.71 Man kann dieses Modell als Hinweis auf das Phänomen der Reziprozität, der Gegengabe verstehen.72 Diese Nähe zu einer Entschädigungsgabe zeigt sich auch im lateinischen Ausdruck „poenas dare“ für „bestraft werden“, und auch im Begriff des Vergeltens, der von „erstatten, entrichten“ (germ. 67
Dieses Beispiel erwähnt – um den konventionellen Charakter des Strafschmerzes zu betonen – Feinberg, The Expressive Function of Punishment, The Monist 49 (1965), S. 402. 68 Spycher, Die Legitimation der retributiven Kriminalstrafe, 2013, S. 23 mit Verweis auf Grimm/Grimm, Bd. 19, Spalte 701. Dort heißt es allerdings zurückgenommen, dass die Bedeutungsentwicklung in ihrem Ursprung „merkwürdig überdeckt“ sei, sodass nur gemutmaßt werden könne. Es sei jedoch „sehr auffällig“, dass die Bedeutung des Scheltens früh erscheint, während gleichwohl „die lexicographen“ die Bedeutung der Körperstrafe als Ausgangspunkt angenommen hätten. 69 Falk/Torp, Norwegisch-dänisches etymologisches Wörterbuch, 1911, Teil 2, S. 1176. 70 Kluge/Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1995, S. 799; Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Aufl. 1993, Bd. 2, Stichwort „Strafe“. 71 Burkert, „Vergeltung“ zwischen Ethologie und Ethik, 1994, S. 15. Das heißt freilich nicht, das sich die Entschädigung auf den materiellen Schaden begrenzen muss. Auch Achill fordere mit poinÞ nicht nur den Ausgleich seines materiellen Schadens, sondern die vollständige Kompensation seiner „herz-schmerzenden Schändung“ (ebd., S. 25). 72 So Burkert, ebd., S. 20.
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*geldan)73 herrührt.74 Selbst die oft bemühte biblische Talionsforderung des „Auge für Auge“ 75 dürfte – sogar in ihrer Entstehungszeit – die Funktion einer Leitlinie bei der Bemessung der Widergutmachungsleistung gehabt haben.76 Wie gelangt man von diesem Reparationsgedanken zur Schmerzzufügung, wie kann das Leiden des Täters Ausgleich von Schulden sein? Fast scheint es so, als dass man, um „jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordene Ideen-Verhäkelung ,Schuld und Leid‘“, von Schuldner und Gläubiger zu erhalten, den „Gegen-Genuß“ des „Leiden-machen[s]“ als Remedium ansehen, und so ein „Anrecht auf Grausamkeit“ anerkennen müsste:77 „Vermittelst der ,Strafe‘ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil: endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein ,Unter-sich‘ verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die ,Obrigkeit‘ übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit.“ 78
Zur Verschüttung des Entschädigungsgedankens – und somit dem Aufkommen der Idee der Schmerzzufügung – könnte auch beigetragen haben, dass sich mit dem Entstehen der staatlichen Strafe die Sicht auf das Substrat des angerichteten Schadens wandelte: dass nämlich nicht mehr so sehr wegen des unmittelbar Verletzten, sondern wegen des Souveräns „vergolten“ werde. Nach und nach gerät das Opfer als Entschädigungsempfänger – jedenfalls als zentrales Element – aus dem Fokus. Diesen Prozess der Aufmerksamkeitsverschiebung könnte man auf die Modellierung der Strafe als säkulare Version der misericordia79, also der Schuldentledigung gegenüber Gott, zurückführen. Man könnte die Entstehung der öffentlichen Strafe auch so beschreiben, dass Schädiger und Geschädigtem der Konflikt entzogen wurde, sodass sich nun der Souverän vom Täter angegriffen sieht und gewissermaßen zum Verletzten wird.80 Diese Prozesse dürften der Zentralisierung von Macht durchaus verwandt sein. Durch die Verschiebung der 73 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Aufl. 1993, Bd. 2, Stichwort „Vergeltung“. 74 Zum Vergeltungsbegriff auch Bianchi, Alternativen zur Strafjustiz, 1988, S. 28. 75 Exodus 21, 24. 76 Dazu und zum scheinbaren Vergeltungsdogma im Alten Testament insgesamt Koch, Jenseits der Strafe, 1988, S. 52 ff. 77 So die Analyse bei Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Colli/Montinari, 2010, S. 300; s. dazu genauer Bung, Nietzsche über Strafe, ZStW 119 (2007), S. 124 f. 78 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Colli/Montinari, 2010, S. 300 (H. i. O. als Sperrdruck). 79 Achter, Geburt der Strafe, 1951, S. 93 f. 80 Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 212 f. unter Rekurs auf Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 70 f., der von der Neutralisierung des Opfers spricht. Vgl. auch zur ähnlichen Entwicklung im islamischen Recht, Campagna, Der Zweck der Strafe im islamischen Strafrecht, ARSP 97 (2011), insbes. S. 369.
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Geschädigtenperspektive, weg vom direkt Betroffenen, hin zum Souverän, könnte sich jedenfalls die Plausibilität der Entschädigungsleistung als Sanktionsform verloren haben. Wie wäre ein Schaden des Souveräns zu quantifizieren, wenn ein Unterworfener einen anderen beraubt? Mit dem Souverän als Verletzten tritt die Opferentschädigung als Äquivalent zur Schädigung durch den Täter in den Hintergrund. Freilich ist das nur eine spekulative Hypothese zu dem Entwicklungsvorgang, wie sich aus einer Praxis des Schadensausgleichs ein System der Schadenszufügung entwickelt haben könnte. Der Verweis auf die Wandelbarkeit der Reaktionsweise relativiert jedoch nicht nur die Vorstellung von der Strafe als stabiler historischer Errungenschaft. Er dürfte sogar ganz im Gegenteil dazu anregen, die in jüngerer Zeit verstärkt betriebene Fokussierung auf das Tatopfer als Rückbesinnung der Konfliktbehandlung auf die Ebene zwischen Schädiger und Geschädigtem zu verstehen (s. dazu C. VI.). 7. Dem soll es doch nicht besser ergehen als den anderen Verbrechern Die Tatsache, dass die Schmerzzufügung wichtiges Merkmal der existierenden, institutionalisierten Praxis ist, verleiht ihr mangels realer Gegenmodelle („kein Staat hat noch auf die gewollte Übelszufügung verzichten wollen“ 81) und der Unmöglichkeit die Praxis vorübergehend auszusetzen, um ihr Unabdingbarkeit empirisch zu prüfen, ein beachtliches Gewicht.82 An diesen Status knüpft nun ein vertrautes Empfinden an, das die Schmerzufügung als gerecht ausweist: „Auch dieser Verbrecher verdient keine andere Behandlung, musste doch der andere auch für x-Jahre hinter Gitter.“ Insbesondere bei der Beurteilung von Strafhöhen wird die Einschätzung des „Verdienten“ in Bezug auf andere vergleichbare Verbrechen in (vorgestellte) Verdienst-Tabellen einsortiert und in Relation zu diesen bewertet. Ein solches vergleichendes Denken ist als solches weder verkehrt noch empörend, sondern knüpft vielmehr an die verfassungsmäßig verbriefte Garantie, gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln, an. Allerdings droht ein derartiges Vorgehen auch zu bewirken, dass ein künstliches Amalgam aus Strafschmerz und Gleichbehandlung entsteht und so den Eindruck erweckt, die legitimierende Kraft des Gleichheitsgrundsatzes würde sich auf die Frage des Strafschmerzes erstrecken. Heikel ist die Denkweise besonders dann, wenn man aus den besagten relativen Einordnungen auf die Existenz diesbezüglicher Akzeptanz- und Gerechtigkeitsvorstellungen schließt und dann diese wiederum als die Sanktion legitimierend heranzieht. Denn derartige Einschätzungen reproduzieren sich selbst und drohen so zu 81
Nachweise bei Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 157 ff. Dazu kritisch auch Kunz, Muss Strafe wirklich sein?, in: Radtke u. a., Muss Strafe sein?, Jung-Kolloquium, 2004, S. 77: „Vertrautheit begründet Zutrauen“. 82
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A. Einleitung
verschleiern, dass hier lediglich eine Einschätzung vor einem vorausgesetzten Maßstab vorgenommen wurde. Und über Beschäftigung mit dem Einordnen der Einzelfälle in das Raster läuft man Gefahr, zu vergessen, den Maßstab als solchen der Überprüfung zu unterziehen. Die gleichmäßige Anwendung des Rechts kann ohne Frage als Kriterium für eine legitime Rechtspraxis angesehen werden. Über die Qualität des angewandten Rechts besagt sie jedoch nichts. 8. Strafen ist eben eine hässliche Angelegenheit Schließlich wird geradezu resignativ darauf verwiesen, dass Bedenken und Hemmungen nun einmal eine natürliche Begleiterscheinung des Strafens wären. Zu strafen, so lautet die Devise, sei einfach keine schöne Angelegenheit. Man erklärt, dass das Strafrecht die ultima ratio der Reaktion auf deviantes Verhalten darstellt, ihm insofern die unerfreuliche, gleichzeitig allerdings unabdingbare Funktion eines Lückenfüllers zukommt. Überlegungen in diese Richtung drohen im Stile einer Neutralisierungstechnik zu verdecken, dass das „ungute Gefühl“ beim Strafen womöglich nicht schlicht als unausweichlich fader Beigeschmack hinzunehmen ist, sondern einem zu überdenkenden Umgang mit deviantem Verhalten83 geschuldet sein könnte. Wo stehen wir? Dass das Strafrecht eine Praxis ist, die in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig ist, dürfte niemand bestreiten, insbesondere wenn man an den massiven Grundrechtseingriff einer Freiheitsstrafe denkt. Bei der Untersuchung einiger im Alltagsverständnis aufzufindender Denkmuster, die das staatliche Strafen zu verteidigen suchen, wurde klar, dass etliche Argumente nur scheinbare Anknüpfungspunkte für eine Begründung liefern. Andere Aspekte vermögen dagegen lediglich zu zeigen, dass überhaupt eine Reaktion auf das Verbrechen notwendig ist, oder erinnern an plausible Anforderungen, die an eine legitime Sanktion mutmaßlich zu stellen sind: dass etwa die Strafbarkeit eines Verhaltens vorher anzukündigen sei oder dass die Reaktion aus Sicht von Opfern und beobachtenden Dritten eine angemessene sein sollte; schwer fällt ihnen aber, zu erläutern, weshalb die Reaktion die Gestalt der intentionalen Zufügung von Übeln annehmen muss. Noch andere Überlegungen wiederum scheinen gar gezielt dazu bestimmt, zu verhindern, die vorgebliche Unabdingbarkeit der Komponente der intentionalen Schmerzzufügung zu hinterfragen. Durch die vorausgegangenen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass die Praxis der Schmerzzufügung nicht als selbstverständlich hingenommen werden kann, die naheliegenden Erklärungsmuster zu kurz greifen. Wir müssen uns ausgefeilteren Begründungen zuwenden. 83 Zum Zusammenhang zwischen dem Umgang mit kriminellen Individuen und dem Selbstverständnis der Gesellschaft mit Bezug auf Foucault, vgl. Bung, Wie viel Foucault braucht die Kriminologie heute?, in: Kaiafa-Gbandi/Prittwitz, Überwachen und Strafen in der modernen Kriminalpolitik, 2011, S. 229 ff.
B. Straftheoretische Begründungsvorschläge I. Intrinsische Begründungen: Der Strafschmerz ist im Unrecht Nachdem wir Alltagsvorstellungen betrachtet haben, die den Strafschmerz als gerechtfertigt hinstellen, geht es nun darum, nachzuforschen, ob Theorien der Strafrechtswissenschaft überzeugendere Begründungen liefern. Als einen ersten Annäherungsversuch kann man Vorstellungen heranziehen, die den Strafschmerz als gleichsam natürliche Gegenhandlung zum kriminellen Verhalten verstehen. Die Frage nach der Legitimität des Strafschmerzes ließe sich nämlich leicht beantworten, wenn man zeigen könnte, dass zwischen Unrecht und Täterleid eine intrinsische Verbindung besteht, dass es also an sich angemessen ist, auf Verbrechen zu reagieren, indem man dem Täter Schmerzen zufügt. So wird vorgebracht, dass der auf das Unrecht in der Strafe folgende Schmerz heilsam, natürlich, verdient oder verlangt sei. Ich will deshalb zu Beginn dieses 2. Kapitels aufzeigen, auf welche Schwierigkeiten derartige Auffassungen in ihrer abstrakten Form stoßen, und auf diese Weise begreiflich machen, dass sie besser als bloße Wegweiser zu einem Suchfeld nach tieferer Begründung zu verstehen sind – ein Feld, das wir im weiteren Verlauf des Kapitels erschließen werden. Eine intrinsische Verbindung zwischen Unrecht und Täterleid ist denkbar, wenn man das Verbrechen als Krankheit, die Strafe als passendes Heilmittel interpretiert. Diese Auffassung wird von Sokrates überliefert: Durch die Tat zeige der Täter, dass er nicht mehr gesellschaftsfähig sei und – wenn auch nicht stets bewusst – um Heilung bitte. Angebote der Therapie würde er wahrscheinlich sogar ablehnen, handele es sich doch um einen kranken, möglicherweise eben doppelt verblendeten Menschen. Sogar für den eigenen Freund müsse man die Anklagerede halten, leide er doch sonst weiter an einer Erkrankung, von der ihn ausschließlich die Strafe zu heilen vermöge.1 Doch selbst wenn man Sokrates’ offenkundig paternalistische und pathologisierende Diagnose auch für die heutige Zeit als zutreffend zugestünde: Weshalb soll nur oder gerade übelzufügende Strafe heilen können, also den Täter wieder gesellschaftsfähig machen?
1 So das Gespräch des Sokrates mit Polos (in Platons Gorgias), s. Schmitz, Zur Legitimität der Kriminalstrafe, 2001, S. 74 ff.; vgl. zu der Vorstellung von Heilstrafen auch Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 1963, S. 21.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Eine gewisse Plausibilisierung jener Heilmittel-Vorstellung findet sich – nicht vom Konzept des Verbrechens her, sondern von der Strafe her gedacht –, wenn man die Schmerzerfahrung als reinigendes Ritual begreift. Nicht nur das Geißlertum, sondern auch moderne psychologische Untersuchungen haben die Vorstellung einer kathartischen Wirkung des Schmerzes nahegelegt: So waren Probanden, die über eigenes unethisches Verhalten berichteten – in Relation zur Vergleichsgruppe – eher motiviert, sich physischen Schmerzen auszusetzen, und bewerteten ihr geschildertes Verhalten nach diesem Schmerzerlebnis als weniger unethisch. Sie empfanden, so die Interpretation der Wissenschaftler, weniger Schuldgefühle.2 Kann man diese Beobachtung für die Rechtfertigung einer Strafpraxis durch Schmerzzufügung fruchtbar machen? Mehrere Überlegungen stehen hier im Weg: Zunächst wäre genauer zu erklären, wie ein psychologisches Phänomen etwas zur Frage der Legitimität einer sozialen Praxis beitragen kann. Des Weiteren muss gefragt werden, ob die Beschreibung des Phänomens als „Katharsis durch Schmerz“ überhaupt zutrifft. Wieso sollte man von der Wirkung der Selbstgeißelung – die Probanden setzten sich ja freiwillig den Schmerzen aus – auf die der Fremdgeißelung schließen. Darüber hinaus ist in Erwägung zu ziehen, ob das Phänomen denn genuin den Strafschmerz stützt oder ob nicht die Katharsis ebenso nach der Erbringung reparativer Handlungen eintreten würde. Könnte die Beobachtung, dass der reinigende Effekt gerade in einen beliebigen „Schmerz“ hineingelegt werden kann, nicht dafür sprechen, dem Täter konstruktive Kanäle zu eröffnen, statt unproduktiven Strafschmerz aufzuerlegen? Einen anderen Weg, eine intrinsische Verbindung zwischen Unrecht und Täterleid herzustellen, wäre die Schmerzzufügung als natürliche Ausdrucksform, als das „Ikon“ der das Unrecht missbilligenden Stellungnahme auszuweisen. Dafür wäre zu zeigen, dass die Schmerzzufügung in einem natürlichen Abbildverhältnis zur missbilligenden Unrechtsbewertung („Ikon“), und nicht lediglich in einer willkürlichen, konventionellen Beziehung („Symbol“) zu ihr steht.3 Für die Einordnung der Schmerzzufügung als Symbol spricht jedoch, dass erst die Interpretation und Kenntnis um den gesellschaftlichen Zusammenhang erkennen lässt, was die Schmerzzufügung bedeutet. Die Strafe wird also weitgehend durch die Kenntnis der Regeln ihres Gebrauchs interpretiert. Zwischen Zeichenträger und Bedeutung besteht dabei bestenfalls ein arbiträrer Zusammenhang.4 In diesem Falle verhält es sich wie mit der Farbe Schwarz zur Trauer: ein kulturell regelhaf2 Brock/Jetten/Fasoli, Cleansing the Soul by Hurting the Flesh, Psychological Science 22 (2011), S. 334 f. In der Diskussion ihrer Ergebnisse nehmen die Autoren an, dass die Akteure dahingehend sozialisiert seien, Schmerz im Lichte eines rechtlichen, retributiven Rahmens zu interpretieren. So gesehen diene Schmerz als Mittel zur Wiedererlangung moralischer Reinheit, als Reueausdruck und zur Wiederherstellung eines positiven Selbstbildes (ebd., S. 335). Diese These wäre zumindest der Frage der historischen Kontingenz auszusetzen. 3 Zu den semiotischen Grundbegriffen Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 35 ff. 4 Ebd., S. 155 f. und generell S. 36 ff.
I. Intrinsische Begründungen: Der Strafschmerz ist im Unrecht
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tes Symbol, dessen Kontingenz sich spätestens mit Blick auf andere Kulturkreise offenbart.5 Jedoch wird in Kontrast zu dieser Einordnung vereinzelt behauptet, dass die Schmerzzufügung über den Status eines Symbols hinausgeht: Gewiss, die Farbe Schwarz sei „an sich“ neutral und werde nur im entsprechenden Kontext zur „Farbe der Trauer“. „[I]t is pretty clear that losing money, years of liberty, or parts of one’s body is hardly neutral in that way. (. . .) Such practices embody punitive hostility, they do not merely ,symbolize‘ it.“ 6 Hiergegen lässt sich einwenden, dass die Unterscheidung von an-sich-neutralen und an-sich-missbilligenden Entitäten dubios erscheint. Einerseits müssen auch die angeführten Phänomene nicht notwendig in missbilligender Weise verwendet werden. Ob etwa der „Verlust von Geld“ als missbilligend verständlich ist, haftet ihm nicht „intrinsisch“ an, sondern hängt ebenso wie die Interpretation der Farbe von der Verwendungsweise im sozialen Kontext ab: Taucht der Verlust von Geld als unfreiwillige Behandlung auf, so kann er fraglos als Ausdruck der Missbilligung verstanden werden,7 in anderen Konstellationen kann der Vorgang aber genauso gut etwa als Spende, Schadensersatzzahlung, Entgeltleistung, Verhalten eines just Getäuschten oder irrationale Handlung begriffen werden. Andererseits ist nicht ersichtlich, dass nur durch sie Missbilligung ausgedrückt werden kann. Sofern – wie gesehen – die Möglichkeit besteht, dem Verlust von Geld eine missbilligende Botschaft zuzuschreiben, besagt dies nichts darüber, dass er zum Ausdruck der Missbilligung verwendet werden muss oder auch nur sollte. Daraus, dass sich Bretter (bei entsprechender Verwendung) dazu eigenen, eine Wasserfläche zu überwinden, folgt nicht, dass eine oder jede Wasserfläche mit Brettern überwunden werden muss bzw. sollte. Es wird also nicht ohne Weiteres plausibel, weswegen die genannten Strafpraktiken die notwendige Verkörperung der Missbilligung sein sollen.8 Eine elaborierte Version einer solchen Vorstellung, dass also die Schmerzzufügung genau die Verkörperung des Konzepts der Strafe ist, entwickelt Hanno Kaiser. Er legt diesem Gedanken eine Theorie zu Grunde, die er in Anschluss an Charles Taylor „Theorie des vollkommenen Ausdrucks“ nennt.9 Zu finden sei sie 5 Gerade in der Straftheorie des Völkerstrafrechts wird die Kontingenz des Strafschmerzes als konventionelles Symbol besonders offensichtlich und dadurch fragwürdig, s. Werkmeister, Straftheorien im Völkerstrafrecht, 2015, S. 340 f. 6 Skillen, How to Say Things with Walls, Philosophy 55 (1980), S. 517 (H. i. O.); dazu i. E. wie hier Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 177 f. 7 Aber schon im Falle des „Verlustes von Geld“ im Rahmen der Zwangsvollstreckung liegt keine Missbilligung vor, es wird vielmehr nur ein bestehender Anspruch vollstreckt. 8 Zu Skillen i. E. wie hier Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 178. 9 Bezugnehmend u. a. auf die Stelle bei Taylor, Hegel, 1978, S. 128 f., s. Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 91, s. a. 94 f. Kaiser liefert Nachweise zu
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in der Hegel’schen Lehre von der „Idee als Realisierung eines Begriffs“: Dieser zufolge sei eine Idee nur dann wirklich, wenn sich das Konzept (Begriff) im Dasein niederschlägt (Realisierung):10 „Die Idee des Hauses kann vollständig nur in der Besonderung dieses Hauses existieren, welches die gemauerte Realisierung (das Dasein) eines Plans (eines Begriffs) ist.“ 11 Kaiser will nun in Auslegung der Hegelschen Straftheorie die strafende Schmerzzufügung als Realisierung der Nichtigkeit des Verbrechens – und damit auch des Begriffs des Rechts – im Sinne der „Theorie des vollkommenen Ausdrucks“ lesen. Vergegenwärtigen wir uns dazu zunächst Hegels Strafbegründung. Stark vereinfacht kann man sie so beschreiben:12 Der Täter verletzt in seiner Tat eine konkrete Person, aber er verletzt damit zugleich auch das Recht als Institution (das „Recht als Recht“).13 Dieser im Verbrechen liegenden Auflehnung des Einzelnen gegen das Recht muss widersprochen werden – denn bliebe ein Widerspruch aus, würde das Verbrechen „sonst gelten“.14 Der Widerspruch erfolgt durch die Strafe und stellt auf diese Weise das Recht wieder her. Das Verbrechen negiert also das Recht, das Recht negiert wiederum in Gestalt der Strafe das Verbrechen.15 Hegel spricht nun davon, dass das Verbrechen „in sich nichtig“ sei, und sich daher als nichtig „manifestieren“ müsse.16 Was ist mit dieser „Nichtigkeit des Verbrechens“ gemeint? Die Nichtigkeit lässt sich so verstehen, dass Hegel davon ausgeht, dass die soziale Struktur rechtlicher Verhältnisse überhaupt dann erst möglich ist, sofern die Akteure sich wechselseitig respektieren: dass also eine Person im Recht erst dann entsteht, wenn sie mit den anderen Akteuren in einem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung steht. Der Täter leugnet mit seiner Tat diese basale VorTaylor und Hegels Bezugnahme auf das „Prinzip notwendiger Verkörperung“ ebd., S. 91 Fn. 28. Er scheint Pawliks Entwurf (s. dazu B. V.) als seine solche Theorie volkommenen Ausdrucks zu deuten, s. Kaiser, Review: The Three Dimensions of Freedom, Crime, and Punishment: Person, Subjekt, Bürger by Michael Pawlik, Buffalo Law Review 9 (2006), S. 699: „Pawlik’s theory of meaning is not unqualifiedly nominalist, as the true expression of a concept seemingly requires some form of real-world manifestation[.]“ 10 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 90 Fn. 21, verweist auf Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 92 (§ 34 Z), dort heißt es: „Die vollendete Idee (. . .) wäre der Zustand, in dem der Begriff sich völlig realisiert hätte und in welchem das Dasein desselben nichts als die Entwicklung seiner selbst wäre.“ 11 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 90. 12 Das (möglicherweise) separierbare Argument, dass der Täter ein Gesetz aufstelle, dem er nun selbst subsumiert werden dürfe, lasse ich hier beiseite, s. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 190 (§ 100); vgl. dazu Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, 1995, S. 68 ff. u. 90 ff. 13 Siehe Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 181 (§ 95). 14 Ebd., S. 187 (§ 99) (H. i. O.). 15 Ebd., S. 186 (§ 97 Z). 16 Ebd., S. 185 f. (§ 97 und Z).
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aussetzung des gegenseitigen Respekts. Er wendet sich somit gegen die Bedingungen, die ihn als rechtlich-soziales Wesen überhaupt erst ermöglichen, verletzt mit seiner Tat gewissermaßen auch sich selbst. Insofern ist das Verbrechen nichtig.17 Damit das Recht nun wieder wirklich werde, müsse sich das, was nichtig ist, als nichtig „manifestieren, daß heißt, sich als selbst verletzbar hinstellen.“ Dies geschehe durch die Strafe, die das Recht, das durch die Tat angegriffen wurde, bewährt.18 Nur nach ihrer „spezifischen Gestalt“ seien Raub und Diebstahl einerseits, Gefängnis- und Gelstrafe andererseits „schlechthin Ungleiche, aber nach ihrem Werte, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu sein, sind sie Vergleichbare.“ 19 Nach Kaiser ist das tertium comparationis die Freiheit: Damit sei keineswegs gemeint, dass Verbrechen und Strafe „in gleicher Weise Verletzungen der Freiheit“ darstellen, sondern vielmehr dass „die Strafe den durch das Verbrechen bewirkten Freiheitsverlust erst vollständig realisiert“.20 Das bedeute, dass die Strafe dem Werte nach mit dem „Maß der durch die Tat vernichteten Freiheit“ korrespondieren müsse, und nur so die „Unfreiheit des Verbrechens“ zum Ausdruck komme.21 „[N]ur der Verlust von Freiheit ist dem Werte nach vergleichbar mit der Realisierung seines [des Täters] freiheitszerstörenden Weltentwurfs.“ 22 Kaiser zufolge ist für eine solche Strafrechtfertigung eine Theorie erforderlich, „in der der Verkörperung von Werten nicht nur metaphorische Bedeutung“ zukommt.23 Auf diese Weise könne man die „harte Behandlung als Realisierung der durch die Tat verwirkten (Un-)Freiheit“ 24, also als Realisierung der Nichtigkeit des Verbrechens und gleichzeitig als Realisierung des Begriffs des Rechts, 17 Diese Überlegung kann man an Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 185 (§ 97) festmachen, wenn man die Vorstellung der gegenseitigen Anerkennung mitheranzieht, so Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, 1995, S. 66 f., auch 20 f. u. 92 ff. Zu dieser Vorstellung des wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses, das sich v. a. in der Phänomenologie des Geistes findet, s. unten B. IV. 4. b). 18 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 186 (§ 97 Z). 19 Ebd., S. 194 (§ 101) (H. i. O.). „Die innere Identität [von Verbrechen und Strafe] ist es, die sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert.“ So ebd., S. 193 (§ 101) (H. i. O.). Zu Hegels Straftheorie lesenswert Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, demzufolge es Hegel nur gelingt, „das alte ius talionis in die Sprache der modernen Warenäquivalenz zu übersetzen und es in dieser Form zu verklären“ (ebd., S. 99). 20 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 128 (H. i. O.). 21 Ebd., S. 128 (H. i. O.). So sei es zu verstehen, wenn Hegel davon spricht, der Täter werde unter das von ihm selbst aufgestellte Gesetz subsumiert (ebd.). Den Gedanken der Selbstsubsumtion erwähnt Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 190 (§ 100). 22 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 128. 23 So in der Analyse von Skillen, Kaiser, ebd., S. 178. 24 Ebd., S. 179.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
verstehen.25 „Die innere Widersprüchlichkeit des besonderen Willens des Täters erscheint in seiner Strafe.“ 26 Ich will hier nur einige problematische Aspekte einer derartigen Unternehmung andeuten: Erstens ist das Konzept, dass Begriffe einer Realisierung bedürfen, um wirklich zu sein, nicht in jeder Verwendungsweise unbedenklich.27 Die Vorstellung erscheint insoweit unproblematisch, als damit deskriptiv gemeint ist, dass beispielsweise die „Idee des Rechts“ nur wirklich ist, wenn es konkrete rechtliche Beziehungen zwischen Akteuren gibt. Damit wäre lediglich ausgesagt, dass das durch einen Begriff Umschriebene nicht „wirklich“ ist, wenn von ihm keinerlei Realisierungen existieren, es demnach nur Umschreibendes, kein Umschriebenes gibt. Man kann auch eine anspruchsvollere Vorstellung von der Realisierung der Begriffe entwickeln, indem man diese als abstrakte Konzepte versteht, die eben nicht durch einen Akteur oder eine Sache zustande kommen, sondern sich aus einer ganz bestimmten Strukturierung mehrerer Entitäten ergeben: so setzt der „Zustand des Rechts“ unter anderem das konzertierte Verhalten der Akteure, bestimmte rechtliche Einrichtungen und eine örtliche und zeitliche Ausdehnung voraus. Mit der Realisierung des Begriffs des Rechts ist dann etwas beschrieben, das von Akteuren als Einzelnen nicht geleistet werden kann. Auch in dieser Verwendung ist die Vorstellung nicht zu beanstanden. Wenn darunter aber verstanden werden soll, dass sich aus dem Begriff selbst normative Folgen ergeben, der Begriff also bestimmte Realisierungen bzw. Realisierungshandlungen verlangt, scheint mir das allenfalls dann annehmbar, wenn in die Begriffe implizit die normativen Einstellungen der Akteure hineingelesen werden: Wer sagt, „der Begriff des Rechts fordert die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen“, meint dann damit folglich, dass die Akteure der Rechtsgemeinschaft die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen wollen beziehungsweise anerkennen. Soweit die Akteure sich tatsächlich daran halten, kann dies auf den Begriff des „Zustands des Rechts“ gebracht werden. Wenn demnach das „Recht“ als Begriff die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen „fordert“, dann deswegen, weil die Akteure einen Zustand wollen, der als Recht beschrieben werden kann. Der Fordernde ist dann allerdings nicht das Recht als Begriff; vielmehr verhält es sich so, dass die Akteure, die den Zustand des Rechts (beibehalten) wollen, fordern28. Wenn die normativen Forderungen des Begriffs in dieser Weise verstanden werden, scheint der Umweg über die Theorie des vollkommenen Ausdrucks 25
So verstehe ich die Analyse von Kaiser, ebd., S. 122 f. u. 114. Ebd., S. 127. Die Passage, aus der Kaiser den Ausdruck des „Erscheinens“ extrapoliert, lautet: „Diese Bestimmung des Begriffs ist aber eben jener Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen, als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung – die als Strafe erscheint – in sich selbst enthält.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 193 (§ 101). 27 Dazu aber Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 91 ff. 28 Bzw. Forderungen aus diesem Wollen akzeptieren. 26
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überflüssig zu sein. Der Strafschmerz wäre auf das in bestimmter Weise vermittelte Wollen der Akteure zurückzuführen – und dieses Wollen wäre dann zu hinterfragen.29 Unklar bleibt auch, weshalb die Realisierung der Nichtigkeit des Verbrechens gerade die Gestalt der Freiheitsentziehung beziehungsweise der harten Behandlung annehmen muss.30 Die geschilderte Vergleichbarkeit ist hierfür kein zwingendes Argument. Denn es fehlt die Begründung einer Regel, der zufolge nichtige Handlungen zur Realisierung ihrer Nichtigkeit stets dem Werte nach vergleichbarer Handlungen bedürfen. Eine solche soll sich nach Kaisers Vorstellung aus der Theorie des vollkommenen Ausdrucks ergeben, die freilich erst noch zu entwerfen wäre.31 Solange bleibt die Vorstellung, dass sich das freiheitsverletzende Verbrechen in der dem Werte nach vergleichbar freiheitsverletzenden Strafe realisieren muss, noch unerklärt. Lässt man sich auf die Realisierungsvorstellung einer Theorie des vollkommenen Ausdrucks ein, so scheint jedenfalls das von Kaiser gefundene tertium comparationis von Verbrechen und Strafe, nämlich die Freiheit, ein sehr vages zu sein. Ein solcher Freiheitsbezug lässt sich nämlich bei fast jeder Handlung finden: Jeder Normbruch, jede Vertragsverletzung, jede Unhöflichkeit kann in diesem Sinne als „Verletzung von Freiheit“, jede Schadensersatzleistung und jede Entschuldigung als „Realisierung der Unfreiheit“ verstanden werden. Warum ist gerade der Freiheitsentzug die wertmäßig angemessene, die einzig zutreffende Verkörperung der Unfreiheit? Die Ausdrucksmittel der Strafe erschienen vielmehr kontingent. Hiergegen könnte man mit Hegel einwenden, dass die Bestimmung der inneren, also wertmäßigen Gleichheit nun eben „in die Sphäre der Äußerlichkeit“ falle, eine Annäherung an die Gleichheit des Wertes eine „Sache des Verstandes“ und eine absolute Bestimmung ohnehin nicht möglich sei.32 Das schiene mir dann jedoch – entgegen der von Kaiser angepeilten Deutung als einer Theorie des vollkommenen Ausdrucks – für eine in der Wahl der Sanktionsmittel völlig unbestimmte Straftheorie zu sprechen.33 Es bliebe, was vielleicht so unattraktiv nicht wäre, eine Theo29 Womöglich ist das in Hinblick auf die Darstellung bei Kaiser etwas zu einfach formuliert. Wahrscheinlich lässt sich eine noch stärkere Vorstellung der Realisierung der Begriffe entwickeln. Ich denke aber, dass ein solches Projekt erst dann vollkommen ist, wenn es die Begriffe auf die Subjekte, die Akteure des Rechts, zurückbezieht. 30 Darauf, dass für den Prozess der Negation des Unrechts bereits Nichtigkeitserklärung und Entschädigung ausreichen könnten, wurde schon früh angemerkt, vgl. die Nachweise bei Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 303; Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 105 f.; vgl. dazu auch Ramb, Strafbegründung in den Systemen der Hegelianer, 2005, S. 136 ff. 31 Siehe zu den Herausforderungen Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 188. 32 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 193 f. (§ 101 Z). 33 Kaiser sieht dies, will die Kontingenz der Reaktionsform eindämmen, indem er behauptet, dass Strafe stets ein „Element der Wegnahme von Interaktionsmitteln“ beinhalten müsse. Zudem seien Freiheits-, Geld-, Körper- und Lebensstrafen umgekehrt
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rie vollkommen kontingenten Ausdrucks übrig, die allenfalls plausibel machen kann, dass auf die kriminelle Tat überhaupt zu reagieren ist. Als weiterer Kandidat für ein natürliches Bindeglied zwischen Unrecht und Täterleid wird nicht selten das Konzept des Verdienstes ins Feld geführt. Es beruht auf der einfachen Formel: „Weil die Täterin verbrochen hat, verdient sie zu leiden.“ Wenn man es nun unternimmt, den Begriff des Verdienstes näher zu betrachten und einen „Gattungsbegriff“ zu extrapolieren, gelangt man zu einer dreistelligen Relation: x verdient y für z. Es wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem Verdienst-Träger (x) und seiner Behandlung (Verdientes: y), in der sich die Bewertung eines der Merkmale des Verdienstträgers (Verdienst-Basis: z) widerspiegelt.34 Wenn Verdienst demnach als „evaluativ zutreffende Behandlung“ 35 zu verstehen ist, gewinnt man mit dieser abstrakten Figur für eine Strafrechtfertigung allerdings wenig.36 Denn aus ihr wird nicht ersichtlich, weshalb es gerade die (besonders) zutreffende Behandlung für eine Verbrecherin ist, sie leiden zu machen.37 Der Verweis auf den „Verdienst“ stellt sich dann als bloßer Hinweis auf die kontingent gesetzte Strafpraxis heraus und lässt uns mit der Frage, welcher Umgang denn besonders treffend wäre, zurück. Die vermeintlich rechtfertigende Aussage, die Täterin verdiene die Strafe, weil sie verbrochen hat, bleibt die bloße Behauptung, dass Strafe aus Sicht des sich Äußernden die zutreffende Behandlung für Personen ist, denen das Merkmal „Verbrechen“ zugerechnet wird. „Die Täterin sollte bestraft werden, weil sie es verdient“ erweist sich als tautologische Erklärung: „weil sie bestraft werden sollte“. Sowohl die These, dass durch Schmerz der Widerspruch verkörpert sei, als auch die These, dass der Schmerz die evaluativ zutreffende Behandlung darstelle, mithin verdient sei, führten uns in Richtung der normativen Einschätzungen der Akteure. An eben diesem Punkt angekommen sind bereits Überlegungen, die die Schmerzzufügung als intrinsisch angemessen ausweisen wollen, indem sie auf ein
„immer und jederzeit taugliche Strafen“, Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 130. 34 Einen solchen am aktuellen Sprachgebrauch orientierten Gattungsbegriff entwickelt F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 11–39, insb. 35 f., im Rekurs auf Feinberg, Justice and Personal Desert, in: ders., Doing and Deserving, 1970, S. 55 ff. Zum Verdienstbegriff bereits Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 140 ff. m.w. N. zur anglo-amerikanischen Diskussion. 35 F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 36. 36 Zur Zirkularität der Theorien, die nur auf den Verdienst abstellen, F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 42 f. 37 Zudem müsste gezeigt werden, warum es zulässig ist, jemand nach Verdienst zu behandeln, es also keine stärkeren Gründe gibt, die entgegenstehen. Der gegenüber den Eltern rücksichtlose Sohn mag verdienen, im Erbfall leer auszugehen. Die Behandlung nach Verdienst ist aber unzulässig, falls er rechtmäßiger Erbe ist. Darüber hinaus müsste gezeigt werden, warum der Staat zur Behandlung nach Verdienst verpflichtet ist. F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 43.
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als bestehend behauptetes38 faktisches Strafbedürfnis39 rekurrieren: Zum einen verspürten die konkret Verletzten natürliche Vergeltungsgefühle. Und auch die nicht unmittelbar vom Normbruch Betroffenen hätten ein entsprechendes Bedürfnis, gruppenschädliches Verhalten zu bestrafen. Womöglich besteht seitens der Gemeinschaft ferner deswegen ein Verlangen nach einer leidenschaftlichen, vergeltenden Strafreaktion, weil es nur durch den so erzeugten Gleichlauf der kollektiven Gefühle gelingen kann, die emotionelle Basis der Gemeinschaftsordnung zu erhalten, die Strafe also integrativ wirkt, indem sich die Einzelnen im Kampf gegen das Verbrechen solidarisieren.40 Auch Experimente, die das Verhalten einzelner Akteure analysieren, legen nahe, dass Bestrafung sogar dann als investitionswürdig angesehen wird, wenn eine unmittelbare Eigennützigkeit der Bestrafung offensichtlich ausscheidet, das Verhalten des Normbrechers aber als gruppenschädlich wahrgenommen wird. Dieses Phänomen wird oft als altruistische Bestrafung bezeichnet.41 Darauf aufbauend ist man geneigt, das Verlangen, den Täter leiden zu sehen, zum anthropologischen Faktum zu erklären, und die Strafe deswegen als gerechtfertigt anzusehen, weil sie eben dieses Verlangen in gemäßigten und rechtsstaatlichen Bahnen stillt.42 „Solange die Menschen ganz mehrheitlich ein Bedürfnis nach Vergeltung haben“ 43, müssten wir – wenn auch mit einem schlechten Gefühl und unter Bedenken – bereit sein, den vorhandenen Vergeltungsdurst zu stillen.44
38 Mangels ausreichender empirischer Befunde über gesellschaftliche Strafbedürfnisse seien die Richter auf subjektive Wahrnehmungen angewiesen und liefen so Gefahr, scheinbare, durch einen politisch-publizistischen Verstärker-Kreislauf produzierte Strafbedürfnisse anzunehmen. So Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?, 2014, S. 83 f. 39 Bereits Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 121 f. stellen eine Wandlung der Wahrnehmung des Strafbedürfnisses von einem pathologischen Phänomen zu einem Legitimationsfaktor fest. 40 Zu dieser berühmten Vorstellung Émile Durkheims vgl. Gephart, Strafe und Verbrechen, 1986, S. 120 ff., insbes. 128. 41 Walter, Vergeltung als Strafzweck, ZIS 2011, S. 638 mit Verweis auf Fehr/Gächter, Altruistic Punishment in Humans, Nature 415 (2002), S. 137 ff. 42 Vgl. auch die plakative Funktionsbestimmung des Strafrechts als geordnete Rache (neben der Abschreckung) bei Stephen, A General View of the Criminal Law of England, 1863, S. 99: „The criminal law stands to the passion of revenge in much the same relation as marriage to the sexual appetite.“; dazu Feinberg, The Expressive Function of Punishment, The Monist 49 (1965), S. 403. 43 Walter, Vergeltung als Strafzweck, ZIS 2011, S. 646. „Zusammenfassend ist zu sagen, dass gerechte Vergeltung ein legitimer Strafzweck ist. Das gilt bis auf weiteres, und zwar solange die Menschen ganz mehrheitlich ein Bedürfnis nach Vergeltung haben, wenn Unrecht geschieht. Dass sie dieses Bedürfnis von Natur aus haben, zeigt nicht nur der Blick in das eigene Innere, sondern ist empirisch belegbar. Hat aber der Einzelne dieses Bedürfnis, so hat es auch die Gesellschaft – und muss es befriedigen, wenn sie Bestand haben will[.]“ 44 Walter, Vergeltung als Strafzweck, ZIS 2011, S. 644.
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Bei solchen Überlegungen bleibt ungewiss, ob das beschriebene Strafbedürfnis spezifisch genug ist, um die Institution der intentionalen Schmerzzufügung durch Kriminalstrafe zu begründen.45 Zum einen ist nicht ausgemacht, ob jenes registrierte Vergeltungsbedürfnis eine irreduzible Größe oder aber Reflex anderer Interessen oder Einstellungen ist, denen auf andere Weise gleichermaßen oder sogar besser entsprochen werden kann.46 Man denke etwa an einen Verletzten, der ein Strafverfahren hauptsächlich darum anstößt, um seine Aussicht auf zivilrechtlichen Schadensersatz zu verbessern. Strafbedürfnisse könnten auch Zeichen von Verzweiflung sein oder auf die Unzufriedenheit über die Art verweisen, wie die Gesellschaft mit der Tat umgeht.47 Ferner könnten sie stellvertretend für die Forderung nach klarer Stellungnahme durch die Mitbürger stehen oder mittelbarer Ausdruck des Verlangens nach einer stärkeren Beachtung der Auswirkungen des Verbrechens seitens öffentlicher Stellen sein.48 Zu einer solchen Berücksichtigung dürfte der Staat verstärkt verpflichtet sein, nachdem er seiner Aufgabe, seine Bürger vor Verbrechen zu bewahren, unzureichend nachkam. Möglicherweise spricht aus den beobachteten Strafbedürfnissen auch maßgeblich die Forderung, dass der Täter mit seinem Verhalten „nicht durchkommt“, ihm die Inkorrektheit seines Verhaltens klar vor Augen tritt. Wäre das postulierte Strafbedürfnis mittels einer dieser Deutungen zu dechiffrieren, wäre die Praxis der intentionalen Schmerzzufügung offensichtlich keine unabdingbare Methode, um dem entsprechenden Bedürfnis des Verletzten gerecht zu werden. Zum anderen entstammt das Strafbedürfnis womöglich aber ganz anderen, fragwürdigen Quellen: So könnte es daraus resultieren, dass der Strafvorgang dem Publikum die Illusion vermittelt, auch einmal am „Recht“ der Mächtigen, welche ihre Macht an einem Machtlosen auszulassen pflegen, teilzuhaben zu dürfen.49
45 Vgl. etwa die umfassende Studie zu den Sanktionseinstellungen der Verletzen bei Kilching, Opferinteressen und Strafverfolgung, 1995. Er stellt bei der großen Mehrheit sehr moderate Einstellungen zur Strafverfolgung fest und extrapoliert als Folgerung aus der Befragung u. a., dass das Opfer verstärkt von der strafrechtlichen Sanktion profitieren können solle (ebd., S. 692). 46 Zu Strafbedürfnissen als Konstrukte der Prägung und als Ausdruck des Mangels bekannter Alternativen bereits Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987, S. 98 ff. 47 In diese Richtung Christie, der dafür plädiert, dass die Reaktion auf das Tatverhalten eine Form der Trauer annähern müsse, vgl. Christie, Limits to Pain, 1982, S. 98 ff. 48 Denkbar sind beispielsweise eine gesteigerte (Anwendungs-)Aufmerksamkeit in Bezug auf Gewaltschutzgesetz, Opferentschädigung, Betreuungsprogramme, Traumatisierungshilfe, Opferbeistand, prozessuale Rechte. Auch der Alternativ-Entwurf Widergutmachung weist in die Richtung, dass die Geschädigten primär an der Bewältigung der Opfererfahrung und der materiellen Wiedergutmachung, kaum aber an weiterer Strafverfolgung interessiert waren, vgl. Baumann u. a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992, S. 17. 49 Zu dieser Dekonstruktion des Strafbedürfnisses bei Nietzsche s. Bung, Nietzsche über Strafe, ZStW 119 (2007), S. 124 f. Nietzsche erinnere uns daran, dass wir unseren
I. Intrinsische Begründungen: Der Strafschmerz ist im Unrecht
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Eine gleichermaßen bedenkliche Erklärung der Strafbedürfnisse wäre, dass die sich rechtskonform betragenden Akteure durch die Bestrafung die eigenen devianten Triebimpulse verdrängen wollen, die der Täter im Gegensatz zu ihnen auslebt und so auch in ihnen aktiviert.50 Durch Bestrafung des Täters würden dann „die Rechtstreuen“ 51 ihren eigenen fassadären Triebverzicht bestätigen und die mit ihm verbundenen Aggressionen abführen.52 Doch wäre eine solche Strafmotivation nicht eher ein Zeichen für eine Gesellschaft, deren Akteure mit ihren Triebimpulsen auf ungesunde Weise umgehen? Müsste man bei einem solchen Konnex den Akteuren nicht eine größere Robustheit gegenüber „Ansteckung durch Normabweichungen“ abverlangen?53 Als eine weitere zweifelhafte Quelle des Strafbedürfnisses käme der „Glaube an eine gerechte Welt“ in Frage, wonach auf jede böse Tat ganz natürlich auch ein schmerzendes Übel folgt: Nur der Glaube an ein solches karmahaftes Equilibrium und dessen Bestätigung gibt manchen den Orientierungskompass, um sich in der Welt zurechtzufinden. Hängt man diesem Glauben an, dann muss, wenn das Schicksal das besagte Gleichgewicht nicht wieder herstellt, der Mensch es richten. So verstanden wäre Strafe ein aus der Zeit gefallener stellvertretender „Akt der Theodizee in einer säkularisierten post-metaphysischen Welt“.54 Es genügt an dieser Stelle, solche (sozial-)psychologischen Erklärungen des Strafbedürfnisses anzudeuten55, um zu erahnen, dass es sich dabei nicht um eine schlicht hinzunehmende „anthropologische Grundkonstante“ handelt, sondern sich dahinter zu entwirrende und zu hinterfragende Annahmen verbergen.56 Strafbedürfnissen nicht so ausgeliefert sind wie den Gefühlen von Durst oder Hunger (ebd., S. 135 f.). 50 So Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, 1976, S. 164, der in Identifikation mit den Triebimpulsen des Täters auch die gesellschaftsbedrohende Ansteckungsgefahr sieht. 51 Vgl. zu dieser exkludierenden Sprache vom „wir und die Täter“ unten Duff (s. u. B. VIII. 1.). 52 Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, 1976, S. 165. 53 Günther, Kritik der Strafe II, WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), S. 138 f. 54 Ebd., S. 140. 55 Als weitere, irrationale Erklärung des Strafbedürfnisses käme in Betracht, dass es einen fehlgeleiteten Protest gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit zum Ausdruck bringe, so Günther, Kritik der Strafe II, WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), S. 137: „Der Täter sieht sich als Opfer einer langen Serie von Ungerechtigkeiten und nimmt sich mit der Straftat jetzt, was ihm nach seiner Überzeugung eigentlich zusteht, bislang jedoch vorenthalten wurde. Die empörten Dritten, die nach harter Bestrafung verlangen, sehen sich ebenfalls als Opfer einer ungerechten Verteilungsordnung (. . .) und richten ihre Empörung über das Defizit in ihrer persönlichen Gerechtigkeitsbilanz nicht gegen die als ungerecht empfundene Verteilungsordnung, sondern gegen den einzelnen Straftäter, der sich nicht wie sie mit der Ungerechtigkeit abfindet [.]“ 56 Dazu, dass tiefenpsychologische Erklärungen die Strafbedürfnisse nicht notwendig als zu berücksichtigende Phänomene erweisen, sondern kritisch gegen die strafende Ge-
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Die Behauptung, Verbrechen und Schmerzzufügung seien intrinsisch verbunden, so lässt sich vorläufig festhalten, bleibt ungedeckt. Weder ist die Schmerzzufügung für die Täter natürlich heilsam. Noch bildet sie die Ausdrucksweise, durch welche die Missbilligung der Tat natürlich verkörpert wird. Darüber hinaus bleibt nebulös, ob Schmerzzufügung den verdienten, also angemessenen Umgang mit Straftätern abgibt oder ob ein anerkennenswertes Bedürfnis nach ihr besteht. Insbesondere die beiden letzten Aspekte, Verdienst und Strafbedürfnis, können zwar die Anziehungskraft intuitiver „Erklärung“ für sich reklamieren, bleiben aber in ihrer abstrakten Form unzulänglich. Zu erklären wäre, weshalb gerade der Strafschmerz angemessene Reaktion, das heißt verdient, beziehungsweise aus akzeptablen Gründen bedurft ist. Im Folgenden werde ich sieben jüngere Entwürfe der deutschen und angloamerikanischen Straftheorie, die als Ausbuchstabierung dieser Motive gelesen werden können, auf ihre Antwort befragen. Sie setzten bereits unmittelbar auf Ebene reflektierter Interessen an. Es geht um Bedürfnisse nach Unversehrtheit und Respekt, um Planungs- und Erwartungssicherheit, um Fairness, Freiheit und Versöhnung.
II. Strafschmerz im aufgeklärten Eigeninteresse (Norbert Hoerster) 1. Eine interessenstheoretische Fundierung der Strafpraxis Die Strafrechtfertigung in den berechtigten Interessen der Akteure zu fundieren, ist das Ziel von Norbert Hoerster.57 Er will Strafe als interessensgerechte, weil Rechtspositionen schützende Praxis präsentieren. Hoerster beginnt mit der Abhandlung der „Vergeltungstheorien“, als deren Repräsentanten er Kants mutmaßliche Talionsvorstellung, Hegels Gedanken der Strafe als „Wiederherstellung des Rechts als Recht“ sowie die Vorstellung der Strafe als den Entzug des vom Täter unfair erlangten Vorteils untersucht.58 Gemäß der oben skizzierten Unterscheidung in vergangenheits- und zukunftsgerichtete Ansätze klassifiziert er die Vergeltungstheorien als rückwärtsgewandt, nachdem „das, was vergolten werden soll, (. . .) nur in der Vergangenheit liegen [kann]“.59 Auf Verbrechensverhütung könnten sich derartige Ansätze somit nicht berufen. Nicht einmal Vergeltungssellschaft gewendet werden können s. Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 93. 57 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012; s. dazu prägnant T. Zimmermann, Rezension zu Norbert Hoerster: Muss Strafe sein? Positionen in der Philosophie, GA 2013, S. 133 ff. 58 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 25 ff. 59 Ebd., S. 47 f. „Die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die durch die Vergeltung erreicht werden soll, fungiert nicht als empirische Folge, sondern als notwendige Begleiterscheinung der Strafe.“ (ebd., S. 48).
II. Strafschmerz im aufgeklärten Eigeninteresse
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bedürfnisse könnten von ihnen berücksichtigt werden, da deren Befriedigung doch gerade in der Zukunft liege.60 Die besagten, rein vergangenheitsbezogenen Theorien scheiterten, da die für ihre Begründung notwendige vorpositive Norm, die Vergeltung vorschreibt, nicht habe gefunden werden können.61 Für Hoerster sind die „Vergeltungstheorien“ die negative Folie, um seine eigene, hier vornehmlich interessierende Theorie zu entwickeln. Jedoch scheint mir diese Folie deswegen aufschlussreich, da sie veranschaulicht, wie brüchig der Vorwurf der Vergangenheits- bzw. Zukunftsfixierung gegenüber der Gegenseite ist: Konnte Hoerster einerseits keine vorpositive Vergeltungs-Anordnung finden, so ist andererseits das ihm zufolge von der Strafe per definitionem isoliert zu begreifende Konzept des Schadensersatzes als Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit „so selbstverständlich, dass sie [die Norm, die zum Schadensersatz verpflichtet; M. A.] – ganz anders als die Anordnung des Strafübels – einer besonderen Begründung nicht bedarf“.62 Das angesprochene Gebot der Schadensersatzpflicht kann man auf zwei Weisen verstehen: Zum einen könnte man annehmen, dass Hoerster diesbezüglich die Existenz einer vorpositiven Norm anerkennt, die vergangenheitsbezogen ausgleichende Gerechtigkeit erfordert. Dann aber stellt sich die Frage, weshalb diese Norm ausschließlich für die Schadensersatzpflicht gilt, und nicht etwa auch die Strafe63 als Ausdruck dieses Ausgleichs angesehen werde könnte. Zum anderen könnte Hoerster dabei bleiben, dass es keine vorpositiven Normen gibt, jedoch die Schadensersatzpflicht die Herstellung des ausgeglichenen Zustands als zukunftsgerichtetes Ziel verfolgt. Dann stellt sich jedoch die Frage, weshalb in der Straftheorie die Wiederherstellung der Gerechtigkeit oder andere Ziele der Vergeltungstheorien nicht auch als zukunftsgerichtete Zwecke aufgefasst werden können, statt ihr Dasein, wie Hoerster meint, als nur „notwendige Begleiterscheinung der [vergeltenden; M. A.] Strafe“ 64 fristen zu müssen. Wie dem auch sei, Hoerster jedenfalls hält die Vergeltungstheorien im Wesentlichen65 aufgrund ihrer Vergangenheitsfixierung für widerlegt, und macht sich auf die Suche nach einer zukunftsgerichteten Legitimation der Strafe. Den Verbrecher darum zu bestrafen, damit er selbst künftig nicht mehr verbricht, scheide jedoch als rechtfertigende Überlegung aus. Zwar sei ein gewaltsamer Rechtsguteingriff zum Schutz von potenziellen Opfern nicht ausgeschlossen, 60
Ebd., S. 48. Zumal die Versuche, die Existenz eines Natur- oder Vernunftrechts zu beweisen, fehlgeschlagen seien, s. ebd. 62 Ebd., S. 12; vgl. auch S. 25 f. und 34. 63 Genauer: das Reaktionsverhalten, das zulässigerweise Strafe sein darf. 64 Ebd., S. 48. 65 Neben dem Argument der Klassifizierung der Vergeltungstheorien als vergangenheitsfixiert liefert Hoerster zu den einzelnen Theorien weitere Argumente (vgl. ebd., S. 48 ff.). 61
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
wie das Institut der Nothilfe zeige.66 Im Gegensatz zur Situation der Nothilfe bestünde bei der Strafe jedoch eine doppelte Ungewissheit: Prognostisch sei völlig unklar, ob der Täter überhaupt erneut straffällig würde, sofern die Strafe ausbliebe. Ebenso sei unklar, mit welchen Strafen genau ein Rückfall zu verhindern ist.67 Gerechtfertigt werden könne Strafe aber dann, wenn sie bewirkt, dass alle Bürger künftig keine, beziehungsweise weniger Verbrechen begehen. Gelingen könne dies durch eine abschreckende68 Strafpraxis: „[D]er Bürger befürchtet, im Fall der Begehung einer mit Strafandrohung verbundenen Tat anschließend bestraft zu werden, und [wird] dadurch von der betreffenden Straftat abgehalten“.69 Träger der abschreckenden Botschaft sei die Strafdrohung des Gesetzgebers, realitätsnäher: das generelle Wissen der Bürger um die soziale Institution der Kriminalstrafe. Da die konkrete Strafzufügung erforderlich sei, um die Drohung nicht als leere zu entlarven, diene auch sie mittelbar der Abschreckung.70 Hoerster macht sich nun auf die Suche nach einer Begründung dieser Abschreckungstheorie. Zu überlegen sei, die Strafe als Anwendungsfall des ethischen Utilitarismus auszuweisen, also als Vehikel, um die Forderung nach dem größten Glück für die größte Zahl zu erfüllen. Strafe wäre dann begründet, sofern der verhinderte Straftatschaden, das heißt der durch Strafe verhinderte Schaden, größer als der erzeugte Strafschaden ist, das heißt größer als das dem Bestraften zugefügte Leid.71 Der Utilitarismus72 sei aber weder als ethisches Grundprinzip erkennbar noch könne er als Essenz der als verbindlich akzeptierten Moralnormen dargestellt werden: Der Bruch des Utilitarismus mit allgemeinen Vorstellungen von Verantwortlichkeit (die Bestrafung Unschuldiger und das Konzept der Sippenhaft könnten unter gewissen Umständen eine positive Schadensbilanz bewirken und somit aus utilitaristischer Perspektive geboten sein) und die Gleichgewichtung von Täter- und Opferleid (sofern der Strafschaden größer als der Schaden der verhinderten Taten zu bewerten ist, wäre eine Strafe nicht mehr zu begründen) würden zu Ergebnissen führen, die mit der „allgemein ak-
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Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 61 f. 68 Die positive Variante der Generalprävention, also die Einübung der Rechtstreue durch die Strafe, könne nur die Unrechtsfeststellung, nicht die Übelszufügung erklären (ebd., S. 65). 69 Ebd., S. 64. Hoerster nimmt hier explizit Bezug auf die Vorstellung Anselm v. Feuerbachs, dass die Strafdrohung den sinnlichen Antrieb, der für ein Verbrechen bestehen mag, aufhebe, ebd., S. 66. 70 Ebd., S. 66 ff. 71 Ebd., S. 71 f. Die Zusatzbedingung „in alternativloser Weiße größer“ kann hier außer Acht bleiben. 72 Vgl. insbesondere zu Formen des Regelutilitarismus Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 1977. 67
II. Strafschmerz im aufgeklärten Eigeninteresse
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zeptierte[n] Moral unserer Strafpraxis“ nicht zu vereinbaren wären.73 Lehnt man eine solche utilitaristische Abschreckungstheorie74 ab, sei man allerdings nicht dazu gezwungen, auf die Idee der Vergeltung zurückzufallen, sondern könne vielmehr für die Theorie der Abschreckung eine andere Grundierung heranziehen, nämlich eine interessenstheoretische: „Das Grundprinzip ist einfach: Es gibt gewisse Moralnormen, von deren Geltung in der Gesellschaft praktisch jeder Bürger alles in allem profitiert. Das heißt: Die Vorteile der Geltung dieser Normen überwiegen deutlich ihre Nachteile.“ 75 Ist dieses Modell, das ebenso für Rechtsnormen gelte, richtig, müsse man sich nur noch fragen, ob es eine Strafe gibt, die die Voraussetzung „alles in allem im Interesse jedes normalen Bürgers zu sein, tatsächlich erfüllt“.76 Zu berücksichtigen seien dabei nicht die verspürten, sondern lediglich die „aufgeklärten Interessen“, nämlich solche, die ein Individuum „in einem urteilsfähigen und über alle relevanten Umstände aufgeklärten Zustand hat oder in einem solchen Zustand jedenfalls haben würde“.77 Orientiert an diesem Maßstab untersucht Hoerster nun das Vergeltungs- und das Präventionsinteresse. Das erste bestehe jedenfalls nicht in Form eines „reinen Vergeltungsinteresses“.78 Denn die meisten Menschen würden bei „nähere[m] Nachdenken“ auch Auswirkungen auf das künftige Verhalten für legitimationsrelevant halten; diejenigen aber, die Vergeltung ohne jede Prävention wünschten, würden von einem „objektiv[en] vorgegebenen“ Prinzip der Vergeltung ausgehen, was – wie oben postuliert – nicht begründbar sei.79 Eine Ausnahme soll allerdings für den durch die Tat Verletzten gelten: „Ein Vergeltungsbedürfnis ist zweifellos am deutlichsten bei den Opfern eines Verbrechens vorhanden. Es spricht deshalb vieles dafür, die Befriedigung dieses Bedürfnisses in die zivilrechtliche Verpflichtung, die den Verbrecher zur Wiedergutmachung des (. . .) Schadens trifft, in Form von Schmerzensgeld mit einfließen zu lassen.“ 80
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Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 73 ff. (Zitat S. 75). Vgl. zum Gedanken, dass die unbedingte Regelbefolgung (also etwa der absolute Ausschluss der Bestrafung Unschuldiger) auch mit Regel-konsequentialistischen Positionen unvereinbar ist, Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 408. 75 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 81 f. 76 Ebd., S. 82. 77 Ebd., S. 84. 78 Ebd., S. 85 (H. i. O.); dem Ansatz insgesamt zustimmend, zurückhaltend jedoch hinsichtlich der Frage, ob die Vergeltungsbedürfnisse vollständig in den Präventionsbedürfnissen aufgehen, T. Zimmermann, Rezension zu Norbert Hoerster: Muss Strafe sein? Positionen in der Philosophie, GA 2013, S. 135; er sieht das menschliche Vergeltungsinteresse als conditio humana; denn es zielt auf das Nachholen desjenigen Rollentausches, den der Täter vor der Tat vorwerfbar unterließ und daher die Tat beging, T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2008, S. 91. 79 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 86. 80 Ebd., S. 87 f. (zweite H. v. m.). 74
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An der Prävention hingegen dürfte, so vermutet Hoerster, jeder Bürger „vernünftigerweise“ Interesse haben: „Denn kein Bürger will vernünftigerweise selbst Opfer einer Rechtsverletzung (. . .) werden – auch wenn er seinerseits durch die Prävention in seiner Freiheit, Morde oder Einbruchsdiebstähle zu begehen, eingeschränkt wird.“ Freilich sei damit noch nicht erwiesen, dass und unter welchen Bedingungen „diese gute Sache“ auch die übelzufügende Strafpraxis rechtfertigen kann.81 Vielmehr müsse man sich denselben Fragen stellen, an denen die utilitaristische Abschreckungstheorie gescheitert war. Die dort als unannehmbar kritisierten Folgen, die Bestrafung Unschuldiger (i) und die Gleichgewichtung von Täter- und Opferleid (ii), könnten aber auf Grundlage einer interessenstheoretischen Abschreckungstheorie vermieden werden. Im aufgeklärten Interesse der Bürger liege nämlich die Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit der Folgen eigenen Handelns (i).82 Und nur, wenn ausschließlich schuldige Täter bestraft werden, liegt es beim Einzelnen, von der Präventionswirkung ausnahmslos zu profitieren – und nicht durch Zufall zum „Verlierer des Systems“ zu werden.83 Im Interesse jedes Einzelnen sei zudem, dem Leid des Opfers ein höheres Gewicht als dem des Täters beizumessen (ii). Täter zu werden stehe dem Einzelnen nämlich offen, Opfer zu werden hingegen nicht. Deswegen sei nicht unbedingt erforderlich, dass das durch die Bestrafung verhinderte Tatleid das Strafleid überwiegt. Diese Wertung finde sich insbesondere im Institut der Notwehr, das eine Abwehrhandlung auch dann erlaubt, wenn das geschützte Gut das geschädigte in Qualität und Ausmaß nicht überwiegt.84 Auch zur Höhe der Strafe ergäben sich Konsequenzen aus dem aufgeklärten Interesse. Es komme „in keiner Weise darauf an, wie stark die Präventionswirkung bei der jeweiligen Deliktsart infolge ihres Strafmaßes ist“,85 vielmehr sei wegen der „mit den Interessen verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen des Normalbürgers“ ein proportionales Verhältnis zwischen Deliktsschwere und Strafe zu fordern86, wobei die Gesamtheit der Strafmaße „jedenfalls eine deutliche, ins Gewicht fallende Präventionswirkung“ entfalten müsse.87 81
Ebd., S. 89. Die Öffnung des Verantwortungsprinzips für Theorien jenseits der Retribution findet sich auch bei Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, in: ders., Recht und Moral, 1971, S. 68 ff.; s. Hart, Punishment and the Elimination of Responsibility, in: ders., Punishment and responsibility, 1970, S. 180 ff. 83 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 90 f. 84 Ebd., S. 93 ff. 85 Ebd., S. 99. Denn, so Hoerster auf S. 99 f., „[d]arauf abzustellen wäre schon deshalb kaum sinnvoll, weil das Strafmaß – neben der natürlichen Neigung der Menschen zu der Deliktsart, der moralischen Einstellung der Menschen zu ihr und vor allem ihrer Aufklärungsquote – nur einer der Faktoren ist, die die Häufigkeit ihrer Begehung beeinflussen können.“ 86 Ebd., S. 99 ff. Wiederum ähnlich ist hier die Herleitung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit zu der von Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, in: ders., Recht und Moral, 1971, S. 83 f.: „Denn wo die gesetzliche Abstufung von Straftaten, wie sie 82
II. Strafschmerz im aufgeklärten Eigeninteresse
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In der Schlussbemerkung wendet sich Hoerster gegen zwei klassische Einwände, die den Präventionstheorien angelastet werden: zum einem gegen den Vorwurf der Instrumentalisierung des Täters (dazu sogleich), zum anderen gegen die für die Präventionstheorie in bestimmten Konstellationen behauptete Unabkömmlichkeit vergeltungstheoretischer Überlegungen. Bezogen auf Letzteres habe die entworfene präventive Theorie aus folgendem Grund kein Problem: Auch den „Nazischerge[n]“, der nach seinen Untaten jahrzehntelang durchweg angepasst gelebt habe, könne man der präventiven Theorie zufolge – entgegen der Interpretation Hassemers88 – bestrafen, ohne dass ein Rückgriff auf Vergeltungsmotive unumgänglich sei: Die präventive Theorie müsse nicht deswegen von Strafe absehen, weil in absehbarer Zeit keine neue Nazi-Diktatur drohe. Denn es gelte nicht zu erreichen, „dass jemand als Nazi keinen Mord mehr begeht, sondern (. . .) dass niemand mehr – aus welchen Motiven auch immer – einen Mord begeht“.89 Diese Entgegnung, so denke ich, ist in gewisser Weise treffend. Denn die Antwort auf die Frage, von welcher Handlung abgeschreckt wird und ob Abschreckung somit überhaupt Sinn ergibt, ist schlicht davon abhängig, zu welchem Grad man bereit ist, den mit der Tat verbundenen Angriff auf das Recht(sgut) – und somit auch das Verhalten, das durch die Abschreckung erfasst werden soll – zu abstrahieren. Verwunderlich ist allerdings, weshalb Hoerster schon beim abschließenden „Inselbeispiel“, das er in Anspielung auf das von Kant90 entwirft, diesen Weg der ausgeprägten Abstrahierung plötzlich nicht mehr gehen will: Die Bestrafung eines trunkenen Autofahrers soll nach Hoerster, sofern auf der Insel unmittelbar im Anschluss an die Tat ein generelles Autoverbot erlassen wird, im Kontrast zur Wertung der rigiden Vergeltungstheorie als unsinnig ausscheiden: diese Straftat könne nämlich nun niemand mehr begehen.91 Was aber, so ließe sich fragen, ist mit der präventiven Wirkung auf Fahrradfahrer? Könnte es nicht darum gehen, dass niemand mehr, mit welchem Gefährt auch immer, durch Trunkenheit die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährdet? Die ersichtlich von Hoerster angestrebte Abgrenzung zu den Vergeltungstheorien droht sich so als beliebig zu erweisen und lediglich Revierstreitigkeiten zwischen Prävention und Retribution zu reproduzieren.92 in der relativen Schwere der Strafdrohungen zum Ausdruck kommt, von dieser groben Skala deutlich abweicht, besteht die Gefahr, dass man die allgemeine Moral entweder der Verwirrung oder der Verachtung aussetzt und das Recht in Mißkredit bringt.“ (ebd., S. 84). 87 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 101. 88 Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2. Aufl., S. 78 f. 89 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 140. 90 Siehe dazu A. I. 2. 91 Ebd., S. 140 f. 92 Insoweit kritisch, als Hoerster die klassischen Straftheorien „in ihrer groben Urform“ abhandle T. Zimmermann, Rezension zu Norbert Hoerster: Muss Strafe sein? Positionen in der Philosophie, GA 2013, S. 136.
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2. Probleme der generalisierenden Rechtfertigungsüberlegung Gewinnbringender als sich im Dualismus von Vergeltung und Prävention aufzureiben, dürfte es deshalb sein, die von Hoerster vorgelegte Straftheorie genauer zu betrachten. Es handelt sich, wie wir sahen, um eine Abschreckungstheorie, die von Gerechtigkeitsüberlegungen abgedichtet ist. Die fundierende „individualistische[] Interessenethik“ 93 klingt zwar radikal individualistisch. Allerdings sind es bei näherem Hinsehen die Interessen eines gerechten Individuums, dem also faire und soziale Einstellungen zugeschrieben werden. Eine derartige Ausstattung scheint an einigen Stellen auf: So würde jemand, auch wenn er absolut überzeugt davon ist, selbst nie einen Diebstahl zu begehen, jedenfalls „aus einem altruistischen Interesse heraus nicht wollen, dass Menschen, denen er nahesteht“, in einer disproportionalen Weise bestraft werden, selbst wenn eine solche Strafe gegebenenfalls eine bessere Präventionswirkung verspreche.94 Auch den Gedanken, dass ausschließlich der schuldige Täter zu bestrafen sei, weil nur so die Akteure ihr Leben planvoll führen könnten, und auch die Überlegung, dass das Leid des Opfers im Vergleich zu dem des Täters höher zu gewichten sei, zumal dem Opfer im Gegensatz zum Täter das Geschehen nicht vorzuwerfen sei, kann man zwar beide theoretisch als selbstbezogene Interessen begreifen. Dass diese Wertungen allerdings als Regel für alle gelten sollen, impliziert offensichtlich eine generalisierte Vorstellung von Fairness als Ausstattungsmerkmal des Individuums. Dem Vorwurf einer Instrumentalisierung95 soll die Abschreckungstheorie dadurch entgehen können, dass die Norm, die die Bestrafung anordnet, Teil einer Praxis ist, von der der potenzielle Täter profitiert. Der zentrale Gedanke der Rechtfertigung der Übelszufügung ist demzufolge der, dass die generelle Strafpraxis im Interesse eines jeden Bürgers liege, sie deshalb für jeden zustimmungsfähig sei. Der einzelne Akt der Strafverhängung ist dann bloße Exekution der Praxis und zehrt von Legitimität der generellen Praxis.96 Dieser für die Überlegung Hoersters entscheidende Perspektivenwechsel vom Einzelakt zur generellen Praxis führt allerdings zu zwei Phänomenen, die, wie ich denke, Hoersters Theorie – nicht als Begründung dafür, dass auf Verbrechen überhaupt reagiert werden sollte, aber – als Begründung für die intentionale Schmerzzufügung fragwürdig machen: Ich meine damit zum einen das Phänomen der empirischen Immunisie93
Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 24. Ebd., S. 101 f. 95 Zum Vorwurf der Instrumentalisierung und dessen Schwächen, Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 409 ff. 96 Die Überlegung ist nicht ganz unähnlich zum Begründungsgerüst von Hart, der die Institution der Strafe präventiv begründen, bei den einzelnen Strafakten vergeltende Aspekte berücksichtigen will, vgl. Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, in: ders., Recht und Moral, 1971, S. 65 ff. 94
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rung (a)) und zum anderen den Aspekt der fiktiven Zustimmung zur generellen Praxis (b)). a) Wie der Blick auf die gesamte Praxis immunisiert Die erste Konsequenz aus der Methode, auf die gesamte Praxis statt auf den einzelnen Strafakt zu fokussieren, besteht darin, dem Bestraften nicht eine konkrete künftige Tat als durch seine Bestrafung verhindert zuschreiben zu müssen.97 Es ist nicht einmal nötig, dass ein Bestrafungsakt überhaupt abschreckend wirkt. Lediglich die Strafpraxis insgesamt, die Summe aller Einzelbestrafungen, müsse im Gesamten einen abschreckenden Effekt auf eine unbestimmte Personengruppe haben. Aus einer empirischen Warte bedeutet das eine Lockerung der Nachweispflicht: Es wird nicht behauptet, dass eine konkrete Einzelstrafe abschreckend wirke, der abschreckende Effekt folgt aus der Praxis insgesamt. Wenn man zu dieser Beobachtung den Aspekt hinzunimmt, dass es um den Nachweis einer negativen Wirkung geht, nämlich der Nichtbegehung von Taten, die ohne die Androhung begangen worden wären, wobei die strafrechtliche Androhung noch dazu in undurchsichtiger Weise mit anderen Motivationsquellen konkurriert (s. o.) und nicht die wesentliche sein dürfte,98 ergibt sich eine robuste Immunisierung der Abschreckungstheorie gegenüber empirischer Überprüfbarkeit. Überspitzt könnte man sagen, es verhält sie wie bei dem Phänomen, das Franklin Zimring und Gordon Hawkins als „tiger prevention fallacy“ bezeichnen: „[A] man is running about the streets of mid-Manhattan, snapping his fingers and moaning loudly, when he is intercepted by a police officer. Their conversation follows: Police officer: What are you doing? Gentleman: Keeping tigers away. Police officer: Why, that’s crazy. There isn’t a wild tiger within five thousand miles of New York City! Gentleman: Well then, I must have a pretty effective technique!“ 99
Dabei zeigt sich Hoerster in der Frage der Wirksamkeit der Abschreckung selbst zurückhaltend: Nicht zu leugnen sei, dass eine „gewisse Abschreckungswirkung“ besteht. Über ihr Ausmaß könne man mangels reliabler Testmöglich97 Die Unmöglichkeit dieses Unternehmens war Hoersters Argument gegen die Spezialprävention. 98 Dazu, dass weniger die angedrohte Sanktionshärte, sondern Kontrolldichte und Realisierungs-Wahrscheinlichkeit der Drohung für die Abschreckung bedeutsam sind, letztlich die stärkeren Beweggründe für rechtskonformes Verhalten aber ohnehin weniger von der Drohung, sondern zentral von der Normakzeptanz und den vom sozialen Umfeld zu erwartenden Reaktionen (also der Frage, ob die strafrechtliche Missbilligung mitgetragen wird) abhängt, Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?, 2014, S. 44. 99 Zimring/Hawkins, Deterrence: The Legal Threat in Crime Control, in: Bridges u. a. (Hrsg.), Criminal Justice: Readings, 1996, S. 54.
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keiten – müsste man doch die Bestrafung eines bestimmten Delikts für längere Zeit aussetzen – nur spekulieren, aber die Tatsache, dass „offenbar kein Staat bereit ist, den genannten Testversuch zu machen, ist schon ein Indiz dafür, wie sehr die Verantwortlichen (. . .) von der Abschreckungswirkung der Strafe tatsächlich überzeugt sind“.100 Auch bezüglich der Frage der Erforderlichkeit der Kriminalstrafe sieht Hoerster, dass, sofern die Präventionswirkung durch alternative, mildere Mittel erreichbar wäre, dies auch die präventiv wirkende Strafpraxis delegitimieren würde. Er vertieft die Frage indes nicht, da „Alternativen zur staatlichen Strafe jedoch zur Zeit kaum erweisbar sind“ 101, verschleiert vielmehr die mögliche Präventionswirkung durch alternative Mittel, indem er etwa den zivilrechtlichen Schadensersatz oder einen Anspruch auf Schmerzensgeld rein definitorisch von der strafrechtlichen Reaktion ausnimmt.102 Die Behauptung, dass eine gewisse Abschreckung mittels Kriminalstrafe für eine präventive Wirkung unerlässlich ist, droht so zum Glaubenssatz zu werden.103 b) Das allseitige, hypothetische Interesse Was mich hier noch mehr als die empirische Überprüfbarkeit interessiert, ist der Gedanke, dass die einzelne Strafe nunmehr ganz ausdrücklich nicht um104 der begangenen einzelnen Tat willen vollzogen wird, sondern der Stützung der abschreckenden Praxis dient. Es geht darum, eine allen Bürgern gegenüber ausgesprochene Drohung zu bestärken. Dieser generellen, diffusen Wirkvorstellung wohnt ein Aspekt der Fremdnützigkeit inne, der besonders deutlich wird, sobald man sich klarmacht, dass die Strafe an demjenigen vollzogen wird, der von der Wirkung dieser Abschreckungspraxis gerade nicht beeindruckt war: der NichtAbgeschreckte wird bestraft und somit für die Erhaltung einer Praxis eingesetzt, die ihm selbst gegenüber nicht erfolgreich war. Gegen die Besorgnis der Fremdnützigkeit ließe sich möglicherweise einwenden, dass eine feste Gruppe der Nicht-Abschreckbaren als solche nicht existiert, vielmehr der einmal Unbeeindruckte sich möglicherweise nunmehr bei einer weiteren Tatgelegenheit abschrecken lassen könnte. Allerdings lässt sich dadurch der Aspekt der Fremdnützigkeit nicht zufriedenstellend ausräumen. Denn mit Blick auf die konkrete Tat und Strafe nützt die Bestrafung gemäß dem Konzept, nach dem durch den Strafakt die Drohung als ernsthaft erwiesen wird, dem Täter bestenfalls indirekt. 100
Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 69. Ebd., S. 73. 102 Ebd., S. 12 und 87 f. Wenig später aber, S. 13: „Generell gilt: Man sollte nicht versuchen, anstehenden Begründungsfragen durch Definitionen auszuweichen.“ 103 Ähnlich auch Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 37: „[E]ine Institution kann nicht als abstractum, sondern nur in ihrer konkreten Ausgestaltung, mit ihren konkreten Auswirkungen gerechtfertigt werden.“ 104 Sondern höchstes „anlässlich dieser“. 101
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Hoersters Argument beruht denn auch nicht auf einer Widerlegung der Fremdnützigkeit der Einzelbestrafung, sondern darauf, dass auf die Dauer gesehen jeder von der Praxis profitiert und ihr daher selbst derjenige zustimmen werde, der von der Praxis negativ betroffen wird.105 Bei dieser Zustimmung gilt es freilich, genau hinzusehen. Denn nicht jeglicher (potenzielle) Profit an einer Praxis macht die Teilnahme an ihr für mich interessant und daher zustimmenswert. Liegt es etwa in meinem aufgeklärten Interesse, nach zufälligen Auswahlverfahren zu (allen möglichen) Menschenexperimenten herangezogen zu werden, weil auch ich von dieser Versuchspraxis, sofern es zu brauchbaren Erkenntnissen kommt, profitiere? Sehen wir hin, wie Hoerster versucht, die präsentierte Abschreckungspraxis als der Zustimmung würdig auszuweisen: Jedermann, auch der Täter, profitiere von der durch die Strafpraxis erzeugten Präventionswirkung und sei lediglich insoweit beeinträchtigt, als er die Freiheit verlöre, inkriminiertes Verhalten straflos auszuführen.106 Dadurch, dass nur Schuldige bestraft würden, läge es bei jedem selbst, straffällig zu werden. Somit hätte jeder in der Hand, eindeutig von der Strafpraxis zu profitieren.107 Hoersters diesbezügliches Angebot klingt verlockend, da es in Aussicht stellt, stets Gewinner der Praxis sein zu können: Es setzt lediglich voraus, dass man sich durchgängig abschreckungs-responsiv verhält.108 Die zugrundeliegende Logik folgt dem Schema: „Solange du abschreckungs-responsiv bist, passiert dir auch nichts.“ Dieses einfache Rezept suggeriert dem Akteur, dass die einzig relevante Perspektive die des Gewinners sei. Auf das Eintreten des „nicht-nichts“, also der Strafe, braucht er keinen Gedanken zu verschwenden. In Bezug auf diese – womöglich auch durch psychologische Effekte109 befeuerte – Fokussierung auf die „Gewinnerperspektive“ stellt sich grundlegend die Frage, ob ich von mir sicher sagen kann, stets abschreckungsresponsiv zu sein. Zu dieser Aussage könnte ich mich vielleicht verleiten lassen, 105
Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 138 f. Ebd., S. 89. 107 Ebd., S. 91; der nicht unerhebliche Aspekt der Justizirrtümer bleibt ausgeklammert – haftet er doch jeglicher Straftheorie an. 108 Kritisch zur dieser Konstruktion, dass der Einzelne durch freie Wahl einfach die Strafe vermeiden könne und einem solchen Strafsystem ohne Weiteres zustimmen würde. Dies würde die Verantwortlichkeit für die richtige Verhaltenswahl zu einseitig auf ohnehin Benachteiligten abwälzen, sodass die gesellschaftliche Verantwortung und sozialpolitische Lösungen zu kurz kämen, vgl. Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 89 ff. 109 Zu denken wäre einmal an den Effekt der Kontrollillusion: Allein die Suggestion, eine Wahl zu haben, befördert die Vorstellung, man könne die Situation kontrollieren, vgl. Langer, The Illusion of Control, Journal of Personality and Social Psychology 32 (1975), insbes. S. 323. Zum anderen könnte man an das Phänomen des sog. optimistic bias denken, wonach Akteure glauben, ihnen würden als positiv bewertete Geschehnisse eher widerfahren als dem Durchschnitt, vgl. Weinstein, Unrealistic Optimism About Future Life Events, Journal of Personality and Social Psychology 39 (1980), S. 818 f. 106
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wenn es eine extrem harte Sanktionspraxis gäbe, etwa lebenslange Haft für Delikte geringen Unrechts. Doch selbst bei einer solchen Praxis wäre diese durchgängige Responsivität konzeptuell110 wie auch empirisch – man denke an die Praxis der three strikes-Regelungen in den USA111 – alles andere als gewiss. Erst recht schwankend ist nun eine derartige Selbstgewissheit, wenn es sich lediglich – und um eine solche geht es Hoerster – um eine gemäßigt harte Abschreckungspraxis handelt. Wenn ich folglich nicht garantieren kann, stets abschreckungs-responsiv zu sein, dann muss ich mich in meinem „aufgeklärten Eigeninteresse“ auch darum kümmern, was es bedeutet, Verlierer der Praxis zu sein. Noch dringlicher wird das Kümmern, wenn man das altruistische Interesse112 bedenkt, das der Akteur gegenüber nahestehenden Personen habe. Denn über andere Personen kann ich wohl noch viel weniger sicher sagen, dass sie stets responsiv sein werden. Noch problematischer wird dieses Argument der legitimierenden hypothetischen Zustimmung zu einer intentionalen Übel zufügenden Strafpraxis,113 wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche (mehr oder weniger zu verantwortende) Eigenschaften und Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeit straffälligen Verhaltens beeinflussen,114 den einzelnen Akteuren in unterschiedlicher Weise zukommen. Die weniger Gefährdeten profitieren also von einer härteren Sanktionspraxis – unter der theoriegemäßen Annahme, dass diese einen höheren Präventionseffekt hat – mehr als die eher Gefährdeten, die möglicherweise überhaupt nicht profitieren. Die mit dem Ausmaß des Profits theoriegemäß korrelierenden individuellen Zustimmungsinteressen sind also faktisch durchaus unterschiedlich verteilt. Derjenige, der weniger Gefahr läuft, kriminelles Verhalten an den Tag zu legen,115 dürfte der Praxis eher zustimmen, genauso wie etwa ein Akteur, der selbst aus situativen oder persönlichen Gründen nicht Gefahr läuft, vertragsbrüchig zu werden, eher bereit sein wird, eine hohe gegenseitige Vertragsstrafen-Klausel für die schuldhafte Verursachung derartiger Verletzungen zu vereinbaren. 110 Vgl. Durkheims Normalitätsthese des Verbrechens, dass eine Gesellschaft ohne Verbrechen unvorstellbar sei. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (1895), 1961, insbes. S. 156 f. 111 Diese in etlichen Staaten der USA existierenden Gesetze, die angelehnt an die Baseballregel „three strikes, you’re out“ bei dem dritten Verurteilung zu einer langzeitigen Gefängnisstrafe für den „persistent offender“ führen. Vgl. (insbesondere zur extremen Variante in Kalifornien) Köstler-Loewe, Strafrecht US-Style: „Three Strikes and You’re Out!“, 2008. 112 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 101 f. 113 Kritisch zur „legitimierende[n] Kraft einer nur hypothetischen Zustimmung unter der ebenfalls nur hypothetischen Bedingung, dass alle Individuen ihr Leben konsequent rational-berechnend gestalten“ auch Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 49. 114 Persönlichen Anlage, sozialen Prägung, Umweltbedingungen. Vgl. nur Lüderssen, Kriminologie, 1984, Rn. 345 ff. 115 Beziehungsweise dabei seltener ertappt wird.
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Um dieses (zumindest auch) auf unkontrollierbaren Faktoren basierende Ungleichgewicht bei der Frage der Zustimmung zu berücksichtigen, bedürfte es eines Universalisierungstests (etwa hinter dem veil of ignorance)116, bei dem unvorhersehbar ist, welcher Kriminalisierungswahrscheinlichkeit man unterliegt, aber eben auch klar ist, dass es unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten der Kriminalisierung gibt.117 Der richtige Adressat der Zustimmungsfrage wäre folglich nicht derjenige, der von sich sicher glaubt sagen zu können, dass er es in der Hand hat, ein Verbrechen zu begehen oder nicht, sondern derjenige, der weiß, dass er möglicherweise nicht unerheblich gefährdet sein könnte.118 Würden wir in der beschriebenen Lage wirklich der vorgeschlagenen Abschreckung durch Kriminalstrafe zustimmen? Hoerster stößt an einer Stelle selbst auf diesen Punkt. „Natürlich kann ich nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen, dass ich eines Tages sogar eine so gravierende Straftat wie einen Mord begehe, deren Folgen mich zu einem Verlierer des Systems machen, da sie die Vorteile der Präventionswirkung für mich mehr als aufwiegen.“ 119 Allerdings könne ich, so Hoerster, noch weniger sicher sein, nicht Opfer eines unverschuldeten Verkehrsunfalls zu werden – und dennoch liege die Teilnahme am Straßenverkehr in meinem Interesse.120 Ist also die Perspektive des Verlierers nicht bereits berücksichtigt? Hoersters Vergleich zeigt zwar, dass wir an Praktiken teilnehmen, selbst wenn sie gravierende Nachteile nach sich ziehen können. Jedoch zeigt er nicht, dass wir an dieser konkreten Praxis der Abschreckungsstrafe teilnehmen sollten bzw. diese so einrichten sollten. 116
Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 4. Aufl. 2014, S. 139 ff. Diesen Punkt übergeht Hoerster bei der Überlegung, dass es auch für den zu einer Tat Determinierten gleichwohl rational gewesen sei, der Strafpraxis vor der Tatbegehung zugestimmt zu haben, da er nicht habe wissen können, zu welchen konkreten Handlungen er determiniert gewesen sei. Vgl. Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 111. 118 Parallele Überlegungen entwickelt Baurmann anlässlich seiner Hypothese, dass sich das Prinzip der Verantwortung (statt aus dem Vergeltungsprinzip) auch aus einer vertragstheoretischen Konzeption angemessener Folgenorientierung herleiten lässt: Mit Blick auf die gesamte Strafpraxis müsse man auch die Gruppe der schuldigen Täter als zustimmungsrelevante Gruppe berücksichtigen. Zustimmen würde diese, wenn das Strafrecht erstens eine relevante präventive Wirkung hätte und die Täter zweitens dennoch ein Interesse daran hätten, dass durch die präventive Wirkung andere von vergleichbaren Handlungen zurückgehalten werden, vgl. Baurmann, Folgenorientierung und subjektive Verantwortlichkeit, 1981, S. 67. Dass ein solches Interesse bei der aktuellen Strafpraxis besteht, zieht er in Zweifel, ebd., S. 67 f.: „Absurd ist aber sehr wahrscheinlich die Annahme, diese Voraussetzungen wären unter Bedingungen des Strafrechts, wie es existiert, bereits erfüllt. Vielmehr müssten kriminalrechtliche Maßnahmen ihren Straf- bzw. Übelscharakter weitgehend verlieren, um die angenommenen Vorteile einer zweifelhaften präventiven Wirkungen nicht leicht wieder aufzuwiegen.“ Und weiter: „Dieses Ergebnis aber scheint mir kein Nachteil des vertragstheoretischen Modells zu sein, dass heutiges Strafrecht nicht legitim ist, ist alles andere als absurd.“ 119 Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 91. 120 Ebd. 117
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Zwar, so könnte man im Bild bleibend sagen, nehme ich an der Praxis des Straßenverkehrs wie an der Praxis des Normbefolgens und Sanktionierens teil – obwohl ich weiß, dass ein Risiko besteht, unter die Räder der Praxis zu kommen, also deren nachteilige Seite zu erfahren. Es besteht aber ein entscheidender Unterschied: Stellt der Unfall auf der einen Seite unvermeidlich eine destruktive Verletzung dar, steht auf der anderen Seite nicht fest, sondern gerade infrage, was wir als Sanktion verwenden wollen. Geht es einmal um die zufällige Allokation von unvermeidbaren negativen Nebenfolgen einer Praxis (Straßenverkehr), so wird das negative Ereignis bei der Strafe erst erzeugt: Zu überlegen ist gerade, wodurch und wie viel Prävention „erzeugt“ werden soll. Wie nonchalant Hoerster von einer Zustimmung zur Praxis der abschreckenden Kriminalstrafe ausgeht, zeigt der von ihm vorgebrachte Vergleich mit einer Wohngemeinschaft, der das wesentliche argumentative Begründungsreservoir gegen den klassischen Einwand bieten soll, dem zufolge die Abschreckungsstrafe den Bestraften zum bloßen Mittel für einen ihm fremden Zweck degradiere: Von einer instrumentalisierenden Behandlung des Bestraften könne (aufgrund der vorher gegebenen und nun bindenden Zustimmung), so Hoerster, keine Rede sein. Er sei vielmehr „mit jemandem [zu] vergleichen, der als Teilnehmer einer Wohngemeinschaft im vergangenen Monat seinen Anteil an der gemeinsamen Miete schuldig geblieben ist und deshalb, wie zuvor vereinbart, eine Zeitlang die Toilettenreinigung übernehmen muss“.121 Erreicht der Vergleich das, was er soll? Kann er die Zustimmung zur Praxis der intentionalen Übelszufügung einsichtig machen? Ich denke nicht. Denn erstens ist die Ähnlichkeit zur Sanktionspraxis problematisch, zumal der Charakter der staatlichen Strafpraxis in relevanten Aspekten divergiert, und zweitens wird, wenn man die Situation so parallelisiert, dass sie tatsächlich annähernd vergleichbar sind, die suggerierte Zustimmung zweifelhaft. Will man trotz allem die Analogie akzeptieren, so verdeckt das Beispiel, so der dritte Einwand, jedenfalls die Möglichkeit von alternativen Regelungen. Zum einen weicht der Charakter der wohngemeinschaftlichen Abmachung in zentralen Aspekten von der staatlichen Strafpraxis ab. Handelt es sich dort um eine Vereinbarung zwischen Mitgliedern einer Gemeinschaft, die relativ leicht verlassen werden kann, erstreckt sich die strafrechtliche Regulierung auch auf Beziehungen zu „unausgesuchten“, anonymen Akteuren, aus denen ein Austritt nicht einfach möglich ist. Wird dort spielerisch ein geringfügiger Normverstoß auf subsidiäre, informelle Weise sanktioniert, bezieht sich die Strafpraxis auf gravierende Verstöße gegen fundamentale Rücksichtspflichten, die sie mittels gravierender Sanktionen belegt. Existiert dort die auferlegte „Last der Toilettenreinigung“ auch unabhängig vom Vereinbarungsbruch, der demnach nur die Aufgabenverteilung zulasten des Täters ändert, schafft die staatliche Strafpraxis mit 121
Ebd., S. 139.
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der Freiheitsstrafe ein künstliches Strafübel. Allein dies scheinen mir relevante Unterschiede zu seien, sodass sie den Analogieschluss fragwürdig machen. Wollte man Ähnlichkeit in den Folgen des Verstoßes herstellen, würde das Beispiel folglich eher für eine sinnvolle (!) gemeinnützige Arbeit als für die Sanktionsform der Kriminalstrafe sprechen. Wollte man hingegen das Strafmittel der Freiheitsstrafe plausibilisieren, wäre die wohngemeinschaftliche Vereinbarung eher dergestalt zu konstruieren, dass der Säumige sein Recht, die Wohnung zu betreten, für einige Zeit verwirkt. Bereits durch diese tendenzielle Annäherung der beiden Phänomene büßt das Beispiel der Wohngemeinschaft um einiges an Attraktivität ein. Selbst wenn man also intuitiv geneigt sein mag, der von Hoerster erwähnten Vereinbarung zuzustimmen, kann man daraus für die Frage der Zustimmung zur staatlichen Strafpraxis, die dem Setting nach grundverschieden ist, kaum etwas ableiten. Zum dritten Punkt: Ließe man sich dennoch auf eine gedankliche Übertragung ein, so ist zu bedenken, dass die Zulässigkeit der Sanktion ja dadurch plausibel werden soll, dass sich der „Bestrafte“ mit der Vorgehensweise einverstanden zeigte. Diese Zustimmung zur Sanktionspraxis wird von Hoerster im Beispiel schlicht vorausgesetzt („wie zuvor vereinbart“ 122). Dem Zusammenhang des Arguments ist zu entnehmen123, dass die Zustimmung daher anzunehmen sei, weil von ihr auf Dauer jeder Praxisteilnehmer profitiere. Es ließe sich aber parallel zu den obigen Überlegungen fragen, ob es denn tatsächlich im „aufgeklärten Interesse“ des einzelnen Bewohners liegt, in einer derartigen Weise übereinzukommen. Zu prüfen wäre, ob es nicht womöglich eher in seinem Interesse liegt, in einer Wohngemeinschaft zu leben, die den säumigen Schuldner beispielsweise auf die bestmögliche Wiedergutmachung verpflichtet (mögliche Verzugszinsen, Entschädigung für entstandenen Ärger, etwa eine Entschuldigung beim Vermieter); oder vielleicht in einer Wohngemeinschaft, die auf separate Verträge mit dem Vermieter besteht; oder gar einer Wohngemeinschaft, die ein solches Verhalten schlicht erträgt? 3. Ergebnis Hoerster, so lässt sich zusammenfassend sagen, schlägt in seiner Strafrechtfertigung den Weg der Abstraktion ein, indem er erstens die Strafpraxis anstelle der Einzelstrafe in den Blick nimmt (1.) und zweitens eine hypothetische Einwilligung wegen des Profits an der Praxis auch dem zu Bestrafenden unterstellt (2.). Statt die Schmerzzufügung als Praxis zu rechtfertigen, lässt beides eher Beden122
Ebd., S. 139. Hoerster leitet sein Argument gegen den Instrumentalisierungseinwand der abschreckenden Strafe damit ein, dass es im Interesse aller Bewohner einer Insel ist, dass es generell weniger Diebstähle als ohne die Bestrafungspraxis gibt. Auf Dauer profitiere daher jeder Bewohner und dürfte ihr deshalb auch zugestimmt haben, so ebd., S. 138 f. 123
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ken hinsichtlich ihrer Legitimität aufkommen: Durch den Perspektivenwechsel von der konkreten Strafe als intentionaler Übelszufügung auf die gesamte Strafpraxis gerät erstere aus dem Blick und führt mit der „Teil des Ganzen“-Logik tendenziell zu einer empirischen Immunisierung sowie dem Ausblenden alternativer Reaktionsformen (1.). Die Zustimmung zur Praxis zu verlangen ist aus der Binnenlogik einer Interessenstheorie durchaus folgerichtig. Was die zustimmungsrelevanten Akteure wirklich wollen, ist nicht so evident wie Hoerster glauben macht. Die anschlussfähige Aussage, sofern man die Interessenstheorie für überzeugend hält, erschöpft sich in der nicht unwichtigen Überlegung, dass es wohl im allseitigen Interesse liegen dürfte, eine institutionalisierte Praxis zu schaffen, die die Begehung von Verbrechen unwahrscheinlicher macht, sofern selbst der ihr wahrscheinlich Unterworfene124 zustimmen würde, weil auch er – trotz Einberechnung des Risikos des „Negativfalls“ – von ihr auf Dauer tatsächlich profitieren kann. Wie diese Praxis aussehen sollte, bleibt dabei offen.125
III. Klugheitsgrund und Opfersolidarisierung (Tatjana Hörnle) 1. Hybride Theorie aus Abschreckung und Tadelausdruck Dass eine institutionalisierte Praxis staatlichen Strafens eingerichtet werden sollte, die durchaus mit Schmerzzufügung hantiert, will Tatjana Hörnle zeigen. 124 Präziser: Jemand, der in der Situation hinter dem veil of ignorance erkennt, dass er möglicherweise die Rolle einer Person einnehmen wird, die einer erhöhte Wahrscheinlichkeit unterliegt, von der Strafpraxis getroffen zu werden. 125 Ein ähnlicher Punkt gilt für den innovativen Ansatz von Warren Quinn: Dieser nimmt zur Rechtfertigung der Strafe ein fiktives System von automatisierten Bestrafungsgeräten an. Diese Geräte – so die phantastische Vorstellung – könnten Täter zur Verantwortung ziehen und der Bestrafung zuführen. Sie wären nur ein einziges Mal zu aktivieren und arbeiteten dann unabänderlich und völlig selbstständig. Die aktuale Bestrafung bedürfte also keines weiteren menschlichen Handlungsaktes. Das einzig Erforderliche und damit einzig zu Begründende, denn der einzelne Bestrafungsakt ist dann lediglich die Ausführung des Programms, „an unavoidable empirical consequence“, ist die Aktivierung der Geräte. Und diese sei nun dadurch gerechtfertigt, dass wir uns als Ausprägung des Selbsterhaltungsrechts die potenziellen Aggressoren mit Strafe bedrohen dürften, um sie von Verbrechen abzuschrecken, vgl. Quinn, The Right to Threaten and The Right to Punish, Philosophy & Public Affairs 14 (1985), S. 337 ff. (Zitat S. 340); zu Gegenargumenten Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 425 ff. Das zentrale Problem des Ansatzes liegt meines Erachtens nicht so sehr darin, dass, wie Dolinko meint, die Entscheidung, das Gerät zu aktivieren, die Frage der eigentlichen Verhängung der jeweils aktualen Strafe nicht präkludiert, sondern darin, dass Quinn das Programm, mit dem die Geräte ausgestattet werden, als zulässig unterstellt. Es steht gerade zur Frage, ob wir ein System, das durch Androhung von Strafschmerz abzuschrecken versucht (und damit die nicht-Abgeschreckten mit Strafschmerz traktiert), programmieren und aktivieren sollten. Eine bejahende Antwort setzt voraus, dass wir uns mit sämtlichen Folgen, die aus ihm resultieren, abfinden.
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Sie separiert die Rechtfertigung von den strafrechtlichen Normen, das heißt die generelle Praxis der Strafandrohungen (I) von der Rechtfertigung der Bestrafungsakte (II). Bezüglich beider Elemente sei jeweils nach dem Zweck aus Sicht der Allgemeinheit (a) und der Legitimierbarkeit gegenüber den Betroffenen (b) zu fragen.126 Aus Perspektive der Allgemeinheit bezweckten die Strafandrohungen (I a) den Appell, sich mit Rücksicht auf das Interesse der anderen Bürger normkonform zu betragen. „Unabhängig davon, ob man von der Existenz primärer Verhaltensnormen ausgeht, ist anzunehmen, dass jedenfalls die Sanktionsnormen verhaltenslenkend wirken sollen.“ 127 Von einer solchen Wirkung sei auszugehen, auch wenn sie nur „in beschränktem Umfang“ 128 bestehe. Bezüglich der Legitimationsüberlegung der Androhungspraxis (I b) stünden nun „im Vordergrund“ die Betroffenen dieser abschreckenden Wirkung. Dies seien nicht diejenigen, die zu Tätern werden, oder jene, die an der Vornahme des sanktionsbewehrten Verhaltens ohnehin nicht interessiert sind, sondern vielmehr diejenigen Akteure, die tatsächlich durch die Sanktionsnorm zu einer Anpassung ihres Verhaltens veranlasst werden.129 Statt von der obrigkeitsstaatlich anmutenden Terminologie der „Androhung“ will Hörnle besser von einer der rechtsstaatlich unbedenklicheren „Ankündigung“ von Sanktionen sprechen. Diese Ankündigung von Sanktionen sei als Anreiz relevant. Im Gegensatz zur Verhaltenssteuerung von Tieren durch ein bloßes Reiz-Reaktions-Schema könnten Menschen im Allgemeinen einerseits „die Sinnhaftigkeit der zugrunde liegenden Verhaltensanforderung nachvollziehen“ und andererseits könnten „auch Klugheitsregeln als Gründe verstanden werden“.130 Im persönlichen Umgang würde man die Verwendung von solchen anreiz-setzenden „Klugheitsregeln“ zwar möglicherweise als „unaufrichtige, unethische Manipulation“ ansehen. Daraus folge allerdings nicht, dass „der Staat die in Normen gegossene Kommunikation mit allen Bürgern an den hohen moralischen Ansprüchen für einen mitmenschlichen Umgang ausrichten müsse. Pragmatischere Standards, die sowohl moralische Ansprechbarkeit als auch die Neigung zur Vermeidung von Nachteilen voraussetzen, sind insoweit nicht verwerflich.“ 131
Bei dem Zweck der konkreten Bestrafungsakte aus Sicht der Allgemeinheit (II a) gelangt Hörnle zu einem hybriden Modell. Einerseits folge die Notwendigkeit der konkreten Bestrafung aus dem Modell der Sanktionsankündigung: Wür126 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 5 (Gliederungsbezeichnung v. m.) (= dies., Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 5 f.). 127 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 8 (= 2. Aufl. 2017, S. 10). 128 Ebd., S. 9 (i.O. kursiv) (= 2. Aufl. 2017, S. 11). 129 Ebd., S. 11 (= 2. Aufl. 2017, S. 13, geringfügig geändert). 130 Ebd., S. 12 (H. i. O.) (= 2. Aufl. 2017, S. 14 f.). 131 Ebd., S. 13 (H. i. O.) (= 2. Aufl. 2017, S. 15).
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den sich die Ankündigungen als leere Drohungen herausstellen, entfiele eine verhaltenssteuernde Wirkung der Strafnormen. Die Bestrafung ist demnach als „,Back up‘“ notwendig.132 Eine derartig verhaltenssteuernde Wirkung der Verhängung sei nun lediglich bei Verbrechen mit nüchterner Kalkulation anzunehmen. Bei affektgeladenen Delikten, insbesondere bei Delikten nach direkter persönlicher Interaktion zwischen Opfer und Täter, sei der präventive Effekt der Bestrafungsakte fraglich.133 Um die bei derartigen Delikten bestehenden Zweifel hinsichtlich der Verhaltenssteuerung zu besänftigen, führt Hörnle andererseits als komplementäres Rechtfertigungselement die expressive Funktion der Strafe an: Zwar gründe diese Funktion ebenso wie die Präventionsüberlegung in „legitimen Interessen von Menschen“, ziele jedoch nicht darauf, die Kriminalitätsrate zu senken, sondern sei dadurch motiviert, einen „angemessen Umgang mit vergangenen Verhalten“ zu erreichen.134 Angemessen sei vor allem, dem Täter gegenüber eine tadelnde Haltung zu demonstrieren.135 Dies sei die adäquate Reaktion, denn diese Einstellung adressiere den Täter, so Hörnle im Anschluss an die Unterscheidung von Peter Strawson,136 als einen Teilnehmer einer sozialen Beziehung, und behandle ihn nicht lediglich als Objekt, das es zu kontrollieren gelte.137 Ebenso sei es adäquat, dem Tatopfer gegenüber eine solidarische Einstellung einzunehmen, was Hörnle besonders herausstellt: Die Kriminalstrafe hat die Bedeutung eines „institutionalisierten Unwerturteil[s]“, das die Grenze zwischen Recht und Unrecht markiert und den Verletzten als fremdverantwortlich, 132
Ebd., S. 24 f. (= 2. Aufl. 2017, S. 26 f.). Ebd., S. 24 f. u. 28 f. (= 2. Aufl. 2017, S. 26 f. u. 30). 134 Ebd., S. 29 (= 2. Aufl. 2017, S. 31). 135 Zurückgehend auf v. Hirsch, Censure and Sanctions, 1993; v. Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 55 ff. Kritisch zu einem moralisierenden Verständnis des Tätertadels, der eine asymmetrische Kommunikationsform darstelle und zudem den Staat als anmaßende Erziehungsanstalt erscheinen lasse, Wolf/Haaz, Strafe als Tadel? Argumente pro und kontra, in: ebd., S. 70. 136 Strawson unterscheidet zwischen der teilnehmenden Einstellung einerseits, die man gegenüber Teilnehmern an sozialen Beziehungen einnimmt („participant reactive attitude“) wie etwa „resentment, gratitude, forgiveness, anger“, und der objektivierenden Einstellung andererseits, die man gegenüber Akteuren einnimmt, die an am personalen Umgang nicht teilnehmen, indem man sie als Objekte ansieht, die behandelt und gemanagt werden müssen („objektive attitudes“), Strawson, Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment, 1974, S. 9. 137 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 35 f. (= 2. Aufl. 2017, S. 34 f. veränderte Einordnung); vgl. mit Bezug auf Strawson zu der Konzeption der Praxis des Lobens und Tadelns, also der Einnahme reaktiver, teilnehmender Haltungen als Lebensform, die als solche auch die Praxis des Strafens rechtfertige, Zürcher, Legitimation von Strafe, 2014, S. 106. Wenn man die Strafe als kommunikativen Akt verstehe, könne man diesen nicht als das bloße Informieren über die Falschheit des Verhaltens auffassen. Er enthalte vielmehr auch eine emotionale Komponente, die auf eine Verhaltensänderung abziele. Dieses Element mache die reaktive Haltung gegenüber dem Adressaten des Vorwurfs erst zu einer teilnehmenden und nicht bloß objektivierenden Einstellung. Ebd., S. 96 u. 125. 133
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also als nicht selbstverantwortlich oder rein zufällig Geschädigten ausweist.138 Bleibt ein solches Unwerturteil dagegen aus, so implizierte das die Botschaft, dass die Verletzung nicht ausreichend erheblich sei, um über „die Ermöglichung zivilrechtlicher Verfahren [hinaus] staatliche Ressourcen zu bemühen“. Im Fall einer gravierenden Verletzung würde das dem Opfer kommunizieren „Du bist es nicht wert, dass sich der Staat um deine Belange kümmert“ 139 und so dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzen.140 Nun stelle sich die Frage, weshalb zum beschriebenen Unwerturteil noch die Schmerzzufügung hinzukommen muss. Zwar seien Reaktionsweisen vorstellbar, bei denen die kommunikative Funktion völlig in den Vordergrund trete, allerdings könne mit der expressiven Überlegung auch eine sehr eingriffsintensive Strafpraxis legitimiert werden, die das Element der Übelszufügung beinhalte. Die Komponente der Übelszufügung sei unverzichtbar. Das liege darin begründet, „dass die Möglichkeiten begrenzt sind, notwendige Differenzierungen des Grades an Tadel mit einer nur in Worte gefassten Missbilligung auszudrücken. Schon auf der sprachlichen Ebene würde es schwer fallen, das Unwerturteil nach quantitativen Kriterien zu präzisieren. (. . .) Und vor allem ist das Gewicht einer nur verbalen Botschaft in unserem sozialen Kontext limitiert. Das gilt sowohl für lobende Kommunikation als auch für Missbilligungen. Eine Verdeutlichung des Ernstes einer Aussage ist durch symbolische Unterstützung in Form der Übergabe oder des Entzugs von tangiblen Gütern zu erreichen.“ 141
Eine „symbolische Unterstützung“ sei bei positiven Auszeichnungen z. B. in Form von finanziellen Dotationen üblich und bei tadelnden Beurteilungen „in besonderem Maß notwendig“.142 „Wie stark die Unterfütterung des Verbalen durch handfeste Übelszufügung ausfallen muss, ist eine Frage der historisch gewachsenen Sensibilität der Gesellschaft. Ganz ohne eine symbolische Verstärkung ist jedoch (. . .) nicht auszukommen.“ 143 Auch Schadensersatz sei aus der Perspektive des Verletzten unzureichend, da er nur den finanziellen Zustand vor der Tat wiederherstelle.144 Ebenso sei Schmerzensgeld „bei gravierenden Rechts138 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 39 (= 2. Aufl. 2017, S. 39 – semantisch geändert). Dieser Punkt ist, worauf Hörnle verweist, mehrfach herausgearbeitet worden, etwa bei Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., LüderssenFS, 2002, S. 218; Walther, Was soll „Strafe“, ZStW 111 (1999), S. 123 ff. 139 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 40 (= 2. Aufl. 2017, S. 40). 140 Ebd., im Anschluss an Weigend, „Die Strafe für das Opfer?“ – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, RW 1 (2010), S. 50 ff. 141 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 42 m.w. N. (ähnlich 2. Aufl. 2017, S. 44). 142 Ebd. (H. i. O.) (= 2. Aufl. 2017, S. 44 f., wobei Hörnle nun von Untermauerung statt symbolischer Unterstützung spricht). 143 Ebd., S. 42 f. (ähnlich 2. Aufl. 2017, S. 45: statt „Ganz ohne symbolische Verstärkung“ heißt es jetzt „Ohne Verstärkung“). Mit Hinweis auf die abweichende Ansicht von Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 219. 144 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 43 (= 2. Aufl. 2017, S. 45).
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verletzungen unzureichend, da erheblicher Tadel nicht mehr durch eine nur finanzielle Einbuße verdeutlicht werden kann“.145 Damit sieht Hörnle den Zweck der einzelnen Bestrafung aus Perspektive der Allgemeinheit (II a) als gerechtfertigt an. Schließlich bleibt noch, den konkreten Bestrafungsakt dem Täter gegenüber zu legitimieren (II b). Keine Schwierigkeiten sieht Hörnle hinsichtlich der expressiven Überlegung, also bei Theorien, „die die Rolle des Tadels in den Vordergrund stellen und damit eine intrinsische Verbindung zwischen Strafzweck und legitimer Inpflichtnahme des Täters herstellen“.146 Ihnen zufolge müsse wegen des berechtigten Interesses des Verletzten ein Unwerturteil geäußert werden, das zugleich die Schmerzzufügung rechtfertige:147 „Betrachtet man die Übelszufügung als Verstärkung und Ausdifferenzierung des kommunikativen Aktes, so wird ihre Rechtfertigung von der Rechtfertigung des Unwerturteils getragen.“ 148 Die Androhungsprävention dagegen sei eher problematisch, weil die Ausführung der angekündigten Sanktion aus Tätersicht fremdnützig, nämlich um die künftige Straftathäufigkeit zu reduzieren, begründet wird. Bedenken einer unzulässigen Instrumentalisierung seien aber nur bezüglich extremer staatlicher Eingriffe geeignet, eine „absolute“ Grenze zu bilden. Ansonsten könne es nur darum gehen, „dass der Täter nicht in beliebiger Weise und zur Aufopferung für das Gemeinwohl verdammt wird“.149 Die Lösung sieht Hörnle darin, „den Bestraften auf seine besondere Zuständigkeit zu verweisen“.150 Die Reichweite des Schuldvorwurfs („Der Täter hätte anders handeln können“) sei begrenzt, überzeugender dagegen ein Fairnessargument: Der Täter habe davon profitiert, dass sich seine Mitmenschen normkonform verhielten und müsse es daher hinnehmen, zur Sicherung der Verhaltensnormen herangezogen zu werden.151 Zwar reiche der Ge145
Ebd., S. 43 (nahezu identisch 2. Aufl. 2017, S. 45). Ebd., S. 45 (sprachlich geändert 2. Aufl. 2017, S. 47) 147 Ebd., S. 59 f. (ähnlich 2. Aufl. 2017, S. 63). 148 Ebd., S. 45 (nun u. a. im Konjunktiv in 2. Aufl. 2017, S. 47). 149 Ebd., S. 46 f. (in 2. Aufl. 2017, S. 49: „dass er nicht in fragwürdiger Weise für das Gemeinwohl aufgeopfert werde“). Dass die Androhungsprävention zu keinen übermäßigen Strafen führe, liege – so Hörnle im Anschluss an Roxin – daran, dass man sie durch den Schuldgrundsatz domestizieren könne. Es würde hier nicht Unvereinbares vermengt, vielmehr könne die Rechtfertigung der Institution anderen Grundsätzen folgen als die Rechtfertigung ihrer Verteilungsregeln. Das folge aus der zweistufigen Legitimation (gegenüber Allgemeinheit und Täter), so Hörnle, Claus Roxins straftheoretischer Ansatz, in: Heinrich u. a., Roxin-FS, 2011, S. 20. 150 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 47 (= 2. Aufl. 2017, S. 49). 151 Ebd., S. 53 f. (In der 2. Aufl. 2017, S. 56 ff., arbeitet Hörnle den Gedanken des Profitierens noch weiter aus, betont v. a. dessen Vorzugswürdigkeit gegenüber der Staatsbürgerschaft als Anknüpfungspunkt für Strafe unter den Bedingungen der Globalisierung.). Hörnle verweist auf Neumann, Institution, Zweck und Funktion staatlicher Strafe, in: Pawlik/Zaczyk, Jakobs-FS, 2007, S. 449 f. Neumann zeigt sich aber skeptisch zur Überlegung, ob über die Vorstellung der Kompensation der Chancenanmaßun146
III. Klugheitsgrund und Opfersolidarisierung
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danke der Fairness alleine nicht hin, um die Strafe zu begründen, zumal er insbesondere nicht erkläre, weshalb „beträchtliche Ressourcen in ein Kriminaljustizsystem investiert werden sollten“, doch könne er als eine Begründungskomponente dienen.152 Hörnle entwirft demnach eine hybride Theorie153 aus zwei Elementen, die sich je nach Deliktsart in unterschiedlichem Mischverhältnis komplementär ergänzen: Die Strafpraxis ist zum einen Verhaltenslenkung, indem sie das illegale Verhalten mit zusätzlichen Sanktionen, nämlich Klugheitsgründen, beschwert. Zum anderen geht es um einen rückblickenden, angemessenen Umgang mit Täter und Verletztem. In beiden Fällen kommt der Schmerzzufügung eine akzessorische Rolle zu: Im ersten Fall zeigt sie den Ungläubigen, dass die Klugheitsgründe wirklich wahr sind, deren Missachtung also tatsächlich die angekündigten Folgen zeitigt. Im zweiten Fall unterstreicht die Schmerzzufügung die Ernsthaftigkeit der tadelnden und solidarischen Aussage, indem sie klarstellt, dass die durch das Urteil gezogene Demarkationslinie von Recht/Unrecht wirklich wahr ist. Beide Elemente sind zu überprüfen. 2. Ankündigung von Nachteilen als Klugheitsgrund a) Die unterstellte Legitimität des Drohens Die Ausführung des Angedrohten dient nicht mehr dem mit der Drohung primär anvisierten Ziel, nämlich der Abschreckung des potenziellen Täters, sondern – nachdem das unerwünschte Verhalten bereits eingetreten ist – dazu, die „nächste“ Drohung zu effektiveren. Diese „Back-up“-Funktion der Bestrafung, die (generelle) Drohung wirksam zu machen, kann legitimerweise nur dann betrieben werden, wenn die (generelle) Drohung selbst legitim ist. Nachdem die Bestrafung nach diesem Verständnis Reflex der Drohung ist, ist auch die Drohung dem Täter gegenüber zu rechtfertigen – die Formulierung Hörnles, der Abgeschreckte stehe bei der Rechtfertigung der Sanktionsankündigung „im Vordergrund“ (I b), ihm „gegenüber gilt es, dies [die bewirkte Verhaltensanpassung durch die Drohung; M. A.] zu rechtfertigen“,154 ist daher mit Vorsicht zu genießen. Indem Hörnle die Frage nach der Legitimität der Drohung den tatsächlich Abgeschreckten zuschlägt (I b), welchen gegenüber die Drohung als minimalinvasiv gen des Täters die Strafe (und nicht nur eine erhöhte Risikozuweisung in Gestalt der Verpflichtung zur Leistung des Duplum oder Triplum) begründbar ist, vgl. ebd. 152 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 55 (sinngemäß 2. Aufl. 2017, S. 58). 153 Sie wendet sich damit gegen die Anforderung einer „axiologische[n] Geschlossenheit“ (Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 53) straftheoretischer Überlegungen, vgl. Hörnle, Gegenwärtige Strafbegründungstheorien: Die herkömmliche deutsche Diskussion, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 29. 154 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 11 (= 2. Aufl. 2017, S. 13).
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
und daher wenig anstößig erscheint – die Abgeschreckten wurden durch die Sanktionsankündigung ja lediglich dazu gedrängt, sich legal zu verhalten, wozu sie ohnehin verpflichtet waren –, führt Hörnle hier bereits die entscheidende Bedingung ein, die das legitimatorische Fundament für die Strafe bildet: sie ist ja nichts anderes als die Ausführung des (für den Fall des Ungehorsams) Angekündigten. Wäre die Schmerzrechtfertigung ein Zaubertrick, befände sich der Hase bereits jetzt im Zylinder. Man muss deshalb genau hinschauen, wie diese Drohung legitimiert werden soll. Die knappe Begründung habe ich oben nahezu komplett wiedergegeben.155 Der entscheidende Gedanke war: Der Staat müsse sich bei seiner Kommunikation mit den Normadressaten eben nicht „an den hohen moralischen Ansprüchen für einen mitmenschlichen Umgang ausrichten (. . .). Pragmatischere Standards, die sowohl moralische Ansprechbarkeit als auch die Neigung zur Vermeidung von Nachteilen voraussetzen, sind insoweit nicht verwerflich.“ 156 Warum sind diese pragmatischeren Standards nicht verwerflich? Man mag die Passage so verstehen, dass hier auf die – von Hörnle später aufgegriffene157 – kantische Differenzierung zwischen Moralität und Legalität158 angespielt ist, um die Zulässigkeit der Drohung mit Kriminalstrafe zu plausibilisieren. Hierfür spricht, dass Hörnle gerade darauf hinweist, dass für die rechtliche Interaktion andere Maßstäbe als für die moralische Interaktion angenommen werden müssten. Die erwähnte Unterscheidung setzt die Anforderungen an Normadressaten in der Rechtssphäre herab: Nicht auf ihre Gesinnung, sondern rein auf ihr äußerlich normgemäßes Verhalten kommt es für die Legalität einer Handlung an – und mehr darf die Recht setzende Instanz auch nicht verlangen. Ob ich Steuern zähneknirschend oder mit solidarischer Überzeugung zahle, hat das Recht, solange ich eben zahle, nicht zu interessieren. Der Gesetzgeber kann zwar auch mit der Sinnhaftigkeit der Verhaltensanforderung argumentieren, muss aber den Befolgungsmodus des bloßen Nachteilsvermeidungswillens akzeptieren. Es klingt nun so als würde Hörnle argumentieren: „Das Recht muss vom Bürger den reinen Nachteilbefolgungsmodus akzeptieren. Dann muss der Bürger auch akzeptieren, in diesem Modus angesprochen zu werden.“ Die „Ankündigung von Sanktionen“ in Gestalt der Kriminalstrafe ist aber offensichtlich nicht deswegen legitim, weil ja der diesbezügliche (Nachteil-)Ver155
s. o., vgl. Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 12 f. (= 2. Aufl. 2017, S. 14 f.). Ebd., S. 13 (H. i. O.) (= 2. Aufl. 2017, S. 15). 157 Ebd., S. 30 (sinngemäß, nunmehr ohne expliziten Hinweis auf Kant, 2. Aufl. 2017, S. 32). 158 Vgl. die Trennung von Rechts- und Tugendlehre in Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Akademieausgabe, Kant’s gesammelte Schriften, Band VI, 1907, S. 203 ff.; zur Unterscheidung bei Kant insgesamt vgl. Geismann, Recht und Moral in der Philosophie, in: Byrd/Hruschka/Joerden, Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 14, 2006, S. 25 ff. 156
III. Klugheitsgrund und Opfersolidarisierung
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meidungswille ein akzeptabler Befolgungsmodus einer liberalen Rechtsordnung ist. Denn der Gesichtspunkt, dass es für rechtskonformes Verhalten eine ausreichende Motivation ist, wenn jemand eine Handlung unterlässt, um die mit ihr einhergehenden Nachteile zu vermeiden, lässt die Frage unberührt, ob und welche Nachteile legitimierweise angedroht werden dürfen. Noch dazu ist daran zu denken, dass auch andere Rechtsfolgen wie etwa die Ankündigung der Kondiktion des durch die Tat Erlangten, die Ankündigung der Schadensersatzpflicht etc. es zulassen, die Norm aus dem Motiv heraus zu befolgen, die dadurch drohenden Nachteile zu vermeiden. Die Möglichkeit, den Modus der Nachteilvermeidungsabsicht an den Tag zu legen, führt nicht dazu, dass jede beliebige Nachteilsandrohung zu einer legitimen Drohung wird.159 Um nachzuweisen, dass es legitim ist, gerade mit Kriminalstrafe zu drohen, wäre zu zeigen, dass es zulässig ist, die Normadressaten mit eben dieser Nachteilsdrohung anzusprechen. Dies ist umso dringlicher, als es sich bei der von Hörnle so genannten Klugheitsregel um einen „zusätzliche[n] Verhaltensanreiz“, folglich einen künstlich geschaffenen Grund handelt. Der These, dass „[d]ie Zufügung einer Sanktionsdrohung [zur Verhaltensnorm; M.A] als zusätzlicher Verhaltensanreiz, also die Einführung einer Klugheitsregel, (. . .) kein grundlegendes Legitimationsproblem [bedeutet]“,160 ist zu widersprechen. Die Einführung von künstlichen Gründen, die die Strafschmerzzufügung tragen sollen, also (intensive) Grundrechtseingriffe bedeuten, ist akut rechtfertigungsbedürftig.161 Herauszustellen ist, dass auch derjenige, der ein Mehr an Reaktion als die Erinnerung an die Sinnhaftigkeit der Verhaltensnorm für legitim erachtet, nicht automatisch gezwungen ist, für die Kriminalstrafe als Steuerung mittels künstlicher Klugheitsregeln einzutreten. b) Fairness Möglicherweise hilft der von Hörnle eingeführte Gedanke der Fairness, um die Einführung von Klugheitsregeln zu rechtfertigen. Das zugrundeliegende Argument, der Täter verhalte sich unfair – er profitiere von der Regelbefolgung der anderen, ohne die reziproke Regel selbst zu beachten – ist in seiner Abstraktheit überzeugend. Kann diese Überlegung die Begründung liefern, weshalb die Verhängung der Strafe dem Täter gegenüber zulässig ist und damit zugleich implizit die Zulässigkeit der Drohung, also das Aufstellen von künstlichen Klugheitsgründen, belegen? 159 Sie kann höchstens eine notwendige Bedingung der Legitimität sein, s. Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 52 (= 2. Aufl. 2017, S. 53). Zu dieser eingeschränkten Reichweite der „Lehre der strafbezogenen Unklugheit“ auch Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 502. 160 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 57 f. (semantisch geändert in 2. Aufl. 2017, S. 61 f.). 161 Siehe zur Diskussionsbedürftigkeit des Konzepts der Klugheitsgründe C. IV.–VI.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Hörnle hatte hier argumentiert, dass der Täter sich sagen lassen müsse, durch die Bestrafung nicht unfair behandelt zu werden, da er dadurch zur Sicherung der Verbotsnorm herangezogen würde, die er missachtete. Diese Sicherungsvorstellung basiert auf dem Gedanken, dass die Verhaltensnorm dadurch gestützt wird, dass die Drohung der Strafnorm als ernsthafte Drohung ausgewiesen wird, was wiederum dadurch passiert, dass das Angedrohte am Normbrecher vollzogen wird.162 Macht nun der Hinweis, dass der Täter von der Konformität der andern profitierte, es fair, ihn für die Sicherung dieser Norm heranzuziehen, wenn er gegen sie verstößt? Die Überlegung erscheint grundsätzlich plausibel. Sie entfaltet ihre legitimatorische Kraft allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Art und Weise der Inanspruchnahme des Täters Teil einer zulässigen Sicherungspraxis ist. Weshalb die Praxis der Schmerzzufügung eine solche zulässige Normsicherungspraxis ist, bleibt bei Hörnle offen.163 Um das klarer zu machen: Dass die Ausführung der Drohung geeignet ist, die Drohung als ernsthaft zu erweisen und insofern zu sichern, trifft keine Aussage darüber, ob auch die so gestützte Androhungspraxis eine zulässige Sicherungspraxis der Verhaltensnorm abgibt. Auch die Tatsache, dass der Täter von der gesicherten Norm profitiert, macht die Sicherungspraxis nicht automatisch zu einer zulässigen. Der entwickelte Gedanke der nur fairen Sicherungsinanspruchnahme setzt also die Legitimität der Androhungspraxis bereits voraus. Die Aussage, der Täter werde nicht unfair behandelt, wenn er zur Sicherung einer Norm, von der er profitiert und gegen die er verstieß, in Anspruch genommen werde, ist genau dann richtig, wenn es sich bei der Praxis der Klugheitsgründe, zu der die Androhung von Strafe wie auch deren Ausführung gehört, um eine zulässige Sicherungspraxis handelt. 3. Ernsthaftigkeit durch Handfestigkeit Strafe beinhalt nach Hörnle aber auch das Element expressiven Tadels, welches als zweite Säule den Strafschmerz rechtfertigen soll. Hörnles oben angedeutete Argumentation läuft wie folgt: Einem nur verbalen Unwerturteil sei „in unserem sozialen Kontext“ lediglich eingeschränktes Gewicht beizumessen. Die Ernsthaftigkeit des Unwerturteils könne durch den Entzug von „tangiblen Gütern“ – kurz darauf plastischer: „durch handfeste Übelszufügung“ 164 – verdeut162 Genauer gesagt sichert die Ausführung der Drohung-1 die Ernsthaftigkeit der Drohung-2. Man kann aber sagen, dass die Ausführung der Sicherung der Wirksamkeit einer generellen Drohung dient. Will man bei einzelnen, konkretisierten Drohungen bleiben, könnte man auch sagen, dass diese allesamt eine Verhaltensnorm sichern. 163 Vgl. zu den Problemen für den Ansatz, die Übelszufügung durch Hinweis auf den Fairnessgrundsatz zu begründen, auch B. V. 2. a). 164 Der Ausdruck der handfesten Übelszufügung (Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 42), ist dem der „Verstärkung des Unwerturteils durch Übelszufügung“ gewichen, s. Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 45.
III. Klugheitsgrund und Opfersolidarisierung
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licht werden. Dieselbe (umgekehrte) Verdeutlichungspraxis könne man in der Praxis des Auszeichnens sehen, wo das Lob mittels Preisgeld unterstrichen werde. Auf eine derartige Untermauerung der verbalen Missbilligung könne man, wenn auch das Ausmaß der Verstärkung dem geschichtlichen Wandel unterliege, nicht verzichten.165 Kann das die Schmerzzufügung begründen? Für die Rechtfertigung genügt freilich nicht einfach die Erklärung, die Missbilligung der Tat werde dadurch klarer. Denn die Verschärfung einer Maßnahme ist nicht allein deswegen zulässig, weil sie eine zulässige Maßnahme verschärft. Einem Angestellten darf ein Arbeitgeber nicht deswegen kündigen, weil er ihn gerade zulässigerweise abmahnt und eine Kündigung die durch die Abmahnung kommunizierte Aussage verstärken würde. Hörnle müsste also zeigen, dass sich erst durch die intentionale Zufügung eines Übels das angemessene Maß an Ernsthaftigkeit des Unwerturteils erzeugen lässt. Findet sich nicht eine solche Darlegung? Ihrer Theorie zufolge hat das Unwerturteil zwei legitime Funktionen: Es soll dem Täter gegenüber Tadel, dem Opfer gegenüber Sorge zum Ausdruck bringen. Erreichen nun diese Haltungen erst durch die intentionale Übelszufügung den angemessenen Grad an Ernsthaftigkeit? Betrachten wir zunächst die täterbezogene Perspektive, die Artikulation des Tadels. Was bedeutet es, ausreichend ernsthaft zu tadeln? Bei diesem Teil der Straftheorie geht es nach Hörnle jedenfalls nicht um eine steuernde oder abschreckende Wirkung. Denn im Gegensatz zu den darauf bezogenen künstlichen Klugheitsgründen (s. o.) soll der Tadel die kommunikative Rolle des „angemessenen Umgang[s] mit vergangenem Verhalten“ ausfüllen.166 Dem Täter gegenüber soll zulässigerweise eine reaktive Haltung eingenommen werden, um die berechtigten „Gefühle der Empörung aufzufangen“.167 Angemessen ernsthaft ist also nicht im Sinne von angemessen steuernd zu verstehen. Die strafgerichtliche Verurteilung soll vielmehr angemessen glaubhaft eine ablehnende Haltung ausdrücken.168 Hier muss man fragen, ob eine verbale Missbilligung, wie Hörnle meint, insoweit nicht hinreicht. 165 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 42 f. (ähnlich 2. Aufl. 2017, S. 44 f.). Auf diese abgestumpfte Sensibilität gegenüber dem bloßen Tadel rekurriert auch Kleinig, wenn er als Beleg für unsere Abhärtung gegenüber Worten den – freilich wider die physische Vergeltung von Hänseleien plädierenden – Spruch heranzieht: „Sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me.“ Siehe Kleinig, Punishment and Moral Seriousness, Israel Law Review 25 (1991), S. 417. 166 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 29 (= 2. Aufl. 2017, S. 31). 167 Ebd., S. 35 („reaktive Emotionen auffangen“ 2. Aufl. 2017, S. 38), mit Rekurs auf Weigend, Kommentar zu Tatjana Hörnle, Gegenwärtige Strafrechtsbegründungen in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 31 ff. 168 Zu einer die Glaubwürdigkeit des Tadels erhöhenden Funktion der Übelszufügung kritisch v. Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen, 2005, S. 53. Dieser sieht freilich die Übelszufügung als „prudential rea-
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Erstens kann man daran zweifeln, dass die verbale Komponente der strafgerichtlichen Verurteilung derartig defizitär ist. Günther169 hat nicht nur darauf hingewiesen, dass der verbale Ausdruck der Missbilligung eine selbstständige Handlung, nämlich ein deklarativer Sprechakt ist.170 Darüber hinaus entfalte ein Sprechakt auch eine generelle Bindungswirkung, indem er darauf ziele, verstanden und akzeptiert zu werden: Jeder Sprechakt sei Teil der Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen, nach welcher der Sprecher bei einer mit dem Hörer bestehenden Uneinigkeit verpflichtet ist, seine Ansicht zu begründen, wie auch der Hörer seine Abweichung davon zu begründen hat. Diese auf Akzeptanz gerichtete Eigenschaft des Sprechakts sei der Grund für die erwähnte generelle Bindungswirkung.171 Die Möglichkeit, die durch den Sprechakt aufgestellte Behauptung zu hinterfragen, verleiht demnach einer Aussage zusätzliches Gewicht. Die Behauptung, rein verbaler Tadel wäre grundsätzlich von zu geringem Gewicht, ist jedenfalls zu diskutieren.172 Zweitens kann man fragen, ob die intentionale Übelszufügung nicht im Gegenteil dazu führt, dass der Tadelsausdruck sogar weniger glaubhaft wird. Zu dem Schluss könnte man gelangen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie begründet wurde, dass dem Täter gegenüber eine tadelnde Haltung eingenommen werden dürfe. Hörnle argumentierte dort, die dem Tadel zugrunde liegende Empörung der beobachtenden Akteure sei eine normativ angemessene Einstellung, nämlich eine solche, die den anderen als Teilnehmer an sozialen Beziehungen ansieht. Im Kontrast dazu sei – der Unterscheidung Strawsons folgend – die objektivierende Einstellung, nach der der andere als etwas zu Kontrollierendes betrachtet wird, möglichst zu vermeiden.173 Es liegt nun nicht fern, die das Unwerturteil verstärkende Übelszufügung nach dieser Einteilung eben als Ausdruck einer objektivierenden Einstellung anzusehen, die doch gerade zu unterbleiben habe, wenn man eine reaktive, teilnehmende Haltung einnehmen will. So gesehen unterminieren sich verbale Missbilligung und ihre handfeste Unterfütterung sogar gegenseitig.174 Ähnlich bringt Günther vor, dass es merkwürdig sei, auf der einen Seite son“ gerechtfertigt, als entmutigendes Element, das den Akteuren helfe, Straftaten zu widerstehen (ebd., S. 54 f.) 169 Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 18 ff. 170 Insoweit dürfte wohl Hörnle übereinstimmen; vgl. auch die Analyse bei Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009. 171 Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 17 ff., insbes. 19 f. 172 Vgl. C. I. und II. 173 In Ausnahmefällen ist aber eine objektivierende Haltung zulässig, etwa gegenüber Schuldunfähigen oder Kleinkindern. 174 Dies erkennen freilich auch Hörnle/v. Hirsch: „Solange das Übel mäßig ist, so dass die Botschaft des Tadels überwiegt, behandelt das System die Adressaten als verantwortlich Handelnde.“ So Hörnle/v. Hirsch, Positive Generalprävention und Tadel, GA 1995, S. 278 f. Es ist nicht leicht zu sehen, wie etwa eine mehrjährige Gefängnisstrafe die tadelnde Botschaft nicht in den Hintergrund treten lässt.
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die kommunikative Rolle der Strafe zu betonen, und auf der anderen Seite, mit der intentionalen Übelszufügung das exakte Gegenteil an den Tag zu legen. Die gängige Form der intentionalen Übelszufügung, die Gefängnisstrafe, sei nämlich definitionsgemäß sozial exkludierend, indem sie den Betroffenen von jeglicher Kommunikation ausschließe, ihn darin jedenfalls drastisch beschränke. Auf diese Weise werde die Strafe zu einem „kommunikativen Akt der Nicht-Kommunikation“: „It treats the offender as a communicative actor just as long as it is necessary to pass along the communicative message; after that, the communication ends, together with recognition of the prisoner as a communicative actor.“ 175
Können diese Bedenken gegen die Übelszufügung als objektivierende Behandlung vielleicht durch Hörnles Hinweis auf die Verdeutlichungspraxis bei Auszeichnungen ausgeräumt werden? Wird dadurch plausibel, dass die intentionale Übelszufügung für einen angemessenen Ausdruck von Missbilligung notwendig ist? Hörnles Überlegung lässt sich so verstehen, dass die Praxis der Auszeichnungen zeige, wie angemessen glaubhaft gelobt wird, insofern auch auf eine angemessene Tadelpraxis geschlossen werden könne. Aus mehreren Gründen ist eine derartige Schlussfolgerung nicht zwingend. Zum einen ist nicht ohne weiteres einzusehen, weshalb man annehmen sollte, das Preisgeld sei notwendig, um das Lob als ernsthaft zu erweisen. So steht oftmals die Dotierung häufig im Hintergrund oder dient etwa dazu, die weitere Verfolgung der ausgezeichneten Tätigkeit zu ermöglichen, nicht aber dem Zweck, das Lob erst angemessen glaubhaft zu machen. Außerdem stellt sich die Frage, warum die Auszeichnung mit einem dotierten Preis überhaupt als paradigmatischer Fall des Lobens anzusehen ist. Nicht nur gibt es andere Ausdrucksformen der Billigung und undotierte Preise. Häufig wird ein Lob sogar weniger ernst genommen, wenn es „versilbert“ ist – man denke etwa an ein hilfsbereites Verhalten, das durch einen Dritten gelobt und zur „Verstärkung des Lobes“ von diesem „bezahlt“ wird. Ferner ist zu fragen, ob es stichhaltig ist, von der Praxis des Auszeichnens auf die Praxis des Tadelns zu schließen. Zum einen braucht ein tadelnder Ausdruck nicht zwingend in der Umkehrung des Lobverhaltens zu bestehen (etwa Klatschen versus BuhRufe). Zum anderen bestehen unterschiedliche Rechtfertigungshürden: Preise können etwa ohne Weiteres durch Dotationen versehen werden, die Initiatoren eines Negativ-Preises sind hingegen nicht ohne Weiteres befugt, dem „Ausgezeichneten“ tangible Güter zu entziehen. Selbst wenn man mit Hörnle die „Übergabe oder d[en] Entzug von tangiblen Gütern“ 176 als Verdeutlichung des Ernstes einer Aussage als eben unsere Praxis der symbolischen Untermauerung betrachtete, so bliebe diese Verstärkung der Missbilligung durch die intentionale Übelszufügung jedenfalls eine symbolische 175 176
Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 16. Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 42 (grammatisch angepasst 2. Aufl. 2017, S. 44).
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
und als solche konventionell.177 Eine konventionelle Praxis ist allerdings, wie auch Hörnle darlegt, wandelbar, auf jeden Fall in der Wahl ihrer Symbole – und möglicherweise sogar in Hinblick auf die Notwendigkeit ihrer Symbole überhaupt. Gerade in Bezug auf das Recht, so Günther, sei zu bemerken, dass symbolische Untermauerungen mehr und mehr rückläufig seien.178 Hörnle ist insofern zuzustimmen, dass dem Täter die Missbilligung glaubhaft erscheinen muss. Dass dies die Schmerzzufügung rechtfertigt, leuchtet nicht im selben Maße ein. Wenden wir uns der zweiten Perspektive zu, derjenigen des Opfers. Dessen Interesse wurde so ausbuchstabiert, dass das Unwerturteil die Grenze zwischen Recht und Unrecht präzise klarstelle und so dem Opfer eindeutig zu verstehen gebe, dass ihm Unrecht widerfahren sei und seine Schädigung nicht auf zufälligen oder selbstverschuldeten Geschehnissen beruhe. Der Staat zeige durch den Ausspruch des Unwerturteils zudem, dass er die Rechtsverletzung als gravierend erachtet und bereit ist, diesbezüglich (jenseits des Zivilrechts) „Ressourcen zu bemühen“, und versichere der verletzten Person somit, sie als Person mit berechtigten Interessen ernst zu nehmen.179 Das leuchtet ein. Weshalb jedoch erst durch die intentionale Übelszufügung einer dieser Aspekte des Unwerturteils in seiner Ernsthaftigkeit (überhaupt) deutlich werden sollte, ist eine zu diskutierende Annahme. Wird der verletzten Person etwa dadurch „ernsthafter bestätigt“, ihr sei Unrecht wiederfahren, dass dem Täter ein „handfestes Übel“ widerfährt? Hörnle dürfte wohl nicht einwenden, die vollständige Sorge um die Belange der Verletzten umfasse eben auch die Berücksichtigung möglicher Rachegefühle.180 Denn dass der Staat sich nicht erst dann ausreichend um die „Belange [des Opfers] kümmert“, wenn dessen faktisch womöglich bestehende Rachegefühle befriedigt sind, sortierte sie bereits selbst als ungerechtfertigtes Bedürfnis aus.181 Viel naheliegender scheinen die geschilderten berechtigten Interessen – will man die Ernsthaftigkeit des auf ihnen beruhenden Unwerturteils unterstrichen sehen – 177 Hörnle spricht in der 2. Aufl. 2017, S. 44 f., nicht mehr von symbolischer Verstärkung, sondern lediglich von der Verdeutlichung des Ernstes eine Aussage. Das Argument gilt für diese Praxis der Verdeutlichung entsprechend. 178 Ebd., S. 17. Während noch im römischen Recht und im common law die Begründung vertraglicher Pflichten einer zusätzlichen symbolischen Handlung bedurfte, werde seit Grotius und Savigny das Versprechen selbst immer mehr als Quelle der Verpflichtung angesehen. 179 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 39 f. (= 2. Aufl. 2017, S. 39 f.). 180 Vgl. dazu auch Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber, Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 72: die opferorientierte Straftheorie müsste erklären, warum und wie die Übelszufügung dem Opfer helfen sollte, wenn sie mehr als der Wunsch nach Ausschluss und Demütigung des Täters sein wolle. Dass es für die Inklusion des Opfers nötig ist, sei nicht ersichtlich. 181 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 38. Es komme nicht auf die persönlichen Sanktionspräferenzen eines Individuums an – zudem könnten faktisch bestehende Rachebedürfnisse nicht einfach die Rechtsstrafe begründen, vgl. ebd. (auch in 2. Aufl. 2017, S. 38 differenziert Hörnle zwischen Rachegefühlen und reaktiven Emotionen).
IV. Schmerz für die Wirklichkeit der Norm
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dafür zu sprechen, die staatlichen Bemühungen im Rahmen der Verbrechensermittlung, vor allem aber im Bereich der staatlichen Verletztennachsorge zu betonen oder zu verstärken. Wo die Grenze der angemessenen Ernsthaftigkeit liegt, kann hier offen bleiben. Die Behauptung, „[a]us der Sicht der Opfer wäre eine Untermauerung des Unwerturteils nur durch Schadensersatz oder Schmerzensgeld (. . .) unzureichend“ 182, wäre vor diesem Hintergrund zu diskutieren. Als Begründung reicht jedenfalls nicht der Hinweis, dass Schadensersatz bloß den finanziellen Zustand vor der Tat wiederherstelle und daher keine wirkliche Übelszufügung abgebe.183 Denn dies setzt bereits voraus, was gezeigt werden soll, dass nämlich eine genuine Übelszufügung anzupeilen ist. 4. Ergebnis Insbesondere der Hinweis auf die opfersolidarisierende Haltung, die Hörnle herausarbeitet, stellt einen zentralen Gewinn für das straftheoretische Projekt der Rechtfertigung einer missbilligenden Reaktion dar. Vor allem die Frage, weshalb eine öffentliche Reaktion notwendig ist, dürfte ohne diese Überlegung nicht auskommen können. Innovativ ist die Konzeption einer hybriden Theorie, mittels der Hörnle die Strafe komplementär aus der Perspektive des Opfers sowie der des Täters denkt. Es ist zu überlegen, ob es nicht möglich ist, beiden Perspektiven gerecht zu werden, ohne sich dazu genötigt zu sehen, auf das Element des Strafschmerzes zurückzugreifen. Diese Frage, wie auch die Überlegung der Ankündigung von Klugheitsgründen, bedarf weiterer Erörterung.184
IV. Schmerz für die Wirklichkeit der Norm (Günther Jakobs) 1. Konzeption von Individuum und Person in „Norm, Person, Gesellschaft“ Wie gesehen, argumentiert auch Hörnle mit der Überlegung, dass der Strafschmerz der Sicherung der Norm diene. Für diesen Zusammenhang von Strafschmerz und Norm hat Günther Jakobs eine umfassende Theorie entwickelt. In seinem Werk „Norm, Person, Gesellschaft“ beschäftigt er sich explizit mit dem Problem der Strafschmerzzufügung als Bestandteil einer Theorie der Normativität, indem er seine straftheoretischen Überlegungen in den größeren Zusammen182 Ebd., S. 43 (H. v. m.) (Hörnle erweitert die Sicht der Opfer und die gleichlaufende Sicht der Allgemeinheit, vgl. 2. Aufl. 2017, S. 45). 183 So explizit Hörnle in Straftheorien, 2011, S. 43: „Schadensersatz bringt lediglich den finanziellen Status quo wieder auf den Zustand vor der Tat, eine genuine Übelszufügung ist dies nicht.“ Auch wenn der Nachklapp in 2. Aufl. 2017, S. 45 weggefallen ist, scheint die Vorstellung gleichgeblieben. 184 Vgl. zur Frage der Klugheitsgründe C. IV. und V.; zur Stellung des Opfers in der Straftheorie vgl. C. VI.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
hang der Vergesellschaftung von Akteuren stellt.185 Jakobs beschäftigt sich dabei explizit mit der Frage, weshalb gerade eine Schmerzzufügung als sanktionale Reaktionsform erforderlich ist, liefert über die Zeit zwei deutlich unterschiedliche Begründungen. Die eine ist in der ersten und zweiten,186 die andere in der dritten Auflage187 zu finden. Im Folgenden will ich mich mit beiden Konzeptionen befassen, mit der nunmehr vertretenen ausführlicher. Dazu werde ich mit einer knappen Einführung in den Theorieentwurf Jakobs’ beginnen. Im Rahmen der Beschäftigung mit der aktuellen Fassung wird eine Auseinandersetzung mit seinem Personenkonzept nötig werden, die ich zum Anlass nehmen werde – gleichsam als Vorbereitung für das 3. Kapitel – einen Seitenblick auf Hegels Theorie der Anerkennung zu werfen. Jakobs beginnt seine Überlegung mit der Vorstellung eines isolierten Individuums. Dieses kenne die Welt nur durch sein (einziges) Ordnungsschema von Lust/Unlust. „[A]lles ist homogen das Seine“,188 Bewusstsein und Welt fallen in eins: Schnee etwa sei überhaupt nur in der Welt, weil das Individuum ihn als schmerzend kalt empfinde.189 Wird nun – zu beachten ist, dass es Jakobs nicht um die „wirkliche Genese der sozialen Welt“, sondern lediglich um „theoretische Stufen“ geht190 – ein zweites Individuum hinzugedacht, so gäbe es schlicht zwei „Präferenzzentren“, die über eine instrumentelle Beziehung nicht hinausgelangten.191 Selbst eine weitgehende Kooperation stünde ständig unter dem Vorbehalt der tatsächlichen Willensübereinstimmung, sodass unbegründbar bliebe, warum eine Vertragserklärung binden sollte.192 Diese fehlende Bindungswirkung macht denn nach Jakobs auch jeglichen vertragstheoretischen Vergesellschaftungsversuch zunichte. Selbst wenn sich in einer Gruppe von Individuen eine Gewalt etabliere, die die Gruppe „verwaltbar“ 193 macht, sei die Gewalt aus Sicht der Individuen lediglich Umwelt und als solche Posten in ihrer Lust-Kalkulation. Die Welt bleibe eine rein kognitive.194 Dies sei jedoch nur die halbe Welt, es fehle die normative195 Identität: 185 Das ist folgerichtig, wenn man mit der bei Jakobs entstandenen Dissertation von Kaiser annimmt, dass „eine Straftheorie ohne Subjekts- und Gesellschaftstheorie (. . .) ein Unding“ ist, vgl. Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 176. 186 Die 1. Aufl. stammt aus dem Jahre 1997, nahezu wortgleich die 2. Aufl. von 1999, nach der ich mich für die Darstellung jener früheren Auffassung richte. 187 Erheblich veränderte 3. Aufl. aus dem Jahr 2008. 188 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 9. 189 Ebd., S. 10. 190 Ebd., S. 16. 191 Ebd., S. 18. 192 Ebd., S. 20 f. 193 Ebd., S. 23. 194 Ebd., S. 26. 195 Mit der Klassifikation kognitiv/normativ dürfte Jakobs an Niklas Luhmann anknüpfen (vgl. etwa Luhmann, Rechtssoziologie 1, 1972, S. 40 ff.). Dieser grenzt kogni-
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„Sinnvollerweise lässt sich nicht nach einer Entwicklung oder Wandlung des Individuums fragen, sondern nur danach, ob mit seinem Namen alles benannt ist, wenn es um das Dasein sich gegenseitig beeinflussender, gleichzeitig agierender menschlicher Wesen in einem Raum geht, genauer, ob es dabei nur um die gegenseitige Beeinflussung von Individuen oder auch um anderes, etwa um die Abhängigkeit von Personen voneinander gehen kann.“ 196
Nachdem Individuen von sich aus keine Leistungen an die Gruppe liefern, würde der Gewalthaber, der als Platzhalter für das Gruppeninteresse steht, versuchen, sie so zu ordnen, „dass eine Förderung der Gruppe herausspringt. Die Regeln der dabei neu entstehenden Ordnung, in der die individuellen Interessen – nicht beseitigt, aber – transzendiert werden, heißen hier Normen.“ 197 Die so geschaffenen Gruppenmitglieder nennt Jakobs Personen.198 Sie besäßen nun – zumindest aus Sicht des Gewalthabers – das zusätzliche Ordnungsschema Rollenkonstanz/Ungebundenheit beziehungsweise Sollen/Freiraum. Das Individuum könne diese Beschreibung ablehnen, dann bleibe die Gruppe für es Umwelt. Nehme es die Beschreibung aber an, werde es dadurch zum Subjekt mit dem Ordnungsschema Pflicht/Willkür.199 Jakobs betont, dass er damit nicht versucht, den „Individuenzentrismus“ zu überwinden. Dieser sei ohnehin unaufhebbar. Die Organisation habe die Interessen der Individuen zu berücksichtigen, um nicht als gewaltsames oder aber rein gedankliches Gebilde auszulaufen.200 Dadurch, dass nun das Bewusstsein beide Schemata, das von Lust/Unlust und auch das von Pflicht/Willkür enthält, würde die Betrachtung des einen Schemas aus Sicht des anderen möglich, erst so sei das „Bewusstsein von einem Bewusstsein“ erreichbar.201 Die Entstehung der (selbstbewussten) Person fällt mit der Einführung des Schemas von Pflicht/Willkür zusammen. Werden die Akteure derart angesehen, dass sie der Erfüllung einer Gruppenaufgabe dienen, so „ist das Anerkennung als tive von normativen Erwartungen ab: Sie unterscheiden sich im Hinblick auf die Verarbeitung ihrer Enttäuschung. Kognitiv sind Erwartungen, die im Fall ihrer Enttäuschung angepasst werden (etwa die Erwartung über das Aussehen einer Person oder das Wetter). Normative Erwartungen werden dagegen auch im Enttäuschungsfall aufrechterhalten, „kontrafaktisch stabilisiert“ (etwa Erwartungen über die Erfüllung von Pflichten), vgl. ebd., S. 42 f. Jakobs verwendet die Unterscheidung zwar auch in der Weise, dass kognitives Geschehen dasjenige ist, worauf man sich realiter einstellen muss, normatives Geschehen dasjenige, welches man erwarten darf. Er verbindet jedoch die Sphären, indem er davon ausgeht, dass eine normative Erwartung nur orientieren kann, wenn sie kognitiv untermauert ist, wenn das Verhalten also nicht nur erwartet werden darf, sondern tatsächlich zu erwarten ist (s. näher unten B. IV. 3. c)). 196 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 29. 197 Ebd., S. 31. 198 Individuum und Person stehen nicht in einem Verhältnis Standardfall und Abweichung, auch wird keine zeitliche Reihenfolge postuliert. Es geht nicht um Genese der Sozialität, sondern um deren theoretische Bedingungen (ebd., S. 48 f.). 199 Ebd., S. 32. 200 Ebd., S. 31. 201 Ebd., S. 33 f. Zur Person-Entstehung unten B. IV. 4. b).
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Personen“.202 Es geht also um die Zuordnung von Rollen, um eine „Verbindung von Personen durch eine sie konstituierende Norm“.203 Jakobs betont, dass es ihm nicht um die historische Genese, sondern um „Bedingungen von Sozialität“ gehe. Bei den beiden Deutungsschemata von Individuum und Person handle es sich um zwei nicht ineinander auflösbare Schemata, insofern um „zwei Welten“.204 Der Gewalthaber stehe für die Unbekannte, die diesen „kategorialen Sprung vom Individuum zum Gesellschaftswesen“ erklären soll. Damit sei aber nicht gesagt, ob die Unbekannte nicht besser durch „eine Hilfestellung der Natur“ in Form natürlicher Bindung und/oder Sippenherrschaft erklärt werden kann. Den kategorialen Sprung könne allerdings keine Variante begreiflich machen.205 Gesellschaft entsteht nun, wenn die Norm das relevante Orientierungsmuster für die Kommunikation darstellt, also klar wird, „an welches Verhalten wie kommunikativ anzuschließen ist“.206 Es geht demnach für die „Wirklichkeit der Norm“ nicht darum, dass die Norm ein normgemäßes Verhalten hervorruft, sondern, dass Verhalten entweder als normgemäß oder sanktionswürdig bewertet wird.207 Jakobs führt dafür folgendes Beispiel an: „Wenn eine Verständigung lautet, die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst erschlagen werde, sei vernachlässigenswert gering, und ein anderes Individuum zu erschlagen, sei wegen der höchstwahrscheinlich zu erwartenden Reaktionen unvorteilhaft, so hat das mit einer Orientierung an Normen nichts zu tun, sondern ist kognitive Orientierung an (. . .) Umwelt. Wenn aber die Verständigung lautet, es sei nicht in Rechnung zu stellen, dass man selbst erschlagen werde, da es verboten sei, und deshalb sei auch das Erschlagen einer anderen Person keine diskutable Verhaltensalternative, so wird in dieser Verständigung Normgeltung produziert: Es geht um Gesellschaft.“ 208
Eine Erwartung lasse sich allerdings rein normativ nicht erzeugen. Wenn eine Norm nämlich wahrscheinlich missachtet wird, kann das den durch die Norm Berechtigten nicht brauchbar orientieren.209 „Allein die normative Garantie (. . .) gibt zwar der Person immer noch alles, lässt aber in aller Regel das Individuum unbefriedigt; in einer solchen Lage dürften die Normen und damit die Gesellschaft kaum Wirklichkeit werden (. . .).“ 210
202 203 204 205 206 207 208 209 210
Ebd., S. 36 (H. i. O.). Ebd., S. 36 f. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 52. Ebd. (H. i. O.). Ebd.
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Gesellschaft entwickelt sich nun nach Jakobs in einer von den Individuen selbst unabhängigen Dynamik, sie ist nicht nur die Summe von individuellen Bewusstseinsvorgängen, also nicht mehr auf Individuelles reduzibel. Die Gesellschaft als normative Welt ist vielmehr kategorial getrennt von der Welt des Seins. Sie kann nicht mit dem Faktum der „übereinstimmende[n] Willkür“ beginnen, sondern nur mit der „Gewissheit des Heiligen“.211 Was für das gesellschaftliche Deutungsschema relevant ist, ist der Vorteil der Gruppe. Worin dieser besteht, ergibt sich aus der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Gruppen. Die sich daraus ergebende „Aufgabe“ der Gruppe steht jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt individueller Vorteilhaftigkeit. Zwar findet über die Gruppenaufgabe „Verständigung“ statt, womit nach Jakobs aber nicht Konsensfindung gemeint sein soll. Denn die Gruppenaufgabe ist gerade nicht Ergebnis individueller Bedürfnisse, sondern das Bedürfnis der Gruppe.212 „,Verständigung‘ ist – was eine Norm angeht – vielmehr die Vergewisserung, dass eine Aufgabe besteht, also die Gewinnung des Wissens von etwas, das bereits besteht, nicht hingegen geht es um eine mehr oder weniger freie Schöpfung. Beispielhaft gesprochen: Wie man sich über die richtige Uhrzeit verständigt oder über einen einzuschlagenden Weg (. . .), so auch über den normativen Stand und damit die aktuelle Gestalt der Gesellschaft.“ 213
Für die folgende Argumentation reicht diese Schilderung zum Verhältnis zwischen Individuum und Person aus. Schauen wir uns nun an, was Jakobs daraus für die Theorie der Strafe folgert. Das Verbrechen beschreibt er als Irritation der normativen Orientierung: „Eine Normwidrigkeit schafft eine im wörtlichen Sinn zweideutige Situation: Formell geht es um Gesellschaft, aber deren Grenzen werden neu gezogen; wo es nach dem gesellschaftlichen Schema um Sollen geht, beansprucht der Handelnde Freiraum, mit anderen Worten, das Verhalten wird als sinnhaft gedeutet, aber der Inhalt von Sinn steht im Streit – formeller Sinn.“ 214
Es liegt nun scheinbar auf der Hand, dem Normbrecher die Personalität abzusprechen, nachdem er die „Gesellschaft materiell nun einmal verfehlt“. Das wäre jedoch nicht Stabilisierung, sondern Schrumpfung der Gesellschaft. Ein nur-individuelles Verhalten könne aber der überindividuellen Eigendynamik der Gesellschaft keine Grenze verordnen.215 Der Täter bleibe folglich weiterhin Person, allerdings lediglich eine formelle: Mit der Gesellschaft ist er nur noch insofern assoziiert, als er die Sinnhaftigkeit seiner Handlung behauptet.216 Der Täter
211 212 213 214 215 216
Ebd., S. 39. Ebd., S. 61, vgl. auch 123 f. Ebd., S. 61 f. Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111.
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stelle sich mit der Tat gegen „die Bedingungen der Gemeinsamkeit (. . .): Nicht diese Gesellschaft!“ Freilich ist dies regelmäßig nicht die Aussage, die der Täter treffen will, allerdings wird der Tat ebendiese von Seiten der Gesellschaft beigelegt.217 Weil der Normbrecher formell Person ist, wird die auf diese Weise interpretierte Aussage ernst genommen. Die Gesellschaft wird durch die Irritation „inhomogen“. Da das Verhalten dasjenige einer Person ist, kann auch nur in der personalen Welt reagiert werden: Soll die Norm nicht „erodieren“, muss der Tataussage widersprochen werden. „Personales Verhalten ist zwar leibliches Verhalten, aber ein solches mit der Bedeutung einer Verständigung über Normen.“ 218 Daher ist dem Täter auf Ebene der Bedeutung zu antworten und dies geschieht, indem die Bedeutung des Täterverhaltens als unmaßgeblich definiert wird. Für die Gesellschaft geht es nun darum, die Tat zu marginalisieren, sie als nicht anschlussfähig zu erweisen.219 Dieser Rolle dient der Widerspruch auf personaler Ebene. Es geht insoweit bei Jakobs’ Konstrukt folglich um eine rein kommunikative Straftheorie. Wie ist nun darüber hinaus das Element der Schmerzzufügung zu rechtfertigen? Von dieser Stelle an ist eine getrennte Betrachtung der unterschiedlichen Auflagen angezeigt. 2. Strafschmerz als objektivierter Widerspruch (1999) Jakobs stellt die relevante Frage explizit: „[W]arum reicht nicht die Feststellung hin, an ihr Verhalten [das der Person; M. A.] sei nicht anzuschließen?“ 220 Die Antwort sucht Jakobs in einem Konzept der sich materialisierenden Bedeutung. Die Tat stelle nicht nur eine Behauptung, sondern auch eine Gestaltung dar. Der Täter „hat nicht nur behauptet, fremdes Leben sei nicht zu achten, sondern hat es vernichtet“:221 „Die Bedeutung dieses Verhaltens wird von ihm also nicht bloß symbolisch objektiviert, sondern durch die bereits nach der Behauptung gestaltete äußere Welt der Personen. Bei dieser Lage wäre die isolierte Erklärung, an die Tat sei nicht anzuschließen, schwächer objektiviert, als es die Tat selbst ist: So wie die Tat die äußere Welt der Personen endgültig gestaltet (. . .), muß auch die Reaktion auf die Tat endgültig gestalten[.]“ 222
217
Ebd. Ebd., S. 112. 219 Ebd. Zwar spricht Jakobs auch hier davon, dass der Täter seiner Interaktionsmittel entledigt wird. Es dürfte hier aber noch nicht um den Strafschmerz gehen. Das ergibt sich einmal aus der Gliederung der Überschriften und auch aus einer darauf bezogenen Passage, die sich ausschließlich in der 2. Aufl. findet: „Die Wegnahme erfolgt (. . .) nicht zur Marginalisierung der Person; nicht sie wird unwirklich, sondern die Bedeutung ihres Verhaltens“ (Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 104). 220 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 105. 221 Ebd. 222 Ebd. (H. v. m.). 218
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Es gibt nach Jakobs somit zwei Arten der Objektivierung einer Bedeutung: zum einen die symbolische Ebene der Behauptung, die durch verbalen Widerspruch auf personaler Ebene gewissermaßen gegen-objektiviert werden kann. Zum anderen die Ebene der Gestaltung der äußeren Welt, die den Anschluss an die Tat effektiv unmöglich macht.223 Mit abschreckender oder bessernder Einwirkung auf den Täter habe dies allerdings nichts zu tun. Ziel sei es allein, dem Normbruch die „Wirklichkeit der Norm“ entgegenzusetzen.224 Es wäre daher ungenau, von einem Zweck der Sanktion zu reden. Denn die Sanktion habe keinen Zweck, sondern sei Zweckerreichung, nämlich die „Feststellung der unveränderten Wirklichkeit der Gesellschaft“.225 „Solange diese Bestätigung erfolgt, ist es für die Fortdauer der Wirklichkeit der Gesellschaft ohne jeden Belang, ob weitere Effekte eintreten.“ 226 Mögliche Wirkungen der Sanktion (z. B. auf die Motivation der Akteure) gehörten dagegen in die Sphäre der Individuen, nicht in jene der Bedeutung, seien folglich unerheblich. Ausdrücklich stellt Jakobs den Anschluss an Hegel klar: Was bei diesem die Nichtigkeit der Verletzung des Rechts als Recht ist, die sich in der Vernichtung der Rechtsverletzung zeige, sei bei ihm die Unmaßgeblichkeit des Normbruchs, die sich am Ausschluss der Gemeinsamkeit mit dem Normbrecher manifestiere.227 Was ist nun von dieser Rechtfertigung des Strafschmerzes zu halten? Der Kern des Arguments beruht darauf, dass der Widerspruch auf Bedeutungsebene einer ebenso dauerhaften, endgültig „gestaltenden Objektivierung“ bedürfe wie die Normbehauptung des Täters. Wie ist das zu verstehen? Die Tat, so wurde herausgearbeitet, ist ein Widerspruch gegen die normative Ordnung, welchem wie-
223 Ebd. Ganz entschieden will Jakobs bei einer reinen Betrachtung der personalen Ebene bleiben. 224 Ebd., S. 105. Zwar bedürfe es neben der Wirklichkeit der Norm auch einer gewissen kognitiven Sicherheit. Diese könnte eine Einwirkung auf potenzielle Täter nötig machen, aber sei Frage „polizeiliche[r] (Re-)Aktionen“, ebd., S. 106. Vgl. aber die Bedeutung der kognitiven Sicherheit, die sie in Jakobs revidierter Auffassung spielt, s. B. IV. 3. 225 Ebd., S. 106. Vgl. die parallele Vorstellung, die Primoratz als intrinsischen Expressivismus vorschlägt: Die Beurteilung der Handlung als Verbrechen ist der Grund der Strafe – und nicht die kontingente Verhaltensbeeinflussung. Primoratz, Punishment as Language, Philosophy 64 (1989), insbes. S. 202 f.; kritisch zur vorgeblichen Zweckfreiheit des Ansatzes Davis, Punishment as Language: Misleading Analogy for Desert Theorists, Law and Philosophy 10 (1991), S. 314. Vgl. zum Expressivismus in der anglo-amerikanischen Theorie insgesamt Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 167 ff. 226 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 107. 227 Ebd., S. 108. Kritisch zu Hegels Rede von der Nichtigkeit des Verbrechens und der notwendigen Manifestation, die als Argumentation auf rein begrifflicher Ebene bleibe und „weder in deskriptiven noch normativen Argumentationszusammenhang übersetzbar“ sei, Neumann, Anfragen an Hegels Straftheorie aus „nachmetaphysischer“ Sicht, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 170. Siehe zu Hegels Strafbegründung oben S. 36 f.
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derum widersprochen wird, um die Wirklichkeit der Norm wiederherzustellen. Die Bedeutung der Tat wird demnach durch die gegenteilige Behauptung aufgehoben, beziehungsweise für irrelevant, für nicht-anschlussfähig erklärt. Eine solche Bedeutungstheorie von Verbrechen und Strafe überzeugt als Erklärung des Schuldspruches. Was aber soll die geforderte Notwendigkeit der äquivalenten Objektivierung? Sie scheint eine Reformulierung eines spiegelnden Vergeltungsgedankens228 zu sein. Lassen sich hierfür aus der Bedeutungstheorie Legitimationsressourcen gewinnen? Kann Bedeutung lediglich richtiggestellt werden, wenn sich die Bedeutung auch „realisiert“? Was steht dahinter, wenn eine konkrete Steuerungsfunktion in Form abschreckender oder bessernder Effekte als Legitimationsgrundlage für die Objektivierungsnotwendigkeit, wie Jakobs explizit betont, ausscheidet?229 Die Objektivierungsthese scheint nur so erklärlich, dass Jakobs mit ihr der Vorstellung einer „Theorie des vollkommenen Ausdrucks“ folgt. Eine solche Vorstellung wurde von Kaiser als theoretisch notwendig erachtet. Der Schmerz würde dann nicht nur den Normwiderspruch bedeuten, sondern ihn verkörpern. Diese Theorie der Realisierung der Begriffe kann man mit guten Gründen ablehnen.230 Über die bereits angeführten Argumente231 hinaus kann man etwa mit der Sprechakttheorie vorbringen, dass auch der Widerspruch als Sprechakt eine Handlung darstellt, insofern „objektiviert“ ist und somit bereits gestaltet. Aber auch nach der Binnenlogik Jakobs’ eigener Theorie, die wie gesehen von einer kategorialen Trennung der Welten von Individuum und Person ausgeht, ist nicht leicht einzusehen, weshalb sich eine bloß individuell zu deutende Unlust (der Strafschmerz) wegen eines Vorgangs in der Welt der Personen (Widerspruch gegen die Norm) realisieren muss.232 Diese Andeutungen dürften genügen, zumal auch Jakobs diesen Ansatz nicht mehr vertritt, vielmehr den oben erklärten Anschluss an Hegels Vorstellung des 228 Vgl. zur Dekonstruktion spiegelnder Strafen als magisches Gleichheitsdenken Ebert, Talion und Spiegelung im Strafrecht, in: Küper u. a., Lackner-FS, 1987, S. 415 f. 229 Zur Überlegung, dass eine nicht-instrumentelle Version einer positiven Generalprävention (Strafe als Appell zur Einsicht) das Element der Übelszufügung nur rechtfertigen kann, indem sie eine vergeltende oder instrumentell-präventive Strafbegründung (zumindest in der Vorstellung der Bürger) präsupponiert, Baurmann, Vorüberlegungen zu einer empirischen Theorie der positiven Generalprävention, GA 1994, S. 382 ff. 230 In Termini der Zeichentheorie könnte man etwa sagen, dass Jakobs mit Überlegungen auf der semantischen Ebene (Sinn und Bedeutung des Zeichens) ein Element der pragmatischen Ebene (intendierte Wirkung des Zeichens) rechtfertigen will, ohne diese überhaupt nur zu betreten, so Puppe, Strafrecht als Kommunikation, in: Samson u. a., Grünwald-FS, 1999, S. 475 f. 231 Siehe zu der Vorstellung einer Theorie vollkommenen Ausdrucks und zu Gegenargumenten B. I. 232 Auch aus der Annahme, dass ein auch-individuelles Verhalten des Normbrechers personal zu deuten ist, weil die personale Welt eben die maßgebliche ist, folgt nicht, dass auch die personale Reaktion individuell verständlich sein müsste.
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Strafvorgangs als essentiell kommunikatives Geschehen in Hinblick auf die Begründung des Strafschmerzes explizit revidiert hat: „Folgt man Hegel, so soll durch die Strafe die Nichtigkeit der Tat (der ,Verletzung des Rechts als Rechts‘) manifestiert werden (. . .); das dürfte bestenfalls ein Bild für ein noch zu formulierendes Argument abgeben, weniger noch, es führt vom Problem weg, da die ,Manifestation‘ sich nur auf die kommunikative Seite des Geschehens bezieht und über die stumme Seite, den Schmerz, nichts aussagt.“ 233
3. Kognitive Untermauerung (2008) a) Reformulierte, gespiegelte Abschreckungstheorie In der dritten Auflage vertritt Jakobs folglich eine andere Rechtfertigung des Strafschmerzes. Zwar symbolisiert Strafe weiterhin den Widerspruch gegen die Tat, der sie als nicht-anschlussfähiges Verhalten markiert.234 Indes merkt Jakobs an, dass sich Widerspruch „in vielerlei Art und Weise ausdrücken“ lässt, die Komponente der Schmerzzufügung also, und das ist ein erheblicher Unterschied zur Vorauflage, gerade nicht erklären kann.235 Zur Begründung des Strafschmerzes greift Jakobs nunmehr auf die Idee der „kognitive[n] Untermauerung“ zurück.236 Dieses Konstrukt war bereits in den Vorauflagen angelegt. Ihm wird allerdings nunmehr auch für die Legitimation der Strafe eine zentrale Rolle beigemessen.237 Zum auf der normativen Ebene angesiedelten Element des Widerspruchs, der die Tat als nicht-anschlussfähig deklariert, müsse das Element der kognitiven Untermauerung hinzukommen: „Zur Lösung des Problems [der Rechtfertigung des Strafschmerzes; M. A.] ist daran zu erinnern, dass normative Institutionen nur dann die (. . .) Orientierung leiten können und in dem Sinne wirklich werden, wenn sie kognitiv untermauert sind; mit anderen Worten, potentielle Opfer müssen sich in der Gesellschaft mit ihren Interessen einrichten können, und dazu reicht ein – noch so gut begründetes – Verletzungsverbot nicht hin, vielmehr muss die Aussicht hinzukommen, wahrscheinlich auch nicht verletzt zu werden (. . .). Würde einem Normbruch ohne Strafschmerz widersprochen, so verkäme die Norm bei denjenigen, die sich um den Widerspruch nicht sonderlich scheren, zu einer unverbindlichen Empfehlung. Erst der den Widerspruch begleitende Schmerz begründet das Vertrauen, auch an sich Befolgungsunlustige würden sich wohl normgemäß verhalten.“ 238 233
Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 113 (2. H. v. m.). Ebd., S. 111 f. 235 Ebd., S. 113. 236 Ebd., S. 114. Kritisch dazu Bung, Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person, HRRS 2006, S. 67: „Wieso soll der deutliche Widerspruch gegen die Normverletzung, also der Schuldspruch, nicht für die kognitive Untermauerung des Geltungsvertrauens ausreichen?“ 237 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 5 f. (Vorwort). 238 Ebd., S. 113 (H. v. m.). 234
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Der Strafschmerz sei also dafür nötig, dass die potenziellen Opfer sicher sein können, dass auch diejenigen wahrscheinlich rechtstreu bleiben, die sich um den rein verbalen Widerspruch nicht kümmern.239 Das erkläre zumindest die Zweckmäßigkeit der stummen Seite, auch wenn es zu ihrer Legitimität noch nichts besage. Auch zur Frage der Legitimität der Schmerzzufügung helfe die Hegel’sche Figur der Strafe als Widerspruch, der gegen das vom Täter aufgestellte Gesetz erfolgt, nicht weiter. Denn der Schmerzzufügung mangele es an „Sinn, soweit sie ein stummer Realakt ist“.240 Ihre Legitimation kann daher „auch nur in der Veränderung der natürlichen Lage gefunden werden: Der Normbrecher hat durch seine Tat zurechenbar eine Lage geschaffen, in der, bliebe der Strafschmerz aus, die kognitive Untermauerung der Norm erodieren und damit die Wirklichkeit der Norm verloren gehen, zumindest aber geschwächt würde. Der Strafschmerz hebt die Gefahr der Erosion auf; seine Legitimation gründet demgemäß im Synallagma von Verhaltensfreiheit und Folgenverantwortung: Der Normbrecher hat seinen Freiraum überschritten und soll für die Folgen einstehen – Schadensersatz (Ausgleich des ,intellectuellen Schadens‘, Welcker (. . .)).“ 241
Damit ist der Strafschmerz für zweckmäßig und legitim erklärt. Zum Strafmaß fügt Jakobs gleich einschränkend an, dass die kognitive Untermauerung nicht jegliche „nützliche oder gar willkürliche Strafe“ begründet, der Täter nur zum Ausgleich des an der Normstabilität verursachten Schadens herangezogen werden darf. Die bei anderen ohnehin bestehenden kriminellen Neigungen dürfen also nicht auf seine Kosten gedämpft werden. Der Schmerzzufügung komme lediglich die Aufgabe zu, die Tat als ein „nach allgemeinem Verständnis missglücktes Unternehmen“ zu markieren und so die „kognitive Stabilität der Norm“ aufrechtzuerhalten – aber eben nicht sie zu erhöhen.242 In Relation zu der des normativen Widerspruchs gewinne die Ebene der kognitiven Untermauerung zunehmend an Gewicht, wenn es in einer Gesellschaft verstärkt um das Wohlergehen des Einzelnen und nicht so sehr um die Erfüllung einer Gruppenaufgabe geht. Die Einzelnen wären dann nicht in der Lage sich selbst als einen Teil des Ganzen zu verstehen, sodass dann die Straftheorie als Element einer Gesellschaftstheorie nur noch mit der Behandlung von Individuen befasst ist und so zur „Glückseligkeitsverwaltungslehre“ nach und nach „verkümmert“.243 239 Ähnlich zum Gedanken, dass die verbale Missbilligung die Verurteilten nicht erreiche, nur die Strafe die Übersetzung in eine Sprache sei, die diese verstünden: die Sprache des Selbstinteresses, Primoratz, Punishment as Language, Philosophy 64 (1989), S. 199 f. 240 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 114 (H. v. m.). 241 Ebd., S. 114 (H. tlw. v. m.). 242 Ebd., S. 114 f.; Jakobs bezeichnet seinen Ansatz neuerdings als „geltungserhaltende Generalprävention“, Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 15. 243 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 115 f. Dies sei „wohl eine wichtige Sache, aber gewiss keine für Personen (. . .). Das Wort ,Verkümmerung‘ bedeu-
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Betrachten wir nun die Überlegung zur Zweckmäßigkeit und Legitimität des Strafschmerzes genauer. Dazu hilft es, die Gedankenfolge der beiden gerade hierzu zitierten zentralen Passagen zu kondensieren und in einzelne Abschnitte zu unterteilen: (1) Die Orientierung an Normen setzt voraus, dass potenzielle Opfer auf Normeinhaltung vertrauen können. Da das Verbot als solches nicht ausreicht, ist ein Mechanismus nötig, der sie an die Normbefolgung glauben lässt: „kognitive Untermauerung“. (2) Nicht der bloße Widerspruch gegen einen Normbruch, sondern allein der Strafschmerz lässt darauf vertrauen, dass auch an sich Befolgungsunlustige den Normen folgen: Nur das Instrument des Strafschmerzes kann die Funktion des Mechanismus (nämlich kognitive Untermauerung zu bewirken) übernehmen. (3) Die Tat hat zu einer Lage geführt, in der der Mechanismus an Funktionstüchtigkeit verlöre (und folglich der Glaube an die Normbefolgung Schaden nähme), wenn das Instrument nicht zum Einsatz kommt. (4) Der Täter hat es zu verantworten, dass die Lage entstanden ist. Er muss es sich daher gefallen lassen, dass das Instrument gegen ihn eingesetzt wird, um so die Funktionstüchtigkeit des Mechanismus (und folglich auch den Glauben an die Normbefolgung) zu erhalten. Während (1) und (2) laut Jakobs die Zweckmäßigkeit des Strafschmerzes erklären, betreffen (3) und (4) seine Legitimität. Überlegung (1) leuchtet als Umformulierung der Einsicht ein, dass eine Norm, an die sich niemand hält, faktisch keine Orientierung bietet. Wenn etwa Akteure in meinem Umfeld affirmativ vom Schutz der körperlichen Integrität als allgemeinverbindlicher Norm sprechen, mich jedoch wiederholt verletzen, wäre es töricht, meine Erwartungen an diesen Aussagen auszurichten.244 Es bedürfte also eines Mechanismus, der mich zu recht an die Normbefolgung der übrigen Akteure glauben lässt. Diesen Mechanismus nennt Jakobs kognitive Untermauerung. Überlegung (2) führt die Behauptung ein, dass der Strafschmerz das notwendige Instrument darstellt, das die Funktion des benannten Mechanismus erfüllt, nämlich kognitive Untermauerung zu erhalten. In Zusammenschau mit (1) ergibt
tet dabei keine Schelte, sondern soll beschreiben; für den Vorgang mag es unausräumbare Gründe geben. Wenn es für eine Gruppe nach außen nichts mehr zu tun gibt, weil sie unangefochten besteht, was soll ein Geist des Dazugehörens dann noch bewirken?“ Ebd., S. 116. 244 Sofern sie für die Verletzungen auch keinen guten Grund, strafrechtlich: einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund, haben.
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dies die Behauptung der Abschreckungstheorie, aber positiv gewendet: Statt der Perspektive der potenziellen Täter, wird hier die der Opfer eingenommen: Sofern die potenziellen Opfer darauf vertrauen können, dass die Tatgeneigten durch den Strafschmerz abgeschreckt werden, können sie auf allseitige Normbefolgung hoffen. Fügen nun die weiteren Überlegungsschritte – wie von Jakobs angekündigt – die Legitimität hinzu? Die Aussage (3) enthält zwei Wirkbeziehungen: Wenn der Strafschmerz nach einer Tat ausbleibt, nimmt der Mechanismus Schaden245 (3a). Wenn der Mechanismus Schaden nimmt, droht auch die Orientierung durch Normen zu erodieren (3b). Der zweite Aspekt (3b) ist die Wiederholung der Behauptung unter (1) und (2), nämlich dass der Schmerz das gesuchte Instrument für den Mechanismus der kognitiven Untermauerung ist, die die Orientierung an Normen erst ermöglicht. Zusätzliche Legitimationsressourcen enthält er also nicht. Was ist mit der ersten Überlegung (3a)? Sie führt den neuen Gedanken ein, dass der Mechanismus durch Nicht-Einsatz des Instruments, das seine Funktion realisiert, beschädigt wird. Man findet diesen „Nichtnutzungsschaden“ bei Mechanismen des sozialen Umgangs häufig: Eine Grußgeste, ein Ritual oder eine Intonationsregel können ihre Funktion verlieren, wenn sie nicht im hinreichenden Maße praktiziert werden. Die Auslobung oder ganz generell ein Versprechen verliert seine Funktion, wenn regelmäßig der ausgelobte Betrag nicht gezahlt oder das Versprechen nicht erfüllt wird. Gemeinsam ist diesen Mechanismen, dass sie konventionell sind und ihre Funktion durch Übung aufrechterhalten und sogar erst geschaffen wird, sie also durch eine soziale Praxis konstituiert werden. Die kognitive Untermauerung der Norm soll nach Jakobs nun ein derartiger konventioneller Mechanismus246 sein, dessen Funktionstüchtigkeit Schaden nimmt, wenn man ihn in den Fällen, für die er vorgesehen ist, nicht auslöst (3a). Dies erscheint plausibel. Allerdings legitimiert es nicht die „Zweckmäßigkeitsüberlegung“ von (1) und (2), sondern beschreibt die kognitive Untermauerung als einen sozial konstituierten Mechanismus und erläutert ein daraus folgendes Charakteristikum, nämlich dass seine Aktivierung nötig ist, um seine Funktionsleistung zu erhalten. 245 Das ist hier wichtig: Jakobs behauptet nämlich, dass wenn der Strafschmerz ausbleibe, „die kognitive Untermauerung der Norm erodieren [!] und damit die Wirklichkeit der Norm verloren gehen“ (ebd., S. 114) würde. Nicht die Norm, sondern der Untermauerungs-Mechanismus nimmt Schaden (und dadurch mittelbar erst die Norm). So wird also das vom Täter vorwerfbar Geschädigte problematischerweise ausgetauscht: Er schädigt nicht primär die Norm, sondern den Norm-Erhaltungs-Mechanismus. 246 Den Gedanken, dass es sich bei der Schmerzzufügung nicht um einen solch konventionellen Mechanismus, sondern um einen „natürlichen“ Mechanismus handeln könnte, und so die Rechtfertigung aus der Natur der Sache folgen würde, hat Jakobs selbst mit der Aufgabe der Theorie der notwendig gleichen Objektivierung des Widerspruchs explizit verworfen (s. o. B. IV. 2.).
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Zur Frage, weshalb wir uns des Strafschmerzes als Instrument für diesen Mechanismus bedienen dürfen, besagt dies jedoch nichts. Nur wenn wir voraussetzen, dass die kognitive Untermauerung durch Strafschmerz legitim ist, müssen wir uns darum sorgen, dass der so ausgestaltete Mechanismus keinen Schaden nimmt. Die Überlegung unter (3) ist demzufolge zum Teil (3a) eine Wiederholung der Behauptung der unter (2) getätigten Zweckmäßigkeitsbehauptung, zum Teil (3b) ein Ausbuchstabieren von Funktionsvoraussetzungen, die dem Mechanismus (nach Einordnung als konventionelles Symbol) zukommen. Ein legitimatorischer Mehrwert ergibt sich daraus nicht. Was ist mit der Überlegung (4)? Der Täter habe zurechenbar die Lage herbeigeführt, in der der Mechanismus Gefahr läuft, Schaden zu nehmen; er müsse daher für die „Reparatur“ des Mechanismus gerade stehen. Nur wenn die Reparatur erfolge, würde die Erosionsgefahr gebannt und so die Normorientierung erhalten. Man kann die Überlegung wiederum abschichten: Das Instrument des Strafschmerzes müsse eingesetzt werden, da nur auf diese Weise die Funktionalität des Mechanismus keinen Schaden nimmt, und dadurch, dass er funktionsfähig bleibt, auch die Normgeltung erhalten bleibt (4a). Dies ist die Wiederholung der Aussage unter (3), bringt legitimatorisch somit nichts Neues. Zudem müsse gerade der Täter die Kosten der Reparatur des Mechanismus deshalb tragen, da er verantwortlich dafür ist, dass eine Erosionsgefahr entstanden ist (4b). Hier liefert Jakobs mit dem Prinzip der Verantwortlichkeit zweifellos ein legitimierendes Kriterium: Da der Täter die Lage, die die Reparatur notwendig macht, zu vertreten hat, ist es legitim, ihm die entstehenden Kosten aufzuerlegen.247 Allerdings überzeugt der Gedanke der Verantwortlichkeit nur insoweit, als es um die Frage der Allokation des Schadens geht, dass es also der Täter und nicht ein anderer Akteur oder die Gemeinschaft ist, der den Schaden tragen muss.248 Überlegungen zur gerechten Verteilung können jedoch nicht erklären, ob überhaupt und was zu verteilen ist. Wenn wir bei der Apfelernte überzeugend legitimiert haben, wie die Äpfel zu verteilen sind, indem wir etwa bestimmen, der jeweilige Anteil solle von der Pflückleistung abhängen, das heißt davon, wie viel der jeweilige Akteur in von ihm zu verantwortender Weise abgeerntet hat, schweigt das zur Frage, ob wir den anvisierten Baum überhaupt abernten dürfen. Soweit der Gedanke der Verantwortung also über die Allokation hinaus den Inhalt des Schadensersatzes legitimieren soll, ist er problematisch: Denn der vom Täter zurechenbar herbeigeführte Schaden wird in der Beschädigung des Mecha247 Auf diese Weise sichert Jakobs seine Theorie gegenüber klassischen Einwände gegen präventive Theorien, etwa dass sie die Bestrafung Unschuldiger billigen müssten und zu einer übermäßigen Bestrafung Schuldiger führten. 248 Man könnte hier freilich auch problematisieren, inwieweit die aus der Erosionsgefahr resultierenden Orientierungsschäden dem Täter anzulastende Schäden sind.
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nismus gesehen, um dessen Rechtfertigung es doch gerade geht. Die – über die Schadensallokation hinausgehende – Überlegung liefe also auf die tautologische Behauptung hinaus, dass dem Täter deshalb Strafschmerz widerfahren solle, weil er den Mechanismus der kognitiven Untermauerung mittels Schmerzzufügung schädigen würde, sofern ihm gegenüber die Schmerzzufügung ausbliebe. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Strafschmerz zwar ein zweckmäßiges Instrument für den Mechanismus der kognitiven Untermauerung abgeben mag [(1) und (2)], doch dass wir ihn als Instrument heranziehen dürfen, ergibt sich nicht aus den Überlegungen (3) und (4), sondern wird dort vorausgesetzt. Insgesamt beruht demnach die eigentliche Begründung des Strafschmerzes in von Jakobs als Zweckmäßigkeitsüberlegung bezeichneten Behauptung (2): Einzig die Schmerzzufügung könne zu Vertrauen in faktische Normbefolgung führen. Damit ist eine positive gewandte, das heißt aus Opferperspektive gezeichnete Abschreckungstheorie formuliert. Insofern hat die Rekonstruktion ergeben, dass Jakobs eine kommunikative Straftheorie des Widerspruchs vertritt, die er um eine stumme Seite, eine Abschreckungstheorie ergänzt. Zwar verwehrt sich Jakobs gegen die Vorstellung einer Vereinigungstheorie, die einfach beliebig Strafzwecke addieren würden. Derartige Theorien liefen auf „eine gegenseitige Begrenzung der nur nominell vereinigten Elemente oder schlicht (. . .) ein Sammelsurium“ hinaus.249 Allerdings seien beide Komponenten, die Ausrichtung an einer gerechten und zugleich zweckmäßigen Strafe, möglich, nämlich in der „Entfaltung des Begriffs ,Schadensersatz‘“, den der Täter zu leisten habe.250 Mit dieser Öffnung will Jakobs explizit seine Auffassung aus der Vorauflage, in der er den abschreckenden Effekt als für die Begründung unbedeutend einstufte,251 korrigiert wissen.252 So komme es auch der Theorie der Normgeltung auf faktische, abschreckende Wirkungen an: Die Norm könne nur orientieren, wenn die potenziellen Täter aus Einsicht oder Angst von der Tat zurückschrecken und die potenziellen Opfer an deren Zurückschrecken glaubten.253 Dies führe dazu, dass auch eine auf Normorientierung zielende Straftheorie abschrecken müsse: „Insoweit scheint es sich bei der positiven Generalprävention doch zumindest auch um Abschreckung potentieller Täter zu handeln, also um negative Generalprävention, nur daß von ihr nicht direkt die Rede ist, sondern von ihrem Effekt, Normtreue 249
Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 33 Fn. 149. Ebd., S. 33 f. 251 Vgl. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 106 f.: Wenn die Wirklichkeit der Norm bestätigt werden, in dem die Tat als nicht-anschlussfähig bestätigt wird, ist es „ohne jeden Belang, ob weitere Effekte eintreten“ (ebd., S. 107). 252 Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 31 Fn. 147. 253 Ebd., S. 32. Dieser Glaube muss auch begründet sein und darf nicht nur durch Täuschung erzeugt sein, denn die Geltung würde früher oder später doch erodieren, wenn die Täuschung ans Licht komme (ebd.). 250
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zu bewirken, und von ihrer Spiegelung im Normvertrauen anderer. Mit anderen Worten, wenn Strafe Normtreue erhält, muss sie Angst oder Einsicht hervorrufen, und nur dann erhält sie auch Normvertrauen.“ 254
Wenn auch der letzte Satz nach einer Deduktion klingt („wenn Strafe Normtreue erhält, muss sie Angst (. . .) hervorrufen“), ist er nur die Wiederholung des behaupteten Zweckmäßigkeitszusammenhangs, nämlich dass Strafe Normtreue und spiegelbildlich Normvertrauen erhalte, wenn sie Angst oder Einsicht hervorruft.255 Wie aber kann der Mechanismus, der Normvertrauen durch Strafschmerz erzeugt, begründet werden? Warum soll es also legitim sein, ihn einzuführen? Vielleicht wird der Mechanismus plausibel, wenn man sich ansieht, was mit Jakobs’ Verweis auf den Ausgleich des intellektuellen Schadens zu verstehen ist. b) Intellektueller Schadensersatz (Theodor Welcker) Ergibt sich schon aus dem Charakter dieses Schadens, weshalb die Schadenskompensation schmerzend sein muss? Ich werde behaupten, dass im Gegenteil der beschriebene Normgeltungsschaden ein völlig interpretationsoffenes Konzept abgibt. Weshalb dieser gerade durch den Strafschmerz kompensiert werden sollte, wird erst durch das von Jakobs entworfene Personenkonzept plausibel. Beginnen wir mit dem Schadensersatz: Was ist mit dem intellektuellen Schadensersatz gemeint, den der Täter Jakobs zufolge wegen seiner Tat zu leisten habe? Im Zitat256 bleibt die Vorstellung des intellektuellen Schadensersatzes opak. Klar ist das Beweisziel, nämlich dass jedenfalls der Strafschmerz der Leistungsinhalt des Ersatzes sein soll. Aber wieso sollte dies der Fall sein? In einer Schrift aus dem Jahre 2004, die zwischen den unterschiedlichen Auflagen von Norm, Person, Gesellschaft liegt, führt Jakobs aus, es komme darauf an, „wie stark die Tat sozial beunruhigt“.257 Für den Grad der Beunruhigung müsse berücksichtigt werden, wie bedeutend die Norm, wie gravierend ihre Verletzung, wie ausgeprägt ihre kognitive Sicherung,258 und zu welchem Grad dem Täter die Motivation zu ihrer Übertretung vorzuwerfen sei. Doch abgesehen von diesen Strafmaßüberlegungen setzt Jakobs als Medium der Schadensersatzleistung den Strafschmerz als den nicht näher infrage gestellten Normalfall an: „Seine [des 254
Ebd., S. 32 f. (2. H. v. m.). Wichtig ist Jakobs hierbei, dass es eben nur um die Wiederherstellung des durch den Täter „gefährdete[n] status quo der Normgeltung“ geht, die Abschreckung also „streng auf Wiedergutmachung des verschuldeten Schadens“ beschränkt ist, ebd., S. 33. 256 Nochmals: „Der Normbrecher hat seinen Freiraum überschritten und soll für die Folgen einstehen – Schadensersatz (Ausgleich des ,intellectuellen Schadens‘, Welcker, S. 252 ff., 263).“ (Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 114). 257 Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 31 f. 258 Ebd., S. 32. „Stand der kognitiven Sicherung dieser Norm“ (ebd.). Wenn damit gemeint sein sollte, dass manche Normen schon geschwächt sind, ist zu diskutieren, ob diese Schwäche dem Täter zum Nachteil gereichen darf. 255
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Täters; M. A.] Verantwortlichkeit für die Gefährdung der Normgeltung ist die Legitimation, ihm den Strafschmerz zuzufügen.“ 259 Dass es sich dabei für Jakobs um den Grundfall handelt, kann man aus der irreal und exzeptionell formulierten Anschlussüberlegung schließen: „[M]an mag also von Schadensersatz in einem weiten Sinne reden, einem Ersatz, den der Täter, wenn er rechtlich gesonnenen wäre, durch Verzicht auf den Gebrauch seiner Freiheit von sich aus leisten würde (was in Gestalt des Täter-Opfer-Ausgleichs ja wohl auch ab und an geschieht und wie bei der Bereinigung informeller Konflikte geläufig freiwillig eine Minderung des eigenen Status oder eine Sonderleistung angeboten wird).“ 260
Weshalb ist aber das standardmäßige Ableistungsmedium des Schadensersatzes solchermaßen evident der Strafschmerz? Und was ist der angesprochene Schaden, den der Normbrecher anrichtet? Folgen wir also zur Klärung des Konzepts des intellektuellen Schadens dem prominent herausgestellten Verweis auf die aus dem Jahr 1813 stammende Schrift Theodor Weckers „Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe“: Hierbei fällt zuallererst die besondere Begriffsverwendung auf. Intellektueller Schadensersatz ist ein Platzhalter für vieles, wie auch ein Blick auf die zahlreichen, damals zeitgenössischen Wiederherstellungslehren 261 zeigt, am wenigsten aber das, wonach er für heutige Ohren klingt, nämlich für zivilrechtlichen Schadensersatz. Welcker betont, dass die Aufhebung des „materiellen Schadens“ dem Zivilrecht, die des „intellectuellen“ dem Strafrecht obliege.262 Was nun ist das Spezifikum des kriminalrechtlichen Schadens? Der intellektuelle Schaden ist bei Welcker dreigegliedert, und zwar auf den Verbrecher (i), den Mitbürger (ii) und den Verletzten (iii) bezogen: Bezüglich des Verbrechers (i) bezeugt die Tat einerseits einen „Mangel des rechtlichen Willens (. . .), einen Mangel, der für das Rechtsverhältniß nothwendigen Herrschaft der Vernunft“, andererseits die „zu große Stärke sinnlicher Triebe, und einen Mangel ihrer Harmonie mit den Forderungen des Gesetzes“.263 Das Verbrechen lässt die Mitbürger (ii) zum einen ihr „Zutrauen“ zum Täter verlieren und fordert zum anderen „die Sinnlichkeit der Menschen“ zu Verbrechen auf, indem es als öffentliche Miss259
Ebd. Ebd. (H. v. m.). 261 Dazu Müller-Dietz, Vom intellektuellen Verbrechensschaden – eine nicht nur historische Reminiszenz, GA 1983, S. 481 ff.; vgl. zur Vorstellung des Schadensausgleichs gegenüber der Gemeinschaft als Sammelbecken antinomer Strafzwecke im Zeitraum von 1750-1800 Seelmann, Zum Verhältnis von Strafzwecken und Sanktionen in der Strafrechtsliteratur der Aufklärung, ZStW 101 (1989), S. 336 f. 262 Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 251. Die Einschränkung Welckers, dass der intellektuelle Schaden unter Umständen im materiellen Schaden aufgehen kann (ebd.), findet sich bei Jakobs nicht. 263 Ebd., S. 252. 260
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achtung des Rechts dessen „Heiligkeit und Achtung schwächt“.264 Die Heiligkeit nehme bei den „Gebildeteren“ nämlich Schaden, zumal der Täter das Recht infrage stellt, das sie als Friedensgarantie gemeinsam achten wollten.265 Noch viel schlimmer liege es bei denjenigen, die „durch Macht der Gewohnheit und des Beyspiels ihrer Umgebung unwiderstehlich fortgezogen werden (. . .) bis endlich die Gewohnheit des Verbrechens selbst das Verbrechen heiligt, und jeden, der nicht den Schlechteren zur Beute werden will, zu gleicher Verletzung zwingt, wozu die Belege eben nicht schwer zu finden wären, und namentlich in jeder Modesünde gegeben sind.“ 266
Dem Verletzten (iii) schließlich widerfährt neben dem materiellen Schaden ebenfalls ein doppelter intellektueller Schaden: Zum einen sei die absichtliche Verletzung ihm gegenüber eine „wahre Ehrverletzung“, gemäß des im „ganzen Alterthume“ herrschenden Grundsatzes: „ungerochen Unrechtleiden, erniedrige zum Sklaven“.267 Zum anderen werde sein eigener rechtlicher Wille schwer gestört: Wie soll der Verletzte, der „nur Nachteil von seiner Heilighaltung des unsicheren Rechtsverhältnisses zu haben glaubt, dasselbe noch achtungs- und wünschenswerth halten, noch volles Zutrauen zu seinen Mitbürgern haben, von welchen er sich und seine Rechte nicht geachtet hält?“ 268 Das Verbrechen bezeugt also, dass der Täter seine Kontrolle über seine sinnlichen Triebe verloren hat. Es führt bei den Mitmenschen dazu, dass sie ihm wegen dieses Fairnessverstoßes misstrauen und durch sein schlechtes Beispiel ebenfalls zu Verbrechen gereizt werden. Das Opfer wiederum nimmt Schaden, da es öffentlich degradiert wird und sich in seiner kooperativen Einstellung ausgenutzt erfährt. Ähnlich kompilatorisch sind dann auch die vorgeschlagenen Schadensaufhebungsmittel, sodass Welcker zu einer Fülle an Strafzwecken269 gelangt: Der Täter (i) sei durch die Strafe zu bessern, habe also die „Herrschaft seines freyen vernünftigen Willens über die sinnlichen Triebe“ wiederzuerlangen. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen, nämlich „durch Leiden, durch Ruhe und Einsamkeit, verbunden mit zweckmäßigen Lehr- und Bildungsmitteln, durch Entbehrung sinnlicher Genüsse und so durch Stärkung der sinnlichen Triebe, durch Entfernung alles dessen, was sie reizt, als Unordnung, Müssiggang, Schwelgerey, böses Beyspiel u.s.w., oder durch stärkere Erschütterung der sinnlichen Natur, und so durch Überwältigung der der Vernunft und dem freyen sittlichen Willen des Menschen entgegen stehenden sinnlichen Triebe und Leidenschaften. Durch alles dieses kann der Mensch von der Herrschaft der Sinnlichkeit über ihn 264
Ebd., S. 252 f. Ebd., S. 253. 266 Ebd., S. 254 f. 267 Ebd., S. 256 f. 268 Ebd., S. 257. 269 Die insgesamt sieben gefundenen Strafzwecke zusammenfassend, Welcker, ebd., S. 265 f. 265
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge wahrhaft freygemacht, und mittelbar auf seine Sittlichkeit gewirkt, er veranlaßt werden, sich selbst sittlich oder wenigstens durch Angewöhnung zu bessern.“ 270
Der Besserungsmechanismus der Strafe ist somit zweigeteilt in die durch Einsicht und die durch Gewohnheit generierte Anpassung. Welcker nennt dies moralische und politische Besserung.271 Vom Ziel der „wahren Besserung der Verirrten, (wozu oft härtere Übel, wenigstes aber eine unangenehme Beschränkung ihrer Freyheit, eine Erweckung ihres Seelenleidens also immer eine Strafe, nöthig seyn wird)“ dürfe man sich nicht aus dem Grund abbringen lassen, „weil bisher in Europa fast überall das edle Beyspiel, welches in einem fernen Welttheile uns gegeben wird, so wenig wirkte, so wenig zweckmäßige Anstalten für wahre Beßerung und Umkehrung eines Verbrechers, sondern gar gerade entgegenwirkende zu finden sind.“ 272
Für die übrigen Bürger (ii) nun werde durch die Strafe, wenn man nicht den Glauben an den Täter völlig aufgeben und diesen ausstoßen muss (ein weiterer Strafzweck), „zugleich die Ehrlosigkeit des Verbrechers, der Groll und das Mißtrauen (. . .) getilgt, das Friedensverhältniß mit ihnen wieder möglich gemacht“.273 Für das Ziel der Wiederherstellung der verminderten Heiligkeit des Rechts könne am ehesten jedoch „durch eine von der Regierung an das Verbrechen geknüpfte allgemeine Mißbilligung und Verachtung des Verbrechers das Gefühl der Unverletzlichkeit des Rechts (. . .) kräftig erweckt“ werden. Ferner sei die Strafe in Form des Abscheu erweckenden Leidens nötig, sodass dadurch bei den Mitbürgern die durch die Tat „aufgereizten sinnlichen Treibe niedergeschlagen“ werden.274 Das Opfer (iii) schließlich müsse durch die vom Staat ausgesprochene Missbilligung des Täters sowie durch die Strafe „aufs neue in Achtung und Ehre hergestellt, und des vollen rechtlichen Schutzes würdig erwiesen werden“.275 Zuletzt diene die Strafe, indem sie Genugtuung für die erlittene Schmach leistet, der Aufhebung des beim Verletzten zu verzeichnenden „Mangel[s] an Zutrauen“ gegenüber Recht und Mitbürgern.276 Welcker integriert also – aus Perspektive der gegenwärtigen straftheoretischen Diskussion hellsichtig – auch das Opfer in die Strafzwecküberlegung.277
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Ebd., S. 258 (H. v. m.). Vgl. ebd., S. 257. 272 Ebd., S. 260. 273 Ebd., S. 261. 274 Ebd., S. 262. 275 Ebd., S. 263. 276 Ebd. 277 Zwar widerfahre meist auch dem Opfer durch die Strafe die nötige Genugtuung. Keineswegs bedeutet dies aber, dass „die Beleidigung des Staates die des Privaten tilgt“, so Welcker, ebd., S. 265 (Syntax geändert). Auch der Verletzte kann sich also bereits nach Welcker auf eine selbständige Rechtsverletzung berufen. 271
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Was an dieser Stelle, um zu Jakobs zurückzukehren, jedoch relevanter sein dürfte, ist die Beobachtung, dass Welcker unter dem Begriff der Leistung des intellektuellen Schadensersatz ein Potpourri an straftheoretischen Gedanken liefert: Von der Wiederherstellung des Rechts als Recht über Abschreckung, Besserung, Opferrehabilitierung bis hin zum Erhalt von Normtreue des Opfers und der Mitbürger ist alles herauszuhören. Mit dieser Öffnung ins Unbestimmte scheint auch Jakobs’ knapper Verweis278 auf Welcker zu kokettieren. Welche Schadensposten er von Welcker aber übernehmen will, und welche nicht, bleibt ungewiss. Keine Zustimmung erfährt etwa der bei Welcker wie gesehen zentral herausgearbeitete Gedanke der Besserung. Denn wer – so Jakobs, nicht mit direktem Bezug auf Welcker – eine Besserung des Täters erstrebe, gehe von einem defizitären Täter aus, der „erst einmal verändert werden [müsse], bevor er als Freier akzeptiert werden könne“. Die positive Generalprävention verlange Schadensersatz von einer Person, während die Spezialprävention die Person erst erschaffen wolle.279 Wenn es auch zu begrüßen ist, die Vorstellung vom Täter als einer „defizitären Person“ anzuprangern, und dies mit guten Gründen280 geschehen kann, führt dies eher zu einer Kritik an oktroyierenden klinischen Heilungsvorstellungen, wohl nicht so sehr zu einer Absage an jegliche Formen der positiven Spezialprävention, etwa im Sinne von Hilfsangeboten.281 Entscheidend ist hier aber nicht, eine bestimmte Form positiver Spezialprävention zu verteidigen, sondern vielmehr festzuhalten, dass sich die Vorstellung der Wiederherstellung des Normgeltungsschadens als interpretationsoffene Frage erweist: Was genau ist der Schaden? Wie genau kann und darf er behoben werden? Man erfährt bei Welcker, was mit dem intellektuellen Schaden alles gemeint sein könnte. Freilich müsste man dann überlegen, welche Elemente tatsächlich Schäden sind, und insbesondere, welche davon dem Täter zuzurechnen sind. Man denke etwa bei der verlorenen Herrschaft über die Triebe an Fragen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, oder bei der geschaffenen Nachahmungsgefahr an die Frage, ob die Tat des Nachahmers dem ursprünglichen Täter noch zugerechnet werden kann. Vor allem aber bleibt unklar, welche Mittel für Missbilligung und Genugtuung sowie zur Beseitigung von Groll, Misstrauen und Vorbildwirkung erforderlich und angemessen sind. Ältere Ausführungen Jakobs’ zeigen diesbezüglich eine größere Offenheit, wenn er formuliert, dass Strafe durch 278 Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 32 Fn. 148; Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 114. 279 „[D]ie Verbindung zur kantischen und hegelschen Straftheorie geht demgemäß verloren.“ Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 37. 280 Vgl. die Kritik an der (dem bayrischen Strafvollzugsgesetz unterliegenden) Defizittheorie des Gefangenen Bung, Abbau der Defizite von Gefangenen oder Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme, Kritische Justiz 2009, S. 296 ff. 281 Womöglich könnte man einwenden, man verlasse jedoch dann den Bereich der Straftheorie. Das mag stimmen, ist aber vielleicht nur für denjenigen ein Problem, der nach einem Legitimationsgrund des Strafschmerzes sucht.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
„funktionale Äquivalente“ ersetzt werden könne, aber „vor dem Eintritt – jedenfalls zur Zeit noch – utopischer Ordnungen (. . .) auch für die funktionalen Äquivalente der Strafe sowie für Konfliktvermeidungen Kosten (im Sinne irgendwelcher Einbußen) [entstehen], die verteilt werden müssen“.282 Der Gedanke der zu verteilenden Kosten ist eine Charakterisierung, die offensichtlich nicht supponiert, dass es sich dabei um intentionale Schmerzzufügung handeln müsse.283 Wenn jedoch Jakobs den Strafschmerz als das Schadensersatzmittel schlechthin einführt, gelingt ihm dies nur, indem er die Legitimität des als zweckmäßig behaupteten Mechanismus, nämlich Normorientierung durch Strafschmerz zu erhalten, vorher unterstellt. Es muss erst etwas als legitim unterstellt werden, sodass die Reparatur des sodann beschädigten Legitimen ebenfalls legitim ist. Beispielhaft: Im Fall des (zuzurechnenden) Zuspätkommens ist die Kündigung zweckmäßig, um die Arbeitsabläufe zu garantieren. Ist nun die Kündigung legitim, weil sonst der Mechanismus der Kündigung, sofern er nicht angewendet würde, Schaden nähme (und folglich auch die Arbeitsabläufe)? Dies ist nur dann der Fall, wenn die Kündigung in einem solchen Fall des Zuspätkommens eine legitime Reaktionsform ist – und dies ist eine von der Beschädigung des Mechanismus unabhängige Frage. Folglich müssen wir einen Schritt zurücktreten: Während die Abschreckungstheorie als nur behauptet erscheint und der Begriff des Schadensersatzes deutungsoffen bleibt, muss die eigentliche Begründung für den Strafschmerz als Schadensersatzmittel in Jakobs’ Konzeption von Individuum und Person gesucht werden. c) Strafschmerz als notwendige kognitive Untermauerung Möglicherweise handelt es sich bei der Zweckmäßigkeitsüberlegung um eine Art der Legitimation qua Notwendigkeit. Argumente der Notwendigkeit funktionieren dergestalt, dass das erstrebte Ziel etwas unbestritten Erhaltenswertes ist, das Mittel zwar bedenklich, aber das optimal Effektive ist. Der Strafschmerz müsste demnach unentbehrlich sein, um die Normgeltung zu erhalten. Dies behauptet Jakobs, indem er sagt, dass der Strafschmerz notwendig sei, um den normativen Widerspruch gegen die Straftat kognitiv zu untermauern. Sehen wir uns also das Institut der kognitiven Untermauerung genauer an. Dessen Plausibilität und Begründung beruht auf der von Jakobs postulierten Zweiteilung der Welt, in das Ordnungsschema Lust/Unlust auf der einen, das Schema Pflicht/Willkür auf der anderen Seite. Diese Schemata sind Orientierungsmuster, nach denen Handlungen bewertet werden können und auch Motiva282 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 1. Abschn. Rn. 13; s. zu den „Erledigungsmöglichkeiten“ ebd., 1. Abschn. Rn. 13a), 13b), 13c). 283 Zentral Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987, S. 83.
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tionen in die Welt gelangen. Sie geben aber zugleich auch die Interaktionsmittel der jeweiligen Sphäre vor. Das Individuum bewertet ein Verhalten nach der Lust, die es ihm verschafft, will lustvolle Handlungen und reagiert auf vorteilhafte Aussichten, kann folglich durch diese gesteuert werden. Die Person dagegen ordnet das Verhalten in Pflicht/Willkür, will definitionsgemäß die Pflicht erfüllen und reagiert auf die Kommunikation von Verboten. Es kann sein, dass ein Akteur dominant in der Kategorie erlaubt/verboten denkt und sich als Person begreift. Jede Handlung ist allerdings immer zumindest auch eine solche des Individuums, zumal der Leib einer Person immer auch der eines Individuums bleibt.284 Diese „Entzweiung“ der Welt in Trieb- und Gesellschaftswesen ist „zwar eine theoretische Konstruktion, aber zugleich nicht alltagsfern, sondern sprichwörtlich bekannt: ,Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach‘ (Markus 14, 38 b)“.285 Damit die normative Welt für die Orientierung der Akteure die relevante bleiben kann, muss sichergestellt sein, dass zwischen normativer und kognitiver Welt Gleichklang besteht. Zwar zeichnen sich normative Erwartungen gerade dadurch aus, dass sie auch enttäuscht und kontrafaktisch als weitergeltend behauptet werden können, jedoch müsse eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen, dass es im Großen und Ganzen nicht zu einer Enttäuschung kommen wird. Aus der Zweiteilung in normative und individuelle Sphäre folgt für Jakobs, dass der Akteur auf beiden Kanälen angesprochen werden muss. Denn das potenzielle Opfer wird zwar durch den bloßen Widerspruch gegen den Normbruch als Person zufriedengestellt, bleibt als Individuum aber unbefriedigt. Denn als solches muss zu dem Wissen, im Recht zu sein, hinzukommen, dass es sich mit seinen Interessen auch tatsächlich einrichten kann, es also darauf vertrauen kann, dass sich die potenziellen Täter, die ja ebenso stets Individuen sind – und damit von reinen VerbotsDeklarationen unbeeindruckt bleiben –, tatsächlich rechtskonform verhalten.286 Wer einen nächtlichen Spaziergang im Park unternimmt, so Jakobs’ eingängiges Beispiel, dem genügt es nicht, zu wissen, dass er nicht ausgeraubt werden darf. Er muss zusätzlich davon ausgehen können, auch tatsächlich nicht ausgeraubt zu werden.287 Manche der potenziellen Täter mögen sich zwar als Personen begreifen, somit ihr individuelles Ordnungsschema überspielen und das Wissen um das Verbot als maßgebliche Handlungsmaxime ansehen. Diese Rechtstreuen sind jedoch ein schwacher Trost, da es ja möglich ist, völlig im individuellen Schema zu beharren und nur punktuell oder nie eine wirkliche Person zu sein. Das Individuum hat Angst und es macht Angst. So kommt Jakobs, wie oben gesehen, zum Ergebnis: „Erst der den Widerspruch begleitende Schmerz begründet das Vertrauen, auch an sich Befolgungsunlustige würden sich wohl normgemäß verhal284 285 286 287
Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 74. Ebd., S. 45. Ebd., S. 113 u. 52. Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 29.
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ten.“ 288 Aus dieser Zweiteilung soll demnach plausibel werden, dass wir etwas brauchen, das die Parallelführung der zwei Welten garantiert, also die Maßgeblichkeit der normativen Welt in die kognitive Welt hinüberrettet. Dieses Vehikel ist der Mechanismus der kognitiven Untermauerung. Im Fall der Strafe ist das der Strafschmerz, der die kognitive Garantie für normkonformes Verhalten bietet.289 Die Vorstellung der zweigeteilten Welt, und somit auch der zweispurigen Reaktionsweise, wird auch deutlich, wenn man an Jakobs Kontrastierung des verbalen Widerspruchs auf Bedeutungsebene mit dem Strafschmerz als stummen Realakt, dem Sinn fehlt, denkt.290 Das Bemühen Jakobs’ ist es offensichtlich, eine kategoriale Trennung von Tatbedeutung/Widerspruch zu Tathandlung/Schmerz, also eine zweigeteilte Welt herauszustellen. Im Hinblick auf den Strafschmerz ist dies weniger eine Begründung, sondern die Bezeichnung des zu Begründenden – nämlich der Behauptung, dass die Begründung des Strafschmerzes darin liegt, dass es neben der normativen eine individuelle Welt gibt, die ebenfalls zu bedienen ist. Zu untersuchen ist folglich, ob die Zweiteilung der Welt überzeugt. 4. Zur Zwei-Welten-Hypothese – Worte und Schmerzen Wenden wir uns genauer der Zweiteilung zu. Warum sollte diese überhaupt problematisch sein? Unbedenklich und unschädlich ist die Zweiteilung selbstredend, solange von der Beschreibung keine legitimatorischen Schlüsse abgeleitet werden. Auch weist sie eine hohe Alltagsplausibilität auf: Jeder Satz von der Struktur „Zwar habe ich keine Lust zu p, allerdings bin ich zu p verpflichtet“, lässt sich in Überlegungen zu den Kategorien des Individuums und der Person „in uns“ transponieren. Problematisch könnte die Zweiteilung jedoch deswegen sein, weil sie – durch die Figur der kognitiven Untermauerung – implizit den gewaltsamen Zugriff auf den Akteur zu legitimieren scheint. Wenn nämlich der Akteur immer zumindest auch Individuum ist, muss er auch auf dieser Ebene, die gerade nach dem Schema Lust/Unlust funktioniert, also mit – notfalls drastischen291 – Unlustmitteln angesprochen werden. In einem ersten Schritt werde ich argumentieren (4.a)), dass Jakobs eine allzu umfassende Trennung der Sphären konstruiert und die normative Sphäre unnöti288
Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 113. Ebd., S. 66 f. 290 Ebd., S. 114. Das ist die deutliche Abgrenzung zu der vormals vertretenen Vorstellung der Objektivierung (s. o.), bei der der Schmerz selbst Teil des Bedeutungsvorganges war. Die Begründung für einen Realakt könne entgegen Hegel nicht beim Widerspruch gegen das von Täter postulierte Gesetz, also auf der normativen Ebene, sondern eben „auch nur in der Veränderung der natürlichen Lage gefunden werden“ (ebd.). 291 Von Jakobs wird lediglich die Einschränkung dahingehend eingezogen, dass einer Gesellschaft, deren Forderungen maßlos sind, die Individuen davonlaufen dürften, vgl. ebd., S. 31; zur Voraussetzung, dass die Individuen in der Gesellschaft „im Großen und Ganzen ihr Auskommen“ finden können müssen, vgl. ebd., S. 107, s. a. S. 45 und 100. 289
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gerweise eng und schwach zeichnet, indem er die Interessen des Einzelakteures in der normativen Sphäre unzureichend berücksichtigt. Der Einzelakteur ist mit anderen Worten nicht ausreichend in die normative Welt integriert. Da diese aber gleichwohl die maßgebliche sein soll, erwächst aus dem Spannungsverhältnis, das zwischen Schwäche und gleichzeitiger Maßgeblichkeit der normativen Welt besteht, eine Kluft, die groß und unerträglich genug ist, zur Harmonisierung der Sphären eine radikale Maßnahme wie die Zufügung von Strafschmerzen – den Regress auf die Mittel der kognitiven Ebene – zu plausibilisieren. Jakobs’ Theorie schafft somit erst selbst das Problem, zu dessen Lösung sie dann den gerade zu rechtfertigenden Strafschmerz bereithält. Noch weitergehend werde ich dann im Rest des Abschnitts aufzeigen, dass die kategoriale Trennung zwischen kognitiver Welt des Individuums und normativer Welt der Person generell nicht überzeugt. Weshalb hält Jakobs die Zweiteilung überhaupt für erforderlich? Als wesentliches Argument bringt er vor, dass den Individuen die Fähigkeit fehle, allein zu normativen Verhältnissen zu kommen. Deswegen sei die externe Einführung einer gänzlich anderen Kategorie, die Welt der Personen, nötig. Diese Überlegung, dass die Akte der Individuen keine normative Bindung erzeugen, beruht auf der klassischen Kritik an den Theorien des Gesellschaftsvertrags: Diese wollen die Akteure bindende Normen über den intersubjektiven Vertragsschluss herleiten, doch begegnen sie der Schwierigkeit, erklären zu müssen, weshalb die den „Vertrag“ konstituierenden Erklärungen selbst überhaupt binden. Diese Theorien setzen also die normative Bindung – insbesondere den Grundsatz pacta sunt servanda –, die sie generieren wollen, bereits voraus. Ich will daher in einem zweiten Schritt (4. b)) eine Antwort auf die Frage rekonstruieren, wie Individuen selbst zu Normativität und Bindungsfähigkeit gelangen, nämlich Hegels Konzept der wechselseitigen Anerkennung. In einem dritten Schritt (4.c)) schließlich werde ich Jakobs’ Kritik an dieser Figur schildern und befragen. Dabei möchte ich zeigen, dass die Herleitung seiner Zwei-Welten-Teilung, die eben darauf basiert, dass die Individuen allein zu normativen Verhältnissen nicht kommen, auf zwar ästhetischen, aber letztlich nicht überzeugenden Sprachspielen beruht. Wenn dieser Befund richtig ist, der Einzelakteur sowohl normativ verstärkt zu berücksichtigen, und sogar originär ein normatives Wesen ist, dann findet das Konzept der kognitiven Untermauerung durch Strafschmerz keine Stütze mehr. Es ist vielmehr der Weg für eine Theorie eröffnet, die ein Verlassen des normativen Kommunikationswegs für verzichtbar hält. Die Konsequenzen im Näheren zu erörtern, wird dann Inhalt des dritten Teils sein. a) Unterbelichtung des Einzelakteurs in der normativen Sphäre Weshalb sollte die normative Sphäre nun überhaupt schwach sein? Die normative Sphäre ist bei Jakobs deswegen schwach konstruiert, weil der Einzelne kei-
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nen Bezug zu den Normen hat (i), die Interessen des Individuums nur nolens volens berücksichtigt werden (ii), und Rechte nur als Reflex des Gruppeninteresses verstanden werden (iii). Schauen wir also zuerst auf die Normen (i). Zwar ergibt sich die inhaltliche Bestimmung der Normen aus der „Verständigung über die Gruppenaufgabe“. Verständigung meint jedoch keineswegs Konsens oder das Resultat der zu vereinbarenden Bedürfnisse der Individuen. Demzufolge besteht keine unmittelbare Rückkopplung der normativen Ebene an die Präferenzen der Akteure. Verständigung ist Jakobs zufolge vielmehr die Vergewisserung davon, dass eine Aufgabe existiert. Eine Norm ist als Sammlung relevanter über-individueller Interessen zu verstehen, wobei die Sammlung noch dazu obskur und intransparent stattfindet. Normative Verständigung (der Personen!) ist nur Vergewisserung, das Finden des Zeitgeists, wie die Vergewisserung über die Uhrzeit.292 Im Gegensatz zu einer Vorstellung, in der der Einzelne Regeln akzeptiert, die die Interessen anderer berücksichtigen, weil er auch in der Lage anderer kommen könnte bzw. hätte kommen können, besteht hier für den Einzelnen kein natürlicher Ansatzpunkt für einen Maßstab zur Überprüfung oder Kritik der Regeln. Die Orientierung in der normativen Welt erfolgt über die Bewertung von Verhalten als verboten bzw. erlaubt. Der normative Akteur, also die Person, führt eine Handlung deswegen aus, weil sie geboten ist. Er führt sie deswegen nicht aus, weil sie verboten ist. Die entsprechende Markierung ist sein Handlungsgrund. Denn während die Innensicht durch das Bewusstsein des Einzelnen relevant ist, wird die Außensicht (Pflicht/Willkür) durch die Gesellschaft bestimmt.293 Die Person ist dadurch definiert, dass sie ihre Rolle erfüllt. Wie sie sich zur Normbefolgung motiviert, ist ihre eigene Angelegenheit.294 Zusammengenommen führt das, wie mir scheint, dazu, dass die normative Welt auf sich gestellt kaum lebensfähig ist. Wenn jedoch die normative Welt die maßgebliche sein soll, muss sie sehen, wie sie ihr Deutungsschema als das Orientierende etabliert. Aufgrund dieser Überlegung ist es für Jakobs nötig, die zwei Welten, die er durch die Spaltung geschaffen hat, wieder zu vermitteln. Die normative Welt muss daher auch die Individuen berücksichtigen (ii). Denn normative Institutionen könnten nur dann wirklich werden, wenn bedacht wird, dass die Personen auch immer zugleich Individuen sind.295 Die normative Struktur soll nun dadurch gestützt werden, dass 292 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 61 f.; zwar kann es auch nach Jakobs zu Änderungen der normativen Inhalte kommen, die durch den Zeitgeist oder durch geänderte Bedingungen zur Befriedigung individueller Bedürfnisse angestoßen werden können, siehe ebd., S. 56. Die Normunterworfenen scheinen jedoch keine ausgeprägten, formalisierten Beteiligungsrechte zu haben. 293 Ebd., S. 70. 294 Ebd., S. 66. 295 Ebd., S. 5 f. (Vorwort).
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sich die Einzelnen „als Subjekt begreifen“.296 Warum sollten die Individuen das tun? Jakobs braucht hier auch eine Art Gesellschaftsvertrag (allerdings als einseitiges von der Gruppe ausgehendes Angebot), denn das Lockangebot an die Individuen besteht darin, dass sie ihr „Auskommen“ im Tausch gegen die „Akzeptation des Person-Seins“ erlangen.297 Dem Individuum würden sich in der normativen Welt Daseinsmöglichkeiten bieten, es werde aus der Situation der Unsicherheit ständiger taktischer Überlegungen in „zuvor unbekannte Geborgenheit“ gebracht.298 Diese Geborgenheit verursacht „Befriedigung und die Befriedigung Schläfrigkeit: Das Naturwesen wird zum Haustier des Subjekts“.299 Die Berücksichtigung der Interessen des einzelnen Akteurs erscheint als sekundäres Phänomen, nämlich als Mittel zum Zweck seiner Domestizierung. Auch ein anderer Gesichtspunkt lässt erkennen, dass das Individuum keine eigenständige, sondern lediglich eine zu berücksichtigende Rolle spielt. Die Akzeptation der Personalität findet nämlich statt, indem der Einzelne „die aktuelle Lust-UnlustBilanz in dem Vertrauen nicht [liest] (. . .), sie werde schon in Ordnung gehen“.300 Die Person tut also, was das Gruppeninteresse verlangt, weil sie darauf vertraut, dass die Gruppe auch ihr Auskommen im Blick haben wird. Woher soll dieses blinde Zutrauen kommen? Aus ihrem Wissen um die Einbindung in den Prozess der normativen Welt in Form von Gelegenheit zur Zustimmung, Mitwirkung oder Kritik in Bezug auf das Normative jedenfalls nicht. Die schwache Stellung des einzelnen Akteurs bei Jakobs zeigt sich schließlich bei seiner Erklärung von Rechten, die im Verhältnis zum Gruppeninteresse eine stark untergeordnete Rolle spielen (iii). Rechte können, so scheint mir aus Jakobs Ansicht zu folgen, als Elemente der normativen Welt den Individuen ohnehin nicht zukommen. Aber auch für die Personen sind sie nur Reflex der ihnen auferlegten Pflichten. Soweit den Personen für die Gruppenaufgabe Relevanz zukommt, hätten diese einen personalen Status und somit auch Rechte: „[A]us den Pflichten [folgen] Rechte, zumindest entsteht das Recht, das zur Erfüllung der Pflicht Erforderliche zu organisieren.“ 301 Nur die Wichtigkeit für die Gruppenaufgabe schafft nach Jakobs einen personalen Status. Daher scheitere die Idee universeller Menschenrechte auch daran, dass derjenige, der für den Bestand einer Gruppe schlechthin unwichtig ist, keinen Personenstatus innehaben könne.302 296
Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 77. Im Gegensatz zu Hobbes, dessen Bürger ein „unsicherer Zeitgenosse“ bleibe, weil er ihr Gehorsam nur auf individueller und aktueller Abwägung beruhe, vgl. ebd., S. 72. 298 Ebd., S. 46. 299 Ebd. 300 Ebd., S. 74. 301 Ebd., S. 37. Kritisch zu einem solchen Verhältnis von Rechten und (Mitwirkungs-) Pflichten auch Bung, Zurechnen-Können, Erwarten-Dürfen und Vorsorgen-Müssen – Eine Erwiderung auf Günther Jakobs, HRRS 2006, S. 320. 302 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 58. 297
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Dieses Entstehen eines personalen Status führt Jakobs für die heutige Gesellschaft konkreter aus: Als wesentlicher Statusgenerator agiere die Wirtschaft.303 Zwar habe sich die Pflicht, sich in die Gruppe einzufügen, in der Neuzeit immer weiter verdünnt, sodass die „Rechte an die Gruppe die Pflichten ihr gegenüber weit [zu] überwiegen [scheinen]“. Jedoch hätten sich diese Pflichten lediglich umgewandelt, nämlich in die Obliegenheit, zum Wirtschaftsprozess beizutragen.304 „[E]inen öffentlichen Status [hat], wer zur Produktions- und Verbrauchsgemeinde gehört, was mit der Obliegenheit beginnt mitzumachen. Im Blick auf die Grundrechtsgewährungen der modernen Staaten mag diese positive Auszeichnung der Person durch ihre Obliegenheit zum Vorantreiben der Wirtschaft allerdings wie eine Karikatur erscheinen: Ist nicht die Person primär Trägerin von Abwehrrechten gegen die Gruppe? Gewiss entspricht dies geläufiger Sicht, ist aber trotzdem falsch, wenn Personalität mehr bedeuten soll als die Inhaberschaft individueller Annehmlichkeiten.“ 305
Auch hier wird deutlich, dass dem Einzelnen nur über seine Relevanz für die Gruppe Personenstatus und damit Rechte zukommen. Der dauerhaft Arbeitslose könne somit nicht Person sein, bleibe für die soziale Ordnung „Wirtschaft“ bloße Umwelt. Nur wenn man diesen Zusammenhang zwischen Pflicht zur Mitwirkung und Person nicht erkenne, erscheine „das geringere Maß der Subsistenzmittel der Unterstützten und nicht der Mangel an Vermittlung durch eigene Arbeit [als einer Erklärung bedürftig; M. A.]“.306 Die Irrelevanz des einzelnen Akteurs im Vergleich zur Stabilität der Gruppe zeigt sich ebenfalls in anderen Bereichen: Was zur Stabilität der Gesellschaft nicht erforderlich ist, kann Jakobs zufolge von der gesellschaftlichen, das heißt der gruppenrelevanten normativen Sphäre gelöst werden und der privaten Sphäre zugewiesen werden. Die Meinungsfreiheit des Einzelnen wird auf diese Weise auch nicht primär als Recht verständlich, sondern vielmehr als Resultat von dessen Unwesentlichkeit für die normative Sphäre. „Der Citoyen kann dadurch entmachtet werden, dass es der Gruppe gelingt, sich ohne Rücksicht darauf stabil zu organisieren, was jener auch immer meinen möge.“ 307 Auch in der strafrechtlichen Kommunikation spielt der Einzelne eine untergeordnete Rolle. Das Zurechnungsurteil ist „überhaupt nicht speziell an denjenigen adressiert zu denken, um dessen Verhalten es geht, sondern als an alle Personen gerichtete Vergewisserung über die – trotz der normwidrigen Handlung – weitere Geltung der die Person und damit die Gesellschaft konstituierenden Norm“.308 Und die Reaktion des Verurteilten auf das Zuschreibungsurteil ist für die Geltung der Norm irrelevant, solange seine Tat nur keinen Anschluss findet. 303 304 305 306 307 308
Ebd., S. 122. Ebd., S. 119. Ebd., S. 124 f. Ebd., S. 126. Ebd., S. 58. Ebd., S. 91.
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In der Gesamtschau entsteht ein Bild, nach dem der Einzelne kein ernstzunehmender Akteur auf der normativen Ebene ist. Seine Rechte sind bloß Reflexe der Gruppenaufgabe und seine Interessen und Bedürfnisse werden nolens volens, nämlich um seiner Domestizierung willen, berücksichtigt. Es handelt sich also um einen von der normativen Sphäre entfremdeten Akteur, dessen Präferenzen in ihr keine Andockstellen finden. Die normative Sphäre ist von den – intransparent zustande gekommenen – Gruppeninteressen bestimmt. Ungeachtet dessen soll die normative Ebene relevantes Orientierungsmuster sein. Durch diese Engführung der normativen Welt wird das handfeste, überbrückende Element der kognitiven Untermauerung erst plausibel. Es verhält sich wie bei einer Bücherkiste, die absichtlich in einer solchen Weise konstruiert wurde, dass man sich dazu gezwungen sieht, ein sie zusammenhaltendes Klebeband hinzu zu kaufen. Man mag nun überlegen, wie der einzelne Akteur auf normativer Ebene verstärkt berücksichtigt werden könnte. Indes möchte ich grundsätzlicher ansetzen und fragen, ob die Zweiteilung in Person und Individuum überhaupt ertragreich ist, oder die einzelnen Akteure vielmehr nicht ohnehin schon als normative Wesen betrachtet werden sollten. Dann wäre es möglich, dass wir auch im Umgang mit ihnen ausschließlich in der (dann einzigen) Welt der normativen Akteure bleiben. Was ist überhaupt der Grund für die Zweiteilung der Welt? b) Normativität durch Anerkennung (Hegel) Für Jakobs ist der zentrale Grund dafür, eine zweite Welt anzunehmen der, dass er die Individuen für nicht fähig hält, sich normativ zu verhalten. Die normative Welt tritt als kategorial getrennte Welt zu der Welt der Individuen hinzu. Warum aber sollte den Individuen der Weg zu normativen Bindungen verwehrt sein? Die Antwort, die Jakobs gibt, hängt wesentlich mit der Fähigkeitenausstattung des Individuums zusammen, nämlich dem ihm einzig zugänglichen Ordnungsschema von Lust/Unlust. Für das Individuum, wie Jakobs es entwirft, sind Verpflichtungserklärungen „Schilderungen der eigenen gegenwärtigen Präferenzlage, mehr nicht“.309 Ein Vertrag bindet ihn nur kraft seiner Nützlichkeit. Und da ein Verbot an sich ihm nichts besagt, vielmehr jedes Verhalten permanent unter „individualistische[m] Vorbehalt“ steht, lässt sich einem Akteur nichts entgegenhalten, sofern eine für ihn vorteilhafte Tötung mit Gewissheit unentdeckt bleibt.310 Ebenso ist das Individuum nicht fähig, „Sorge über den eigenen Bestand hinaus, insbesondere Sorge für den Bestand der Gruppe“ zu entwickeln.311 Jakobs schließt auch aus, dass es eine sinnvolle Verständigung über subjektive Präferenzen geben kann. Berechtigung durch eine Norm ist dort nur ein „Name 309
Ebd., S. 24. Ebd., S. 30. 311 Ebd., S. 30. Einschränkend: „[E]s sei denn, diese Sorge sei von der Natur in den Individuen angelegt worden.“ (Ebd.). 310
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für die faktische Chance, ein Verhalten eines anderen Individuums zu erzwingen“.312 Diese Charakterisierung des Individuums führt demnach dazu, dass es ihm unmöglich ist, zu normativer Bindung zu gelangen. Jakobs formuliert davon ausgehend einen gängigen Einwand gegen die vertragstheoretischen Konstruktionen, die die normative Bindung zwischen den Akteuren durch einen Vertrag begründen wollen: Diese Theorien würden daran scheitern, dass sie mit der Bindung, die sie dem wie auch immer gearteten Gesellschaftsvertrag zuschreiben, eben schon voraussetzen, was sie erst hervorbringen wollen. Denn die Bindungsfähigkeit benötigen sie bereits, um den Gesellschaftsvertrag überhaupt zu schließen.313 Ein Ausweg besteht nun darin, die normative Bindungsfähigkeit nicht erst im Vertrag, sondern schon vorher begründet zu sehen, und zwar in einem Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung. Ein solches Konzept lässt sich prominent bei Hegel finden.314 Nach der Analyse Kaisers besteht die Innovation durch Hegel darin, dass er nicht die Bedingungen des Zusammenlebens fertiger Subjekte untersucht, sondern die Entstehung von (sich selbst bewussten) Personen mit der Entstehung von Rechtsverhältnissen verschränkt.315 In nuce kann man dies so beschreiben: Sich als erkennendes Subjekt zu reflektieren, sich also selbst als Objekt der Erkenntnis zu erfassen, setzt die Mitwirkung des Anderen voraus, beruht demnach auf einer kooperativen Struktur – und diese Struktur, die bei Hegel als eine der wechselseitigen Anerkennung entwickelt wird, ist zugleich jene, die das Rechtsverhältnis möglich macht.316 Ohne den Anderen kann ich weder selbst-bewusst sein noch in einem Rechts-Verhältnis stehen.317 Die Struktur der wechsel312
Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 21. 314 So bereits (mit direktem Bezug auf die Anerkennungsvorstellung von Jakobs) Seelmann, Anerkennung, Person, Norm, in: Pawlik/Zaczyk, Jakobs-FS, 2007, S. 640 ff.; die Idee der nachfolgenden kritischen Untersuchung der Anerkennungsvorstellung von Jakobs geht hierauf zurück. 315 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 111; vgl. die aufschlussreiche Rekonstruktion von Hegels Vorstellung der Anerkennung in dessen Grundlinien der Philosophie des Rechts sowie der Phänomenologie des Geistes bei Kaiser insgesamt, vgl. ebd., insbes. S. 98 ff., an der ich mich nachfolgend – von der Vorstellung der Theorie des vollkommenen Ausdrucks abgesehen – orientiere. 316 So Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 111 (Kaiser deutet dies so, dass Recht daher nicht das sein könne, was die Akteure zur Sicherung ihrer Existenz aushandeln); zur Verbindung von Sozialphilosophie und Erkenntnistheorie bei Hegel ebd., S. 99 f., unter Verweis auf Williams, Recognition, 1992, S. 191 ff. („reason is fundamentally social“, S. 197). Zur Anerkennungsabhängigkeit der Freiheit gemäß Hegel, vgl. Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 229 f. 317 Auf der Vorstellung der Abhängigkeit des Personenstatus von der wechselseitigen Anerkennung beruht auch die Überlegung, die Strafe durch einen Selbstwiderspruch des Verbrechers zu legitimieren: Mit der die Anerkennung verletzenden Tat argumentiere der Täter gegen die Notwendigkeit wechselseitiger Anerkennung, also gegen die Bedingung seines eigenen Person-seins. Er könne daher nicht widerspruchsfrei die Not313
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seitigen Anerkennung ermöglicht erst das Personsein und somit auch das Rechtsverhältnis.318 Dieses simultane Entstehen von Person und Normativität – im Sinne von Bindung(sfähigkeit) an Normen – scheint mir auch Jakobs im Sinn zu haben, wenn er das Individuum, das weder Selbstbewusstsein hat (alles, was es sieht, ist ihm eigene Welt, „so dass der Hintergrund fehlt, vor dem sich die Eigenheit erst abheben könnte“ 319) noch normative Züge versteht (es kennt ja nur das Schema Lust/Unlust), zur kategorial verschiedenen Person mit Rechten heben will. Jakobs nimmt hierzu zwar das Bild der Anerkennung als Nukleus auf. Allerdings wendet er sich gegen eine Vorstellung, die von einer wechselseitigen Anerkennung einzelner Akteure als Movens ausgeht, und plädiert für eine Modifikation dieser Theorie. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Hegel’sche Variante der Anerkennung. Dessen Theorie der wechselseitigen Anerkennung320, wenn man eine solche im Kapitel IV. A. der Phänomenologie des Geistes321 finden will,322 läuft – ich folwendigkeit der Strafe, die das Anerkennungsverhältnis ja gerade wiederherstelle, bestreiten. Diesen Gedanken entwickelt und problematisiert Seelmann, Versuche einer Legitimation von Strafe durch das Argument selbstwidersprüchlichen Verhaltens des Straftäters, in: Byrd/Hruschka/Joerden, Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 1, 1993, insbes. S. 322 ff. Vertreten wird die Konstruktion etwa – freilich mehr auf die Kantische „Verallgemeinerungsfähigkeit der Maxime“ bezogen – von Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 29 ff. Dass jedoch diese rein formale Figur des Widerspruchs den Inhalt der Strafrechtfertigung leisten kann, ist womöglich ein „intellektualistischer Fehlschluss“, so Koriath, Zum Streit um die positive Generalprävention in: Radtke u. a., Muss Strafe sein? Jung-Kolloquium, 2004, S. 65; aus dem Selbstwiderspruch (Logik) könne nichts für die moralische Vorwerfbarkeit (Ethik) abgeleitet werden, so Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, 1995, S. 68 ff. Auch erfordere die Wiederherstellung der verletzten Anerkennungsbeziehung keine Statusminderung des Täters. Man könne vom Täter aber – so Seelmann unter Bezugnahme auf George H. Meads Ich-Identität – die äußere Darstellung der Wiederübernahme des Perspektivenwechsels, den das Konstrukt der wechselseitigen Anerkennung erfordert, verlangen, vgl. ebd., S. 74 ff. 318 Vgl. dazu die grundlegende Analyse von Honneth, Kampf um Anerkennung, 1992. Dieser will Hegels Figur des Kampfes um Anerkennung sozialpsychologisch und vor allem gesellschaftstheoretisch deuten, nämlich als „Aufriss einer Logik sozialer Konflikte“ (ebd., S. 109 f. Fn. 2 a. E.). Dazu rekonstruiert er – in Anlehnung an George H. Mead –, wie die Bildung des praktischen Ichs an Strukturen wechselseitiger Anerkennung gebunden ist und entwickelt eine Phänomenologie derjenigen Anerkennungsformen, in denen sich die Akteure wechselseitig als autonom bestätigen (Liebe, Recht, Solidarität) (ebd., S. 110 ff.). Dieser Vorgang der Bildung solcher reziproker Anerkennungsbeziehungen werde durch Momente der Missachtung (Vergewaltigung, Entrechtung, Entwürdigung) initiiert (ebd., S. 212 ff.). 319 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 32. 320 Das „Prinzip der Anerkennung“ findet sich bereits in Hegels Jenaer Schriften und auch schon vorher, s. dazu umfassend Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979. 321 „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft“. 322 Honneth meint, dass die ursprüngliche Idee des Kampfes um Anerkennung durch Hegels Wende hin zur Bewusstseinsphilosophie in der Phänomenologie des Geistes die
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ge hier im Wesentlichen der Analyse von Kaiser323 – wie folgt: Der Einzelne ist zunächst „einfaches Fürsichsein, sichselbstgleich durch das Ausschließen alles andern aus sich“.324 Bemerkt er, wie der andere ihn taxiert, merkt er die Unvollständigkeit seiner eigenen Gewissheit, ihm wird wichtig, was der Andere in ihm sieht.325 Er muss sich „als Selbstbewusstsein bewähren“,326 was laut Hegel zu einem Kampf um Anerkennung, einem Kampf auf Leben und Tod, führt,327 in dem er sich als frei, insbesondere frei von bloß animalischen Erhaltungsbegierden, präsentiert:328 „Die Darstellung seiner aber als der reinen Abstraktion des Selbstbewußtseins besteht darin, sich als reine Negation seiner gegenständlichen Weise zu zeigen, oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Dasein geknüpft, an die allgemeine Einzelnheit des Daseins überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft zu sein. (. . .) Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Andern und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, daß dem Selbstbewußtsein nicht das Sein, (. . .) sondern daß an ihm nichts vorhanden, was für es nicht verschwindendes Moment wäre, daß es nur reines Fürsichsein ist.“ 329 zentrale Bedeutung, nämlich den Vorrang der sozialen Interaktion vor dem Individuum zu erläutern, eingebüßt habe. „Die Konstitution des menschlichen Bewusstseins ist nicht mehr dem Prozess des Aufbaus sittlicher Sozial-Verhältnisse konstitutiv integriert, sondern umgekehrt stellen soziale Verkehrsformen nur noch Durchgangsstufe in jenem Prozess der Bewusstseinsbildung dar, der die drei Medien der Selbsterkenntnis des Geistes [Kunst, Religion, Wissenschaft; M. A.] hervorbringt.“, so Honneth, Kampf um Anerkennung, 1992, S. 56 ff. Der Bezug zu Hegels früher Konzeption mag nötig sein, wenn man zu einer von Metaphysik befreiten Strukturbeschreibung von Anerkennungsverhältnissen gelangen will. Mit der Konzentration auf die Präsentation der Idee des Kampfes um Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes ist hier lediglich die Stelle gewählt, in der Hegel seine schon viel früher angelegte Idee in besonderem Maße ausgearbeitet hat, keineswegs die Einbettung in die dortige Vorstellung eines sich „monologisch fortbildenden Geistes“ (ebd., S. 102) beabsichtigt. 323 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 98 ff. Ich folge auch seiner Zitierweise nach den Absätzen des Kapitels. 324 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 147 (IV. A. Abs. 9) (H. i. O.). 325 So Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 101 f. vgl. auch Kojève, Hegel, 1975, S. 28 f.: „Der ,erste‘ Mensch, der zum ersten Male einem anderen Menschen begegnet, schreibt sich selbst bereits einen selbständigen und absoluten Wert zu: Man kann sagen, daß er meint ein Mensch zu sein, daß er die subjektive ,Gewissheit‘ hat, es zu sein. Aber seine Gewißheit ist noch kein Wissen. (. . .). In unserem Falle muß also der Mensch, um wirklich und wahrhaftig ,Mensch‘ zu werden und sich als solcher zu wissen, die Idee, welche er sich von sich selbst macht, anderen aufzwingen: er muß sich von anderen (im idealen Grenzfall von allen anderen) anerkennen lassen.“ 326 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 102, mit Verweis auf Kojève, Hegel, 1975, S. 24. Der Terminus des „Bewährens“ findet sich bei Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 149 (IV. A. Abs. 10 u. 11). 327 Zu den verschiedenen Deutungen, weshalb gerade ein Kampf um Leben und Tod erforderlich ist (oder dieser rein bildlich zu verstehen ist), s. Honneth, Kampf um Anerkennung, 1992, S. 79 ff. 328 Kojève, Hegel, 1975, S. 24. 329 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 148 (IV. A. Abs. 10) (H. i. O.).
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Sogleich stellt Hegel jedoch klar, dass es nicht um die (gegenseitige) Tötung gehen kann, es also kein „Vernichtungs-, sondern ein Prestigekampf“ 330 ist. Der Tod der Akteure würde zwar final zeigen, dass sie tatsächlich „ihr Leben wagten“, doch bliebe er „abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewusstseins, welche so aufhebt, daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält“.331 Die Anerkennung kann folglich nur gelingen, wenn beide am Leben bleiben.332 Hegel beschreibt sodann den Fall, dass der eine den Anderen bezwingt. Dann kommt es zum ungleichen Verhältnis zwischen Herr und Knecht.333 Was dies bedeutet, wird im Rest des Kapitels334 beschrieben: Es kommt zur Katastrophe – beide erlangen das „Verkehrte“ 335: Der Herr zeigte sich zwar durch seine Kampfbereitschaft als von den physischen Dingen unabhängiges Selbstbewusstsein, erlangt aber durch den unterworfenen Knecht nur eine defizitäre Form der Anerkennung, da dieser nicht „Meister“ über das Sein geworden ist, vielmehr nicht aus seiner Abhängigkeit der physischen Dinge herauskam.336 Das Selbstbewusstsein des Herrn steht damit auf tönernen Füßen.337 Der Knecht dagegen, der eben im Kampf erkannte, dass er mehr am Leben als am reinen Selbstbewusstsein hängt,338 existiert zwar ab der Unterwerfung für die Begierden des Herrn, also zunächst nur für den Anderen.339 Allerdings kann sich gerade das knechtische Bewusstsein – so wiederum hier die wundersame Wendung – befreien: „Durch die Arbeit kommt es aber zu sich selbst.“ 340 Durch das „Bilden des Dinges“ schafft es etwas Bleibendes und findet sich wieder: „Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigener Sinn gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien.“ 341 Ob in dieses Wiederfinden in der Arbeit ein Vorgang ist, der die Asymmetrie der Anerkennungsstruktur kompensieren kann, erscheint zweifelhaft,342 zumal diesem Gedanken Mehreres entgegensteht: Ers330 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 102, mit Hinweis auf Kojeve, Hegel, 1975, S. 25. 331 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 150 (IV. A. Abs. 11). 332 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 103. 333 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 150 (IV. A. Abs. 12). 334 Absätze 13–19. 335 Ebd., S. 152 (IV. A. Abs. 16). 336 Ebd., S. 151 (IV. A. Abs. 14). 337 Ebd., S. 152 (IV. A. Abs. 15). 338 Ebd., S. 150 (IV. A. Abs. 12). 339 Ebd., S. 151 (IV. A. Abs. 13). 340 Ebd., S. 153 (IV. A. Abs. 18). 341 Ebd., S. 154 (IV. A. Abs. 19). 342 So auch Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 101 Fn. 92 m.w. N., u. a. auf Habermas, der den den Prozess der Arbeit optimistischer – freilich mit Bezug auf die erstmalige Entwicklung des Motivs in der Jenenser Philosophie des Geistes – als Ausdruck reziproken Verhaltens deutet, vgl. Habermas, Arbeit und Interaktion, in: ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, 1969, S. 34 ff.: „Im anerkannten Pro-
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tens der formale Umstand, dass in den Absätzen 17–19, die das knechtische Bewusstsein beschreiben, nicht von einem selbstständigen oder reinen Bewusstsein des Knechts, sondern nur vom „selbstständigen Sein“ 343 die Rede ist. Zweitens scheint die abschließende Passage dagegenzusprechen: Dort beschreibt Hegel, dass das sich „Wiederfinden“ nur ausgehend von der „absolute[n] Furcht“, also der völligen inneren Desintegration344 und der darauf aufbauenden Zucht und dem Gehorsam seinen Ausgangspunkt nehmen kann, ohne die das Bewusstsein „nur ein eitler eigener Sinn“ sei.345 Dies klingt weniger nach einer ausgeglichenen Anerkennungsstruktur, sondern vielmehr nach einem gebrochenen Willen des Knechts, der in der Zuwendung zum Ding, in der „Anerkennung“ durch das Ding, sich wiederfindet.346 Wenn man aber, drittens, tatsächlich annehmen wollte, dass die Entwicklung eines reinen selbständigen Selbstbewusstseins des Knechts allein durch die Arbeit gelingen mag, so müsste man wohl auf die Idee kommen, dass nun dadurch auch die mangelhafte Anerkennung, die der Herr durch den Knecht erfährt, geheilt würde. Denn dessen Anerkennung erfolgt nun durch ein selbstständiges Selbstbewusstsein, sodass sich folglich der Herr des eigenen selbständigen Selbstbewusstseins gewiss sein könnte. Nicht nur kommt dieser Gedanke Hegel nicht in den Sinn, er wäre auch mit seiner Vorstellung gelungener Anerkennung nicht vereinbar. Eine solche Charakterisierung gelungener Anerkennung ist – nach der überzeugenden Leseart Kaisers347 – nicht in den Passagen nach dem Anerkennungskampf, sondern bereits in den ersten Absätzen (Abs. 1–7) zu finden. Dort heißt es zu Beginn: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ 348 Die „Bewegung des Anerkennens“ stellt sich dort als dreistufiger Vorgang dar. Durch das andere Selbstbewusstsein wird das Selbstbewusstsein ein anderes, es kommt außer sich (1). Es muss dieses Anders-Sein aufheben (2), was auch die Rückkehr dukt der Arbeit sind mithin instrumentales Handeln und Interaktion verknüpft.“ (ebd., S. 34). 343 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 154 (IV. A. Abs. 18). 344 „Dies Bewußtsein [das knechtische] hat nämlich nicht um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst gehabt, sondern um sein ganzes Wesen; denn es hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt.“ [ebd., S. 153 (IV. A. Abs. 17)]. 345 Ebd., S. 154 (IV. A. Abs. 19). 346 Wie Kaiser den mangelhaft anerkannten Herrn als einsamen alten Mann beschreibt, „der seine vermeintliche Liebenswürdigkeit durch die Zuneigung seines Hundes bestätigt sieht“ (Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 105), so könnte man im Knecht den einsamen Menschen sehen, der im Verwalten von Dingen für seinen Herrn aufgeht und sich in den Gegenständen wiederfindet. 347 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 101 Fn. 92, vgl. auch zum Folgenden ebd., S. 105 f. 348 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 145 (IV. A. Abs. 1).
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in sich selbst darstellt (3). Jede dieser Vorgänge hat einen Doppelsinn, ist nämlich zum einen auf das eine, zum anderen auf das andere Subjekt bezogen. Diese Bewegung muss von beiden Akteuren vollzogen werden, sodass eine weitere Verdopplung stattfindet. Motiviert ist diese kooperative Wechselseitigkeit durch das reziproke Handeln des Gegenübers: „Jedes sieht das Andre dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das Andre fordert, und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das Andre dasselbe tut; das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zustande kommen kann.“ 349
Der besagten Vorstellung der Anerkennungsbewegung350 dürfte man so Sinn geben können, dass der eine Akteur, der den Anderen wahrnimmt, aufgrund der beobachteten Ähnlichkeit in „Verwirrung über seine Identität“ gerät, die Unzureichendheit seiner isolierten Selbstwahrnehmung erahnt, die Identität also „außer sich“, außer seiner Kontrolle gerät (1). Denn ich sehe, dass der Andere mich sieht, gleichsam mich bestimmt in seinem Beobachten. Ich wiederum bestimme ebenso den Anderen, irritiere so dessen bisherige, solitär konstruierte Identität.351 Was ist dann das Aufheben des Anders-Seins (2)? In seiner dialektischen Funktion hat es zum einen den Sinn der „Beseitigung“, zum anderen verweist es gleichzeitig auf die Vorstellung vom „Höherheben“ und „Bewahren“. Denkbar ist demnach, das Aufheben des Anders-seins so zu aufzufassen, dass damit das gegenseitige Sich-Lösen von der völligen Fremdbestimmung352 durch den Anderen, also des Zu-sich-selbst-Findens, bezeichnet ist (3).353 Das Bewusstsein ist nun wieder bei sich selbst – auf höherer, durch den Anderen reflektierter Stufe. Der Akteur hat jedoch die rein solitäre Welt unwiderruflich verlassen, sodass der Andere im erreichten, aber fortdauernden Prozess der Anerkennung relevant bleibt.354 349
Ebd., S. 146 f. (IV. A. Abs. 5) (H. i. O.). Vgl. zur Vorstellung primärer Intersubjektivität aus psychoanalytischer Sicht, Altmeyer, Narzißmus, Intersubjektivität und Anerkennung, Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 54 (2000), S. 142 ff. 351 Ähnlich Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 102. 352 Vgl. zum Gedanken des „außer-sich-seins“ die – freilich anthropologische – Analyse Rousseaus, in der er den „Wilden“ mit dem sozial gewordenen „zivilisierten Mensch“ kontrastiert, welcher durch den Eintritt in das Spiel von Macht und Reputation zum fremdbestimmten wird: „Der Wilde lebt in sich selbst, der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben; und sozusagen aus ihrem Urteil allein bezieht er das Gefühl seiner eigenen Existenz.“ So Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit (1755), 2008, S. 269. 353 Kaiser deutet das Aufheben so, als könne das Außersichsein durch die Aufhebung der Knechtung beseitigt werden, vgl. Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 105 f. Er geht also wohl von der Vorstellung aus, dass die Knechtung ein mögliches Durchgangsstadium hin zu gelungener Anerkennung ist. 354 Ebenso Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 106. In diese Richtung kann man den Satz am Ende der Schilderung der gelungenen Anerkennung deuten: 350
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Die Passage über das gelungene Anerkennen abschließend gelangt Hegel somit zum „reine[n] Begriff des Anerkennens“ 355: „Jedes ist dem andern die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Andern unmittelbares für sich seiendes Wesen [also Anerkanntes], welches zugleich nur durch diese Vermittlung [die Anerkennung des jeweils Anderen] so für sich ist [also anerkannt ist]. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.“ 356
Klar erkennbar, und das ist für den Fortgang entscheidend, wird jedenfalls Hegels Verständnis des Anerkennungsvorgangs als Vorgang zwischen zwei Akteuren, der im Fall des gelungenen Anerkennens in einer reziproken und symmetrischen Weise verläuft. Das im vollen Sinne selbstbewusste Subjekt – so der vielfach daraus abgeleitete Gedanke – kommt entscheidend durch die Konfrontation mit einem anderen Akteur zustande.357 Diese intersubjektive Anerkennung muss nun nach gängiger Lesart noch für das Zusammenleben mehrerer adaptiert werden, das heißt institutionalisiert werden.358 Das Konzept der wechselseitigen Anerkennung muss „über die Zweierbeziehung zu einem Konzept allseitiger Anerkennung erweitert werden.“ 359 Diese Erweiterung kann man mit Kaiser, und das ist sogleich für die Rückkehr zu Jakobs relevant, als zweite Stufe einer Anerkennungstheorie beschreiben: Neben die Anerkennungsbeziehungen mit den anderen Individuen trete der Akteur auf einer zweiten Stufe in eine Anerkennungsbeziehung zu den rechtlichen Institutionen, durch deren Anerkennung er sich selbst in allen Anderen findet („institutionelle Anerkennung“ zwischen Person und Staat).360 „Als Bewußtsein aber kommt es wohl außer sich; jedoch ist es in seinem Außersichsein zugleich in sich zurückgehalten, für sich, und sein Außersich ist für es [also das andere Selbstbewusstsein].“ Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1986, S. 147 (IV. A. Abs. 7) (H. i. O.). 355 Ebd., S. 147 (IV. A. Abs. 8). 356 Ebd., S. 147 (IV. A. Abs. 7) (H. i. O., Einfügungen v. m.). 357 Vgl. etwa zur Notwendigkeit von Interaktion und Perspektivenübernahme zur Konstitution des Selbst nach der Theorie von Mead, Lailach-Hennrich, Kein Selbst ohne die Anderen? Was wir immer noch von G. H. Meads Theorie des Selbst lernen können, Zeitschrift für philosophische Forschung 67 (2013), S. 80 ff. 358 Kritisch zu einer Lesart, die die Institutionen in der reinen Sicherung und Gewährleistung der Autonomieinteressen der Einzelnen aufgehen sehen will, und damit die Eigenständigkeit des Institutionengefüges betonend, die trotz deren Rückbindung an die Akteure besteht, Zabel, Hegels Theorie der Institutionen und das Gesellschaftsprojekt der Moderne, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 38 (2013), S. 61 ff. 359 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 107, unter anderem unter Berufung auf die Theorie vollkommenen Ausdrucks; Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979, S. 88 ff., vgl. aber auch zur Rückführung der Institutionen auf die Struktur der (nicht rein dialogischen) Anerkennung ebd., S. 250. 360 Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 107 ff., insbes. 110; eben diese – freilich nicht mehr so symmetrische – institutionelle Anerkennungsbeziehung stehe dann in der Grundlinien der Philosophie des Rechts im Zentrum, wobei dort die
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c) Schiffe und Anker Diese Reihenfolge – zunächst intersubjektive, anschließend institutionelle Anerkennung – ist jedoch, und damit kehren wir zu Jakobs zurück, mit dessen Hauptanliegen, nämlich zu zeigen, dass menschliche Individuen „nicht als solche, also aus eigener Kraft, eine normativ strukturierte Gesellschaft ,gründen‘“ 361, unvereinbar.362 Folgerichtig modifiziert er die Geschichte der Anerkennung, und zwar dergestalt, dass nicht die intersubjektive, sondern die institutionelle Anerkennungsbeziehung die primäre ist. Die institutionelle Anerkennung – in Jakobs’ Bezeichnung: die Zuweisung eines Status – stellt also das Medium dar, das Normativität und Person überhaupt erst begründet.363 Jakobs sieht den Kampf um Anerkennung zwischen zwei einzelnen Akteuren als gescheitertes Unterfangen mit zwei Verlieren an. Da ist der Herr, der „in der Befriedigung versinkt, also seine Gestalt verliert und als ein selbstbewusstes Subjekt nicht mehr vorhanden ist“; dort der Knecht der „zum Animalischen [zu] regredieren“ droht.364 Die zu bedienende Begier des Herrn gebe dem Knecht zwar ein neues Ordnungsschema. Dieses werde von ihm jedoch als bloß natürlicher Widerstand wahrgenommen, belasse ihn somit in seiner eigenen Welt. Statt aber die Lösung in einer symmetrischen intersubjektiven Anerkennungsbeziehung zu suchen, will Jakobs die Gescheiterten dadurch in die Sphäre normativer Bindungen überführt wissen, dass der Herr der Gruppe eine Aufgabe gibt. Er ist somit gleichsam der erste Ursprung der Anerkennung:365 „Die Geschichte vom Herrn und vom Knecht muss dergestalt verändert werden, dass die Arbeit mehr bedeuten kann, als der Natur eines anderen Individuums zu genügen: Der Herr muss der Gruppe eine Verfassung geben, die den Unterworfenen einen Status zuweist, so dass sie ihre Arbeit als Erfüllung einer Aufgabe für die Gruppe begreifen können.“ 366
Unwesentlich sei, dass der Herr selbst in die Verfassung der Gruppe einbezogen ist, „wenn nur die Verfassung eine solche der Gruppe und nicht ein bloßes Echo der Launen des Herrn ist. – Dass der Herr beim Erlass der Verfassung wohl allseitige intersubjektive Anerkennung bereits vorausgesetzt werde, so Kaiser, ebd., S. 108 m.w. N.; zu dieser „zweiten Stufe“, deren Asymmetrie bedenklich sei, s. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979, S. 281 ff. 361 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 5 (Vorwort). 362 Ebd., S. 36. 363 Wie hier meint Seelmann, dass Jakobs’ Kritik am Kontraktualismus (dessen Unfähigkeit, mit seinen hypothetisch vereinzelten Individuen das pacta sunt servanda zu begründen) zutreffe, sich diese aber nicht auf das Konzept der wechselseitigen Anerkennung übertragen ließe. Seelmann, Anerkennung, Person, Norm, in: Pawlik/Zaczyk, Jakobs-FS, 2007, S. 640 ff. 364 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 34 f. 365 Ebd., S. 35 f. 366 Ebd., S. 35 (H. i. O).
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nur auf seine Lust aus sein wird, schadet nicht, solange er trotzdem die Gruppe verfasst“.367 Die Anerkennung als Person ist nicht aus einer wechselseitigen subjektiven Perspektive zu bestimmen, sondern aus der Außensicht des Zuordnenden.368 Daraus folgt für Jakobs, dass die Anerkennung nicht intersubjektiv, sondern nur durch ein den Akteuren extern aufgebundenes Band erfolgen kann. „Nach dem Gesagten kann Anerkennung nicht allein als wechselbezügliche Leistung zweier (oder mehrerer) Individuen begriffen werden – zwei Schiffe können nicht aneinander ankern –, sondern nur als eine Verbindung von Personen durch eine sie konstituierende Norm – durch einen Ankergrund –, als Zuordnung von Rollen, wobei, wenn der Vorgang begriffen wird, sich ein Subjekt konstituiert sowie Anerkennung psychisch realisiert.“ 369
Anerkennung ist also auch bei Jakobs zwar das normative Gründungsmovens, jedoch nicht in Form der individuellen Anerkennung durch einen anderen Akteur. Unter Anerkennung ist vielmehr die Zuordnung einer Rolle im Rahmen der Gruppenaufgabe zu verstehen. Im Folgenden soll dies als „institutionelle Anerkennung“ bezeichnet sein.370 Was ist die Begründung dafür, entgegen Hegel nicht primär auf eine symmetrische Anerkennungsbeziehung zu bauen, die dann zu allseitiger Anerkennung sowie der Schaffung von Institutionen ausgeweitet wird, sondern mit der Anerkennung durch die – vom Gewalthaber gesetzte – Norm zu beginnen? Selbst Kaiser kann sich hier nicht zwischen Hegel und Jakobs entscheiden. Er meint diesen Punkt offenlassen zu können, da sich nach beiden Ansichten „sowohl institutionelle wie individuelle Anerkennung fortwährend ereignen“, es lediglich eine Frage der Geltungslogik bleibe: Ist institutionelle Anerkennung Bedingung der Möglichkeit individueller Anerkennung oder umgekehrt.371 Für die Genese normativer Verhältnisse ist diese Weichenstellung aber nicht unwichtig. Insbesondere gilt dies dann, wenn aus ihr – über das Konstrukt der kognitiven Untermauerung – Schlüsse für die Notwendigkeit der Schmerzzufügung vorbereitet werden. Suchen wir also nach den Gründen, die Jakobs für den Primat der institutionellen Anerkennung vorbringt. Zunächst ist da das Bild der Schiffe, die nicht aneinander ankern könnten, sondern einen festen Ankergrund außerhalb ihrer selbst benötigen. Freilich bleibt das ein Bild. Die Funktion der Metapher des „vor Augen Führens“ ist zweifellos gelungen. Entfaltet sie aber auch einen legitimatorischen, zumindest plausibilisierenden Mehrwert? Polemsich könnte man schon bezweifeln, ob das Bild überhaupt das angepeilte Ziel nahe legt: Können nicht auch Schiffe gegenseitig an sich festmachen oder Verbindungsboote schicken? Oder: 367 368 369 370 371
Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Ich schließe mich hier der Wortverwendung von Kaiser an. Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 114.
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Sind es nicht die Schiffe, die den Anker werfen und damit den Ankergrund bestimmen – und nicht der Ankergrund, der die Position der Schiffe festlegt? Auch kann man schlicht fragen, ob die für die Metapher wesentliche Ähnlichkeit besteht: Wer sagt, dass sich die Akteure wie Schiffe zu einander verhalten – und nicht etwa wie Planeten, Häuser oder Autos, die allesamt nicht ankern müssen? Die Begründung der Priorität der institutionellen Anerkennung ist in der von Jakobs eindimensional angelegten Ausstattung des einzelnen Akteurs angelegt. Dieser kennt, wie wir oben sahen, nur seine eigene Welt. Der Einzelne wird dann zum Subjekt, wenn ihm eine neue Selbstbeschreibung gelingt, die das Ordnungsschema Rollenkonstanz/Ungebundenheit umfasst. Zu einem solchem Selbstbewusstsein kann er nicht allein kommen, „da ihm (. . .) alles, was in sein Bewusstsein kommt, als eigene Welt erscheinen muss, eben als eigene Lust oder Unlust, so dass der Hintergrund fehlt, vor dem sich die Eigenheit erst abheben könnte.“ 372 Das Selbstbewusstsein setzt also voraus, dass ein zweites Ordnungsschema hinzukommt. Und dies kann ein anderes Individuum nach Jakobs schlicht nicht leisten: „[D]ie bloße Entgegensetzung des einen Individuums gegen das andere führt zwar zu der Erkenntnis, dass die Welt aus mehreren Präferenzzentren besteht, belässt diese Erkenntnis aber innerhalb des Horizonts je eigener Lust und Unlust. Solange die Individuen sich selbst das Maß aller Dinge sind, können sie sich nicht begreifen, da sie zwar ein Ding, nicht aber das Maß vor dem Horizont von anderem (Es gibt für sie nur ein gültiges Maß!) zu sehen vermögen. Um zum Begreifen zu kommen, muss ein Maßsystem angewendet werden, das ein anderes ist als das zu begreifende. Nichts begreift sich im strengen Sinne selbst, sondern begriffen wird immer nur etwas vom Begreifenden Getrenntes, was nicht heißt, es könne nicht – abgesehen vom Begreifen – eine innige Verbindung bestehen. Bildhaft gesprochen: Wer nicht zwei (oder noch mehr) Seelen in seiner Brust weiß, kommt nie zum Selbstbewusstsein.“ 373
Der Mensch, der sich als eigenen Maßstab sieht, muss erst auseinanderdividiert werden, um sich begreifen zu können – gewissermaßen vom homo mensura zum homo dividuus umformiert werden. Dass die Division nicht ganz undramatisch abläuft, von „einführen“, „spalten“ und „zerreißen“ ist die Rede, stellt Jakobs zugleich klar: „Um Selbstbewusstsein zu ermöglichen, müssen (mindestens) zwei Schemata in ein und dasselbe, also in ein dann beide Schemata enthaltendes Bewusstsein eingeführt werden – konkret: Es geht um einerseits Lust/Unlust und andererseits (. . .) Pflicht/ Willkür. Selbstbewusstsein setzt das Bewusstsein der Differenz zwischen eigener Pflicht und eigener Lust voraus (. . .). Erst die Spaltung des Bewusstseins ermöglicht es, vor dem Hintergrund der Pflicht die Lust als anderen und doch eigenen Bewusstseinsinhalt auszumachen und vice versa.“ 374
372 373 374
Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 33 f. (H. i. O.).
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Es ist nötig, den Einzelnen „so zu zerreißen, dass innerhalb seines Bewusstseins der Hiatus entsteht, von dessen einer Seite aus die andere, und von dessen anderer Seite aus wiederum die eine betrachtet werden kann“. Erst dann entsteht ein Bewusstsein der Differenz zwischen eigener Pflicht und eigener Lust, eine Differenz zwischen Sollen und Wollen, ein Selbstbewusstsein. „Erst eine Ordnung, in der sie gebraucht werden, löst sie aus ihrer unbeschränkten Welt und gibt ihnen die Möglichkeit, sich auf allseits Verbindliches zu berufen.“ 375 Nachdem erst dem selbstbewussten Akteur, also der Person, Rechte zukommen, ist damit wie bei Hegel auch hier Rechts- und Personengenese verschränkt. Doch liegt hier der Entstehungsgrund nicht im wechselseitigen Anerkennen, sondern in der Anerkennung durch die Norm, der Zuordnung einer Rolle für die Erfüllung der Gruppenaufgabe. d) Zweifelhafte Zweiteilung Im Folgenden will ich einige Aspekte herausarbeiten, die diese Herleitung des Selbstbewusstseins, die Idee des Einführens eines anderen Bewusstseinsschemas,376 also die Idee der Notwendigkeit der Konstruktion einer zweiten Welt, bedenklich erscheinen lassen. aa) Verzauberte Sprachverwendung Da ist zum einen die Anwendung von Sprachspielen der äußeren Wahrnehmung auf innere Vorgänge. Das Bewusstsein müsse sich be-greifen, müsse sich von der jeweils anderen Seite sehen, müsse einen anderen Standort einnehmen, um sich selbst betrachten zu können, das Be-griffene müsse sich vom zu Be-greifenden unterscheiden. Derartige Übertragungen sind als metaphorische Sprache unschädlich, solange man ihnen keinen (verdeckten) legitimatorischen Wert zuerkennt. Sie können die Grundlage ästhetischer oder witziger Bemerkungen sein: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“ 377 oder „Brichst du mir das Herz, dann brech’ ich dir die Beine!“ 378. Solche Bemerkungen können treffend sein, und sie sind harmlos, solange man daraus nicht ableitet, dass der Philosoph eine Approbation, und der Enttäuschte eine Operation wegen einer Herzruptur benötigt. Mir scheint diese Gefahr des Missverständnisses zu existieren, wenn Jakobs mit derartiger Verwendung von Sprachspielen das Einführen einer zweiten Welt, eines zweiten Bewusstseinsschemas begründet. Es besteht das Risiko, dass man sich vom „Bild im Vordergrund“ in den Bann ziehen lässt, 375
Ebd., S. 34. Kaiser versucht, dieses Einführen des zusätzlichen Bewusstseinsschemas zu relativieren: Die Fähigkeit des anderen Bewusstseins, also dem von Pflicht/Willkür, bestehe immer schon, es fehlte nur an der Gelegenheit diese auszuüben. Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 114. 377 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), 2011, S. 150 (Nr. 255). 378 Ein Albumtitel von Olli Schulz und der Hund Marie. 376
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„der Sinn aber weit i[n] [den] Hintergrund“ gerät.379 Genauso wenig, wie mein Bewusstsein Muskelkater hat, eingerenkt werden muss, riecht, schmeckt oder austrocknet, ebenso wenig muss es sich haptisch begreifen in dem Sinne, dass Greifendes und Begriffenes verschieden sein müssten. bb) Anders auffangbare Intuitionen Aber sprechen nicht die von Jakobs erwähnten Vorstellungen von den zwei Seelen in der Brust sowie vom schwachen Fleisch und starken Geist für eine solche Bewusstseinsspaltung? Sind das keine bekannten Erfahrungen? Ich denke, dass zwar die Erlebnisse, die mit solchen Sprachspielen aufgefangen werden, durchaus existieren, und sich durch die Sprachspiele auch trefflich beschreiben lassen. Allerdings können sie und andere Intuitionen, die für die Zweiteilung zu sprechen scheinen, anders berücksichtigt werden, und zwar ohne die Genese einer zweiten Welt als unumgängliche Bedingung miterklären zu müssen. Ich denke dabei an das Phänomen innerpsychischer Konflikte (a), die Zurückweisung des cartesischen Zweiflers (b) und das Phänomen der Macht in der Anerkennungsbeziehung (c). Jedermann ist das Bild der „inneren Zerrissenheit“ (a) bekannt: „Mir steht der Sinn nach x, allerdings weiß ich, dass ich eher y tun müsste.“ Solche Denk- und Redeweisen sind Ausdruck von „Instanzenmodellen der Psyche“. Das Phänomen begegnet uns nicht nur in der Alltagssprache, sondern wurde auch seither theoretisch erfasst, wie etwa bei Platons Wagenlenker, der ein folgsames und ein begehrendes Pferd lenken muss, oder Freuds Ich-Konstruktion.380 Analytisch gesehen haben die personifizierenden Redeweisen von den Seelenteilen die Schwierigkeit, dass man noch angeben muss, wie ein innerpsychischer Konflikt beigelegt wird. Übernimmt dies ein überlegener Seelenteil (etwa logistikon oder Wille), bleibt die Frage unanalysiert, wie sich diese dritte Instanz zur Gesamtperson verhält.381 Auch wenn die personifizierende Rede von Seelenteilen meist unbedenklich ist,382 ist die zugrundeliegende Motivation dieser dramaturgischen Rolleneinführung die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme: „Betrachten wir (. . .) das Phänomen des Gewissens. Wenn wir Selbstgespräche moralischen Inhalts führen und dabei unser Gewissen als eigenen Sprecher auftreten las379 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), 2011, S. 205 (Nr. 422): „Woran glaube ich, wenn ich an eine Seele im Menschen glaube? Woran glaube ich, wenn ich glaube, diese Substanz enthalte zwei Ringe von Kohlenstoffatomen? In beiden Fällen ist ein Bild im Vordergrund, der Sinn aber weit im Hintergrund; d.h., die Anwendung des Bildes nicht leicht zu übersehen.“ 380 Keil, Über den Homunculus-Fehlschluss, Zeitschrift für philosophische Forschung, 57 (2003), S. 5 f. 381 Ebd., S. 21. 382 Nicht aber auch hier, wenn man mit der (verdeckten) Einführung eines homunculus z. B. reduktive Theorien stützen will.
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sen, muss dies nicht als Zerlegung unserer selbst in mehrere Teile aufgefasst werden. Eher vervielfältigen wir uns: Wenn man ein Alter Ego fingiert, versetzt man sich typischerweise in die Lage dessen, der man gern sein möchte, der man einmal war oder als der man gesehen werden will. Dieser Alter Ego ist kein Teil einer realen Person, sondern eine hypothetische ganze Person. Es ist eine Variation meiner selbst, und anders als in den Instanzenmodellen der Psyche findet hier keine Aufspaltung des psychischen Apparates statt, sondern wir aktualisieren als ganze Personen unsere Fähigkeit der Perspektivenübernahme.“ 383
Die Existenz psychischer Konflikte nötigt uns nicht dazu, psychische Instanzen zu postulieren. Eher haben Menschen konfligierende Wünsche, die als Handlungsdispositionen aufgefasst werden, zu denen die Person sich verhalten kann.384 Dazu brauchen wir in uns keine homunculi, die dann beide in der Sprache ihrer Orientierungsmuster bedient werden müssen, zu erschaffen. Ein anderes Problem, das von Jakobs durch die Einführung eines zweiten Bewusstseins implizit gelöst wird, ist das des cartesischen Zweiflers (b). Freilich geht es Jakobs bei der Einführung der zweiten Welt nicht um die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme, sondern darum, die Existenz zweier kategorial verschiedener Schemata zu plausibilisieren, die den Akteur als Einzel- sowie als Gruppenwesen orientieren. Doch erinnert die Unvollständigkeit der Welt des Individuums, das allein sich selbst sieht, an das Problem des cartesischen Zweiflers. Dieser hat nur Gewissheit über sich selbst. Über die Außenwelt, also auch über „fremde Ichs“ weiß er nichts. Wie Jakobs die Individuen beschreibt, erfassen sie tatsächlich alles in ihrem Wahrnehmungsschema und auch ein wahrgenommenes Bewusstsein des anderen bleibt letztlich eine Wahrnehmung in der eigenen Welt, bloße Natur. Jakobs konstruiert mit dem Individuum einen einsamen instrumentellen Akteur, der aus seiner monoperspektivischen Welt nicht heraus kann. Durch das Hinzukommen eines anderen Ordnungsschemas, das der Person (Pflicht/Willkür), werden die Akteure aber schlagartig miteinander verbunden, ihnen wird (extern) ein objektives Schema „eingeführt“. Jakobs durchschlägt damit einfach den Knoten eines solchen Zweifels, der dem Individuum womöglich kommen könnte. Es gibt laut der Norm, dem extern eingeführten Ordnungsschema, auch andere Personen. Es gibt also zweifellos andere Subjekte. Dem cartesischen Zweifler kann man jedoch auch weiterhelfen, ohne ihm extern ein Ordnungsschema einzuführen. Man kann ihn beispielsweise darauf verweisen, dass sein Einwand zwar nicht wiederlegbar, aber pragmatisch die Existenz anderer voraussetzt, weil er sich überhaupt nur im Medium der Sprache durchhalten lasse, welches wiederum notwendig nicht-privat sei.385, 386 Man muss so383
Ebd., S. 23 (H. i. O.). Ebd., S. 22. 385 Siehe das Argument zur Privatsprache, Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), 2011, S. 134 (Nr. 202). Der Zweifler könnte in seiner „privaten Sprache“ den Zweifel gar nicht fixieren, denn er könnte nicht sicher sein, dass er die den Zweifel 384
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mit auch nicht deswegen die Einführung einer zweiten Welt für erforderlich halten, um jenes Problem zu umschiffen. Die These der Priorität der institutionellen Anerkennung gewinnt auch vermeintlich deswegen an Plausibilität (c), weil man sich den Vorgang der Integration des Akteurs in die Gesellschaft vergegenwärtigt: Im Kontrast zur idealen Vorstellung eines Prozesses herrschaftsfreier Interaktion, also Verhältnissen symmetrischer wechselseitiger Anerkennung, beinhaltet die Integration des Akteurs faktisch Elemente der nötigenden Einpassung des Einzelnen in gesellschaftlich vorgeformte Strukturen.387 Man denke etwa an die Sozialisierung eines Kindes in die Welt der Normen. Dass dieser und andere Prozesse der Sozialisierung im Hinblick auf Normregulierungen insofern nicht ganz unzutreffend als „Einlassen eines Ordnungsschemas“ beschrieben sein dürften, verhält sich zur Frage nach den analytischen/theoretischen Bedingungen von Normativität jedoch neutral. Vielmehr könnte diese Beobachtung zur Frage herausfordern, ob sie auf einer normativen Ebene nicht affirmativ, sondern im Gegenteil herrschaftskritisch gewendet werden müsste.388 cc) Personalität von Gruppen Freilich ist es die eine Sache, zu bezweifeln, dass man ein externes Einführen eines zweiten Bewusstseins braucht, um die Einzelakteure zur Normativität zu bringen. Eine andere Sache ist es, positiv anzugeben, wie die Einzelakteure dazu beschreibenden „Worte“ richtig verwendet, vgl. zum Privatsprachenargument Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004, S. 55. 386 Vgl. zu dem mindestens in der Auflösung – nämlich der tentativen Unmöglichkeit, den Zweifel formulieren zu können – ähnlichen Problem der eigenpsychischen Skepsis vgl. Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 49 (mit Verweis auf Donald Davidson): „[F]ür jeden Bezirk unseres möglichen Wissens gilt, dass es uns, je mehr Irrtümer wir uns (oder anderen) zuschreiben, immer schwerer fallen wird zu sagen, mit Bezug auf was wir uns (oder die anderen sich) überhaupt im Irrtum befinden sollen.“ 387 Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, 1998, S. 323 ff.; in diese Richtung geht auch das, was Hegel mit der Sphäre der Sittlichkeit beschreibt: Wir befinden uns mit der sittlichen Substanz, d.h. zu den Institutionen und Regeln als solchen, zunächst in einem „reflexionslosen Eins-Sein mit dem Vorgegebenen“, sodann in einem proto-reflexiven Verhältnis von Glaube und Zutrauen. So die Analyse zu Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 294 f. (§ 146 f.) bei Bung, Grundlinien der Grundlinien, 2017, Abschnitt: Vorgängige Praktiken, Gewohnheit, Vertrauen, Institutionen („Sittlichkeit“). 388 So verstehe ich Müller-Tuckfeld, der zwar von der analytischen Richtigkeit des Vorrangs der gesellschaftlichen Konfiguration des Subjekts ausgeht – insofern Jakobs zustimmt, vgl. Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, 1998, S. 334 ff. –, aber für einen „normativen, konstruktivistischen Liberalismus“ plädiert. Auf die Sphäre des Strafrechts übertragen bedeute das, dass das Strafrecht als Institution verbindlichen autoritären Moralisierens eine integrative Funktion erfüllt, und das durchaus effektiv; gerade deswegen müsse sich eine anti-autoritäre liberale Strafrechtsmoral entwickeln. „Integrationsprävention als Theorie der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts steht so gegen Integrationsprävention als Legitimation des Strafens.“ (Ebd., S. 363 f.).
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kommen können. Dazu muss man sich noch genauer ansehen, was Normativität bedeutet, und wie der lift off der Akteure ohne Einführung einer zweiten Welt gelingen könnte.389 An dieser Stelle will ich mich damit begnügen, noch einen Aspekt anzusprechen, der mir die Zweiteilung mysteriös erscheinen lässt. Es handelt sich um das Konstrukt der Gruppe in Relation zu anderen Gruppen.390 Nach Jakobs befindet sich die Gruppe in einer dem Individuum ähnlichen Lage, auch sie muss also zu Selbstbewusstsein kommen. Das kann sie nur, „wenn sie sich gegen sich selbst stellt (. . .), was heißt, wenn sie nicht nur von bestimmter Gestalt ist und diese stabilisiert, sondern es auch als ihre – wie auch immer begründete – Aufgabe versteht, am Fortgang (nicht gemeint ist: Fortschritt) der Geschichte mitzuwirken“.391 Wie das Individuum benötigt sie eine Aufgabe. Sonst, so könnte man analog zur individuellen Sphäre ergänzen, komme sie nicht aus ihrer eigenen Welt heraus. Unklar bleibt hier freilich, wie das Finden der Aufgabe gelingt („wie auch immer begründet“). Analog zum Individuum müsste man an eine externe Einführung eines anderen Ordnungsschemas denken. Wer gibt den Gruppen eine Aufgabe? Es müsste eine Norm sein, die die Gruppe als selbstbewusstes Subjekt begründet. Wer soll sie setzen und den Gruppen ihre Rollen zuweisen? Etwa die Geschichte? Und macht es Sinn, die aus binnenselbstbewussten Einzelakteuren bestehende Gruppe als nicht-selbstbewusst anzusehen? Diese Überlegungen tragen nicht dazu bei, dass die Zweiteilung der Welt plausibler erscheint. Die Zweiteilung erscheint also insgesamt künstlich erzeugt, die sie nahelegenden Intuitionen sind anders auffangbar, einige Fragen bleiben offen. Das Argument der kognitiven Untermauerung qua Notwendigkeit führt damit nicht nur zu einer bedenklichen Stellung des einzelnen Akteurs, sondern beruht auch auf einer zweifelhaften Zweiteilung der Welt. 5. Der Einzelne, die Schuld und Fichte Auch unabhängig von der Frage, ob man die Spaltung der Welt nun akzeptiert oder nicht, gibt es, so denke ich, Gründe dafür, die Stellung des Einzelnen aufzuwerten. Zum einen spricht dafür ein assoziativer Vergleich mit dem funktionalen 389 Dass die ursprüngliche Normativität, die Jakobs hier entwickelt, bereits in der Struktur unseren sprachlichen und sozialen Interkationen liegen könnte, deutet Bung mit Verweis auf Robert Brandom an, s. Bung, Wissen und Wollen, 2009, S. 28 f. Brandoms Vorstellung von dem Ursprung von Normativität wird unten nachgegangen (s. C. II.). 390 Jakobs behandelt dieses Phänomen bei der Frage nach der Möglichkeit eines Universalstaates, vgl. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 128 ff. 391 Ebd., S. 128 f. Fortsetzung des Zitats: „einem Fortgang, der sich gegen ihre eigene Gestalt richten kann und auf Dauer richten wird, da diese Gestalt als eine Einzelheit in dem umfassenden geschichtlichen Prozess nur ein vorübergehendes Moment bildet. Eine Gruppe, die nur in sich selbst ruht, hat mangels Aufgabe so wenig Selbstbewusstsein wie ein reines Individuum; dies gilt auch für eine Universalgruppe.“
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Schuldbegriff, zum anderen eine Figur, die den Einzelnen zur kognitiven Untermauerung befähigt. Beginnen wir mit dem Konstrukt der Schuld: In gewisser Weise besteht eine Parallele der erwähnten strafbegründenden Schadensersatzmetapher zu Jakobs’ früherer Auffassung von der Schuld als Derivat der positiven Generalprävention. Nach dieser Theorie Jakobs’ sollte die Zuschreibung von Schuld dann stattfinden, wenn dies aus Perspektive der gesellschaftlichen Ordnung392 die Enttäuschung des Vertrauens in die Geltung der Verhaltensnormen, die durch den Normbruch eintrat, sinnvoll verarbeite.393 Die Enttäuschung sollte aber auch auf andere Weise als die der Schuldzuschreibung bewältigt werden können: Mechanismen hierfür wären, den Normbruch als zufälliges Ereignis oder als Verhalten eines Schuldunfähigen zu definieren. Die Schuldzuschreibung war also nach Jakobs’ Auffassung als ein mehr oder weniger austauschbares Mittel zur funktionalen Verarbeitung einer Erwartungsenttäuschung zu verstehen.394 Diesbezüglich wurde kritisiert,395 dass die strafrechtlichen Reaktionsmodi (Täterzuschreibung, Schuldunfähigkeit, Zufallszuschreibung) wohl nicht, wie suggeriert, beliebig funktional austauschbar seien. Denn auch nach den Voraussetzungen von Jakobs’ eigener Theorie folge die Zurechnung letztlich dem Primat vorpositiver Zurechnungsregeln: In den Fällen von Zufall oder Schuldunfähigkeit liege nämlich bereits keine zu bewältigende Enttäuschung des Normgeltungsvertrauens vor – denn in derartigen Konstellationen werde der Apell der Verhaltensnorm offensichtlich gar nicht infrage gestellt. Es komme demzufolge – auch bei Jakobs Theorie – für die Frage der Schuld nicht darauf an, welcher Erledigungsmodus eine Enttäuschung aus Gesichtspunkten des Systemerhalts effektiv beseitigt, sondern auf die Frage, ob überhaupt eine Enttäuschung des Normvertrauens im Raum steht. Und eine solche Enttäuschung setze eben voraus, dass dem Akteur die Tat als eine von ihm zu verantwortende zugeschrieben wird.396 Kurz: 392 „Es geht nicht primär um Sozialisierung oder Abschreckung des Täters oder anderer, sondern um Generalprävention im Sinne der Garantie derjenigen Erwartungen, deren Enttäuschungsfestigkeit die Ordnung zu ihrem Erhalt braucht.“ Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 24 (Hervorhebung entfernt). 393 Die Vorstellung, dass es wesentlich um systemverträgliche Enttäuschungsverarbeitung durch Sanktionen oder eben „funktional äquivalente Strategien“ geht, bezieht Jakobs von Luhmann (vgl. etwa ders., Rechtssoziologie 1, S. 53 ff., insbes. 61). 394 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 25 mit Verweis auf Luhmann, Rechtssoziologie 1, 1972, S. 58; eine detaillierte Analyse zum durch die Theorien der positiven Generalprävention begründeten Schuldbegriff findet sich bei Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 37 ff., zum hiesigen Gedanken insbes. S. 71 ff. 395 Maßgeblich Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993. 396 Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, 1993, S. 86 f.: Wenn nach Jakobs die Schuldzuschreibung als Inanspruchnahme für die Beeinträchtigung der Normanerkennung fungieren soll, sei das nur dann plausibel, „wenn die Verantwortlichkeit des Täters auf ,angemessene‘ sozialpsychologische Reaktionen [Dritter] begrenzt [wird]“. Zurechnen zu dürfen, erfordere dann jedoch, dass die Normadressaten dem Tä-
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Nicht der effektive Modus der Erledigung des enttäuschten Normvertrauens bestimmt, ob zugerechnet wird, sondern die Entscheidung über die Zurechnung bestimmt, ob überhaupt eine Enttäuschung des Normvertrauens besteht. Noch anders: Nicht die funktional beste Enttäuschungsverarbeitung entscheidet über Bejahung oder Verneinung von Schuld, sondern die nach dem Prinzip der Verantwortlichkeit erkannte Schuld legt fest, ob überhaupt eine Enttäuschung existiert – und damit eine Notwendigkeit, diese dadurch zu verarbeiten, dass die Tat dem Akteur als schuldhafte zugeschrieben wird.397 Was hat das mit der Strafbegründung zu tun? Was ich damit meine, ist, dass in beiden Fällen, dem der Schuldkonzeption wie dem der Strafbegründung, der einzelne Akteur bei Jakobs hinter den Systemerhalt zurückzutreten scheint. Sowohl bei der Frage der Zurechnung (Schuld als Derivat der Erhaltung des Normvertrauens) als auch der Strafbegründung (kognitive Untermauerung der Normgeltung durch Strafschmerz) ist die Behandlung des einzelnen Akteurs einzig als Mittel zum Erhalt der normativen Orientierung, die nicht an den einzelnen Akteur rückgebunden ist, von Relevanz. Wie mit dem Subjekt zu verfahren ist, ergibt sich aus der gesellschaftsperspektivisch optimalen Bewältigungsstrategie des Vertrauen störenden Geschehens. Bei der Frage der Schuld zeigte sich jedoch durch die Rückführung an die vorpositiven Zurechnungsregeln, dass überzeugenderweise das Verständnis als verantwortlicher Akteur der Fixpunkt für die Wahl der Reaktion, der Erhalt des orientierenden Systems hingegen bloß deren Reflex ist.398 Die Zurechnungsüberterverhalten „in gewisser Weise ,zu Recht‘ eine Vorbildfunktion für ihre eigenen moralischen Überzeugungen“ beimessen. Und diese normative Einschätzung, ich verkürze hier, verweise auf die Regeln vorpositiver Zurechnung, falle daher nur dann positiv aus, wenn das Tatgeschehen als selbstbestimmter Akt des Täters verstanden wird. Liegt kein solcher Selbstbestimmungsakt vor, dann würden die beobachtenden Akteure das Tatverhalten gar nicht zum Anlass nehmen, den Realitätsgehalt ihrer Erwartungen zu hinterfragen, bzw. ihre nutzenmotivierte Bereitschaft zu normkonformen Verhalten überhaupt nicht überdenken. Mangels Selbstbestimmungsakt des Täters ist gar keine Enttäuschung ihrer Erwartungen eingetreten. Vgl. zu Frister die Analyse von Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 72 ff. und der Suche nach einem normativen Begründung für die individualisierende Zurechnungspraxis ebd., S. 74 ff. 397 Mit dem Verweis auf vorpositive Zurechnungsregeln ist deren Herkunft und ihre normative Begründung noch ungeklärt (Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 75 f.). Günther argumentiert, die Regeln individualisierender Zurechnung würden bereits der Grammatik des verständigungsorientierter Sprachverwendung innewohnen (ebd., S. 78 f.). „Indem die Teilnehmer eines Diskurses sich mit ihren Äußerungen wechselseitig auf die Kritikfähigkeit des jeweils anderen beziehen, müssen sie einander bereits als autonome Teilnehmer anerkennen.“ (Ebd., S. 78). Wie die Zurechnungsregeln auszugestalten sind, müsse durch die Teilnehmer selbst festgelegt werden, indem diese (mit dem Schuldbegriff) „Verantwortung dafür übernehmen, wie sie einander Verantwortung zuschreiben.“ (Ebd., S. 256). 398 Was nicht heißt, dass die Vorstellung der Verantwortlichkeit fixiert wäre – ganz im Gegenteil müssen die Akteure über sie nachdenken und über sie entscheiden (s. Günther in B. Fn. 397).
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legung lautet also „wenn der Akteur als Verantwortlicher behandelt wird, wird die Orientierung an Normen erhalten“, und nicht: „die Orientierung an Normen ist zu erhalten; ein Mittel hierfür ist die Behandlung als verantwortlicher Akteur“. Es liegt nun nahe, diese Erwägung auch auf das Konzept des Strafens zu übertragen: Statt „das Normvertrauen muss erhalten werden, wofür ein funktionales Mittel das Bedienen von Person (normativen Akteur) und Individuum (lustgesteuertem Wesen) ist“, sollte gelten: „Der Akteur muss als verantwortlicher Akteur behandelt werden; dadurch wird Normvertrauen erhalten.“ Wenn dies auch ein wichtiger Perspektivenwechsel ist, so wäre damit wenig darüber ausgesagt, was es bedeutet, jemanden als verantwortlichen Akteur zu behandeln.399 Hier könnte ein Konzept weiterhelfen, das Jakobs vormals im Blick hatte. Obwohl er in der jüngsten Auflage die Absicht hat, die Kopplung der Welten (kognitiv/normativ) durch das Medium der kognitiven Untermauerung prononcierter herauszustellen,400 bleibt eine Figur, die zu dieser Stoßrichtung passen würde, im Gegensatz zur Vorauflage, unerwähnt. Es handelt sich um Fichtes Gedanken eines Abbüßungsvertrages.401 Nach Fichte verliert der Täter „alle seine Rechte“, weil er durch das Verbrechen den „Bürgervertrag“ verletzt.402 Jedoch könne der Normbrecher, so Fichte,403 durch einen Abbüßungsvertrag dem Ausschluss aus der Gesellschaft entgehen.404 399 Analog zur Antwort auf die Frage, für welche Akte wir einander Verantwortung zuschreiben wollen (s. Günther in B. Fn. 397), verläuft auch die Antwort auf die Frage, wie wir miteinander umgehen wollen, wenn wir einem von uns Verantwortung zugeschrieben haben: Es liegt in unseren Händen. Siehe dazu C. insgesamt. 400 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 5 f. (Vorwort). 401 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 101 f. 402 Bei Fichte heißt es: „Wer den Bürgervertrag in einem Stücke verletzt, sei es mit Willen, oder aus Unbedachtsamkeit, da, wo im Vertrage auf seine Besonnenheit gerechnet wurde, verliert der Strenge nach dadurch alle seine Rechte als Bürger und als Mensch, und wird völlig rechtlos.“ Fichte, Grundlage des Naturrechts (1798), 1962, S. 264. Vgl. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008, S. 110 (= 2. Aufl. 1999, S. 101). 403 Der Täter verwirkt grundsätzlich durch das Verbrechen das Bürgerrecht. Allerdings kann im Fall des nur „materialiter bösen Willens“ (wenn es dem Täter bloß aus Eigennutz handelt, oder unbesonnen ist) ein Abbüßungsvertrag stattfinden, indem sich der Täter der Strafe „gleichen Verlustes“ unterwirft. (Fichte, Grundlage des Naturrechts (1798), 1962, S. 265 ff., insbes. 268). Aber auch dem mit formal bösen Willen (wenn es dem Täter gerade auf die Schädigung ankommt), ist die Strafe der Ausschließung nicht zwingend: „[E]s ist nicht schlechterdings notwendig, daß der Verbrecher in diesen Gesinnungen verharre. Es ist sonach wohl möglich, daß ein zweiter Vertrag über die Abbüßung, der für die Gegenwart ohne allen Zweifel für rechtlich zu erkennenden Ausschließung errichtet werde, des Inhaltes: Alle versprechen allen, ihnen Gelegenheit zu geben, sich des Lebens in der Gesellschaft wieder fähig zu machen, wenn sie desselben für die Gegenwart unfähig befunden werden; und, was in diesem Vertrage mit liegt, sich nach erfolgter Besserung wieder unter sich aufzunehmen. – Ein solcher Vertrag ist willkürlich und wohltätig: aber er kommt allen zustatten, und der Verbrecher erhält sonach durch ihn ein Recht auf den Versuch der Besserung.“ Ebd., S. 276 (H. i. O. als Sperrdruck). Vgl. zum Abbüßungsvertrag bei Fichte, auch auf dessen Spannung zur Rechts-
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Neben anderen Kritikpunkten hatte Jakobs in der Phase der Vorauflage, in der der Strafschmerz als Objektivierung der normativen Botschaft gerechtfertigt wurde, an dieser Lösung bemängelt, dass der Abbüßungsvertrag nicht auf die Wirklichkeit der Norm (die Desorientierung zu beseitigen), sondern lediglich auf Gütersicherheit ziele und daher die Frage der Strafrechtfertigung verfehle.405 Dieses Institut des Abbüßungsvertrages erwähnt Jakobs in der dritten Auflage nicht mehr. Aber wäre – soll doch im Gegensatz zur Vorauflage der Zusammenhang der normativen und der kognitiven Lage für die wirkliche Orientierung durch normative Institutionen verstärkt herausgestrichten werden – ein solcher auf Gütersicherheit abzielender Abbüßungsvertrag nicht gerade eine genuine Beruhigung der Individuen, eine (kognitive) Untermauerung der Wirklichkeit der Norm? Müsste Jakobs folglich nicht selbst, eben wegen der verstärkten Koppelung der Welten, zu einer Aufwertung der individuellen Äußerungsformen, die dann eben die normative Welt sichern, gelangen? Auch die strafbegründende Metapher des Schadensersatzes würde hier noch mehr Sinn ergeben. 6. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Jakobs’ erste Rechtfertigung für den Strafschmerz als die notwendige Gegen-Objektivierung zum objektivierten Verbrechen zu seiner Vorstellung von der Strafe als Widerspruch auf Bedeutungsebene in Spannung steht: Widersprochen werden kann mit Worten. Nunmehr vertritt Jakobs, den kommunikativen Widerspruch ergänzend, eine am Opfervertrauen orientierte Abschreckungstheorie. Diesbezüglich ist die Legitimität des Strafschmerzes zunächst lediglich behauptet, die Vorstellung des intellektuellen Schadensersatzes, auf die sich Jakobs bezieht, ist deutungsoffen. Das zentrale, den Strafschmerz begründende Konzept der kognitiven Untermauerung des Widerspruchs gegen die Tat ruht, so haben wir schließlich gesehen, auf einer Zwei-Welten-Hypothese, einer Unterteilung in die kognitive Welt der Individuen und eine normative Welt der Personen. Diese Hypothese ist nicht unproblematisch. Zum einen lässt sie das Individuum unterbelichtet – oder genauer: Der Mechanismus der kognitiven Untermauerung erscheint nur deswegen plausibel, weil sie das Individuum unterbelichtet lässt. Denn die normative Ebene gibt, folge der absoluten Rechtslosigkeit hinweisend, Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, 1981, S. 109 ff.; Mohr, Recht als Anerkennung und Strafe als „Abbüßung“, in: Merker/Mohr/Quante, Subjektivität und Anerkennung, 2004, S. 253 ff. 404 Daran, dass Fichtes Konzept der völligen Rechtlosigkeit die Verhinderungsmöglichkeiten der Ausschließung gegenüberstehen, erinnert (mit Verweis auf Zaczyk) – freilich in der Diskussion um das sog. Feindstrafrecht – auch Arnold, Entwicklungslinien des Feindstrafrechts in 5 Thesen, HRRS 2006, S. 304 f. 405 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl. 1999, S. 101. Man behandle ihn nicht als Person, sondern wolle ihn lediglich wegen seiner Nützlichkeit für die Gesellschaft erhalten (ebd.).
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so wie sie von Jakobs gezeichnet wird, nicht viel her, wenn es um die Steuerung von Individuen geht. Die Theorie der kognitiven Untermauerung rechtfertigt sich gewissermaßen selbst, indem sie das Problem löst, das durch die Behauptung einer Zweiteilung erst geschaffen wurde. Zum anderen kann man meines Erachtens mit guten Gründen bestreiten, dass die einzelnen Akteure originär unfähig sind, zu normativen Verhältnissen zu gelangen. An dieser Stelle ging es darum, die Zwei-Welten-Hypothese insofern infrage zu stellen, als dass vermeintliche Stützpfeiler (Sprachverwendung, Intuitionen) jedenfalls nicht tragen. Und selbst wenn die von Jakobs präsentierte Zweiteilung überzeugen sollte, legen dessen eigene Bemühungen um eine Wiederannäherung der Welten es nahe, so habe ich abschließend angedeutet, die Stellung des einzelnen Akteurs zu stärken. Jakobs’ Theorieentwurf ist bemerkenswert und leuchtet über weite Strecken ein: So entwickelt er eine kommunikationsbasierte Straftheorie, deren zentrales Element darin besteht, der Tat, die die Normgeltung infrage stellt, zu widersprechen. Das hiermit verfolgte Ziel, die Orientierungsleistung der strafrechtlichen Normen aufrechtzuerhalten, ist überzeugenderweise die vornehmliche Aufgabe des Strafrechts. Des Weiteren macht Jakobs anschaulich, dass wir in einer maßgeblich normativen Welt leben, in der Gruppen- mit Einzelinteressen zu vermitteln sind. Gelingt dies nicht, bleibt es bei einer Welt atomistischer Akteure, die die Handlungen der anderen Akteure nur als Umwelt betrachten, und folglich miteinander nicht normativ, sondern rein kognitiv verfahren. In Anlehnung an Hegel verknüpft Jakobs das Entstehen von Normativität mit dem Entstehen eines selbstbewussten Akteurs und stellt insofern überzeugende Überlegungen gegen die „Vorstellungswelt liberaler Robinsonaden [an], in der das Individuum immer schon Subjekt ist und jenseits der Beziehungen zu anderen Subjekten und jenseits aller Institutionen gedacht wird“ 406. Worüber man mit Jakobs jedoch zu diskutieren wäre, ist die These, dass es bei der Genese von Normativität an erster Stelle um eine institutionelle Anerkennung geht und diese nicht erst sekundär (oder zumindest simultan) zur von den Individuen selbst geschaffenen Normativität als Verfestigung ihrer Verhaltenspraxen entsteht.407 Träfe Jakobs’ These zu, wäre die Annahme, dass der einzelne Akteur stets auf den beiden Ebenen (Gruppenaufgabe; Individualinteresse) in ihren separaten Kommunikationsmedien (Wider406 So über Hegels Kritik an liberalen Positionen Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, 1998, S. 300. 407 So bereits Seelmann, Anerkennung, Person, Norm, in: Pawlik/Zaczyk, Jakobs-FS, 2007, S. 640 ff. Siehe auch Bung, Zum partikularen, reziproken und kollektiven Charakter normativer Statuspositionen, RphZ 2017, S. 13: [D]ie vertikale Organisation der Gesellschaft (. . .) [ist] einzig und allein über die Aufgabe legitimiert, das ursprüngliche horizontale Anerkennungsverhältnis zu stabilisieren.“ Die Bindung der Pflichten, die sich gegenüber der Gesellschaft ergeben, gründe – so Bung in Exegese von Rousseaus Contrat social – in der reziproken Anerkennung der Akteure als Freie und Gleiche.
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spruch; Schmerz) anzusprechen ist, um einiges plausibler. Diesbezüglich habe ich versucht, Ungereimtheiten aufzuzeigen.
V. Die Pflicht zur Mitwirkung am gemeinsamen Projekt der Freiheit (Michael Pawlik) 1. Die Sekundärpflicht des illoyalen Bürgers Auch Michael Pawliks Vorstellung der Strafe kann so verstanden werden, dass Strafe der Aufhebung des intellektuellen Schadens, den der Täter anrichtete, dient. Zentral sind ihm die Rückbindung der Strafrechtfertigung an das gemeinsame Projekt der Freiheit sowie der retributive, vergangenheitsbezogene Charakter der Strafe. Pawlik beginnt daher – als Komplement zu Hoersters Herangehensweise auffassbar – mit der Kritik der zukunftsgerichteten präventiven Theorien: Der Gedanke, dass Strafe an die Einsicht appellieren und integrativ wirken soll, könne höchstens als rechtssoziologisches Rahmenkonstrukt herhalten, da er offenlasse, auf welche Weise die Integration zu erreichen ist, also zur Frage, wie Strafe zu verstehen ist, in problematischer Weise beliebig bleibt.408 Wolle man dagegen Strafe mit ihrer Abschreckungswirkung begründen, würde das zwar die Interessen der Nicht-Täter befriedigen, den Tätern aber die kommunikative Gleichheit absprechen, sie insofern instrumentalisieren.409 Führte man jedoch zusätzliche Anforderungen der Fairness ein, so gäbe man die präventive Prämisse der Zukunftsgerichtetheit auf. Dann nämlich würde der in der Vergangenheit liegende Fairnessverstoß bestraft, die Position mithin in eine retributive münden.410 Eine solche retributive, auf die kommunikative Gleichheit abstellende Begründung, will Pawlik, ausgehend von dem Gedanken, dass Strafe den Zustand der Rechtlichkeit restituiert, nun liefern.411 Er parallelisiert seine straftheoretische Überlegung mit einer staatsphilosophischen: Die Existenz des Staates lasse sich nicht mit dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit legitimieren, welches lediglich bestehende Rechtsbeziehungen ordne. Vielmehr müsse man für seine Existenzberechtigung darauf verweisen, dass der Staat Freiheit erst ermögliche.412 Ebenso könne die Existenz der Institution der Strafe nicht auf rein gerechtigkeitstheoretische Überlegungen gestützt werden, sondern müsse sich als 408
Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 40 ff. Ebd., S. 25 für die negative Generalprävention, S. 34 f. für die negative Spezialprävention. 410 Ebd., S. 26. 411 Ebd., S. 55. Pawliks Ansatz begrüßend Erber-Schropp, Schuld und Strafe, 2016, S. 76 ff., die dessen Kombinierbarkeit mit Präventionsüberlegungen betont (ebd., S. 81 f.). 412 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 55 f. 409
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„staatliche Veranstaltung“ an denselben Maßstäben messen lassen, welche den Staat als legitim ausweisen.413 Es muss demnach nachgewiesen werden, dass die Strafe einen „unverzichtbaren Beitrag zur Erfüllung der Aufgabe leistet, die Freiheit der Bürger zu befestigen“.414 Dies sei dann der Fall, wenn die Strafe der Wiederherstellung des „Zustand[es] einer rechtmäßigen Freiheitsverteilung“ 415 dient.416 Ähnliche Versuche, an die Wiederherstellungsfunktion der Strafe anzuknüpfen, hätten sich in ihrem Begründungsvermögen als zu kurz erwiesen: Wer etwa die Wiederherstellung als sozialpsychologischen Vorgang interpretiert, also als Beseitigung des Schadens an psychischen Phänomenen wie Stimmungen und Gefühlen,417 scheitere jedenfalls daran, dies als „exklusive Leistung der Strafe“ zu beschreiben.418 Wer hingegen den Wiederherstellungsprozess kommunikationstheoretisch deute, lasse im Unklaren, warum die Schmerzzufügung mehr als nur konventionelles Symbol sein soll – deshalb gehe auch Jakobs’ früherer Vorschlag der Objektivierung des auf die Tat folgenden Widerspruchs fehl.419 Auch Interpretationen der Strafe als Wiederherstellung einer Anerkennungsbeziehung blieben einem Begründungsmodell verhaftet, das allein die Verletzung der intersubjektiven Beziehung erfasse, und wären daher weder in der Lage zu erklären, weshalb der materielle Schadensersatz nicht genügt, noch würden sie plausibilisieren, weshalb es der über-intersubjektiven Staatsstrafe bedarf.420 Pawlik will dagegen zeigen, warum gerade die Kriminalstrafe das Mittel ist, den Zustand der rechtmäßigen Freiheitsverteilung wiederherzustellen. Dazu beginnt er mit einer Rekonstruktion des Unrechts als dreigliedriger Anerkennungsverletzung. „In lockerer Anknüpfung an die Terminologie Hegels“ 421 interpretiert er das Verbrechen kumulativ als Unrecht der Person, des Subjekts und des Bür413 Ebd., S. 57; vgl. zu der Verbindung von Strafrechtsrechtfertigung und neuzeitlicher Staatsbegründung mit Bezug auf Kant auch Kersting, Zur philosophischen Begründung der Strafe, in: Gander u. a., Bausteine zu einer Ethik des Strafens, 2008, S. 42 ff. 414 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 57. Zur Vorstellung von Strafe als Rechtsinstitut, also dem Zusammenhang von Strafe und freiheitlicher Rechtsbegründung s. auch Zaczyk, Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten „Inselbeispiel“ in Kants Metaphysik der Sitten, in: Landwehr, Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, 1999, insbes. S. 76 ff. 415 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 57. 416 Der Unterschied zwischen präventiven und retributiven Theorien reduziere sich damit darauf, die „erhaltungswürdigen Merkmale“ dieser zu erhaltenden Ordnung „auf den Begriff zu bringen“: Optimale Interessenswahrung oder Stabilisierung des wechselseitigen Respekts, ebd., S. 57 f. 417 Ebd., S. 60 mit Blick auf Theodor Welckers Konzeption des intellektuellen Verbrechensschadens; zu diesem s. o. B. IV. 3. b). 418 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 66. 419 Ebd., S. 68. Vgl. ausführlich zu dieser Vorstellung B. IV. 2. 420 Ebd., S. 69 ff., insbes. mit Blick auf Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 47 ff. 421 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 75. Pawlik bezieht sich auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts.
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gers. Die erste Weise, die durch das Strafrecht geschützte Freiheit zu beschreiben, sei das Handlungspotential, das aus der „Inhaberschaft an meinen Rechtsgütern erwächst“ 422. Unrecht der Person sei somit der objektiv zurechenbare Eingriff in das rechtliche Handlungspotential. Das Subjekt als zweite Thematisierungsstufe schaffe sich aus den zerstreuten Einzelhandlungen einen sinnhaften Zusammenhang, eine „biographische Identität“.423 Werde dieser konkrete Lebensentwurf in einer (auch) subjektiv zurechenbaren Kundgabe missachtet, sei dies ein Unrecht des Subjekts. Das Subjekt setzte aber – im Gegensatz zum Bürger als der dritten Stufe – noch „die institutionellen Ermöglichungsbedingungen seiner Freiheit als selbstverständlich voraus“, sei insofern eine „gewissermaßen parasitäre Existenzform“, da es sich der Kosten der Freiheitsordnung nicht hinreichend bewusst sei.424 Erst der Bürger sei Adressat und „Mitträger“ 425 der Rechtsordnung. Zu den Ermöglichungsbedingungen der Freiheit gehöre zwar, dass der Bürger „mit gewissen Lebensgütern“ und dem Zugang zu staatlichen behördlichen Leistungen ausgestattet ist. Von „fundamentalerer Bedeutung“ für den Freiheitszustand sei jedoch die „Loyalität der Bürger gegenüber der Rechtsordnung“.426 Denn das Intervenieren durch Gerichte oder Behörden müsse schon aus Gründen der Kapazität auf seltene Fälle begrenzt bleiben. Der Bürger könne zwar nicht gezwungen werden, seine Pflichten aus loyaler Haltung zu erfüllen. Pflichtgemäßes Handeln sei von ihm jedoch zu erwarten. Zudem könne man loyales Verhalten als Obliegenheit verstehen, was erlaube, „an ein Verhalten, das den Eindruck der Illoyalität erweckt, Rechtsnachteile (. . .) zu knüpfen“.427 Durch die bürgerliche Stufe ließe sich nunmehr die Existenz einiger Straftatbestände rechtfertigen, die auf den vorherigen Stufen nicht thematisierbar waren, namentlich die unterlassene Hilfeleistung und Delikte gegen die Allgemeinheit. Auch die Delikte gegen Individualrechtsgüter würden durch die Stufe bürgerlichen Unrechts eine tiefere Bedeutung erfahren: „Der Bürger (. . .) trifft demnach eine vorwerfbare Entscheidung nicht nur gegen den Anerkennungsanspruch seines konkreten Opfers, sondern auch gegen die ,mächtige Friedensbürgschaft der Rechtsordnung‘[.]“ 428 Auch Delikte, die Individualbelange schützen, 422
Ebd., S. 77. Ebd., S. 78 (H. i. O.). 424 Ebd., S. 82. 425 Ebd. 426 Ebd., S. 83 (H. i. O.). Zur in der Freiheit der Bürger gründenden Mitwirkungspflicht vgl. Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 107. 427 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 84. So könne sich etwa der Bürger, zumal es ihm obliege, sich die nötigen Rechtskenntnisse zu besorgen, nicht auf den Verbotsirrtum berufen. Dieses Obliegenheitsmodell will Pawlik auch für die Dogmatik der Zurechnung insgesamt fruchtbar machen (ebd., S. 84 f.). Siehe die umfassende Umsetzung dieses Programms in Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012. 428 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 86. Das Zitat stammt von Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band 1: Normen und Strafgesetze (4. Aufl. 1922), 1965, 423
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seien „unter dem Gesichtspunkt des Rechts niemals nur eine Angelegenheit der unmittelbar Beteiligten (. . .), sondern stets auch Aufkündigungen der bürgerschaftlichen Loyalitätspflicht“.429 Pawlik fragt nun, wie dieses Unrecht des Bürgers angemessen zu beantworten sei. Materieller Schadensersatz liege nahe, erfasse jedoch lediglich das Ausgleichsinteresse des konkreten Opfers, nicht aber die verletzte Loyalitätspflicht.430 Indem die Kriminalstrafe dagegen von konkreten Opferbelangen abstrahiere, zeigt sich ihr „,überindividuelle[r]‘ Charakter“.431 Sie sei also gerade keine Einbuße, die zugunsten des Verletzten erfolgt. Würde man sich auf die interpersonale Dimension rechtlicher Konflikte versteifen, könne dieser „überpersonale Charakter der Strafe“ bedenklich erscheinen. Mit Blick auf die Loyalitätspflicht würden sich diese Vorbehalte allerdings verflüchtigen.432 Von einem Bürger werde erwartet, in seinen Handlungen die Loyalität gegenüber einer Daseinsordnung rechtlicher Freiheit auszudrücken. Diese Freiheits- und Friedensordnung bedürfe der Mitwirkung aller Bürger, Loyalität sei ihr Preis. Nun zum Unrecht der Straftat: „Der ein Unrecht begehende Bürger kündigt für seinen Teil diese Konnexität auf; er suggeriert, es sei möglich, die Vorteile (. . .) zu genießen, ohne sich die Selbstdisziplin aufzuerlegen, deren es zur verläßlichen Erfüllung der Loyalitätspflicht bedarf.“ 433 Durch die Verletzung wandle sich – das ist nun, so denke ich, die entscheidende Pointe von Pawliks Strafschmerzbegründung – die primäre Loyalitätspflicht zu einer sekundären Verpflichtung: „Der Täter muß es sich jetzt gefallen lassen, daß auf seine Kosten die Unauflöslichkeit des Zusammenhangs von Freiheitsgenuß und Loyalitätspflichterfüllung bestätigt wird.“ 434 Dies geschehe „konsequenterweise“ mit der partiellen Entziehung seiner eigenen Freiheit.435 Es sei eine „gewisse Drastik der strafenden Sanktion (. . .) unverzichtbar; denn erst in ihrer Verknüpfung stellen Normbestätigung und ,harte Behandlung‘ eine normativ angemessene Antwort auf jene Art der Anerkennungsverletzung dar, die hier als das Unrecht des Bürgers bezeichnet wird“.436 In Bezug auf die Komponente der Übelszufügung zeigt sich Pawlik – mit Verweis
S. 417. Es geht dort um das zu berücksichtigende Genugtuungsbedürfnis des Verletzten: „Soll dessen [des Verletzten; M. A.] Eigenschaft als Rechtsgenosse nicht illusorisch, sein Vertrauen auf die mächtige Friedensbürgschaft der Rechtsordnung nicht aufs Tiefste erschüttert werden, so muss er verlangen dürfen, dass der Staat ihm mindestens die Genugtuung verschaffe zu sehen, wie er nicht straflos missachtet werden darf.“ (Ebd.). 429 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 87 (H. i. O.). 430 Ebd., S. 88 f. 431 Ebd., S. 89 f. 432 Ebd., S. 90. 433 Ebd. 434 Ebd., S. 90 f., nahezu wortgleich, Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 116. 435 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 91. 436 Ebd.
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auf Hegels berühmte Bemerkung437 – verhalten optimistisch, schränkt aber im selben Atemzug ein: „Freilich mag das Moment der realen Zwangsausübung in weitem Umfang hinter die zeichenhafte Stigmatisierung des Täters zurücktreten. Je sicherer eine Gesellschaft ihrer selbst ist, desto eher nimmt sie das Verbrechen als ein ,Unfestes und Isoliertes‘ wahr und desto milder können dann auch die Strafen ausfallen. Der sozialen und kulturellen Evolution ist dabei ein weites Feld eröffnet. Eine gewisse Drastik der strafenden Sanktion ist aber unverzichtbar; denn anders läßt sich die Konnexität von Mitwirkungspflichterfüllung und Freiheitsgenuss nicht überzeugend vermitteln.“ 438
Bilanzierend stellt Pawlik fest, dass Strafe „die Wechselbezüglichkeit von Loyalitätspflichterfüllung und Freiheitsgenuß bestätigt“ und so in Hegels Formulierung „das Recht als Recht“ restituiert. „Den Täter trifft in seiner Rolle als Bürger eine rechtliche Mitverantwortung für das Allgemeine. An dieser Mitverantwortung wird er in der Strafe festgehalten.“ 439 Diesen zentralen Zusammenhang hat Pawlik neuerdings noch detaillierter herausgearbeitet: „Indem der bestrafte Bürger (. . .) zur Stärkung jenes Glaubens [an die den Zusammenhang von Freiheitsgenuss und Mitwirkungspflichterfüllung bestätigende Botschaft440; M. A.] herangezogen wird, wird demonstriert, daß jemand, der den bestehenden Zustand realer Freiheitlichkeit angreift, sich dadurch selbst um einen Teil seiner Freiheit bringt. Deshalb repräsentieren die Strafmittel jeweils spiegelbildlich jenen Vorteil, der nach neuzeitlicher Grundüberzeugung die Begründung einer Rechtsordnung legitimiert: den Zugewinn an Handlungsoptionen, symbolisiert in den beiden Grundwerten der bürgerlichen Gesellschaft: Freiheit und Eigentum.“ 441
2. Mitwirken durch Strafschmerzen? Die Fundierung der Straflegitimation mit der Idee der Freiheit ist attraktiv, gerade auch weil Pawlik somit an der Begründung des Rechts überhaupt ansetzt. Gewiss ist ihm in der abstrakten Annahme zu folgen, dass das Recht die Aufgabe hat, einen Zustand realer Freiheit zu ermöglichen, und dass die Bürger zur Herstellung und Aufrechterhaltung dieses Zustandes zusammenwirken müssen. Zwi437 „[D]ie ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft [setzt] die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung herbei.“ Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 372 (§ 218). Vgl. dazu, dies als präventive Komponente deutend, Seelmann, Hegels Straftheorien, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 83 f. 438 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 117 (H. v. m.); ähnlich Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 91. 439 Ebd., S. 97. 440 Nicht völlig klar ist, ob Pawlik nicht eher den Glauben „an die Gültigkeit der Norm“ meint. Entscheidend ändern dürfte dies m. E. nichts: Die strafrechtliche Norm ist nämlich, so verstehe ich Pawlik, ein Ausfluss aus dem Zusammenhang von Freiheitsgenuss und Mitwirkungspflicht. 441 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 117 m.w. N. (H. v. m.).
V. Die Pflicht zur Mitwirkung am gemeinsamen Projekt der Freiheit
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schen dem respektvollen Verhalten gegenüber anderen Akteuren und realer Freiheit besteht daher ein Zusammenhang. Fraglich ist, was man aus dieser grundsätzlichen, staatstheoretisch plausiblen Annahme für den Strafschmerz ableiten kann. Der Zusammenhang zwischen Mitwirkungspflicht(-verletzung) und Freiheitsgenuss kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden. a) Das Verhältnis zwischen Mitwirkung und Freiheitsgenuss Einmal könnte man annehmen (i), dass es sich um eine quasi-analytische Verbindung handelt, dass also der Freiheitsverlust des Normbrechers gleichsam denknotwendig bzw. automatisch eintritt. „Wer nicht (am Projekt der Freiheit) mitwirkt, verliert die Freiheit.“ Strafe wäre nur der Freiheitsverlust, den der Täter durch seine selbst-exkludierende Handlung herbeigeführt hat. Vergleichbar und einleuchtend wäre die Überlegung: „Wer nicht mit zu einem Konzert geht, und so nicht mitwirkt am gemeinsamen Projekt der Geselligkeit, schließt sich selbst von dem Projekt aus, verliert seinen Anteil an der Geselligkeit.“ Nicht nur ist zu beachten, dass die Übertragung dieses Gedankens der Verwirkung442 auf die Frage auf die Inhaberschaft von Rechten, insbesondere von Grundrechten, problematisch erscheint, wenn man an pflichtenunabhängige Rechte (e. g. Menschenwürde) oder sozialstaatliche Überlegungen denkt. Auch Pawlik macht klar, dass er eine derartig (absolut) exkludierende Konzeption von „Freiheitsverlust qua Nichtteilnahme“ nicht behaupten will. So wäre denn auch gar nicht zu erklären, weshalb der Normbrecher überhaupt weiterhin noch zur Erfüllung irgendwelcher Pflichten angehalten werden könnte, wenn er doch vom Genuss des Guts, dessen Herstellung und Aufrechterhaltung er sich verweigert hatte, ausgeschlossen wird. Nur wenn der Normbrecher nicht teilhabeverlustig ist, macht die Rede von einer weiterhin bestehenden Mitwirkungspflicht, die Rede von einer Sekundärpflicht Sinn. Und so schreibt auch Pawlik: „[Die] Unrechtstat ändert freilich nichts daran, daß der Straftäter Bürger ist und bleibt; deshalb wird er aus seiner Verantwortung für das Gelingen des Projekts einer wirklichkeitshaltigen Freiheitsordnung nicht entlassen. Lediglich der Inhalt seiner Verpflichtung verändert sich.“ 443 Der Freiheitsverlust folgt also nicht aus diesem quasi-analytischen Verwirkungsgedanken. Alternativ (ii) kann man den Zusammenhang zwischen Mitwirkungspflichterfüllung und Freiheit als Zusammenhang der dyadischen Reziprozität, der auf die Ebene mehrerer Personen transponiert wurde, lesen: also von der Dyade („wer die Kaufsache nicht liefert, erhält den Kaufpreis nicht“) zur Gruppe („wer als Bandenmitglied seinen Beitrag nicht leistet, erhält keinen Anteil an der Beute“). 442 Vgl. zum Verwirkungsgedanken in der Strafrechtfertigung ausführlich Boonin, The Problem of Punishment, 2008, S. 103 ff. 443 Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 116.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Offensichtlich handelt es sich hier nicht mehr um analytische Sätze, sondern um normative Aussagen. Es sind nämlich Aussagen, die das Prinzip der Reziprozität kontextspezifisch ausbuchstabieren, es sind Überlegungen der Fairness. Die Struktur des Satzes ist dann so zu dechiffrieren: „Wer seinen Beitrag nicht leistet, verhält sich unfair (weil die anderen ihren Beitrag leisten und durch deren Beiträge das Ziel zustande kommt). Deswegen soll er keinen Beuteanteil erhalten.“ Die ersichtliche Schwierigkeit ist, dass man dann erklären muss, warum die einzig angemessene Reaktion auf ein unfaires Verhalten gerade der Verlust des Beuteanteils sein sollte. Evident ist lediglich, dass das Verhalten nach der normativen Binnenlogik als unfair angesehen wird. Was aber daraus folgt, ist offen. Die Reaktionsoptionen sind zahlreich: das Spektrum reicht vom Ignorieren des Verhaltens, der Aufforderung zur Entschuldigung oder Kompensation, der Nichtberücksichtigung bei weiteren Unternehmungen, der Reduktion seines Status im Gruppengefüge, der Übernahme von unliebsamen Tätigkeiten, bis zum Ausschluss aus der Bande. Was hier, um den Inhalt der Reaktion zu bestimmen, weiter helfen könnte, wäre die Überlegung, dass dem Normbrecher eben dasjenige entzogen wird, was er unfairerweise erlangt hat.444 Die Variante, die als erlangten Vorteil auf die Freiheitsgewährung insgesamt abstellen will (also etwa, dass der Täter von den Freiheitsgarantien des Staates und dem Legalverhalten seiner Mitbürger profitierte), stößt auf zahlreiche Bedenken.445 Nicht nur dass eine solche Strafkonzeption eine Gesellschaft mit auch faktisch gleichen Teilhabechancen voraussetzt,446 lebt der Täter auch abgesehen von seiner Tat ganz überwiegend legal, leistet also insoweit nur punktuell das von ihm Verlangte nicht, sodass auf dieser abstrakten Ebene die vorgebliche Gleichheit von Gewährten und Entzogenen nicht überzeugt. Einige Fairnesstheorien versuchen daher den gerade durch die konkrete Tat erlangten Vorteil herauszufiltern. Solche Theorien sind herausgefordert zu zeigen, dass das vom Täter Erlangte demjenigen entspricht, was ihm später durch die Freiheitsstrafe genommen wird. Eine solche Kommensurabilität zwischen Frei-
444 Vgl. zur Vorstellung, die die gerechte Verteilung aus Vorteil und Belastung („benefit and burden“) zur Strafbegründung heranziehen grundlegend Morris, Persons and Punishment, The Monist 52 (1968), S. 475 ff. 445 Vgl. zu den zahlreichen Einwänden gegen die verschiedenen Varianten der Strafkonzeption vom Entzug des unfairen Vorteils, Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 414 ff. 446 In einer Gesellschaft, in der (auch nur faktisch) keine gleichen Teilhabemöglichkeiten bestehen, würde der strafbegründende Konnex von sozialer Fairnesspflicht und Autonomiegenuß nicht überzeugen, so Tonry, Proportionality, Parsimony, and Interchangeability of Punishments, in: Duff/Garland, A Reader on Punishment, 1994, S. 152; ders., Can Deserts Be Just in an Unjust World?, in: Simester u. a., Hirsch-FS, 2014, S. 144 ff.
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heitsgewinn und Freiheitsentzug herzustellen,447 erweist sich letztlich jedoch als alchemistische Vorstellung,448 wie sich jedenfalls bei Umrechnungsfragen zeigt: Wie hoch ist etwa der „Freiheitsgewinn“ eines Hausfriedensbruchs, wie hoch der einer Vergewaltigung?449 Derartige Formen der Fairnessvorstellung brauchen wir hier jedoch nicht weiter zu verfolgen, gehen sie doch davon aus, dass dem Täter der Vorteil entzogen wird, den er unfairerweise erlangte. Pawlik hat allerdings eine etwas andere Form der Theorie im Sinn (iii): Der Täter greift das gemeinsame Projekt der Freiheit an, indem er unfairerweise nicht an ihm mitwirkt. Daher ist es zulässig, an ihm den Zusammenhang von Mitwirkungspflichterfüllung und Freiheitsgenuss zu demonstrieren. b) Ermöglichung und Entzug von Freiheit: kein actus contrarius, sondern Demonstration Zwar besteht der Vorwurf auch bei Pawlik darin, dass der Täter unfairerweise vom Legalitätsverhalten der anderen profitiere.450 Allerdings ist die Folge des unfairen Verhaltens nicht die, dem Täter den erlangten Vorteil zu entziehen, also das unfair Erlangte wieder abzunehmen. Bei Pawlik hat der Vorwurf vielmehr zur Folge, dass auf Täterkosten ein Zusammenhang als zutreffend demonstriert wird, und zwar der zwischen Mitwirkung und Freiheit. Pawlik wechselt somit von einer Leistungslogik auf der Vorwurfsseite zu einer Demonstrationslogik in Hinblick auf die Vorwurfsfolgen: Im Entzug von Freiheit, also der Strafe, liegt nicht der natürliche Ausgleich für die unterlassene Mitwirkung, also die unterbliebene 447 Vgl. die Idee von Michael Davis, die Bemessung des unfairen Vorteils mittels eines Auktionsmodells herauszufinden, s. grundlegend Davis, How to Make the Punishment Fit the Crime, Ethics 93 (1983), S. 744 f. und die Kritik daran etwa bei Boonin, The Problem of Punishment, 2008, S. 129 ff. 448 So kennt auch schon Aristoteles die Rede von der Strafe als Entzug des Vorteils bzw. Gewinns und bemerkt auch deren Unpassendheit: „Wenn nämlich der eine geschlagen wurde, der andere geschlagen hat, der eine tötet und der andere getötet wird, so sind Leiden und Tun ungleich verteilt. Der Richter versucht durch die Strafe auszugleichen, indem er den Gewinn wegnimmt. Man redet nämlich hier ganz allgemein vom Gewinn [kÝrdoò; M. A.], auch wenn dieser Begriff für einzelne Situationen nicht passt, so wenn etwa der Schlagende einen Gewinn und der Geschlagene einen Schaden haben soll.“ Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2007, S. 201 (V., 7. 1332a 8–14), Übersetzung v. Gigon. 449 Derartige Fragen weisen auch darauf hin, dass die Charakterisierung des Verbrechens als unfaire Befreiung von einer Rechtspflicht unbefriedigend ist. Liegt das Unrecht der Tat etwa darin, dass sich der Täter von der Belastung, der die übrigen Bürger unterworfen waren, nämlich von einer Vergewaltigung abzusehen, unfairerweise ausnahm? Siehe auch sogleich bei Hampton, B. VI.; zu weiteren Schwächen der Theorien des unfairen Vorteils, etwa der Unfähigkeit das besondere Stigma der Strafe zu erklären vgl. Kleinig, Punishment and Moral Seriousness, Israel Law Review 25 (1991), S. 414 f.; einen guten Überblick zu den anglo-amerikanischen „benefit-and-burdenTheorien“ liefert Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 149 ff. 450 Diese Annahme ist wie gerade gesehen nicht ohne Probleme.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Leistung der Ermöglichung von Freiheit. Nur scheinbar geht es um einen actus contrarius, wie etwa das Umwerfen und Wideraufstellen eines Pfahls oder das Verbeulen und Ausbeulen eines Blechs. Vielmehr führt bei Pawlik die Verletzung der primären Mitwirkungspflicht zur Sekundärpflicht der Strafduldung, welche den Zusammenhang zwischen Mitwirkung und Freiheit, mithin die tatsächliche Geltung der Mitwirkungspflicht demonstriert. Pawlik kann Plausibilität für seine Überlegung daher nicht von der Annahme beziehen, dass dem Täter nur das entzogen werde, was dieser unfairerweise erlangte. Das Verhältnis einer komplementären Handlung zwischen Freiheitsermöglichung und Freiheitsentzug wird kunstvoll hergestellt, bleibt aber ein künstliches. Statt um Ausgleich geht es um die Demonstration eines Zusammenhangs, und zwar den zwischen Mitwirkung und Freiheit. Die Demonstration erfolgt nun dadurch, dass am Täter gezeigt wird, worauf seine unterlassene Mitwirkung letztlich hinausliefe. Die Strafmittel „repräsentieren (. . .) spiegelbildlich jenen Vorteil, der (. . .) die Begründung einer Rechtsordnung legitimiert: den Zugewinn an Handlungsoptionen“.451 Dem Täter und allen Bürgern werden also die ultimativen Konsequenzen unterlassener Mitwirkung aufgezeigt: „Das würde passieren, wenn sich alle wie dieser da verhielten: Unfreiheit“ – eine Simulation allseitiger Nicht-Mitwirkung an der Person des Täters.452 Die Demonstration des Zusammenhangs erweist sich als edukative Simulation. Dass ein Zusammenhang zwischen Mitwirkung und Freiheit besteht, leuchtet durchaus ein, doch warum muss das Demonstrationsmittel der Strafschmerz sein? Wenn der Zusammenhang besteht, warum sollte man ihn in der Weise demonstrieren dürfen, dass man künstlich den Zustand der allseitigen Mitwirkungspflichtverletzung simuliert. Bildlich: Sollte der Ruhestörer in der Bibliothek es sich gefallen lassen müssen, angeschrien zu werden, um den Zusammenhang zwischen jedermanns Schweigen und einer Atmosphäre der Ruhe zu demonstrieren? Oder sollte dem Grundstückseigentümer, der durch einen gefährlich morschen Baum stört, ein Baum auf sein Grundstück geworfen werden, um die Fortgeltung der Pflicht, an der Aufrechterhaltung der Sicherung der Rechtsgüter mitzuwirken, zu demonstrieren? Zumindest gibt es keine native Verknüpfung von Normbruch und einer spiegelnden demonstrierenden Reaktion. Dass ein Zusammenhang zwischen Mitwirkung und Freiheit besteht, bedeutet nicht, dass für den Fall der Nicht-Mitwirkung Nicht-Freiheit hergestellt werden muss (oder auch nur darf), um den Zusammenhang zu demonstrieren. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung, die Strafe als subsidiäre einspringende Sekundärpflicht zu beschreiben. Denn die Rede von der Sekundärpflicht vermittelt den Eindruck, es handle sich um eine Pflicht, die 451
Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 117. Das erinnert an die Hegel’sche Vorstellung der Selbstsubsumtion des Täters: Der Täter muss es sich gefallen lassen, unter das eigene Gesetz subsumiert zu werden. 452
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gewissermaßen als Nachleistungspflicht an die Stelle der primären Leistungspflicht rückt: Wie gesehen, soll sich die primäre Pflicht (sich legal zu verhalten), in die sekundäre Pflicht (die Bestätigung des Zusammenhangs zwischen Mitwirkung und Freiheitsgenuss), also die Pflicht zur Duldung der Strafe verwandeln. Es stellt sich die Frage, ob der Inhalt einer Sekundärpflicht treffend damit charakterisiert wird, dass derjenige, der die Primärpflicht verletzte, die tatsächliche Fortgeltung dieser Primärpflicht an sich bestätigen lassen muss. Merkwürdig erscheint dies, wenn man sich einen gängigen Gebrauch des Konzepts einer Sekundärpflicht vergegenwärtigt: die „Sekundärpflicht“ im Mängelhaftungsrecht der vertraglichen Schuldverhältnisse. Der Verkäufer etwa schuldet primär die Sache im vereinbarten Zustand. Ist diese aber mangelhaft, „verwandelt“ sich diese Pflicht in eine sekundäre Pflicht: vorrangig zu Nachbesserung oder Nacherfüllung, schließlich zu Schadensersatz statt der geschuldeten Leistung.453 Wie lässt sich der Gedanke der sekundären Pflicht nun am besten beschreiben? Ist es so, dass durch die Erfüllung der Sekundärpflicht, also etwa durch die Nachbesserung, an der Person des Verkäufers der Zusammenhang zwischen Lieferung der geschuldeten Ware und einem funktionierenden Warentauschsystem demonstriert werden soll? Oder liegt es nicht näher, den Vorgang so zu beschreiben, dass der Verkäufer, der der Primärpflicht unzureichend nachgekommen ist, den entstanden Schaden wiedergutmachen soll und dadurch454 ein funktionierendes Warentransaktionssystem erhalten bleibt?455 Der Punkt ist folglich der: Die Rede von der sekundären Pflicht, die aus der Verletzung der Primärpflicht resultiert, spricht dafür, dass der Verpflichtete die konkrete Schädigung, die er herbeiführte, restituiert, nicht dafür, dass die Richtigkeit der Primärpflicht an ihm demonstriert wird. Die Bestätigung der primären Pflicht ist vielmehr ein Reflex der Restitution.456 c) Substantialisierte Supraindividualität Stutzig macht auch ein verwandter Aspekt in Pawliks Herleitung, und zwar die Verankerung der strafrechtlichen Reaktion in einer eigenständigen überindividuellen Sphäre. Das Unrecht des Bürgers bestehe – gerade über die Verletzung des konkreten Opfers hinausgehend – darin, dass der Täter durch die Verletzung der Mitwirkungspflicht die Daseinsordnung der Freiheit, die ganze Friedensordnung attackierte.457 453
Vgl. §§ 437, 434 BGB. Notfalls durch Klage und Erzwingung. 455 Entsprechendes gilt für eine verletzte Steuerpflicht, mit der Pawlik die Mitwirkungspflicht explizit vergleicht, vgl. Pawlik in der Diskussion zu Pawlik, Staatlicher Strafanspruch und Strafzwecke, in: Schumann, Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 2010, S. 59 (Diskussion ebd., S. 103). 456 Zur Frage, was Inhalt der Restitution sein sollte, ist damit nichts gesagt. 457 Vgl. dazu Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 86 f. und S. 89 Fn. 50 m.w. N.; vgl. dazu C. VI. 5. 454
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Man könnte hier zum einen fragen, ob es dieses überindividuelle Substrat überhaupt gibt oder ob es sich nicht vielmehr um eine Kategorienverwechslung im Ryleschen Sinne458 handelt. So fragt Ryle nach der Qualität einer über-individuellen Entität etwa am Beispiel des „Mannschaftsgeistes“:459 Habe man sich das so vorzustellen, dass zunächst die Spieler einer Mannschaft auf den Platz laufen und dann hinter ihnen her der Mannschaftsgeist? Ist es also nicht eine irreführende Hypostasierung, wenn man annimmt, dass neben den positiv aufeinander eingestellten Teammitgliedern der Mannschaftsgeist als eine zusätzliche Entität auftritt? Übertragen auf die Bedeutung der Straftat könnte man also fragen, ob es neben der Verletzung des konkreten Opfers noch zusätzlich einen Schaden der Friedensordnung gibt? Und für die Reaktion könnte man folglich überlegen: Demonstriert nicht die bestmögliche intersubjektive Konfliktlösung den Zusammenhang zwischen Kooperation und Freiheit, braucht es noch zusätzlich die Schmerzzufügung, die den Schaden an der Friedensordnung thematisiert?460 Und auch wenn man dieser über-individuellen Dimension eine eigenständige Bedeutung beimisst, so kann man mit jener wohl schwer begründen, dass sie als besondere Reaktionsform den Strafschmerz benötigt. Das liegt an folgender Überlegung: Nach Pawlik hebt gerade die über-individuelle Dimension das strafrechtliche Unrecht qualitativ vom zivilrechtlichen Unrecht ab. Pawlik meint, dass zwar aus einer intersubjektiven Perspektive der „gleichsam überpersonale Charakter der Strafe als eine höchst zweifelhafte Überhöhung erscheinen“ muss,461 bei einem Verständnis der Strafe „als Reaktion auf ein Unrecht des Bürgers“ jedoch einleuchtet.462 Das Genuine des strafrechtlichen Unrechts, das dieses von den anderen Thematisierungsstufen des Unrechts – also auch von dem des Zivilrechts – unterscheide,463 liege in der Verletzung der bürgerlichen Mitwirkungspflicht an der Freiheitsordnung, nämlich „daß der Täter nicht das geleistet hat, was man von ihm als verantwortlichem Staatsbürger in der betreffenden Situation verlangen konnte“:464
458 Vgl. zur Kategorienverwechslung – freilich in Bezug auf den Materie-Geist-Gegensatz – Ryle, Der Begriff des Geistes, 1969, S. 14 ff. 459 Ebd., S. 15. 460 Diese Andeutung wird näher in C. VI. 5. ausgeführt. 461 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 90. Kritisch etwa zu einer solchen metaphysisch folgenschweren Verdinglichung des Rechts, die den Schadensersatz gegenüber dem Opfer in den Hintergrund treten lasse Zürcher, Legitimation von Strafe, 2014, S. 73 ff. 462 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 90. 463 Das Recht der Person und des Subjekts thematisieren die rechtlichen Beziehungen ausschließlich aus der Perspektive der „unmittelbar an ihnen Beteiligten“, s. ebd., S. 80. 464 Ebd., S. 87.
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„Mit Hegel465 kann man sagen: Das spezifische Plus, das im Unrecht des Bürgers liegt, besteht in einer Verletzung des Rechts als Recht, dieses verstanden als eine Daseinsordnung der Freiheit. In der hiesigen Interpretation bezeichnet die Formel Hegels nicht etwa eine bestimmte innere Haltung des Täters gegenüber dem Recht; sie umschreibt vielmehr jene Stufe der Deutung des deliktischen Geschehens, das dessen freiheitstheoretischen Mißachtungsgehalt am umfassendsten und angemessensten zum Ausdruck bringt. (. . .) Der strafrechtliche Schuldvorwurf besagt, daß der Täter nicht das geleistet hat, was man von ihm als verantwortlichen Staatsbürger in der betreffenden Situation verlangen konnte – daß er, mit einem Wort, ein Unrecht des Bürgers verwirklicht hat.“ 466
Auf dieser genuin strafrechtlichen Thematisierungsstufe des Unrechts basierend bedarf es dann auch einer genuin strafrechtlichen Reaktion, für die eben die klassische inter-subjektive Reaktionsform wie der Schadensersatz nicht ausreiche: „Das Rechtsinstitut des Schadensersatzes reflektiert (. . .) jenes mehrdimensionale Anerkennungsverhältnis, dessen Missachtung das Unrecht des Bürgers ausmacht, nicht in seiner vollen Komplexität. (. . .) Das Institut des Schadensersatzes ist mithin nicht dazu geeignet, das spezifische Unrecht des Bürgers auszugleichen.“ 467
Diese dritte Ebene der Anerkennungsverletzung,468 die Aufkündigung der „bürgerschaftlichen Loyalitätspflicht“ 469, sei nur mit dem Reaktionsmedium der Strafe zu erfassen: „Der Strafe ist es eigen, daß sie dem Täter ein Übel zufügt, ohne daß dem Opfer daraus ein unmittelbarer Vorteil erwachsen würde. Häufig erschwert oder vereitelt die Bestrafung des Täters sogar die Chance des Opfers, für seinen Schaden einen Ausgleich zu erlangen. In dieser Absehung von den konkreten Opferbelangen macht sich der ,über-individuelle‘ Charakter der Strafe geltend: Die Strafe ,entprivatisiert‘ den Konflikt zwischen Täter und Opfer; sie ist also gerade nicht ein Opfer, das der Täter ,dem Verletzten bringt‘.“ 470
Wenngleich der Unterschied zwischen dyadischer und überindividueller Dimension eines Konflikts durchaus einleuchtet, so könnte man doch fragen, weshalb gerade die Verletzung der Loyalitätspflicht das relevante Kriterium ausmachen soll, das die qualitativ andere Reaktionsweise, den Strafschmerz, rechtfertigen
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Pawlik verweist auf § 95 der Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ebd., S. 87 (H. i. O.). 467 Ebd., S. 88 f. 468 Vgl. zu den Ebenen der Anerkennungsverletzung nach Pawlik B. V. 1. 469 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 87. 470 Ebd., S. 89 f. Freilich ist diese Bemerkung keine die Strafe legitimierende Überlegung, sondern zeigt nur den momentan beobachtbaren qualitativen Unterschied des geltenden Zivil- und Strafrechts, den Pawliks Theorie des bürgerlichen Unrechts gerade begründen will. Das ist auch Pawlik bewusst, wie man aus der Formulierung „macht sich der ,über-individuelle‘ Charakter der Strafe geltend“ m. E. erkennen kann. 466
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kann.471 Möglicherweise geht mit der Beschreibung des Delikts als Loyalitätspflichtverletzung das proprium des strafrechtlichen Unrechts sogar eher verloren.472 Denn auch beispielsweise das Zivilrecht (und jedes andere Rechtsgebiet) stellt Pflichten auf, deren Erfüllung von den Akteuren als verantwortlichen Staatsbürgern erwartet wird, und trägt somit zur Aufrechterhaltung der Friedensordnung bei.473 Wenn aber die Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht erfassen kann, was gerade das strafrechtliche Unrecht im Gegensatz zu dem des Zivilrechts auszeichnet, wie soll sie dann der entscheidende Begründungspfeiler sein, der das behauptete proprium der strafrechtlichen Reaktion auf Unrecht, den Strafschmerz, erklären können soll? Möglicherweise ist der – durchaus auch mit dem Prädikat der Überindividualität beschreibbare – Unterschied zwischen zivilrechtlichem und strafrechtlichen Unrecht stärker in der Tatsache zu suchen, dass es sich bei einer Straftat um eine gravierende, und vor allem (regelmäßig) vorsätzliche Verletzung handelt, bei der dem Einzelnen nicht zugemutet wird, sich selbst zur Wehr zur setzen, sondern die Gemeinschaft es für angebracht erachtet, in stellvertretender und allgemeinverbindlicher Weise tätig zu werden.474 Die Eigentümlichkeit des Strafrechts in der Rechtsfolge könnte man dann – zumindest partiell475 – in dieser parteien-unabhängigen und allgemeinverbindlichen Befassung sehen. Wenn Pawlik argumentieren würde, dass das Strafrecht gerade eben solche gravierenden und intentionalen Mitwirkungspflichtverletzungen erfassen soll, aber eben auch in anderen Rechtsgebieten Mitwirkungspflichtverletzungen möglich sind – und auch dort sanktional reagiert wird, dann läge dieser Vorstellung ein weites Verständnis der Reaktion auf Mitwirkungspflichtverletzungen zugrunde, sodass unter diese Rechtsfolge nicht nur Freiheit- und Eigentumsentziehung im engeren Sinne, sondern auch die verbale Missbilligung, Schadenersatzpflichten oder die Erwartung sonstiger rehabilitierender Leistungen des Verletzenden zu fassen wären. Der harten Behandlung käme dann nur noch die Funktion eines konventionellen Symbols zu, nämlich die Aussage über die Gültigkeit der Norm ernsthaft erscheinen zu lassen. Dass die Schmerzzufügung dadurch seiner Eigenständigkeit beraubt und „strafbegrifflich gleichsam in die zweite Reihe abgedrängt“ wird, merkt Pawlik an anderer Stelle an.476 471 Die Vorstellung, dass das Kriminalunrecht nicht nur ein quantitatives, sondern ein qualitatives Plus zum privatrechtlichen Unrecht darstellt, und so eine „qualitativ andersartige Reaktion“ legitimieren könne, kann man etwa erkennen bei Pawlik, ebd. S. 70. 472 So Bung, Rezension zu Michael Pawlik: Das Unrecht des Bürgers, RW 5 (2014), S. 551, freilich von der Frage der Unterscheidung Vorsatz/Fahrlässigkeit her gedacht. 473 Ebd. 474 Vgl. zu diesem Gedanken unten C. VI. 475 Siehe zu einem weiteren Abgrenzungsaspekt (der Glaubwürdigkeit als deontischer Kontoführer), C. 476 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, 2004, S. 68.
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3. Ergebnis Der Grundgedanke Pawliks ist grundlegend wie einleuchtend: Wir können auf einer reflektierten Ebene erkennen, dass wir uns durch unser konstruktives Verhalten die erstrebte Ordnung von Freiheit und Frieden gegenseitig erst ermöglichen. Dies kann nur geschehen, wenn wir freiheitssichernde Institutionen einrichten, und die Akteure ganz grundsätzlich legal handeln. Häufiges, schwerwiegendes illegales Verhalten hat das Potential, die Ordnung der Freiheit zu beschädigen. Deshalb benötigen wir eine gesellschaftliche Institution, die diese Unrechtslage nicht unwidersprochen bestehen lässt, sich vielmehr demonstrativ dem Verhalten entgegenstellt. Die Deduktionen aus diesem Zusammenhang sind möglicherweise nicht derart zwingend, dass sie die intentionale Schmerzzufügung als Reaktion auf Verbrechen begründen: Verbrechen und Strafe auf den gemeinsamen Nenner der Freiheitsverletzung zurückzuführen, leuchtet durchaus ein, stellt allerdings wohl nur das Postulat – nicht die Begründung – einer edukativen, spiegelnden Retribution dar, beziehungsweise bleibt in seiner zurückgenommenen Form offen im Hinblick auf die Ausgestaltung des Wiederherstellungsaktes. Die Beschreibung der Strafe als Demonstration des Zusammenhangs zwischen Mitwirkungspflicht und Freiheitsordnung überzeugt als Interpretation des Sanktionsvorgangs. Doch könnte es sein, dass diese Beschreibung den erstrebenswerten Effekt beleuchtet, der sich gewissermaßen reflexhaft aus der zufriedenstellenden Aufarbeitung der Tat ergibt.
VI. Der Schmerz, der richtig stellt (Jean Hampton) 1. Strafe als Beseitigung des falschen Anscheins Die gerade erörterte Idee der Demonstration findet sich – wie ich gleich darstellen möchte – in anderer Gestalt auch in Jean Hamptons expressiver Theorie der Retribution wieder. In den Mittelpunkt stellt sie das Konzept des Verdienstes, der die Brücke zwischen Unrecht und Strafschmerz bilden soll.477 Der Schmerzufügung wohne nicht nur intrinsisch Tadel inne, die Schmerzzufügung sei vielmehr die natürliche, angemessene, eben verdiente Antwort, um Unrecht auszugleichen. Zwar stimmt Hampton der Analyse von Joel Feinberg478 zu, und zwar dass die Schmerzzufügung sozial konventioneller Ausdruck von Missbilligung sei. Sie nimmt dies allerdings nicht zum Anlass, die unumgängliche Notwendigkeit des Strafschmerzes anzuzweifeln, sondern zieht es als Grund heran, Fein477 Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 2 f. 478 Sie bezieht sich auf Feinberg, Expressive Function of Punishment, in: ders., Doing and Deserving, 1970, S. 98 ff.
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bergs Ansatz als zu kurz geraten zu bemängeln: Er tauge nicht als Straftheorie, da er eben nicht erklären könne, dass die Schmerzzufügung unabhängig von den sozialen Begebenheiten der jeweiligen Gesellschaft das Verdiente sei.479 Hampton vermischt die unproblematische Frage, ob Strafschmerz Tadel ausdrücke, mit der brisanten Frage, ob Tadel durch Strafschmerz ausgedrückt werden sollte – und schiebt Feinbergs Sichtweise tendenziell der ersten zu: „How might the infliction of suffering be naturally expressive, regardless of societal conventions? Although I will acknowledge in what follows an ineliminable conventional element in a retributive response, I want to explore the idea that the call for punishment as ,retribution‘ for a crime is a call for the infliction of a kind of suffering that (whatever the societal facts) we are morally obliged to inflict and which contains within it moral censure of the action. Feinberg is skeptical that any theory purporting to find messages intrinsic to the infliction of suffering following a wrongdoing can succeed. If a retributivist is going to take this line, she must explain both how such censure is intrinsic to the punitive response, and why expressing censure in this way is not only permissible but something we are morally obliged to do.“ 480
Lassen wir diese Volte beiseite und konzentrieren uns auf die zweite These, nämlich diejenige, dass wir den Tadel durch Strafschmerz ausdrücken sollten. Nachdem die Strafe die Antwort auf das Unrecht der Tat darstelle, ist folgerichtig, dass Hampton zunächst näher expliziert, was sie unter Unrecht versteht. Zwar sei es möglich, sich Unrecht als Unfairness vorzustellen, dass also die Gesetze Verhaltenseinschränkungen fordern, denen sich der Täter enthoben sieht, obwohl er zugleich von der Konformität der übrigen Akteure profitiert. Eine solche Interpretation impliziere jedoch, dass sich die Rechtstreuen selbstbeschränkend Lasten auferlegen, indem sie den an sich attraktiven verbrecherischen Handlungen entsagten.481 Es sei aber verfehlt, das Verbrechen primär als unfaires Verhalten zu portraitieren: „[I]f we become angry at a murderer, or extortionist, or rapist, our anger isn’t solely or even primarily about the fact that such a person hasn’t paid a cost for a social benefit that we have.“ 482 Anschlussfähig sei der Gedanke jedoch insofern, als die Antwort auf Unrecht sich danach richten müsste, was das Unrecht ausmacht.483 Diesen das Unrecht konstituierenden Aspekt sieht Hampton – in Anknüpfung an Kants Vorstellung von der Person als Selbstzweck – nun darin, dass die verbrecherische Handlung etwas über den Wert der anvisierten Person aussagt, nämlich eine beleidigende Botschaft enthält.484 Diese degradierende Botschaft entfalte die Tat unabhängig davon, ob der Täter mit seinem Ver479 Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 3. Vgl. zur Kritik an dieser Argumentationsweise A. I. 2. 480 Ebd. (H. i. O.). 481 Ebd., S. 4. 482 Ebd., S. 4 f. 483 Ebd., S. 5. 484 Ebd., S. 5 f.
VI. Der Schmerz, der richtig stellt
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halten jemanden degradieren wollte,485 und auch unabhängig davon, ob das Opfer die Tat als herabwürdigend versteht.486 Aus egalitärer Sicht könne diese Botschaft freilich nie bedeuten, dass der Wert tatsächlich geringer sei, allerdings einen entsprechenden Anschein hervorrufen.487 Was ein Verhalten also zum Unrecht mache, sei die dem Tatverhalten implizite unzutreffende Aussage über den Wert des Opfers.488 Hampton legt ihrem Konzept eine Theorie des moralischen Wertes zugrunde. Hörnle veranlasst das zur Kritik, dass Hampton Strafrecht als angewandte Moralphilosophie verstehe, ohne die Unterscheidung zwischen Moral- und Rechtspflichten nachzuvollziehen. Wer diese Unterscheidung bedenke, müsse erkennen, dass die Bekräftigung von moralischen Wertungen keine Aufgabe sei, die dem Staat ansteht.489 Hörnle äußert, wie ich denke zutreffend, Zweifel dahingehend, ob es eine staatliche Unternehmung sein kann, „moralische Wahrheit“ darzustellen. Führt das allerdings dazu, dass Hamptons Überlegung für die Frage der Straflegitimation grundsätzlich unbrauchbar wird? Die von Hörnle betonte Unterscheidung von Moral- und Rechtspflichten bezieht sich auf den Modus der Befolgungsmotivation: Die Erfüllung einer moralischen Pflicht setzt eine spezifische Gesinnung voraus, während für die Erfüllung einer Rechtspflicht die Motivation des pflichtgemäß Handelnden nicht entscheidend ist, äußerliches Befolgen, sogar erzwungenes Verhalten ausreicht (Handeln aus Pflicht vs. pflichtgemäßes Handeln). Die Unterscheidung schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, Rechtspflichten inhaltlich – gerade sofern es um solche des Strafrechts geht – als Transformationen oder Auswahl von Moralpflichten zu verstehen. Angesichts dieser denkbaren Sichtweise könnte Hamptons Ansatz zur Legitimation des Strafvorwurfs durchaus zu gebrauchen sein. Welche Verhaltensweisen der Staat allerdings kriminalisiert, für welche (moralische) Degradierung er sich interessiert und deren Ausbleiben zur Rechtspflicht macht,490 steht auf einem anderen Blatt.491 485 Hingegen die Relevanz der konkreten emotionalen Einstellungen des Täters betonend, Kahan/Nussbaum, Two Conceptions of Emotion in Criminal Law, Columbia Law Review 96 (1996), S. 352, die insgesamt einen großangelegten Ansatz zur strafrechtlichen Berücksichtigung von Emotionen entwickeln. 486 Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 5 f. 487 Ebd., S. 9. 488 Ebd., S. 9 f. („The wrongfulness of the action consists in the fact that it is expressing something false about the victim’s value.“). 489 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 30 (= 2. Aufl. 2017, S. 32). 490 Vgl. etwa in diesem Zusammenhang die Vorstellung einer rechtlichen Pflicht zu (äußerlich) respektvollem Verhalten als Grundlage der gesamten Rechtsordnung Seelmann, Respekt als Rechtspflicht, in: Brugger u. a., Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 420 f. 491 Dies sieht Hampton ebenso, s. Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 11. Sie zweifelt auch, ob der Staat die moralisch Glaubwürdigkeit hat, retributive Strafe zu verhängen, ebd., S. 22.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Sehen wir also Hamptons Gedankengang weiter an: Was folgt nun aus der unzutreffenden Aussage über den Wert des Opfers? Eine falsche Behauptung über die Haarfarbe könne man durch Worte oder das Vorzeigen eines Fotos richtigstellen. Um dagegen die herabsetzende Aussage über den Wert des Verbrechensopfers zu kontern, bedürfe es der Schmerzzufügung:492 „Consider (. . .) the institution of slavery, in which people are treated in ways that express their worth as no higher than an animal’s. Anyone deeply committed to the equality of human worth will not only want those sending this false message to cease doing so, but will also insist that their message be denied, as a way of vindicating the moral truth.“ 493
Es gehe also nicht nur darum, dass die falsche Botschaft nicht mehr weiter verbreitet wird, sondern dass sie zurückgewiesen wird.494 Wie funktioniert diese Zurückweisung? Die Tat wird interpretiert als Geschehen, das das Opfer erniedrigt und den Täter erhöht („lord“, „victory“, „master“). Der Bestrafende verwendet den Strafschmerz „to symbolize the subjugation of the subjugator, the domination of the one who dominated the victim“. Die der Strafe implizite symbolische Botschaft laute: „What you did to her, she can do to you. So you’re equal.“ 495 Im Ton Hegel’scher Annullierungssemantik erklärt Hampton: „the evidence of value loss provided by the crime is nullified by the new evidence provided by the subordination effected through the punishment.“ 496 Warum jedoch, fragt Hampton weiter, birgt der Strafschmerz nun nicht die – aus einer egalitären Sicht unerwünschte – Aussage, dass dann wiederum der Täter tiefer als das Opfer steht?497 Die Antwort sei in der Überlegung zu finden, dass es nicht darum ginge, den Täter zu degradieren oder als „subhuman“ vorzuführen, sondern ihn zu unterwerfen und seine „lordship“ zu leugnen. Hampton will diese Trennlinie dadurch ziehen, dass jede Strafe an den Kriterien der Proportionalität und des respektvollen Umgangs zu messen sei. Untersagt seien daher „treatments appropriate only for animals and things subhuman“.498 Die konkrete Behandlung unterliege zwar Konventionen – insofern habe Feinberg recht –, eine gewisse Unterjochung („some kind of subjugating experience“) sei jedoch invariant unabdingbar.499 Freilich könne man fragen, weshalb die Annullierung der Botschaft nun unbedingt der Schmerzzufügung bedarf: „Why can’t it be nullified by, say, a public statement to the effect that the victim is the wrongdoer’s
492 493 494 495 496 497 498 499
Ebd., S. 12. Ebd., S. 12 (H. v. m.). Ebd. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 15 (H. i. O.).
VI. Der Schmerz, der richtig stellt
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equal or by a ticker-tape parade, or a party in the victim’s honor?“ 500 Ein solches Vorgehen, so Hamptons Antwort, würde zur Leugnung der Botschaft nicht hinreichen, denn es bliebe der Eindruck, dass der Täter mit seinem Verhalten gegenüber dem Opfer durchgekommen ist.501 Vielmehr müsse das durch die Tat gesetzte Indiz der Wertaberkennung beseitigt werden: „nullify the evidence that her worth is lower than that of the wrongdoer“.502 Das könne theoretisch auch mittels nicht-schmerzhafter Methoden geschehen – der Begriff der Retribution ist demnach weiter als der der Strafe –, solange sie nur die Bezwingung des Täters offenbaren: als Beispiel hierfür nennt sie die Geste des „Hinhalten der anderen Wange“, wodurch der Täter verhöhnt würde.503 Hampton überlegt weiter, wie eine nur scheinbare Beschädigung des Wertes als Person Strafe benötige, wenn man mit Kant annimmt, dass der tatsächliche Wert als Person doch nicht wirklich beschädigt werden könne.504 Zu erklären sei dies damit, dass die Strafe die Gleichwertigkeit von Opfer und Täter nicht erst herstelle, sondern, indem sie den falschen Anschein beseitigt, die Gleichwertigkeit klarstelle:505 „[J]ust as Copernicus nullified the evidence that the sun circled the earth by explaining away the evidence leading to that conclusion, a retributive response should be understood by the Kantian to undercut the probative force of the evidence about value provided by the criminal action.“ 506 Strafe wird also hier ähnlich wie bei Pawlik als Beweismittel verstanden – hier allerdings nicht als Beweis eines Zusammenhangs, sondern Beweis des Opferwertes. Die diesbezügliche symbolische Aussage liege dem Gedanken der Retribution zugrunde: „Once the crime is committed, there is no way to undo the crime. But if we are able to undo what the crime symbolizes by creating an event that counters the symbolic message sent by the crime, we symbolize the correct moral relationships among human beings (. . .). (. . .) [I]t is the symbolic task which is the heart of the retributive response.“ 507
Damit ist Hamptons Rechtfertigung abgeschlossen. Die von ihr vormals vertretene Theorie der moralischen Erziehung gibt Hampton als Rechtfertigung der Strafe auf, will sie aber in den dargestellten Ansatz integrieren. Nach jener Theorie508 sollte Strafe die Eigenschaften eines Elektrozauns („Punishments are like 500
Ebd. Ebd., S. 15 f. 502 Ebd., S. 16 (H. i. O.). 503 Ebd. 504 Ebd., S. 17. 505 Ebd., S. 18. 506 Ebd. (H. v. m.). 507 Ebd., S. 19. 508 Hampton, Jean, The Moral Education Theory of Punishment, Philosophy & Public Affairs, 13 (1984), S. 209 ff. 501
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
electrified fences“ 509) haben: Sie sollte also einerseits abschreckend sein, um Übertretungen zu verhindern. Andererseits sollte sie aber auch lehrreich sein, indem der Strafschmerz die Aufmerksamkeit auf die Tat und deren Missbilligung lenkt und dem Täter durch seine eigene Leiderfahrung das verursachte Opferleid besser verständlich macht. Da der tatsächliche Eintritt der edukativen Wirkung nicht garantiert werden könne, sei die Strafe, so Hamptons neue Ansicht, unabhängig von diesen empirischen Unwägbarkeiten zu begründen.510 Die expressive Retribution sei allerdings in der Lage, die Vorstellung der moralischen Erziehung zu ergänzen und zu fundieren: Der Strafschmerz sei nicht als solcher, aber als „Symbol der Niederlage“ als Erziehungsmittel zu gebrauchen.511 Den Täter zu belehren sei zwar nicht unerwünscht, bleibe jedoch nur sekundäres Ziel der Strafe. Im Vordergrund des Strafens stehe, den Wert des Opfers zu beweisen: In Anspielung auf C. S. Lewis512 erklärt Hampton das von ihr nunmehr bevorzugte Verhältnis der Straffunktionen: Wenn die vergeltende Strafe, die die Beziehungen wieder richtigstellt, nebenbei auch noch belehrend wirke, sei dies zu begrüßen – zur Straflegitimation nötig sei dies nicht: „So although we may want to redeem that rebel soul, if we embrace retribution we plant the flag of truth above all for its own sake.“ 513 2. Unterjochung des Unterjochers Überzeugt nun Hamptons Ansatz?514 Er zeigt jedenfalls eine weitere Variante davon auf, wie die Interpretation von Verbrechen und Strafe als kommunikatives Geschehen für die retributive Theorie fruchtbar gemacht werden kann: Zwar ist es unmöglich, Vergangenes ungeschehen zu machen. Die Vorstellung der kommunikativen Annullierung überwindet aber als Metapher die zeitliche Diskre-
509
Ebd., S. 212. Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 21. 511 Ebd. 512 C. S. Lewis, The Problem of Pain, 1950, S. 83. Im Rahmen dieser Abhandlung zum Theodizee-Problem heißt es in Bezug auf die schmerzhafte Retribution: „No doubt Pain as God’s megaphone is a terrible instrument; it may lead to final and unrepented rebellion. But it gives the only opportunity the bad man can have for amendment. It removes the veil; it plants the flag of truth within the fortress of a rebel soul.“ 513 Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 22. 514 Vgl. zu Hamptons expressiver Straftheorie bereits die Analyse von Kaiser, Widerspruch und harte Behandlung, 1999, S. 169 ff. Dieser kritisiert, dass Hampton mit ihrer Theorie des Opfermissachtung rein der Ebene der individuellen Anerkennungsbeziehung bleibe, also die institutionelle Dimension, die der Norm, zu übersehen, ebd., S. 173 f. 510
VI. Der Schmerz, der richtig stellt
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panz, indem sie nicht tatsächliche Handlungen, sondern die dahinterstehenden Botschaften gleichzeitig in den Blick nimmt.515 Die Botschaft ist in dieser Perspektive also durch eine gegenteilige Botschaft annullierungsfähig. Merkwürdig ist dann aber – wie bei Jakobs’ Vorstellung der Objektivierung des Widerspruchs (s. B. IV. 2.) –, weshalb die Reaktion dann wieder die nicht-metaphorische Form, nämlich die der Schmerzzufügung, annehmen sollte. Ähnlich wie bei Pawlik dient die Schmerzzufügung als Beweismittel. Hier aber geht es nicht um den Zusammenhang zwischen Legalitätspflicht und Freiheitsgenuss, sondern um den Beweis des Wertes des Verbrechensopfers, nämlich den einer gleichwertigen und gleichberechtigten Person. Der Anschein dieser Beschädigung soll durch einen „Gegen-Anschein“, nämlich eine unterjochende Erfahrung, korrigiert werden und so das „wahre“, egalitäre Wertverhältnis präsentieren. Es fragt sich jedoch, warum eine „falsche Botschaft“ durch eine andere „falsche Botschaft“ richtiggestellt werden können soll.516 Das erscheint, als wollte die Lehrerin ihrem Schüler, der die Richtigkeit der Addition „1+1=1“ behauptet, die richtige Lösung zeigen, indem sie „1+1=3“ an die Tafel schreibt. Diese fragwürdige Vorstellung wird von Hampton sogar in eine syllogismus-ähnliche Form gegossen: „[T]he message carried in this subjugation is ,What you did to her, she can do to you. So you’re equal.‘“ 517 Verstünde man dieses „can“ als auf die Fähigkeit des Opfers bezogen, wäre damit nichts zur Rechtfertigung gesagt; fasst man „can“ dagegen als erlaubnisgewährend auf, dann unterstellte diese gestattende Aussage (also: „she may do to you“) bereits die strafende Handlung als legitim dazu, die Gleichheit (genauer: gleiche Berechtigung) zu beweisen, wäre also eine petitio principii.518 Die gestattende Aussage müsste folglich die conclusio des Syllogismus sein, etwa: „He did q to you. You are equal. So she may do q to you.“ Auch wenn man den Schluss zu retten suchte, indem man ihn derart umwandeln würde – und dies scheint ohne weiteres möglich, wird die Gleichheit („you’re equal“) von Hampton doch axiomatisch vorausgesetzt –, kann kein legitimatorischer Schluss folgen: • Aus „A unternimmt es, B zu q-en“ (i) und • „A und B sind gleich (in dem Sinne, dass jeder auch das tun darf, was der andere tun darf)“ (ii), • folgt offensichtlich nicht, dass B den A q-en darf (iii).
515 Slattery, Commentary: The Myth of Retributive Justice, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 33. 516 Daran zweifelt auch Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 417 Fn. 116. 517 Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 13. 518 Hanna, Say What? A Critique of Expressive Retributivism, Law and Philosophy 27 (2008), S. 140.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Der Schluss wäre nur korrekt,519 wenn (i) lauten würde: „A darf den B q-en.“ Dann würde die Ausführung der ebenfalls berechtigten Handlung die Gleichberechtigung „bestätigen“. Zur verbrecherischen Handlung war der Täter jedoch gerade nicht berechtigt. Den so demnach noch ausstehenden Nachweis der Beweiseignung bzw. -zulässigkeit der Schmerzzufügung, versucht Hampton – wie auch andere bisher untersuchte Ansätze – dadurch zu erbringen, dass sie deren Unabdingbarkeit nahelegt: Die Leugnung der Tat sei nur dann erfolgreich, wenn der Täter nicht den Eindruck gewinnt, mit seinem Verhalten schadlos davonzukommen, was bei einer bloß verbalen Klarstellung gewöhnlich nicht der Fall sein dürfte („will not normally result in a successful denial“ 520). Zum Ziel würde dieses Argument allerdings lediglich führen, wenn die intentionale Schmerzzufügung die einzige Möglichkeit wäre, um dem Täter klarzumachen, mit seinem Verhalten nicht durchgekommen zu sein. Das erscheint jedoch nur dann überzeugend, wenn man sämtliche anderen Folgen der (straf-)rechtlichen Befassung ignoriert (Ermittlung, Prozess, Kondiktion, Schadensersatz, sonstige Reaktionen, die nicht auf die intentionale Übelszufügung zielen),521 die Schmerzzufügung also mit einer stark abolitionistischen Position vergleicht. Weshalb für den nachhaltigen Kritikausdruck unbedingt die „Unterwerfung des Unterwerfers“ 522 nötig sein soll, leuchtet nicht ein.523 Auch als falsche Aussage über den Wert des Opfers kann man, wie Hampton zeigt, das Verbrechen interpretieren. Strafe wäre dann die Korrektur dieser unzutreffenden Aussage. Indem Hampton den Weg eines kommunikativen Ansatzes einschlägt, verliert sie allerdings die schmerzerklärende Plausibilität der spiegelnden Theorien. Eine sekundäre, auf Alternativlosigkeit abstellende Argumentation gelingt ihr nur, indem sie wirkliche Alternativen nicht andenkt.
519
Ich lasse hier weitere Bedingungen außer Acht. Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 15. 521 Siehe dazu und zu den Möglichkeiten, Kritik nicht-punitiv auszudrücken, bereits Hanna, Say What? A Critique of Expressive Retributivism, Law and Philosophy 27 (2008), S. 137 f., 141 f. Interessant ist auch Hannas Auseinandersetzung mit der Frage, ob mit dem Strafprozess verbundene Unannehmlichkeiten nicht schon aufgrund der Unschuldsvermutung hierfür ausfallen müssten. Hanna meint hierzu, dass sich die in ihnen liegende Kritik zunächst abstrakt auf denjenigen richte, der die Tat begangen hat, und sich erst durch den Schuldspruch nachträglich auf den Verurteilten konkretisiere (ebd., S. 137 Fn. 13); dezidiert gegen das Strafverfahren als Strafe, Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 124 u. 201. 522 Hampton, An Expressive Theory of Retribution, in: Cragg, Retributivism and its Critics, 1992, S. 16. 523 So bereits Hanna, Say What? A Critique of Expressive Retributivism, Law and Philosophy 27 (2008), S. 141, der auf dieses strukturelle Vorgehen, nur unannehmbare Alternativen anzusprechen, hinweist (ebd., S. 135). 520
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht (Victor Tadros) 1. Pflicht zur Notwehrduldung Eine Straftheorie des Opfers liefert in gewisser Weise auch Victor Tadros. Anders als bei Hampton ist der Strafschmerz jedoch keine Aussage über den Wert des Opfers, sondern die Erfüllung einer Pflicht. Und statt als sekundäre Erfüllung der Mitwirkungspflicht des Täters, wie wir dies bei Pawlik sahen, soll die Strafe hier als Verwirklichung einer verlängerten Notwehrpflicht des Täters verstanden werden.524 Attraktiv erscheint dies deswegen, weil die maßgebliche Schwierigkeit aller bislang untersuchten Ansätze insbesondere darin bestand, gerade das Medium der Schmerzzufügung als erlaubten Inhalt der Reaktion auszuweisen. Demjenigen, der in Notwehr handelt, ist aber evidentermaßen gestattet, dem Angreifenden intentional Schmerzen zuzufügen, um dessen Angriff abzuwehren. Will man diese Evidenz des Notwehrschmerzes für den Schmerz der Strafe fruchtbar machen, liegt die Herausforderung darin, zu zeigen, weshalb sich der Bestrafende in einer notwehrähnlichen Lage befindet. Diese Vorstellung ist ungewöhnlich und voraussetzungsreich, weshalb ich mich behutsam annähern werde. Tadros versucht die Strafe als eine legitime Erweiterung des Notwehrgedankens verständlich zu machen. Er erklärt, eine instrumentelle, gleichwohl nichtkonsequentialistische Rechtfertigung anzustreben.525 Strafe könne zwar nur fremdnützig, also mit Blick auf ihre gute Wirkung für andere Leute (potenzielle Opfer) gerechtfertigt werden. Gleichwohl sei diese Überlegung mit einer nichtkonsequentialistischen Position vereinbar. Zentrales Moment einer solchen Position sei, dass jedermanns Status als autonomer Akteur beachtet wird, was dazu führt, dass die angestrebte Wirkung nicht unbegrenzt verfolgt werden kann, sondern gewissen Einschränkungen unterliegt. Aus einer nicht-konsequentialistischen Perspektive folge insbesondere das Verbot der Instrumentalisierung, also das Verbot, als bloßes Mittel zur Erreichung eines fremden Zieles eingesetzt zu werden.526 Dieses „means principle“ erkläre etwa, weshalb Unschuldige nicht bestraft werden dürfen. Richtig verstanden könne das Prinzip jedoch nicht ausnahmslos gelten: „We can be morally liable to be treated as a means to pursue a good, and wrongfully harming others is a central way in which such liability is generated.“ 527 Insbesondere die Institute des rechtfertigenden Notstands und der
524
Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 16 f. Die Verbindung zwischen konsequentialistischen und instrumentellen Ansätzen sei ebenso wie diejenige zwischen nicht-konsequentialistischen und retributiven nicht zwingend, so insbes. Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 35. 526 Ebd., S. 39 f.; zur Leistungsfähigkeit des Instrumentalisierungsverbots vgl. die Analyse bei Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 163 ff. 527 So zusf. Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 40. 525
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Notwehr seien allseits akzeptierte Ausnahmen zu besagtem „means principle“. Nach Tadros muss es daher einschränkend konkretisiert werden: „[I]t is permissible to harm a person as a means to an end if that person would have had an enforceable duty to avert the threat were she able to do so, even if, in exercising her duty she would be harmed to the same degree. The idea is that when we harm a person as a means, we impose a cost on that person for the sake of the pursuit of a goal.“ 528
Sehen wir uns an, wie Tadros diese Erlaubnis der Instrumentalisierung plausibilisiert. Dazu ist es hilfreich zunächst zu rekonstruieren, welche Sichtweise er bezüglich der Situationen entwickelt, in denen eine Schädigung zulässig ist: Hat jemand eine Pflicht, eine andere Person zu retten, müsse der Besagte sich zu einem gewissen Maß für die andere Person aufopfern, sich sozusagen selbst instrumentalisieren. Diese Pflicht zur Aufopferung bestehe nur im Rahmen des Zumutbaren. Wer etwa ein Kind ertrinken sieht und zugleich als einziger Helfer infrage kommt, müsse das Kind zwar dann nicht retten, wenn er dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst ums Leben käme.529 Wenn er aber nur seinen Finger verliert, müsse er jedoch eingreifen. Die entscheidende Überlegung Tadros’ ist nun, dass diese Selbstaufopferung auch erzwingbar sei: Ein Dritter dürfe folglich etwa dem zögerlichen Retter damit drohen (!), dessen Finger abzuschneiden, sofern jener untätig bleibt. Indem nun auch der Dritte die Rettungspflicht in diesem Sinne erzwingen könne, dürfe also auch dieser den Rettungspflichtigen instrumentalisieren. Es stellt sich die Frage, wann eine derartige Erlaubnis besteht, die Rettungspflicht zwangsweise durchzusetzen. Pflichten seien nur unter engen Voraussetzungen erzwingbar, aber insbesondere eben dann, wenn es um zentrale Interessen wie das Überleben gehe: „Whether a duty is enforceable depends on a range of factors. (. . .) [W]here life is at stake our duties are typically enforceable. It is not wrong to coerce me to prevent me from killing others and it is not wrong to coerce me to feed my children if that is the only way to get them fed. Similarly, it is not wrong to coerce me to save the child at a cost to my finger.“ 530
Erzwingbarkeit bedeute nun auch, dass die Rettungspflicht mit Gewalt durchgesetzt werden kann, indem man etwa den Körper des Rettungspflichtigen einsetzt. Dazu bildet Tadros folgende Abwandlung: „The child can be rescued from drowning only by blocking a rivulet flowing into the pond, preventing the water rising above the child’s head. I cannot do this alone for I am temporarily paralysed from the neck down. You cannot do this alone for you are too small to block the rivulet. However, the rivulet could be blocked, if you were to push me into it. If you did this I would lose a finger.“ 531 528 529 530 531
Ebd., S. 129. Dieses Beispiel der „Pond Rescue“ diskutiert Tadros ebd., S. 130 ff. Ebd., S. 132. Ebd., S. 132 f.
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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Der Rettungspflichtige müsse den Beistehenden sogar zu diesem Stoß, der dem Kind die Rettung bringt, autorisieren.532 Aber selbst wenn er die Berechtigung nicht geben will oder aus tatsächlichen Gründen nicht geben kann, dürfe der Beistehende die Rettungspflicht zwangsweise durchsetzen. Denn es handle sich ja gerade um eine erzwingbare Pflicht.533 Ähnlich verläuft nun auch Tadros’ Argumentation in Bezug auf die Notwehr: Auch hier könne der Angreifer notfalls mit seinem Körper herangezogen werden, um seine Pflicht zu erfüllen, das Opfer schadlos zu halten. Diesen Zusammenhang aus pflichtwidriger Schädigung des Opfers und erlaubter Instrumentalisierung des Täters macht Tadros an folgendem Beispiel deutlich: „Hit Man. I hire a hit man to kill you. The only way in which you can prevent the hit man from doing that is to pull me in front of you, using me as a shield.“ 534 Indem ich den Auftragsmörder anheuere, schaffe ich rechtswidrig eine bedrohliche Lage für den Angegriffenen. Ich müsse daher alles mir Mögliche unternehmen, dass sich diese Gefahr nicht zu einem tatsächlichen Schaden auswächst. Indem ich das tue, komme ich meiner grundlegenden Pflicht nach, und zwar: andere nicht ohne guten Grund zu schädigen.535 Um meinen Angriff wieder einzufangen, müsse ich mich notfalls sogar in die Schusslinie des Auftragsmörders werfen und so gleichsam als lebendiges Schutzschild den Schadenseintritt vereiteln. Mache ich das nicht, dann dürfe man mich dazu zwingen: „Either you may coerce me into jumping in front of you, say by threatening me with a more painful death, or, if that cannot be done, you may force me in front of you. For in doing these things you are merely forcing me to fulfill my obligation not to harm you. And (. . .) it is not wrong to harm me in the service of an end that I am required to serve.“ 536
Es sei zwar nicht immer zulässig, einen anderen zwangsweise zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Wie das Institut der Notwehr jedoch zeige, sei dies aber auch nicht generell ausgeschlossen. Im „Hit Man“-Beispiel sei die Pflicht erzwingbar, zum einen, weil dadurch erheblicher Schaden abgewendet kann und es zum anderen, weil eine adäquate nachträgliche Kompensation unmöglich ist.537 Zentral für die hier interessierende Frage der Rechtfertigung des Strafschmerzes ist nun, wie Tadros das entwickelte instrumentelle, pflichtbasierte Notwehrkonzept auf die Frage der Strafe überträgt: Der potenzielle Täter habe die pri532 Die Pflicht, vorher zu versuchen, dessen Genehmigung zu erlangen, liege darin begründet, dass der prospektive Täter so zu einem gewissen Teil Kontrolle über seinen Körper zurückerlange. Ebd., S. 133. 533 Ebd., S. 133 ff. 534 Ebd., S. 187. 535 Ebd., S. 188. 536 Ebd. (Tadros weist auf die Notwendigkeit weiterer Voraussetzungen hin.). 537 Ebd., S. 189.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
märe Pflicht, andere nicht zu schädigen. Diese primäre Pflicht umfasst, dass er sich nicht schädigend verhält, und falls er dies dennoch tut, subsidiär verpflichtet ist, einen begonnen Angriff abzubrechen oder die gegen seinen Angriff geübte Notwehr zu erdulden. Die Erduldung der Strafe sei nun die sekundäre Pflicht, die dem Täter aufgrund der Primärpflichtverletzung, nämlich der tatsächlich eingetretenen Schädigung des Opfers, zukommt: Sie bestehe darin, das Opfer gegen weitere Bedrohungen seitens anderer Akteure zu schützen.538 Der zentrale Gedanke ist also der: Hat der Täter die Pflicht zur Erduldung einer gezielten Schmerzzufügung (Notwehr) nicht vor Erfolgseintritt erfüllt, so muss er der Duldungspflicht nach der Tat nachkommen (Strafe).539 2. Notwehr – Strafe: Übertragungshürden Offensichtlich stellen sich – betrachtet man Notwehr und Strafe – einige Übertragungshürden: Notwehr richtet sich gegen Angriffe, für die der Täter verantwortlich ist. Wieso sollte der Täter zur Verhinderung anderer Taten herangezogen werden dürfen? (i) Bei der Notwehr ist der Schaden noch nicht eingetreten. Warum sollte die Instrumentalisierung auch dann noch zulässig sein, wenn sein Angriff bereits beendet ist? (ii) Die Notwehr schützt die konkrete Person, die im Begriff ist, verletzt zu werden. Warum sollte der Täter nun gegenüber dem abstrakten Personenkreis aller potenziellen Opfer in der Pflicht stehen? (iii) Der Angriff, der die Notwehr rechtfertigt, muss zeitlich unmittelbar bevorstehen. Warum sollte das zu einer Pflicht führen, zeitlich unbestimmte Taten zu verhindern? (iv) Zunächst soll Tadros zufolge – das ist ein wichtiger Punkt – der Grundsatz, dass man nur für Bedrohungen geschädigt werden darf, die man selbst geschaffen hat, gelockert werden (i). Zwar gelte im Grundsatz, dass lediglich eliminative Instrumentalisierungen zulässig seien, also solche Schädigungen, die sich gegen den Angreifenden selbst richten und auf diese Weise den Angriff abwenden. Dagegen seien manipulative Schädigungen, die sich gegen andere Personen als den Angreifer richten, grundsätzlich unzulässig.540 Dieser starre Verantwortungskonnex müsse jedoch geringfügig durchbrochen werden. Eine erste Lockerung sei schon im „Hit Man“-Fall zu erkennen: Dort werde nämlich nicht der angreifende Auftragsmörder, sondern der Beauftragende zulässigerweise geschädigt. Zwar sei die Bedrohung durch den Auftragskiller dem Hintermann vorwerfbar, sodass hier noch keine rein manipulative Schädigung vorliege.541 Dass eine solche im Aus538
Ebd., S. 266. Tadros betont die Verbindung von Notwehr- und Pflichtgedanken, die schließlich zur Rechtfertigung der generellen Abschreckungstheorie führe, s. ebd. 540 Ebd., S. 267. 541 Ebd., S. 267 f. Ich denke, das Beispiel zeigt keinerlei Auflockerung des Verantwortungsgrundsatzes. Es ist nur nicht keine „rein manipulative“ Schädigung, sondern 539
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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nahmefall jedoch zulässig ist, will Tadros in Rekurs auf den innovativen Gedanken eines (normativierten Pflichten-)Tauschvertrages mit folgendem zentralen Beispiel demonstrieren: „Double Hit Man 2: Evelyn hires a hit man to kill Wayne. Fred has also hired a hit man to kill Wayne. Both hit men arrive at the same time. Because of where they are standing, Wayne can only use Fred as a shield against Evelyn’s hit man and Evelyn as a shield against Fred’s hit man. He manages to do that, resulting in the deaths of Evelyn and Fred.“ 542
Die Rechtfertigung dieses Vorgehens durch den doppelt Angegriffenen ergebe sich aus folgender Überlegung: E und F hätten sich jeweils als Rettungsschild gegen ihren eigenen Angriff zur Verfügung stellen müssen („ought to authorize W to use them as a shield“ 543). Eine solche Selbstaufopferung war hier jedoch aus tatsächlichen Gründen, nämlich dem Standort der beiden, nicht geeignet, um ihre jeweils eigenen Angriffe zu neutralisieren. Wenn E und F den Erfolgseintritt nicht selbst verhindern können, müssten sie jedoch, so Tadros weiter, Hilfspersonen einsetzen. E hätte sich also darum bemühen müssen, dass seine Rolle als Rettungsschild gegen den ihm zurechenbaren Angriff von F übernommen wird. Für F gelte umgekehrt das Entsprechende. E und F müssten demnach eine gegenseitige Pflichtenübernahme vereinbaren, um W schadlos zu halten. Wenn aber eine solche Vereinbarung nicht zustande komme, sei dem W gestattet, die beiden als Schutzschild zu verwenden. Auf diese Weise würden sie lediglich dazu gezwungen, ihrer Pflicht nachzukommen, und zwar der Pflicht, sich gemeinsam zur Abwehr der W drohenden Gefahr zur Verfügung zu stellen.544 Abstrahiert lautet das Argument also: „Suppose that A has an enforceable545 duty to x and B has an enforceable duty to do y. The duties are important and are reasonably similar in stringency and kind, and there is no particular reason why A must perform his own duty and B must perform his own duty. Only A can y and only B can x. If these things are true, A and B have an enforceable duty to form and execute an agreement to perform each other’s duties. If A and B fail to do that, or are unable to do so, it is permissible manipulatively to harm A and B to ensure that they do not breach their duties.“ 546
Vornehmlich diese Überlegung soll – neben der Erkenntnis, dass auch gegen nicht vollumfänglich verantwortliche Akteure Notwehr geübt werden darf 547 – eine Lockerung des Verantwortlichkeitsprinzips plausibel machen und somit zeieine überhaupt nicht manipulative, sondern vielmehr eleminative Schädigung. Denn der Angriff geht zurechenbar vom Beauftragten aus. 542 Ebd., S. 274. 543 Ebd., S. 274. 544 Ebd., S. 274 f. 545 Zum Terminus der „enforceable duty“ s. o. B. VII. 1. 546 Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 275. 547 Siehe insbesondere ebd., S. 241 ff.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
gen, dass aus der Unerfüllbarkeit einer Pflicht eine Surrogatspflicht erwachsen kann, die zu der ursprünglichen Pflichterfüllung gänzlich verschieden ist. Den weiteren Unterschied zwischen Notwehr und Strafe, dass nämlich dort der Schadenseintritt noch zu verhindern ist (ii), will Tadros mithilfe der Pflichtenlogik überbrückt wissen: Wenn man eine Pflicht verletze, verschwinde diese nicht einfach, sondern bleibe bestehen. Der Verletzende müsse dann eben soweit wie möglich der Pflicht nachkommen, sei folglich verpflichtet, das Nächstbeste zu tun. Wer eine geschuldete Arbeit nicht bis zum Dienstag erbringt, werde nicht frei, sondern müsse eben zusehen, dass – sofern eine gleichwertige Erfüllung über einen Dritten nicht möglich sei – sie ihm bis Mittwoch gelingt.548 Auf Straftaten bezogen bedeutet dies laut Tadros, dass der Täter verpflichtet sei, zu verhindern, dass sein Opfer einem weiteren Angriff ausgesetzt wird549 – damit werden wir uns gleich näher beschäftigen. Betrachten wir zunächst, was Tadros zur weiteren Übertragungshürde vorbringt. Weshalb sollte es zulässig sein, den Täter dann nicht lediglich zugunsten des Opfers, sondern auch zugunsten aller anderen potenziellen Opfer zu instrumentalisieren (iii)? Zum einen folge dies aus der Überlegung im zentralen Fall „Double Hit Man 2“: Der Verbrecher müsse akzeptieren, dass er zugunsten anderer Opfer bestraft wird, weil er mit anderen Tätern eine Vereinbarung treffen müsste.550 Dieser Gedanke kann zwar noch nicht erklären, weshalb sich die Schutzpflicht des Täters auch auf Personen beziehen sollte, die bislang noch nicht Opfer geworden sind. Die diesbezüglich notwendige Universalisierung der Schutzpflicht will Tadros aber über die Figur einer (notwendigen) Übertragung des Schutzrechts des Opfers lösen: Die Duldungspflicht zur Instrumentalisierung – und somit das komplementäre Recht auf Schutz – bestehe zwar grundsätzlich zugunsten des Opfers, sei aber übertragbar.551 Dies müsse insbesondere in den Fällen einleuchten, in denen das Opfer – etwa weil es durch die Tat getötet wurde – nicht mehr profitieren kann.552 Weitergehend könne letztlich das Opfer sein Strafrecht auf den Staat übertragen, und müsse dies auch tun. Diese Übertragungspflicht resultiere553 aus der allgemeinen Hilfspflicht, die das Opfer gegenüber seinen Mitbürgern trifft.554 Dem Staat wiederum komme dadurch nicht nur ein Recht zu strafen, sondern auch eine Pflicht zu strafen zu. Diese staatliche Strafpflicht ergäbe sich letztlich aus zwei Ausprägungsformen der allseitigen 548
Ebd., S. 276. Ebd., S. 277 f. 550 Ebd., S. 280. 551 Ebd., S. 279 f. 552 Ebd., S. 281. 553 Nebst anderen Gründen, s. ebd., S. 296 ff. 554 Ebd., S. 298: „[T]he victim herself has a duty to protect others from criminal offending. If she can fulfill that duty at limited cost to herself she ought to do so.“ 549
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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Schutzpflicht: Zum einen fordere sie den Schutz der potenziellen Opfer. Zum anderen verlange sie, dass der Täter nicht über das zur Erbringung seiner Schutzpflicht unbedingt nötige Maß hinaus belastet wird.555 Nachdem der Staat das Schutzziel am effektivsten erreichen kann, zumal er die Praxis des Strafens in institutionalisierter Weise betreibt, stünde ihm das Strafrecht darüber hinaus exklusiv zu.556 Als letzte Übertragungshürde von der Notwehr auf die Strafe bleibt, dass die Notwehr eine Instrumentalisierung nur dann erlaubt, wenn der Angriff gegenwärtig ist („imminence“) (iv). Ist das im Zeitpunkt der Bestrafung aber gerade nicht der Fall? Tadros argumentiert, dass sich der Täter ja bereits als Schädiger erwiesen habe und somit bereits für eine Schädigung hafte. Auch aus der Sicht des Täters sei es besser, ihn sogleich zu schädigen, um so schon die Entwicklung krimineller Intentionen (bei anderen) im Keim zu ersticken, statt zuzuwarten, bis man ihn als „Schutzschild“ bei einer konkreten Bedrohung einsetzen kann.557 Bevor wir uns mit den Begründungskomponenten genauer befassen, will ich den zentralen Gedanken der an Notwehr und Pflicht orientierten Straftheorie komprimiert rekapitulieren: Die sekundäre Pflicht des Täters zur Duldung des Strafschmerzes hat nach Tadros den Grund in der primären, vom Täter verletzten Pflicht, den Notwehrschmerz über sich ergehen zu lassen. Etwas genauer lautet die Überlegung: Jedermann ist zunächst verpflichtet, den anderen nicht unrechtmäßig zu schädigen. Diese Pflicht bestehe subsidiär darin, einen rechtswidrigen Angriff abzubrechen bzw. eine gegen sich selbst geübte Notwehr zu erdulden. Wird dem Täter dies unmöglich, sei er sekundär verpflichtet, das nächstbeste Surrogat zu liefern, namentlich eine andere Schädigung des Opfers zu verhindern. Diese Schutzpflicht gegenüber dem konkreten Opfer sei auf alle potenziellen Opfer zu erweitern und zugleich dem Staat zu übertragen. Deshalb habe der Täter die Pflicht, sich einer generell abschreckenden Strafe zu unterziehen. 3. Die Probleme, den Notwehrschmerz in den Strafschmerz zu transponieren Gelingt es Tadros, den Notwehrschmerz in den Strafschmerz transponieren? Hat der Täter die Instrumentalisierung, die er sich eigentlich schon im Zuge der Notwehr hätte gefallen lassen müssen, derart abzuleisten, dass durch seine Bestrafung ein vergleichbares Rechtsgut vor einer vergleichbaren Gefahr gerettet wird? Tadros’ Theorie speist ihre Anziehungskraft aus der postulierten Pflicht, eine gegenseitige Notwehrduldung mit einem anderen ebenfalls Notwehrpflichtigen zu vereinbaren, sofern dadurch beide Angriffsobjekte gerettet werden kön555 556 557
Ebd., S. 301. Ebd., S. 302 ff. Ebd., S. 281 f.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
nen. Dies ist nämlich der entscheidende Punkt, an dem die zulässige Schmerzzufügung durch Notwehr von ihrem herkömmlichen Sinn, nämlich den Erfolg der akuten Tat zu verhindern, abgelöst wird, und für den zeitlichen und personellen Transfer auf den Strafschmerz vorbereitet wird. Muss man eine Vereinbarung treffen, die beinhaltet, sich für die Rettung eines Dritten instrumentalisieren zu lassen, um auf diese Weise das von einem selbst angegriffene Rechtsgut (indirekt) retten zu können? Ich werde in einem ersten Schritt argumentieren, dass die erzwingbare Pflicht, eine derartige Vereinbarung zu treffen, selbst vor dem Eintritt des Taterfolges (also bei noch bestehender Rettbarkeit des angegriffenen Rechtsguts) nicht besteht (a)). Aber selbst wenn das der Fall sein sollte, ergäben sich – das will ich in einem zweiten Schritt zeigen – zahlreiche Schwierigkeiten, die eine Übertragung auf die Situation nach der Tat unattraktiv machen (b)). Darüber hinaus ruht die Theorie, wie ich anschließend zeigen will, auf empirisch fragwürdigen Annahmen (c)) und führt zu einer konstruktiv unschönen Konsequenz (d)). a) Kein erzwingbarer „Pflichtentauschvertrag“ Vergegenwärtigen wir uns die relevante Überlegung Tadros’ in seinem Fall „Double Hit Man 2“: Danach treffe die beiden Hintermänner die Pflicht, unter Einsatz ihres Lebens die Bedrohung abzuwenden, die sie durch die jeweilige Beauftragung der Auftragsmörder geschaffen haben.558 Diese Aufopferung könne nun freiwillig oder zwangsweise geschehen,559 also entweder, indem sie jeweils ihren Angriff rückgängig machen oder aber, indem sie die Notwehrhandlung erdulden. Zwar ist hier beides faktisch unmöglich, allerdings könnten die beiden Angreifer vereinbaren, ihre jeweilige Pflicht gegenseitig zu erfüllen. Sofern sie diesen Pflichtentauschvertrag nicht schlössen, soll nun dieser Tausch zwangsweise durchgesetzt werden können. Schematisch lässt sich die Überlegung wie folgt darstellen. Angreifer 1: hat Pflicht (A) und Möglichkeit (B) Angreifer 2: hat Pflicht (B) und Möglichkeit (A) Freiwilliger Tauschvertrag: Beide Angreifer können vereinbaren, das ihnen Mögliche durchzuführen und so gegenseitig ihre jeweilige Pflicht zu erfüllen Erzwungener Tauschvertrag: Die Angreifer dürfen gezwungen werden, das ihnen Mögliche durchzuführen, um so zwangsweise (gegenseitig) ihre jeweilige Pflicht zu erfüllen. Die Pflicht zum Pflichtentausch ist nun bedenklich. Erstens will ich zeigen, dass die Ableitung des erzwungenen Pflichtentauschvertrages normtheoretisch 558 559
Ebd., S. 274. Ebd., S. 274 f.
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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inkorrekt ist. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass es irreführend ist, eine fremdnützige Instrumentalisierung als erzwungene Erfüllung eines hypothetischen Pflichtentauschvertrags zu verstehen (aa)). Zweitens besteht zwar die starke Intuition, es als zulässig zu erachten, dass sich das prospektive Opfer auf Kosten der Angreifer rettet. Dies spricht allerdings entgegen Tadros’ Argumentation nicht notwendig für eine erzwingbare Tauschpflicht und somit für die von ihm angepeilte Lockerung des Verantwortungsgrundsatzes. Das intuitiv einleuchtende Ergebnis ergibt sich nämlich nicht (erst) aus der Konstruktion eines „erzwungenen Pflichtentausches“, sondern folgt aus davon unabhängigen Überlegungen (bb)). aa) Normtheoretische Inkorrektheit des Pflichtentauschvertrages Tadros folgert aus der Möglichkeit des Pflichtentausches den Zwang zum Pflichtentausch. Genauer gesagt schließt er von der Erzwingbarkeit zweier Pflichten in Verbindung mit der Zulässigkeit, diese erzwingbaren Pflichten „tauschen“ zu können, auf die Zulässigkeit, den Pflichtentausch zu erzwingen. Nähern wir uns diesem Gedanken etwas langsamer: Indem Tadros die Instrumentalisierung für die Tat eines anderen als erzwungene Erfüllung eines (hypothetischen) Pflichtentausches rekonstruiert, insinuiert er – bereits durch die Formulierung – eine gewisse Verwandtschaft zwischen einem freiwilligen Tauschvertrag und einem erzwungenem Tauschvertrag; so wird der Übergang vom einen auf den anderen vermeintlich plausibel. Die unterstellte Nähe besteht jedoch nicht. Es handelt sich nicht um ein plus-minus-Verhältnis, sondern der „erzwungene Pflichtentauschvertrag“ ist ein aliud. Kurz gesagt liegt das von Tadros für die Lockerung des Verantwortlichkeitsprinzips benötigte Element im Tausch. Die legitimierende Komponente geht aber gerade dadurch verloren, dass der Tausch erzwungen wird. Der „erzwungene Pflichtentausch“ ist eben bloß noch Zwang – der Vertrag hat seinen Witz verloren und legitimiert nicht mehr. Um diesen Gedanken zu explizieren, will ich mich dem Beispiel von verschiedenen Seiten nähern und zeigen, weshalb die suggerierte Verwandtschaft der Phänomene nicht besteht und deshalb selbst ein bloß tentativer Schluss vom dem einen auf das andere fernliegt. Nehmen wir dazu einen ausführlicheren Anlauf: Es gibt zwei Institute, die eine Tatverhinderung erfassen. Der Täter kann selbst tätig werden, indem er seinen Angriff abbricht oder Gegenmaßnahmen gegen seinen Angriff vornimmt („Rücktritt“). Auch das prospektive Opfer kann tätig werden und den Angriff notfalls mit Gewalt vereiteln („Notwehr“). In Tadros’ Beispiel müssten sich die Angreifer gefallen lassen, dass ihnen gegenüber zur Abwehr ihres jeweiligen Angriffs Notwehr geübt wird. Aufgrund der Besonderheiten des Falls ist eine diesbezügliche Instrumentalisierung jedoch nicht geeignet, den Angriff abzuwehren:
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Die Akteure befinden sich auf eine solche Weise im Raum, dass sie zur Abwehr ihres eigenen Angriffs nicht herangezogen werden können. Ihr „schlechter Standort“ ist auch der Grund, weswegen sie selbst durch ihre Körper den je eigenen Angriff nicht abfangen können. Allerdings könnten sie den jeweils anderen zum jeweils eigenen Rücktritt einsetzen – der andere wird sich darauf wohl nur einlassen, wenn sie sich ihrerseits zur Mithilfe an dessen Rücktritt verpflichten. Diese Verhaltensweise stellt eine Erweiterung ihrer Rücktrittsmöglichkeiten dar – denn denkt man sich den anderen Akteur samt seines Angriffs weg, käme der Rücktritt zur Schadensverhinderung mangels tatsächlicher Verhinderungsmöglichkeit überhaupt nicht in Betracht. Ein derartiger Tauschvertrag, beziehungsweise diese gegenseitige Pflichtenübernahme, ist nun ein freiwilliger Akt. Zwar kann die getauschte Mitwirkung wohl in der Unterwerfung unter eine objektivierende Behandlung bestehen, der Tauschvertrag selbst ist jedoch eine freiwillige Handlung. Wenn das Ergebnis, das aus der Durchführung eines solchen Tauschvertrages entstünde, zwangsweise herbeigeführt wird, dann handelt es sich nicht um die erzwungene Durchsetzung eines hypothetischen Tauschvertrages, sondern schlicht um Zwang, nämlich aufgezwungene Verantwortung für eine fremde Tat. Denn es ist inkorrekt, davon zu sprechen, dass die beiden Angreifer gezwungen wurden, ihre Pflichten zu erfüllen. Passend ist die Situation damit beschrieben, dass sie ihre Pflichten (Nichtschädigung durch legales Verhalten bzw. Rücktritt) gar nicht erfüllt haben, und zu einem Verhalten gezwungen wurden, das dem dieser Pflichterfüllung äußerlich entspricht (Notwehr). Diese Überlegung wird klarer, wenn wir uns vergegenwärtigen, wann man davon spricht, eine Pflicht erfüllt zu haben. Dazu folgendes Beispiel: Zwei Akteure erhalten einen Auftrag in Bezug auf dieselbe Person. Der eine soll ihr ein Kompliment machen, der andere sie beleidigen. Als die Beauftragten sich gegenseitig ihre Vorhaben erzählen, wird ihnen klar, dass die von ihnen geplanten Äußerungen (etwa wegen unzureichender Ausdrucksfähigkeit) jeweils genau das dem Auftrag Entgegengesetzte erreichen werden. Dennoch führen sie die Äußerungen aus. Würde man nun sagen, sie hätten beide ihre Pflichten aus dem Auftrag erfüllt? Ich denke nicht. Nur zufällig ist ein Ergebnis entstanden, das auch entstanden wäre, hätte jeder seinen Auftrag erfolgreich erfüllt (unterstellt, es ist der Auftraggeberin egal, wer welche Wirkung auslöst). Wenn sie bei ihrem Gespräch übereingekommen wären, dass jeweils der eine des anderen Pflicht vollbringen soll, könnte man sagen, sie hätten beide (durch den anderen) ihre Pflicht erfüllt. Würde man nun sagen, dass, weil eine solche Vereinbarung zustande hätte kommen können, auch im ersten Fall eine Pflichterfüllung vorliegt? Ich denke nicht. Man erfüllt nur dann eine Pflicht, wenn man zurechenbar eine Erfüllungshandlung erbringt (oder erbringen lässt). Es genügt nicht, dass eine freiwillige Zurechnungsübernahme möglich gewesen wäre. Das Beispiel zeigt, dass der zufällige oder erzwungene Eintritt eines phänotypisch pflichtgemäßen Geschehens nicht notwendig als Pflichterfüllung bezeichnet werden kann.
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Tadros will jedoch genau dies erreichen, indem er versucht, Notwehrduldungspflicht und Rücktrittspflicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie beide seien Folgepflichten der verletzten Primärpflicht (dem Schädigungsverbot). Allerdings ist die Notwehr eben nicht der gewaltsam erzwungene Rücktritt, sondern sie ist schlicht Zwang. Notwehr ist Fremdverwaltung560 und nicht erzwungene Selbstverwaltung. Dadurch, dass ein hypothetischer Pflichtentausch erzwungen wird, macht man den hypothetischen Tauschvertrag überflüssig. Die Angreifer erfüllen also nicht ihre Pflicht, wenn der Pflichtentausch erzwungen wird. Denn da sie die sich ihnen bietende Tauschoption hier nicht freiwillig wahrnehmen, haben sie beide ihre (ursprüngliche) Pflicht, ihren Angriff abzuwenden (das Rechtsgut nicht zu schädigen), nicht erfüllt. Die entwickelte Wertung, dass es sich bei dem freiwilligen und dem erzwungenen „Pflichtentauschvertrag“ um ein aliud handelt, wird auch klar, wenn man sich die rechtliche Bewertung vor Augen führt. Im Fall des freiwilligen Tauschvertrages verhindern die Akteure freiwillig den Eintritt des Taterfolges. Sie treten also strafbefreiend von der Tat zurück, denn sie haben ihre Angriffe vollständig neutralisiert. Im Fall des „erzwungenen Tauschvertrages“, dem des „erzwungenen Rücktritts“, wird den Tätern mangels Rücktritts weiterhin ein Vorwurf gemacht, nämlich der einer versuchten Straftat. bb) Intuitives Ergebnis auch ohne Pflichtentauschvertrag Wenn man das so sieht (also freiwilligen und erzwungenen „Pflichtentauschvertrag“ als aliud betrachtet), fällt der hypothetische Vertrag als Legitimationsgrundlage eines „zwangsweisen Pflichtentausches“ aus. Das schließt aber nicht aus, dass der Zwang anderweitig begründet sein kann. Tadros’ Überlegung könnte man nun dahin verstehen, diese Zwangsverpflichtung zur Pflichtenübernahme deswegen zu erwägen, weil der Täter einen anderen, vergleichbaren Angriff auf dasselbe Rechtsgut zu verantworten hat. Alle Angreifer zusammen müssen alle Angriffe abwehren. Auch wenn man dadurch partiell den Boden einer individualisierten Haftung verlässt und eine zwangsweise Schuldnergemeinschaft behauptet,561 mag man dies intuitiv als geboten bewerten – denn nur auf diese Weise scheint das prospektive Opfer auf Kosten der Angreifer gerettet werden zu können. Dass man die Pflicht eines anderen zwangsweise übernehmen muss, sofern man eine ähnliche Pflicht zugunsten desselben Rechtsguts hat, welche aus tat560
Siehe zu Begriff und Konzept Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. 2008,
S. 82. 561 Tadros will ja gerade das ihm als zu streng erscheinende Verantwortungsprinzip (wonach man nur zur Abwehr von Angriffen, die man zurechenbar verursachte, herangezogen werden darf) aufweichen.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
sächlichen Gründen jedoch nicht erzwungen werden kann, könnte man sicherlich aus moralischen Gesichtspunkten stark machen. Man denke etwa an Fälle diskonnexer Verantwortungsübernahme: „Du schuldest mir noch einen Gefallen“ oder „ich tue dies, weil Du mir früher einmal das Leben gerettet hast“. Rechtlichen Überlegungen ist eine derartige Verrechnung von Verletzungs- und Rettungshandlungen in Bezug auf ein Schutzobjekt fremd. Der dankbare Gerettete kann sich zwar auch rechtlich zugunsten des Retters zu einer völlig diskonnexen Handlung verpflichten. Der Aspekt, der die Verbindlichkeit dieser Handlung begründet, beruht aber eben in der freiwilligen Erklärung, nicht jedoch in der Rettungstat, die freilich Anlass für die Erklärung sein mag. Tadros legt mit seinem Beispielfall nahe, dass es untragbar wäre, wenn man dieses Ergebnis nicht auch erzwingen dürfte, also in Ausnahmefällen eine solche Verrechnung rechtlich geboten sei. Darauf will ich gleich zurückkommen. Schauen wir uns zunächst an, ob die Lockerung des Verantwortungsprinzips nicht vielleicht sogar in weniger dramatischen Fällen angezeigt ist. Dazu ein Beispiel: A hat gegen zwei Bauern Ansprüche schuldrechtlicher Natur: Gegenüber B1 besteht ein Anspruch auf eine gewisse Menge an Kartoffeln, gegenüber B2 ein Anspruch auf eine bestimmte Menge an Milch. Beide Schuldner können ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, weil sie ihren Vorrat an den jeweils geschuldeten Produkten bereits verkauft haben. Sie haben aber beide noch diejenigen Produkte, die der jeweils andere schuldet, B1 also die Milch, B2 die Kartoffeln. Dürfte A sich nun die jeweils ihr zustehenden Sachen dem anderen Vertragspartner, der diesbezüglich nicht verpflichtet ist, wegnehmen? Die beiden Bauern könnten freilich eine Vereinbarung dahingehend treffen, dass sie die von ihnen geschuldeten Leistungen gegenseitig erbringen. Wenn sie das aber nicht tun, dürfte dann A diese Vereinbarung erzwingen, und sich die Sachen nehmen? Nein, nach der Verantwortlichkeitsmaxime, der das geltende Recht folgt, würde es sich um einen Fall von Diebstahl handeln. Allerdings hält das Recht Hilfsmittel für A bereit: Sie kann die Zwangsvollstreckung erwirken und sich aus dem Erlös der Zwangsversteigerung schadlos halten. Aber selbst die Zwangsvollstreckung würde ihr keinen Anspruch auf die konkreten Sachen verschaffen, die ihr der Vertragspartner nicht schuldet. Sie wäre lediglich berechtigt, bei der Zwangsversteigerung mitzubieten. Tadros dürfte hiergegen wohl einwenden, dass die besagte Tauschpflicht – und die damit einhergehende Durchbrechung der Verantwortungslogik – ja auch nur für den Fall erzwingbar wäre, dass die Pflichterfüllung nötig ist, um gravierende Rechtsgüter zu retten, bzw. schwere, irreversible Schäden zu verhindern.562 Man könnte das Beispiel derart modifizieren, dass die Lebensmittel für A die einzige Möglichkeit sind, um dem Hungertod zu entgehen. Dann wäre es A wohl tatsäch-
562
Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 194.
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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lich gestattet, dem B1 Milch und B2 Kartoffeln eigenmächtig wegzunehmen. Um A dies zu gestatten, ist es aber offensichtlich nicht notwendig, die Wegnahme als Durchsetzung des erzwungenen Tauschvertrags zwischen den beiden Bauern zu interpretieren. Vielmehr ist ein solches Vorgehen schlicht aufgrund eines anderen Gesichtspunktes gerechtfertigt: Das gefährdete Interesse, nämlich ihr Leben, überwiegt das beeinträchtigte Interesse, das Eigentumsrecht der Bauern, ganz wesentlich (Notstand, § 34 StGB). Ein erzwungener hypothetischer Pflichtentausch ist nicht der Grund dafür, ihr dieses Vorgehen zu gestatten. Vielmehr ergibt sich das aus der Überlegung, dass man rechtlich geschütztes Interesse auch auf Kosten der Schädigung eines anderen Interesses retten darf, sofern letzteres im Vergleich zu dem ersteren als deutlich geringer bewertet ist. Dass für die Berechtigung kein Pflichtentausch benötigt wird, wird noch offensichtlicher, wenn man sich überlegt, dass der lebensrettende Diebstahl selbst für den Fall, dass die dadurch geschädigten Bauern A überhaupt nichts schulden würden, gerechtfertigt wäre.563 Auch mit dem Fall „Double Hit Man 2“ generiert Tadros die Intuition, dass es dem Angegriffenen doch gestattet sein muss, einen „Pflichtentausch“ zu erzwingen. Denn es erscheint dort unerträglich, dass sich das prospektive Opfer sehenden Auges töten lassen muss, weil es nach dem strikten Verantwortungspostulat nicht berechtigt sein soll, die Angreifer jeweils gegen einen Angriff einzusetzen, den sie nicht zu verantworten haben. Aber auch hier kann man dem prospektiven Opfer abhelfen, ohne auf die Konstruktion einer erzwingbaren Tauschpflicht, und damit eine Lockerung des Verantwortungsprinzips zurückzugreifen. Wenn das Opfer nachvollziehbarerweise seine Angreifer gegenseitig als Schutzschilde einsetzt, kann man das zwar als Unrecht bewerten, aber ihm dennoch bescheinigen, dass ihm ein Stillhalten in der Situation nicht zuzumuten war. Dies kann man etwa aus dem verständlichen Drang nach Selbsterhaltung, also der motivationalen Unzumutbarkeit, oder aber der Schwere und Irreversibilität des drohenden Schadens begründen, vgl. § 35 StGB. Dass ein Tauschvertag auch für den von Tadros geschilderten Fall nicht notwendig ist, zeigt sich daran, dass es dem Opfer nicht als vorwerfbares Unrecht angelastet würde, wenn er sich eines unbeteiligten Dritten als Schutzschild bedienen würde. Das Opfer würde dann rechtliche gesehen ohne Schuld handeln.564 cc) Zwischenergebnis: kein erzwingbarer Pflichtentauschvertrag vor Tatbegehung Um die herausgearbeiteten Bedenken gegen die Konstruktion eines erzwingbaren Pflichtentauschvertrages pointiert herauszustellen, kann man sich Folgendes 563
Vgl. § 34 StGB. Es sei denn, es hätte die abzuwehrende Gefahr selbst geschaffen oder müsste sie aus sonstigen Gründen tragen, vgl. § 35 StGB. 564
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
überlegen: Tadros behandelt diejenigen, die man als Gefahr behandeln darf (Notwehr), zugleich als autonome Akteure, indem er ihnen einen hypothetischen Pflichtenübernahmevertrag unterstellt und diesen mangels freiwilliger Kooperation dann als zwangsweise durchführbar erachtet. Er erweitert demnach die Grenzen der objektivierenden Behandlung, indem er dem Akteur freiwillige Handlungsmöglichkeiten an die Hand gibt und diese umgehend als erzwingbar ausweist. Im Ergebnis überzeugt also eine Lockerung des Verantwortungsprinzips im Sinne eines erzwingbaren Pflichtentauschvertrages weder aus normlogischen Gründen noch ist sie aus Gerechtigkeitsüberlegungen unabdingbar. b) Der Instrumentalisierungs-Erlaubnis-Erhaltungssatz Nehmen wir hilfsweise an, diese Tauschpflicht könnte überzeugend begründet werden. Hätte Tadros damit die Schmerzzufügung gerechtfertigt? Immerhin dürfte nun dem Angreifer auch ohne seinen Willen die Pflicht der Verhinderung einer anderen Tat auferlegt werden (i). Aber selbst wenn man die erzwingbare Tauschpflicht im Zeitpunkt der noch erfüllbaren Pflicht zur Verhinderung der Schädigung durch seinen Angriff annimmt, erscheint fraglich, ob sie zu dem Zeitpunkt, zu dem diese nicht mehr eingehalten werden kann (wenn die Tat also bereits geschehen ist) in der von Tadros angenommenen Weise fortwirkt (ii). Danach soll die „Duldungspflicht“ zu einer generellen Aufopferungspflicht – freilich zunächst nur zugunsten des Geschädigten – ausgebaut werden: Weil ich gegen die Notwehr des Opfers nichts hätte berechtigt einwenden können, darf mir auch jetzt noch eben dasjenige, was ich als Notwehr ertragen hätte müssen, angetan werden. Dies postuliert, dass Sinn der Notwehr nicht die Rettung dieses Subjekts vor dieser konkreten Schädigung, sondern vor vergleichbaren Schädigungen ist. Die Extraktion des Gedankens einer generellen Gefahrenabwehr aus der Notwehr beweist aber nicht den für Tadros’ Straftheorie nötigen zeitlichen Instrumentalisierungs-Erlaubnis-Erhaltungssatz, sondern setzt diesen voraus. Das heißt, selbst wenn man im Falle der Gleichzeitigkeit eine Tauschpflicht annehmen wollte, ist jedenfalls nicht ohne Weiteres klar, warum nicht mit dem Eintritt des Tatschadens die Geschäftsgrundlage dieser Tauschverpflichtung weggefallen sein sollte.565 Tadros bietet hier als Begründung an, dass die nötige Zurverfügungstellung zur nachträglichen opferbegünstigenden Instrumentalisierung aus der Pflicht resultiere, das – im Vergleich zur Erfüllung der Primärpflicht – Nächstbeste zu tun. Im Vertragsrecht sei zwar die Leistung von Schadensersatz das standardmäßige Ersatzmittel. Bei den gängigen Verbrechen aber, wie Körper565 Vgl. auch die – freilich zu Warren Quinns Idee eines selbstständigen Strafautomaten, s. dazu B. Fn. 125 – von David Dolinko vorgebrachte Kritik an einer Vorstellung, die er „moral stability claim“ nennt, dass also eine Handlung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zulässig sei, es auch zu anderen Zeitpunkten bleibe, Dolinko, Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 426.
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verletzung, sei finanzielle Entschädigung eine, wie Tadros schlicht feststellt, unangemessene Antwort: „Now let us consider a standard criminal wrong, say assault. If William has assaulted David he has breached his duty to David. He must now do the next best thing to fulfilling his duty not to assault David. What might that be? Perhaps he could provide David with monetary compensation for harming him. But if the assault is quite serious, damages will be inadequate as a response. And it will be very difficult to get William to provide David with compensation of this kind, especially if William is not very well off. (. . .) He cannot undo his assault. But he can put David in a position that is almost as good as he would have been in had William not assaulted him, by preventing the other person’s assault on him.“ 566
Wie Tadros allerdings selbst sieht, ist die Verhinderung eines weiteren unabhängigen Pflichtverstoßes, den eine andere Person zu begehen droht, jedenfalls nicht immer das Nächstbeste, nicht die „natürliche“ Folge des Pflichtverstoßes des Ersttäters – selbst wenn der durch die Pflichten Begünstigte personell identisch ist. Dies zeigt auch eine Parallelüberlegung bei ganz allgemeinen Pflichtverstößen, wie etwa dem Versprechensbruch. Wenn ich ein Versprechen gegenüber einer Person breche, scheint es nicht das Nächstbeste zu sein, dafür zu sorgen, dass ein Versprechen, das ein Dritter gegenüber dieser Person abgab, nicht gebrochen wird.567 Tadros postuliert daher, dass sich gebrochenes Versprechen und Verbrechen diesbezüglich wesentlich unterscheiden. Ein Versprechensbruch sei meist besser anderweitig (schuldrechtlich) kompensierbar (a), außerdem bestehe im Falle des Versprechensbruchs die Möglichkeit der Nothilfe nicht (b). Es ist fraglich, ob diese Differenzierungsgründe überzeugen. (a) Zum ersten Punkt bemerkt Tadros, dass der Versprechensbrecher üblicherweise seinen Pflichtverstoß auch im Interesse des Geschädigten anderweitig besser korrigieren könne – etwa dadurch, dass das Versprechen nachträglich erfüllt wird.568 Der Täter der Körperverletzung dagegen könne sein Opfer wahrscheinlich nicht adäquat kompensieren („especially if (. . .) [he] is not very well off“) es sei daher dort besser, einen weiteren Angriff zu verhindern.569 Die Kompensationspflicht gegenüber dem Geschädigten trete hinter die Pflicht zurück, sich gegenüber einem Drittangriff instrumentalisieren zu lassen. Soweit damit lediglich Liquiditätsfragen des Täters geht, auf die Tadros anspielt, wären sicherlich Verbesserungen möglich.570 Sie können jedoch nicht erklären, warum die Kompensationspflicht durch eine völlig andere Pflicht übertrumpft werden sollte. 566
Tadros, The Ends of Harm, 2011, S. 277. Ebd., S. 276 f. 568 Ebd., S. 277. 569 Ebd., S. 277 f. 570 Dass es Tadros vornehmlich um die Zahlungsfähigkeit zu gehen scheint, ergibt sich wohl aus den nachfolgenden Schadensersatzüberlegungen, vgl. ebd., S. 277 f. 567
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Auch das zweite Differenzierungsargument (b) läuft darauf hinaus, dass im Vordergrund der Unterscheidung die Frage steht, ob der Schadensersatz tatsächlich geleistet wird oder nicht. Der Unterschied zwischen Verbrechen und Versprechensbruch bestehe auch darin, dass dort die Erzwingung der Pflicht auch ohne spezielle Berechtigung durch einen Dritten erlaubt sei, wohingegen ein solches Nothilferecht bei ausschließlich zivilrechtlichen Versprechensbrüchen nicht bestehe. Der Unterschied sei damit zu erklären, dass für die Kriminalisierung eines Verhalten die Adäquatheit des Schadensersatzes nur ein Faktor („After all, it does not seem wrong to criminalize theft even though compensation might typically be adequate in response to theft.“), ein anderer Faktor571 die Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Zahlungswahrscheinlichkeit (Identifikation, Zahlungsfähigkeit des Schuldners) sei. Für die Frage Kriminalisierung sei also auch die Effektivität des Regulierungsmediums im Vergleich zu anderen Mechanismen entscheidend.572 Sicherlich lässt sich hören, dass die Nothilfe in Situationen des Verbrechens deswegen möglich ist, weil dadurch gefährdete Rechtsgüter noch rettbar sind und damit Kompensations-Komplikationen vorgebaut werden kann, während der Schaden bei vertraglichen Schulden in der Regel meist ohne Weiteres nachträglich kompensiert werden kann. Wechselt man jedoch in die Situation post delictum, bringt dieser Gedanke keinen Differenzierungsgewinn. Denn befindet man sich bei der zeitlich späteren Frage, was das Nächstbeste in Relation zur verletzten Primärpflicht ist, befindet sich also bei der Frage der Bestrafung, dann ist das Rechtsgut bereits geschädigt, der Täter auch offensichtlich gefasst.573 Die Erkenntnis, dass bei der Tat eine Nothilfe zulässig war, kann auf die Wahl des Reaktionsmittels nach der Tat keinen Einfluss haben. Schließlich fällt der Zweck der Nothilfe, der diese legitimiert, nach der Tat weg. Keine der beiden Überlegungen (a, b) kann somit erklären, weshalb sich der radikale Unterschied in der Frage des nachträglichen Pflichteninhalts ergeben sollte, weshalb also bei zivilrechtlichen Fragen die nächstbeste Pflichterfüllung die Kompensation des Opfers, bei strafrechtlichen Fragen das Nächstbeste in der Verhinderung eines vom Täter unabhängigen Zweitangriffs darstellen sollte. Selbst wenn also eine Pflicht zum Pflichtentausch im Zeitpunkt der Tat bestünde, ist unklar, weshalb nicht mit dem Eintritt des Tatschadens die Geschäftsgrundlage dieser Tauschverpflichtung wegfallen sollte. Denn die Tauschpflicht bestünde ja nur, um (auf indirekte Weise) die Rettung des angegriffenen Rechtsguts zu erreichen: indem man seine Selbstschädigung jemanden zum Tausch anbietet, welcher dann dafür die Pflicht erfüllt. Wird dieser Zweck unmöglich, liegt es
571 Neben anderen von Tadros nicht ausgeführten „wichtigen Überlegungen“ (ebd., S. 279). 572 Ebd., S. 278 f. 573 Oder eben nicht – aber dann hilft die Frage nach der Nothilfefähigkeit nicht weiter.
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ausgesprochen nahe, dass nunmehr die Kompensation des Opfers die Pflicht des Täters ist (das „Nächstbeste“ zur Erfüllung der primären Pflicht). Tadros’ Überlegung ist gut, aber sie rechtfertigt auf innovative Weise die Kompensationshandlung, nicht jedoch den Strafschmerz. c) Kriminelle Intentionen sanft und sorgfältig vermeiden Die weiteren Übertragungshürden von der Notwehr zur Strafe löst Tadros, wie ich kurz andeuten will, mit empirisch bedenklichen Annahmen. Während die Herleitung der staatlichen Strafe durch die vom Opfer geschuldete Übertragung seines „Strafrechts“ (iii), also seines gegenüber dem Täter bestehenden Instrumentalisierungsrechts, konstruktiv nicht unplausibel erscheint, setzt sie voraus, dass es sich bei der Gefängnisstrafe um ein Sich-als-Schild-verwenden-Lassen zugunsten aller handelt. Die Plausibilisierung dieser zentralen Annahme, nämlich der Wirksamkeit der negativen Generalprävention, findet nicht statt, sondern wird unterstellt. Wie Tadros später einräumt, ist die Wirkung, insbesondere wenn man an harte Gefängnisstrafen denkt, begrenzt.574 Ähnlich problematisch ist, wie die Anforderung, die für eine zulässige Notwehrhandlung besteht, nämlich dass der abzuwehrende Angriff zeitlich gegenwärtig sein muss (iv), bei der Strafe erfüllt sein soll: Denn der Angriff ist im Zeitpunkt der Straffrage bereits längst vorüber. Tadros argumentiert hier, dass sich diese Anforderung der Notwehr aus dem Gedanken ergebe, Akteure solange nicht schädigen zu dürfen, bis sicher sei, dass von ihnen eine Bedrohung ausgeht. Diese Überlegung greife aber hier gerade nicht (mehr): Der Täter habe seinen Angriff ja bereits vollendet, die Bedrohung also sogar realisiert, sich somit als bedrohlich erwiesen. Vielmehr gehe es nunmehr darum, das Entstehen von kriminellen Intentionen bei anderen zu verhindern.575 Die Bestrafung trage nun dazu bei, eine „Kultur hervorzubringen, in der die Akteure schon gar keine verbrecherischen Intentionen formten“.576 Auch im Interesse der potenziellen Täter dürfe man gar nicht zuwarten, dass diese konkrete Angriffe unternehmen und sich so strafrechtlichen Konsequenzen aussetzen.577 Abgesehen davon, dass die Argumentation auf der Annahme beruht, dass die sich aus der Notwehr ergebene Pflicht, sich instrumentalisieren zu lassen, auch nach der Tat fortbesteht, ist diese Vorstellung der Intentions-Inhibition bestenfalls spekulativ.
574
Ebd., S. 360, vgl. auch S. 344, 356, 2. Auch für den Täter sei dies vorzugswürdig, müsse er doch so nicht den akuten Bedrohungen gegenübertreten, sondern werde durch Strafe viel begrenzter und kontrollierter geschädigt, ebd., S. 282. 576 Ebd., S. 282. 577 Ebd., S. 282 f. 575
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d) Organhandel als unerwünschte Konsequenz Selbst wenn man all diese Schwierigkeiten bezüglich des Konstrukts des Pflichtentausches, der Instrumentalisierungs-Erhaltungs-Satzes sowie der gerade erwähnten empirischen Aspekte für überbrückbar hält, ergibt sich eine ungute Konsequenz, die Tadros zwar sieht, jedoch nicht befriedigend ausräumen kann. Das Problem ist Folgendes: Nehmen wir mit Tadros an, die sich aus der Notwehr ergebende Pflicht des Täters, sich instrumentalisieren zu lassen, besteht, sofern die erzwungene Pflichterfüllung schiefgeht, und dies auch noch nach der beendeten Tat und so die Grundlage für die Strafe bildet. Müsste sich derjenige nicht für eine – auch von der Tat völlig losgelöste – Organtransplantation zugunsten des Opfers bereitstellen? Müsste er nicht sogar vertragliche Vereinbarungen treffen, um an die Organe anderer Täter heranzukommen?578 So überlegt Tadros: „As a result of your harmful wrongdoing, you [a serious offender; M. A.] owe an obligation to protect me from future harms. And if I impose on you no greater cost than you would already had to bear to avert the threat that you wrongfully caused me, it might be argued, you could be required to compensate me by doing the next best thing. If I suffer from a life-threatening illness, the next best thing, we might think, is to cure me of the illness. If it would have been permissible to kill you to avert the threat that you posed to me, perhaps it follows that it is permissible for me to kill you now to take your organs to cure my illness.“ 579
Man habe also die Pflicht, mit anderen Tätern gewissermaßen einen „Organtauschring“ zu gründen: „If I am right in my analysis of Double Hit Man 2 it might (. . .) be argued that you have an obligation to form an agreement with other serious wrongdoers to make all of your organs available to cure the sick of their illnesses. You owe this obligation because that would be the best way for you to ensure that your obligation to compensate me would be fulfilled by someone.“ 580
Tadros ist der Ansicht, dass eine derartige faktische Todesstrafe, die aus seinen Überlegungen abzuleiten wäre, generell als barbarisch abzulehnen sei. Dagegen sprächen prinzipielle sowie pragmatische Gründe: Prinzipiell sei erstens das Ausmaß der Schädigung, das der Täter an fremdnütziger Instrumentalisierung, also an Strafe erdulden müsse, geringer als das Ausmaß der Schädigung, das er für seinen eigenen verbrecherischen Angriff hätte erdulden müssen. Denn den Angriff, zu dessen Abwehr er nun instrumentalisiert werde, habe er nicht verantwortlicherweise geschaffen.581 Zweitens nehme das zulässige Schädigungsmaß über die Zeit ab, zumal sich die Person des Täters
578 579 580 581
Ebd., S. 307. Ebd., S. 307. Ebd., S. 308 (H. i. O.). Ebd.
VII. Strafschmerz als Einlösung der Notwehrpflicht
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von ihrer Identität im Tatzeitpunkt verändere. Drittens erscheine eine Instrumentalisierung, indem man operativ Organe entfernt, intuitiv schlimmer als die Instrumentalisierung als ein Schutzschild. Viertens müsse man die faktische Todesstrafe mit anderen Methoden vergleichen, die ein entsprechendes Maß an Sicherheit für die zu Schützenden gewährleiste, wie etwa die Erhöhung von Ressourcen im Gesundheitswesen oder der Polizei.582 Aus pragmatischer Sicht sei zu bedenken, dass zum einen Justizfehler angesichts der Irreversibilität des Eingriffs besonders schwer wögen. Zum anderen würde die Tendenz, Straftäter für unsere Sicherheit auszunutzen, zunehmen: „[W]e know that modern democratic states have expansive tendencies in the area of criminal justice in three different ways. We over-criminalize, we punish those who are not fully responsible for what they have done, and we punish disproportionately. Furthermore we do not do nearly as much as justice requires of us to help people live lives without offending. The criminal offending of those people stains all our hands, and that provides limits on what we can do to them for our own benefit. A practice of organ distribution would almost certainly compound the injustices that we perpetrate against offenders and ought to be rejected for these reasons.“ 583
Tadros führt, wie ich meine, gute Gründe an, die im Ergebnis überzeugend darlegen, weshalb die Instrumentalisierung des Täters im Sinne eines Organhandels abzulehnen ist. Auf der Hand liegt allerdings die Frage, ob all diese Gründe sich nicht ebenso gut – jedenfalls in der Tendenz – gegen eine Instrumentalisierung im Sinne einer Schmerzzufügung der Strafe in Anschlag bringen lassen. 4. Ergebnis Die Theorie von Tadros beginnt mit einer zulässigen Instrumentalisierungspflicht, kann daher konkret bei der Schmerzzufügung ansetzen. Die Erklärung dafür, dass die Pflicht, die Notwehr zu dulden, auch nach der Tatvollendung fortbestehe, überzeugt jedoch nicht. Sie beruht gewissermaßen auf der Vorstellung einer Art ritterlichen Treuepflicht: „Ich habe dein Leben verschont, indem ich die mir mögliche Notwehr gegen deinen Angriff unterließ, nun musst du einen anderen Angriff auf mich abwehren.“ Diese Vorstellung eines Instrumentalisierungs-Erhaltungssatz scheitert insbesondere daher, weil nicht plausibel wird, weshalb die Abwehr einer anderen Tat „das Nächstbeste“ ist, was der Angreifer tun kann. Es scheitert aber auch schon daran, dass das Konstrukt der erzwingbaren Pflicht zur Übernahme fremder Pflichten nicht überzeugt, also bereits vor Tatvollendung nicht das da ist, was erhalten werden müsste, um eine fremdnützige Schmerzzufügung als Strafe zu rechtfertigen.
582 583
Ebd., S. 308 f. Ebd., S. 310.
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
VIII. Der Strafschmerz als Reue (Antony Duff) 1. Eine ideale politische Gemeinschaft Nach Antony Duff kann die Frage nach der Rechtfertigung der Strafe nur beantworten, wer sich im Klaren darüber ist, wie wir als Mitbürger miteinander umgehen wollen.584 Duff zufolge hängt die Rechtfertigung der Strafe vom Verständnis des Strafrechts insgesamt ab, wobei die Rolle des Strafrechts – insofern stimmt er mit den Ansätzen von Jakobs oder Pawlik überein – wieder damit zusammenhänge, in welcher Weise man das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Bürgern bestimmt. Als Ausgangspunkt wählt Duff diesbezüglich eine „liberalkommunitaristische“ Position. Was er hierunter versteht, will ich skizzieren: Zwar gehe es darum, liberale Werte zu verfolgen, deren Verwirklichung sei allerdings als gemeinsames Unternehmen anzusehen. Eine Haltung, die den Stellenwert der Gemeinschaft betone, schließe eine Orientierung an liberalen Werten nicht aus: „a liberal political community, a polity defined and structured by a shared commitment to such central liberal values as freedom, autonomy, privacy and pluralism, and by a mutual regard that reflects those values“.585 Zwischen den einzelnen Mitgliedern einer solchen politischen Gemeinschaft bestünden zwar keine konkreten Beziehungen, allerdings hypothetische: „how they would respond to one another if they came into direct contact“.586 Die Akteure seien dadurch zu einer Gemeinschaft verbunden, dass sie die genannten Werte verfolgen und in Hinblick auf diese Werte ein „angemessenes gegenseitiges Interesse“ 587 entwickeln: „That mutual concern will involve a readiness to assist one another in pursuing and preserving the community’s distinctive goods (. . .) and, more crucially for present purposes, a respect for one another as fellow members of the community that precludes simply exploiting others for one’s own ends or treating them in ways that are inconsistent with the community’s defining values. That is to say, in such dealings as they have as fellow citizens, they must address one another as citizens whose status as members of the community is no different from (. . .) their own.“ 588
Das spezifisch kommunitaristische Element äußere sich darin, dass Ausgangspunkt – hier folgt Duff dem klassischen Einwand gegen liberal-atomistische
584 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 18; eine umfassende Bearbeitung von Duffs Theorie liefert C. Sachs, Moral, Tadel, Buße, 2015. 585 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 46 f. (H. i. O.) „Although the values of autonomy, freedom, privacy, and pluralism are the most relevant to such a community’s (self-)definition as a liberal community, its members will share other values that also help to constitute them as a community.“ Ebd., S. 47. 586 Ebd., S. 47 (H. i. O.). 587 Ebd., S. 48 („appropriate mutual concern for one another“). 588 Ebd., S. 48.
VIII. Der Strafschmerz als Reue
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Theorien589 – normativer Überlegungen nicht isolierte Individuen seien, sondern solche Akteure, die bereits in (kontingenten) Gruppen assoziiert seien,590 man also bereits „individuals in community“ 591 vor Augen habe. Duff führt diesen kommunitaristischen Einschlag an zwei Überlegungen aus: Zum einen befänden wir uns mit umgebenden Akteuren, selbst mit jenen, die wir uns nicht ausgesucht hatten, in einer „fellowship“:592 „(. . .) a fellowship with other members of a historically contingent community, which involves having concern for them (and a claim on them) as my fellows [.] (. . .) This is the sense in which the normative bonds of community are, for normative communitarians, given rather than chosen. (. . .) I might not be required by either psychology or logic to accept these bonds and the demands that flow from them: but I am, morally, stuck with them – these are my fellows, whether I like it or not.“ 593
Zum anderen seien die besagten grundlegenden liberalen Güter „sozial konstituiert“, könnten nur in einem sozialen Rahmen wirklich werden. Freiheit etwa bedeute in einem vollen Verständnis eben nicht nur negativ die Abwesenheit von äußeren Zwängen, sondern umfasse auch die Existenz realer Wahlmöglichkeiten. Und diese positive Seite der Freiheit könne nur als gemeinschaftliches Projekt, im sozialen Kontext geschaffen werden.594 Demjenigen, der die nämlichen Güter ausschließlich individualistisch begreift, bliebe verborgen, dass es gerade dieses reichere Verständnis der Güter ist, das die Gemeinschaft mit den anderen Akteuren begründe.595 Freilich blieben die Güter solche des Einzelnen und würden nicht zu einem die Interessen des Einzelnen überspielenden Kollektivgut. Die Qualität der Güter entfalte jedoch eine andere Dimension, wenn sie allseitig realisiert würden: „[W]ithin a liberal polity my autonomy has value as that of an autonomous citizen among other autonomous citizens; and so too with freedom and privacy“.596 Duff erläutert dies am Beispiel der Freiheitsgarantie: „If I have the freedom to pursue my own projects, while many of my fellow citizens do not, the very character of my freedom differs from that of the freedom of a free citizen amongst other free citizens; nor does it have the value that freedom has when it is shared in by all – the value that defines it as the good of citizens in a liberal polity.“ 597 589
Siehe dazu oben bei Jakobs B. IV. 4. b). Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 51. 591 Ebd., S. 52 (H. i. O.). 592 Dies ist meines Erachtens die Stelle, an der Duff von einer genetischen zu einer normativen Position wechselt. Wir sind nicht nur gleich, sondern sollten die egalitäre Position auch wollen: „Wir müssen Positionen, in die wir geworfen sind, auch akzeptieren.“ Aus der Einsicht in Gleichheit folgt Gleichheit als normatives Postulat. 593 Ebd., S. 53 (H.i.O). 594 Ebd., S. 54. 595 Ebd., S. 55. 596 Ebd., S. 55 (H. v. m.). 597 Ebd., S. 55. 590
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Wenn die Verpflichtungen idealerweise aus der Akzeptanz der Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft erwachsen, ist freilich zu überlegen, wie es sich mit Akteuren verhält, die diese normative Verbindung gerade nicht akzeptieren („non-voluntary membership“).598 Deren Bindung sei weder mit klassischen Überlegungen wie ihrer Option, aus der Gemeinschaft auszutreten, ihrer (konkludenten) Zustimmung, Vernunftnotwendigkeiten noch dadurch zu erklären, dass erst Gemeinschaft ihre Identität überhaupt ermöglicht.599 Vielmehr bleiben die unfreiwilligen Mitglieder nach Duff „zu Überzeugende“: „We can do no more and no less than to try to persuade them to recognize their fellowship as citizens with the other members of the polity.“ 600 Auch wenn solche Überzeugungsversuche scheitern können, würden sie dadurch nicht irrational oder – solange sie nicht manipulative Züge annehmen – unzulässig. Ebenso zulässig bleibe es, das Verhalten zu kritisieren, das den Werten der skizzierten fellowship widerspricht.601 Diese skizzierte Vorstellung der politischen Gemeinschaft hat nun Konsequenzen für Strafrecht und Verbrechen. Das Strafrecht dürfe nicht freihändig Verbote erfinden, sondern jede Strafnorm müsse vor dem Hintergrund der Gemeinschaftswerte gerechtfertigt sein. Einer solchen Gemeinschaftsauffassung laufe nämlich eine Konzeption zuwider, die das Strafrecht so versteht, als würde es gebietend „inhalts-unabhängige“ Gründe für legales Verhalten liefern,602 also Gründe, die nicht auf das Unrecht des infrage stehenden Verhaltens,603 sondern allein auf die gebietende Autorität des Rechts abstellen.604 Derartige Konzeptionen verlangten die Befolgung des Normappells allein deswegen, weil das Recht es gebiete oder weil das Verhalten sanktionsbewährt sei, was in gewisser Weise undurchsichtig sei.605 „The reasons it [the law] offers them [the citizens] are different from the reasons that justify its demands on them.“ 606 Vielmehr müsse das Recht die Akteure mit Rekurs auf die Werte der Gemeinschaft adressieren. Nur so werden jene als Mitglieder der Gemeinschaft ernst genommen. Die Sichtweise ist nach Duff daher eher die, dass die Akteure gemeinschaftlich festlegen, welche Verhaltensweisen als den Gemeinschaftswerten zuwiderlaufend betrachtet werden. Werden Verbrechenstatbestände auf diese Art 598
Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 69 f. 600 Ebd., S. 71. 601 Ebd. 602 Ebd., S. 56 ff. 603 Die „wrongfulness“ ergibt sich bei mala in se intrinsisch, zu den mala prohibita ebd., S. 64 ff. 604 Ebd., S. 57. 605 „It says to them either, ,Act thus, because you have an obligation to obey the law‘ or ,act thus, or else you will suffer sanctions‘“ (ebd., S. 58). 606 Ebd., S. 58. 599
VIII. Der Strafschmerz als Reue
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geschaffen, ergibt sich ohne weiteres, dass die nämlichen Verhaltensweisen im Falle ihres Auftretens einer öffentlichen missbilligenden Stellungnahme bedürfen.607 Auch wenn eine solche öffentliche Missbilligung die Aufforderung enthalte, das kritisierte Verhalten zu unterlassen, sei die Konzeption des Strafrechts nicht so zu verstehen, dass es in erster Linie um die künftige Verhinderung dieses Verhaltens gehe – das würde bereits einen instrumentalisierenden Zugang nahelegen. Im Vordergrund stehe vielmehr die Funktion des Strafrechts, den Rechtsadressaten die Einordnung des besagten Verhaltens als Unrecht in Erinnerung zu rufen und bei ihnen die Gründe für diese Einordnung zu aktualisieren.608 Dadurch, dass das Strafrecht mit den Adressaten in der Sprache der geteilten Werte kommuniziere, sei es ein common law im idealen Sinn: „[I]t is ,our‘ law as members of the community. The law does not address the citizens in the voice of a separate sovereign who exercises power or authority over them. It speaks in their own voice, in the language of their own values.“ 609 Dies bedeute aber nicht, dass dem Recht keinerlei Autorität zukommen solle: So besitze das Recht eine autoritative Funktion etwa bei der Konkretisierung von mala in se (etwa bei der Frage der Sterbehilfe) oder bei praktischen Umsetzungen der Gemeinschaftswerte im Wege von mala prohibita, etwa der Pflicht zum Führen einer TÜV-Plakette oder der Festlegung der relevanten Grenzen der Alkohol-Konzentration im Blut für die Teilnahme am Straßenverkehr.610 Aus der Überlegung, dass ein Verhalten mit Blick auf die Gemeinschaftswerte als Unrecht deklariert wird, ergäbe sich auch der Charakter des Verbrechens als „public wrong“: Verbrechen seien nicht bloße Gewissensfragen oder Interna, sondern Angelegenheiten, „on which the community as a whole can and should take a stand, through the authoritative voice of the law“.611 Die öffentliche Stellungnahme sei nicht nur aus der Überlegung heraus erforderlich, dass nur so die Rechtsbefolgung erreicht werden könne. Vielmehr sei die Einstufung eines Verhaltens als Verbrechen und damit als unerwünscht nur glaubhaft, wenn das entsprechende Verhalten, so es auftritt, auch kritisiert wird. Dies erkläre, weshalb der Täter für die Tat getadelt werden müsse.612 Zudem sei die Missbilligung des Täterverhaltens etwas, was die Gemeinschaft dem Opfer als ihrem Mitglied schulde.613 607
Ebd. Ebd., S. 58 f.; 18. Vergleiche zu einer ähnlichen Vorstellung des Strafverfahrens als Situation moralischen Lernens im Sinne von Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung Brumlik, Kriminologie, Jugendstrafe und Gerechtigkeit, in: Peters, Muss Strafe sein?, 1993, S. 208 ff. 609 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 59 (H. i. O.). 610 Ebd., S. 64 f. 611 Ebd., S. 61. 612 Ebd., S. 72, 28 f. 613 Ebd., S. 72; „display our concern“ (ebd., S. 123). 608
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Die Idee der politischen Gemeinschaft hat auch Auswirkungen auf die Frage des Umgangs mit dem Straftäter: Sieht man diesen als Mitglied der Gemeinschaft an, folge daraus, dass auch der Täter stets als „responsible moral agent“ 614 zu adressieren sei, und zwar nicht auf eine exkludierende, sondern eine inkludierende Weise.615 Auch sie der Täter auf eine Weise zu adressieren, die den Gemeinschaftswerten nicht zuwiderlaufe. Hieraus folge, dass eine Strafe, die rein auf Abschreckung setzt, ausgeschlossen sei:616 „A purely deterrent law, however, addresses those whom it seeks to deter, not in terms of the communal values that it aims to protect, but simply in the brute language of self-interest. It thus addresses them, not as members of the normative community of citizens, but as threatening outsiders against whom the community must protect itself. It implicitly excludes them from membership of the citizen community by no longer addressing them in terms of that community’s values.“ 617
Strafe sei als Geschehen zwischen Mitbürgern zu verstehen. Relevant sei daher nicht die Überlegung, wie es am besten gelingt, die potenziellen Täter von Taten abzuhalten („prevent ,them‘“), sondern wie wir uns als Mitbürger gegenseitig von der Vorzugswürdigkeit legalen Verhaltens überzeugen wollen („persuade ourselves“).618 Die Strafe sei somit ein kommunikativer Akt, adressiere den Betroffenen als aktiven Teilnehmer und appelliere an dessen Verständnis.619 Strafrecht sei aber nicht lediglich mit der Analyse vergangenen unabänderlichen Verhaltens beschäftigt, die kommunikative Komponente sei durchaus auch auf Verhaltensbeeinflussung gerichtet: „[I]nternal to censure is the intention or hope that the person censured will accept it as justified; and to accept censure as justified is to accept that one did wrong, which entails repenting that wrong and seeing the need to avoid such wrongdoing in future.“ 620
Die beeinflussende Komponente sei aber nicht als konsequentialistische Überlegung anzusehen, wohne vielmehr dem Tadel inne. Nachdem, wie gesehen, die Unrechtseinsicht und nicht die Verbrechensverhinderung im Vordergrund der Missbilligung stehen, seien auch die zulässigen Mittel auf rationale und transparente Überzeugung beschränkt. Denn das angestrebte Ziel, dass die Bürger die
614
Ebd., S. 29. Ebd., S. 77. „I believe, however, that criminal punishment could and should be inclusionary, as something that we can do, not to ,them‘ who are implicitly excluded from the (law-abiding) community of citizens, but to ourselves as full, if imperfect members of that community.“ (Ebd., H. i. O.). 616 Ebd., S. 78 f. 617 Ebd., S. 79 (H. v. m.). 618 Ebd., S. 18. 619 Ebd., S. 79 f. 620 Ebd., S. 80. 615
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Anforderungen des Rechts als rechtmäßig akzeptieren und vom Verbrechen aus diesem Grunde absehen, schließe manipulative Methoden von vornherein aus.621 „That aim can of its nature be achieved only by a communicative process that seeks to bring citizens to recognize and to accept not just that certain kinds of conduct are ,prohibited‘ by the law, but that and why such conduct is wrong.“ 622
Wie kann im besagten Überzeugungsprozess nun Kriminalstrafe eine Rolle spielen, und warum sollte die intentionale Schmerzzufügung notwendiges Mittel sein? Duffs Erklärung erfolgt indirekt: Als paradigmatische Strafe benennt er das Institut des Täter-Opfer-Ausgleichs. Dieser sei ein punitiv-kommunikativer Prozess, schmerzhaft für den Täter, da dieser dem Opfer zuhören und Reue zeigen müsse.623 Strafe verfolge als Ziel die Trias aus „repentance, reform and reconciliation“. Das erste Ziel, die Reue, sei internes Ziel des Tadels: „When we censure others for their wrongdoing, our intention or hope is that they will accept that censure as justified. But to accept censure as justified is to recognize and accept that I did wrong, the wrong for which I am censured; and an authentic recognition that I did wrong must bring with it repentance of that wrong.“ 624
Reue setze voraus, dass der Täter sich das Geschehen als von ihm zu verantwortendes zuschreibt und sich gleichzeitig von seinem Verhalten distanziert. Das Unrecht als Unrecht zu erkennen sei eine für den Täter notwendig schmerzliche Erfahrung. Genau darauf ziele die Strafe: „In aiming to induce repentance, punishment thus aims to bring offenders to suffer what they deserve to suffer – the pains of repentance and remorse.“ 625 Man könne dem Täter eine reuige Haltung „induzieren“, indem man ihn dazu bringt, sich mit dem begangenen Unrecht auseinanderzusetzen.626 Auch darauf zielten die strafrechtlichen Reaktionen der Bewährung und des Täter-Opfer-Ausgleichs. Die sich aus ihnen ergebenden Belastungen, wie etwa gemeinnützige Arbeit und Bemühungen der Wiedergutmachung, könnten als materieller Ausdruck („material expression“) des Tadels begriffen werden und würden so eine nachdrücklichere Kommunikation erlauben.627 Auch Duff stellt die zentrale Frage: Weshalb muss der Tadel gerade diese „materialisierte“ Form annehmen? Warum reicht nicht die formale öffentliche Stellungnahme oder sonst eine symbolische Reaktion? „The answer to this question has to do partly with some familiar aspects of our ordinary human nature as 621
Ebd., S. 81. Ebd. 623 Ebd., S. 97. 624 Ebd., S. 107. 625 Ebd. 626 Ebd. „If we are to address him as a responsible moral agent, if we are to engage in an appropriate effort at ,transparent‘ persuasion (. . .), we must therefore seek to induce his repentance by focusing our and his attention on that wrong – by censuring him for it.“ 627 Ebd. 622
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
fallible moral agents and partly with the nature of repentance.“ 628 Genuine Reue brauche Bußmomente und Reflexionszeit. Eine schnell dahingesprochene Reuebekundung bleibe zwangsläufig oberflächlich.629 Richtige Reue könne nicht abrupt erfolgen, der Täter müsse sich einige Zeit mit seiner Tat befassen: „It must go deep with the wrongdoer and must therefore occupy his attention, his thoughts, his emotions, for some considerable time. Someone who claims to have been deeply grieved by the death of a loved one, but who resumes her normal life, thoughts, and feelings after a day, thus belies her claim. Similarly, someone who claims to have repented the serious wrong he did, but who rapidly resumes his normal life and gives that wrong no further thought, thus belies his own claim.“ 630
Die harte Behandlung („penal hard treatment“)631 biete nun eine Struktur, innerhalb derer eine solche authentische Reue erreichbar ist. „As fallible moral agents, we need such penances [as the reparative burden or the community service; M. A.] to assist and deepen repentance.“ 632 Das zweite Ziel, die Reform, sei ein Reflex der reuigen Einstellung: Die Distanzierung von der Tat lege den Täter implizit darauf fest, künftig das nämliche Verhalten zu unterlassen. Will man die Reue des Täters herbeiführen, so ziele man also zugleich darauf ab, den Täter von der Notwendigkeit seiner Selbst-Reform zu überzeugen.633 Als drittes Ziel nennt Duff die Versöhnung. Der Täter müsse eine Entschuldigung anstreben, um weiterhin als Mitbürger angesehen zu werden. Die Entschuldigung könne in Fällen gravierenden Unrechts nicht rein im Verbalen verbleiben, sondern müsse zusätzlich ein Element der Buße enthalten.634 Den Einwand Andreas v. Hirschs, dass ein auferlegter Täter-Opfer-Ausgleich – von diesem ist als dem postulierten Paradigma der Strafe die Rede – auf ein autonomie-missachtendes „erzwungenes Posieren“ 635 hinauslaufe, anerkennt Duff als durchaus beachtenswert. Jedoch sei dies die formalisierte und rituelle Weise, öffentlich wahrnehmbar eine Entschuldigung auszudrücken. Dem Täter bleibe dabei unbenommen, das Gesagte auch wirklich innerlich so zu empfinden.636 Duff ist sich selbst nicht sicher, ob diese Entgegnung ausreicht, und schlägt vor, dass dem Täter offen bleiben solle, auch nach außen hin kundzutun, seiner Strafe gerade nicht 628
Ebd. (H. v. m.). Ebd., S. 107 f. 630 Ebd., S. 108. 631 Gemeint sind hier noch Reparation und gemeinnützige Arbeit. 632 Ebd., S. 108. 633 Ebd. 634 Ebd., S. 109. 635 Duff erwähnt (ebd., S. 110), dass v. Hirsch einen auferlegten Täter-Opfer-Ausgleich als „compulsory attudinizing“ betrachtet, er verweist auf v. Hirsch, Censure and Sanctions, 1993, S. 83. 636 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 110. 629
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den Bedeutungsgehalt einer Entschuldigung beizumessen. In einem solchen Fall sei die Strafe ausschließlich auf die ersten beiden Strafziele zu stützen. Wenn der Täter dann dasjenige durchlaufen habe, was aus der Außenperspektive als Entschuldigung angesehen werden würde, falls er es so meinte, dann müsse das – ungeachtet dessen wie er es nun meinte – von der Gemeinschaft als ausreichend anerkannt werden:637 „He might not have paid the apologetic debt (. . .). But something like that debt has been exacted from him[.]“ 638 Wie wir gesehen haben, nähert sich Duff der Strafe von der Reaktionsform des Täter-Opfer-Ausgleichs. Darin lag die Plausibilität der aktiven Rolle des Täters und dem kommunikativen Verständnis der Sanktion als „säkulare Buße“ 639. Nun versucht er, diese Sichtweise auch auf „passive Strafarten“ zu übertragen, insbesondere die Freiheitsstrafe: „If he is brought to repent his crime and to see the need for some reparative apology (. . .), he will also come to accept his punishment as the formally prescribed way in which that apology is to be made. What began as a punishment inflicted on him in order to induce repentance becomes a punishment (. . .) that he accepts or wills for himself as an expression of that repentance. This is the proper aim of punishment as penance.“ 640
Selbst gegenüber derjenigen Täterin, die bereits vor Strafantritt Reue empfindet, und auch gegenüber dem bis zum Ende der Strafvollstreckung trotzigen Täter sei die Strafe gerechtfertigt. Erstere könne die Strafe von Beginn an als reuige Entschuldigungshandlung begreifen, gegenüber Letzterem handle es sich um einen Überzeugungsversuch, der auch dann unternommen werden dürfe, wenn er nicht allzu erfolgsversprechend ist.641 Strafe ist somit als „säkulare Buße“ zu verstehen,642 die dem Adressaten offenlässt, die Botschaft des Strafrechts anzunehmen. Sie sei nicht unzulässig invasiv, als sie lediglich die Tat und nicht die Täterperson im Blick hat. Gleichzeitig versuche sie jedoch, den Täter mit den Geschädigten und der Gemeinschaft zu versöhnen und auch seinen Status als Mitglied der Gemeinschaft zu bestätigen.643 637
Ebd., S. 110 f. So zum „trotzigen Täter“ ebd., S. 124. 639 Ebd., S. 113, auch etwa 197 u. 30. 640 Ebd., S. 111. 641 Ebd., S. 119 ff. Strafe fungiere in diesem Fall wohl aus Tätersicht als „prudential deterrent“, was schadlos sei, solange sich die Gesellschaft nicht auf diese Überlegung stütze und Strafe weiterhin als „mode of moral communication“ auffasse, so ebd., S. 124. 642 Zu Duffs Theorie auch Ellscheid, der zwar konsensfähige Forderungen erkennt (respektvolle Behandlung des Opfers und Zurückdrängung der Freiheitsstrafe), für deren Fundierung er das Konzept der Strafe als Buße jedoch als überflüssig ansieht, Ellscheid, Zur Straftheorie von Anthony Duff, in: Radtke u. a., Muss Strafe sein? JungKolloquium, 2004, S. 31 f. 643 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 112 f. 638
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2. Probleme der schmerzlichen Reue Mir geht es nicht darum, den Ansatz von Duff insgesamt anzuzweifeln. Auf einige Aspekte, wie beispielsweise die aktive Rolle des Täters und den Gedanken der Selbstdistanzierung, die Behandlung als Mitglied der normativen Gemeinschaft, werde ich zustimmend zurückkommen. Auch geht es mir nicht darum, Duffs kommunitaristische Position zu problematisieren.644 Ich will hier nur fragen, was seine Theorie zur Rechtfertigung des Strafschmerzes beiträgt, und inwiefern sie möglicherweise in die Irre führt. Dem Strafschmerz kommt in Duffs Theorie eine doppelte, sich komplementär ergänzende Funktion zu: Im „Vor-Reue-Zustand“ dürften wir dem Täter den Strafschmerz auferlegen, weil wir die Reuebekundung des Täters wollen sollten; wenn der Täter seine Tat sodann tatsächlich bereut, dürften wir die Zufügung des Strafschmerzes deswegen aufrechterhalten, weil dieser nunmehr die Reue des Täters ausdrücke. a) Ist das Abzielen auf Reue moralisch intrusiv? Bedenklich an Duffs Ansatz dürfte vor allem erscheinen, dass die Strafe darauf ausgerichtet sein soll, eine innere Haltung herbeizuführen. Ziel soll sein, dass der Täter das Recht befolgt, weil er das Verbrechen für Unrecht hält, er zu seiner Tat eine reuige Einstellung entwickelt. Kritiker dürften – wie Duff antizipiert – argumentieren, dass das Konzept der Reue als Strafe das Bild einer moralisierend intrusiven, spirituellen Gemeinschaft vor Augen habe, wohingegen ein Konzept des schmerzenden Klugheitsgrundes als Strafe von einer moralischen Bekehrung respektvoll Abstand halte.645 Duff versucht seine Theorie gegen den Vorwurf einer solchen bedenklichen Moralisierung646 abzudichten: Der Ansatz würde sich nicht in unzulässiger Weise für die Einstellungen des Täters interessieren, was daran liege, dass nicht – wie in manchen informellen und restaurativen Ansätzen – der ganze Konflikt mit allen inneren Einstellungen beleuchtet werde, sondern
644 Siehe zur Kritik einer möglichen völkerstrafrechtlichen Lesart der Theorie von Duff, insbesondere mit dem Hinweis auf eine dort schwächere Bindung an gemeinsame Werte, Werkmeister, 2015, S. 308 ff. Vgl. dazu das differenzierte Bild zur Frage nach der Existenz einer internationalen, gemeinsamen Wertegrundlage Swoboda, Didaktische Dimensionen internationaler Strafverfahren – dargestellt am Beispiel der UN ad hocTribunale, ZIS 2010, S. 101 f. Swoboda hält eine Werteordnung als normativen Fluchtpunkt für existent, zumal sie sich gegenüber Vorschlägen für eine Verstärkung der „normative-didaktischen Wirkungen“ völkerstrafrechtlicher Aufarbeitung insgesamt aufgeschlossen zeigt (allerdings angesichts der Gefahr, zum Schauprozess auszulaufen, zur Vorsicht mahnt), ebd., S. 107 ff. 645 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 125 f. 646 Siehe etwa die Auflistung von Bedenken bei Wolf/Haaz, Strafe als Tadel? Argumente pro und kontra, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 69 ff.
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nur diejenigen Einstellungen, die für die Beurteilung der Tat als Unrecht von Bedeutung sind. Wer nun behaupte, dass sich das Strafrecht ausschließlich mit Schadensposten des Taterfolgs befassen dürfe, der übersehe, dass – im Gegensatz zum zivilrechtlichen Schaden – gerade die in der Tathandlung zum Ausdruck kommende Einstellung des Täters entscheidend dafür ist, das Geschehen als strafrechtlich relevantes einzustufen.647 Die so artikulierte, den Gemeinschaftswerten zuwiderlaufende Einstellung mache ganz wesentlich das strafrechtliche Unrecht aus und sei daher keinesfalls als schützenswertes Internum des Täters zu betrachten. Die Strafe wolle die Revision eben dieser Haltung erreichen: „[H]is punishment aims to bring him to recognize and repent their [the intentions and attitudes manifested in his criminal action; M. A.] wrongfulness.“ 648 Duff liegt, wie ich meine, auf der einen Seite richtig, wenn er betont, dass es gerade um die offenbarten rechtswidrigen Intentionen geht, die das Genuine des strafrechtlichen Vorwurfs ausmachen.649 Auf der anderen Seite scheint er die direkten Konsequenzen daraus zu überschätzen: Aus der Perspektive des Rechts, dem sowohl die Befolgung aus inhaltlichen Gründen („weil ich das Rechtsgut respektiere“) als auch die aus Gründen der Sanktionsvermeidung („weil ich meine Bestrafung verhindern will“) genügt, zeigt die Tat, dass beim Delinquenten keine der beiden Motivationen, die die Tat verhindert hätten, ausreichend dominant vorhanden war. Nachdem die Sanktionsnorm inhaltlich an die Wertung der Verhaltensnorm geknüpft ist, also durch diese gerechtfertigt ist, kann man formulieren, dass sich der Vorwurf darauf gründet, dass der Täter das rechtlich geschützte Interesse missachtete. Es genügt nun jedoch, dass der Täter künftig allein deswegen das Recht befolgt, weil ihn seine Aversion gegen die Sanktion davon abhält. Aus der Zulässigkeit, die rechtswidrigen, rechtsgutsmissachtenden Intentionen des Täters (bei der Frage des Ob des Vorwurfs) thematisieren zu dürfen, folgt nicht, dass der Täter eine inhaltlich gebundene Motivation für seine künftige Rechtsbefolgung an den Tag legen muss. Freilich wird Duff entgegnen, dass es sich lediglich um einen Überzeugungsversuch handle: Es gehe der Reuekonzeption nicht um moralische Erziehung des Täters zu seinem paternalistisch verstandenen eigenen Wohl,650 sondern man appelliere lediglich an ihn, er möge sich als Gemeinschaftsmitglied verstehen und den diesbezüglichen Pflichten nachkommen.651 Demzufolge sei er auch nicht gezwungen, eine reuende Einstellung einzunehmen. Es handle sich lediglich um
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Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 126 ff. Ebd., S. 128 f. 649 Zumindest behandelt das Strafrecht in der Regel eine vorsätzliche Rechtsmissachtung. 650 Ebd., S. 89 f., zur Kritik am Konzept der moral education. 651 Ebd., S. 70 f. 648
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einen Versuch der Überzeugung, der dem Täter freistelle, die Strafe eben gerade nicht als Buße zu verstehen.652 Möglicherweise ist es aus rechtlicher Warte aber zu viel verlangt, wenn man in der Reue das genuin vom Recht Angepeilte sieht, und nicht nur ein freiwilliges Erfüllungssurrogat der zwangsweisen Strafe, das dem Täter also eine Option bietet, jedoch mit rechtlichen Zwangsmitteln nicht erstrebt werden darf.653 Anstelle der bloßen Rücknahme der Tat verlangt die angepeilte Entschuldigung mehr als nur legales Handeln, nämlich auch dessen positive Bewertung. Dass überhaupt nur eine vollständig spiegelnde Einstellung (Respektbekundung durch Entschuldigung) Aussicht auf Versöhnung haben dürfte, heißt nun aber nicht, dass man diese auch rechtlich erstreben darf.654 Die Antwort darauf, ob das Recht auf eine versöhnende Haltung der Parteien abzielen darf und sollte, hängt mit Duffs liberal-kommunitaristischen Konzept von Gemeinschaft zusammen, die auf der (gesollten) Akzeptanz von gemeinsamen Werten beruht. Ich will nun hier offenlassen, ob eine Gemeinschaft, die mit rechtlichen Mitteln auf die Versöhnung zielt, bereits zu fordernd ist.655 Denn, wie ich zeigen will, reicht Duffs Theorie ohnehin nicht aus, um den Strafschmerz zu legitimieren. b) Das Verhältnis von Reueschmerz und Strafschmerz Duff geht, wie gesehen, davon aus, dass man den Täter im Lichte der Gemeinschaftswerte kritisieren muss und sich darum bemühen darf, ihn davon zu überzeugen, dass sein Verhalten Unrecht war. Wenn auch ein solcher Überzeugungsversuch scheitern kann, so müsse man ihn dennoch unternehmen. Es sei demnach zulässig, den Täter zur Einsicht in sein Unrecht bringen zu wollen und so eine schmerzliche Selbst-Distanzierung anzustreben, die in Entschuldigung und Wiederversöhnung mündet.656 652 Ebd., S. 122 ff.; kritisch dazu C. Sachs, Moral, Tadel, Buße, 2015, S. 319 ff., der eine Zweispurigkeit aus versöhnender kommunikativer Strafe und einem tatproportionalen Maßnahmerecht für diejenigen, die sich der Versöhnung verweigern, vertritt. 653 Kritisch etwa in Bezug auf das „staatliche Stimulieren des Gewissens“ mit Verweis auf die negative Gewissensfreiheit (Art. 4 Grundgesetz), sowie das staatliche Neutralitätsgebot bezüglich eines moralkonformen Gewissens, Kölbel, Gewissensmobilisierung durch Strafrecht, in: Heinrich u. a., Roxin-FS, 2011, S. 1924 f. Der Gedanke ist gewiss zutreffend, wenn Zwangsmittel angewendet werden. Bei der Frage, ob ein Appell unzulässig ist, erscheint er jedoch ebenso wenig durchschlagend wie Kölbels Verweis auf die unterschiedlichen Anforderungen an die Befolgungsmotivation von Rechtsund Moralnormen (ebd., S. 1925). 654 Oder besser: nur dann wenn man Versöhnung als Ziel des Strafrechts sähe. 655 Vgl. dazu etwa Zürcher, Legitimation von Strafe, 2014, S. 170 ff. Zwar seien Theorien, die moralische Subjekte ernst nehmen wollen, in einer gewissen Weise stets paternalistisch, als sie die Fähigkeit einer Person, sich am Guten zu orientieren, fördern wollten. Dies sei aber zulässig, sofern dies ein Meta-Wert bleibe (ebd., S. 174 f.). 656 Skeptischer hierzu noch ob der Gefahr, dass der Versuch, jemanden von seinen Fehlern überzeugen zu wollen, allzu oft manipulativ, konformitätserzwingend und somit
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Wie sollte dies den Strafschmerz rechtfertigen? Wie Duff am von ihm auserkorenen Paradigma der Strafe, nämlich dem Ausgleich zwischen Täter und Opfer, verdeutlicht, müssten dem Täter solche Tätigkeiten auferlegt werden, die für ihn belastend sind. Auch die Entschuldigung und Einsicht seien für ihn schmerzhaft. Den Strafschmerz würden wir letztlich also deswegen legitimerweise wollen, weil wir legitimerweise den Reueschmerz wollen. Wie zu zeigen ist, sind aber diese beiden Absichten nicht nur nicht identisch (i), sondern es besteht auch keine Induktionsbeziehung (ii).657 Der Grund für diese Parallelführung könnte einmal darin liegen, dass den Strafschmerz zu wollen dasselbe ist wie den Reueschmerz zu wollen (i). Die Besonderheit im von Duff angeführten vorgeblichen Paradebeispiel der Strafe, nämlich der Schadenswiedergutmachung, ist nun, dass hier der Schmerz der „Strafe“ mit dem Schmerz der Reue zusammenfällt. Dass diese Gleichsetzung aber problematisch ist, kann man sich anhand folgender Überlegung klarmachen: Wenn wir wollen, dass der Täter seine Tat bereut, können wir sagen, dass wir seine damit einhergehende schmerzliche Einsicht und eine den Täter belastende Entschuldigung anstreben. Aber wir wollen diese Belastung, diesen Schmerz als Bekundung der Reue; das ist etwas anderes als die Belastung als intentionale Schmerzzufügung zu wollen.658 Denn es geht ganz wesentlich darum, eine bestimmte Haltung des Täters zu erreichen. Der Syllogismus: „Wir wollen die Reue (1); Reue ist schmerzhaft (2); Wir wollen die Schmerzzufügung (3)“, ist unzutreffend, weil er zwei Vorstellungen von Schmerzhaftigkeit konfundiert: Zum einen ist da „der Schmerz der Einsicht“ beziehungsweise der Schmerz infolge von Handlungen, die jemand übernimmt, um der Haltung Ausdruck zu verleihen, dass er sich von seiner Tat distanziert. Zum anderen ist es derjenige Schmerz, der oppressiv auferlegt wird. Wenn wir also das Verhalten des Täters missbilligen, um ihn dadurch zur Einnahme einer reuenden Haltung zu bewegen, ist das nicht dasselbe wie wenn es uns gerade darum geht, ihm Schmerzen beizubringen; und dies gilt auch für den Fall, dass die reuende Haltung oder sich aus ihr ergebende Folgen belastend sind.659 Es kommt nicht darauf an, dass der Täter durch die Entschuldigung oder reparative Handlung eine schmerzhafte Erfahrung macht – vielmehr zeigt er durch diese Handlungen konsistent die Distanzierung von seinem Verhalten, nämlich dadurch, dass er sie vornimmt, obwohl sie
autonomiemissachtend enden könnte, vgl. Duff, Retributive Punishment – Ideals and Actualities, Israel Law Review 25 (1991), S. 445 f. 657 Zur Nicht-Identität des Schmerzes der Einstellungsdistanzierung mit dem der Strafe sowie der fehlenden Induktionsbeziehung bereits Holroyd, The Retributive Emotions: Passions and Pains of Punishment, Philosophical Papers 39 (2010), S. 358 ff. 658 Hanna, Say What? A Critique of Expressive Retributivism, Law and Philosophy 27 (2008), S. 147 f. 659 Ebd., S. 144.
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belastend sind.660 Der Schmerz, der mit einer reuigen Einstellung einhergeht, ist also nicht identisch mit demjenigen, der durch die Strafe hervorgebracht wird. Wenn klar ist, dass Reueschmerz und Strafschmerz nicht identisch sind, könnte man argumentieren, dass den Reueschmerz zu wollen, deswegen bedeutet, den Strafschmerz zu wollen, weil Letzterer den Ersteren induziert (ii).661 Wir würden demnach den Strafschmerz deswegen wollen, weil er das notwendige Kommunikationsmedium ist, die (schmerzhafte) Reue beim Täter herbeizuführen. Dies scheint Duff auch nahezulegen, wenn er bemerkt: „[A]s fallible moral agents, we need such penances [penal hard treatment, such as the reparative burden or the community service; M. A.] to assist and deepen repentance.“ 662 Dass jedoch die harte Behandlung dazu führt, die Tat zu bereuen, also Strafschmerz eine reuige Einstellung bewirkt, ist fragwürdig. Zum einen mag Strafe zwar in gewisser Weise ermöglichen, die Aufmerksamkeit des Täters zu erlangen, sie vielleicht sogar auf die Tat zu lenken und ihm dadurch Zeit zur Selbstreflexion bieten. Aber dafür dürfte Strafe jedenfalls nicht das einzig geeignete Mittel sein.663 Aus pragmatischer Sicht wird die Schmerzzufügung sogar eher wohl zum gegenteiligen Effekt führen, nämlich dazu, dass der Täter selbst in eine Opferhaltung verfällt, sich seinerseits ungerecht behandelt sieht.664 Naheliegend ist, dass ein extern zugefügter Schmerz den Täter nicht in reflexiven Selbstzweifel verfallen lässt, sondern zu Neutralisierungsmechanismen und so zur Verhärtung der durch die Tat bekundeten Einstellung führt. Zumindest tendenziell noch immer zutreffend erscheint die Pointierung Dostojewskis: „Es [das Zellensystem; M. A.] saugt dem Menschen das Mark aus, stumpft seine Seele ab, macht sie schlaff, verängstigt sie und präsentiert dann die psychisch ausgedörrte Mumie, den Halbirren als Beispiel der Besserung und Reue. Natürlich ist der gegen die Gesellschaft rebellierende Verbrecher von Haß gegen diese erfüllt und erachtet sich fast immer für unschuldig, sie hingegen für schuldig. Außerdem ist er von ihr bereits bestraft worden und hält sich dadurch fast schon für geläutert und quitt mit ihr.“ 665
Aber auch aus theoretischer Sicht überzeugt die Idee einer genuinen Induktion nicht: Durch den Strafschmerz den Schmerz der Einstellungsdistanzierung induzieren zu wollen, klingt so, als glaube man, durch das Herbeiführen eines äuße-
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Ebd., S. 147 f. Zur Kritik an dieser Induktionsvorstellung Holroyd, The Retributive Emotions: Passions and Pains of Punishment, Philosophical Papers 39 (2010), insbes. S. 361 f. 662 Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 108. 663 Hanna, Say What? A Critique of Expressive Retributivism, Law and Philosophy 27 (2008), S. 146. 664 Holroyd, The Retributive Emotions: Passions and Pains of Punishment, Philosophical Papers 39 (2010), S. 362 f. 665 Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem toten Hause, 2. Aufl. 1985, S. 22. Diese Assoziation stammt von Koch, Jenseits der Strafe, 1988, S. 25 f. 661
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ren Effekts die zugehörige Einstellung erwecken zu können. Einen äußeren Effekt zu bewirken, der dieselbe Äußerungsweise wie die einer bestimmten inneren Einstellung hat, bedeutet aber ersichtlich nicht, die entsprechende Einstellung zu erzeugen. Wenn sich also Zustimmung im Nicken des Kopfes äußert, erzeuge ich nicht die Zustimmung einer Person, indem ich ihren Kopf mechanisch anhebe und absenke. Dass also eine solche Induktionsbeziehung vom externen auf den internen Schmerz besteht, leuchtet nicht ein. Genauso wenig wird es gelingen, demjenigen, der sich rassistisch äußerte, eine tolerante Einstellung zu induzieren, indem man ihn aufgeklärte Parolen vorlesen lässt oder Zuhörer zu überzeugen, indem das Auditorium gezwungen wird, das Vorgetragene nickend zu wiederholen. Die Schmerzzufügung führt mithin schwerlich zur Reue, auch wenn die Reuebekundung für den Täter in aller Regel schmerzlich ist. Es ist daher weder nötig, den Strafschmerz deswegen zu wollen, weil man die Einstellungsdistanzierung anstrebt (i), noch ist er ein geeignetes Mittel, um die Einstellungsdistanzierung auszulösen (ii). c) Zur Möglichkeit, Strafe als Buße zu interpretieren Es kann aber nun sein, dass der Täter seine Bestrafung tatsächlich als Buße versteht. Birgt die Möglichkeit, den Strafschmerz als Übernahme von Reue zu interpretieren, eine legitimierende Überlegung? Das Argument der Schmerzzufügung als Reueausdruck ist folgendermaßen zu rekonstruieren: „Die Gesellschaft sollte (weil sie sich als Gemeinschaft von Mitbürgern versteht) die Übernahme selbstgewollter Reue ermöglichen. Der Strafschmerz kann vom Täter als eine ebensolche Übernahme verstanden werden.“ Dass der Täter diese Interpretation entwickeln kann, besagt nichts über die Legitimität des Strafschmerzes. Alleine dass es dem Handlungsadressaten möglich ist, eine Handlung als sinnhaft zu verstehen, macht die Handlung nicht zu einem sinnvollen Akt. Die Möglichkeit, eine Kündigung als Chance für einen Neuanfang zu sehen, macht die Kündigung nicht unbedingt zu einer willkommenen Handlung. Ebenso: Die Möglichkeit, den Tod als Erlösung wahrzunehmen, legitimiert nicht schon die Tötungshandlung. In beiden Fällen ist vielmehr nötig, dass die Handlung vom Adressaten tatsächlich als in der jeweiligen Weise interpretiert wird, die Möglichkeit sich also realisiert. Hilft nun die Überlegung weiter, dass der Täter den Strafschmerz als Reueausdruck interpretieren muss? Ich denke nicht. Dem Täter stünde nämlich dann nicht mehr offen, seine Strafe gerade nicht als Ausdruck seiner Reue zu begreifen. Und dass der Bestrafte diese Sichtweise einnehmen kann, hatte Duff doch angenommen, um die Autonomie des Akteurs nicht in gravierender Weise zu verletzen. Rettet hier nicht die Überlegung, dass es eben ein Überzeugungsversuch bleibt, der auch dann nicht unzulässig wird, wenn der Strafschmerz zwar als Reueausdruck angenommen werden soll, dieser Versuch jedoch faktisch scheitern kann?
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B. Straftheoretische Begründungsvorschläge
Zwar leuchtet die Erwägung grundsätzlich ein. Der Versuch zu überzeugen besteht hier aber gerade darin, dass die Verhaltensweise herbeigeführt wird, welche jemand auch dann an den Tag legen würde, wenn er tatsächlich überzeugt wäre.666 Es verhielte sich so wie in einer Situation, in der eine Person, um den anderen dazu zu bringen ob der kalten Temperaturen eine Mütze aufzuziehen, einen „Überzeugungsversuch“ unternimmt, indem sie ihm die Mütze gewaltsam überstülpt. Sie versucht jemanden zu überzeugen, indem sie das Ergebnis einer erfolgreichen Überzeugung (zwangsweise) herbeiführt. Ein „Versuch der Überzeugung“ ist das ebenso wenig, wie wenn man jemanden vom Ablassen eines Angriffs dadurch „zu überzeugen versucht“, indem man auf ihn schießt. Ist die Schmerzzufügung aber nicht zumindest für den Fall legitim, dass der Bestrafte sie tatsächlich freiwillig als Ausdruck der Reue auf sich nimmt? Gegen eine solche Behandlung lässt sich wohl nichts einwenden. Sie wäre allerdings nicht mehr als Strafe zu bezeichnen, sondern als selbstauferlegte Buße. Denn ihr Legitimationsgrund liegt nicht mehr in der von außen aufgezwungenen Bestrafung, sondern darin, dass der Täter diese Handlung als Entschuldigung vollbringen will. Auch die Tatsache, dass der Täter die Strafe als Ausdruck der Reue verstehen kann, stellt daher keine legitimierende Überlegung für den Strafschmerz dar. 3. Ergebnis Wenn wir den Schmerz der Reue wollen, müssen wir nicht notwendig den Strafschmerz wollen. Denn die beiden Phänomene stehen weder im Verhältnis der Identität noch in einer Induktionsbeziehung. Auch die Möglichkeit, den Strafschmerz als Reueschmerz zu verstehen, also ein Verhältnis der Substituierbarkeit anzunehmen, legitimiert die Schmerzzufügung nicht. Bemerkenswert an Duffs Ansatz ist, dass der Täter eine aktive Rolle in der (strafrechtlichen) Reaktion zukommen soll. Soweit die Reaktion darauf zielen soll, dass der Täter sich von seiner Tat distanziert, ist das plausibel. Dass daraus eine Berechtigung folgt, ihm intentional Übel aufzuerlegen, überdehnt die Überlegung.
666 Sofern man Duffs Theorie darin folgt, dass die Erduldung der Strafe gerade ein geeigneter Ausdruck der Reue sein kann.
C. Strafen ohne Schmerzzufügung I. Konventionalität des Strafschmerzes und Bindung der Worte Alle untersuchten Ansätze, den Strafschmerz zu rechtfertigen, verstanden den Vorgang der Strafe insgesamt als kommunikativen Akt. Am deutlichsten kam dies bei den Ansätzen zum Ausdruck, die dem Strafschmerz nur eine zur Missbilligung hinzutretende Rolle beimaßen. So etwa sollte mithilfe des Strafschmerzes dem Täter der Ernst des Tadels vor Augen geführt werden, oder der Öffentlichkeit die Bewertung der Tat als nicht-anschlussfähiges Geschehen verdeutlicht werden. Aber auch die Theorien, in denen dem Strafschmerz eine eigenständige Funktion zukam, dass er etwa die nachgeholte Notwehrduldung darstellt, kommen nicht ohne den verbalen Akt der Verantwortungszuschreibung aus – denn erst so können die Adressaten verstehen, wie die intentionale Zufügung des Übels denn aufzufassen ist. Diese Sprachabhängigkeit des Straf-Vorgangs legt nahe, das sprachliche Element der Strafe genauer zu untersuchen. Dies hat etwa Roman Hamel in seiner Untersuchung „Strafen als Sprechakt“ getan. Er kommt zum Ergebnis, dass das zentrale kommunikative Element des Strafurteils die Botschaft der Missbilligung und der Normbestätigung ist.1 In der Klassifikation von Searls Sprechakttheorie sei dies als deklarativer Sprechakt2 einzuordnen.3 Die Besonderheit bei deklarativen Sprechakten ist, dass sie geeignet sind, direkt – also ohne weitere Erfüllungshandlung4 – Veränderungen in der Welt zustande zu bringen: Ihr erfolgreicher Vollzug reicht für die Wahrheit des mit ihnen Gesagten (Deklarierten) hin.5 Etwa: „Das Treffen ist hiermit eröffnet“ oder „Ich erkläre Sie zu Mann und Frau“. Diese Akte schaffen institutionelle Tatsachen (wie die Tatsache, dass ein Treffen eröffnet ist). Solche institutionellen Tatsachen werden dadurch möglich, 1
Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 150 ff. Neben den deklarativen nennt Searle assertive, direktive, kommissive und expressive Sprechakte, s. Searle, Ausdruck und Bedeutung, 1982, S. 40 ff.; vgl. zur Sprechakttheorie insgesamt die klare Darstellung bei Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 42 ff. 3 Ebd., S. 153. 4 Es ist keine weitere Erfüllungshandlung nötig, um Wort und Welt in Übereinstimmung zu bringen, vgl. Hamel, ebd., S. 51. Im Gegensatz etwa zum kommissiven Sprechakt eines Versprechens, bei dem erst durch der dem Versprechens-Sprechakt nachfolgende Vollzug der versprochenen Handlung Wort und Welt in Einklang bringt, vgl. ebd., S. 57. 5 Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft, 2004, S. 178. 2
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
dass die Akteure einem Wort, Vorgang oder einer Sache eine bestimmte Funktion verleihen: a gilt als x im Kontext k.6 Auf diese Weise wird etwa ein Gegenstand durch eine Statuszuweisung zur Grenze oder zum Zahlungsmittel.7 Legt man diese Betrachtung der Analyse der strafrechtlichen Reaktion zugrunde, reicht – bei entsprechender Statuszuweisung – allein der deklarative Sprechakt des Schuldspruchs aus, um Missbilligung und Bestätigung auszudrücken. Der Schuldspruch gilt als Missbilligung des Täterverhaltens und er gilt als Bestätigung der verletzten Norm.8 Die Übelszufügung, so Hamel weiter, symbolisiere nun lediglich diese Botschaft. Charakteristikum von Symbolen sei allerdings, dass das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem konventionell ist, sich lediglich aus den Regeln des Gebrauchs ergibt – im Gegensatz zu einem Ikon9, bei dem der Zeichenträger zum Bezeichneten in der Beziehung der Ähnlichkeit steht.10 Trotz dieser Konventionalität könne man, so Hamel, dennoch nicht auf den Strafschmerz verzichten.11 Denn die institutionellen Tatsachen müssten auch geglaubt werden, seien also von intersubjektiver Anerkennung abhängig.12 Und dieser Glaube an die institutionelle Tatsache des Schuldspruchs als Missbilligung und Normbestätigung drohe zu schwinden, wenn der Strafschmerz ausbleibe.13 Das Strafrecht sei auf Gewalt als „Mittel der Darstellung in spezifischer Weise angewiesen“.14 Doch nicht Hamels nachfolgende konventionelle Begründung des Strafschmerzes – sie bringt zu dem in Kapitel 2 Untersuchten nichts Neues –, sondern das Verständnis des Strafvorgangs als Sprechakt ist hier von Interesse. Günther, der ebenfalls von der Konventionalität des Strafübels überzeugt ist, hält Hamels Analyse für ergänzungsbedürftig: Denn jeder Sprechakt – somit 6 Ebd., S. 182. Institutionelle Tatsachen sind insofern soziale Tatsachen, als dass sie auf intersubjektiver Intentionalität beruhen. Darüber hinaus zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie (im Gegensatz zu regulatorischen Regeln, die nur eine bereits bestehende Verhaltenspraxis regulieren) durch konstitutive Regeln der Form „a gilt als x im Kontext k“ geschaffen werden. So Hamel, S. 64 f. Siehe dort auch zum deklarativen Sprechakt insgesamt. 7 Ebd., S. 66. 8 Ebd., S. 152 f.; dazu Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 19. Vgl. zum Gedanken, dass die „Abwicklung von Normbrüchen“ nach modernem Verständnis wesentlich in der Erklärung über die Fortgeltung der Norm besteht, wohingegen die Schmerzzufügung als Darstellungsmittel zurücktritt, Calliess, Die Strafzwecke und ihre Funktion, FS-Müller-Dietz, 2001, S. 107. 9 Zur zeichentheoretischen Unterscheidung von Ikon und Symbol s. Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 36. 10 Wie etwa bei onomatopoetischen Ausdrücken („blöken“, „Kuckuck“) oder bei Piktogrammen. 11 Siehe die Auseinandersetzung ebd., S. 154 ff. 12 Ebd., S. 157 und allgemein S. 67. 13 Ebd., S. 158. 14 Ebd., S. 159.
I. Konventionalität des Strafschmerzes und Bindung der Worte
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auch der Schuldspruch – entfalte eine generelle Bindungswirkung.15 Was ist hiermit gemeint? Der Sprechakt entfalte einerseits eine spezifische Bindung, die von den jeweiligen Regeln eines Sprechakts herrühre, also etwa den Versprechenden bezüglich der von ihm versprochenen Handlung binde. Neben dieser spezifischen Bindung entfalte jeder aufrichtig geäußerte Sprechakt, so Günther in Abstützung auf Habermas16, auch einen Bindungseffekt mit einem generelleren Charakter: Dieser beruhe darauf, dass der Sprechakt darauf zielt, verstanden und akzeptiert zu werden.17 Zum Vorschein komme der Bindungseffekt in jenen Fällen, in denen ein Äußerungsakt bestritten wird. Der Äußernde sei dann herausgefordert, seinen Akt mit Gründen zu unterlegen, während den Bestreitenden die entsprechende Begründungspflicht bezüglich seines Widerspruchs träfe:18 „This general binding effect differs from the specific one of a speech act which is related to institutional facts, like a promise; and it is an essential feature of all kinds of illocutionary speech acts that are performed sincerely. The general binding effect can be revealed on occasion by a rejection or critique of the illocutionary act by the hearer. If there is disagreement, the speaker is obliged to give reasons to support 15
Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 19. Günther verweist auf Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, 1981, S. 391, 395. 17 Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 19. 18 Kritisch diesbezüglich Vogelmann, Das deliberative Bedürfnis, in: Abraham/Zimmermann/Zucca-Soest, Vorbedingungen des Rechts, 2016, S. 27 ff. Vogelmann argumentiert, die Rechtfertigungsbereitschaft könne nicht aus der Fähigkeit bzw. Möglichkeit zur Stellungnahme, also der Rechtfertigungsmöglichkeit, gefolgert werden, sondern müsste (von der Diskurstheorie) als „quasianthropologische[s] [. . .] Bedürfnis[ ] nach Rechtfertigung“ unterstellt werden. Dieses Bedürfnis nach Gründen (und damit die Verantwortungszuschreibungspraxis) erweise sich als Einwanderung juristischer Strafpraktiken in die Sprache (könne nicht umgekehrt in den Strukturen der Sprache gefunden werden), sei eine „in die Sprache tiefergelegte Straflust“ (ebd., S. 42). Ich bin hier unsicher, stimme aber insoweit zu, als dass die Praxis der Verantwortungszuschreibung eine sanktionale Struktur besitzt. Fraglich erscheint mir, ob ein solches naturhaftes Bedürfnis nach Gründen anzunehmen, tatsächlich ein zu überwindendes, „bloß in seiner Gestalt verwandeltes Strafbedürfnis“ (ebd.) und damit eine regressive Straffantasie darstellt. Wenn man die Strukturen der Sprache auch sanktional versteht, so ist das womöglich eine Zumutung für ein völlig losgelöstes oder ein machtlos gemachtes Individuum. Einem auf Kooperation oder zumindest Rücksicht bedachten und ermächtigtem Akteur dürften sie unentbehrlich sein (s. insbes. Kap 3 II. 4. und C. III. 2.). Dass man die Bereiche der Sanktionierung gering, ihre Verfahren der Sanktionierung transparent und die Arten der Sanktionen konstruktiv halten sollte, lässt sich weiterhin vorbringen. Kurz: Zur Praxis des Strafens kritisch zu stehen bedeutet wohl nicht zugleich, jede Praxis der Verantwortungszuschreibung ablehnen zu müssen (s. aber die grundlegende Kritik des Konzepts der Verantwortung von Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, 2013. Auch eine reflektiere Verwendung der Verantwortung könne nicht als Maßstab für die praktischen Auswirkungen in den sozialen Praktiken dienen, da auch sie das – im Kern subjektunterwerfende – Konzept der Verantwortung stabilisiere, s. ebd., S. 433. Für die von Vogelmann analysierten Bereiche wie den der Lohnarbeit, dem aktivierten Arbeitslosen oder dem wachsamen und straflustigen Bürger, der sich der Sicherheitsgesellschaft angepasst hat, ist das plausibel. Ob das für einen vollständigen Abschied von der Verantwortung ausreicht, ist zu diskutieren.). 16
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
what he said and, on the other side, the hearer is obliged to give reasons for her dissent.“ 19
Aus dieser Einbettung in die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen resultiere hiernach eine „generelle Bindungswirkung“. Nimmt man Günthers demokratietheoretische Annahme hinzu, dass jeder Staatsbürger nicht nur Adressat der Norm, sondern auch ihr Autor ist,20 er demzufolge zwar Normen kritisieren, ihnen aber grundsätzlich nicht einfach zum Ausdruck seiner Kritik zuwiderhandeln darf, sondern gerade verpflichtet ist, den Normen wegen seiner Mitwirkungsmöglichkeit an ihrem Zustandekommen zu folgen,21 so kann man die Aussage des Schuldspruchs folgendermaßen verfeinern: Dein Verhalten war normwidrig und daher zu missbilligen. Für diese Beurteilung kann ich dir einen Grund geben, an den du als Akteur, der Gründen folgt, gebunden bist. Der Grund ist der, dass du zur Normbefolgung verpflichtet warst, denn als Mitautor der Normen hattest du die Möglichkeit, deine (zu begründende) Ablehnung der Norm (für die ich dir auch die von den Normautoren als relevant gesehene Gründe nennen kann) über den formalisierten Weg der Gesetzgebung/Klage einbringen zu können. Der Gedanke der generellen Bindungswirkung ist wichtig. Er verweist auf ein Selbstverständnis als Gründen folgende Wesen, das er zugleich voraussetzt.22 Diese Lebensform auszubuchstabieren will ich im Folgenden unternehmen: Was heißt es, dass wir Gründen folgen? Welchen Gründen folgen wir? Was heißt das für unsere Möglichkeiten zu sanktionieren? Was heißt das für die Übelszufügung? Es wird sich dabei jedoch auch ergeben, warum die generelle Bindungswirkung des Sprechakts nicht – besser: nur unter gewissen Umständen – als strafrechtliche Reaktion genügt. Kurz gesagt liegt dies daran, dass der Verurteilte sich zwar, folgt man der demokratietheoretischen Annahme, gebunden fühlen sollte 19
Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 19 f. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 245. 21 „[D]ie Normbefolgungsflicht [gründet sich] ja gerade auf das gegenüber jeder positiv geltenden Norm weiterhin bestehende Recht und auf die Möglichkeit, die ablehnende Stellungnahme in demokratischen Verfahren zur Geltung zu bringen, also die Staatsbürgerrolle effektiv wahrzunehmen. Solange sie das Recht auf einen und die Möglichkeit zum Wechsel in die Staatsbürgerrolle hat, ist es der Rechtsperson auch zumutbar, ihre ablehnende Stellungnahme gegenüber der Norm in ihrem Verhalten als Rechtsperson nicht wirksam werden zu lassen und das Unrecht zu vermeiden.“ Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 254 (H. i. O.). 22 Nur unter diese Prämisse wird der notwendige Zusatz: „an welche du als jemand, der Gründen folgt, gebunden bist“ plausibel. Die Bindungswirkung setzt also voraus, dass man Gründen folgt. Zu einem solchen implizit vorausgesetzten und wechselseitig zugeschriebenen Personenkonzept, das Günther das Konzept einer „deliberativen Person“ nennt, vgl. Günther, Verantwortlichkeit in der Zivilgesellschaft, in: Müller-Dohm, Das Interesse der Vernunft, 2000, S. 479; ders., Schuld und kommunikative Freiheit, 2005, S. 245 ff. 20
I. Konventionalität des Strafschmerzes und Bindung der Worte
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und auch gebunden ist. Nicht gewiss ist aber, ob er sich auch gemäß der Bindung verhält, also sein tatsächliches Verhalten danach ausrichtet – und dies ist vor allem deswegen nicht ohne Weiteres klar, wenn man bedenkt, dass das Verbrechen nach Günther gerade offenbart, dass der Täter es in der Tat versäumte, den Verletzten als kommunikativen Akteur zu adressieren, diesem vielmehr den Status als gleichberechtigten Teilnehmer im öffentlichen Diskurs absprach.23 Natürlich zeichnet sich die Bindung an Gründe/Normen gerade dadurch aus, dass nicht mit Gewissheit gesagt werden kann, ob sich jemand zu ihnen konform verhalten wird. Sonst wären es ja keine Gründe/Normen, sondern zwingende Ursachen/ Natur-„Gesetze“. Es muss jedoch, so werde ich zeigen, eine gewisse Wahrscheinlichkeit geben, dass die besagte Bindung auch an Verhaltensrelevanz gewinnt.24 Kurz: Zur Bindung muss noch Vertrauen hinzukommen – das Vertrauen, der andere werde die Bindung als bindend verstehen – insoweit folge ich Jakobs’ Vorstellung des notwendigen Vertrauens in die Normgeltung.25 Dennoch werde ich vorschlagen, dass dies nicht zur Konsequenz hat, dass ein Strafschmerz den Sprechakt der Missbilligung unterstreichen muss. Dies liegt unter anderem an der Möglichkeit sogenannter interner Sanktionen26 sowie der Stellung, die dem Verurteilten im Sanktionsprozess zukommen sollte. Im Überblick: Zuerst will ich untersuchen, was unsere Lebensform des Gründe-Folgens ausmacht. Weil das – in einem noch zu erörternden Sinn – gleichbedeutend damit ist, dass wir normative Akteure sind, führt uns das zugleich auf die Suche danach, „woher die Normen kommen“ (C. II.). Es wird sich zeigen, dass die Normen aus uns kommen und wir grundlegend sanktionale Akteure sind, Teilnehmer einer Praxis deontischer Kontoführer, die sich durch ihre Züge (Handlungen in einem weiten Sinn) festlegen und diese Züge beobachten. Ich will sodann ausbuchstabieren, was es heißt, in dieser Praxis zu leben, und vor allem, wie Norm, Sanktion und Vertrauen zusammenhängen (C. III.). Anschließend wird es darum gehen, weshalb wir das nötige Vertrauen auch mit demjenigen Akteur, der eine Straftat beging, herzustellen suchen sollten: Ich werde dafür plädieren, dass dies nur inkludierend und nicht mit „künstlichen Klugheitsgründen“ geschehen sollte (C. IV.). Würden wir nämlich, so will ich sodann nahelegen, dem Konzept der Klugheitsgründe folgen, dann gingen uns an wichtiger Stelle die Gründe aus (C. V.). Der daran anschließende Punkt, die Stellung des 23 Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 22. „He did not address the other citizen – the victim – as a communicative actor, as an equal participant in the public discourse, but denied his status“ (ebd.). 24 Diesen Gedanken haben wir bei Jakobs gesehen, der wohl von Normgeltungsvertrauen sprechen würde. Nur wird es hier darum gehen, nicht auf die Norm, sondern auf den Verurteilten zu vertrauen. 25 Siehe B. IV. 3. a). 26 Mit der Untersuchung des Konzepts der „internen Sanktionen“ folge ich einem Hinweis von Bung, Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person, HRRS 2006, S. 67.
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Verletzten in der Straftheorie, hat in gewisser Weise eine doppelte Bedeutung. Zum einen lässt auch er sich als Kritik am Konzept der Klugheitsgründe lesen, zum anderen aber verweist er darauf, wo und wie das nötige Vertrauen zu finden ist (C. VI.). Dies setzt uns abschließend in den Stand, praktische Auswirkungen des Dargelegten zu vergegenwärtigen (C. VII.).
II. Sanktionalität und Normativität (Robert Brandom) 1. Was uns auszeichnet Genau die Frage, wie wir uns selbst verstehen, ist der Ansatzpunkt von Robert Brandoms27 sprachphilosophischen Ansatz.28 „Wer sind wir“ und was zeichnet uns Menschen aus? Brandom will dafür von „zufällig erworbene[n] Merkmale[n] der Herkunft oder der materiellen Beschaffenheit“ absehen, und danach suchen, was die Fähigkeiten sind, die uns an den Tätigkeiten teilnehmen lassen, „über die wir uns selbst definieren“.29 Wenn man darauf abstellt, dass wir „geistige Wesen“ sind, könnte man meinen, dass uns die Fähigkeit, unsere Umwelt zu klassifizieren wesentlich charakterisiert. Doch Klassifikationsleistungen erbringen sogar Gegenstände: etwa Eisen, das bei Feuchtigkeit rostet, bei Trockenheit dagegen nicht.30 Über die Klassifikation hinausgehend ist nach Brandom erforderlich, dass es sich um eine begriffliche Klassifikation handelt. Für ihn zeichnen wir uns entscheidend dadurch aus, dass wir Begriffe verwenden können. Aber kann das nicht auch schon ein Papagei, sofern er der darauf trainiert ist, immer wenn er einen roten Gegenstand sieht, den Satz „das ist rot“ zu sagen?31 Was ihm fehlt, ihn demnach nicht zu einem Begriffsanwender macht, hängt damit zusammen, dass – und das ist ein Kernthese von Brandoms Ansatz32 – Begriffe ganz wesentlich in inferentiellen Beziehungen, das heißt Schlussfolgerungszusammenhängen stehen. Solche Schlussfolgerungen kann der Papagei nicht ziehen, er versteht den Begriff nicht: Er versteht nicht was aus dem Satz „das ist rot“ folgt, also etwa, dass der Satz inkompatibel ist mit „das ist grün“, auch nicht, dass der Satz eine zulässige Folgerung aus dem Satz „das ist purpurrot“ wäre. Der Satz ist für ihn nicht in das Netz weiterer Urteile eingebunden. Und gerade das Beherrschen der inferentiellen Rolle eines Begriffs ist entscheidend dafür, von jemandem zu sa27 Brandom, Expressive Vernunft, 2000. Ich beziehe mich im Folgenden auf diese Übersetzung von Brandoms „Making it Explicit“ (1994) durch Eva Gilmer und Hermann Vetter. 28 Für die deutsche Rechtstheorie wurde Brandoms „Making it Explicit“ wesentlich erschlossen durch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 138 ff. 29 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 36. 30 Ebd., S. 77. 31 Ebd., S. 151 (Beispiel bei Brandom). 32 Ebd., S. 151 f. (im expliziten Anschluss an Wilfrid Sellars).
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gen, dass er einen Begriff verstehe oder dass der Begriff für ihn einen Gehalt hat.33 Begriffe hätten – so Brandom in Berufung auf Kant – die Gestalt von Regeln, „das heißt, sie geben an, wie etwas (gemäß der Regel) getan werden sollte“ 34. Wenn wir sie anwenden, dann gehen wir Festlegungen ein. Und die Inhalte der Festlegungen bestimmen sich nach den Begriffen. Als Begriffs-Verwender sind wir demzufolge spezifisch normative oder regelgeleitete Akteure.35 Wenn nun Begriffe anzuwenden eine regelgeleitete Praxis ist, also eine Praxis des Regelfolgens, dann ist es etwas, das richtig oder falsch gemacht werden kann. Wie kann man nun einen richtigen Gebrauch von einem falschen unterscheiden? Irritieren mag, dass Brandom hier nicht die direkte Frage („woher kommen die Normen?“) stellt, sondern danach fragt, woraus sich bestimmt, ob Normen/Regeln richtig angewandt werden. Hierzu muss man sich klarmachen, dass sein Ansatz darin besteht, die These Wittgensteins auszubuchstabieren, dass sich die Bedeutung der Wörter aus ihrem Gebrauch ergibt.36 Brandom will also zeigen, wie die begriffliche Bedeutung aus den Verwendungspraktiken von Wörtern resultiert (dazu gleich). Wenn das so ist, dann ist die Frage danach, wie Begriffe angewendet werden gleichzusetzen mit der Frage, was Begriffe bedeuten. Und wenn man mit Brandom annimmt, dass Begriffe die Form von Regeln haben, dann ist zu fragen, wie sich begrifflicher Gehalt konstituiert, gleichbedeutend mit der Frage danach, wie sich normativer Gehalt konstituiert: die Frage nach der Richtigkeit der Anwendung von Begriffen ist somit die Frage: „wie kommen Normen in die Welt?“ 37 Zurück: Woraus ergeben sich die Kriterien für die korrekte Anwendung einer Norm? Eine Möglichkeit – Brandom nennt diese Regulismus – wäre, nach weiteren Regeln, also Begriffen, zu suchen, die die Begriffsanwendung regeln.38 Geht man so vor, gelangt man in einen unendlichen Regelregress, da sich die Frage der Unterscheidung von richtiger und falscher Anwendung auf jeder Ebene neu stellt. Das führt Brandom zur klassischen pragmatistischen These der Notwendigkeit praxisimpliziter Normen: Richtigkeiten, die sich aus expliziten Regeln ergeben, beruhen auf Richtigkeiten, die durch die Praxis bestimmt werden. Normen, die explizit in Form von Regeln sind, setzen Normen, die implizit in Praktiken sind,
33
Ebd., S. 152. Ebd., S. 42 (H. i. O.). 35 Ebd., S. 42 f. 36 Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 138 f. 37 Diese Gleichsetzung wird dem Rechtstheoretiker klar werden, wenn wir gleich sehen, wie hier die bekannten Probleme bei dem Versuch auftauchen, die Normgeltung auf eine Grund-Norm (hier: Regulismus) bzw. auf die faktische Wirksamkeit (hier: Regularismus) zurückzuführen. 38 Ebd., S. 58. 34
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voraus.39 Ein praktisches Knowing-how geht einem theoretischen Knowing-that voraus.40 Man könnte nun versucht sein, diese praxisimpliziten Normen damit in Verbindung zu bringen, welche Verhaltensakte eine Praxis faktisch hervorbringt. Brandom nennt diesen Ansatz Regularismus: Ein Begriff wäre dann richtig angewandt, wenn er mit den gewöhnlichen Verwendungen der beleuchteten Praxis übereinstimmt. Dies würde allerdings dazu führen, die Unterscheidung zwischen richtig und unrichtig mit der Unterscheidung von regulär und irregulär gleichzusetzen. Eine praxisimplizite Norm wäre dann lediglich ein Verhaltensmuster. Gegen die Norm zu verstoßen, hieße dann, das Muster zu durchbrechen, also unregelmäßig zu handeln. Hiergegen spricht insbesondere, dass jede Menge an Verhaltensakten etliche als Regularität verstehbare Muster aufweist. Man müsste dann Kriterien angeben, nach denen bestimmte Regelmäßigkeiten als privilegiert ausgezeichnet werden – doch woher sollen diese Kriterien kommen? Der Regularismus kann demnach nicht mehr zwischen dem unterscheiden, was getan wird und dem, was getan werden sollte.41 Brandom sieht nun den Ausweg zwischen der Skylla und Charybdis von Regulismus und Regularismus42 im Rückgriff auf eine soziale Konstituierung von Begriffen. Die inferentielle Semantik, das heißt die schlussfolgernde Gliederung der Begriffe, sei gegründet auf eine „normative Pragmatik“: Die Praxis, um die es geht, ist die sanktionale Praxis der Teilnehmer,43 bestimmte Anwendungen von Begriffen bzw. Verhaltensweisen als richtig/unrichtig zu behandeln. Die Quelle der praxisimpliziten Normen liegt nicht in der Eigenschaft einer Performanz, dem Richtig/Unrichtig-sein („normativer Status“), sondern in der praktischen Haltung der Akteure, etwas als richtig/unrichtig zu beurteilen oder zu behandeln („normative Einstellungen“).44 Die Teilnehmer der Praxis bestimmen also im Wege der Beurteilung, was richtige und was falsche Anwendung der Regel ist, indem sie das infrage stehende Verhalten sanktionieren. Durch die Praxis wird dadurch Ausdrücken ein semantischer Gehalt übertragen, dass die Praxisteilnehmer einzelne Sprechakte als Träger eines begrifflichen Gehalts betrachten.45 Indem Akteure
39
Ebd., S. 58; ein Plädoyer für ein dynamisches, pragmatistisches Regelverständnis findet sich bei Vesting, Rechtstheorie, 2007, S. 31 ff. 40 Siehe zu dieser Unterscheidung grundlegend Ryle, Der Begriff des Geistes, 1969, S. 26 ff. 41 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 69 f. 42 Ebd., S. 71. Das Bild entleiht Brandom von John McDowell. 43 Die Wortbildung des Adjektivs „sanktional“ habe ich von Knell, Propositionaler Gehalt und diskursive Kontoführung, 2004 (s. etwa S. 58, 108 f.). 44 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 76, vgl. auch S. 98 f. 45 Vgl. dazu Knell, Propositionaler Gehalt und diskursive Kontoführung, 2004, S. 37 ff., der diesen Vorgang der Konstitution begrifflichen Gehalts „praxisimplizite Projektion“ nennt. Genauer dazu ebd., S. 86 ff.
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einzelne Äußerungen als Träger einer entsprechenden normativen Rolle betrachten, übertragen die Akteure diese Rolle auf sie. Jedoch verschiebt der Sanktionsansatz, wie Brandom sieht, das beschriebene Problem des Regularismus lediglich: Die Frage, wie man eine Spezifizierung einer Regelmäßigkeit gegenüber ebenso geeigneten konkurrierenden Regelmäßigkeiten privilegieren kann, taucht an anderer Stelle erneut auf. Zwar zeichnen die Sanktionierenden ein Muster von Performanzen als privilegiert aus, jedoch ist das Sanktionieren wiederum selbst etwas, was richtig oder unrichtig getan werden kann. Somit verschwimmt die Grenze zwischen dem tatsächlich Sanktioniert-werden und dem zu recht Sanktioniert-werden, also dem Verdienen einer Sanktionierung.46 Normen wären dann doch lediglich Verhaltensregularitäten, nur eben um eine Stufe versetzt: nicht auf Ebene der primären Verhaltensweise, aber der Stufe der Sanktionierung dieser Verhaltensweisen. Brandom glaubt, dieses Problem dadurch lösen zu können, dass die Sanktionierung nicht notwendigerweise in naturalistischen Begriffen von faktischer, positiver sowie negativer Verstärkung erfolgen muss, sondern „selbst in normativen Begriffen spezifiziert“ werden kann, nämlich dergestalt, dass weitere Verhaltensakte für unangemessen erklärt werden.47 Was unter einer derartigen Sanktionierung, Brandom bezeichnet sie als Praxis interner Sanktionen, zu verstehen ist, und ob sie – wie er meint – geeignet ist, zur Lösung der Frage nach der (nicht-naturalistischen) Quelle der Normativität beizutragen, will ich für den Moment zurückstellen – aber schon einmal vorausschicken, dass sie sich bei der Frage, wie sanktioniert werden kann, als erhellend erweisen wird. Sehen wir uns zunächst an, wie Brandom die normative Pragmatik, also die soziale, sanktionale Praxis beschreibt, die er als Quelle des begrifflichen Gehalts, somit als Quelle der Normen, ansieht. 2. Deontische Kontoführer Grob gesprochen ist die Idee die, dass wir uns als Begriffsanwender im Raum der Gründe aufhalten und Teilnehmer am (sanktionalen) Spiel des Gebens und Nehmen von Gründen sind. Der elementare Zug in diesem Spiel ist das Aufstellen einer Behauptung. Indem ein Sprecher eine Behauptung aufstellt – dies kann auch konkludent geschehen, etwa durch das An-sich-Nehmen eines Gegenstandes – legt er sich auf das Behauptete fest und berechtigt komplementär den Hörer dazu, ihm diese Festlegung zuzuschreiben (und ihn im Falle der Nicht-Berechtigung zu sanktionieren). Eine Behauptung ist hierbei das Schlüsselmedium: Sie wirkt in zwei Richtungen, zum einen als Autorisierung (i) und zum anderen als Verantwortung (ii): 46 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 80 f. Dazu Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 142 f. 47 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 90.
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Einmal hat die Behauptung Einfluss auf die Angemessenheit weiterer Behauptungen (i). Brandom geht von drei möglichen Folgen48 einer Behauptung für weitere Behauptungen aus: Es kann erstens sein, dass eine Festlegung weitere Festlegungen nach sich zieht („festlegungserhaltende inferentielle Relation“). Klassische Fälle sind Deduktion, logische Ableitungen oder – was gleich noch auszuführen ist – sogenannte „materiale Inferenzen“. Wer sich auf p festlegt, ist, wenn aus p logisch non-q folgt, auch auf non-q festgelegt. Zweitens ist möglich, dass man infolge der Berechtigung zu einer Behauptung zu einer anderen Behauptung berechtigt ist (berechtigungserhaltende inferentielle Relation). Wer behauptet, dass das Fenster zerbrechlich ist, ist zur Behauptung berechtigt, dass es durch den Schuss zerbrechen wird. Zuletzt ist drittens auch das Verhältnis der Inkompatibilität zwischen zwei Behauptungen denkbar: Dieses liegt dann vor, wenn die Festlegung auf die eine Behauptung es unmöglich macht, zu der anderen Behauptung berechtigt zu sein. So ist etwa die Aussage: „Das Blatt ist einfarbig und grün“ mit der Aussage „das Blatt ist einfarbig und rot“ unvereinbar. Die Behauptung hat nun nicht nur Auswirkung auf die intrapersonalen Festlegungen und Berechtigungen, sondern auch auf diejenigen der anderen Akteure: Geht ein Akteur eine Festlegung ein, gestattet er dadurch den Hörern, ihm diese Festlegung zuzuweisen. Sehen die Hörer die Behauptung auch selbst als zutreffend an, dann „erben“ sie die Behauptung: Sie sind dann selbst auf die Aussage festgelegt und – je nach Charakter der inferentiellen Relation – auf die aus ihr folgenden Behauptungen festgelegt beziehungsweise zu ihnen berechtigt.49 Neben dieser den Sprecher und die Hörer autorisierenden Wirkung, die die Behauptung entfaltet, bewirkt die Behauptung auch die Übernahme von Verantwortung (ii): Der Behauptende übernimmt nämlich die Verantwortung zu zeigen, dass er zu der Behauptung berechtigt ist, muss also Gründe liefern, falls die Berechtigung einmal infrage gestellt wird. Der Behauptende berechtigt diejenigen Akteure, die ihm die mit der aufgestellten Behauptung eingegangene Festlegung zuschreiben, dazu, ihn zu sanktionieren, falls er dieser Leistungsverantwortung nicht nachkommt.50 Eine gängige Spielart des derartigen Eingehens von Festlegungen ist die Praxis des Versprechens.51
48
Ebd., S. 255 ff. Ebd., S. 256 f. 50 Ebd., S. 247 f. Die dem deontischen Kontoführer auferlegte Leistungsverantwortung, die den Verantwortungsbegriff konstituiert, kritisiert Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, 2013, S. 395 ff.: Das der Normativität zugrunde gelegte Konzept der Verantwortung führe zu mehreren problematischen Folgen. Es benötige erstens eine „Moralisierung“ (S. 395 ff.): Brandom müsse ein Bewusstsein der Akteure um ihre eigenen deontischen Schulden voraussetzen und die damit verbundenen Pflichten, nämlich die zu eigener Widerspruchsfreiheit, zu Transparenz um die verwendeten Inferenzen sowie die Bereitschaft zur Rechtfertigung ihrer Behauptungen (S. 389), unterstellen – nur so 49
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Der geforderte Nachweis der Berechtigung kann nun auf drei Arten erbracht werden.52 Der Sprecher kann eine Behauptung, etwa „hier gibt es Wölfe“, erstens dadurch rechtfertigen, dass er sich auf die Autorität eines anderen Akteurs, der die nämliche Behauptung aufstellte, beruft: „Der Förster erzählte es.“ Zweitens kann er sich auf die eigene Autorität als verlässlicher Berichterstatter nichtinferentieller Behauptungen berufen, womit Behauptungen bezeichnet sind, die nicht aus einer weiteren Behauptung abgeleitet, sondern allein auf der Wahrnehmung des Akteurs beruhen: „Ich habe selbst einen Wolf gesehen.“ 53 Der Sprecher kann aber auch drittens die Behauptung rechtfertigen, indem er Gründe für sie angibt. Ein solches Vorgehen bedeutet stets, weitere Behauptungen anzuführen, etwa: „Vor zehn Jahren wurde mit der Wiederansiedelung von Wölfen in diesem Gebiet begonnen.“ Die offenbar gewordene Doppelrolle der Behauptung, nämlich als Folge aus (i) und zugleich als Begründung von (ii) einer anderen Behauptung fungieren zu können, stellt ihren herausragenden Status im Spiel des Verlangens und Nehmens von Gründen heraus.54 Doch führt die Rechtfertigung durch weitere Behauptungen nicht zwangsläufig in einen infiniten Regress, also dazu, immer weitere, begründende Behauptungen zu fordern? Hier wählt Brandom einen klassischen Ausweg: Auch der Zweifler
könne er, wie von ihm angestrebt, einer reduktiven Erklärung von Normativität entgehen. Zweitens folge eine „Juridifizierung und Ökonomisierung“: das Kontoführen laufe, so Vogelmann nietzscheanisch, auf „Grausamkeit“ und „Berechenbarkeitsmachung“ aus (S. 397 ff.). Drittens bestehe die „Gefahr der Selbsteinschließung“ (S. 399 f.): der Mechanismus des Selbstexplizierens versage beim Begriff der Verantwortung selbst, könne diesen nicht mehr ausreichend reflektieren. Vgl. zum ersten Punkt C. II. 4., zu den anderen die Andeutung in C. Fn. 18. 51 Man legt sich auf ein bestimmtes Verhalten fest und erteilt damit anderen die Berechtigung, sich auf den Akt einzustellen, der versprochen wurde. Verantwortung bedeutet hier, dass die Festlegungszuweisenden dazu berechtigt sind, den Festgelegten unter der Bedingung zu sanktionieren, dass er sich entgegen seiner Festlegung verhält. Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 248 f. Kritisch zur Genese von Normativität durch Sprechakte meint Stemmer, Normativität, 2008: Der Versprechende schaffe zwar die Pflicht, das Versprochene zu tun, die es vor dem Sprechakt nicht gab. Doch schaffe nicht der Sprechakt des Versprechens Normativität, sondern die Einbettung des Sprechakts in einen bereits existenten Sanktionsrahmen schaffe die Möglichkeit des Versprechens (ebd., S. 335 ff.). Auch wenn es aber so ist, wie Stemmer sagt, dass das Versprechen lediglich die Leerstellen der Rahmensanktionsregelung ausfüllt, so entsteht die normative Verpflichtung eben doch durch den Sprechakt. Und die Einrichtung der Rahmensanktionsregelung (das Versprochene tun zu müssen) beruht auf der sozialen (sanktionalen) Praxis. 52 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 262 ff. 53 Durch die Möglichkeit, Behauptungen auf Wahrnehmungen zu stützen, schafft Brandom eine Anknüpfung der sonst freischwebenden, normativen Welt an die wahrnehmbare Welt der Objekte. 54 Ebd., S. 263.
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benötigt Gründe.55 Diesen Ausweg bezeichnet er als Vorschuss- und Anfechtungsstruktur der Berechtigung: Ungedeckte Berechtigungen sind solange kein Problem, solange nicht ihr Gegenteil bewiesen ist. Zwar gilt dies nicht für alle Festlegungen. Wann und welche Behauptungsakte weiterer Rechtfertigung bedürfen, hängt von der den praktischen Einstellungen der Akteure ab, ergibt sich also aus der sozialen Praxis. Das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen wäre jedoch blockiert, „wenn Rechtfertigungen an kein Ende kommen dürfen“.56 Zwar ist nicht fixiert, wann „die Forderungen nach Rechtfertigung oder Nachweis der Berechtigung enden müssen, doch gibt es genügend Punkte, wo sie enden können, so daß man nicht von einer globalen Gefahr eines paralysierenden Regresses ausgehen muß“.57 Die Praxis, an der wir teilnehmen, beschreibt Brandom nun als eine des deontischen Kontoführens:58 „Kompetente sprachliche Akteure bleiben ihren eigenen Festlegungen und Berechtigungen und denen der anderen auf den Fersen.“ 59 Jeder Teilnehmer führt Konten über Festlegungen und Berechtigungen und jeder Verhaltensakt ändert in einer gewissen Weise – nämlich gemäß den inferentiellen Schlussregeln – die Kontostellungen der Teilnehmenden.60 Die Akteure nehmen nun sanktionale61 Haltungen gegenüber den Zügen der übrigen Teilnehmer ein, indem sie diese als berechtigt oder als nicht-berechtigt bewerten und behandeln. Wenn ein Akteur zu einer eingegangenen Behauptung keine Berechtigung vorweisen kann, besteht die praktische Auswirkung darin, einer gewissen Form der Sanktionierung zu unterfallen.62 Die Zuhörer hingegen, die eine vorgebrachte Rechtfertigung der Behauptung akzeptieren, die also die angeführten Gründe als die Schlussfolgerung tragend verstehen, billigen damit implizit eine bestimmte Inferenz, nehmen eine positiv-sanktionierende Haltung ein. Diese praktischen Beurteilungen, nämlich Folgerungsbeziehungen als zutreffend zu bewerten, schaffen die inferentiellen Korrektheitsbeziehungen. Manche Folgerungsbezie-
55 „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewissheit voraus.“ Wittgenstein, Über Gewissheit, 1970, S. 39 (Nr. 115). 56 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 267. 57 Ebd., S. 269 (H. i. O.). 58 Die Idee des Kontoführens ist eine Aufnahme einer Idee von D. Lewis, der den Gedanken des Punktestand-Führens aus dem Baseball entlehnt, vgl. D. Lewis, Scorekeeping in a Language Game, Journal of Philosophical Logic, 8 (1979), S. 342 ff. Ein maßgeblicher Unterschied zum Baseball besteht darin, dass nicht nur für, sondern auch durch jeden Gesprächsteilnehmer Konten geführt werden, vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 277. 59 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 220. 60 Ebd., S. 252. 61 Wichtig ist, dass unter sanktional hier wie auch im Folgenden stets die positive und negative Sanktionsrichtung zu verstehen ist. 62 Ebd., S. 270.
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hungen werden als richtig angesehen, andere als falsch. Durch diesen, das Netz der Behauptungen ordnenden Prozess, werden die einzelnen Akte in Relation zu einander gestellt und ihnen auf diese Weise Gehalt übertragen.63 Diese Überlegung erscheint mir so zentral, dass ich sie noch etwas ausführe: Die eine Rechtfertigung behauptende Person („q, da p“) behauptet die Zulässigkeit des Schlusses von p auf q. Die Hörende, die die Behauptung als Rechtfertigung akzeptiert, anerkennt implizit diese Inferenz. Solche Inferenzen nennt Brandom materiale Inferenzen.64 Sie sind nicht formal zwingend, sondern ihre Anwendung in der Praxis hängt von der Billigung der Schließenden ab. So liegt es beispielsweise bei der Inferenz von „A liegt westlich von B“ auf „B liegt östlich von A“. Um die Begriffe „westlich“ und „östlich“ handhaben zu können und zu verstehen, muss man die besagte Inferenz billigen.65 Brandom führt aus – und das ist die Erklärung des Werktitels im Original: „making it explicit“ –, dass wir in Alltag und Wissenschaft ganz wesentlich solche materiale Inferenzen verwenden, und logisches Vokabular dazu dienen kann, die darin enthaltenen impliziten Billigungen explizit zu machen.66 Und durch dieses Explizitmachen werden die materialen Inferenzen zu kritisierbarem und diskutierbarem Inhalt. Dies gilt auch und insbesondere für das praktische Begründen. Man kann sich das etwa an folgender Inferenz vor Augen führen: „Ich bin Bankangestellter und gehe zur Arbeit, also werd’ ich wohl eine Krawatte tragen.“ Wenn zwei Akteure über die Richtigkeit einer Inferenz wie dieser uneinig sind, können sie diese als Behauptung extrapolieren („Bankangestellte sind verpflichtet Krawatte zu tragen“) und sodann anfechten und diskutieren, statt sie schlicht (unhinterfragt) hinzunehmen und anzuwenden.67 Die Sanktionseinstellungen der Akteure übertragen nun nach Brandom den begrifflichen Gehalt, schaffen die materialen Inferenzen, etablieren demnach, welche Schlussfolgerungen in der jeweiligen Praxis akzeptierte sind.68 Nun sind diese entsprechenden sanktionalen Haltungen der Akteure jedoch rein faktische Dispositionen. Insofern droht die ursprünglich intendierte Unterscheidung zwischen regelmäßig und richtig zu verschwinden. Es klingt demnach so, als würde, was als richtiges Verhalten gilt, lediglich dadurch ausgezeichnet, dass es durch faktische Sanktionierung erzeugt ist. Dies liefe wiederum auf eine Spielart des Regularismus hinaus, den Brandom doch gerade zu vermeiden suchte. Hier sieht Brandom, wie oben angekündigt, den Ausweg im Konzept interner Sanktionen.
63
Ebd., S. 263. Vgl. zu den materialen Inferenzen Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 144 ff. 65 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 163 (Beispiel dort). 66 Ebd., S. 170 f. 67 Ebd., S. 363 (Beispiel dort). 68 Ebd., S. 263. 64
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3. Interne Sanktionen: die Hütte und das Blatt Was Brandom hiermit meint, macht er an der Erzählung von Hütte und Blatt deutlich. Er bildet das Beispiel einer Norm, der zufolge man ein Blatt eines gewissen Baumes herzeigen muss, um eine bestimmte Hütte betreten zu dürfen. Es ist zwar möglich, dass die „beurteilende Reaktion, die die Anerkennung einer solchen Norm (. . .) durch die Gemeinschaft konstituiert“, nicht-normativ verständlich ist, indem etwa ein Akteur, der der Norm zuwiderhandelt, mit Stockschlägen behandelt wird, indem also eine negative Verstärkung der Zuwiderhandlung stattfindet.69 Möglich sei aber auch, dass sich die Bestrafung darin zeigt, dass weitere Handlungen des Akteurs als unangebracht betrachtet werden, dass etwa der Normbrecher die Berechtigung verliert, am wöchentlichen Dorffest zu partizipieren. Dann ist die Auswirkung des Normbruches „selbst in normativen Begriffen spezifiziert (nämlich, was angemessen ist, was der Übertreter berechtigt ist, zu tun)“.70 Die Sanktionierung besteht dann nicht in externen Sanktionen wie Stockschlägen, sondern erschöpft sich in einer Änderung weiterer normativer Status: die Angemessenheit nachfolgender Verhaltensweisen wird durch die Normverletzung beeinflusst.71 Die Norm, die den Besuch des Dorffestes regelt, kann wiederum ihrerseits mittels nicht-normativer Sanktionen dargestellt werden. Dann ist diese Norm durch nicht-normativ spezifizierbare Sanktionen verständlich, wohingegen die Norm, die den Hütteneintritt regelt, durch Sanktionen verständlich ist, die ihrerseits rein normativ ausgedrückt werden können: nämlich in den Auswirkungen auf die Frage, ob derjenige zur Teilnahme am Fest berechtigt ist.72 Die Normen, die die Festteilnahme regeln, sind direkt nicht-normativ verständlich, die Normen des Hüttenzugangs sind zwar auch nicht-normativ verständlich, allerdings eben lediglich indirekt.73 Wenn sich die Sanktionseigenschaft rein in normativen Begriffen ausbuchstabieren lässt, sich also ausschließlich daraus ergibt, dass weitere Verhaltensakte gemäß anderer Normen berechtigt oder unberechtigt sind, dann könne man solche Sanktionen als interne Sanktionen bezeichnen.74 Diese Verkettung lässt sich erweitern: Die internen Sanktionen können über normative Status definiert werden, die selbst durch interne Sanktionen verständlich sind.75 Diese Erweiterungen haben immer noch die Eigenschaft, dass sie an ihrem Ende aus normativen Status bestehen, die durch externe Sanktionen verständlich sind. Brandom meint aber, dass auch diese Beschränkung aufgegeben werden kann: 69 70 71 72 73 74 75
Ebd., S. 90. Ebd (H. i. O.). Ebd. Ebd. Ebd., S. 90 f. Ebd., S. 91. Ebd.
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„Es ist möglich, eine Gemeinschaft so zu interpretieren, daß sie normative Satus durch ihrer [sic] Einstellungen der Beurteilung instituiert, auch wenn jedem solchen Status Sanktionen entsprechen, die ausschließlich andere normative Status ins Spiel bringen. Es ist absolut verträglich mit dem Sanktionenparadigma des Beurteilens und auch der normativen Einstellung, daß es sich um ,Normen bis auf den Grund‘ handelt. Eine solche Interpretation würde keine Reduktion normativer Status auf nichtnormativ spezifizierbare Dispositionen stützen (. . .). Durch externe Sanktionen anerkannte Normen können einer Gemeinschaft Stück für Stück, atomistisch, zugewiesen werden. Will man ihr aber eine Norm zuweisen, deren Anerkennung durch die Gemeinschaft in Beurteilungen besteht, die durch interne Sanktionen ausgedrückt werden, dann müssen auch die Normen zuerkannt werden, von denen dies abhängt. Solche Abhängigkeiten bringen einen holistischen Zug in die Zuweisung normativer Signifikanzen an Performanzen einer Gemeinschaft. Will man im Rahmen des retributiven Paradigmas normativer Einstellungen eine Gemeinschaft so interpretieren, daß sie Praktiken aufweist, in denen interdependente Normen implizit enthalten sind, so braucht die Anerkennung der durch diese Interpretation ans Licht gebrachten normativen Status oder Signifikanzen mit keinem nichtnormativ spezifizierbaren Verhalten verbunden zu sein.“ 76
Brandom kündigt an, ein solches holistisches System von Normen zu liefern und meint offensichtlich, dies mit dem oben nachgezeichneten Modell der deontischen Kontoführungspraxis getan zu haben. Dort nämlich greift er die Idee interner Sanktionen wieder auf: In der Praxis des deontischen Kontoführens ist, wie gesehen, das Aufstellen einer Behauptung der wesentliche Zug. Eine Behauptung ist nur dann berechtigt, wenn man seiner Leistungsverantwortung gerecht werden kann, also die Berechtigung zur Behauptung nachweisen kann – das Aufstellen einer unberechtigten Behauptung stellt also eine Normverletzung dar.77 Was sind nun die praktischen Einstellungen, anhand derer man angeben kann, dass eine Person diesen Akt als nicht-berechtigt bewertet? Was ist also die Sanktion, die eine bestimmte Inferenz (mis)billigt, also eine entsprechende Norm konstituiert? Wie gezeigt, braucht Brandom zufolge die Sanktion nicht notwendigerweise eine externe zu sein. Es sei möglich, eine Praxis deontischer Kontoführer derart zu interpretieren, dass Verhaltensakte die Rolle von Versprechen einnehmen und zugleich sich die Sanktionierung eines auftretenden Versprechensbruchs darin erschöpft, dass dem zu Sanktionierenden derartige Versprechen künftig nicht mehr geglaubt werden. Das passierte dem Jungen, der öfter „Der Wolf!“ schrie, obwohl kein solcher zugegen war, sein in der Aussage liegender Versprechensakt demnach ein unberechtigter war.78 Brandom will sein Modell aber noch einen Schritt radikaler verstanden wissen: Gegenüber einer Behauptung eine sanktionale Haltung einzunehmen, sie also als nicht-berechtigt zu sanktionieren, kann allein darin bestehen, die Be76 77 78
Ebd., S. 92 (H. v. m.). Ebd., S. 270. Ebd., S. 270 f. (Beispiel dort).
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hauptung als nicht-berechtigend zu behandeln. Die Sanktion muss demzufolge nicht, wie gerade im Beispiel des Wolfes, etwas mit anderen gleichartigen Behauptungsakten des Akteurs zu tun haben, und schon gar nicht muss sie nichtnormativ beschreibbar, also eine externe Sanktion, sein.79 Die Sanktion kann sich vielmehr darin erschöpfen, dass die inferentiellen Anschlussbehauptungen, die aus dem Gehalt des in Frage stehenden Behauptungsaktes resultieren, abgeschnitten sind. Wenn NN also unberechtigterweise „dies ist mein Buch“ behauptet, so muss die Sanktion keine externe Sanktion (etwa Stockschläge) oder ein Entzug der Berechtigung zu dieser Aussage für einen gleichartigen Fall (man hält auch die Besitzbehauptung bezüglich eines anderen Buches für nichtberechtigt) sein, sondern sie erklärt Anschluss-Inferenzen, die aus dem Gehalt dieses Satzes folgen, als nicht durch diese Äußerung berechtigt (etwa das Schreiben des Namens in den Buchdeckel; eine Übertragung des Eigentums – oder etwas derartiges zu behaupten: „NN ist berechtigt, NNs Namen auf den Buchdeckel zu schreiben“, „NN hat Eigentumsrechte an diesem Buch“). 4. Am Grunde der Normen Was ist von der vorgestellten Idee der internen Sanktionen zu halten? Sie zeigt, dass eine Praxis vorstellbar ist, in der die einzige Sanktion nicht in der Zufügung von nicht-normativ verständlichen Übeln liegt, sondern darin, der (unberechtigten, zu sanktionierenden) Behauptung die Funktion zu entziehen, weitere Behauptungen zu berechtigen, also als Begründung weiterer Behauptungen aufzutreten. Übertragen auf das Recht bedeutet das, dass es vorstellbar ist, dass die einzige Sanktion etwa für einen Diebstahl die Nicht-Berechtigung zu Akten sein kann, zu denen eine berechtigte Aneignung der Sache berechtigen würde, also etwa die Nicht-Berechtigung zur Eigentumsübertragung der Sache. Die Idee entspricht insofern der Hegel’schen Vorstellung von der Nichtigkeit des Verbrechens: Die Tat des Täters wird als nicht-anschlussfähig betrachtet. Die interne normative Sanktion ist demzufolge die Nicht-Berechtigung zu Folgebehauptungen. In einigen Aspekten jedoch geht Brandom über Hegels Vorstellung hinaus oder ist zumindest expliziter: Wie bei Hegel erhält der Täter, wie jeder Kontoführer, die Rolle eines Akteurs, der eine Behauptung aufstellt, auf die reagiert wird. Jedoch erklärt Brandoms Struktur des Kontoführens und der Doppelrolle der Behauptung, weshalb in der Feststellung der Nicht-Berechtigung der aufgestellten Behauptung gleichzeitig die grundlegende Sanktion liegt: Die Behauptung als nicht-berechtigt anzusehen bedeutet zugleich die Behauptung als nicht-berechtigend für weitere Akte zu betrachten. Damit gibt Brandom im verstärkten Maße Raum für die Vorstellung, dass diese Sanktion, also die Behauptung als nicht-berechtigend zu behandeln, die einzig erforderliche sein kann. 79
Ebd., S. 271.
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Klarer als bei Hegel wird dadurch,80 dass wir in unserem sanktionalen Umgang „auf normativer Ebene bleiben können“. Das bedeutet, dass die Reaktion auf eine unberechtigte Behauptung also gerade nicht notwendigerweise die Gestalt einer drastischen Ruhigstellung durch Strafschmerz – wie etwa über den Rückgriff auf die Figur einer materialisierten Gegenobjektivierung gegen den Normwiderspruch des Täters81 oder das Konstrukt einer kognitiven Untermauerung82 – annehmen muss. Bevor wir uns der Frage annehmen, welche Anforderungen es an eine solche Sanktion gibt und wie Umsetzungsmöglichkeiten in der konkreten Strafpraxis aussehen könnten, will ich überlegen, ob die Vorstellung der internen Sanktionierung in der Lage ist, das von Brandom eigentlich anvisierte Problem zu lösen, nämlich die Frage nach dem Ursprung der Normen. Wie wir uns erinnern, ging es ihm darum, dass die beurteilenden Einstellungen, aus denen Brandom die Normen und den begrifflichen Gehalt herleitet, nicht mit den tatsächlich vorgenommenen Beurteilungen zusammenfallen sollen, da sonst die Unterscheidung zwischen Richtigkeit und Regelmäßigkeit verloren geht (Regularismus, s. o.). Ist nun das Konzept der internen Sanktionen geeignet, das Problem zu lösen? Man könnte daran zweifeln, wenn man annimmt, dass internes Sanktionieren immer noch faktisches Sanktionieren ist. Eine interne Sanktionierung, also eine Behauptung als nicht-berechtigend oder jemanden als zu weiteren Versprechen nicht-berechtigt anzusehen, kann man nämlich als faktisches Geschehen begreifen: Zwar sind die Folgen der internen Sanktion in rein normativen Begriffen verständlich (z. B.: jemand ist [nicht-]berechtigt zu Folge-Behauptungen). Ob aber eine Sanktionshaltung eingenommen wird, bleibt eine faktische Einstellung des Kontoführers. Es würde sich folglich auch bei internen Sanktionen nur um eine Regelmäßigkeitstheorie handeln, die Brandom gerade vermeiden will. Jedoch wird diese Sichtweise Brandoms Ansatz nicht gerecht: denn auch die Sanktion ist eine Performanz, die einen normativen Status hat, also berechtigt oder nicht berechtigt sein kann. Brandom macht dies am Beispiel des „königlichen Schillings“ 83 deutlich: Nach dieser rechtlichen Konvention ging derjenige, der den besagten Schilling von einem werbenden Offizier annahm, durch diese Annahme eine Festlegung ein (nämlich diejenige, zum Militärdienst anzutreten). Zugleich berechtigt der Akt der Annahme den Festlegungsempfänger dazu, den 80 Bestenfalls als vorsichtige Andeutung lässt sich dahingehend Hegels Bemerkung interpretieren: „[D]ie ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft [setzt] die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine größere Milde in der Ahndung herbei.“ [Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 372 (§ 218)]. 81 So die Hegel-Interpretation Jakobs’, s. oben B. IV. 2. 82 So Jakobs’ zentrales Begründungsmoment für das Verlassen der normativen Ebene der Reaktion, s. oben B. IV. 3. 83 Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 246 f.
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Festgelegten bei Nichterfüllung (also im Falle des Nichtantritts zum Militärdienst) zu sanktionieren. Ein derartiges Sanktionieren wäre, so Brandom, aber unberechtigt und somit selbst wiederum zu sanktionieren, falls der Betroffene die Festlegung gar nicht eingegangen ist (z. B. die Münze gar nie angenommen hat).84 Somit ist auch das Ob der Sanktionierung ein Akt, der berechtigt/nichtberechtigt ist, also durch weitere normative Status erklärt werden kann. „So gesehen geht es beim Eingehen einer Festlegung nicht darum, daß eine tatsächliche Bestrafung bei Nichterfüllung erfolgt, sondern darum, daß eine solche Strafe auch angemessen ist. Es geht nicht um die tatsächlichen bedingten Dispositionen der Zuweiser der Festlegung zum Sanktionieren (. . .). Es geht um (. . .) [die] Berechtigung zu strafen.“ 85
Im Beispiel bedeutet das, dass diejenigen, die versuchen, jemanden (unberechtigt) vor das Kriegsgericht zu bringen, dadurch ihre Vorgesetzten berechtigen, sie zu sanktionieren, somit ihr eigenes Sanktioniert-werden legitimieren. Es stellt sich nun die Frage, wie Brandom den daraus resultierenden Regress verarbeiten will. Denn offensichtlich ist auch das Sanktionieren durch den Vorgesetzten selbst wieder eine Performanz, die richtig oder unrichtig sein kann. Der Regress der Sanktionierung des Sanktionierens ist unendlich.86 Brandom müsste also weiter angeben, woher sich der Maßstab für die Korrektheit des Sanktionierens, des Verdienens einer Sanktion, ergeben soll. Diesbezüglich verhält sich Brandom, wie Sebastian Knell feststellt, auffällig ambivalent: An manchen Stellen scheine es so, dass der Korrektheitsmaßstab den realen Kontoführungsaktivitäten der Akteure völlig enthoben sei – was wiederum in einer gewissen „systematischen Spannung“ zur anderorts von Brandom geäußerten Auffassung stehe, dass es nämlich gerade die Teilnehmer der Kontoführungspraxis sind, die die Normen konstituieren.87 Es kommt mir so vor, als flüchte sich Brandom in eine Vorstellung objektiver Richtigkeit der Normanwendung, um auf der einen Seite einem infiniten Regress des Sanktionierens (Richtigkeitsregress) zu entgehen, und auf der anderen Seite eine Rückführung der Normen auf faktischen Dispositionen (Reduktionismus) zu vermeiden. Ich denke aber, dass es einen anderen Weg gibt, der zwar nicht ganz reibungslos verläuft, aber dafür der starken Intuition, derer sich auch Brandom bedient, dass es nämlich „unsere Normen“ sind,88 gerecht wird.
84
Ebd., S. 247 f. Ebd., S. 248 (H. i. O.) 86 Den Regress als Problem für die von Brandom angepeilte objektive Normativität herausstellend, Liptow, Regel und Interpretation, 2004, S. 154. 87 Knell, Propositionaler Gehalt und diskursive Kontoführung, 2004, S. 112 ff. 88 Vgl. etwa: „Denn es wurde ja nicht nur behauptet, daß wir diskursiven Wesen Geschöpfe von Normen sind, sondern auch, daß die Normen in gewissem Sinne unsere Geschöpfe sind[.]“ Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 867. 85
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Ich will diesen Weg zumindest andeuten. Bezüglich des Regel-Regresses besteht er darin – ich folge hier einem Gedanken von Joseph Heath89 –, dass man die sanktionierenden Akteure nicht als sequentielle Kaskade – wie bei den Normen, deren Auslegung von Normen geregelt wird, welche wiederum der Auslegung bedürfen und so weiter, vgl. den Regulismus – sehen muss: Vielmehr liegt die Auflösung des Regresses darin, dass nicht eine immer weitere Sanktionsinstanz nötig wird, sondern dass – im Zweier-Verhältnis, aber auch erweiterbar – die sanktionierte Person wiederum selbst das Sanktionieren sanktioniert,90 sich die Akteure also wechselseitig sanktionieren und einander als solche sanktionalen Quellen begreifen.91 Die Normativität, die Quelle der Normen, läge dann in der Praxis, sich wechselseitig92 sanktionierender Akteure.93, 94 In der sozialen Praxis bilden sich in der jeweiligen normativen Welt aus der Vermittlung der sanktionalen Haltungen der Akteure akteur-übergreifend aner-
89 Ich folge hier Heath, Brandom et les sources de la normativité, Philosophiques 28 (2001), S. 40 ff. Dieser weist darauf hin, dass Brandom eben diese Lösung selbst bereits bei der Frage nach ursprünglicher Intentionalität angewandt hatte (ebd., S. 41 u. 37 ff.). 90 Ebd., S. 41 f. Zwar unterliege auch der Prozess von gegenseitiger Erwartung und Sanktionierung einem Regress. „Mais, cette forme de régression est clairement sans consequence dans les cas où attentes et sanctions convergent vers une même structure d’action. Or, ces cas sont précisément ceux dans lesquels on voudrait dire qu’il existe une norme implicite dans la pratique.“ (Ebd., S. 42). Heath nimmt explizit Bezug auf Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, 1981, S. 38 f. 91 Auch Brandom verweist in seiner Vorstellung expliziter Kontoführung auf das Element der Wechselseitigkeit: „Die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, die zueinander die explizite diskursive Kontoführungseinstellung einnehmen, erlangen dadurch eine Art Interpretations-Gleichgewicht. Jeder interpretiert die anderen als an der gleichen Art von Interpretationstätigkeit beteiligt [.]“ So Brandom, Expressive Vernunft, 2000, S. 889 (H. i. O.). Diese Vorstellung der wechselseitigen Sanktionierung als Urgrund der Normativität entspricht in gewisser Weise Herders Idee vom Ursprung der Sprache als „Kette der Bildung“, an der jeder mitbildet und die immer im in Entwicklung befindlich ist: „Eine Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art etwas beitrug! Eine Summe der Wirksamkeit aller menschlichen Seelen.“ Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), 2007, S. 76 f. 92 Zum Element der wechselseitigen Zuschreibung von Freiheit und Gleichheit als Begründung normativer Statuspositionen s. Bung, Zum partikularen, reziproken und kollektiven Charakter normativer Statuspositionen, RphZ 2017, S. 12 ff. 93 Kritisch zu einer sanktionsbasierten Norm-Begründung Engländer, Norm und Sanktion – Kritische Anmerkungen zum Sanktionsmodell der Norm, RW 4 (2013), insbes. S. 198 ff. Dessen überzeugende Einwände sprechen wohl nicht gegen die hiesige Konzeption, zumal man die sanktionale Einstellung der Berechtigung/Nicht-Berechtigung in Bezug auf ein Verhalten mit eben derjenigen Handlungsanweisung, die nach dem von Engländer verteidigten Standard-Modell die Norm generiert (ebd., S. 205 f.), parallelisieren kann. 94 Zum Zusammenhang von ursprünglicher Normativität und ursprünglicher Sanktionierung in einem proto-kontraktualen Modell der berechtigenden Festlegung bereits Bung, Wissen und Wollen, 2009, S. 29.
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kannte Schlussregeln heraus.95 Diese sind dann die Schlussregeln, anhand derer die Akteure ihr Verhalten gegenseitig beurteilen, also die Gründe, die sie für bestimmtes Verhalten als berechtigend ansehen. Jedoch sind auch diese Schlussregeln nicht unumstößlich festgeschrieben, sondern können kritisiert werden – und sind abhängig vom Zuschnitt einer normativen Ordnung leichter oder schwerer änderbar. „Ist diese Behauptung x wirklich ein Grund für die Folgebehauptung y?“ – „Ist die-und-die Eigenschaft zu besitzen, wirklich ein guter Grund, um zu dem-und-dem Verhalten berechtigt zu sein?“ Diese Vorstellung hat gleichzeitig Auswirkungen für die Frage des Reduktionismus: Der Befürchtung Brandoms, dass sofern die Normen auf sanktionale Dispositionen der einzelnen Akteure reduziert würden, die einfache Regularität mit der Richtigkeit zusammenfällt, lässt sich Folgendes entgegenhalten: Die Sanktionseinstellungen, um die es geht, sind zwar (zunächst) vereinzelte, faktische Dispositionen. Aber sie sind nicht starr, sondern unterliegen der gegenseitigen Beeinflussung. Die Akteure entwickeln im Wege gegenseitiger Sanktionierung Schlussregeln, die von den konkreten Sanktionseinstellungen unabhängig ist. Insofern bildet sich eine Praxis von als angemessen geltenden Schlussregeln, die die einfachen faktischen Sanktions-Dispositionen der einzelnen Akteure transzendieren. Folgt man dieser Vorstellung, führt dies zu einer entspannten Haltung gegenüber einer schwach reduktiven Lesart, nämlich zur Haltung, dass Normen in gewisser Weise auf (Sanktions-)Dispositionen rückführbar sind.96 Dies ist jedoch unproblematisch, wird doch der Unterschied zwischen richtiger und regelmäßiger Sanktionierung gerade dadurch besonders ernst genommen: denn die hypothetisch unendliche Sanktionierbarkeit lässt – zumindest asymptotisch – offen, ob eine Sanktionierung zutreffend ist. Doch führt diese Sanktionsschleife nicht zum Postulat objektiver Normen, sondern ist direkt an die Akteure rückgebunden, indem für die jeweilige Sanktionierung Gründe verlangt werden können.
95 Nicht unähnlich – abgesehen freilich vom zentralen, dort ausgesparten Element der Wechselseitigkeit – ist die Vorstellung, die eine existierende Regel als „erfolgreiche Anweisung“ sieht, vgl. Iorio, Regel und Grund, 2011, insbes. S. 65; zur Verteidigung eines solchen, der Imperativentheorie ähnlichen Ansatzes, gegen die diesbezügliche Kritik von Hart s. ebd., S. 119 ff. 96 Einen unverhohlen naturalistischen Sanktionsansatz liefert etwa Stemmer, Normativität, 2008. Normativität entstehe durch die Einrichtung eines Sanktionsmechanismus. Es existiert nicht die Norm, die dann durch eine Sanktionspraxis etabliert wird. Vielmehr schafft der durch das Wollen des Normautors eingerichtete Sanktionsmechanismus die Norm (ebd., S. 175 f.). Das ist in gewisser Weise mit der hier vorgeschlagenen Idee kompatibel. Entscheidend ist jedoch, dass das Element der Sanktionierbarkeit desjenigen, der die Sanktionierung einrichtet, also ein ursprüngliches Sanktionsgleichgewicht mitgedacht wird. Ansonsten bleibt Stemmers sanktionen-basierte Erklärung eine Theorie der Macht; vgl. dazu ähnlich Kühler, „Might makes right“ – Peter Stemmers sanktionistische Theorie moralischer Normativität und die Frage nach der Legitimität von Sanktionen, in: Buddeberg/Vesper, Moral und Sanktion, 2013, S. 84 ff.
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Die Antwort scheint den Einwand nahezulegen, dass es letztlich auf eine reine Machtfrage ankommt, wer der durchsetzungsstärkste oder letzte Sanktionierer ist. Zu bedenken ist allerdings, dass es hier ausschließlich um die Idee des Ursprungs von Normativität geht. Aufgrund des zugrundeliegenden Gleichheitspostulats (das in der Vorstellung der Akteure als sanktionale Kontoführer qua gleicher Befähigung ruht) handelt es sich vielmehr um eine egalitäre Fassung einer normativen Ordnung: Je kritisierbarer die Sanktionen sind, desto eher handelt es sich um Normativität und nicht um Gewalt. Unter Rekurs auf Hegels Bild der wechselseitigen Anerkennung (s. o.) setzt Normativität das Gelingen einer Balance voraus – und ist der ständigen Gefahr ausgesetzt, als einseitige Sanktionierung auszulaufen. Helfen kann hier zweierlei: Zum einen das Wissen um die je eigene Sanktionierbarkeit und zum anderen die Institutionalisierung der sanktionalen Praxis.97 Einer solchen Institutionalisierung steht die dargelegte idealisierte Vorstellung vom Nucleus der Normativität nicht im Weg. 5. Ergebnis zu Brandom Was haben wir durch Brandom gewonnen? Er zeigt uns eine plausible Lesart unserer Lebensform und gibt uns einen wichtigen Hinweis auf die Ursanktion, die minimalste Einheit der Kontoführungsaktivität als Gründen folgende Akteure: Sie besteht darin, eine Behauptung als berechtigend bzw. als nicht-berechtigend zu behandeln.98 Die praxisimpliziten Normen, die die Quelle der Normativität sind, liegen – so wird hier vorgeschlagen – in der Praxis des wechselseitigen Sanktionierens der Akteure, also in der Praxis des deontischen Kontoführens selbst. Wir schaffen 97 Vgl. dazu die Überlegungen des interessenstheoretischen Ansatz von Engländer. Dieser geht ebenfalls von einer prinzipiellen Möglichkeit der intersubjektiven Rechtsbegründung aus („Strategie interpersonaler Reziprozität“), die allein durch die Mittel von Kooperationsentzug und Reputation möglich ist. Diese bedürfe jedoch absichernden „Schutzvereinigungen“, um Missbrauch zu vermeiden und verbindliche Entscheidungen zu erlangen, was aufgrund der drohenden Machtkonzentration zu rechtsstaatlichen Institutionen dränge. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 157 ff., insbes. 167 ff.; ders., Rechtsbegründung durch aufgeklärtes Eigeninteresse, JuS 2002, S. 537 ff. 98 Möllers erkennt die Unterscheidung der Sanktion „im engeren Sinn“ und der „schwachen Sanktion“, die jedem Normbruch innewohnt: jede Norm führt dazu, dass sich ein Verhalten vor der Folie der Norm als nicht berechtigt/berechtigt beschreiben lässt (Möllers, Die Möglichkeit der Normen, 2015, S. 171 f.). Und wenn, so meine ich, die Teilnehmer diese Beschreibung mit der entsprechenden Einstellung Vornehmen so ist das eine relevante Sanktion (Diese muss nicht notwendig eine Norm aktualisieren oder konstituieren, sondern kann, etwa wenn sie heimlich erfolgt – so das Gegenbeispiel Möllers’ [ebd., S. 173] – dahingehend wirkungslos bleiben; der Gedanke, dass nicht jede Sanktion erfolgreich eine Norm konstituiert, zwingt nicht zur Annahme, dass nicht jede Norm sanktionskonstituiert ist.). Möllers jedenfalls fokussiert auf „Sanktionen im engeren Sinn“, nämlich solche, die die Relevanz einer Norm unterstreichen, und kann daher ohne weiteres zum Ergebnis gelangen, dass Sanktionen keine notwendige Bedingung einer Norm darstellen (ebd., S. 178 f.).
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unsere Normen aus unseren Richtigkeitsvorstellungen und führen Konto anhand dieser entwickelten Richtigkeits-Festlegungen. Wir sind Kreateure und zugleich Wächter unserer Normen. 6. Locke und das ursprüngliche Strafrecht Beachtlich ist eine Parallele zu einem Vertreter der klassischen staatstheoretischen Überlegung, nämlich John Locke: Auch dieser geht von einer genuinen und ursprünglichen Sanktionskompetenz der Akteure aus. Festmachen kann man das – wie ich skizzieren will – insbesondere an zwei gänzlich unterschiedlichen Stellen seiner politischen Theorie: Einmal wird dies erkennbar bei seinem berühmten Widerstandsrecht gegen den Staat: Ein solches wahrzunehmen ist zwar lediglich in besonderen Umständen zulässig, etwa wenn der Staat gelenkt wird, als würde er seine Bürger geradewegs in die Sklaverei überführen.99 Das Widerstandsrecht wird aber, so meint Locke, faktisch nur selten gebraucht werden: Dem Einzelnen dürfte es regelmäßig zu gefährlich erscheinen und die Regierung müsse in höchstem Maße zusehen, dass im Volk keine allgemeine Stimmung des Argwohns aufkommt.100 Zudem unterliegt es weiteren hohen Zulässigkeitshürden, so bedarf es nicht nur der Einschätzung eines Hitzkopfs, sondern der Einschätzung der Gesamtheit des Volks.101 Allerdings liegt die Sanktionskompetenz, also die Einschätzung darüber, ob ein solcher Fall des Widerstandes vorliegt (Wer soll Richter sein?), dem Grunde nach beim einzelnen Akteur.102 Auch in einer zweiten Hinsicht – in der Phase des Naturzustands, also vor der Vergemeinschaftung – geht Locke von einer fundamentalen Sanktionskompetenz des einzelnen Akteurs aus: Im Naturzustand stünde jedem Akteur ein Recht zu strafen zu.103 Locke meint hiermit ein wirkliches Jedermannsrecht, also die Befugnis auch als an der Tat Unbeteiligter sanktionierend einzugreifen. Dieses Strafrecht will ich umreißen: Freilich setzt ein Straf-„Recht“ erst einmal über99 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 167 (§ 210); Siep, Kommentar zu Locke, S. 296 f. 100 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 166 f. (§ 209 f.); Siep, Kommentar zu Locke, 2007, S. 295 f. 101 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 165 (§ 208); Siep, Kommentar zu Locke, 2007, S. 295 f. 102 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 192 (§ 241). 103 Vgl. hierzu die interessante Parallele dieses ursprünglichen Sanktionsrechts zur Vorstellung eines ursprünglichen Aneignungsrechts (Erwerbsakt als Aneignung aus einer ursprünglichen ideal-allgemeinen Besitzgemeinschaft), das Köhler aus Kant herleitet – freilich gerade unter Kritik der von ihm als bloß faktisch aufgefassten Besitzkonzeption von Locke (dazu C. Fn. 105) – und daraus ein System der Teilhabegerechtigkeit ableiten will, vgl. Köhler, Freiheitliches Rechtsprinzip und Teilhabegerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, in: Landwehr, Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, 1999, S. 114 ff.
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haupt Recht voraus. Bei Locke ist dies das natürliche Recht: Er folgert aus der natürlichen Gleichheit – die Menschen sind Geschöpfe gleicher Gattung, durch Fortpflanzung miteinander entstanden und mit derselben Fähigkeitenveranlagung ausgestattet104 – das Gebot der Rechtsgleichheit: „A state also of equality, wherein all the power and jurisdiction is reciprocal, no one having105 more than another; there being nothing more evident than that creatures of the same species and rank, promiscuously born to all the same advantages of nature, and the use of the same faculties, should also be equal one amongst another without subordination or subjection[.]“ 106
Aus der Überlegung, dass alle Akteure gleich und unabhängig sind, folge nun „vernunftgemäß“, dass niemand einem anderen hinsichtlich Leben, Besitz, Gesundheit und Freiheit schaden soll.107 Hinter diesem Schädigungsverbot stehe die weitergehende Zielsetzung des Naturrechts, nämlich die Herstellung von Frieden und der Erhaltung der gesamten Menschheit. Nachdem es an einer Einrichtung mangele, die die Umsetzung dieses Naturgesetzes garantiert, das Naturgesetz somit gänzlich unbeachtet bliebe, sei dessen Vollstreckung in die Hände aller Menschen gelegt. Jedermann werde somit die Berechtigung eingeräumt, die Einhaltung des Naturgesetzes einzufordern.108 Locke entwickelt daraus das natürliche Strafrecht: Der Verbrecher erkläre durch sein Verbrechen, nach einer anderen Regel als der von „reason and common equity“ zu leben, also der Regel, die gerade die wechselseitige Sicherheit garantiere. Indem er das schadensverhindernde Band der Vernunft und allgemeinen Gleichheit beschädige, werde er zur Gefahr für die Menschheit. Aus dem allseitigen Recht, die Menschheit zu erhalten, ergebe sich die Berechtigung, den Täter zu strafen.109 104
Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 13 (§ 4). Es geht hier – nach überzeugendem Verständnis – um Rechtsbesitz, nicht um Sacheigentum, vgl. Siep, Kommentar zu Locke, 2007, S. 322. In der Regel verstehe Locke „Eigentum“ („property“) in einem weiten Sinne, nämlich das Rechtseigentum, das u. a. die unverletzbaren Grundrechte, Integrität, Bewegungs- und Handlungsfreiheit sowie Besitz umfasst. Die verengende Deutung als bloßes Sacheigentum habe dazu geführt, dass Locke weithin als Theoretiker der Eigentümer missverstanden wird, so Siep, ebd., S. 203 f. 106 Locke, The Second Treatise of Government (1689), 2002, S. 2 (Nr. 4). Das Zitat geht mit einem Verweis auf ein göttlicherseits setzbares Ordnungsverhälntnis weiter: „unless the Lord and Master of them all should by any manifest declaration of his will set one above another, and confer on him, by an evident and clear appointment, an undoubted right to dominion and sovereignty.“ (Ebd.). Vgl. zur Bedeutung der Theologie bei Locke s. Siep, Kommentar zu Locke, 2007, S. 211 ff. 107 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 14 (§ 6). Dieses Gebot ist theologisch abgesichert, allerdings sei Lockes Naturrecht generell nicht willkürlich von Gott bestimmt, sondern richte sich nach Natur und Vernunft des Menschen, so Siep, Kommentar zu Locke, 2007, S. 211. 108 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 15 (§ 7). 109 Ebd., S. 16 (§ 8). Freilich sieht Locke auch die Gefahr der Parteilichkeit (die letztlich einer der Gründe dafür ist, den Naturzustand zu überwinden). Er trägt aber vor, 105
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Uneingeschränkt bestehe dieses Straf-Recht jedoch nicht.110 Für Locke sind die sodann entwickelten Einschränkungen von konstruktiver Bedeutung. Denn das staatliche Strafrecht leitet er später aus dem allseitigen Verzicht auf die individuellen Sanktionskompetenzen ab,111 sodass die dortigen Limitationen auf das staatliche Strafen durchschlagen.112 Zwar ist auch der Aspekt innovativ, die Limitationen der staatlichen Strafgewalt über die Einschränkungen des JedermannStrafrechts einzuführen und zu begründen. Noch bemerkenswerter erscheint aber der dafür vorausgesetzte Gedanke, und zwar die Überlegung, das staatliche Strafrecht in der individuellen Sanktionskompetenz der einzelnen Akteure verwurzelt zu sehen, einer Kompetenz, die noch dazu von den Akteuren solidarisch auszuüben ist. Abgesehen von dieser Parallele zu Brandoms Ansatz, die in der Betonung der sanktionalen Kompetenz des Einzelnen besteht, ist Lockes Analyse des Naturzustandes hier deswegen relevant, weil sie auf einen Aspekt hinweist, der bislang bei der untersuchten Kontoführungspraxis unterbelichtet blieb: Gemeint ist die Frage, wie die dargelegte Kontoführungsaktivität, das heißt das Eingehen von Festlegungen, auch tatsächlich orientieren kann, weshalb davon auszugehen ist, dass Festlegungen auch befolgt werden – oder in der Anlehnung an Jakobs: Warum man nicht nur davon ausgehen kann, dass zu betrügen dem anderen verboten ist, sondern sich darauf verlassen kann, auch tatsächlich nicht betrogen zu werden. Hier macht Locke auf ein Element aufmerksam, das die Akteure bereits im Naturzustand befähigt, wirksam Festlegungen eingehen zu können. Der Schlüssel dazu, dass sich die Akteure auch tatsächlich an den eingegangenen Festlegungen orientieren, liegt nach Locke ebenfalls bei den Akteuren selbst: Es ist das Vertrauen in die Vertragstreue. Auch das zwischen zwei Menschen auf einer einsamen Insel abgegebene Versprechen sei verbindlich. Treue und Vertrauen sind laut Locke nicht Attribute, die sich erst aus der Mitgliedschaft in einer Gesellschaft ergeben, vielmehr kommen sie dem Mensch bereits durch sein Menschsein zu:113 „The promises and bargains (. . .) between a Swiss and an Indian, in the woods of America, are binding to them, though they are perfectly in a state of nature, in re-
dass der Zustand immer noch besser als der des absoluten Monarchen sei: Der Monarch sei mit seinen Untertanen ständig Richter in eigener Sache und unterstehe zudem nicht einmal einer Kontrollinstanz. Demgegenüber sei ein Zustand vorzuziehen, in dem „jeder, der in eigener oder fremder Sache falsch urteilt, der gesamten Menschheit gegenüber dafür verantwortlich ist.“ (Ebd., S. 19 f. [§ 13]). 110 Vgl. dazu Locke, ebd., S. 16 (§ 8). 111 Ebd., S. 106 (§ 130); im Gegensatz zu dieser Übertragungsvorstellung geht Hobbes von einem originären Bestrafungsrecht des Herrschers aus, vgl. dazu Kuhli, Thomas Hobbes und das Konzept des Feindstrafrechts, ZRph 2013, S. 110 f. 112 Siep, Kommentar zu Locke, 2007, S. 221. 113 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007, S. 21 (§ 14).
III. Was es heißt, normativer Kontoführer zu sein
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ference to one another. For truth114 and keeping of faith belong to men as men, and not as members of society.“ 115
Mit diesem Element des Vertrauens, das bei der Darstellung von Brandoms Modell unberücksichtigt blieb, werden wir uns nun beschäftigen: Weshalb auch das Modell des Kontoführens hierauf angewiesen ist, will ich zeigen, indem ich weiter ausbuchstabiere, was es heißt, ein Gründen folgendes Wesen zu sein. Wenn das erläutert ist, können wir ein alternatives Verständnis von Tat und Strafe entwickeln.
III. Was es heißt, normativer Kontoführer zu sein 1. Kontoführen als Feststellen und Beobachten Was heißt es nun, normativer Kontoführer zu sein? Es heißt, wir führen gegenseitig Buch über unsere Aussagen. Es heißt, wir zweifeln Aussagen an, fragen nach Gründen, geben Gründe, schätzen Gründe ein, indem wir sie für gut oder schlecht bewerten. Wir halten Aussagen/Handlungen für berechtigt, anhand von Schlussregeln (den „materialen Inferenzen“), die wir gleichzeitig auf eine gewisse Weise selbst schaffen.116 Ich will in diesem Abschnitt zeigen, wie dieses Kontoführen und dieses Geben und Nehmen von Gründen unsere gesamte Praxis durchzieht. Wir tun dies in privaten Angelegenheiten, im (vorrechtlichen) sozialen Verhalten und auch im Recht. In den unterschiedlichen Bereichen gelten verschiedene Maßstäbe dafür, was jeweils als guter Grund zählt. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass wir, je interessanter der Verhaltensbereich für einen anderen wird, umso eher dazu angehalten sind, unsere Beurteilungen mit anderen abzustimmen. So kann ich die Behauptung, „ich schaue aus dem Fenster“ damit begründen, dass ich es will (und von meiner allgemeinen Handlungsfreiheit Gebrauch mache). Das wird unter gewöhnlichen Umständen – insbesondere soweit die Interessen anderer nicht betroffen sind – ein guter Grund sein. Wenn ich aber zum besagten Zeitpunkt verpflichtet war, eine wichtige Maschine zu bedienen, und dazu wegen des Aus-dem-Fenster-Schauens nicht in der Lage war, wird meine Begründung nicht ausreichen. Ich will diese Frage, welche Gründe wann gut sind, in diesem Abschnitt praktisch ausführen und darlegen, welche Rolle dem Recht in dieser Struktur zukommt. Es wird sich sodann zeigen, dass diese die Güte der Gründe feststellende und beobachtende Tätigkeit nur die halbe Welt des Kontoführers ist – die zweite Hälfte wird dann Thema des nächsten Abschnitts sein. 114 Naheliegt die Übersetzung mit „Wahrheit“, so ebd. Vorzugswürdig erscheint truth hier als Konstanz und Zuverlässigkeit, also „Treue“ aufzufassen, s. den altenglischen Vorläufer triew-an im Sinne von „treu sein“ (s. Köbler, Altenglisches Wörterbuch, 1985, S. 512). 115 Locke, The Second Treatise of Government (1689), 2002, S. 7 (Nr. 14) (H. v. m.). 116 Zu den „materialen Inferenzen“ s. oben C. II. 2.
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a) Multiperspektivität und Vagheit Im privaten Bereich wird das Spiel der Gründe invasiv gespielt – andererseits folgen wir hier aber unseren eigenen Richtigkeitseinschätzungen. Hier nach Gründen zu fragen, bedeutet in der Form des praktischen Begründens die Motive für Handlungen zu erfragen. Wenn ein Sprecher sagt, er habe gerade dieses Buch da erworben, kann er nach den Gründen für den Erwerb gefragt werden.117 Er könnte die Aussage etwa damit begründen, dass er ein gutes Buch kaufen wollte,118 und dieses Buch da gut ist, weil es von einer Literaturnobelpreisträgerin geschrieben wurde und zudem teuer war. Eine Hörerin könnte diese Begründung erfragen und ihrerseits bewerten, ob das Angeführte gute Gründe für den Erwerb sind. Sie kann dieser Beurteilung nun mehrere Perspektiven zugrunde legen. Sie kann etwa sagen: „Angenommen, ich wollte ein gutes Buch kaufen (hypothetische Billigung dieses Sprechergrundes), dann hielte ich es zwar auch für ein Qualitätsmerkmal, dass es von einer Nobelpreisträgerin geschrieben wurde (Billigung des Sprechergrundes), aber der Preis erschiene mir dafür irrelevant (Ablehnung des Sprechergrundes).“ Die Hörerin kann selbst das Element der Begründung „weil ich ein gutes Buch kaufen wollte“ anzweifeln: „Wolltest du es wirklich? Hattest du einen guten Grund es zu wollen?“ Etwa könnte sie als Begründung ihres Zweifels vorbringen: „Du sagtest doch vorher, du wolltest lediglich in die Apotheke gehen, um ein Medikament zu besorgen.“ Des Weiteren kann die Beurteilende hier auch die angeführten Aussagen als gute Gründe unterstellen und eine reine Konsistenzprüfung durchführen: „Angenommen, ich wollte ein gutes Buch kaufen, und auch die weiteren von dir angeführten Gründe wären mir wichtig (ich sähe also die Welt, wie du sie siehst), so wäre dies dennoch kein Grund, dieses Buch zu kaufen: Denn es ist doch gar nicht von einer Nobelpreisträgerin! Es verfehlt also deine eigenen Kriterien.“ Sie kann aber auch ausschließlich ihre Richtigkeitsbeurteilungen zugrunde legen: „Aus meiner Sicht sind deine Kriterien unzutreffend.“ Je nach eingenommener Perspektive lautet die Beurteilung: „Ich denke, du hattest keinen für dich guten Grund“ – oder „du hattest keinen aus meiner Sicht guten Grund“.
117 Es geht mir hier nicht um die Wahrheit der Aussage. Diese Art der Begründung wird durch den Verweis auf Tatsachen gemacht, die wir als Wahrmacher behandeln, z. B. die Tatsache, dass ich gerade das Messer in deine Brust bohre, macht die Aussage „Ich töte dich gerade“ zu einer wahren. Hier aber geht es mir um das praktische Begründen, d.h. das Anführen von Gründen, die zu einer bestimmten Handlung führten. Als solche kommen insbesondere Motive oder Rechtsgründe in Betracht. In diesem Modus der Begründung sind etwa „ich will an dein Geld“ oder „du greifst mich an“ (Notwehr) Gründe, Gründe für meine Handlung. 118 Vgl. zu der Vorstellung, dass Wünsche eines Akteurs faktische Wirkungszusammenhänge (man muss x tun, um y zu erreichen) in Handlungsgründe verwandeln, also Wünsche Gründemacher sind, Iorio, Normen, Regeln und praktische Gründe, ARSP 96 (2010), S. 357 f.
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Es ist auch möglich, sich auf Richtigkeitsbeurteilungen zu berufen, die jenseits der singulären Einschätzungen der Akteure liegen: also etwa gemeinsam entwickelte Richtigkeitsbeurteilungen („Wie wir unlängst feststellten, ist der Preis eines Buches ein guter Indikator. . .“) oder extern eingeführte („Die Leute sagen ja im Allgemeinen, dass . . .“ oder „Bei der Lesung meinte der Autor, dass . . .“). Auch diese Beurteilungsperspektive kann deutlich gemacht werden: „Aus Sicht des Autors hättest du keinen guten Grund.“ Theoretisch kann der Hörer alle diese Beurteilungen oder hybride Varianten119 vornehmen. Der Sprecher, der diese Beurteilungen auch selbst vornehmen kann, kann sein Verhalten hier jedoch frei bestimmen. Es bleibt demnach ihm überlassen, welche Perspektive er für relevant (und damit, welche Gründe er für gut) hält, also handlungswirksam werden lässt, z. B.: „Dann hatte ich eben aus Sicht des Autors keinen guten Grund!“ 120 Es ist aus Sicht des Einzelnen grundsätzlich nicht elementar, dass andere seine Gründe für gute Gründe halten – freilich kann er deren Einschätzungen als Ratschläge annehmen. Sind die Gründe aus Sicht des beurteilenden Hörers oder aus anderen Perspektiven keine guten, wird der Hörer gegebenenfalls seine Schlüsse ziehen: Er wird – soweit er interessiert ist – dissentieren und diskutieren; ist das Vorgebrachte sogar jenseits eines gewissen Maßes an Nachvollziehbarkeit, wird er es für dumm oder verrückt ansehen (vgl. etwa, unter gewöhnlichen Umständen, das Gespräch: „Ich gehe in den Wald.“ „Warum?“ „Ich will eine Ananas finden.“). Worauf es hier ankommt, ist, dass die Beurteilungen multiperspektiv sind, sich die Güte der Gründe je nach Perspektive unterschiedlich beurteilen lässt. Es können sich gemeinsame Beurteilungen herausbilden. Jedoch besteht keine Notwendigkeit, sein eigenes Verhalten an Richtigkeitsbeurteilungen anderer auszurichten – es sind bloße Empfehlungen. Wir verlangen hier nicht, dass jemand aus unserer Sicht gute Gründe hat – und das liegt vor allem daran, dass uns dieses Verhalten nicht tangiert. Wenn wir dagegen – im Fall des Bücherkaufs – abgemacht haben, das besagte Buch ebenfalls zu lesen, dürften wir eher verlangen, dass die Gründe auch aus unserer eigenen und/oder einer gemeinsamen oder partial-öffentlichen Sicht gute Gründe sind. Relevant wird die Perspektive der gemeinsamen Beurteilung hin119 Er kann aber auch hybrid vorgehen, also bei einigen Gründen die (Richtigkeits-) Perspektive des anderen einnehmen, und bei anderen die eigene zur Bewertungsgrundlage nehmen. „Nehmen wir an, ich wollte ein Buch kaufen, und ich hielte (zu recht) das Nobelpreiskriterium für wichtig (so siehst du es) – aber mir wäre der Preis egal (so sehe ich es), dann hätte ich das Buch gekauft.“ 120 Er kann sogar im Wissen handeln, dass die Handlung den von ihm für gut gehaltenen Gründen widerspricht – auch dann kann es sein, dass er immer noch mit einem für ihn guten Grund, gewissermaßen einem Metagrund handelt: Die Ansicht, dass man diesen Gründen, zu denen er sich in Widerspruch setzt, nicht immer folgen muss, ist für ihn dann sein für ihn guter Grund.
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sichtlich der Güte der Gründe demnach dann, wenn die Interessen anderer tangiert sind. Eine rudimentär121 gemeinsame Sicht wird aber bereits bei jedem kommunikativen Akt erforderlich, mit dem wir verstanden werden wollen.122 Praktisch relevanter – weil konfliktträchtiger – wird dies insbesondere im Bereich sozialer Vereinbarungen. So kann für die Feststellung, „du bist nicht gekommen, obwohl wir verabredet waren“ der Grund der plötzlichen Erkrankung aus Sicht der je einzelnen, beider, und genereller Bewertungsmaßstäbe in der Regel ausreichen, die Erklärung, noch ausgeschlafen zu haben, dagegen nur selten. Der Einzelne mag den Grund für sich als gut erachten. Wir erwarten hier aber, dass der Grund aus gemeinsamer Sicht, also für uns ein guter ist. Je nach Bereich der Interaktion bilden sich lokale materiale Inferenzen123, die in diesen Bereichen für uns gute Gründe sind: So kann etwa in der Familie die Aussage „du bist heute zuständig, den Tisch abzuräumen“ als richtige Inferenz daraus ergeben, sich nicht an der Zubereitung des Essens beteiligt gewesen zu sein – oder aber aus der Behauptung, dass heute Dienstag ist. Wenn wir eine gemeinsame Perspektive auf Gründe entwickeln, bleibt im vorrechtlichen Bereich oft unausgesprochen und vage, welche Behauptung als guter Grund zählt, und – erinnert sei an die Doppelrolle der Behauptung124 – auch, was eine Behauptung ihrerseits begründet, zu welchen Performanzen sie also berechtigt bzw. verpflichtet. Zwar ließe sich dies mittels Rückfrage klären. Ein solches Vorgehen ist jedoch oftmals nicht gewollt, möglich oder sozialadäquat. Welche Festlegungen gehst du etwa ein, wenn du sagst „ich helfe dir beim Umzug“? Welche Gründe sind gut, doch nicht zu kommen; für wie viele Stunden hilfst du; meinst du mit helfen, dass du auch Kisten trägst, die über zwanzig Kilo wiegen? Bedeutet beim Umzug helfen auch Möbel abzubauen; gehe ich dadurch eine Gegen-Verpflichtung ein; kann ich frei bestimmen, zu welcher Zeit du kommst; ist das ein höfliches Angebot, von dem du eigentlich erwartest, dass ich es dankend ausschlage? Wie oft erwartest du, dass ich es ausschlage, bevor es angemessen wäre, es anzunehmen? Diese Vagheit ist häufig nicht weiter schlimm. Was angebrachte Schlüsse sind, ergibt sich zuweilen aus Konventionen („aus genereller Sicht gute Gründe“), oder der Tatsache, dass der Interaktionspartner bekannt ist, sodass auch individuelle
121 Es macht freilich einen Unterschied, ob wir bei der Anwendung des Wortes „östlich“ denselben Gründen folgen, oder bei der Frage was ein guter Kriegsgrund ist. 122 Jeder Wortgebrauch ist eine Regelanwendung, also ein Folgen von Gründen. Wenn wir nicht denselben Gründen folgen, werden wir unverständlich. Ich muss bezüglich der Verwendung der Wörter in der Einschätzung ziemlich vieler Gründe mit anderen übereinstimmen: Ich muss etwa „A liegt westlich von B“ für einen guten Grund für die schlussfolgernde Behauptung „B liegt östlich von A“ halten, um die Begriffe „westlich“ und „östlich“ verständlich anzuwenden. 123 Zu den „materialen Inferenzen“ s. oben C. II. 2. 124 Siehe oben C. II. 2.
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Verwendungsweisen klar sind – wir also vermuten können, was wir als für uns gute Gründe ansehen würden, wenn wir über die entsprechende Frage nachgedacht hätten. Wie sich aus diesen Überlegungen erkennen lässt, zeichnet sich im vorrechtlichen Bereich das Spiel der Gründe dadurch aus, dass neben der Perspektive des einzelnen Akteurs die Perspektiven der anderen zunächst nur optional, bei gemeinsamer Sicht/Interessiertheit dann zunehmend an Relevanz gewinnen. Nicht selten aber bleibt unklar, aus welcher Perspektive nun die relevanten Gründe zu ermitteln sind (ist die eigene akzeptabel, gibt es einen gemeinsam akzeptierten Grund, ist eine externe Perspektive anwendbar?) – und zu welchen Performanzen die Gründe genau berechtigen und verpflichten. Es besteht demnach zum einen ein unklares Verhältnis zwischen den möglichen Perspektiven und zum anderen eine Vagheit, worin die materialen Inferenzen genau bestehen: Was also sind die relevanten guten Gründe und was besagen sie? b) Die Leistung des Rechts Die Leistung des Rechts besteht nun darin, diese beiden Aspekte der Offenheit – im Sinne der Planungssicherheit und Orientierung – zu eliminieren: Zum einen wird eine für alle relevante, einheitliche Perspektive festgelegt, aus der sich die Güte der Gründe beurteilt. Freilich können die Akteure auch weiterhin die Verhaltensweisen aus ihrer Perspektive beurteilen und tun dies parallel ganz regelmäßig. Dies ist lediglich nicht mehr die allgemeinverbindliche Einschätzung. Das heißt, sie werden mit den bloß für sie (oder aus Sicht einer sonstigen Perspektive) guten Gründen nicht gehört. Mit der Schaffung einer einheitlichen Perspektive verbunden ist auch die Frage, wessen Verständnis über die Bedeutung der Performanzen entscheidet – wenn etwa das Zivilrecht das Verständnis eines „objektiven Empfängers“ für relevant erklärt, dann werde ich mit der Begründung „Mit x meinte ich aber z!“ nicht gehört.125 Zum anderen werden durch das Recht – durch uns als Staatsbürger – allgemeingültige Inferenzen festgelegt. Es wird klar bestimmt, auf genau welche Performanzen man infolge einer bestimmten Behauptung festgelegt ist und was die momentan126 allgemein akzeptierten Gründe für diese bestimmte Behauptung 125 Vgl. zu einer Anwendung der Vorstellung des Kontoführungsmodells auf das Zivilrecht Lüsing, Selbstbindung durch sprachliches Handeln, 2012. Dieser untersucht zivilrechtliche Institute (u. a. die Anfechtung) daraufhin, wie das Recht mit divergierenden Festlegungsspeichern der Akteure umgeht, und erkennt ein System der Selbstbindung (ebd., S. 153 ff.). 126 Die Zuordnung, was als guter und was als schlechter Grund gilt, unterliegt freilich dem Wandel der Zeit: Vgl. etwa die Begründungskraft der Behauptung: „Das ist meine sexuelle Orientierung“ oder „Als Erziehungsberechtigter halte ich das für eine gute Erziehungsmaßnahme“.
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sind.127 So ist etwa im Zivilrecht genau festgelegt, wann der Käufer die Behauptung „diese Sache ist mangelhaft“ richtigerweise äußern kann, was also als guter Grund für diese Performanz gilt.128 Ebenso ist fixiert, zu welchen Behauptungen der Käufer im Fall des Mangels berechtigt ist (vgl. § 437 BGB: „Ich fordere Nacherfüllung“) und wie deren Inhalt zu verstehen ist.129 Im Strafrecht wird negativ festgelegt, dass man prima facie ohne guten Grund handelt, wenn man einen der strafrechtlichen Tatbestände verwirklicht. Ob man nicht dennoch aus gutem Grund handelte, ergibt sich daraus, ob eine vorgebrachte Behauptung als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund130 anerkannt ist – und es sich nicht nur um einen als Neutralisierung qualifizierten, somit rechtlich schlechten Grund handelt.131 Zugleich ist das Recht aber, gewissermaßen als Ausgleich für die starre Reglementierung, auch weniger neugierig. Es denkt nur in der Semantik von Rechten und Rechtsgründen. Durch die rechtlichen Regelungen wird ein Bereich abgesteckt, in dem rechtlich relevante Gründe überhaupt gefordert werden – und damit wird im Umkehrschluss festgelegt, inwieweit private Gründe genügen, der Hinweis auf die generelle Handlungsfreiheit132 hinreicht (Geschmacksfrage, Berufswahl, Meinungsfreiheit, Religion, etc.). Die Frage an jemanden, warum er dieses Buch da erworben habe, stellt sich unter dem Blickwinkel des Rechts auf andere als in der oben diskutierten Weise. Die für das Recht relevante Begründung lautet in etwa: „Weil ich das Procedere des Eigentumserwerbs nach §§ 929 ff. BGB fehlerfrei durchgeführt habe, ich mich also mit demjenigen, an dessen Berechtigung zur Eigentumsübertragung ich glauben durfte, einigte und er mir das Buch übergab.“ Motive, also für den Einzelnen gute Gründe, interessieren rechtlich dagegen in der Regel nicht, soweit sie nicht zu rechtlich relevanten erklärt werden. So ist etwa im Zivilrecht zwar generell ein Irrtum darüber, aus welchen Motiven man eine Willenserklärung abgegeben hat, unbeachtlich, wird jedoch ausnahmsweise dann berücksichtigt, wenn der Irrtum sich auf verkehrswesentliche Eigenschaften einer Sache oder Person be-
127 Zur Doppelrolle der Behauptung als zu begründende und als berechtigende Performanz vgl. C. II. 2. 128 Vgl. §§ 434 f. BGB. 129 Vgl. die Verweise in § 437 BGB. 130 Man kann sagen, dass man im Fall eines Rechtfertigungsgrundes (e. g. § 34 StGB) einen „wirklich guten Grund“ hat, und dass im Fall eines Entschuldigungsgrundes (e. g. § 35 StGB) das Verhalten zumindest als nachvollziehbar und verständlich angesehen wird. 131 Gute Gründe, das fremde Geld wegzunehmen, wären also: „Ich brauchte es, um jemanden aus gegenwärtiger Lebensgefahr zu retten.“ Ein schlechter Grund: „Der Eigentümer ist nicht bedürftig“ oder „Du stiehlst doch selbst“. 132 Den Begriff verwende ich hier nicht im technischen Sinne der aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden „allgemeinen Handlungsfreiheit“, sondern in einem weiten Sinn.
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zieht.133 Auch die strafrechtlichen Regelungen fragen grundsätzlich nicht nach den Beweggründen des Täters, interessieren sich wiederum an einzelnen Stellen dann doch dafür, wie etwa bei der Frage der Strafzumessung oder bei der Frage, ob der Täter strafbefreiend von der Tat zurückgetreten ist.134 Kombiniert man diese reglementierende, aber auch fokussierende und ausblendende Sicht des Rechts mit der Überlegung, dass sie in die Lebensform des Gebens und Nehmens von Gründen eingebettet ist, so wird deutlich, wie sich der strafrechtlich relevante Vorgang als kommunikatives Geschehen auffassen lässt. Im Wesentlichen sind drei Varianten möglich, wie die Tat aufgefasst wird – und wie diesbezügliche strafrechtliche Reaktion zu verstehen ist: „Ich handle so und behaupte (implizit), dafür anerkannte Gründe zu haben.“ (Antwort: „Das ist nicht akzeptabel. Denn es sind nur für dich gute Gründe (Neutralisierungen) oder unrichtige Anwendungen von grundsätzlich richtigen Gründen; du hättest wissen müssen, dass deine Gründe nicht als rechtliche gute Gründe anerkannt sind.“) „Ich handle so, und weiß, dass meine Gründe nicht anerkannt sind, aber behaupte, dass sie anerkennenswert sind.“ (Antwort: „Es ist nicht akzeptabel, diesen Weg zu wählen, um dafür zu werben, dass Gründe anerkannt werden sollten.“)135 „Ich handle so, obwohl ich weiß, dass ich keine anerkannten Gründe habe.“ (Antwort: „Es ist nicht akzeptabel, nach nicht anerkannten Gründen zu handeln“). Pauschalisiert ist also die Antwort auf das Handeln des Täters: „Dein Verhalten ist nicht akzeptabel, du hattest keine rechtlich anerkannten Gründe für dein Verhalten (und solche hättest du gebraucht).“ Diese Kontoführung wird durch das Urteil als verbindlich festgestellt. Das ist der zentrale Sinn der Feststellungsfunktion des Schuldspruches. Die Gründe des Täters werden als unberechtigt, 133 § 119 Abs. 2 BGB. Vgl. zu dieser dann aber strittigen Abgrenzungsfrage zwischen unbeachtlichen Motivirrtum und einem Eigenschaftsirrtum nur Armbrüster, in: Münchner Kommentar zum BGB, § 119 Rn. 106. 134 Interessant werden die Motive etwa für die Frage der Strafzumessung (§ 46 Abs. 2 StGB), bei täterbezogenen Mordmerkmalen (§ 211 Abs. 2, 1. und 3. Gruppe), beim Rettungswillen der Rechtfertigungsgründe, beim Rücktrittswillen (§ 24 StGB) oder der tätigen Reue (vgl. etwa § 306e StGB). 135 Darin liegt der Sinn, wenn Hegel meint [Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1986, S. 190 (§ 100)], der Täter stelle ein Gesetz auf: Wenn der Täter dafür plädiert, einen Grund als rechtliche guten Grund anzuerkennen, so wirbt er tatsächlich für die Anerkennung einer alternativen materialen Inferenz. Generell jedem Täter diese Intention zuzuschreiben, erscheint aber als eine überdehnte Normativierung; vgl. zur daraus folgenden, vermeintlich strafrechtfertigenden Vorstellung, der Täter müsse seinem eigenen Gesetz subsumiert werden, Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, 1995, S. 90 ff.
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also als nicht zur Tat berechtigende Behauptungen verworfen. Insofern wird festgestellt, dass es für das beschriebene Verhalten keine guten Gründe gibt, die Verbotsnorm demnach weiterhin als relevant betrachtet wird. 2. Kontoführen als Vertrauen: Warum ein guter Syllogist zu sein, nicht alles ist Nun ist das deontische Kontoführen keine retrospektive Tätigkeit. Wir merken und bewerten nicht nur, um das Geschehen archivarisch einzuordnen. Die deontischen Kontoführer haben ihr eigenes Konto und das der anderen im Blick, und wissen so, welches Verhalten gerade und künftig geboten ist: nämlich an berechtigte Performanzen anzuknüpfen und unberechtigtes Verhalten beiseitezulassen. Dies könnte man phänomenologisch auffassen – dahin, dass dies eben das ist, was wir tun: Wir merken uns die Züge und knüpfen weiter gemäß der durch das Weben entstandenen Knüpfmuster. Genauso lassen sich für diese Praxis Funktionen finden, etwa dass die Praxis uns orientiert, indem sie berechtigte Erwartungen und Planungssicherheit schafft, oder dass sie unsere Kooperation und Interessensverfolgung erleichtert. Denkbar wäre auch, dass diese deontische Praxis uns der Vorstellung von Gerechtigkeit näherbringt.136 Wie dem auch sei, das Bewerten der Performanzen ist jedenfalls keine lediglich für die Vergangenheit relevante Tätigkeit, sondern bildet die Grundlage für das gegenwärtige und künftige Verhalten. Erkennbar ist dies bereits an der Doppelrolle der Behauptung als zu begründende und als berechtigende Performanz. Dieser Effekt der Orientierung ist nun kein starrer, kein formal-logischer – die Kontoführung liefert keine Orientierung in der Art der Naturgesetze: normative Erwartungen können enttäuscht werden. Dass das Kontoführen keine streng formal-logische Tätigkeit mechanischer Syllogisten ist, liegt darin begründet, dass wir das Schlussfolgern in einem weiten Sinn verstehen, nachdem die Schlussregeln (Inferenzen) von den Richtigkeitseinstellungen der Akteure abhängig sind (materiale Inferenzen).137 Aber noch ein weiterer Aspekt führt dazu, dass es sich nicht um einen formal-logischen Vorgang im engen Sinne handelt: Die Tätigkeit des deontischen Kontoführens hat, wie ich zeigen will, ganz grundsätzlich auch etwas mit Vertrauen zu tun. Wir sind, so könnte man sagen, nicht nur materiale Syllogisten, sondern auch vertrauende Probabilisten: Neben dem Bewerten und Anwenden von Gründen müssen wir auch überlegen, ob wir unser Gegenüber hinsichtlich eines bestimmten Aktes für einen zuverlässigen deontischen Kontoführer halten. Weshalb das so ist, kann man leicht verstehen, wenn man die Äußerung einer alltäglichen Behauptung betrachtet, beispielsweise eines Ratschlages: Stellen wir 136 Etwa weil das Überdenken der materialen Inferenzen durch wechselseitiges Sanktionieren die Praxis weiter reflektiert. 137 Zu den „materialen Inferenzen“ s. oben C. II. 2.
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uns vor, wir wären auf dem Weg zum Bahnhof. Kurz vor dem Bahnhof treffen wir eine Person, die in dieselbe Richtung läuft und zu uns meint: „Wir können uns Zeit lassen. Der Zug kommt heute später.“ Passen wir unser Verhalten diesem Hinweis an? Wenn wir gerne langsamer gehen wollen, würden wir das tun, sofern diese Behauptung eine berechtigte ist, wir sie also als berechtigte Behauptung in unser Konto übernehmen würden.138 Ob dies der Fall ist, könnten wir herausfinden, indem wir die Berechtigung des Sprechers zu seiner Aussage überprüfen: Wir könnten nämlich an seiner Kontoführungskompetenz zweifeln, etwa besorgt sein, dass er nachlässig schließt, Schlussregeln oder Prämissen verwendet, die von uns erkennbar nicht geteilt werden (z. B.: „Der Zug ist der nach Hamburg“, obwohl wir den Zug nach Berlin nehmen wollen), oder gar absichtlich139 eine unberechtigte Behauptung als berechtigt hinstellt. Wir könnten versuchen, all das herauszufinden, um die Behauptung beurteilen und ein informiertes Urteil fällen zu können.140 Ob dies jedoch möglich und sinnvoll ist, hängt von etlichen Faktoren ab, insbesondere der Frage, wie wichtig uns die Gewissheit über den Status der Behauptung als berechtigt oder nicht-berechtigt ist, wie viel Energie wir also in das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen investieren wollen. Ein Gespräch könnte auch faktisch unmöglich (Lärm, Zeit) sein, gewisse Nachfragen könnten als sozial inadäquat erscheinen141 oder der andere sich auf sie nicht einlassen. Theoretisch könnte ein Versuch, zumindest einige der verwendeten Inferenzen offenzulegen so aussehen: „Woher weißt du, dass der Zug später kommt?“ „Ich habe ihn pfeifen hören. „Inwiefern ist das ein Grund für deine Behauptung?“ „Immer wenn er pfeift, überquert er den Fußgängerüberweg, von dem er ungefähr drei Minuten benötigt.“ „Woher weißt du das?“ „Die Distanz beträgt zwei Kilometer, der einfahrende Zug fährt langsam, in etwa 40 km/h im Schnitt.“
138 Andere Formen des Übernehmens/Erbens einer Behauptung wären z. B. die Annahme eines Ratschlages, der Glaube an die Richtigkeit einer Information, das Übernehmen einer Ansicht. 139 Er müsste dafür kein inkompetenter Kontoführer sein, vielmehr könnte er sehr kompetent sein. Er könnte etwa einem Dritten versprochen haben, uns zu täuschen; dieses Versprechen wäre dann ein für ihn guter Grund für die aus unserer eigenen (und unserer hypothetischen gemeinsamen) Sicht nicht-berechtigte Aussage. 140 Das kann abhängig von unseren eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten ein sehr langwieriger und mühsamer Vorgang sein, vgl. die Behauptung: „Das Zwillingsparadoxon der speziellen Relativitätstheorie löst sich durch die allgemeine Relativitätstheorie auf.“ 141 Etwa bezüglich der Fragen, ob er kompetent ist in der Anwendung der Wörter „Zug“, „heute“, „später“, „wir“ etc.
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„Woraus schließt du, dass es zwei Kilometer sind?“ „Ich habe es auf der Karte nachgesehen.“ „Wie kannst du davon ausgehen, dass die Karte richtig ist?“ „Sie ist aus einem Verlag meines Vertrauens.“ „Warum vertraust du ihm?“ „Ich kenne viele seiner Karten und Bücher und habe noch nichts Unzutreffendes entdeckt.“ „Bist du sicher, dass du nicht nur die Fehler nicht gesehen hast?“ „Ich bin sicher, denn in Büchern anderer Verlage habe ich Fehler gesehen, dort aber keine.“ „Vielleicht bist du auf das Finden bestimmter Fehler spezialisiert, übersiehst jedoch andersartige?“ 142
Die Fragen werden offenbar irgendwann absurd. Aber man hätte hier auch noch eine Reihe weiterer sinnvoller Fragen stellen können. Auf der anderen Seite wäre es nicht verwunderlich, wenn in der realen Situation schon bei der allerersten Frage („Woher weißt du, dass der Zug später kommt?“) die Antwort schlicht gelautet hätte: „Ich weiß es. (Du kannst mir vertrauen. Ich habe Gründe, die auch du für gut befändest.)“ Und so, beziehungsweise eher noch ganz ohne Nachfrage, läuft in der Praxis der ganz überwiegende Teil aller Gespräche ab. Würden wir für jede Behauptung Gründe verlangen, würden wir nicht viel an Neuem austauschen können. Da in der Praxis des Kontoführens also zu großen Teilen kein wesentlicher Austausch von Gründen stattfindet, sind wir in weiten Teilen auf unsere Einschätzung der Glaubwürdigkeit des anderen Kontoführers angewiesen. Ob wir ihm vertrauen, hängt von etlichen Faktoren ab, nicht nur von den explizierten Gründen: So haben wir generelle Erwartungen an die Glaubwürdigkeit von Personen (abhängig vom Gegenstand der Frage, dem Interesse der Person an der Frage, der sozialen Rolle, etc.) und auch personalisierte Annahmen („Eindruck“, Gebaren, Vermutungen aus früheren Erfahrungen [z. B.: „Er ist kein guter Rechner“; „Sie ist eine gute Kartenleserin“] usw.).143 Wie wir also sehen, ist selbst in dem Fall, in dem es sich um eine Performanz handelt, die bereits vollzogen ist (der Satz „Der Zug kommt später . . .“ ist geäu-
142 Man kann auch zu anderen Fragen zurückkommen und auch andere Begründungen nachschieben. Man kann sich auch auf die Zuverlässigkeit der Kontoführung anderer berufen: „Warum fährt Zug nicht schneller als 40 km/h?“ „Weil es die Dienstanweisung nicht erlaubt, schneller einzufahren.“ „Woher weißt du, dass sich (heute) der Lokführer daran hält?“ 143 Auch vollziehen wir bezüglich der Aufrichtigkeit, Kenntnisse und Fähigkeiten Schlüsse unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit und Gewagtheit: Sie kennt diesen Komponisten; dann wird sie wohl auch jenen kennen; dann wird sie wohl Noten lesen können; dann wird sie wohl gern Rotwein trinken.
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ßert, der Sprecher kündigt damit keine weitere Handlung von sich an), und der Behauptende uns bereitwillig Rede und Antwort steht, das Kontoführen ab einem gewissen Punkt eine Praxis des Vertrauens. Denn eine „ideale“ Kontoführung im Sinne des Explizierens aller Gründe ist faktisch ausgeschlossen144 und meist auch nicht erwünscht. Es kommt lediglich auf die angemessene Tiefe des Nachfragens an. Wo diese jedoch liegt, bestimmt sich nach der Stelle, an der wir zu zweifeln aufhören und zu vertrauen anfangen wollen. Dieses Wollen hängt nicht nur von unserem Willen, sondern auch von den von der Praxis etablierten Grenzen des Angemessenen ab. Aber dass wir ab einer Stelle vertrauen, liegt allein schon daran, dass wir sinnvollerweise Informationen anderer für die Ausrichtung unseres Handelns verwenden (wollen). a) Noch mehr Vertrauen beim Versprechen Bereits bei der Einschätzung, ob eine schon vollzogene Performanz berechtigt (und damit berechtigend) ist oder nicht, sind somit zahlreiche Vertrauens-Einschätzungen im Spiel. Verschärft wird der Aspekt, wenn es darum geht, wie sich ein Akteur in Zukunft wohl verhalten wird, also etwa bei der Figur des Versprechens (im Sinne von „ich verspreche dir, künftig x zu tun“)145: Im Gegensatz zur Bewertung bereits geschehener bzw. gerade stattfindender Akte, bei denen sich das Vertrauen darauf bezieht, gegenwärtig ein kompetenter Kontoführer zu sein, kommt hier das Vertrauen hinzu, dies auch in Zukunft zu sein und ferner, das gegebene Versprechen als Grund für eine künftige Performanz zu berücksichtigen. Das Versprechen verschiebt somit die zuverlässige Kontoführung auf einen späteren Zeitpunkt, es macht demzufolge zusätzlich ein Vertrauen in die Konstanz des Verhaltens erforderlich. Im Beispiel wäre das also nicht die bereits mit der Äußerung vollzogene Performanz: „Der Zug kommt heute später“, sondern die Aussage: „Wenn wir uns morgen sehen, werde ich dir sagen, ob der Zug später kommt oder nicht.“ Es ist hier also ein erweitertes Vertrauen nötig, das folgende Unsicherheiten beseitigt: „Wirst du überhaupt da sein? Wirst du morgen noch wollen, was du jetzt gerade willst? Wirst du dich auch morgen noch an deine Verpflichtungen (insbesondere an dieses Versprechen) erinnern?“ Verkürzen kann man dieses Nachhaken auf folgende Frage: „Bist du ein zuverlässiger Kontoführer?“ Demnach muss einem Versprechenden zusätzlich dahingehend vertraut werden, dass er sich auch künftig an die allgemein-verbindlichen (rechtlichen) beziehungsweise vereinbarten Gründe halten wird.
144 Und selbst vor Gericht nur annähernd erreichbar, selbst wenn Fachkunde, Zeit und gesetzliche Nachfrageberechtigung bestehen, s. allein die Probleme der Aussagepsychologie. 145 Versprechen verwende ich hier in einem engen Sinn, nämlich dem alltäglichen. Denkbar ist freilich, bereits jede Behauptung als ein (konkludentes) Versprechen zu verstehen, und zwar dahingehend, für das Behauptete Gründe liefern zu können.
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b) Misstrauen als Sanktion – Sieben Fürsten Warum sollten wir überhaupt jemanden etwas versprechen wollen? Die Antwort ist einfach: Versprechen geben wir deswegen ab, um mit anderen in Kooperationsbeziehungen zu treten, also gemeinsame Ziele zu verfolgen. Ein „gemeinsames Ziel“ ist hier in einem sehr weiten Sinn zu verstehen: Dies kann ein für die Akteure bedeutendes Dauerschuldverhältnis sein, ein Schutzversprechen oder aber die reine Zusicherung, sich gegenseitig nicht zu stören. Derlei Beziehungen sind nur dann möglich, sofern meine Versprechen geglaubt werden. Nur dann bin ich in der Lage, mit anderen – über aktuale, sofort vollzogene Austauschhandlungen hinaus – zu kooperieren. Nur dann nämlich baut der andere sein Verhalten, und damit etwaige Gegenversprechen auf meine Performanz. Nur wenn du etwa auf mein Versprechen vertraust, die Kaufsache übereignen zu wollen, bist du bereit, ein entsprechendes komplementäres Versprechen einzugehen, nämlich mir zuzusichern, den Kaufpreis zu bezahlen. Dieser Beobachtung kann man entnehmen, dass die originäre, natürliche Sanktion im Nicht-Vertrauen besteht, also etwa in der Weigerung, dein Verhalten auf das von mir Versprochene zu bauen. Sie hat die Auswirkung, nicht zu einer (weiteren) Kooperation bereit zu sein. Parallel dazu bedeutet die Sanktionierung einer Behauptung, eine diesbezüglich nicht-kooperative Haltung einzunehmen: Wenn ich einer Behauptung misstraue, weigere ich mich, sie als berechtigte Behauptung anzusehen, und somit meine Äußerungen auf diese Behauptung zu stützen; ich ignoriere z. B. den Gesprächsbeitrag, fechte ihn gegebenenfalls sogar an.146 Kann es nun sein, dass die – ausschließlich zwischen den beteiligten Akteuren stattfindende – Sanktion des Vertrauens/Nicht-Vertrauens eine bereits ausreichende Sanktionspraxis ist, um das Einhalten von Versprechen gewährleisten? Sofern lediglich zwei Akteure involviert sind, ist dies offensichtlich der Fall: Sofern beide an der Kooperation interessiert sind, werden sie darauf achten, ihre Versprechen zu erfüllen, um das Vertrauen und damit die Kooperationsbereitschaft des anderen nicht zu verspielen.147 Wie verhält es sich aber bei einer größeren Ansammlung von Akteuren? Stellen wir uns – um uns jegliche natürliche und auch staatliche Strafpraxis wegzudenken – dazu sieben souveräne Fürsten (F1–F7) vor, die in kooperativen Austauschbeziehungen stehen. Sie tauschen miteinander bestimmte Produkte, je nach Ausfall der Ernte mal in die eine, mal in die andere Richtung. In langer Übung 146 Es hier also nicht darum, ob eine Behauptung berechtigt ist oder nicht – sondern ob wir an ihre Berechtigung glauben. 147 Wenn der eine sein Versprechen nicht hält, so wird der andere die Kooperation erst wieder aufnehmen, wenn das Versprochene nachgeliefert wird bzw. sein Schaden, der ihm dadurch entstand, dass er auf das Versprechen vertraute, ersetzt ist.
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hat sich ein fixer Handelskurs etabliert, allerdings gibt es weder eine Gerichtsstelle noch sind die Fürsten faktisch in der Lage, den anderen ein „Strafübel“ aufzuerlegen. Was nun, wenn F1 gegenüber F7 sein Versprechen nicht hält? Hier wird sich F1 relativ unbeeindruckt davon zeigen, wenn ihm F7 ein weiteres Versprechen nicht mehr abnimmt – er kann sich mit der Kooperation mit den anderen begnügen. Aber dennoch könnten die übrigen Fürsten ihn dadurch sanktionieren, dass sie eine schlechte Beurteilung von F7 als berechtigte Behauptung in ihr deontisches Konto übernehmen und so ein Vertragsversprechen von F1 ebenfalls nicht glauben. Dieser wird nun von allen als nicht vertrauenswürdiger Kooperator angesehen und dadurch möglicherweise dazu animiert, etwas zu unternehmen, um den Vertrauensboykott zu durchbrechen und wieder als zuverlässiger Geber von Versprechen zu gelten.148 Es ist demzufolge auch in einer größeren Ansammlung von Akteuren denkbar, dass sich allein durch die sanktionale Praxis des (übernommenen) Vertrauensentzugs eine Verhaltensorientierung der Akteure einstellt.149 Außer der nicht-kooperativen Haltung von F7 und des Übernehmens dieser Haltung durch die anderen Akteure braucht dafür keine Form weiterer Bestrafung zu erfolgen. Der „Vertrauensschaden“ allein genügt. c) Spiel des Vertrauens Das soeben beschriebene Weitergeben von Kooperationserfahrungen und Einnehmen von vertrauenden/nicht-vertrauenden Haltungen durchzieht unsere Lebenswelt – und lässt sich auch aus anthropologischer Sicht als zentrales Institut der Normbefolgung ausmachen.150 Wir sind ganz wesentlich damit beschäftigt, das Spiel von Vertrauen/Misstrauen, Kooperationsgewährung/Kooperationsentzug zu spielen. Dem Nachbarn vertrauen wir beispielsweise nicht, wenn sich seine Wetterprognosen meist als unzutreffend herausstellen. Wir „entziehen dem Restaurantbetreiber unser Vertrauen“, wenn uns seine Speisen (häufiger) nicht schmecken und so fort. Und wir handeln in unserer Kooperationsbereitschaft nicht bloß auf Grundlage der eigenen Erfahrungen, sondern auch indem wir Informationen anderer übernehmen. Warum wir solche Informationen so bereitwillig teilen – selbst in den 148
Beispielsweise könnte er versuchen, F7 schadlos zu stellen. Vgl. zu dieser Normwirksamkeit allein aufgrund von Kooperationsinteresse und Reputationsschaden unter Bezug auf das Gefangenendilemma, Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 164 ff. 150 Dass auch bei indigenen Völkern die Befolgung rechtlicher Normen weniger durch ein übelzufügendes Strafrecht (und auch nicht durch ein intuitives Befolgen infolge eines natürlichen Gruppengefühls), sondern durch komplexe, auf Reziprozität basierende Reputationsstrukturen garantiert wird, zeigt – im Kontrast zu den auf sensationelle Strafmethoden fixierten Untersuchungen – Malinowski in seiner differenzierten Analyse über die Melanesier Neu Guineas, Malinowski, Crime and Custom in Savage Society (1926), 1985, insbes. S. 41 ff. 149
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Fällen, in denen kein offensichtliches Interesse dahintersteht151 –, ist eine weitgehend unerforschte Frage und sie hängt, wenn wir Misstrauen und Weitergabe der zum Misstrauen führenden Behauptung als Strafpraxis auffassen, mit dem Phänomen des sogenannten „altruistischen Strafens“ zusammen, demzufolge Akteure in experimentellen Situationen sich selbst dann zu einer für sie mit Aufwand verbundenen Bestrafung eines Normbrechers bereit zeigten, wenn sie, wie für sie erkennbar war, nicht in den Genuss einer durch die Strafe bewirkten, künftigen Normbefolgung des Sanktionierten kommen konnten.152 Möglicherweise ist die erwähnte Bereitschaft zur Informationsweitergabe auf eine natürliche, originäre Bereitschaft zur Kooperation zurückzuführen, die erst im weiteren Verlauf einer Interaktion an die Voraussetzung reziproker Erwiderung des Gegenüber geknüpft wird.153 Ebenfalls denkbar wäre, dass es sich bei der Bereitschaft, Informationen scheinbar selbstlos weiterzugeben (oder eben selbstlos zu bestrafen), um eine Form des sogenannten „costly signaling“ handelt, die Weitergabe der Information (beziehungsweise die Bestrafung) also dazu dient, sich als teilender (beziehungsweise die Einhaltung der Normen einfordernder) Akteur und als vertrauenswürdiger und attraktiver Interaktionspartner zu präsentieren.154 Warum auch immer wir es tun, offensichtlich tun wir es. Erkennbar wird dies nicht zuletzt daran, dass sich sowohl auf individueller als auch auf (quasi-)institutioneller Ebene zahlreiche Bewertungssysteme etabliert haben. Solche Systeme der Informationsweitergabe sind alt (vgl. das Konzept der Reputation, Empfehlungen, Güte- und Qualitätssiegel etc.) und heute in Gestalt von Bewertungsplattformen allgegenwärtig. So teilen Akteure die Erfahrung ihrer Interaktionen und geben diesbezüglich Bewertungen ab. Je nach Kontext erstreckt sich dies auf die Qualität getätigter Behauptungen (z. B. Frage- und Diskussionsforen, Rezensionen), angebotener Produkte (Bücher, Filme etc.) und Dienstleistungen in einem weiten Sinne (Informationen z. B. über Verkäufer, Restaurants, Hotels, Ärzte, 151 Ein derartiges offensichtliches Interesse kann man etwa dann annehmen, wenn wir Informationen weitergeben, um uns nahestehende Personen zu warnen. Ein ebensolches Interesse besteht im Rahmen von Situationen, in denen beteiligte Akteure die Informationsweitergabe monetarisieren: Ratingagenturen, Bonitätsbewerter, Headhunter, Makler etc. 152 Grundlegend Fehr/Gächter, Altruistic Punishment in Humans, Nature 415 (2002), S. 137 ff.; s. auch Baurmann, Strafen aus Spaß?, in: Prittwitz u. a., Rationalität und Empathie, 2013, S. 57 f. (und Diskussion). Es besteht hier offensichtlich eine gedankliche Nähe zum Inselbeispiel Kants (s. o. A. I. 2.): Selbst wenn wir nicht von der Bestrafung profitieren, sind wir bereit, diese durchzuführen. Die folgenden Erklärungsandeutungen zeigen, dass eine solche gerechtigkeitsfixierte Überlegung auch aus der Perspektive eines am Nutzen orientieren Ansatzes sich keineswegs als irrational erweisen muss. 153 Tomasello, Warum wir kooperieren, 2010, S. 31 u. 46 f. 154 Siehe zu dieser evolutionsbiologischen Erklärung für die Teilnahme an Reputationssystemen Whitfield, The Biology of Reputation, in: Masum/Tovey, The Reputation Society, 2011, S. 45.
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Lehrer, Arbeitgeber).155 Ein wesentlicher konzeptueller Unterschied zwischen den Typen der Bewertung zeigt sich bei der Frage, inwiefern die mitgeteilte Erfahrung eine (mehr oder weniger reine) Schilderung des Geschehens bleibt oder die Informationsweitergabe von der Wertung überdeckt wird,156 ob also die Grundlage der Beurteilung erkennbar bleibt oder ausschließlich das Ergebnis der Bewertung ersichtlich ist.157 Im ersten Fall muss der die Information Verarbeitende lediglich auf die wahrheitsgetreue Wiedergabe vertrauen und nimmt die Wertung selbst vor – im zweiten Fall muss er zusätzlich auf die Korrektheit der Bewertung vertrauen (insbesondere wenn in einem System nur nach quantitativen Maßstab, ohne weitergehende Begründung, bewertet wird).158 Von derartigen Differenzierungen, von denen man noch etliche anfügen könnte, abstrahiert, wirken solche Reputationssysteme in zwei Richtungen: Die potenziellen Kooperatoren werden aufgrund der geschilderten Erfahrungen motiviert, dem anderen dahingehend zu vertrauen, dass er den je relevanten Gründen folgen wird. Die Bewerteten wiederum werden dazu motiviert, den je relevanten Gründen zu folgen, um gute Bewertungen und damit Kooperationspartner zu gewinnen. Wie im Beispiel der Fürsten führt die sanktionale Praxis von Vertrauensgewährung und Vertrauensentzug verbunden mit der Informationsweitergabe also dazu, dass die Akteure sich darauf verlassen können, der potenzielle Kooperationspartner werde gemäß den je relevanten Gründen handeln. Die Akteure berichten über ihre Interaktion und bewerten die Vertrauenswürdigkeit des Kooperators und/oder der Glaubhaftigkeit seiner Behauptung. Analog zum Phänomen des Sanktionierens des Sanktionators existieren auch Mechanismen, die zu einer Bewertung des Bewerters führen. Ein solches sekundäres Sanktionssystem kann eine elaborierte Gestalt annehmen, indem etwa die Bewertungen in formalisierter Weise von anderen Teilnehmern überprüft werden.159 Nach diesem Muster kann 155 Meist handelt es sich um Informationen über die Qualität des Produktes/Dienstleistung und die Abwicklung (§ 241 BGB vertragliche Nebenpflichten: pünktliche Lieferung, Behandlung von Nachfragen). 156 Ohne Frage beinhaltet jegliche Weitergabe von Information, allein durch die selektive Wahrnehmung des Berichtenden und dessen Auswahl und Betonung an weitergebenen Beobachtungen, ein Element der Wertung. Dennoch lassen sich – gerade was die Offenlegung einer derartigen Auswahl angeht – unterschiedliche Grade zwischen idealtypisch reiner Schilderung und reiner Wertung ausmachen. 157 Dellarocas, Designing Reputation Systems for the Social Web, in: Masum/Tovey, The Reputation Society, 2011, S. 7. 158 Diese Unterscheidung ist offensichtlich schematisch. Zum einen gibt es hybride Formen, zum anderen ist freilich jede „wahrheitsgetreue Wiedergabe“, von der Frage des Wahrheitsbegriffs abgesehen, schon angesichts der Selektivität und Fehleranfälligkeit der Wahrnehmung eine Illusion. 159 Vgl. etwa die Ausgestaltung auf der Technologie-, Neuigkeiten- und Diskussionswebsite slashdot.com: Jeder Diskussionsbeitrag erhält dort – basierend auf der Reputation des Akteurs – anfänglich einen Wert im Bereich von –1 bis 2. Dieser Wert ist allerdings nicht fix, sondern wird durch die Bewertungen anderer Teilnehmer beeinflusst – deren Bewertung wiederum auf einer Metaebene überprüft wird, indem die Bewertung
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auch die Bewertende selbst – aber auch die Bewertungsplattform als solche160 – in ihrer Glaubwürdigkeit fragwürdig werden. Sämtliche bislang untersuchte Praxen der Informationsweitergabe stellen für die potenziellen Adressaten der Information ein optionales Angebot dar. Es steht diesen frei, die Bewertungen einzuholen, zu übernehmen und handlungsrelevant werden zu lassen. d) Staatliche Zertifikation In den für die Interessen der Akteure wichtigsten Fällen jedoch, also insbesondere wenn eine irreversible Verletzung erheblicher Rechtsgüter droht, übernimmt die Gemeinschaft in zentralisierter Weise – oft in Form staatlicher Stellen – die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit der Akteure und ordnet autoritativ die Nicht-Kooperation an. In solchen Fällen werden sämtliche Mitglieder einer normativen Gemeinschaft verpflichtet, die Beurteilung als die für ihre Handlungen relevante zu übernehmen – bzw. wird dem zu Sanktionierenden untersagt, an der infrage stehenden Kooperationspraxis überhaupt teilzunehmen. Die Funktion einer derartigen Zertifikationsinstanz übernimmt der Staat etwa bei der Frage, ob jemand einen zuverlässigen Kooperator im Rahmen des Straßenverkehrs (Fahrerlaubnis, TÜV161) oder im Bereich des Angebots bestimmter Dienstleistungen (wie etwa der Bewirtung, s. Gaststättengesetz162) abgibt.163 Ist der Akteur nach dem jeweiligen Beurteilungsmaßstab „unzuverlässig“, wird ihm die Berechtigung, diese Tätigkeiten auszuüben, nicht eingeräumt. e) Rechtliches Misstrauen als Strafe Man könnte nun überlegen, auch das Strafrecht als Teil dieser zentralisierten, öffentlichen Beurteilung von Vertrauenswürdigkeit zu verstehen. Nun geht es beim Strafrecht nicht lediglich um eine leicht isolierbare Unglaubwürdigkeit, wie etwa die Zuverlässigkeit, ein bestimmtes Gewerbe zu betreiben, sondern um die
von fünf Nutzern überprüft und als „fair“ oder „unfair“ gekennzeichnet wird, so Lampe, The Role of Reputation Systems in Managing Online Communities, in: Masum/Tovey, The Reputation Society, 2011, S. 79. 160 Oder ähnlich: Instanzen, die Güte/Qualitätssiegel vergeben. 161 Beliehener, mittelbare Staatsverwaltung (§ 69a i.V. m. § 29 StVZO). 162 § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG: „Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn (. . .) Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß der Antragsteller die für den Gewerbebetrieb erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt, insbesondere dem Trunke ergeben ist oder befürchten lässt, daß er Unerfahrene, Leichtsinnige oder Willensschwache ausbeuten wird oder dem Alkoholmissbrauch, verbotenem Glücksspiel, der Hehlerei oder der Unsittlichkeit Vorschub leisten wird oder die Vorschriften des Gesundheits- oder Lebensmittelrechts, des Arbeits- oder Jugendschutzes nicht einhalten wird.“ 163 Weitere Beispiele: der Betrieb von stehenden Gewerbe (vgl. § 35 GewO) oder aber Approbation, Anwaltszulassung etc.
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Zuverlässigkeit, die basale Rücksicht in Hinblick auf die Rechtsgüter eines anderen an den Tag zu legen, also die Anerkennung fundamentaler, fremder Rechtsgüter. Weshalb in diesem Bereich, der dem Bereich des Strafrechts zugerechnet wird, Vertrauen in besonderer Weise von Relevanz ist, liegt auf der Hand: Zum einen dreht es sich um besonders schwere, irreversible Schädigungen, zum anderen handelt es sich zumeist164 um Interaktionen, bei denen der Akteur den Interaktionspartner nicht aktiv auswählte, also um die Rücksichtnahme in Situationen, in denen keine konkrete Kooperationsbeziehungen bestehen. Dies führt dazu, dass die Akteure hier gar nicht auf eigene oder übernommene Einschätzungen zurückgreifen können, sondern auf das Verhalten der anderen Akteure pauschal vertrauen müssen. Diese Struktur macht eine Institution erforderlich, die in generalisierter Weise Vertrauen schafft. Eine solche Glaubwürdigkeit des Akteurs zu generieren und zu zertifizieren, sollte als die Aufgabe des staatlichen Strafrechts verstanden werden. Dem Verurteilten wird durch das Schuldurteil attestiert, nicht den rechtlich relevanten Gründen gefolgt zu sein, obwohl dies von ihm zumutbar erwartet werden konnte. Diese Feststellung hat zur Folge, dass es nicht ohne Weiteres möglich ist, der ihm für die weitere Interaktion zu unterstellenden Aussage zu glauben, er würde sich für die Zukunft an die rechtlichen Gründe halten. Der Verurteilte wird demnach als zuverlässiger Kontoführer ungewiss. Dieser Zusammenhang lässt sich konstruktiv so verstehen, dass der Täter das – von jedem auf dem Staatsgebiet befindlichen Akteur konkludent abgegebene, ihm jedenfalls unterstellte – Versprechen, sich legal zu Verhalten, gebrochen hat, und der Verurteilte dieses in glaubwürdiger Weise erneuern muss. Dies bedeutet, das Strafrecht als Institution der Zertifizierung legaler Zuverlässigkeit zu verstehen. Es geht dann darum, den Verurteilten zu befähigen, uns von seiner Zuverlässigkeit als rechtlichen Gründen Folgender zu überzeugen. Wenn er dies nicht will oder kann,165 wird ihm die Berechtigung entzogen, ohne Weiteres in interaktive Verbindungen zu treten. Das ist die Legitimation des (zeitlich befristeten) Kooperationsentzugs, der auch die Form eines Freiheitsentzugs annehmen kann. Aber selbst dann geht es nicht um die Zufügung eines intentionalen Übels.166 Aus Gründen, die im Folgenden entwickelt werden, liegt der alleinige Fokus darauf,
164 Eine Ausnahme besteht bei bestimmten Wirtschaftsdelikten und (sexueller) Gewalt im Nahbereich. In dem Fall wurde zwar der Interaktionspartner ausgewählt, aber eben im Lichte nun enttäuschter Annahmen. 165 Etwa die Rechtsgemeinschaft infolge seiner Tat ein unverzüglich nach der Tat geäußertes Versprechen der Legalität – ungeachtet der Bemühungen und Versicherungen des Verurteilten nicht für glaubhaft hält. 166 Möglicherweise kann man hier den Gedanken von Asyl und Freistätten fruchtbar machen. Vgl. dazu Bianchi, Alternativen zur Strafjustiz, 1988, S. 136 ff.
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dem Verurteilten die Möglichkeit zu geben, seine Zuverlässigkeit aktiv und möglichst sofort unter Beweis zu stellen – was einen Freiheitsentzug nicht nur nicht erfordert, sondern vielmehr kontraproduktiv erscheinen lässt.167 Das besagte Verständnis erlaubt ferner eine rechtsstaatliche und rationalisierende Lesart des Strafrechts. Würde eine Zertifizierung des Vertrauens durch Verurteilung und restitutiver Reaktion nicht zentral durch das Strafrecht erfolgen, wäre der Täter in unkontrollierter und willkürlicher Weise den Misstrauenshaltungen der übrigen Akteure ausgesetzt.168 Ihm wird also durch das Strafrecht nicht nur gestattet, sich in einem rechtsstaatlichen Verfahren qualifiziert zu verteidigen, sondern auch ermöglicht, in einem institutionalisierten Verfahren seine Zuverlässigkeit als Kontoführer allgemeinverbindlich wiederherzustellen. Ist seine Zuverlässigkeit bestätigt, sind die übrigen Akteure verpflichtet, diese Bewertung – jedenfalls im rechtlichen Umgang – zu übernehmen. Wie die Tat rechtlich verbindlich als nicht hinnehmbarer Normverstoß in öffentlich verbindlicher Weise missbilligt wurde, so gilt das auch umgekehrt für die Billigung seines restituierenden Verhaltens. Auch für das Verständnis des strafrechtlichen Geschehens als kommunikativer Akt hat dies Auswirkungen: Es findet nicht bloß eine zweistufige Kommunikation – der Täter widerspricht der Norm, das Strafurteil widerspricht dem Täterverhalten – statt. Die Kommunikationsfolge ist vielmehr zeitlich in beide Richtungen zu erweitern. Zeitlich vorher beginnt die Kommunikationsabfolge nicht erst mit der Tat, sondern bereits mit den strafgesetzlichen Festlegungen: Die Strafgesetze adressieren die Akteure mit autoritativen, aber solchen Gründen, die den gemeinsamen Festlegungen entsprechen:169 „[A]s a legitimate authority, criminal law claims justification with regard to the values and principles of the normative community. The members of a normative community can claim that the legal reasons are justified by the values of the community, and they have a right to contest it when there is no justification at all or a defective one. This is why the criminal law can speak; why it can speak to them, and not only
167 Dass der Täter durch Restitutionsleistungen eine gewandelte Einstellung zeigt, bedeutet nicht, dass diese eine Inanspruchnahme moralisierender Urteile über Charakter und Lebensführung voraussetzt, so Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987, S. 116 f. 168 Dieser Aspekt ist auch ein wesentliches Argument gegen stigmatisierende Ehrenstrafen, sogenannte shame sanctions. Bei diesen machen die informellen Reaktionen der Betrachter das Strafübel aus, was die Öffentlichkeit in unkontrollierter Weise zum Vollstrecker der Strafe werden lässt, so Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, ZStW 118 (2006), S. 71 f. 169 So Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 12 f., mit Verweis auf Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 80 ff.
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about them. It takes its addressees seriously as deliberative persons who respond to reasons and who guide their intentions and their behaviour according to reasons.“ 170
Und diese Abfolge des kommunikativen Geschehens ist nun auch nach hinten um eine Stufe zu erweitern: Der Verurteilte antwortet auch auf den Schuldspruch – und eine solche Antwort wird von ihm als ernstzunehmender normativer Akteur erwartet. Der Dialog endet somit nicht mit dem Schuldspruch. Idealisiert stellt sich der Kommunikationsprozess dann folgendermaßen dar: Mittels der strafrechtlichen Verhaltensnormen adressieren wir uns gegenseitig als Normautoren und legen die rechtlich relevanten Gründe fest, wobei wir damit (jedenfalls implizit) versprechen, unser Verhalten nach diesen Gründen auszurichten (i). Der Täter kommuniziert durch sein Tatverhalten nun, diesen Gründen doch nicht zu folgen, sich also an das Versprechen nicht gebunden zu sehen (ii). Dieser Absage an die Verhaltensrelevanz der durch die Strafrechtsnormen aufgestellten Gründe wird durch den Schuldspruch als nicht akzeptabel widersprochen und der Verurteilte auf sein ursprüngliches Versprechen hin befragt (iii). Durch die glaubhafte Erneuerung des Versprechens stellt er das Vertrauen wieder her, die aufgestellten Gründe in seinem äußerlichen Verhalten zu beachten (iv). f) Zwischenergebnis Die Tätigkeit des Kontoführers ist nicht nur ein gegenseitiges Überprüfen und Bewerten von Zügen (III. 1.), sondern sie dient uns auch dazu, uns zukunftsgerichtet zu orientieren (III. 2.). Wenn wir uns in unserem Verhalten auf Performanzen anderer Akteure stützen – und das ist etwas, was wir in unterschiedlicher Ausprägung in so gut wie jedem Verhalten tun –,171 dann benötigen wir eine vertrauende, kooperative Haltung demjenigen gegenüber, von dem wir die Behauptung übernehmen. Dies liegt172 zum einen daran, dass selbst die einfachsten Behauptungen auf nicht vollständig überprüfbaren Ableitungsvorgängen beruhen, zum anderen daran, dass die für die Vergangenheit zutreffende Kontoführung nur ein Indiz für eine auch künftig zutreffende Kontoführung ist. Die komplementäre Verhaltensweise ist die, die Behauptungen und Versprechen der anderen für nicht-berechtigt zu erachten und sie daher nicht als Prämissen für unsere Konto170 Günther, Criminal Law, Crime and Punishment as Communication, 2014, S. 13 (H. i. O.). 171 Nur dann, wenn wir von unseren eigenen Wahrnehmungen Schlüsse ableiten, stützen wir uns nicht auf Performanzen anderer. Aber indirekt tun wir dies natürlich auch dort: Denn woher besitzt die einzelne Person die bei ihr in einer bestimmten Weise ausgestaltete Fähigkeit der Begriffsverwendung und Ableitung? Sie hat sie von anderen (durch Beobachtung und Imitation etc.) gelernt. 172 Neben der Konventionalität materialer Inferenzen.
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führung heranzuziehen. Und das heißt, eine nicht-kooperative Haltung ihnen gegenüber einzunehmen. Für die Einschätzung, wann eine vertrauende und wann eine misstrauende Haltung angebracht ist, bedienen wir uns neben unseren eigenen unmittelbaren Einschätzungsfähigkeiten der Einschätzungen anderer. Eine solche Zertifizierung ist in weiten Bereichen in gesellschaftlichen oder staatlichen Einschätzungssystemen institutionalisiert – und wird von uns häufig nicht weiter reflektiert.173 Die Frage, ob jemand als zuverlässige Kontoführerin angesehen wird, ist offensichtlich je nach dem Bereich, um den es geht, von unterschiedlicher Wichtigkeit für uns: Ob, wie du behauptest, Dostojewskis Roulettenburg wirklich die Stadt Wiesbaden meint, ob der Zug wirklich später kommt, ob du die Miete zahlst, ob du mir keine Gewalt antust, dürfte mich in ganz unterschiedlicher Weise interessieren. Das Strafrecht regelt, so wurde vorgeschlagen, den grundlegendsten Bereich, in dem jemand als zuverlässig/unzuverlässig angesehen werden kann. Aufgrund der Zufälligkeit und Anonymität der Kontakte sowie der Irreversibilität und Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen ist hier in besonderem Maße ein generalisiertes Vertrauen erforderlich. Es erscheint daher plausibel, dem Strafrecht die Funktion der zentralisierten Zertifizierung zuzuweisen: nämlich den Entzug dieses Vertrauens autoritativ und stellvertretend für alle Teilnehmer der Kontoführungspraxis zu erklären und gleichzeitig anzugeben, was dafür erforderlich ist, um das Vertrauen wieder einräumen zu können. Warum es – folgt man dem Gedanken des Strafrechts als Instanz der Zertifizierung – nicht darum geht, die Akteure als vertrauensunwürdig zu brandmarken, sondern vielmehr darum, sie dazu zu befähigen, sich als vertrauenswürdig auszuweisen, welche Gründe also dafür sprechen, nicht exkludierend zu sanktionieren, will ich im Folgenden untersuchen.
IV. Inklusion durch Gründe Wir haben also festgestellt, dass es möglich ist, die strafrechtliche Sanktion so zu verstehen, dass sie in der Feststellung der Nichtberechtigung der Täterhandlung sowie dem damit einhergehenden Vertrauensentzug, ein zuverlässiger „deontischer Kontoführer“ 174 zu sein, besteht. Bevor wir überlegen können, was die Idee der Vertrauenswiederherstellung für unsere konkrete Strafpraxis bedeuten könnte, will ich überlegen, weshalb wir überhaupt auf die Wiederherstellung des Vertrauens abzielen sollten. Warum strafen wir nicht final exkludierend, mit endgültigem Ausschluss (i)? Und warum sollten wir auch generell inklusiv reagieren 173 Ich begebe mich mit meinem Pkw nicht nur deshalb auf die Straße, weil ich weiß, dass die anderen Autofahrer ihre Fahrfähigkeit nachweisen mussten. 174 Siehe zum Begriff C. II. 2.
IV. Inklusion durch Gründe
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und nicht durch exkludierende, abschreckende Strafen versuchen, das „Vertrauen“ in die Person, die eine Tat beging, wiederherzustellen (ii)? Die Antwort auf die beiden Fragen ergibt sich nicht logisch aus den Mitteln und Voraussetzungen, die den Akteuren zu ihrer Organisation zur Verfügung stehen – sondern wiederum aus der Struktur unseres Selbstverständnisses als Gründen folgende Akteure. Weshalb sollten wir den Normbrecher nicht endgültig aus der Gemeinschaft exkludieren (i)? Auch nach dem Modell des Vertrauensentzugs spricht, sofern man es formal versteht, nichts gegen einen solchen Ausschluss. Bei geringen Normverstößen scheidet aber ein Ausschluss aus Überlegungen der Verhältnismäßigkeit und allein schon aufgrund des pragmatischen Gesichtspunkts aus, dass Verbrechen ubiquitär und in einem gewissen Sinne normal sind.175 Aber auch bei schwersten Verstößen kann man aus der sozialen Befähigung und Veranlagung des Menschen gewissermaßen einen „Kontrahierungszwang“ herleiten, also die Gemeinschaft als verpflichtet erachten, alles Mögliche zu unternehmen, um wieder zum Vertrauen in das Verhalten des Verurteilten bereit zu sein. Zwar ist die Frage, betrachtet man die Rechtslage international, nicht unumstritten – man denke nur an die Praxis der Todesstrafe. Für das nationale Strafrecht jedoch hat das Bundesverfassungsgericht im bekannten Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe ein entsprechendes Argument aus der Menschenwürde hergeleitet. Die Menschenwürde basiere auf der „Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen (. . .), das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums[.]“ 176
Der Einzelne müsse sich an die Gesetze der Gemeinschaft halten, jedoch stets „als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden“. Aus dem so hergeleiteten Verbot, den Einzelnen „zum bloßen Objekt im Staate zu machen“,177 folge für die Strafrechtspflege das Verbot, eine Person final aus der Gesellschaft auszuschließen, und damit ein Anspruch auf Resozialisierung, also die Chance, sich „wieder in die Gemeinschaft einzuordnen“.178 Die Rückkehrmöglichkeit ist zwingend: „Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen erhalten bleiben. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist daher – und das gilt insbesondere für den Strafvollzug – die Ver175 Vgl. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (1895), 1961, insbes. S. 156 f.; differenziert Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 44 Rn. 26 ff. 176 Zitate alle BVerfGE 45, 187, 227 mit Verweis auf BVerfGE 33, 303, 334. 177 Zitate alle BVerfGE 45, 187, 228. 178 BVerfGE 45, 187, 239.
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pflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht. Mit einer so verstandenen Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können.“ 179
Selbst bei schwersten Normverstößen ist es demzufolge ausgeschlossen, einen Akteur endgültig aus der Gemeinschaft auszuschließen.180 Bezüglich der zweiten Frage (ii), ob die Reaktion als solche, und nicht nur unsere Haltung im zeitlichen Nachgang zur strafenden Reaktion, nicht exklusiv, sondern inklusiv181 ausgestaltet sein sollte,182 ist die Sache weniger offensichtlich. Wenn man der hier entwickelten Vorstellung der Wiederherstellung des Vertrauens folgt, ergibt sich dies von selbst:183 Es geht gerade darum, dem Täter zu ermöglichen, sich als zuverlässiger Kontoführer unter Beweis zu stellen – und dies ist augenscheinlich, wenn man darunter die Fähigkeit zu legalem Verhalten und nicht nur die duckmäuserische Beachtung eines „Knast-Knigges“ versteht,184 ausschließlich innerhalb der Gesellschaft erreichbar.185 179
BVerfGE 45, 187, 228 f. „Geht man davon aus, daß auch dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleiben muß, je seine Freiheit wiedererlangen zu können, so muß ihm folgerichtig auch ein Anspruch auf Resozialisierung zustehen, mag für ihn auch erst nach langer Strafverbüßung die Aussicht bestehen, sich auf das Leben in Freiheit einrichten zu müssen.“ BVerfGE 45, 187, 239 mit Verweis auf BVerfGE 40, 276, 284. 181 Die „Terminologie „inklusiv“/„exklusiv“ verwende ich im Anschluss an Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001, S. 76 f. Dieser nennt als Arten der Exklusion die politische, materielle, normative und linguistische Exklusion. Strafe sei nun oft in allen diesen Wegen exkludierend, und auch sie umgebende Situationen: Im Prozess werde der Angeklagte sprachlich exkludiert, ebenso nach der Strafe bei der Suche nach Beschäftigung. Auch die Überlegung „was machen ,wir‘ mit den Verbrechern“ exkludiere. 182 Vgl. zum nicht unproblematischen Verhältnis von Integration und Ausgrenzung, nämlich der Gefahr, dass „unter dem Deckmantel des Arguments ausgegrenzt wird, man müsse vor Ausgrenzung schützen“, die Rekonstruktion von BVerfGE 35, 202 (Lebach I) von Bung, Fall 7: Ausgrenzende Wiedereingliederung, in: Lomfeld, Die Fälle der Gesellschaft, 2017, S. 97. 183 Zur Wichtigkeit, sozial diskriminierende Strafen zugunsten nicht-deklassierender Unrechtsfolgen zu ersetzen, vgl. bereits Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 102 ff. u. 382 f. 184 Zur Vorstellung der Resozialisierung im Vollzug als „große Lebenslüge unseres Strafvollzugssystems“ Feest, Humanismus im Strafvollzug, in: Puschke, Strafvollzug in Deutschland, 2011, S. 88. 185 Eine nicht allzu ferne Vision kann man in Modellprojekten wie der norwegischen Gefängnisinsel Bastoy erahnen, die weniger Strafvollzugsanstalt, mehr sozialtherapeutische Einrichtung ist, s. Christine Meffert, Justizvollzug: Darf Strafe so schön sein?, Die Zeit, 19. März 2009 Nr. 13. Freilich müssen sich solche Modellprojekte stets den – allerdings fraglichen – Vorwurf der fehlenden Verallgemeinerbarkeit, die Kritik, lediglich aufgrund abschreckenderer Alternativen zu funktionieren, und den zutreffenden Verweis auf die positiven Ergebnisse qua positiver Vorselektion der Teilnehmer gefallen lassen. 180
IV. Inklusion durch Gründe
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Jedoch könnte man auch die Strafpraxis, die mit künstlichen Klugheitsgründen hantiert, so verstehen, dass sie dazu diene, Vertrauen wiederherzustellen. Die Vorstellung der künstlichen Klugheitsgründe ist die, dass wir an eine Verhaltensnorm, die an sich bereits aus vernünftigen186 Überlegungen befolgenswert ist, künstliche Gründe anheften, um ihre Befolgung zu garantieren. Eine Regel wird also mit künstlichem Gewicht beschwert, sodass bei Abwägung zwischen normkonformem und normwidrigem Verhalten die Waagschale der Normbefolgung schwerer wiegt. Insofern könnte man auch eine solche Theorie dahingehend verstehen, dass sie Vertrauen wiederherstellt: Indem das Strafrecht künstliche Klugheitsgründe aufstellt, die den potenziellen Tätern dazu Anreiz geben, die Gesetze zu befolgen, lässt sie uns auf deren Legalität vertrauen.187 Warum sollten wir also nicht durch künstliche Klugheitsgründe Vertrauen schaffen? Ich will einige Gründe nennen: Ein wichtiger Gesichtspunkt scheint mir der, dass die Konstruktion der Klugheitsgründe verkennt, dass der Grund der Strafe – und damit nicht lediglich Grund für zivilrechtlichen Schadensersatz – die Verletzung des Opfers ist. Dies kann das Konzept der Klugheitsgründe nicht verarbeiten, denn die künstlichen Klugheitsgründe interessieren sich gerade nicht für den aktual Verletzten. Die Übelszufügung dient dort vielmehr dazu, dass ihre Androhung sich nicht als leere Drohung erweist. Kurz: Die Klugheitsgründe verfehlen den eigentlichen Grund, weshalb wir auf Unrecht reagieren. Dieses Argument, das augenscheinlich mit der Stellung des Opfers in der Straftheorie zusammenhängt, werde ich später ausführen (s. C. VI.). An einige andere kritische Aspekte im Zusammenhang mit der Konstruktion der Klugheitsgründe, denen wir bereits begegnet sind, möchte ich kurz erinnern: Die Klugheitsgründe sind meist ziemlich unwirksam, da sie eine rationale Folgenabwägung verlangen, die bei Affekttaten nicht geleistet wird. Aber auch bei rationaler Abwägung sind sie von geringerer Relevanz als die Frage, ob überhaupt eine Reaktion erfolgt und wie wahrscheinlich dem Täter die Entdeckung erscheint.188 In den Fällen, in denen sie tatsächlich abschreckend wirken, führen sie – das ist eine bekannte Wirkung der Konditionierung mittels aversiver Rei-
186 „Vernünftig“ steht hier als Platzhalter für die Quelle, aus der man die Kompetenz zur Normsetzung herleitet. 187 So sind wie oben gesehen Hörnle („Klugheitsgründe“) und Jakobs („kognitive Untermauerung“) zu verstehen. Vgl. zu dieser Vorstellung eines „prudential reason“ grundlegend v. Hirsch, Censure and Sanctions, 1993, S. 13; ders., Warum soll die Strafsanktion existieren, v. Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum?, 2011, S. 55 ff.: „Die Strafe besteht also nicht nur aus Tadel, sondern bietet auch einen zweckrationalen, eigeninteressierten Grund der Ermutigung an: nämlich, die in der Strafe enthaltene Übelszufügung zu vermeiden.“ (Ebd., S. 55 f.); ders., Fairness, Verbrechen und Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen, 2005, S. 54 f. 188 Dies schließt nicht aus, dass der Täter bei einem Delikt, das aus finanziellem Gewinnstreben begangen wird, mehr als den erbeuteten Gewinn leisten muss.
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
ze189 – nur eingeschränkt zur Normtreue, vielmehr zu (kurzfristigem) Vermeideverhalten und der Verlagerung auf heimliche Ausführung. Abgesehen davon treffen die tatsächlichen Bestrafungsakte, die das für den Normbruch Angekündigte ausführen, diejenigen Akteure, bei denen die Klugheitsgründe offenbar gerade keine abschreckende Wirkung entfalten konnten, nämlich die nicht-abgeschreckten Täter. Und besonders diesen gegenüber bedarf es der Legitimation. Eine gängige Antwort auf die Frage, weshalb wir nicht mittels Klugheitsgründen Vertrauen schaffen sollten, ist die, dass die Verwendung von Klugheitsgründen kein angemessener Umgang mit Akteuren ist, die wir als Gründen folgende, vernunftbegabte Wesen ansehen.190 Wir entwickeln aus unseren Gemeinschaftswerten Gründe, die wir dadurch verbindlich festlegen, dass wir sie zu Gesetzen machen. Der Grund der Regelung ist also die Gesetzesbegründung, der Grund der Befolgungsrelevanz das Zustandekommen des Gesetzes. Wir führen etwa Gründe an, weshalb wir ein Schädigungsverbot in dieser Ausgestaltung für richtig erachten und machen diese Überlegung zu einem rechtlich relevanten Grund, indem wir das so ausgestalte Schädigungsverbot gesetzlich festlegen. Die natürliche Sanktion besteht lediglich darin, das abweichende Verhalten als nicht-berechtigtes zu betrachten, weshalb vom Abweichenden erwartet wird, das unberechtigte Verhalten möglichst rückgängig zu machen und ihm gegebenenfalls in der Hinsicht nicht mehr ohne Weiteres vertraut werden wird. Für die Sanktion können wir Gründe geben: Wir können den Grund der Regelung in Gemeinschaftswerten verständlich machen und darauf verweisen, dass dieser Grund zum Gesetz, also rechtlich relevant wurde. Klugheitsgründe anzufügen bedeutet dagegen eine künstliche Beschwerung der (im Regelungsgrund und dem Zustandekommen des Gesetzes) bestehenden Gründe. Es adressiert als Angefügtes die Akteure nicht als Gründen-Folgende, sondern behandelt sie mit Gewalt.191 Zu beachten ist, dass ein solches Verständnis die Verhaltensanforderungen nicht auf eine moralische Ebene verschiebt: Ein Akteur muss nicht innerlich dem 189 Günther, Kritik der Strafe I, WestEnd, 2004, S. 123: „Sie bewirken allenfalls äußerliche Anpassung, ein opportunistisches und okkasionelles Umgehungs- und Vermeideverhalten.“ 190 Diesen Gedanken haben wir bei Duff (B. VIII. 1.) und bei Günther (C. I.) gesehen. 191 Man könnte hier einwenden, dass die Praxis der Klugheitsgründe doch ganz universell akzeptiert und praktiziert ist: Was ist etwa mit schwer wegzudenkenden Bußgeldern für falsch Parkende? Eine mögliche Antwort wäre, dass wir bei solchen Minima die Einführung von Klugheitsgründen unproblematisch ansehen. Eine ambitioniertere Antwort könnte darauf verweisen, dass wir diese Praxis der „Strafzettel“ nicht als Klugheitsgründe auffassen müssen. Man kann sie vielmehr als pauschalisierten Schadensersatz verstehen. Der Schaden besteht (zusätzlich zum entgangenen Entgelt des Anbieters des Parkplatzes) für diejenigen, denen die Nutzung des Parkplatzes vorenthalten blieb. Bei verbotenen Parkflächen ist es der (möglicherweise nur potenzielle) Schaden, der in der Behinderung anderer Akteure besteht. Wir pauschalisieren hier den Schaden, weil die Feststellung und Quantifizierung für den konkreten Fall unverhältnismäßig mühsam wäre.
IV. Inklusion durch Gründe
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Grund der Regelung zustimmen, ihm muss also nicht das Schädigungsverbot in dieser Ausgestaltung erwünscht sein. Er kann der Norm auch folgen, weil er weiß, dass das abweichende Verhalten nicht unberücksichtigt bleiben, sondern als nicht-berechtigtes Verhalten beurteilt werden wird, dass unter anderem von ihm erwartet werden wird, den Zug rückgängig zu machen und er gegebenenfalls als zuverlässiger Befolger von rechtlich relevanten Gründen ungewiss werden wird. Der Akteur kann demnach sein Handeln mit dem Verhalten, von dem ihn die Gesetzesbegründung überzeugen will, äußerlich zusammenfallen lassen, dafür jedoch allein dadurch motiviert sein, die Folgen eines unberechtigten Zuges vermeiden zu wollen. Der Befolgungsmodus der reinen Nachteilvermeidung bleibt ihm unbenommen. Der wichtigste Grund aber, weshalb wir auf Klugheitsgründe verzichten sollten, ist viel einfacher: weil es möglich ist. Denn warum sollten wir ein künstliches Additivum schaffen? Wie wir gesehen haben, sind die anderen Gründe, die für die Legitimität einer Übelszufügung vorgebracht werden, ausgeräumt (s. B.). Und es ist möglich, die Feststellung des Unrechts als interne Sanktion zu begreifen, die zur Bestätigung der Normgeltung ausreicht, sofern sich die Normübertretende als zuverlässige normative Kontoführerin erweist. Wenn man der Idee folgt, die Sanktion grundlegend in der Feststellung der Nichtberechtigung des Tatverhaltens und dem damit verbundenen Vertrauensentzug zu erblicken, gibt das Raum für eine spekulative Erklärung, weshalb es überhaupt zum Phänomen des Strafschmerzes gekommen sein mag: Die rache-ähnliche, übelzufügende Reaktion könnte das zentrale Mittel (gewesen) sein, um einen Vertrauensentzug im rein bilateralen Verhältnis derart zu markieren, dass er für die Sanktionierte überhaupt von Relevanz erscheint: Denn sofern der Täterin weitere alternative Kooperationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, könnte sie im Falle des Vertrauensentzugs durch den Verletzten einfach auf jene anderen Beziehungen ausweichen. Die destruktive Sanktionierung mittels Strafschmerz ist womöglich nur ein Notbehelf, wenn eine konzertierte Reaktion, nämlich der Vertrauensentzug, der von den übrigen Mitgliedern der Gemeinschaft solidarisch mitgetragen wird und so die Täter zur Entschädigung drängt, noch keine oder eine zu wenig institutionalisierte Verarbeitungsoption des Geschehens ist. Klar ist, dass sich aus dem Argument, ohne Klugheitsgründe auskommen zu können, nicht zwingend ableiten kann, dass es unmöglich oder unhaltbar ist, eine Praxis der Klugheitsgründe einzuführen. Denn warum sollten nicht auch vernunftbegabte Wesen, die Gründen folgen, sich frei dazu entschließen können, sich gegenseitig künstliche Gründe, also die Androhung intentionaler Übel, aufzuerlegen?192 Es handelt sich somit bei dem Vorgebrachten – wie bereits erwähnt – um 192 Vgl. aber die Überlegungen zu Hoersters „hypothetischer Zustimmung“ zur Strafpraxis, B. II. 2. a); s. auch die Problematik der automatischen Vergeltungsmaschine, B. Fn. 125.
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
eine Argumentation, die nahebringen will, dass sich eine solche Praxis der Klugheitsgründe ihrerseits nicht notwendig aus Organisationserfordernissen ergibt und dass sie als Umgangsform tendenziell mit unserem Selbstverständnis unvereinbar ist. Um weiter zu plausibilisieren, weshalb wir kein System von Klugheitsgründen befürworten sollten, will ich im Folgenden noch zwei Argumente ausführen. Das erste handelt von der Idee einer „humanen Körperstrafe“ (s. C. V.). Das zweite hat mit der Stellung des Verletzten in der Straftheorie zu tun (s. C. VI.).
V. Elektroschock Alle in Kapitel 2 untersuchten Ansätze zur Rechtfertigung der intentionalen Übelszufügung zielten darauf, die Freiheitsstrafe als stärkste Form der Strafe zu rechtfertigen. Man könnte argumentieren, dass sich dort das intentional auferlegte Strafübel im Entzug der Freiheit193 erschöpfen soll,194 wobei naheliegt, dass die faktischen negativen Auswirkungen der Freiheitsstrafe durchaus beabsichtigte bzw. bewusst gebilligte Effekte sind.195 Unterstellen wir nun, dass eine solche intentionale Zufügung des Strafschmerzes – etwa über die Vorstellung der Klugheitsgründe – legitimierbar ist. Weshalb sollte dann nicht auch etwas über das Übel des Freiheitsentzugs „Hinausgehendes“ als legitim und wünschenswert erscheinen? Etwa die unmittelbare Zufügung körperlicher Schmerzen, also eine Körperstrafe? Auf den ersten Blick scheint man gegen eine solche Volte gut gewappnet zu sein. Offensichtlich ist die Körperstrafe im nationalen positivierten Recht keine vorgesehene Sanktionsart. Auch bezogen auf die historische Entwicklung lässt sich die Tendenz des vollständigen Rückgangs der Zufügung unmittelbar körperlicher Gewalt als Sanktionsform ablesen: Das Züchtigungsrecht, also die erlaubte Zufügung unmittelbar körperlicher Gewalt, begann ab dem 19. Jahrhundert aus dem Militärwesen und der Ehe, seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Lehrlinge und Bedienstete, und seit etwa den 1970er Jahren aus den Schulen zu verschwinden. Auch das Züchtigungsrecht der Erziehungsberechtigten gegenüber den Kindern ist (spätestens) seit dem Jahr 2000 durch die – in Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention erlassene – Regelung des § 1631 Abs. 2 BGB196 be193 Bung, in: Alternativ-Kommentar zum StVollzG, § 2 Rn. 1; mit Verweis u. a. auf Nr. 102.2 der „European Prison Rules“ des Europarates, Rec(2006)2: „Imprisonment is by the deprivation of liberty a punishment in itself and therefore the regime for sentenced prisoners shall not aggravate the suffering inherent in imprisonment.“ 194 Das Strafgesetzbuch trifft keine Aussage dazu, worin der Entzug der Freiheit besteht, so Bung, in: Alternativ-Kommentar zum StVollzG, § 2 Rn. 1. 195 Siehe zu den Strafschmerzen der Freiheitsstrafe Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 2 f. 196 „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, eingeführt durch das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung vom 2. November 2000 (BGBl. Teil I, Nr. 48 vom 7.11.2000, S. 1479).
V. Elektroschock
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seitigt. Auf dem Gebiet des Strafrechts wurden die deutschen Staaten von den Diskussionen im Gefolge der französischen Revolution beeinflusst, nachdem die Assemblée nationale constituante die Prügelstrafe im Jahr 1791 für Frankreich abgeschafft hatte: Nach und nach zogen die deutschen Staaten gleich, wobei die endgültige Abolition mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 erfolgte.197 In Zuchthäusern und teilweise in Arbeitshäusern existierte die Prügelstrafe in Form der Auspeitschung als Disziplinarmittel weiterhin. Dort wurde sie schließlich im Jahr 1923 abgeschafft.198 Im Kontrast zu dieser Entwicklung plädiert Newman, ein amerikanischer Kriminalwissenschaftler, dafür, die Körperstrafe als Kriminalstrafe einzuführen.199 Die Einführung der Körperstrafe? Man könnte meinen, dass dies zu bizarr ist, als dass es überhaupt einer Stellungnahme bedarf. Wenn wir die Idee jedoch – zumindest als Gedankenexperiment – ernst nehmen, ergeben sich daraus, wie ich zeigen will, Argumentationsressourcen gegen das Konzept der intentionalen Übelszufügung als solcher. Was kann man Newman also – abgesehen von der Entwicklung der Entschmerzlichung als Errungenschaft der fortschreitenden Zivilisierung – entgegenhalten? 1. Körperstrafe im internationalen Recht Wären wir überhaupt in der Lage, eine Körperstrafe einzuführen? Wären wir nicht bereits durch das internationale Recht200 gebunden?201 Man könnte dazu auf den ersten Satz des Art. 7 des Internationalen Paktes für Bürgerliche und Politische Rechte202 (im Folgenden „CCPR“ nach International 197 Schröder, Prügelstrafe und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas, 1997, S. 5 ff. Im Einzelnen: Nassau 1809, Baden 1831, Braunschweig 1837, Darmstadt 1841, Preußen 1848, Bayern 1861, Kurhessen und Hannover 1867, Sachsen 1868, Mecklenburg und Altenburg 1871 (ebd.). 198 Ebd., S. 6 ff. 199 Newman, Just and Painful, 1983. Newman hat sein Plädoyer nochmals bekräftigt, vgl. Newman, Just and Painful, 2. Aufl. 1995. Die weitgehend unveränderte Neuauflage bringt an Neuem v. a. die noch stärkere Betonung der nötigen Entsprechung („matchability“) von Tat und Strafe (ebd., S. 99) sowie die Idee der „Restitutionsleistung“ durch Organspenden (ebd., S. 173 ff.). Aufschlussreich ist der Prolog, der die hitzige Kritik der Erstauflage kommentiert (ebd., S. 1 ff.). 200 Nicht nur die Tatsache, dass Newman US-Amerikaner ist, sondern auch die praktisch größere Relevanz in der internationalen Praxis legt m. E. einen Zugang über internationale Rechtsquellen nahe. 201 Die Hürden des nationalen Verfassungsrechts dürften wohl denen des internationalen Rechts entsprechen, die sogleich untersucht werden. Vgl. BVerfGE 45, 187, 228: „Das Gebot zur Achtung der Menschenwürde bedeutet insbesondere, daß grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind.“ 202 International Covenant on Civil and Political Rights, vom 16.12.1966, Generalversammlung der UNO, Resolution 2200A (XXI), in Kraft getreten am 23.3.1976. Wortgleich Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; weitgehend wort-
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
Covenant on Civil and Political Rights) verweisen: „No one shall be subjected to torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment.“ Nun enthält der Pakt jedoch keine Definition davon, was unter grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung zu verstehen ist. Auch das Human Rights Committee der Vereinten Nationen203, das mit der Überwachung der Umsetzung des Paktes betraut ist, hält es nicht für erforderlich, eine Liste zulässiger Formen der Strafe zu entwickeln, sondern verweist für die Unterscheidungen generell auf Natur, Zweck und Schwere der angewandten Behandlung. Dennoch ist es dezidiert der Auffassung, dass Körperstrafe dem Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Bestrafung unterfalle: „In the Committee’s view (. . .) the prohibition [of Art. 7 CCPR; M. A.] must extend to corporal punishment, including excessive chastisement ordered as punishment for a crime or as an educative or disciplinary measure.“ 204 Allerdings ist die – völkerrechtlich nicht unmittelbar bindende205 – Auffassung des Human Rights Committee nicht gänzlich unbestritten. Die Gegenansicht, die die Körperstrafe als zulässig erachtet, beruft sich auf die Klausel des Art. 1 der Anti-Folterkonvention (nachfolgend „CAT“ nach Convention Against Torture206). Dort wird Folter folgendermaßen definiert: „For the purposes of this Convention, the term ,torture‘ means any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally inflicted on a person for such purposes as obtaining from him or a third person information or a confession, punishing him for an act he or a third person has committed or is suspected of having committed, or intimidating or coercing him or a third person, or for any reason based on discrimination of any kind, when such pain or suffering is inflicted by or at the instigation of or with the consent or acquiescence of a public official or other person acting in an official capacity. It [the term „torture“; M. A.] does not include pain or suffering arising only from, inherent in or incidental to lawful sanctions.“ (Art. 1.1. CAT)
gleich Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Ebenso Art. 4 der Europäischen Grundrechtscharta. 203 Das Human Rights Committee ist ein UN-Vertragsorgan. Es begutachtet die periodisch erstatteten Berichte der Mitgliedsstaaten des CCPR. 204 UN Human Rights Committee, CCPR General Comment No. 20: Article 7 (1992), Nr. 5. 205 Nach allgemeiner Ansicht sind zwar Stellungnahmen des Human Rights Committee wie insgesamt die „General Comments“ von UN-Vertragskörpern völkerrechtlich nicht unmittelbar bindend. Aufgrund der eingerichteten Berichtsstruktur der Mitgliedsstaaten und der mittlerweile in Kraft getretenen Möglichkeit der Individualbeschwerde (Nach dem 1. Fakultativprotokoll zum CCPR) besteht jedoch eine zumindest mittelbare völkerrechtliche Verbindlichkeit. 206 Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, vom 10.12.1985, Generalversammlung der UNO, Resolution 39/46, in Kraft getreten am 26.6.1987.
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Wie sich aus der Ausschlussklausel am Ende der Norm ergebe, so die Gedankenführung der Gegenansicht, bewirke eine gesetzliche Positivierung der Körperstrafe im jeweiligen nationalen Recht, dass ein Konventionsverstoß ausscheide. Dieser Argumentation tritt nun etwa der UN-Sonderberichterstatter über Folter – mit Verweis auf übereinstimmende Rechtsansichten anderer Akteure des Völkerrechts – entgegen.207 Unter den „lawful sanctions“ i. S. d. Art. 1 CAT könnten nur solche verstanden werden, die von der internationalen Staatengemeinschaft als legitim akzeptiert seien, wie dies etwa für die Freiheitsstrafe gelte: „Deprivation of liberty, however unpleasant, as long as it comports with basic internationally accepted standards, such as those set forth in the United Nations Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners, is no doubt a lawful sanction.“ 208
Würde hingegen die bloße Billigung durch den nationalen Gesetzgeber hinreichen, um eine Strafform zu legitimieren, würde dies Tür und Tor für jede noch so grausame Strafe öffnen. Ungeachtet dessen, welche „lawful sanctions“ nun vom Folterbegriff ausgenommen seien, bestünde jedenfalls ohnehin zusätzlich das Verbot der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung (s. Art. 19 CAT).209 Folgen wir diesem Hinweis, müssen wir sodann weiterfragen, was nun mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe gemeint ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa kommt – bezogen auf den zu Art. 19 CAT bzw. Art. 7 CPPR vergleichbaren Art. 3 der Europäischen Menschrechtskonvention210 – nicht über die Feststellung hinaus, dass ein derartiges Verhalten schmerzend und erniedrigend sein muss. Jedenfalls müsse es aber über die schmerzhafte und erniedrigende Komponente, die bereits in der Freiheitsstrafe liege, hinauszugehen: „The Court has considered treatment to be ,inhuman‘ because, inter alia, it was premeditated, was applied for hours at a stretch and caused either actual bodily injury or intense physical or mental suffering. It has deemed treatment to be ,degrading‘ because it was such as to arouse in the victims feelings of fear, anguish and inferiority capable of humiliating and debasing them. On the other hand, the Court has consistently stressed that the suffering and humiliation involved must in any event go beyond that inevitable element of suffering or humiliation connected with a given form of legitimate treatment or punishment (. . .) Measures depriving a person of his 207 Report of the Special Rapporteur Nigel Rodley vom 10.1.1996, E/CN.4/1997/7, S. 7. Er verweist auf die General Comments des Human Rights Committee, die Abschaffung der Körperstrafe in den Trust Territories durch die UN-Vollversammlung, zudem auf die 3. und 4. Genfer Konvention. 208 Report of the Special Rapporteur Nigel Rodley vom 10.1.1996, E/CN.4/1997/7, S. 6. 209 Ebd. 210 „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Vgl. zum Element der Strafe genauer Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 3 EMRK, Rn. 92, auch zur Prügelstrafe (ebd. Rn. 94).
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
liberty may often involve such an element. Yet it cannot be said that the execution of detention on remand in itself raises an issue under Article 3 of the Convention.“ 211
Der Freiheitsentzug enthalte also oftmals ein „unvermeidbares Element von Leiden oder Erniedrigung“, dennoch handle es sich nicht um eine erniedrigende Bestrafung. Warum? Es deutet sich dieselbe Antwort an, wie sie der UN-Sonderberichterstatter gibt: Er ist als Sanktionsmittel „widely accepted as legitimate by the international community“; es ist ein Leiden, das mit einer Form der legitimen Bestrafung zusammenhängt. Der letzte Grund liegt, und das ist für das internationale Recht – und auch für das von uns für die Normativität gefundene Quelle – nicht erstaunlich, in der als legitim angesehenen Praxis der Staaten: longus usus und opinio iuris. Etabliert ist nun einmal die Praxis des Freiheitsentzugs, nicht so sehr die Praxis der Körperstrafe. In diesem Sinne könnte man folglich die Ansicht von Newman als insoweit abweichende und daher deplatzierte Ansicht abtun. Aber müsste man nicht gerade Gründe liefern, die über die Feststellung, dass eine Praxis etabliert ist, hinausreichen, also die Gründe explizit machen, warum man diese Praxis etabliert und nicht die andere? Zumindest dann, wenn der Dissentierende Gründe für sein Abweichen liefert. Hören wir uns folglich seine Gründe, sein Plädoyer für die Körperstrafe an. 2. Die verlorene Kunst des Strafschmerzes? Newman schlägt vor, dass eine Körperstrafe die Lücke zwischen Gefängnis und Bewährung schließen solle. Dies könne in Form eines gut kontrollierbaren elektrischen Schocks geschehen.212 Dadurch solle der Täter nicht die Nicht-Wiederholung seines Verhaltens lernen, sondern erkennen, dass ein Verbrechen reziproke Leidkosten auslöst,213 wobei auch Newman bemerkt, dass Lernen durch spiegelnde Strafe dem Lernen durch abschreckende Strafe konzeptuell so fern nicht steht.214 Die Körperstrafe will er – in einer Art Zweispurigkeit von Tatund Täterstrafrecht – für die Verbrechen vorbehalten; für die renitent Rückfälligen dagegen, die dann das Etikett des Verbrechers verdienten, fordert er hingegen sehr lange Gefängnisstrafen.215 Wegen der sonst drohenden Nähe zur Folter dürfe die Körperstrafe jedoch weder zur Besserung noch in irgendeinem Zusammenhang mit der Gefängnisstrafe angewendet werden.216 211 EGMR (Große Kammer) (Kudła/Polen), Beschwerde Nr. 30210/96, Urteil vom 26.10.2000 (= ECHR 2000-XI), Ziff. 92 f. 212 „[T]he preferred corporal punishment is that of electric shock because it can be scientifically controlled and calibrated.“ Für Gewaltverbrechen seien auch Strafen wie Auspeitschen zu überlegen. Newman, Just and Painful, 1983, S. 139. 213 Newman, Just and Painful, 1983, S. 140 („redemption“ statt „rehabilitation“). 214 Ebd., S. 136. 215 Ebd., S. 58 ff. 216 Ebd., S. 141.
V. Elektroschock
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Die Zufügung von Schmerzen spielt für Newman ausdrücklich die zentrale Rolle im Strafrecht: Die alte Kunstfertigkeit („art“), Strafe und Verbrechen aufeinander abzustimmen, sei verloren gegangen, indem die entscheidende Komponente für diese Übersetzungsleistung, nämlich der Schmerz, unter den Tisch fiel.217 Das propagierte Ideal einer gewaltfreien Gesellschaft sei aufzugeben. Diese führe in ihrer vorgeblichen Zivilisiertheit zu immer mehr symbolischen und abstrakten Strafen, welche unbrauchbar dafür seien, die bestehenden Retributionsbedürfnisse zu stillen.218 Die Umrechnung des Verbrechens in eine numerische Strafe gaukle durch ihre Abstraktion einen Rationalitätsgewinn gegenüber unkontrollierter Gewalt vor. Jedoch hätten die Zahlen – eigentlich als Begrenzung eingeführt – ein Eigenleben entwickelt und so zur Entgrenzung geführt.219 Die Gefängnisstrafe beruhige uns zwar mit ihrem abstrakteren, gewaltfreien Auftreten. Gleichzeitig entfremde sie uns aber vom Phänomen des Strafens: „When corporal punishment is used there will be no doubt about our feeling that punishment has been done, because everyone has at some time in their lives experienced such pain (whether at the dentist or at the hands of a parent). In contrast, very few have experienced the chronic pain of prison, so that there is the clear danger that we may be separated form such a punishment.“ 220
Die Strafe durch Elektroschock lasse in dieser Hinsicht keine Zweifel offen und sei auch sonst das ideale Sanktionsmittel: Ihr schlechter Ruf resultiere aus der historisch evozierten Assoziation mit Folter – eine Verquickung, die nicht zwangsläufig sei.221 Der Schmerz sei beim Elektroschock gerade (durch Ermittlung der individuellen Schmerztoleranz etc.) gut zu dosieren und zu messen, was insbesondere der Gefängnisstrafe gegenüber von Vorteil sei. Diese führt, so Nemwan, zwar auch zu Schmerz, jedoch nicht zu punktuellem, sondern zu chronischem und wirkt zudem noch nach der Haft – was sie schwer zu kontrollieren macht.222 Der Bestrafungsvorgang der Körperstrafe dauere dagegen nur kurze Zeit, sodass der Bestrafte sein privates und berufliches Leben sogleich fortsetzen könne. Die belastenden Wirkungen für Angehörige entfielen. Auch sei sie in besonderer Weise fair, da Vermögensunterschieden der Bestraften keine Bedeutung zukomme.223 Schließlich wendet sich Newman gegen Bedenken, es würde sich bei der vorgeschlagenen Körperstrafe um eine „cruel and unusual punishment“ handeln.224 217 218 219 220 221 222 223 224
sagt.
Ebd., S. 7. Ebd., S. 36. Ebd., S. 32 ff. Ebd., S. 37. Ebd., S. 28. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 41 ff. Ebd., S. 83 ff. Eine solche wird vom 8. Zusatzartikel zur US-Verfassung unter-
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
Auch dort arbeitet er mit einem Erst-recht-Schluss, leitet also aus der Zulässigkeit der Gefängnisstrafe diejenige der Körperstrafe ab: Auspeitschen sei als Disziplinarmaßnahme unter anderem deswegen gerichtlich untersagt worden, da es missbrauchsanfällig sei, die Wiedereingliederung behindere, Hass gegen den Bestrafenden erzeuge, und eine Grenzziehung zwischen noch zulässiger und einer unzulässigen Sanktionierung schwierig sei.225 In keiner dieser Hinsichten schneide nun die Gefängnisstrafe besser ab.226 Dies gelte auch für eine mögliche Einordnung als „grausam“ 227: Stuft man die Gefängnisstrafe als nicht grausam ein, so müsse dies für die Strafe durch Elektroschock umso eher gelten. Denn jene erzeuge bei Weitem die nachhaltigeren Schäden und sei auch in ihrer Reichweite die problematischere: „It [the prison as a punishment; M. A.] constitutes the abuse of individuals through the brutality of prison violence, through neglect, through harsh diet, and mental torture. Most important of all, it constitutes the complete and utter control over the prisoner’s life and liberty; his body is controlled every minute of the day by prison routine, overcrowding, guards and rules, inmate subcultures, inmate economics, and the many other well known attributes of prison life. The notion of prison ,subculture‘ is what is important. It implies, ultimately, that the prisoner comes to think like a prisoner, that his mind – soul if you will – is completely and utterly taken over and penalized. We penalize his mind and body. This is the total and complete punishment of prison. It is a punishment that goes beyond mere corporal punishment, even those that are bloody.“ 228
Damit sieht Newman die Körperstrafe als legitimiert an. Was bringt nun dieses – für unsere Ohren wohl krude – Plädoyer für die Körperstrafe? Es fordert dazu auf, Gegengründe zu benennen. Wenn man es für zulässig erachtet, den Rechtsadressaten künstliche Klugheitsgründe in Aussicht zu stellen, muss man sich hier fragen, was man gegen die Überlegung der Strafe durch Elektroschock vorbringen kann. Wäre nicht die Androhung einer medizinisch kontrollierten Körperstrafe ein hervorragender Klugheitsgrund – und auch angesichts der geringeren Belastungen für den Staatshaushalt und das Umfeld des Verurteilten attraktiv? Man mag eine starke Intuition gegen die Körperstrafe in Anschlag bringen. Diese dürfte mit dem Unbehagen zusammenhängen, jemanden sehenden Auges unmittelbare Schmerzen zuzufügen. Man denke nur an Kafkas schauerliche Schilderung der Bestrafungsmaschine, die dem Verurteilten das Urteil, genauer: die Schriftform des Gebots, das er übertreten hat, am eigenen Leibe spüren lässt: 225
Jackson v. Bishop, 404 F.2d 571, 579 (8th Cir. 1968). Newman, Just and Painful, 1983, S. 89 f. 227 Newman erwähnt zwar das Kriterium, dass die Gesellschaft nicht die Sanktionsform ablehnen dürfe. Dieses Kriterium wurde auch von Furman v. Georgia, 408 U.S. 238, 282 (1972) als für die Frage „cruel and unusual“ angeführt. Für Newman stellt dies angesichts der Praxis der Züchtigung in Schulen und in der Kindererziehung keine Hürde dar, Newman, Just and Painful, 1983, S. 90. 228 Ebd., S. 93 (H.i.O.), mit Blick auf Foucault, Überwachen und Strafen (1975), 1994. 226
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„Begreifen Sie den Vorgang? Die Egge fängt zu schreiben an; ist sie mit der ersten Anlage der Schrift auf dem Rücken des Mannes fertig, rollt die Watteschicht und wälzt den Körper langsam auf die Seite, um der Egge neuen Raum zu bieten. (. . .). So schreibt sie immer tiefer die zwölf Stunden lang. Die ersten sechs Stunden lebt der Verurteilte fast wie früher, er leidet nur Schmerzen. Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt, denn der Mann hat keine Kraft zum Schreien mehr. (. . .) Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung.“ 229
Wenn man diese Intuition als stichhaltigen Faktor ansieht, so dürfte einiges dafür sprechen, dass sie tendenziell auch bei der Gefängnisstrafe aufkommen würde und bei ihr nur deswegen versagt, weil die Schmerzzufügung verschleiert auftritt. Es mag daher naheliegen, Newman zu folgen und tatsächlich eine parallele Beurteilung von Körper- und Gefängnisstrafe in Betracht zu ziehen. Anders als Newman meint, scheint es jedoch überzeugender, die Uneinheitlichkeit der Beurteilung in die andere Richtung aufzulösen: Sprechen nicht alle Gründe, die wir gegen die Körperstrafe haben, gleichermaßen gegen die Freiheitsstrafe? Warum sollte eine Körperstrafe per Elektroschock grausam sein, eine langjährige Haftstrafe mit allen – trotz medizinischer Begleitung nicht verhinderbaren – deprivierenden Folgen dagegen nicht. Oder schärfer: Sind wir in unserer Opposition zur Körperstrafe überhaupt nur glaubwürdig, wenn wir die der Ablehnung unterliegenden Gründe auch gegen die Freiheitsstrafe in Anschlag bringen? Oder ist es unproblematisch, etwa Saudi-Arabien lediglich darauf hinzuweisen,230 dass die Gefängnisstrafe etablierte Praxis, die Körperstrafe hingegen nicht-etablierte Praxis ist. Wenn ja, dann bliebe nur noch longus usus und opinio – ohne juris. Aber haben wir, so könnte man einwenden, nicht oben herausgefunden, dass Normativität letztlich auf einer sanktionalen Praxis beruht?231 Muss es dann nicht mit Sanktionseinstellungen, mit Meinungen des Für-berechtigt/nicht-be229 Kafka, In der Strafkolonie, in: Die Erzählungen, 12. Aufl. 2014, S. 175 f.; darauf verweist in anderem Zusammenhang Golash, The Case Against Punishment, 2005, S. 124 Fn. 10. 230 Vgl. etwa: Committee against Torture, Concluding observations on the second periodic report of Saudi Arabia, CAT/C/SAU/CO/2, vom 8.6.2016, Nr. 11: „The State party should immediately put an end to the practices of flogging/lashing, amputation of limbs and any other form of corporal punishment. In addition, the State party should amend its legislation in order to abolish all such forms of corporal punishment as they amount to torture and cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, in violation of the Convention [CAT].“ 231 s. o. C. II. 4.
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rechtigt-Haltens, anfangen? Tatsächlich sind unsere Gründe gemachte Gründe. Aber sie sind gemacht durch eine Praxis der wechselseitigen Sanktionierung, was bedeutet, dass die Sanktionshaltungen sanktioniert werden können. Die materialen Inferenzen, also die in unserer deontischen Kontoführung angewandten Schlussfolgerungen, lassen sich explizieren, und somit kritisieren. Zwar biegt sich irgendwann der Spaten zurück, und es enden die Begründungen: „So handle ich eben“.232 Doch darf man das Spiel der Begründungen auch nicht zu früh abbrechen. Dann nämlich schlägt Spiel der Gründe in reine Machtausübung um: „So ist das eben bei uns“. Wir sind also gehalten, das Fragen nach Gründen auszuhalten. Wir dürfen bei der gefühlten Aversion gegen die Körperstrafe nicht einfach abbrechen. Und wir können hier eine Begründung finden. Die Begründung dafür, dass wir es als keinen akzeptablen Umgang ansehen, wenn wir uns intentional Schmerzen zufügen, ist: weil ein derartiger Umgang uns nicht gemäß den uns verfügbaren Fähigkeiten behandelt, nämlich der Fähigkeit, kommunikative und normative Akteure zu sein. Das fehlende Argument gegen Newmans Körperstrafe liegt also darin, dass wir nicht mit Klugheitsgründen arbeiten sollten: Beide Sanktionsformen, die Freiheitsstrafe und die Gefängnisstrafe, werden dem Anspruch nicht gerecht, den Täterin als normative Akteurin zu adressieren und nach Wegen zu suchen, wie diejenige von Neuem als glaubwürdiger Kontoführerin erachtet werden kann. Beide Sanktionsformen zielen nicht auf das Vertrauen, die Verurteilte werde den Gründen folgen, sondern rechnen mit der Angst und Aversion, die die künstlichen Gründe bei ihr auslösen.233
VI. Stellung des Verletzten in der Straftheorie Das Konzept der Klugheitsgründe kann auch noch auf eine weitere Weise infrage gestellt werden. Dies hat mit der Stellung des Verletzten in der Straftheorie zu tun.
232 „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt, zu sagen: ,So handle ich eben.‘“, Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), 2011, S. 139 f. (Nr. 217). Aber kurz darauf: „,So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?‘ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“ Ebd., S. 145 (Nr. 241) (H. i. O.). 233 Zur autonomieversagenden Vorstellung der Programmierbarkeit anderer Menschen via Aversions- oder Verstärkungstherapie und zur Idee des Lernens von rechtlichen Normen durch Entdeckung vgl. Fabricius, Die Freiheit 2*2 = 5 zu rechnen, in: Gruber/Bung/Ziemann, Autonome Automaten, 2. Aufl. 2015, S. 33 ff.
VI. Stellung des Verletzten in der Straftheorie
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Man kann sich das Argument folgendermaßen klarmachen: Die Strafe infolge der Missachtung von Klugheitsgründen durch den Täter dient nach diesem Konzept dazu, die abschreckende Wirkung der Klugheitsgründe zu erhalten, indem durch die tatsächliche Verhängung der Strafe vermieden wird, dass die Klugheitsgründe sich als leere Drohung erweisen. Sollte jedoch der gerade durch die konkrete Tat Verletzte, das aktuale Opfer, im Fokus der Straftheorie stehen, dann lässt das die Legitimationsidee der Klugheitsgründe in einer weiteren Hinsicht fragwürdig erscheinen. Denn die Aufmerksamkeit einer derartigen Straftheorie dürfte dann nicht bei der Aufrechterhaltung der Wirksamkeit der Drohung zugunsten künftiger, potenzieller Opfer und Situationen liegen, sondern bei der Verarbeitung des tatsächlich geschehenen Delikts. Es wäre dann plausibler, das Sanktionsgeschehen umgekehrt zu begreifen: Die adäquate Behandlung des aktualen Delikts lässt eine Praxis entstehen, die – gewissermaßen als Reflex – auch eine abschreckende Wirkung entfaltet. Die Losung wäre dann nicht: „Die (künstlich erzeugte) Abschreckung schafft einen angemessenen Umgang“, sondern: „Der Umgang (wenn er angemessen ist) schafft Abschreckung.“ Dass der Verletzte im Zentrum straftheoretischer Überlegung steht, ist – trotz der zu konstatierenden strafrechtlichen Hinwendung zum Opfer234 – alles andere als eine etablierte Ansicht. Fraglich erscheint dies bereits durch die gängige Zuteilung des Strafrechts zum Bereich des öffentlichen Rechts, die ein Verständnis des Verbrechens als vertikaler Konflikt nahelegt, nämlich als ein Auflehnen des Einzelnen gegen die Rechtsordnung, der er untersteht, die Vorstellung also, dass Strafrecht den Angriff auf das Recht als Recht als einer Entität höherer Ordnung sanktioniere. Ich will dagegen im Folgenden die Vorstellung starkmachen, dass auch das Strafrecht mit der Behandlung eines horizontalen Konflikts, der Verletzung des Opfers, befasst ist, dessen reaktive Einstellung am Grunde des Strafrechts liegt – die Verletzung des Opfers somit für die Reaktion Grund und nicht nur Anlass ist. Dadurch soll keineswegs die Differenz bestritten werden, die das Strafrecht von den klassisch als horizontal verstandenen Konflikten, nämlich den zwischen privatrechtlichen Akteuren, abhebt. Das Proprium des Strafrechts, so der Vorschlag, liegt darin, dass es sich beim Strafrecht um einen horizontalen Konflikt handelt, der auch die übrigen Akteure der Rechtsgemeinschaft interessiert: Der Strafgrund liegt in der Anerkennungsverletzung gegenüber dem Verletzen, welche von den übrigen Akteuren für so gravierend gehalten wird, dass sie einer allgemeinen Stellungnahme und Reaktion bedarf. Aus diesen Andeutungen ergibt sich, dass die Stellung des Opfers aus mindestens drei Gründen für unsere straftheoretische Überlegung relevant ist: Stünde die Behandlung des aktualen horizontalen Konflikts im theoretischen Zentrum, dann 234 Vgl. den prägnanten Abriss über die Opferzuwendung bei Barton/Kölbel, Einführung in den Band, in: dies., Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 11 ff.
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
wäre erstens – entgegen dem Konzept der Klugheitsgründe – deutlich, dass es nicht um die Aufrechterhaltung der Wirksamkeit der gescheiterten Androhung von Klugheitsgründen geht (i). Zweitens brächte diese Vorstellung den Gedanken in Bedrängnis, dass sich die intentionale Übelszufügung als qualitativ besondere Reaktion dadurch rechtfertige, dass der Täter das Recht als Recht angreife. Das strafrechtliche Delikt wäre vielmehr ein horizontaler Konflikt, dessen Besonderheit darin besteht, dass es nach Solidarisierung durch die anderen, unbeteiligten Akteure verlangt (ii). Und drittens dürfte die Überlegung bei der Suche danach helfen, wie der Täter seine Glaubwürdigkeit als normativer Kontoführer wiedererlangen kann. Eine Antwort darauf setzt nämlich Klarheit darüber voraus, was der Grund der Strafe, also der Grund dafür ist, dass an seiner Glaubwürdigkeit als Kontoführer gezweifelt wird (iii). Um einen Weg vorzuschlagen, wie auch das Strafrecht als wesentlich mit einem horizontalen Konflikt befasst verstanden werden könnte, will ich auf Entwicklungen eingehen, die eine Aufwertung des Status des Opfers nahelegen, und untersuchen, wo überhaupt die Ursachen für die Ausklammerung des Opfers zu suchen sind. Zuvor will ich aufzeigen, worum es bei der Einbeziehung des Opfers nicht geht. 1. Nicht: Opfer im Strafprozess Bevor wir uns mit der straftheoretischen Überlegung beschäftigen, ist nämlich – auch um eine fast reflexhafte Abwehrhaltung zu verhindern – als Klarstellung wichtig, dass es sich hier nicht um die verminte Frage geht, ob dem Opfer eine stärkere Stellung im Strafverfahren einzuräumen ist.235 Hiergegen werden teilweise erhebliche Vorbehalte geltend gemacht. So werden hinter dem Begriff des Opfers, das doch zunächst einmal das nur mutmaßliche Opfer ist, politische Kampfbegriffe und regressive Rachebedürfnisse vermutet. Eine erweiterte Einbeziehung des Verletzten, so die Befürchtung, lasse unreflektierte Genugtuungsbedürfnisse in die rationale justizielle Analyse eindringen. Die immer weiter, bis zur „Entfesselung“ 236 vorangetriebene Ausweitung des Instituts der Nebenklage drohe die Neutralisierung des Opfers rückgängig zu machen, welche eine für die sachliche Verbrechensaufarbeitung unerlässliche Errungenschaft darstelle. Inwieweit solche Besorgnisse berechtigt sind, kann hier offenbleiben, wenn man sich klarmacht, dass die Frage, ob das Opfer bezogen auf die Konstruktion des Strafgrundes eine Rolle spielt, mit der Frage nach seinen Beteiligungsrechten im 235 Vgl. etwa Rieß, Entwicklungstendenzen in der deutschen Strafprozessgesetzgebung seit 1950, ZIS 2009, S. 476 f.; Schünemann, Risse im Fundament, Flammen im Gebälk: Die Strafprozessordnung nach 130 Jahren, ZIS 2009, S. 492 f.; m.w. N. zur Diskussion Barton, Strafrechtspflege und Kriminalpolitik in der viktimären Gesellschaft, in: Barton/Kölbel, Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, insbes. S. 117 ff. und 125 f.; vgl. auch im selben Band Weigend, Internationale Entwicklungen bei der Stellung des Verletzten im Strafverfahren, S. 29 ff. 236 Bung, Zweites Opferrechtsreformgesetz, StV 2009, S. 434.
VI. Stellung des Verletzten in der Straftheorie
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Strafprozess in keinem zwingenden Ableitungszusammenhang steht, also nicht jede straftheoretische Aufwertung mit einer prozessrechtlichen einhergehen muss.237 Verquickt man die Fragen, besteht vielmehr die Gefahr, in angeklagten-freundlicher Manier zu meinen, man würde, um den Verletzten weitgehend aus dem Strafprozess herauszuhalten, eine opferfreie Straftheorie benötigen. Durch eine solche Sicht stützt man allerdings straftheoretische Überlegungen, die die strafrechtliche Ausklammerung des Opfers in effectu gerade als Legitimation für die Schmerzzufügung heranziehen. Deren Überlegung geht nämlich in etwa so: Wenn die strafrechtliche Reaktion augenscheinlich nicht wesentlich mit der Opferverletzung befasst ist, folgt daraus, dass die Strafe über eine intersubjektive Reaktion hinausgehen muss – und dieser genuin strafrechtliche Reaktionsmodus findet sich im Strafschmerz. Die Ausklammerung des Opfers, die dem Angeklagten wohlmeinend vorgetragen wird, wird dann als Begründung dafür eingesetzt, dass dem Täter Strafschmerz zuzufügen ist. 2. Opfer in der Straftheorie Wenn man sich also unbefangen der Frage nach der konstruktiven Stellung des Opfers zu nähern versucht, ist – abgesehen von abolitionistischen Tendenzen238 – eine bis vor Kurzem weitgehend stiefmütterliche Behandlung in der Straftheorie festzustellen.239 Primär geht es den straftheoretischen Ansätzen um die Einwirkung auf den potenziellen und aktualen Täter oder die Vergeltung der Tatschuld, wohingegen das Opfer häufig keine legitimatorische Stellung erhält. Am ehesten könnte man noch bei der Resozialisierung über das Thema der Wiedergutmachung ein Interesse am Opfer erkennen. Nur wird die Resozialisierung zumeist nicht als Rechtfertigung des Strafschmerzes – dies zu Recht, da sie eben keine intentionale Übelszufügung rechtfertigt –, sondern nur als das den Vollzug der Strafe bestimmende Prinzip angesehen.240 237 Vgl. auch Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 40 f. (= 2. Aufl. 2017, S. 41): Die stärkere Berücksichtigung der Opferkommunikation sei nicht zwangsläufig mit einer Stärkung der Mitspracherechte des Opfers verbunden. Der Staat spreche vielmehr gleich einem „Treuhänder[]“ das Urteil auch im Interesse des Verletzten aus. 238 Statt aller Christie, Conflicts as Property, The British Journal of Criminology, 17 (1977), S. 7 ff. 239 In letzter Zeit erhält der Verletzte jedoch eine größere Aufmerksamkeit, vgl. statt aller Reemtsma, Das Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters – als Problem, 1999; Prittwitz, Opferlose Straftheorien?, in: Schünemann/Dubber, Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 55 ff.; Weigend, „Die Strafe für das Opfer?“ – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, RW 1 (2010), S. 39 ff.; vgl. auch die umfassenden Nachweise bei Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 190 f. 240 So z. B. Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 23 (= 2. Aufl. 2017, S. 25).; Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 1963, S. 80.
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
Gerade einige derjenigen Theorien, die wir oben untersucht haben, wollen jedoch dem Opfer einen größeren Stellenwert zuweisen. Augenscheinlich wurde dies bei der Konzeption von Hörnle, die die Strafe wesentlich auch als Solidarisierung mit dem Opfer verstanden wissen will,241 sowie bei Hampton, die die Strafe gerade damit begründete, dass sie die falsche Aussage des Täters über den Wert des Opfers richtigstellt. Auch der Ansatz von Tadros ist konstruktiv opferbezogen: Die aus der Notwehr hergeleitete Pflicht des Täters, sich als Schutzschild instrumentalisieren zu lassen, besteht originär242 gegenüber dem aktualen Opfer.243 Nicht nur diese Ansätze deuten auf eine verstärkte Berücksichtigung der Rolle des Verletzten hin – auch durch das Bundesverfassungsgericht wurde dessen Stellung, wie ich im Folgenden zeigen will, aufgewertet. 3. Strafrecht des Opfers – Anspruch des Opfers auf Bestrafung War bislang klar, dass das Klageerzwingungsverfahren nach § 172 StPO zwar dem Verletzten ermöglicht, in gewissen Grenzen eine strafrechtliche Verfolgung entgegen der Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft zu erwirken, so herrscht doch die Ansicht vor, dass es sich dabei nicht um ein subjektiv-öffentliches Recht des Opfers auf Strafverfolgung, sondern vielmehr um einen „Rechtsreflex[ ]“ 244 aus der vom Staat betriebenen Strafverfolgung handelt:245 Die Strafverfolgung diene nicht der Wahrung individueller Belange des Verletzten, sondern der effektiven Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden durch die Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung. Von diesem Verständnis abweichend betont neuerdings das Bundesverfassungsgericht,246 dass ein Anspruch des Verletzten auf Strafverfolgung,247 wenn 241 Im Grundsatz zustimmend Roxin, Prevention, Censure and Responsibility: The Recent Debate on the Purposes of Punishment, in: Simester u. a., Hirsch-FS, 2014, S. 39 ff. 242 Erst anschließend wird sie in eine Pflicht gegenüber der Allgemeinheit umgewandelt, s. o. B. VII. 2. 243 In gewisser Weise findet sich eine Opferberücksichtigung auch in Jakobs’ Theorie. Dort liegt der Grund der Übelszufügung im erschütterten Sicherheitsgefühl der potenziellen Opfer. 244 Vgl. dazu Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 109 m.w. N. Zum Begriff des Reflexrechts und zu dessen Unterscheidung vom subjektiven Recht s. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 69 ff. 245 Schmid, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, § 172 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 172 Rn. 1. Wohl bereits Legalitätsprinzip und Verletztenschutz gleichrangig betrachtend, Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 344. 246 Zunächst BVerfG, Beschl. vom 26.6.2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8 ff. Vgl. auch schon BVerfG, Beschl. vom 4.2.2010 – 2 BvR 2307/06, Rn. 19. Es wird jeweils (z. B. ebd., Rn. 20) auf die Rechtsprechung des EGMR, u. a. auf EGMR (McCann u. a./Vereinigtes Königreich), Urteil vom 27.9.1995, Serie A Band 324, Bezug genommen. Bestätigt wurde die Ansicht in BVerfG NJW 2015, S. 150 ff. 247 Kritisch dazu M. Sachs, Grundrechte: Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung des Täters, JuS 2015, S. 377: Das Gericht lasse unerklärt, weshalb das Interesse der
VI. Stellung des Verletzten in der Straftheorie
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auch nicht im Grundsatz, so doch unter gewissen Voraussetzungen besteht.248 Zwar entstammen die relevanten Beschlüsse einem Kontext von möglichen Straftaten staatsnaher Akteure. Der Anspruch auf Strafverfolgung soll dort der Gefahr – und auch dem bloßen Eindruck – einer zurückhaltenden Verfolgung durch die Ermittlungsbehörden vorbeugen. Gleichwohl nimmt das Gericht dies zum Anlass, einen allgemeinen Anspruch auf Strafverfolgung bei erheblichen Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter zu entwickeln: Die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen sei die Konkretisierung der aus dem Grundgesetz hergeleiteten249 staatlichen Schutzpflicht250.251 Insofern bestehe dort ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung, „wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann.“ 252
Die Pflicht zur effektiven Strafverfolgung soll gewährleisten, dass die Strafvorschriften, die zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassen wurden, „wirksame Anwendung“ finden.253 Insoweit ist laut dem 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts notwendig, dass Straftäter für die von ihnen begangenen Taten auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden.254 Daraus resultiert zwar kein Anspruch auf die Erhebung einer strafrechtlichen Anklage, jedoch ergibt sich ein Anspruch darauf, dass die Strafverfolgungsbehörden in angemessener Weise Ressourcen einsetzen, um den Sachverhalt auszuermitteln.255 Allgemeinheit an der Bewahrung des Vertrauens in das staatliche Gewaltmonopol nicht nur die objektive staatliche Schutzpflicht, sondern einen subjektiven Schutzanspruch auslöse. 248 Für ein subjektiv-rechtliches Verständnis des Klageerzwingungsverfahrens argumentiert überzeugend Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 138 ff. Vgl. auch Giehring, Das Recht des Verletzten auf Strafverfolgung und dessen Bedeutung für das Ermittlungsverfahren, in: Rotsch/Brüning/Schady, Ostendorf-FS, 2015, S. 353 ff. 249 Nämlich hergeleitet aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. 250 Das Bundesverfassungsgericht leitet unmittelbar aus den Grundrechten die Aufgabe des Staates her, den einzelnen Staatsbürger vor Übergriffen Dritter zu schützen, vgl. zu dieser Schutzpflichtenlehre BVerfGE 39, 1, 42; BVerfGE 121, 317, 356. 251 BVerfG, Beschl. vom 26.6.2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 10. 252 Ebd. 253 Ebd., Rn. 12. 254 Ebd. 255 Ebd., Rn. 14. Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird affirmativ betont von Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 41 f.: Die Schutzpflicht wandle sich in eine Pflicht zu Ermittlung und Feststellung des Unrechts um.
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C. Strafen ohne Schmerzzufügung
Strafverfolgung und Bestrafung sind nicht identisch – und offensichtlich geht es bei dem entwickelten Konstrukt um einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung. Jedoch zielt eine effektive Strafverfolgung auf die Bestrafung. Insofern lässt sich davon sprechen, dass der tatsächlich Verletzte einen bedingten Anspruch auf Bestrafung hat, wobei die Bedingung darin besteht, dass die Tat mit angemessenen Ressourceneinsatz aufklärbar ist. Freilich erfolgt die Herleitung des Anspruches auf effektive Strafverfolgung über die Schutzpflichtenüberlegung, gründet demnach nicht auf Bestrafungsrechten des Opfers, sondern seinem Anspruch auf Schutz. Von noch Weitergehendem, also einem Strafrecht des Verletzten,256 welches der Staat für ihn stellvertretend durchsetzen würde, ist offenkundig nicht die Rede. Jedoch wäre das gedankliche Strecken, das man hier benötigte, nicht allzu weit: Wenn sich das Bundesverfassungsgericht auf das „Vertrauen in das Gewaltmonopol des Staates“ bezieht, das bei fehlender effektiver Strafverfolgung erschüttert wäre,257 so kann man darin, wenn man den Gedanken vertragstheoretisch interpretiert, ein ursprüngliches vorstaatliches „Reaktionsrecht“ des Verletzen entdecken: Der Einzelne sieht deswegen von eigenständigen individuellen Reaktionsmaßnahmen (Selbstjustiz) ab, weil er auf das Gewaltmonopol vertraut, das heißt darauf, dass der Staat effektiv seiner durch den Gesellschaftsvertrag begründeten Pflicht nachkommt, sich schützend vor die in Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz genannten Rechtsgüter zu stellen und diese insbesondere vor gewaltsamen Eingriffen zu bewahren. Der besagte Verzicht auf Reaktion erfolgt also unter der Voraussetzung, dass der Staat seine Schutzpflicht erfüllt. Sinn ergibt eine solche Überlegung – zur Begründung des staatlichen Gewaltmonopols und der Pflicht zur effektiven Strafverfolgung – nur dann, wenn man im Grundsatz eine vor-staatliche „Reaktionsberechtigung“ 258 des Verletzten, auf die dieser dann das Gewaltmonopol begründend verzichtet, annimmt. Eine solche spekulative Ableitung des staatlichen Strafrechts aus den Strafrechten der Einzelnen wäre mit der Überlegung von 256 Vgl. zum Gedanken eines Strafanspruch des Opfers im Völkerstrafrecht, mit der Warnung vor einer Destabilisierung der internationalen Rechtsgemeinschaft, Werkmeister, Straftheorien im Völkerstrafrecht, 2015, S. 343 f. 257 Dies ist auch der Ansatzpunkt für die Herleitung des subjektiven öffentlichen Rechts auf die Feststellung des Normbruches bei Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007. Das subjektive öffentliche Recht des realen Opfers ergebe sich zwar einerseits aus der jeweiligen individualrechtsschützenden Strafrechtsnorm, die dem grundrechtlichen Anspruch auf „objektive Sicherheit“ des aktualen Opfers diene (ebd., S. 119 f.). Anderseits liege sie aber im berechtigten Interesse des Opfers an „subjektiven Sicherheit“ (ebd., S. 122 ff.) begründet: Dem konkret Verletzten werde „durch den Schuldspruch Sicherheit in subjektiver Hinsicht gewährleistet, das Vertrauen in die Integrität seines Rechtsguts zurückgegeben und ihm damit für die Zukunft wieder soziale Orientierung ermöglicht“ (ebd., S. 199). 258 Man müsste hier freilich begründen, warum es nicht nur um eine faktische Reaktionsbeanspruchung, sondern eine Reaktionsberechtigung handelt. Das wirft uns auf die Frage der Begründung von Normativität zurück (s. o. C. II. 4.).
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Locke vereinbar,259 der eben das Strafrecht aus dem Verzicht der individuellen Strafberechtigungen der Einzelnen herleitet. So weit muss man freilich nicht gehen, um festzustellen, dass der Verletzte in seiner Rechtsstellung auch von verfassungsgerichtlicher Seite her eine Aufwertung erfahren hat. Der eingeräumte Anspruch auf effektive Strafverfolgung zeigt, dass der Verletzte nicht nur Nutznießer, sondern primäres Schutzobjekt der „wirksame[n] Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften“,260 also der strafrechtlichen Sanktionierung ist. Bevor wir nun eine adäquatere Stellung des Opfers entwickeln, ist es hilfreich zu sehen, wie sich die Ausklammerung des Opfers aus der Straftheorie erklärt. 4. Zur Neutralisierung des Opfers – Zwei Narrative Für den Ausschluss des Opfers aus dem Strafrecht, also dem Dogma der Trennung zwischen Zivil- und Strafrecht, lassen sich mehrere Narrative entwickeln. Besonders überzeugend erscheinen mir eine historische und eine rechtstheoretische Erklärung, die ich im Anschluss an Amr Sarhan261 skizzieren will. Sie handeln beide davon, dass das Strafrecht mit einem vertikalen Konflikt zwischen Staat und dem Täter befasst ist, wodurch die horizontale Konfliktlage, also die zwischen Täter und Opfer, abgetrennt und dem Zivilrecht zugewiesen wird. Die historische Erzählung vom Wandel in der Auffassung vom Verbrechen und dessen Verarbeitung geht holzschnittartig so:262 Im germanischen Recht habe die Bewältigung des Konflikts in der Hand der Opfer beziehungsweise der geschädigten Sippe gelegen, nämlich in der Befugnis zur Rache, welche durch Sühneleistungen abgelöst werden konnte: Es geht folglich nicht um die Aussöhnung mit der Gemeinschaft, sondern den Friedensschluss zwischen den Konfliktparteien. Auch die Fortentwicklung dieser Buße im Kompositionensystem der fränkischen Zeit sei noch vornehmlich horizontal zu verstehen: Die Geldleistung sollte nicht nur Entschädigung im engeren Sinne sein, sondern darüber hinausgehend Genugtuung bieten, um die angegriffene Partei dazu zu bringen, von Rachehandlungen abzusehen. Wenn auch die Sühnevereinbarungen – u. a. aus fiskalischen Gründen („Friedensgeld“) – unter königliche Aufsicht kamen, sei der Konflikt weiterhin im Wesentlichen horizontal verstanden worden. Ein erster vertikaler Einschlag habe sich aus der königlichen Exilisierungsbefugnis ergeben, die gegenüber demjenigen bestand, der sich der Sühneleistung 259
s. o. C. II. 6., wobei dieser sogar ein universales Strafrecht der Akteure annimmt. BVerfG, Beschl. vom 26.6.2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 12. 261 Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006. 262 Das Folgende ist eine stark verkürzte Nachzeichnung von Sarhan, ebd., S. 53–65. 260
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widersetzte. Als im Mittelalter Konzepte von Landfrieden und Gottesfrieden aufkamen, um die ritterliche Fehde mit ihren friedensstörenden Auswüchsen zurückzudrängen, habe sich dann die Vorstellung etabliert, dass sich die einzelne Tat auch gegen Bemühungen um die Friedenseinigung im Ganzen richtet. Als deutlichstes Anzeichen für ein nunmehr zentral vertikales Konfliktverständnis und zugleich den Entstehungspunkt des „Trennungsdogmas“, also die Aufspaltung in einen vertikales (Einzelner/Staat) und horizontales (Täter/Opfer) Element, betrachtet Sarhan263 dann das Aufkommen des Inquisitionsprozesses: Die Landesherren beanspruchten im Spätmittelalter die Befugnis zur Verbrechensbekämpfung. War der private Sühnevertrag bis dahin ein Prozesshindernis, ist er nunmehr lediglich Grund zur Strafmilderung.264 Im aufgeklärten Absolutismus wird der vertikale Tatkonflikt schließlich – stimmig zum Herrschaftsverständnis – völlig in den Vordergrund gerückt. Die Genugtuungsinteressen der Opfer stießen unter der aufgeklärten Rationalität auf Misstrauen, die am Gesellschaftszweck orientierten Präventionsideen zielten auf künftige Verbrechensvermeidung und schlossen somit das aktuale Opfer weiter aus. Auf eine detaillierte Analyse265 kommt es mir hier nicht an: Erkennbar werden sollte die Tendenz, dass insbesondere machtpolitische und fiskalische Interessen dazu führten, dass die (vor)staatliche Zentralgewalt die Konfliktregelung an sich zog und so die Interessen des Verletzten verdrängte. Die Tat wird als Angriff auf das Ganze gesehen.266 Rechtstheoretisch führt Sarhan die Abtrennung des Opfers aus dem Strafrecht auf Binding und Hegel zurück.267 Auf der Rechtsfolgenseite ergibt sie sich aus der unterschiedlichen Zweckbestimmung von Zivilrecht und Strafrecht, nämlich Ausgleich und Übelszufügung: „Die Strafe soll eine Wunde schlagen, der Schadensersatz eine andere heilen [.]“ 268 Auf der Ebene der Voraussetzungen, also der Frage nach der Materie, mit der sich das jeweilige Rechtgebiet befasst, sieht Sar263
Ebd., S. 62 m.w. N. Daneben war allerdings das Wergeld noch lange als Privatstrafe bedeutsam, so ebd., S. 62 f. 265 Vgl. etwa Lüderssen, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 38 ff. 266 Siehe dazu kritisch, auch zur Rolle des Staates bei der Konfliktregulierung insgesamt, Scheerer, Die soziale Aufgabe des Strafrechts, in: Peters, Muss Strafe sein?, 1993, S. 87 ff.; zur Entwicklung des Strafrechts vom Mittel sozialer Konfliktverarbeitung zum politischen Werkzeug Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532– 1846, 2002, S. 74 f. 267 So Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006, S. 22; s. zur Genese dieser Trennung im 19 Jhdt. auch Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987, S. 29 ff. 268 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Band 1: Normen und Strafgesetze (4. Aufl. 1922), 1965, S. 288. 264
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han als rechtstheoretische Erklärung für die Trennung von Zivil- und Strafrecht paradigmatisch Hegels Überlegungen an: Die Tat wird als Auflehnung gegen das Allgemeine interpretiert, also als genuin vertikaler Konflikt des Täters mit der „höheren Idee“. Das Täterverhalten wird als universal relevantes verstanden („Täter stellt ein Gesetz auf“), wohingegen die Opferverletzung als Singuläres, als bloß materieller Verlauf erscheint.269 Die historischen und rechtstheoretischen Andeutungen bilden insgesamt eine nachvollziehbare Hypothese für die Entwicklung, den Tatkonflikt vornehmlich als vertikal zu verstehen, das Opfer aus dem Strafrecht auszuklammern. Dies könnte man nun kritisch betrachten, indem man etwa die geschichtliche Entwicklung tatsächlich als Konfliktenteignung bewertet,270 die Unterscheidung auf der Ebene der Rechtsfolgen als bloß postuliertes Dogma ansieht. Zwar, so könnte man – in Bezug auf die Voraussetzungsebene – argumentieren, leuchtet die Vorstellung Hegels in gewisser Weise durchaus ein, dass es sich beim Verbrechen, im Kontrast zum zivilrechtlichen Unrecht, um einen Angriff auf das Recht als solches handelt. Fragen aber könnte man, ob sich der Gedanke nicht auch auf eine Weise verständlich machen lässt, die nicht voraussetzt, das Opfer aus dem Strafrecht zu verbannen. Lüderssen etwa veranlasst die Analyse der Ausklammerung des Opfers zugunsten der Verletzung der Allgemeinheit zu der These, dass nunmehr – nachdem unter „Allgemeinheit“ nicht mehr die Herrschaftsinteressen, sondern die Interessen der einzelnen Bürger verstanden werden könnten – die Belange der Einzelnen bei der strafrechtlichen Verarbeitung verstärkt zu berücksichtigen seien.271 Sarhan überprüft, ob sich mit der Genugtuungsentschädigung im Zivilrecht272 und der Wiedergutmachung im Strafrecht nicht schon Aufweichungen der strikten Trennung zu erkennen seien. Er kommt zum Ergebnis, dass 269 Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006, S. 29 f., genauer, auch mit Hinweis auf die aktuelle Strafrechtsdogmatik, S. 26 ff. 270 Siehe zur Deutung der Konfliktenteignung Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe. Eine neue Straftheorie jenseits von Vergeltung und Prävention, in: Festschrift für Klaus Lüderssen, 2002, S. 212 ff., der neben der Neutralisierung des Opfers als Erfolgsgeschichte der Zivilisierung eine herrschaftskritische Deutungsweise für mindestens ebenso denkbar hält; radikal Christie, Limits to Pain, 1982, S. 92 f., demzufolge das Recht über die Köpfe der Parteien hinweg bestimme, was von Relevanz ist; gegen die Institution des Gefängnisses gerichtet Pilgram/Steinert, Plädoyer für bessere Gründe für die Abschaffung der Gefängnisse und für Besseres als die Abschaffung der Gefängnisse, in: Ortner, Freiheit statt Strafe, 2. Aufl. 1986, S. 213: „Das Gefängnis existiert fort, weil es noch zu wenig Partizipation der Betroffenen und zu wenig Handhaben für sie gibt, Konflikte außerhalb enger Pfade und mit tauglichen Mitteln auszutragen.“ 271 Lüderssen, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S.47 ff. 272 Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006, S. 70 f.
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diese Überwindung höchstens auf Ebene der Rechtsfolgen stattfindet, somit systemwidrig bleibt:273 So könnten, bezogen auf die strafrechtliche Wiedergutmachung, die einen die Wiedergutmachung nicht als Strafe verstehen, da das belastende Moment nicht repressiv, sondern lediglich Reflex der Wiedergutmachung sei.274 Die anderen, die zur Strafe auch funktionale Äquivalente ausreichen lassen, würden zwar die Wiedergutmachung als Strafe akzeptieren, müssten aber bei der Frage passen, weswegen der Umweg über den horizontalen Konflikt notwendig ist, wenn die vertikale Strafe das jeweils bezweckte Ziel doch ebenso erreichen könne. Der Verletze bleibe auf diese Weise im Strafrecht ohne theoretischen Eigenwert.275 5. Durchbrechung des Trennungsdogmas Wie könnte demgegenüber eine nicht systemwidrige Einbeziehung des Opfers in die Straftheorie aussehen?276 Die Lösung scheint hier darin zu liegen,277 die Vorstellungen von „vertikaler“ und „horizontaler“ Verletzung, von strafrechtlicher und zivilrechtlicher Behandlung einer Sache, nicht gegeneinander auszuspielen. Das, was als vertikales Element angesprochen ist, so kann man zeigen, ist die „empathische Erfassung des Opferleidens“ 278 durch die übrigen Akteure der Rechtsgemeinschaft.279 273 Kritisch zur Genugtuungsfunktion des zivilrechtlichen Schmerzensgeldes, das vielmehr auf den bloßen Ausgleich der Leiden zu beschränken sei, etwa Honsell, Der Strafgedanke im Zivilrecht – ein juristischer Atavismus, in: Aderhold u. a., Westermann-FS, 2008, S. 321 f. 274 Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006, S. 116 f. 275 So Sarhans kardinale Frage, s. zusf. ebd., S. 139 f., 155 und 193. Auch der Alternativ-Entwurf der Wiedergutmachung verharre, so Sarhan, auf einer trennungsdogmatischen Haltung und sei lediglich eine modernisierte Version der älteren Wiederherstellungstheorien: Zwar sei die Wiedergutmachung als Rechtsfolge neu gewesen – habe aber nicht das horizontale Verhältnis als entscheidendes gesehen, sondern über die konturlose „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“ die klassischen Strafinhalte in restitutiver Einkleidung hereingeholt (ebd., S. 189 f.). 276 Vgl. Kunz, Zu den Problemen einer opfergerechten Ausübung des Strafanspruchs und zur Suche nach Auswegen, in: Grafl, Burgstaller-FS, 2004, S. 541 ff. 277 Den Gedanken Sarhans, Seelmanns und Strawsons folgend. 278 Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006, S. 215. 279 Sarhan argumentiert dafür, dass man Vertikales und Horizontales als Konnex sehen muss (m.w. N.): Opferleiden sei das einzige Greifbare, das die gesellschaftliche Verunsicherung auslösen könne (ebd., S. 220). Das Allgemeine knüpfe an das Genugtuungsinteresse des Einzelnen an, das von den anderen Akteuren empathisch erfasst werde (ebd., S. 215). Er bezieht sich hier insbesondere auf Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992, S. 153. Dieser spricht zwar davon, dass sich das tripolare Modell (Täter, Opfer, Gesellschaft) zwar nicht auf ein bipolares reduzieren lasse, hält es aber nicht für undenkbar, dass sich die Gesellschaft auf „die Rolle einer katalysatorischen Supervision zurückzieh[t]“ (ebd.).
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Was ist damit gemeint? Greift man die Vorstellung des grundlegenden wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses wieder auf,280 so kann man sich die Rechtsgemeinschaft als Geflecht von Anerkennungsbeziehungen vorstellen.281 Diese Beziehungen bestehen zwischen einzelnen, rechtlich gleichen Akteuren, sind also in diesem Sinne „horizontale Beziehungen“. Nicht jede dieser Anerkennungsbeziehungen muss sich in tatsächlichen Interaktionen realiter aktualisieren, besteht aber hypothetisch zwischen allen Akteuren einer normativen Gemeinschaft. Man denke etwa an eine unbekannte Bewohnerin der Stadt, der man noch nie begegnet ist. Es besteht eine generalisierte Form der Anerkennungsbeziehung, die erst dann „aktiviert“ wird, wenn wir mit dieser in konkrete Interaktion treten oder von ihrem Verhalten betroffen sind. Die jeweiligen Streben dieses Geflechtes, die zwischen allen Akteuren bestehen, sind durch gesetzliche Vorgaben (und sozial generierte Erwartungen) in generalisierter Weise vorkonstruiert und standardisiert – so hat man gewisse Erwartungen an eine Person in einer gewissen sozialen und rechtlichen Rolle.282 Zwischen zwei Akteuren, deren Verhältnis sich lediglich in der rechtlichen Beziehung von Mitbürgern erschöpft, ergeben sich die Anforderungen an die basalen Anerkennungsbeziehungen rein aus den entsprechenden gesetzlichen Anforderungen.283 Begreift man nun das Verbrechen als Verletzung einer solchen zwischen zwei Akteuren bestehenden Anerkennungsbeziehung, ist vorgezeichnet, was die Reaktion darauf erfordert: die Wiederherstellung dieser horizontalen Anerkennungsbeziehung.284 Für den Fall, dass man eine solche Sichtweise für plausibel hält, liegt freilich eine Annäherung der strafenden Reaktion zum zivilrechtlichen Schadensersatz nahe, der gleichfalls ein horizontales Anerkennungsverhältnis zwischen zwei Personen betrifft. Eine solche Betrachtungsweise eröffnet also den Weg dafür, den 280
Vgl. B. IV. Das Bild vom Geflecht der Anerkennungsbeziehungen stammt von Seelmann, Hegels Straftheorie in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, JuS 1979, S. 690; dieses Modell aufnehmend, insbesondere unter Betonung der Verletzung des Rechts als Recht, vgl. Schmidt, Strafe und Versöhnung, 2012, S. 109 ff. 282 Sie werden in konkreten Beziehungen ausgestaltet und spezifiziert. Wie stark die Variationsbreite der Ausgestaltung ist, hängt davon ab, wie sehr ein Bereich rechtlich reguliert ist: vergleiche die konkretisierten Erwartungen an einer Person in der Rolle eines Sachbearbeiters oder in der Rolle eines Freundes. 283 Etwa: Verbot der Schädigung von Rechtsgütern, Gebot der Hilfeleistung in Unglücksfällen. 284 Das Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung zwischen Verletzten und Täter ist verletzt und muss wiederhergestellt werden. „Da die Rechtsgemeinschaft ein soziales Geflecht ist, hätten alle (und nicht nur das aktuelle Opfer und der aktuelle Täter) ein langfristiges Interesse an der Wiederherstellung jeder einzelnen Anerkennungsbeziehung“, so Seelmann, Paradoxien der Opferorientierung im Strafrecht, JZ 1989, S. 675; s. auch ders., Hegels Straftheorie in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, JuS 1979, S. 690. 281
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Strafanspruch des Staates mehr und mehr hinter den Ausgleichsanspruch des Verletzten zurücktreten zu lassen.285 Dass bei einer solchen Entwicklung ein erweiterter Begriff des Schadensersatzes zu entwerfen wäre, dürfte unbestritten sein.286 Zu überlegen wäre, in welchem Umfang etwa auch Folgeschäden und auch solche Schäden, die nicht materieller Art sind, wie etwa nachvollziehbare Verunsicherung sowie Zeitaufwand in größerem Umfang, als dies ohnehin bereits geschieht, zu berücksichtigen wären.287 Verkennt aber, so könnte man fragen, eine solche Konzentration auf Täter und konkret betroffenes Opfer nicht, dass die Tat eben – gerade im Kontrast zu zivilrechtlichen Streitigkeiten – mehr als eine Störung dieses dyadischen Verhältnisses darstellt? Zu einem gewissen Grad trifft das zu. Das Verbrechen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es in seiner Bedeutung über das Zwei-Personen-Verhältnis hinausreicht. Will man jedoch die wenig hilfreiche Unterscheidung der Tat als Verletzung der Person einerseits und Verletzung der Norm andererseits vermeiden,288 bietet sich ein Ausweg an: Statt die Auswirkungen, die die Tat auf die übrigen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft hat, als Angriff auf den „substantialistischen Begriff von Allgemeinheit“ 289 zu interpretieren, kann man diesem Gedanken anderweitig Rechnung tragen: Die Besonderheit des Strafrechts im Vergleich zum Zivilrecht liegt darin, dass ein Strafanspruch der Allgemeinheit besteht. Dies ist aber nicht so zu verstehen, dass wegen des im Verbrechen liegenden, vertikalen Angriffs auf die substantialistische Allgemeinheit ein Straf-
285 Lüderssen, Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 59; vgl. zur sog. „compensation order“ der englischen magistrates’ courts, die gegenüber der Geldstrafe prioritär ist und auch symbolische Wiedergutmachung umfassen kann, Baumann u. a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992, S. 122 f.; vgl. zu zivilrechtlichen Reaktionen als „funktionale Äquivalente für das Strafensystem“ Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992, S. 113 ff. 286 Dass hier ein weiteres Verständnis von Schaden zur Entlastung des Strafrechts angemessen wäre, betont Lüderssen, Die Perspektive der Wiedergutmachung, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 159 ff. „Der Berechnungsmodus des Zivilrechts ist wahrscheinlich zu abstrakt; er schließt längst nicht alle schadensrelevanten Umstände ein. (. . .) Andererseits ist die aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis bekannte ,punitive damages-Praxis‘ wahrscheinlich eher eine Quelle differenzierender Schadensberechnung als eine Konzession an ,zivilistische Rache‘ oder wenigstens ,zivilistische Genugtuung‘“ (ebd., S. 160). Für eine Annäherung zum Zivilrecht plädiert auch Jung, Was ist Strafe?, 2002, S. 77. In eine Gesamtreaktion auf die Tat seien Schadensersatz und Mehrfachbelastungen einzubeziehen, ebd., S. 81. 287 So bereits Baumann u. a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992, S. 33. 288 Seelmann, Paradoxien der Opferorientierung im Strafrecht, JZ 1989, S. 676. 289 Günther, Möglichkeiten einer diskursethischen Begründung des Strafrechts, in: Jung/Heinz Müller-Dietz/Ulrich, Recht und Moral, 1991, S. 211: Der Idealismus habe die anschlussfähige Erkenntnis der idealistischen Widervergeltungsidee, dass nämlich der Teilnehmer stets aus Teilnehmerperspektive behandelt werden müsse, dadurch überspielt, dass er „einen individualistischen Begriff der Subjektivität mit einem substantialistischen Begriff der Allgemeinheit zusammenbrachte.“
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anspruch des Staates existiert. Vielmehr dürfte dies besser so auszubuchstabieren sein, dass die erlittene Verletzung eines intersubjektiven Anerkennungsverhältnisses auch von den anderen Akteuren der Rechtsgemeinschaft als von Belang bewertet wird.290 Den Grund für diese Relevanzbewertung kann man auf verschiedene Weise konstruieren: Er könnte sich einerseits aus einer generalisierenden Interessenüberlegung herleiten („Auch ich hätte in einer solchen Situation sein können – mich interessiert, dass dort die Anerkennungsbeziehungen nicht verletzt werden bzw. mit der Verletzung adäquat verfahren wird“), andererseits aber auch aus gerechtigkeits- oder pflichtenbezogenen Motiven ergeben („Der Täter hat sich zu Taten aufgeschwungen, die ihm nach der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten nicht anstehen“).291 Gleich welchen Ansatz oder welches Mischverhältnis man zur Herleitung für überzeugender erachtet, entscheidend ist, dass die Bedeutungsdimension der Tat, die über die Kränkung des konkret Verletzten hinausreicht, sich daraus ergibt, dass sich auch die anderen Mitglieder für das Geschehen interessieren (sollten) und mit der strafrechtlichen Befassung klarstellen, dass das Täterverhalten von der Rechtsgemeinschaft als ganzer nicht hingenommen wird.292 Diese Haltung wird somit gegenüber dem Täter, dem Opfer aber auch allen anderen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft kommuniziert.293 Die Hervorhebung als öffentlicher Konflikt hat zum einen eine „Vereinfachungs- und Abkürzungsfunktion“, sodass sich die Akteure nicht in zahllosen dyadischen Verhältnissen auseinandersetzen müssen.294 Vor allem für das Opfer dürfte das wichtig sein, wird doch so allgemein klargestellt, dass weder es selbst noch das hinzunehmende Schicksal, sondern der Verurteilte als für die Tat verantwortlich angesehen wird.295 Besser als von einem Angriff im vertikalen Verhältnis von Täter und Gemeinschaft, mag man von einer horizontalen Anerkennungsverletzung mit „Drittrelevanz“ sprechen.296 Das Opfer empört sich über die erfahrene Verletzung, die Beobachtenden entwickeln eine solidarische Einstellung bezüglich dieser vom
290 Seelmann, Paradoxien der Opferorientierung im Strafrecht, JZ 1989, S. 676. Versteht man unter dem „Angriff auf die Allgemeinheit“ nur diese Version, ist die Bezeichnung freilich unschädlich. 291 Ob diese beiden Positionen in letzter Instanz so weit auseinanderliegen, mag man bezweifeln. 292 Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Prittwitz u. a., Lüderssen-FS, 2002, S. 218 f. 293 Ebd. 294 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 448, der den Strafvorgang so interpretiert, dass der Staat die aggregierten Einzelinteressen als öffentliche Interessen verfolgt. 295 Hörnle, Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht, JZ 2006, S. 955 f. 296 „Drittrelevanz des Konflikts“, „Drittbezug“, so Seelmann, Paradoxien der Opferorientierung im Strafrecht, JZ 1989, S. 675.
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Opfer eingenommenen Haltung.297 In Anknüpfung an die von Strawson eingeführten Begrifflichkeiten könnte man sagen, dass sich die reactive attitude des konkreten Opfers, also dessen auf Reaktion drängende Missbilligung der Tat, sich in den vicarous reactive attitudes der übrigen Akteure, also deren stellvertretenden oder empathischen Gefühlen der Empörung, wiederfindet.298 Der im Strafverfahren zu prüfende Anspruch des Verletzten auf Strafverfolgung (bzw. Bestrafung) bestünde somit darin, dass die beobachtende Öffentlichkeit sich seiner missbilligenden Einstellung in Hinblick auf die Tat anschließt. In den Begriffen des Modells deontischer Kontoführung299 könnte man sagen, dass die Behauptung des Opfers über die Tat von den übrigen Teilnehmern als berechtigte Behauptung in ihr Konto übernommen wird. Dies bedeutet auch, dass der Vertrauensentzug, den das Opfer als Reaktion im Verhältnis zum Täter diesem auferlegt, von der Gemeinschaft geerbt, das heißt übernommen wird. Die Formel vom Angriff „auf das Recht als Recht“ bzw. die „Geltung des Rechts“ ist dann immer noch verständlich, erweist sich jedoch ebenso wie die Entgegensetzung des Begriffspaars horizontal/vertikal als mit Vorsicht zu genießen.300 Es geht nicht um die Verletzung einer anderen Kategorie von Anerkennung (also einer vertikalen, oder institutionellen Anerkennung), sondern die nämliche (horizontale) Anerkennungsverletzung gegenüber dem Verletzten hat Auswirkung auf die (horizontalen) Anerkennungsverhältnisse mit anderen, von der Tat nicht unmittelbar betroffenen Akteuren.301 Sicherlich ist das Bild, dass die Gemeinschaft mit dem Recht etwas Höheres schafft, das die einzelnen dyadischen Beziehungen transzendiert, eingängig und
297 Vgl. zu einer solchen Solidaritätserklärung der Gemeinschaft und deren Bedeutung für die Traumabewältigung durch das Opfer, Jerouschek, Straftat und Traumatisierung, JZ 2000, S. 194. 298 Man kann dies als Einnahme einer stellvertretenden reaktiven Haltung der den Tatvorgang bewertenden unbeteiligten Akteure der Rechtsgemeinschaft, also in den Begriffen Strawsons als „vicarious reactive attitude“ verstehen. Strawson, Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment, 1974, S. 14 f. 299 Siehe C. II. 2. 300 In Auseinandersetzung mit Hegels Anerkennungsmodell gelangt Seelmann zum Schluss, dass die „einzelne Verletzung in einem insgesamt funktionierenden Geflecht der Anerkennung auf das Ganze bezogen zu einer vernachlässigbaren Größe“ betrachtet werden könne, vgl. Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, 1995, S. 73. Zur Wiederherstellung der Anerkennungsbeziehung könne – so mit Blick auf G. H. Mead – statt einer Demütigung des Täters eine den Perspektivenwechsel darstellende restitutive Handlung hinreichen (ebd., S. 74 ff.). 301 I. E. ähnlich verstehe ich die Vorstellung von Köhler, der die Strafe als „Wiederherstellung von rechtlicher Intersubjektivität“ versteht (Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 55) und sich gegen eine „institutionell-affirmative Auffassung, welche die Macht der Objektivität absolut setzen wollte“, wendet (ebd., S. 58). Die allgemeinheitsbezogenen Aspekte erschöpften sich darin, dass die „Teleologik des Strafhandelns als intersubjektiver Auseinandersetzung (. . .) sich allen Subjekten des Rechtsverhältnisses vernunftschlüssig mitteil[t].“ (Ebd., S. 59).
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im Kern nicht unzutreffend.302 Nimmt man es jedoch beim Wort, droht die Gefahr, das Recht losgelöst von den einzelnen Individuen zu begreifen und somit die eigentlichen Akteure der Rechtsrealisierung zu vernachlässigen.303 Was das heißt, kann man sich an folgendem Beispiel klarmachen: Wenn drei Akteure jeweils bilaterale Beziehungen unterhalten und sich in diesen „Binnenbeziehungen“ das Prinzip der Erwiderung von Geschenken oder das Tür-Aufhalten, nennen wir es Prinzip der Freundlichkeit, etabliert und sogar explizit von den drei Akteuren anerkannt wird – dann ist eine entsprechende Unhöflichkeit nicht nur gegenüber dem direkt Betroffenen unhöflich, sondern stellt gegebenenfalls „die generelle Geltung“ des Prinzips infrage. Kommt nun aber diesem Prinzip durch die Feststellung, dass es generell gilt, ein „Mehrwert“ zu, der die Gesamtheit der einzelnen Gültigkeiten, die zwischen je zwei (hypothetischen) Akteuren bestehen, übersteigt – und so eine über die Restitution der verletzten bilateralen Höflichkeitsbeziehung hinausgehende Sanktion begründen könnte? Ich denke, dass das nicht der Fall ist. Zwar gewinnen die Binnen-Geltungen in ihrer Gesamtheit durchaus eine besondere Qualität.304 Diese resultiert jedoch aus ihrer strukturierten Gesamtheit, generiert also keine eigenständige Entität. Beachtet man demgemäß die Binnengeltungen als Fluchtpunkt, auf den die Konstrukte wie das der „Allgemeinheit“ 305 ausgerichtet sind, so ist ein Sprachgebrauch von „universeller Geltung“ einer Norm oder generell geltenden Prinzipien unschädlich. Führt die Vorstellung, dass der Strafgrund in Anerkennungsverletzung und reactive attitude des Verletzten liegt, nun dazu, dass den Maßstab der Reaktion 302 Auch Sarhan will nicht leugnen, dass die Tatmissbilligung einen allgemeinen Gerechtigkeitsstandpunkt voraussetzt. Man dürfe diesen jedoch nicht derart verselbständigen, dass er als das einzig maßgeblich Verletzte verstanden wird (so Sarhan, Wiedergutmachung zugunsten des Opfers im Lichte strafrechtlicher Trennungsdogmatik, 2006, S. 261). 303 Vgl. zur verwandten Frage, ob dem „Staat als Strafendem“ eine besondere, über das koordinierte und vermittelte Aggregat der individuellen Handlungen hinausgehende Akteurstellung zukommt, Zürcher, Legitimation von Strafe, 2014, S. 142 ff. 304 Das Attraktive daran, dass eine Norm universell gilt, ist, dass man auch von Akteuren, mit denen man vorher noch nicht in konkrete Beziehungen getreten war, die Beachtung der Norm erwarten kann. Insofern könnte man von einem Mehrwert der generellen Geltung sprechen – aber das ist nur eine Ausweitung des Adressatenkreises der Anerkennung von den bekannten auf hypothetische Akteure. „Generelle Geltung“ ist dann die hypothetische Ausweitung der bekannten Binnengeltungen auf die hypothetischen, noch nicht aktivierten Binnengeltungen. Dann stellt es aber nur eine Übersetzung dar, von der Vorstellung: „Ich weiß, dass die mir bekannten Akteure gegenüber meine zentralen Rechtsgüter nicht schädigen und vermute, dass auch die Unbekannten es sein werden“ in: „Ich gehe von universeller Geltung aus.“ Universelle Geltung bleibt weiterhin die strukturierte Gesamtheit aller (tatsächlichen und hypothetischen) Zweier-Beziehungen. „Die Norm gilt universell“ ist lediglich die praktische Kurzschreibweise für: „Die Norm gilt zwischen A und B, auch zwischen B und C sowie zwischen A und C.“ 305 Oder auch juristischen Personen.
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dasjenige abgibt, was das Opfer zur Wiederherstellung der Anerkennung für erforderlich erachtet? Ich denke nicht. Man kann vielmehr auf die durchschnittliche Sichtweise eines verständigen Opfers zurückgreifen. Dieser Rückgriff ist damit zu erklären, dass eben nicht die willkürlich ausgewählten Genugtuungsbedürfnisse des Verletzten, sondern nur solche, mit denen sich die Beobachter solidarisieren, das strafrechtlich Relevante darstellen. Und diese Einschätzung ist in unserer Gemeinschaft in doppelter Weise institutionalisiert: In den Strafgesetzen ist zum einen fixiert, welche reactive attitudes als berechtigt anerkannt sind, zum anderen ist deren Anwendung professionalisierten Akteuren übertragen: nämlich der Staatsanwaltschaft, gleichsam als der Institution professioneller Empörung. Dass sie eingehegt, rationalisiert und limitiert wurden, ist die zügelnde Leistung der Institutionalisierung, die vor solchen willkürlichen Reaktionen bewahrt, die dem – womöglich noch dazu affektgesteuerten – Sanktionsbedürfnis des Verletzten entspringen. Dass konstruktiv betrachtet die Empörungseinstellungen des Opfers und die hinzutretenden Empörungseinstellungen der übrigen Akteure die Gründe für die Strafe bilden, bleibt davon unbenommen. In gewisser Weise sind wir hier wieder auf die Frage zurückgeworfen, was wir für legitim erachten: Denn die reactive attitudes, die wir als Öffentlichkeit als legitim bewerten, also die Strafgesetze, die wir festlegen, machen wir selbst. Der Verweis darauf, dass die Verletzung des Opfers der Strafgrund ist, kann nicht per se widerlegen, dass keine Schmerzzufügung erforderlich ist. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Schmerzzufügung genau das ist, was eine Verletzte für erforderlich hält, und die bewertende Öffentlichkeit als angemessene reactive attitude anerkennt. Was das Argument der Fundierung der Strafe im horizontalen Verhältnis jedoch beantworten kann, sind die zu Beginn des Abschnitts aufgeworfenen Fragen: Klugheitsgründe erscheinen fragwürdiger, denn es ist plausibel, dass es um den Umgang mit dem konkreten horizontalen Konflikt geht (i). Die Verletzung der vertikalen Ebene ist keine vom Zivilrecht kategorial verschiedene Verletzung, die eine kategorial verschiedene Reaktionsweise erfordert. Vielmehr liegt das Proprium des Strafrechts darin, dass es sich um eine Anerkennungsverletzung handelt, die die anderen Akteure in besonderem Maß interessieren sollte (ii). Wenn der Strafgrund in der Verletzung des konkreten Opfers306 liegt, dann 306 Spricht nicht, so könnte man fragen, das Konzept der Allgemeinrechtsgüter gegen die Vorstellung, dass der Strafgrund in der Verletzung einer horizontalen Anerkennungsbeziehung liegt? Hier zeigt sich doch, dass es gerade genuin vertikale Verletzungen gibt, die gerade vom Zivilrecht auch nicht aufgefangen werden können. Ich kann nur andeuten, wie eine Antwort auf einen solchen Einwand aussehen könnte: Konstruktiv ist es denkbar, Allgemeinrechtsgüter als strukturierte Bündelung von (hypothetischen) Anerkennungsbeziehungen zu sehen. Die Sicherheit des Straßenverkehrs etwa ergibt sich dadurch, dass jeder auf den jeweils anderen Verkehrsteilnehmer (in jeder denkbaren Dyade) Rücksicht nimmt. Sich hier offensichtlich ergebende Quantifizierungsfragen sind nicht problematischer als diejenigen, die sich momentan bei der Frage der Strafzu-
VII. Praktische Entwicklungschancen
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ist auch für die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit sie der zentrale Ansatzpunkt (iii).
VII. Praktische Entwicklungschancen Wenn wir die in C. herausgearbeiteten Aspekte zusammenführen, bietet sich folgendes Bild: Der Täter begeht mit der deliktischen Handlung ein Verhalten, für das er keine allgemein anerkannten (d.h. rechtlichen) Gründe hat. Die Sanktionierung besteht darin, das Verhalten in einem öffentlichen Verfahren als nichtberechtigtes festzuhalten und damit die Weitergeltung der Norm allgemeinverbindlich festzustellen. Die Hauptsanktion ist somit der Schuldspruch, die Zuschreibung begangenen schuldhaften Unrechts. Die „Empörung“ des Opfers wird bestätigt und von der Gemeinschaft in solidarisierender Haltung als nachvollziehbar anerkannt; das Täterverhalten wird als nicht-berechtigter Zug bewertet, und stellvertretend für die Gemeinschaft als nicht anschlussfähig, als nicht-berechtigend ausgewiesen. Der normative Status des Täters wird dadurch verändert: Er ist ein Akteur, dem ein Verhaltensakt zugeschrieben wird, zu dem er nicht berechtigt war. Da der Täter durch die Tathandlung aber möglicherweise auch als zuverlässiger Kontoführer ungewiss geworden ist, wird ihm von der Gemeinschaft der Akteure abverlangt, sich erneut als glaubwürdiger Kontoführer zu erweisen. Denn die Praxis des normativen Kontoführens setzt ganz wesentlich das Vertrauen voraus, dass die anderen Akteure den jeweils relevanten Gründen folgen. Als Methode der Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit scheidet eine Androhung von Klugheitsgründen aus. Vielmehr ist der Verurteilte in seiner Akteurstellung ernst zu nehmen, und kann das Vertrauen in seine Bereitschaft, sich als zuverlässiger Kontoführer zu verhalten, nur durch konstruktive307 Handlungen zurückerlangen. Im Folgenden will ich die daraus resultierenden praktischen Entwicklungschancen beschreiben, zum einen in einer idealisierten Weise (1.), zum anderen mit Blick auf die konkret bestehende Strafpraxis (2.). Abschließend ist zu überlegen, wie wir uns von der Praxis des Strafschmerzes insgesamt lösen können (3.). messung stellen (ähnlich in anderem Zusammenhang Boonin, The Problem of Punishment, 2008, S. 255 f.). Ein weiteres Argument dafür, dass auch bei Delikten gegen die Allgemeinheit ein Ausgleich im Prinzip denkbar ist, zeigt das auch dort zu findende Institut der tätigen Reue (§ 31 BtmG, § 83a StGB), so Baumann u. a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992, S. 42. 307 Nicht unähnlich gelangen Braithwaithe/Pettit über ein republikanisches Verständnis von Freiheit („dominion“) (s. Braithwaithe/Pettit, Not Just Deserts, 1990, S. 59 ff.) zu einem reintegrativen Konzept der Kriminalstrafe (ebd., S. 103 f.), wollen den Täter also „in einer konstruktiven Weise dem Tadel der Gemeinschaft ausgesetzt“ wissen (ebd., S. 10); s. auch zur Notwendigkeit konstruktiver Wege Rössner, Strafrechtsfolgen ohne Übelszufügung?, NStZ 1992, S. 410.
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1. Idealisiert: Genereller Perspektivenwechsel Was könnte dieses hier in nuce skizzierte Modell nun für unsere konkrete Sanktionspraxis bedeuten? Das Primäre und Offensichtliche erscheint mir der Blick auf die intentionale Übelszufügung, den Strafschmerz, zu sein: Dieser findet in dieser Vorstellung der sanktionalen Praxis keinen Raum mehr. Es geht um die Feststellung und Zuschreibung des Unrechts und die Erneuerung des Versprechens der Legalitätshaltung des Täters. Hier sind gegebenenfalls konstruktive Akte – die sich nicht in der Wiedergutmachung erschöpfen müssen – erforderlich, um das Versprechen als glaubhaft zu erweisen.308 Vor allem ist darüber nachzudenken, wie der Begriff des Schadensersatzes zu lesen ist: gerade bei wirtschaftlich motivierten Delikten könnte so erforderlich sein, dass hier eine Leistung nötig wird, die die Wahrscheinlichkeit der Nicht-Entdeckung der Tat miteinbezieht.309 Der Umstand, dass diese Akte selbst belastend sein können, unterscheidet sich von der Komponente des Strafschmerzes. Die belastenden Akte zielen gerade nicht darauf, dass dem Täter ein spürbares Übel zugefügt wird, das vergilt oder abschreckt, sondern dienen der Herstellung von Vertrauen in seine Bereitschaft, rechtlichen Gründen zu folgen.310 Dieser Wechsel des Blickwinkels erscheint mir zentral. Wenn man die Haltung einnimmt, dass es bei dem, was wir Strafrecht nennen, gerade nicht darum geht, dem Täter intentional ein Übel aufzuerlegen, sondern um dessen Rehabilitierung als vertrauenswürdiger Kontoführer, hat das einen anderen Umgang mit dem häufig zu alternativen Reaktionsweisen vorgebrachten Gegenargument, der Täter
308
Näher überlegen müsste man, wie das mit der Bestimmtheit der Sanktionsfolge vereinbar ist. Vgl. dazu den Bedarf an Zumessungsspielräumen betonend, Herzberg, Wann ist die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt“ (Art. 103 Abs. 2 GG), in: Hefendehl/ Bottke, Schünemann-Symposium, 2005, S. 63 ff. 309 Da der Täter davon ausgehen konnte, dass die Entdeckung und Nicht-Entdeckung gleich wahrscheinlich sind, ließe sich begründen, weshalb er das Duplum des Schadens zu zahlen hat; der Täter, der von einer Entdeckungsquote von 20 % ausgehen kann, das fünffache. Das den konkreten Opferschaden übersteigende könnte Opferfonds zugutekommen. Freilich ist das nicht ganz so einfach. Welche Entdeckungswahrscheinlichkeit ist etwa zu Grunde zu legen? (wahrscheinlich: eine subjektiv-objektive, also an der Tätervorstellung, aber auch an der Kriminalstatistik festzumachende) Das bleibt stets partiell ein Schätzvorgang, doch ist das bei der Schadensberechnung, etwa beim Betrug, oder bei der Strafzumessung nicht besser. Analoges gilt für Bedenken (etwa Loos, Bemerkungen zu §46a StGB, FS-Hirsch, 1999, S. 854 f.), der Täter könne auf die bloße Wiedergutmachung im engeren Sinne spekulieren. 310 Vgl. bereits – bezogen auf die präventiven Strafzwecke – Lüderssen: „[D]aß die Gesellschaft beruhigt, das Opfer versöhnt und entschädigt, der Täter fähig gemacht wird, zu seinem eigenen und anderer Nutzen in der Gesellschaft frei von – jedenfalls – schwersten Konflikten zu leben – diese Zwecke sind durchweg so beschaffen, dass sie auch ohne Übelszufügung erreicht werden können.“ Lüderssen, Die Perspektive der Wiedergutmachung, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 156.
VII. Praktische Entwicklungschancen
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spüre so doch gar kein (hinreichendes) Übel, zur Folge: Wir können dann souveräner nach alternativen Reaktionsweisen suchen und sind nicht gezwungen, einer vermeintlich zu erreichenden Äquivalenz zum Strafschmerz nachzujagen, müssten uns also nicht mehr sorgen, dass diese Reaktionsweisen in ihrer Eindrücklichkeit dem Strafschmerz gleichkommen müssen.311 Nach dem vorgeschlagenen Modell geht es also darum, mit dem Verurteilten zu entwickeln, was für eine positive Legalprognose erforderlich ist. Das ist der entscheidende Perspektivenwechsel: Es geht nicht um die Frage, ob die Tat mit Freiheitsstrafe, Freiheitsstrafe zur Bewährung oder Geldstrafe zu ahnden ist, sondern darum, wie sich der Verantwortliche der Tat bewähren kann.312 Möglicherweise genügt – abgesehen von der Leistung von Schadensersatz – hierfür oftmals die bloße täterseitige (ggf. konkludente) versprechende Aussage: „Ich werde mich legal verhalten.“ Dann bestünde die einzige Sanktion in der Feststellung des begangenen Unrechts. Was eine solche Sichtweise zwingend voraussetzt, ist eine Zweiteilung zwischen Erkenntnisverfahren und Rechtsfolgenausspruch, also die Einführung eines
311 Dieser Vorstellung sehr nahe kommt der bemerkenswerte Vorschlag von Jeldrik Mühl. Dieser greift die Idee einer Laufzeitleistungsstrafe auf, die auf Baumann [ders., Entwurf eines Strafgesetzbuches, 1963, § 35 (Laufzeitgeldstrafe)] zurückgeht und von der Arbeitsgruppe „Alternativen zur Freiheitsstrafe“ (s. Bernhardt, u. a., Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe, Zeitschrift für Evangelische Ethik 1990, S. 218 ff.) fortentwickelt wurde. Danach solle die Freiheitsstrafe als Hauptsanktion durch das nicht-entsozialisierende, „funktionale Äquivalent“ einer Laufzeitleistungsstrafe ersetzt werden. Vgl. Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?, 2014, insbes. S. 76 ff. Die Laufzeitleistungsstrafe könne die Gestalt einer Laufzeitgeldstrafe annehmen, worunter die eine befristete Absenkung des Konsumpotentials auf das an § 28 SGB XII orientierte Existenzminimum zu verstehen ist (zum Einwand fehlender Höchstpersönlichkeit der Strafwirkung, insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Frage der Strafvereitlung durch die Zahlung der Geldstrafe durch einen Dritten, vgl. ebd., S. 135 ff.). Eine möglichst gleichwertig zu konzipierende Alternative sei eine Laufzeitarbeitsstrafe. Zwischen diesen Formen bestehe grundsätzlich die Wahlmöglichkeit des Sanktionierten, die aber für den Fall, dass der Täter ohnehin am Existenzminimum lebe (dann stets Laufzeitarbeitsstrafe) oder aber finanziell besonders leistungsstark ist (dann stets Laufzeitgeldstrafe), ausgeschlossen sein solle (ebd., S. 155 ff.). Entscheidender noch als die – wenn auch nur noch rudimentär – der Übelszufügung verhaftete Vorstellung einer Laufzeitleistungsstrafe ist aber m. E. die dem Ansatz zugrunde liegende Überlegung, dass der Bestrafungsvorgang nicht als passiv zu erduldender Vorgang, der lediglich ausgrenzt und abwertet, sondern primär als innergesellschaftlich zu erbringende restitutive Leistung zu konstruieren sei (ebd., S. 148 f.). 312 Dies ist ein Gedanke, den auch Bianchi – freilich aus einer abolitionistischen Perspektive – entwickelt und als „Assensusmodell“ bezeichnet, Bianchi, Alternativen zur Strafjustiz, 1988, S. 72 f. Ein Überblick über die Formen des Abolitionismus findet sich bei Garvey, Alternatives to Punishment, in: Deigh/Dolinko, The Oxford Handbook of Philosophy of Criminal Law, 2011, S. 493 ff.
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Strafzumessungs-Interlokuts.313 Nur auf diese Weise kann der Angeklagte glaubwürdig eine zunächst verteidigende, dann aber konstruktive Haltung einnehmen: Im Erkenntnisverfahren geht es um die Frage, ob dem Täter eine Tat zugeschrieben werden kann. Hier muss es in Folge des Nemo-tenetur-Grundsatzes dem Täter möglich sein, sich einzumischen – die Zuschreibung anzunehmen oder mit Gründen zu bestreiten – oder jedoch zu schweigen. Aufgrund dieser Möglichkeit, sich selektiv oder gar nicht an der Beweisaufnahme zu beteiligen, ist vom Angeklagten hier nicht verlangt, sich kooperativ zu zeigen.314 Die Dinge liegen aber anders, sobald die Zuschreibung erfolgt ist. Dann kommt es in einem zweiten Schritt zur Frage, ob etwas und wenn ja was jenseits des Schuldspruchs dafür nötig ist, dass die Person, die die besagte Tat beging, sich wieder als glaubwürdiger Kontoführer erweist. Der Aspekt der Zuschreibung steht hier nicht mehr zur Debatte. Vielmehr geht es nur noch um die Frage der „Kontokorrektur“, also darum, dass klar und glaubhaft wird, dass auch der Verurteilte das zugeschriebene Tatverhalten nicht für anschlussfähig hält – insbesondere die Tat nicht als begründende Behauptung für Folgehandlungen verwendet. Implizit erkennt er durch die Anerkennung der Nicht-Berechtigung seines Verhaltens an, dass die Akte, die dazu dienen, den status quo ante wiederherzustellen, berechtigt und für ihn verpflichtend sind. Die übrigen Teilnehmer korrigieren dann ihr Konto ebenfalls, indem sie die dem Täter (durch den Schuldspruch) zugeschriebene Behauptung, zu der er nicht berechtigt war, aus ihrem Konto löschen.315 2. Konkrete Sanktionspraxis Wenden wir uns nun der Beobachtung der bestehenden Praxis zu. An welcher Stelle könnten die theoretischen Überlegungen eine Rolle spielen, bzw. als (zusätzliche) Begründung bestehender Institute einzusetzen sein. Thesenhaft will ich einige Institute herausgreifen, bei denen allein durch eine Akzentverschiebung beziehungsweise deren verstärkter Anwendung eine Annäherung an das vorgestellte Modell möglich ist. 313 Zu einem solchen „Schuld-Interlokut“ vgl. Kilching, Opferinteressen und Strafverfolgung, 1995, S. 703 f. 314 Dies steht offensichtlich zum Konzept der Verfahrensabsprache in Spannung, wird hier doch gerade Kooperation bei der Zuschreibungsfrage mit Nachlass auf der Rechtsfolgenebene quittiert. Dass es aber gänzlich unvereinbar ist, vermag ich hier nicht zu beurteilen. 315 Sie sehen die Person also nicht mehr als eine an, die diese unberechtigte Behauptung in ihrem deontischen Kontospeicher hat. Offensichtlich bleibt die Person – bezieht man das Konzept der Erinnerung mit ein – trotz der Löschung eine Person, die einmal eine unberechtigte Behauptung aufgestellt hat, auch wenn die Behauptung aktuell nicht mehr im Raum steht. Klarerweise macht die Löschung die Tat nicht ungeschehen. Im Idealfall lautet die Erinnerung aber: „Es handelt sich um eine Person, die eine unberechtigte Behauptung aufstellte, diese aber glaubhaft korrigierte.“ Abgesehen davon ist hier auch der Gedanke eines „Rechts auf Vergessen“ berührt.
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Im Wesentlichen wäre – neben der für Folgendes vorausgesetzten Einführung eines Strafzumessungs-Interlokuts – an drei Grundlinien zu denken:316 Erstens könnte man die Sanktion der Feststellung des vorwerfbaren Unrechts als den Kern der strafrechtlichen Reaktion betonen und die dafür verfügbaren Institute ausschöpfen bzw. erweitern (a)). Zweitens läge es nahe, eine noch gewichtigere Berücksichtigung von opferbegünstigendem Verhalten zu überlegen (b)). Drittens könnte man sich verstärkt darum bemühen, mit dem Verurteilten Bedingungen für seine Legalbewährung zu schaffen (c)). a) Feststellungsfunktion Das Strafrecht kennt bereits zwei Institute, bei denen sich die strafrechtliche Reaktion im Wesentlichen in der verbalen Feststellung der Schuld des Täters erschöpft. Es handelt sich um das Absehen von Strafe bei Schuldfeststellung sowie die Verwarnung mit Strafvorbehalt. aa) Absehen von Strafe, § 60 StGB Gemäß § 60 StGB317 ist von Strafe abzusehen, „wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, daß die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre“ – sofern die durch die Tat „verwirkt[e]“ Strafe nicht mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe entspricht. Eine über den missbilligenden Schuldspruch hinausgehende318 Strafe ist nach geläufiger Deutung dann verfehlt, wenn der Zweck der Strafe durch die Folgen der Tat in Verbindung mit dem Schuldspruch voll erreicht sind.319 Es ist ersichtlich, dass die Vorschrift des § 60 316 Zu einem bis heute gültigen „Entwicklungsplan“, der zum „Ende der durch die Freiheitsstrafe bestimmten Epoche“ führt, vgl. Lüderssen, Stufenweise Ersetzung der Freiheitsstrafe, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 259 ff. (Zitat S. 264). 317 Ggf. i.V. m. § 153b StPO kann dies – was praktisch bedeutender ist – bereits durch die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts erfolgen. 318 Zur Frage, ob der Schuldspruch ein Element der Strafe darstellt, vgl. A Fn. 26. Man kann freilich die Formulierung des § 60 StGB dafür heranziehen, dass der Schuldspruch gerade keine Strafe ist, da er in diesen Fällen erfolgt, obwohl das Absehen von Strafe angeordnet ist (so Stuckenberg, Erwiderung, JZ 2015, S. 714). Angesichts des in C. I.–III. herausgearbeiteten Ansatzes liegt aber nahe, den Schuldspruch als wesentliches Element der Strafsanktion anzusehen. Die Auffassung vom Strafcharakter des Schuldspruchs liegt wohl auch einer neueren Entscheidung des EGMR zugrunde, s. EGMR (Cleve v. Deutschland), Beschwerde Nr. 48144/09, Urteil vom 15.1.2015 (= HRRS 2015 Nr. 425). Dieser sieht auch einen Freispruch als Eingriff in die Unschuldsvermutung an, sofern sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass das Gericht von der Schuld des Angeklagten ausgeht (und nicht nur einen Tatverdacht äußert); so zum die Unschuldsvermutung verletzenden Charakter des Schuldspruches – in Besprechung dieses Urteils – Rostalski, Der Geltungsbereich der Unschuldsvermutung bei (freisprechendem) Urteil, HRRS 2015, insbes. S. 318 f. 319 Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 60 Rn. 23; Albrecht, in: Nomos Kommentar, § 60 Rn. 11.
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StGB kein Argument für eine bestimmte Straftheorie sein kann. Denn um die Vorschrift überhaupt anwenden zu können, muss man bereits wissen, was der Zweck der Strafe ist. Nur dann lässt sich nämlich sagen, wann er bereits erreicht bzw. weggefallen, wann also die Strafe verfehlt wäre. Interessanter sind daher zwei andere Fragen: Wäre § 60 StGB überhaupt verständlich, wenn es bei der Strafe darum geht, dass sich der Täter als glaubwürdiger Kontoführer zeigt? Und falls dies so ist, ergeben sich daraus Konsequenzen für dessen Auslegung und Anwendungsbereich? Bezüglich der ersten Frage ist zunächst zu überlegen, wie § 60 StGB gemäß den konventionellen Straftheorien verstanden wird. Geht man davon aus, dass der – wie auch immer bestimmte – Zweck der Strafe gerade durch die intentionale Übelszufügung herbeigeführt wird, so liegt in den Konstellationen des § 60 StGB mit den natürlichen Folgen der Tat das Übel bereits vor, das nun rückwirkend als ein „intentional zugefügtes“ definiert werden kann.320 Das Konzept des Absehens von Strafe beruht demnach darauf, dass die natürlich eingetretenen schweren Folgen als Ersatz für die ansonsten nötige intentionale Übelszufügung angesehen werden. Stefanie Schork hat hier die eigenständige Bedeutung des Schuldspruchs herausgearbeitet: Die Folgen alleine können die Zweckerreichung nicht herbeiführen, sondern die Transformation der Deutung erfolge gerade durch den Schuldspruch. Dieser bewirke erst, dass sichtbar wird, dass die natürlichen Folgen der Tat zur Strafe „umdefiniert“ wurden.321 Wenn man nun jedoch die intentionale Übelszufügung gerade nicht für legitim erachtet, ist dann ein Verständnis des § 60 StGB überhaupt möglich, wenn doch Folgen in Verbindung mit dem Schuldspruch die intentionale Übelszufügung322 ersetzen sollen? Ich denke, dass eine Deutung mindestens ebenso gut möglich ist, wenn man statt der intentionalen Übelszufügung lediglich ein glaubhaftes Legalversprechen für erforderlich hält. In den Konstellationen des § 60 StGB zeigt sich diese Bereitschaft zu zuverlässiger Kontoführung bereits glaubhaft aufgrund der Betroffenheit über die Tatfolgen. Der Täter betrachtet hier ja sein Verhalten überhaupt nicht als „gelungen“, es besteht insofern kein Anlass zur Befürchtung, dass er (und auch die Öffentlichkeit) die Tat als anschlussfähig ansieht. Das Vertrauen in die zuverlässige Kontoführung hat keinen Schaden genommen – dies konstatiert der Schuldspruch. Dieses Verständnis ist vereinbar mit der Interpretation des Bundesgerichtshofs, der die Strafe dann für verfehlt erachtet, wenn der Täter so schwer geschädigt ist, dass es zum einen keiner Einwirkung auf ihn be320 Ausführlich mit Besprechung der gängigen Strafzwecke Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 60 Rn. 23 ff. 321 Schork, Ausgesprochen schuldig, 2005, S. 160 ff., insbes. 177 f. Gerade für die Theorien der Generalprävention, die mit der öffentlichen Wahrnehmbarkeit der Strafe argumentieren, ist das zentral (vgl. ebd.). 322 Mit der intentionalen Übelszufügung ist ein Übel jenseits der tadelnden Komponente des Schuldspruchs gemeint, s. dazu A. Fn. 32.
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darf und zum anderen der Allgemeinheit ein Absehen von weiterer „Strafe als Ausdruck humaner Strafrechtspflege so verständlich erscheint, daß sie dadurch einen notwendigen und sinnvollen Rechtsgüterschutz nicht infrage gestellt sieht“.323 Was folgt nun aus dem hier vertretenen Ansatz für die Anwendung des § 60 StGB? Zwar wäre eine erweitere Anwendung der Norm sowohl nach dem klassischen Verständnis, nach dem der Strafschmerz durch die Tatfolgen ersetzt wird, als auch nach dem Verständnis der augenfälligen Distanzierung von der Tat grundsätzlich denkbar. Jedoch zeigt die etablierte Anwendung restriktive Züge: Erkennbar ist das – neben der Deutung als Ausnahmevorschrift324 – an den Anforderungen, die an die Folgen gestellt werden. So wird verlangt, dass die Folgen von außergewöhnlichem Schadensumfang sind, was einen Eigenschaden, der im Bereich des Gewöhnlichen bleibt, ausschließt. Für die notwendig nach außen hin manifestierte Betroffenheit reichen normale Reaktionen wie heftiger Schock, Angst, Reue, Mitgefühl oder Selbstvorwürfe nicht aus,325 vielmehr sind regelmäßig dauerhafte psychische Störungen mit Krankheitswert – etwa ein Suizidversuch – erforderlich.326 Zwar könnten auch mittelbare Folgen327 grundsätzlich berücksichtigt werden, dies aber in der Regel nur dann, wenn sie mit sonstigen außergewöhnlichen Belastungen zusammentreffen.328 Ein weiteres Moment der Restriktion ergibt sich daraus, dass für ein offensichtliches Verfehlt-Sein ein eindeutiges Überwiegen der besseren Gründe nicht für ausreichend gehalten, das Merkmal vielmehr so gedeutet wird, dass die Sinnlosigkeit der Strafe „so ins Auge springt, daß dieses Ergebnis jedem ernsthaften Zweifel entrückt ist“.329 Deutet man § 60 StGB als Institut, bei dem der Strafschmerz durch eine poena naturalis substituiert wurde, so erscheint eine derart restriktive Deutung durchaus angebracht: Der Täter muss dann durch die Folgen mindestens ebenso wie von einer entsprechenden intentionalen Übelszufügung getroffen sein. Befreit man sich dagegen von der Anforderung der intentionalen Übelszufügung und fasst da323
BGHSt 27, 298, 300; Hubrach, in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 60 Rn. 24. Albrecht, in: Nomos Kommentar, § 60 Rn. 11; Mosbacher, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 60 Rn. 1 („extreme[ ] Ausnahmefälle[ ]“); Fischer, StGB, § 60 Rn. 2, der aber angesichts der Obergrenze von der verwirkten Strafe von einem Jahr darauf hinweist, dass es nicht nur um Fälle geringeren Verschuldens geht. 325 Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 60 Rn. 21. 326 Ebd. 327 Verlust des Arbeitsplatzes, Disziplinarmaßnahmen, Schadensersatzansprüche, Ehescheidung, Geschäftsboykott. 328 Ebd., § 60 Rn. 22. 329 BGHSt 27, 298, 301; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 60 Rn. 3; vgl. dazu Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 60 Rn. 28 f., die für vorzugswürdig hält, dass „die eindeutig besseren Gründe für die Straflosigkeit sprechen.“ (Ebd.); vgl. auch Groß, in: Münchner Kommentar, § 60 Rn. 17, der statt der pauschalen Formel des Ins-Augespringens nur eine detaillierte Abwägung für praktikabel hält. 324
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gegen § 60 StGB als Institut auf, bei der eine Versicherung über eine legale Kontoführung entbehrlich ist, so ergibt sich zwanglos ein erweiterter Anwendungsbereich.330 bb) Verwarnung nach § 59 StGB Dem § 60 StGB steht das Institut des § 59 StGB nahe. Dieses ermöglicht dem Gericht im Sanktionsbereich bis zu 180 Tagessätzen, den Täter neben dem Schuldspruch zu verwarnen, die Strafe zu bestimmen und die Verurteilung zu dieser Strafe vorzubehalten. Die „sozial bemakelnde Wirkung“ des Schuldspruches bildet hier den sanktionalen Charakter.331 Rechtspraktisch gesehen hat § 59 StGB so gut wie keinen Anwendungsbereich. Zwar hat der Gesetzgeber den Versuch einer Wiederbelebung unternommen,332 indem er die Anforderungen an die Anwendung herabsetzte333 sowie eine Ausschlussklausel aufhob.334 Begründet wurde die Stärkung des Instituts mit den Vorzügen, die gegenüber einer Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO bestünden: Die Verwarnung werde in einem unter rechtsstaatlichen Aspekten abgesicherten Verfahren verhängt, zumal sie auf einer gerichtlichen Schuldfeststellung fuße. „Damit ermöglicht sie eine wertende Grenzziehung dort, wo eine Unrechtsbenennung notwendig ist, und trägt gleichzeitig der Erkenntnis Rechnung, dass nicht immer auch eine Bestrafung erforderlich ist.“ 335 Nachdem die Anreize 330 Für die Ausweitung des Konzepts, neben dem Schuldspruch von weiterer Strafe abzusehen, findet sich ein Plädoyer bereits bei Eser in seiner Analyse der § 24 f. DDRStGB. Er hält insbesondere den von der ideologisierten Ausrichtung befreiten Kerngedanken, nachträgliche Verhaltensänderungen maßgeblich zu berücksichtigen, für überlegenswert und mit sämtlichen Strafzwecken vereinbar. Vgl. Eser, Absehen von Strafe – Schuldspruch unter Strafverzicht, in: Schroeder/Zipf, FS-Maurach, 1972, S. 266 ff. 331 Schork, Ausgesprochen schuldig, 2005, S. 49. Zwar ist ein mit Strafvorbehalt Verurteilter unbestraft, also nicht verurteilt im engeren Sinne. Die Verurteilung zur Strafe behält sich das Gericht schließlich gerade vor. Jedoch könne man von einer Verurteilung im weiteren Sinne (aufgrund des Schuldspruchs) sprechen: Der Eintrag in das Bundeszentralregister erwähnt die Verwarnung explizit (ebd., S. 51). Vom Charakter einer Sanktion geht auch Albrecht, in: Nomos Kommentar, § 59 Rn. 2, aus, der nicht nur auf den Aspekt der Belastung durch die Verwarnung und das Strafverfahren, sondern auch auf die Nähe zu einer zur Bewährung ausgesetzten Geldstrafe hinweist. 332 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22.12.2006, BGBl. I 2006, S. 3416. 333 So wurde das Erfordernis der sog. Indizierung abgeschafft: Es genügt, dass „nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Täters besondere Umstände vorliegen, die eine Verhängung von Strafe entbehrlich machen“ BGBl. I 2006, S. 3432. Früher war nötig, dass „eine Gesamtwürdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters besondere Umstände ergibt, nach denen es angezeigt ist, ihn von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen“. 334 Der gestrichene § 59 Abs. 2 StGB a. F. lautete: „Die Verwarnung mit Strafvorbehalt ist in der Regel ausgeschlossen, wenn der Täter während der letzten drei Jahre vor der Tat mit Strafvorbehalt verwarnt oder zu Strafe verurteilt worden ist.“ 335 BT-Drs. 16/3038, S. 58. Dagegen die Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des 2. Justizmodernisierungsgesetzes: „Es besteht keinerlei Anlass, für solche Konstellationen einen weiteren Filter der Straflosigkeit einzuführen“ BT-Drs. 16/3038, S. 73.
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für die verstärkte praktische Anwendung fehlten,336 übertrumpften die fiskalischen Interessen337 und der Beschäftigungsaufwand (in Urteilsbegründung und Bewährungsüberwachung)338 rechtspraktisch die rechtsstaatlichen Gesichtspunkte, sodass in den infrage kommenden Fällen vorzugsweise § 153a StPO Anwendung findet. Festhalten lässt sich, dass § 59 StGB zwar rechtstheoretisch bedeutsam ist, da er Schuldspruch in Verbindung mit Verwarnung und Vorbehalt eine eigene Sanktionswirkung sui generis zugesteht und insoweit die Wichtigkeit der Feststellung des schuldhaften Unrechts betont.339 Würde man die Praxis der Diversion hinwegdenken, käme dem Institut auch praktisch eine wichtige Rolle zu. Eine solche könnte sich nun bestenfalls durch das Zuweisen von einzelnen Fallkonstellationen oder Deliktsgruppen ergeben, in denen eine öffentliche Grenzziehung durch Schuldspruch angebracht erscheint. Wichtiger jedoch als ein erneuter Wiederbelebungsversuch wäre wohl die Gewinnung eines grundlegend anderen Verständnisses des Instituts, dahingehend, dass bereits eine Verwarnung mit Strafvorbehalt – allein schon aufgrund des Schuldspruchs – eine wirkliche Sanktion darstellt340 – und es sich dabei entgegen der Sicht des Bundesrates nicht bloß um „einen weiteren Filter der Straflosigkeit“ 341 handelt. b) Verletzteninteressen Zweitens wäre daran zu denken, dass gerade das Verhalten des Täters gegenüber dem Verletzen die paradigmatische Möglichkeit ist, das Vertrauen in seine Legalitätshaltung zu ermöglichen.342 Die Ausgleichsbemühungen können gerade als „Ausdruck der Übernahme von Verantwortung“ 343 verstanden werden. Die
336 Als einziger Anreiz für die Praxis wurde eine Verkürzung der Höchstdauer der Bewährungszeit von drei auf zwei Jahre vorgesehen. 337 Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des 2. Justizmodernisierungsgesetzes, BT-Drs. 16/3038, S. 72: Der Ausbau der Verwarnung „würde zu nicht kompensierbaren Einnahmeausfällen bei den Ländern im zweistelligen, zumindest auf längere Sicht aber wohl sogar im dreistelligen Millionenbereich führen.“ 338 Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des 2. Justizmodernisierungsgesetzes, BT-Drs. 16/3038, S. 73. 339 Die Rechtsnatur ist umstritten. Häufig wird sie nicht als Sanktion (vgl. aber C. Fn. 331), sondern als maßnahmeähnliches Reaktionsmittel eingestuft, vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 59 Rn. 2: „Reaktionsmittel eigener Art mit maßnahmeähnlichem Charakter [. . .], das durch Missbilligung der Tat und Inpflichtnahme des Täters eine Besinnungswirkung für die Zukunft anstrebt.“ 340 Vgl. C. Fn. 331. 341 Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des 2. Justizmodernisierungsgesetzes, BT-Drs. 16/3038, S. 73. 342 Ähnlich Kaspar, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 4.12.2014 – 4 StR 213/ 14, JZ 2015, S. 316. 343 BGH NStZ 1995, 492 f.
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Möglichkeit solcher restitutiver Handlungen findet sich insbesondere in Gestalt des Täter-Opfer-Ausgleichs sowie der Schadenswiedergutmachung an vielen Stellen des Strafrechts.344 Diesbezüglich besteht ein erheblicher Spielraum für eine erweiterte Rechtsanwendung. Beispielsweise wäre eine weniger zurückhaltende Anwendung345 z. B. des Täter-Opfer-Ausgleichs346 denkbar.347 Wenn man den Täter-Opfer-Ausgleich nicht mit idealen Vorstellungen der Versöhnung überlädt, besteht hier ein großes Anwendungspotential.348 Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass es den Verletzten oftmals zentral auf Schadenswiedergutmachung und weniger auf eine therapeutische Konfliktregelung ankommt.349 Neben der steigerungsfähigen Anwendungsdichte besteht eine andere Chance darin, die strukturellen Defizite zu adressieren, die dem Verurteilten eine Ausgleichsleistung erschweren: So verfügen lediglich die Hälfte der Einrichtungen, an denen institutioneller Täter-Opfer-Ausgleich stattfindet, über die Möglichkeit von Opfer-Fonds, die die Wiedergutmachungsbemühungen des Täters erleichtern, indem sie zinslose Kredite oder die Vergütung von Arbeitsstunden anbieten.350 Auch dem zur unbedingten Freiheitsstrafe verurteilten Täter wird durch die Verweigerung einer am Mindestlohn orientierten Bezahlung351 die Erfüllung eines Schadensersatzanspruches erschwert – ganz abgesehen davon, dass ein Stundenlohn von ein bis zwei Euro auch schwerlich dazu geeignet ist, die verfassungsgerichtliche Vorgabe zu erfüllen, dem Verurteilten „den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen“.352 344 Als strafzumessungs-relevanter Umstand § 46 Abs. 2 StGB, als Grund, die Strafe zu mildern oder von ihr abzusehen §§ 46a, 59a Abs. 2 Nr. 1, 56b Abs. 2 Nr. 1, StGB §§ 153a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5, 155a, 155b StPO. 345 Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, § 46a Rn. 1. 346 Nach § 46a Nr. 1 StGB, §§ 155a, 155b StPO. 347 Grds. für einen weiteren, Ausbau Streng, in: Nomos Kommentar, § 46a Rn. 4, der aber zugleich auf die kritische Stimmen (Unschuldsvermutung, Unschärfe der Regelung) verweist; krit. etwa Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 46a Rn. 1 ff. Vgl. zu § 46a Richter, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung im Rahmen von § 46a StGB, 2014; zum Täter-Opfer-Ausgleich auch Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 207 ff. 348 Vgl. Hamel, ebd., S. 247, aber auch zu den Grenzen der Mediation bei häuslicher Gewalt und Sexualdelikten (ebd., S. 250 ff.). 349 Ebd., S. 226 Fn. 93 m.w. N., u. a. auf Kilching, Aktuelle Perspektiven für TäterOpfer-Ausgleich und Wiedergutmachung im Erwachsenenstrafrecht, NStZ 1996, S. 316 Zur Frage der Freiwilligkeit der Leistung vgl. Baumann u. a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992, S. 40 f. Der Alternativ-Entwurf zielte wesentlich auf die wiedergutmachende Leistung vor der abschließenden gerichtlichen Entscheidung, vgl. ebd., S. 2 (§ 6) und 62 f. 350 50,4 % der (228 sich rückmeldenden) Einrichtungen laut Kerner/Weitekamp, Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in Deutschland, 2013, S. 108. 351 OLG Hamburg, 15.07.2015 – 3 Ws 59/15 Vollz = NStZ 2016, 239. 352 „Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemes-
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Neben der Anwendungshäufigkeit ist unter dem vorgestellten Modell ebenso daran zu denken, ob nicht die Wiedergutmachungsleistung des Täters in einem höheren Maß als in der bisherigen Praxis als alleinige Reaktion genügt. So kommt etwa Helmut Pollähne zu einer ernüchternden Beurteilung der momentanen Rechtsanwendung: Die Vorschrift des § 46a StGB „soll das Flaggschiff einer Reihe von Regelungen sein, die den Grundgedanken der sog. ,restorative justice‘ zumindest ansatzweise erkennen lassen. Was allerdings bereits für § 46a StGB gilt, gilt für die anderen über das Verfahrens- und Vollstreckungsrecht verstreuten Vorschriften erst recht: Als Alternative zur Freiheitsstrafe taugen sie kaum, allenfalls bieten sie in Einzelfällen einen zusätzlichen Einstieg in die Bewährungsstrafe.“ 353
c) Bewährung Wollte man den Gedanken der Wiederherstellung als zuverlässiger normativer Kontoführer ernst nehmen, ist vor allem das Institut der Bewährung ein offensichtlicher Ansatzpunkt.354 Das Gericht setzt die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass dem Verurteilten bereits die Verurteilung zur Warnung dient und er künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Als tentative Folgerungen aus dem hier vorgestellten Modell kommen insbesondere die Betonung der Ausnutzung des Spielraums der Auflagen und Weisungen (i), die Ausweitung des Anwendungsbereichs (ii) sowie eine gesteigerte Betreuungsdichte der Bewährungshilfe (iii) in Betracht. Insbesondere bei den Auflagen bietet sich eine Interpretation an, die das Legalversprechen des Verurteilten als glaubwürdig erscheinen lassen (i). Hier wäre darüber nachzudenken, ob nicht die Möglichkeit besteht, den Täter (ggf. mit Unterstützung seitens des Verteidigers und der Bewährungshilfe) aktiver miteinzubeziehen.355 Das Gesetz sieht – was dem Angeklagten regelmäßig und zum Teil auch dem Verteidiger unbekannt ist, sodass wohl eine Hinweispflicht des Gesene Anerkennung findet. (. . .) Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewußt gemacht werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist.“ (BVerfGE 98, 169, 218). 353 Pollähne, Alternativen zur Freiheitsstrafe, in: Strafverteidigervereinigungen, Alternativen zur Freiheitsstrafe, 2013, S. 22. 354 Auch Susanne Walther plädiert dafür, die Bewährung statt als Modifikation der Freiheitsstrafe als eigenständige Sanktionsform zu begreifen. Vgl. Walther, Was soll „Strafe“, ZStW 111 (1999), S. 135 u. 141. 355 Dies wäre allerdings nur unter der Einführung eines Strafzumessungs-Interlokuts denkbar, zumal sich sonst der Angeklagte womöglich zu seiner Verteidigungsstrategie in Widerspruch setzen müsste, vgl. dazu Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 56 Rn. 18.
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richts besteht356 – bereits in § 56b Abs. 3 StGB die Möglichkeit357 einer solchen aktiven Einbindung des Verurteilten vor, indem sie ihm ermöglicht, selbst Leistungen und Zusagen vorzuschlagen:358 „Erbietet sich der Verurteilte zu angemessenen Leistungen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen, so sieht das Gericht in der Regel von Auflagen vorläufig ab, wenn die Erfüllung des Anerbietens zu erwarten ist.“
Die parallele Regelung findet sich auch im Bereich der Weisungen, § 56c Abs. 4 StGB. Neben der Möglichkeit kreativer Auflagen359 oder Weisungen ist hier – was freilich genauerer Analyse bedarf – insbesondere auch an die Bewährungsweisung der elektronischen Überwachung („elektronische Fußfessel“) zu denken, die abgesehen von einem hessischen Modellprojekt ausschließlich im Bereich der Führungsaufsicht Anwendung findet.360 Aber auch technisch zeitgemäßerer Formen sind hier denkbar. Anzuknüpfen wäre hier an die Auflagen und Weisungen, die im Rahmen der Einstellung des Strafverfahrens erteilt werden können (s. § 153a StPO). Gerade deren im Gegensatz zu § 56b StGB offene Katalog361 ermöglicht die Entwicklung alternativer Reaktionsweisen,362 wie etwa die Auflage der Beratung.363 Folgt man der Vorstellung der Möglichkeit einer konstruktiven, inklusiven Reaktion, muss man auch eine Ausweitung des Anwendungsbereichs in Fortsetzung der ersten gesetzlichen Ausdehnung aus dem Jahre 1986 in Betracht zie356
So Ostendorf, in: Nomos Kommentar, § 56b Rn. 18. Ostendorf (ebd.) geht mit Blick auf § 265a StPO sogar vom grundsätzlichen Vorrang der aktiven Einbeziehung des Angeklagten aus. 358 Etwa anerbieten, Verletzten einen geeigneten Arbeitsplatz zu beschaffen. Die angebotene Leistung kann auch ein Opfer sein, dessen Auferlegung unzumutbar, unverhältnismäßig oder ein Verstoß gegen Grundrechte wäre. Dass ihre Annahme zulässig ist, beruht auf ihrer Freiwilligkeit, s. Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 56b Rn. 27. 359 Groß, in: Münchner Kommentar, § 56a Rn. 31 mahnt zwar angesichts der Freiwilligkeit zur zurückhaltenden Anwendung des offenen Kataloges, hält jedoch das Angebot zur Blutspende für erfasst und meint, dass man „auch das Angebot zur Spende eines Organs zu Lebezeiten, z. B. einer Niere, [. . .] nicht mehr kategorisch ablehnen“ könne. 360 Das hessische Justizministerium berichtet in dem seit dem Jahre 2000 laufenden Modellprojekt von einer Widerrufsquote von etwa 10 %, s. Pressemitteilung vom 25.01. 2013, abrufbar über justizministerium.hessen.de; vgl. auch die das Projekt evaluierende Dissertation von Meyer, Modellprojekt elektronische Fußfessel, 2004. 361 Vgl. auch zu den nicht genannten Weisungen des offenen Kataloges des § 56c die Übersicht bei Groß, in Münchner Kommentar, § 56c Rn. 34 ff. 362 Vgl. ausführlich zu den „unbenannten“ Auflagen, Beulke, in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 153a Rn. 69 ff. 363 Beulke, Gewalt im sozialen Nahraum – Zwischenbericht eines Modelprojekts, MschrKrim 77 (1994), S. 360 ff. Diese Auflage ist auch deswegen besonders interessant, weil sie eine konstruktive Sanktion darstellt, ohne die Versöhnung mit dem Opfer abzuzielen (ebd., S. 365). Eine Ausweitung dieser Auflage auf Ehe-, Erziehungs- und Suchtberatung wäre denkbar, so Beulke, in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 153a Rn. 78. 357
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hen (ii): Mussten zuvor für die Anwendung der Bewährung von über einem Jahr bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe „außergewöhnliche Umstände“ bei Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen, genügen seitdem „besondere Umstände“, wofür ein Zusammentreffen von Milderungsgründen, die für sich allein nur als einfache Umstände angesehen werden können, als ausreichend erachtet wird.364 Insofern könnte man – auch mit Blick auf die besseren Rückfallquoten von Bewährungsstrafen365 – an weitere Anwendungserleichterungen366, insbesondere die Anhebung der Grenze überlegen,367 die eine Aussetzung zur Bewährung nur für Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren ermöglicht. Auch neuere Untersuchungen zeigen, dass dies alles andere als abwegig ist: So kommt etwa Enrico Weigelt in einer empirischen Untersuchung zur Bewährung zum Schluss, dass sich insbesondere im obersten derzeit aussetzungsfähigen Strafbereich von zwei Jahren Freiheitsstrafe ein großer Anteil günstig prognostizierter Verurteilter befindet und davon auszugehen ist, dass sich auch in dem zwei Jahre übersteigenden Strafbereich eine nicht unbeachtliche Menge an Verurteilten findet, von denen keine oder nur geringe Rückfallgefahr ausgeht.368 Eine derartige Ausweitung der Bewährung dürfte freilich nicht isoliert erfolgen – dies würde wohl zu einer Anhebung der Freiheitsstrafen und somit im Fall des Widerrufs zur Verbüßung längerer Freiheitsstrafen führen.369 Vielmehr erscheint zugleich eine Bewährungshilfe als Regelfall sowie ein besseres Betreuungsverhältnis erforderlich (iii). Die derzeitigen Belastungszahlen sind hoch.370 So lag die Belastungszahl in Hamburg371 im Jahre 2010 bei 105,3 und 364 Hubrach, in: Leipziger Kommentar, § 56 Rn. 36. Kasuistik: Schuldeinsicht, Lebensalter, Erkrankung, berufliche Nachteile, abhängige Familie, Versuchsstadium, VMann-Einsatz, Zurückliegen der Tat, Mitverschulden. Besondere Umstände können sich auch erst nach der Tat ergeben (Aufklärungshilfe, Untersuchungshaft, Täter-Opfer-Ausgleich) (ebd., Rn. 40 f.). 365 Dass die Hypothese, die im Vergleich zur unbedingten Freiheitsstrafe geringere Rückfallquote nach Bewährungsstrafen würde auf der selektiven Auswahl beruhen, fraglich ist, zeigt Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?, 2014, S. 33 ff. 366 Eröffnung der Aussetzungsmöglichkeit nach Anrechnung der U-Haft und nach Anrechnung eines Abschlags für überlange Verfahrensdauer; weitere Beschränkung der Widerrufsmöglichkeiten. Pollähne, Alternativen zur Freiheitsstrafe, in: Strafverteidigervereinigungen, Alternativen zur Freiheitsstrafe, 2013, S. 23. 367 Vgl. kritisch hierzu König, Strafaussetzung zur Bewährung für Freiheitsstrafen von über zwei Jahre?, ZRP 2001, S. 67 ff. 368 Weigelt, Bewähren sich Bewährungsstrafen?, 2009, S. 297 f.; Ostendorf, in: Nomos Kommentar, vor § 56 Rn. 7 (vgl. die Empfehlung der Ausweitungsmöglichkeit auf fünf Jahre durch die Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts). 369 Ebd. 370 So Ostendorf, in: Nomos Kommentar StGB, vor § 56 Rn. 7. 371 Vgl. die Antwort des Senats auf eine schriftliche kleine Anfrage, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drs. 19/8486.
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in Bayern372 für das Jahr 2014 bei 75,8 Probanden pro Bewährungshelfer. Dies alles liegt weit über dem Reformziel der 1970er Jahre von 40 Probanden,373 aber auch deutlich über Einschätzungen der Richterschaft. Diese hielten in einer Befragung aus dem Jahre 2003 mehrheitlich eine Betreuungsanzahl von „bis zu 60 Probanden“ bzw. „bis zu 40 Probanden“ pro Bewährungshelfer für günstig.374 Erstrebenswert könnte nach österreichischem Vorbild eine Höchstzahl von 20 Probanden sein.375 Wegweisend sind hier Projektversuche, die einen intensiven, anfangs sogar täglichen Kontakt mit dem Probanden vorsehen.376 Ganz elementar müsste die Länder auch interessieren, dass sich die Strafaussetzung zur Bewährung nicht nur weniger eingriffsintensiv und im Sinne der Individualprävention effektiver, sondern auch kostengünstiger ist: Für die Kosten einer zweijährigen Freiheitsstrafe von etwa siebzigtausend Euro377 ließe sich – überspitzt gesagt – ein persönlicher hauptberuflicher Bewährungshelfer für denselben Zeitraum finanzieren.378 3. Abschied vom Strafschmerz Diese Andeutungen zur gegenwärtigen Strafpraxis dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Teil der illegitimen Praxis der Schmerzzufügung bleiben. Zwar sind sie die – aus Sicht der vorgelegten Überlegungen – besten Institute, die das gegenwärtige Sanktionssystem zur Verfügung stellt, gewissermaßen Ausbruchstellen aus der Praxis der Schmerzzufügung. Dennoch bleiben sie durch ihre Rückbindung (Verwarnung unter Strafvorbehalt; Absehen beim Täteropferausgleich von der eigentlich „verwirkt[en]“ Strafe; Freiheitsstrafe mit Bewährung) der Praxis der Schmerzzufügung verhaftet. 372 Bess/Schuh-Stötzel/Maltry, Quo vadis, Bewährungshilfe Bayern?, Bewährungshilfe 63 (2016), S. 64. Dies ist eine Reduktion von vormals 84,4 (2012), nachdem 38 neue Planstellen in den Haushaltsjahren 2013 und 2014 geschaffen wurden (ebd.). 373 Dünkel, Rechtliche, rechtspolitische und programmatische Entwicklungen einer sozialen Strafrechtspflege in Deutschland, in: DBH u. a., Kriminalpolitische Herausforderungen, 2009, S. 38. 374 Herbert, Bewährungshilfe im Meinungsbild, 2003, S. 31: Frage: „Eine Überlegung zur vertretbaren Belastung der Bewährungshelfer/-innen: Wie viele Probanden sollten Ihrer Meinung nach günstigenfalls im Verantwortungsbereich einer einzelnen Bewährungshelferin/eines einzelnen Bewährungshelfers sein?“ Die 829 Antworten der befragten Richter verteilten sich prozentual (exklusiv der fehlenden Angabe) auf die vorgegebenen Aussagen: „Bis zu 40 Probanden“ (27 %), bis zu 60 Probanden (53 %), „bis zu 80 Probanden“ (18 %), bis zu 100 Probanden (2 %), mehr als 100 Probanden (0 %). 375 So Ostendorf, in: Nomos Kommentar, vor § 56 Rn. 7. 376 Vgl. das Projekt der Ambulanten Intensiven Betreuung des Ambulanten Sozialen Dienstes beim LG Köln. Vorstellung durch Martin Kuhnigk auf dem 3. Jugendgerichtstag NRW am 1.10.2014 in Köln. 377 Ca. 100 Euro pro Gefangener pro Tag. 378 Angelehnt an Ostendorf, in: Nomos Kommentar, vor § 56 Rn. 7.
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Nötig ist daher, über ein Modell nachzudenken, das sich von dieser Einbindung in die Praxis der Schmerzzufügung befreit und mit ihr insgesamt bricht. Wie könnte dieses aussehen? Denken lässt sich das auf verschiedene Weisen, andeuten möchte ich hier zumindest eine: Stellen wir uns, die bisherigen Überlegungen zusammenfassend, vor, der Täter erklärt mit seiner Tat, anderen als den rechtlichen Gründen zu folgen (vielleicht nicht als Maxime, sondern nur ausnahmsweise), und zwar in einem Bereich, den die Gemeinschaft als grundlegend für die Teilnahme an der gemeinsamen sozialen Praxis erachtet.379 Die Zuschreibung dieses unberechtigten Verhaltensaktes wurde durch den rechtskräftig abgeschlossenen Strafprozess, in dem der Beschuldigte die Zuschreibung als unberechtigt kritisieren konnte, zu einer rechtlich verbindlichen Zuschreibung in Hinblick auf sein deontisches Konto. In den Rechtsfolgen bietet ihm nun das Strafrecht die Möglichkeit zu verhindern, dass die Gemeinschaft der Kontoführer diesen Akt als repräsentativ für die Schlussregeln ansieht, denen er folgt. Es versetzt ihn also in die Lage, diese Verhaltensweise aus dem Reservoir der von ihm mutmaßlich als zulässig erachteten Schlussregeln zu eliminieren. Wenn der Täter damit zeigt, dass er die Schlussregel für sich als nicht gültig erachtet, dann wird gleichzeitig den anderen Akteuren kommuniziert, dass diese Schlussregel auch für sie nicht in Betracht kommt. Wie kann er dies nun bewerkstelligen? Die Kontoführer müssen ihm dafür glauben, dass er sich von der in der Tat zum Ausdruck gekommenen Schlussregel distanziert, sein äußerliches Verhalten nicht nach dieser Schlussregel richtet. Um diese Behauptung glaubwürdig zu äußern, sind Instrumentarien zu entwickeln. Man kann damit beginnen, die oben skizzierten Institute aus ihrer Einbindung in die Praxis der Schmerzzufügung herauszulösen: Der Täter könnte etwa versprechen, mit einer ihn unterstützenden Person eine Beziehung aufzubauen, für relevante Rechtsgeschäfte besondere Genehmigungsanforderungen zu erfüllen, sich zu Beratungen oder Nachweisakten zu verpflichten (Meldepflichten, Fußfessel, Onlinetracking), sich zu – sowohl opferbezogen als auch symbolisch – restitutiven Leistungen380 bereit zu erklären etc. Freilich führt die Idee der Rückgewinnung von rechtlicher Glaubwürdigkeit zu problematischen Konstellationen: Können wir etwa jemandem, der einen Mord begangen hat, so einfach wieder vertrauen? Oder können wir derjenigen vertrauen, die auch weiterhin die von ihr angewandten Schlussregeln für richtig
379 Derjenige, der den Begriff „Rot“ falsch anwendet, wird nur nicht verstanden, derjenige, der sich nicht an soziale Rituale hält, wird ausgegrenzt, derjenige, der sich nicht an seine vertraglichen Pflichten hält, wird angemahnt und notfalls durch Klage gezwungen. In allen diesen Fällen ist es unschädlich, dass der andere sich nicht an die Gründe hält – er schädigt sich nur selbst bzw. kann zur Entschädigung gezwungen werden. 380 Siehe die Bemerkungen oben zu § 56 StGB.
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hält?381 Als erstes muss man sich hier klar machen, dass derartige Fälle, nicht nur für die Idee der Glaubwürdigkeits-Wiederherstellung, sondern auch für jede andere, insbesondere unsere gegenwärtige Sanktionspraxis problematisch sind: Man könnte sich zwar darauf zurückziehen, dass die Strafe eben nur in der Erduldung eines tatproportionalen Schmerzes liege – und das eben auch alles sein, was man verlangen könne. Das lässt sich aus einer straftheoretischen Binnensicht gut vertreten. Doch blickt man auf das Strafrecht als gesellschaftliches Regulationsmedium, dann versagt in derartigen Fällen auch das gegenwärtige Strafrecht: Können wir über denjenigen, der nach 25 Jahren aus der Strafhaft entlassen wird, sagen, wir empfingen ihn als Mitbürger, dem wir wieder als gleichberechtigten Akteur vertrauen – oder auch über denjenigen, der nach der Verbüßung der Tat eine ähnliche begehen könnte382? Dies ist freilich kein Gegenargument, zeigt jedoch, dass diese problematischen Konstellationen auch im gegenwärtigen Sanktionssystem nicht befriedigend aufgelöst werden. Es erscheint uns unvorstellbar, eine Person, die einen Mord begangen hat, nur dadurch zu sanktionieren, dass sie uns ihre künftige Legalität verspricht – selbst wenn dies unter für sie erheblich belastenden Bemühungen geschieht. Zum einen müssen wir uns jedoch überlegen, dass eine solche Reaktion auf schwerstes Unrecht womöglich eben nur noch nicht vorstellbar ist. Und zum anderen sollten wir uns davor in Acht nehmen, dass wir uns nicht von Intuitionen zu Extremfällen das Gepräge der gesamten Sanktionspraxis aufoktroyieren lassen.
VIII. Schlussbetrachtung 1. Gründefolger, Kooperationsentzieher, Vertrauenssucher Wie wir sahen, folgen wir Regeln, insofern wir Gründen folgen. Wir schließen vom einen auf das andere. Natürlich erschöpft sich unsere Lebensform nicht im Schließen und dem Handeln entlang unserer Schlussfolgerungen. Wir haben auch daneben noch ein Leben: Insbesondere haben wir etwa Sensationen383. Diese können rein subjektiv bleiben. Doch spätestens wenn wir unsere Sensationen und die damit einhergehenden Gedanken übermitteln wollen, begeben wir uns in das 381 Zu unterscheiden ist dies von demjenigen, der sich (womöglich zu recht) nach wie vor für unschuldig hält. Dies ist eine Frage des Strafprozesses und der Rechtsmittel. Wenn die Verurteilung rechtskräftig ist, kann der Verurteilte zwar noch immer an seine Unschuld glauben und Überzeugungsversuche dahingehend unternehmen; im äußeren rechtlichen Verhalten wird er jedoch als jemand angesehen, der die Tat begangen hat. Die dabei möglichen Justizirrtümer sind unerträglich – und es gilt alles zu unternehmen, sie zu vermeiden (und vielleicht auch noch verstärkt Möglichkeiten der Rechtskraftdurchbrechung zu schaffen). Doch sie sind ein Problem des Erkenntnisverfahrens. 382 Mit einer Wahrscheinlichkeit, die noch keine Maßregel der Sicherung erlaubt. 383 Doch auch diese ordnen wir in begrifflicher Arbeit in unser Geflecht von Relationsbeziehungen ein.
VIII. Schlussbetrachtung
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Reich geteilter Gründe und geteilter Normen.384 Um einem anderen etwas mitzuteilen, müssen wir bereits eine Unmenge an gemeinsamen Gründen voraussetzen, zu denen wir dasjenige, was wir ihm erklären wollen, in Beziehung setzen können. Bereits diese Praxis der Kommunikation ist eine Form der Kooperation: Wir müssen ein Set von Inferenzen teilen – nur auf diese Weise verstehen wir uns. Diese basal kooperative Praxis des Verständigens befähigt uns, eine elaborierte Variante der Kooperation zu entwickeln: Wir sind deontische Kontoführer im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen und führen über unsere Züge Buch, behalten unsere Behauptungen und die der anderen im Blick: Wir merken uns, auf was wir uns und die anderen festlegten, wir schlussfolgern, welche weiteren Festlegungen oder Berechtigungen sich aus diesen Zügen ergeben. Die hierfür nötigen Schlussregeln, also die Gründe, die wir in dem jeweiligen Lebensbereich für relevant erachten, gestalten wir selbst – und zwar in einer wechselseitigen Vermittlung unserer sanktionalen Einstellungen, indem wir sie in einem Prozess gegenseitiger Kritik entwickeln – as we go along.385 Die grundlegende Sanktion besteht darin, den Zug eines Akteurs als zutreffend oder unzutreffend zu behandeln. Halten wir ihn für zutreffend, sanktionieren ihn also positiv, zeigt sich dies darin, dass wir ihn als berechtigt und somit zu Anschlussverhalten berechtigend erachten. Die natürliche negative Sanktion ist die komplementäre Haltung, nämlich die, den Zug als nicht-berechtigt und somit nicht zu Anschlussverhalten berechtigend anzusehen. Diese beiden Formen der Sanktionierung sind Proto-Formen der Gewährung und des Entzugs von Kooperation. Auch die Teilnahme am Rechtsverkehr lässt sich als Teilbereich eines derartigen deontischen Kontoführens auffassen. Dort legen wir einen Bereich fest, in dem es erforderlich ist, das Verhalten nach allgemein relevanten Gründen zu bestimmen, wobei auch die Regeln des Schlussfolgerns hier fixiert und standardisiert sind. Aus unterschiedlichen Gründen, insbesondere wegen der Möglichkeit des Zuges, künftiges Gründe-Folgen anzukündigen, also der Praxis des Versprechens, aber auch bereits deswegen, weil wir realiter keine Behauptung hinsichtlich aller sie begründenden Behauptungen überprüfen können, erschöpft sich die Konto384 Siehe das Argument zur Privatsprache von Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), 2011, S. 134 (Nr. 202). Es gibt kein Kriterium der richtigen falschen Verwendung; die Vorstellung eines rein privaten Kriteriums für die richtige Verwendung ist unbrauchbar, weil so nicht zwischen richtiger und vermeintlich richtiger Verwendung differenziert werden kann, so Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004, S. 55; vgl. zur Anwendung des Privatsprachenarguments auf die Frage der Schuld, Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, insbes. S. 87 ff. 385 „(. . .) Und nun sagt Einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln. Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ,make up the rules as we go along‘? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.“ Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), 2011, S. 68 (Nr. 83).
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führungspraxis nicht im eindeutigen Buchführen, sondern hat wesentlich etwas mit Vertrauen zu tun: der Entwicklung der Erwartung, ob jemand sein Verhalten jetzt gerade, aber vor allem in Zukunft nach den für uns gemeinsam relevanten Gründen richtet. Nimmt man diesen Aspekt des Vertrauens hinzu, besteht die Sanktion nicht rein in der Zuschreibung einer berechtigten/nicht-berechtigen Performanz, sondern zusätzlich darin, den anderen als einen sich zuverlässig/nichtzuverlässig an gemeinsamen Gründen orientierenden deontischen Kontoführer zu betrachten.386 Wie wir sahen, ist unsere soziale Praxis von derartigen Sanktionierungen durchzogen. Wir vertrauen jemandem, indem wir an dessen Aussagen anschließen, unser Verhalten an dessen Zusage ausrichten, etc. Der Entzug von Vertrauen wiederum kann bereichsbezogen sein, etwa kann sich das entzogene Vertrauen nur auf die Kompetenz als Autofahrer beziehen. Flexibel bestimmbar ist auch, wo wir die Grenze eines Bereichs ziehen: Beispielsweise können wir uns darauf beschränken, nicht mehr an jemandes Aussagen zu römischen Kaisern zu glauben, oder aber an dessen Aussagen zur Geschichte oder zu Ereignissen ganz generell.387 Vorgeschlagen wurde nun, auch das Strafrecht in diesem Kontext von Vertrauensgewährung und Vertrauensentzug zu deuten: Der Täter zeigt durch seine Handlung, dass er nicht bereit war, den gemeinsam als relevant festgesetzten Gründen zu folgen. Die Zuschreibung dieses Verhaltens zu seinem Konto durch den Schuldspruch führt nicht nur dazu, dass in einem öffentlichen Verfahren allgemeinverbindlich festgestellt wird, dass es sich um eine nicht-berechtigte und somit auch nicht-berechtigende Performanz handelt. Wir entziehen ihm auch unser Vertrauen, ein zuverlässiger (straf-)rechtlicher Kontoführer zu sein.388 Um ihm diesbezüglich wieder vertrauen zu können, ist es erforderlich, dass er seine künftige Zuverlässigkeit glaubhaft versichert – und hierfür können Zusagen des Verurteilten oder auch restitutive Leistungen in einem weiten Sinne nötig sein.389 386 Zur wichtigen Unterscheidung, ob wir nur die konkrete Behauptung für nicht-berechtigt halten oder auch für ähnliche Performanzen die Berechtigung entziehen, vgl. C. II. 3. 387 Die Reichweite unseres Schlusses hängt von vielen Aspekten ab: von der Reichhaltigkeit der Beurteilungsgrundlage, der Wichtigkeit, die wir mit der Glaubwürdigkeit attribuieren etc. 388 Wie weit dieser Bereich des Vertrauensentzuges geht, ist nicht festgelegt. Es kann sich auf einen isolierbaren Teilbereich beschränken, siehe z. B. den Entzug des Führerscheins. Siehe dazu B. III. 2. e). 389 Und was wir dafür benötigen, dass dieses Versprechen glaubwürdig erscheint, bestimmt sich nach der sozialen Praxis, kann nicht absolut festgesetzt werden. Insbesondere ist damit nicht gesagt, dass über die Schadensersatzleistung hinausgehende Leistungen nicht erforderlich sind. Die Sanktion muss sich hier nicht so sehr nach dem Schaden, sondern eher nach der persönlichen Leistungsfähigkeit richten. Damit kann man auch Wirksamkeitsbedenken entgegentreten, die klassisch im Bild des Ohrfeigen verteilenden und instantan Schadensersatz leistenden Römers Lucius Veratius geäußert
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Es geht somit darum, Bedingungen herzustellen, unter denen ein erneutes Vertrauen in seine Bereitschaft, sich nach den rechtlich relevanten Gründen zu richten, möglich ist. Es geht also gerade nicht darum, dem Verurteilten intentional ein Übel zuzufügen.390 Die diesbezüglichen strafrechtstheoretischen Narrative, die den Strafschmerz rechtfertigen wollen, sind zwar elaboriert: Sie erfinden hypothetische Übereinkünfte und Pflichtentauschverträge, konstruieren künstliche Klugheitsgründe und Sekundärpflichten der Bürger, sie entwerfen sogar eine zweite Welt. Diese Entwürfe sind ohne Frage kunstvoller ausgearbeitet als die Alltagsvorstellungen391, mit denen der Strafschmerz gerechtfertigt wird. Dennoch bleiben es, wie wir sahen, Variationen über das Thema: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ 392 Und das sollte uns zu wenig sein. Erkennt man die Unzulänglichkeit dieser Modelle, dass nämlich die Zufügung des Strafschmerzes kein unabdingbarer Teil der Reaktion auf zurechenbares Unrecht ist,393 wird eine konstruktive Sichtweise auf die Institution des Strafrechts möglich – und das in einem umfassenden Sinn. Der Ausgleich mit dem Verletzten etwa mildert nicht nur, wie das geltende Recht es sieht, die eigentlich verdiente Strafe. Er ist vielmehr neben anderen Techniken ein wichtiges Mittel zur Demonstration von legaler Vertrauenswürdigkeit. Das Strafrecht ist – betrachtet man die Rechtsfolgen394 – die Institution, die dem Verurteilten ermöglicht, sich in einem institutionalisierten Verfahren stellvertretend gegenüber allen Akteuren als rechtlich vertrauenswürdig zu präsentieren – ohne und um nicht willkürlich strafenden Reaktionen der einzelnen Akteure ausgesetzt zu sein. 2. Zwei offensichtliche Einwände Dieser Blick auf die konstruktive Funktion des Strafrechts deutet die Antwort auf eine naheliegende Frage an: Weshalb sollten wir nicht einfach eine Schlusswerden. Dazu und zum Einwand der unzureichenden Sanktionswirkung der Schadenswiedergutmachung Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987, S. 140 ff. 390 Auch bei indigenen Völkern, wie den Cheyenne, stehen im Zentrum der Strafpraxis die Bestätigung der Norm und die Wiederaufnahme des Täters in die Gemeinschaft. So berichtet Rolinski von einem Jäger, der entgegen der Regel zu weit vorausreitet, und sanktioniert wird: Sein Pferd wird erschossen, sein Gewehr zerbrochen. Dem die Tat Reuenden werden ein zweites Gewehr und ein nicht benötigtes Pferd geschenkt. Rolinski, Vom Strafen und von Strafe in indigenen und „modernen Gesellschaften“, in: Radtke u. a., Muss Strafe sein? Jung-Kolloquium, 2004, S. 107 f. 391 Siehe A. III. 392 Siehe B. 393 Vgl. dazu bereits Lüderssen, Recht, Strafrecht und Sozialmoral, in: ders., Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, 1996, S. 204. 394 Zuvor geht es dem Strafrecht darum, dem Angeklagten ein faires Verfahren zu ermöglichen, in dem er sich gegen den Tatvorwurf verteidigen kann.
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regel für gut befinden und etablieren, die eben die Schmerzzufügung als Konklusion vorsieht, also etwa: „Wer eine Straftat begeht, berechtigt den anderen, ihm Strafschmerzen zuzufügen“? Dass wir das können, steht außer Frage: Man sieht es an unserem gegenwärtigen Strafrecht – es gibt kein Naturgesetz, das dies verhindert. Die Antwort liegt in unserem Selbstverständnis und dem Verständnis, das wir von unserer Reaktionspraxis auf erhebliches Unrecht entwickeln können: Wenn der eigentliche Sinn unserer Reaktionspraxis darin besteht, dem Verurteilten wieder vertrauen zu können, dann liegt die Antwort auf der Hand: Die intentionale Zufügung eines Übels befördert nicht dieses Vertrauen in den Akteur, sondern sie behindert es. Wir sollten die Schlussregel demnach deswegen nicht etablieren, weil eine solche Regel kontraproduktiv wäre und weil wir anders können.395 Auch die umgekehrte Frage mag gestellt werden: Ist die Praxis der Vertrauenswiederherstellung nicht gänzlich oppressiv? Handelt es sich dabei nicht womöglich um eine noch perfidere Praxis der Bestrafung, zumal der Täter selbst Mühen auf sich nehmen muss, um vertrauenswürdig zu erscheinen?396 Und selbst die rein verbale Sanktion, die Feststellung der Nicht-Berechtigung zum Tatverhalten, ist letztlich nicht völlig unproblematisch: Würde sie sich in einer Gesellschaft als schärfste Strafreaktion durchsetzen, wäre es nicht unvorstellbar, dass die Akteure in einer solch wortsensiblen Gesellschaft die verbale Missbilligung ihres Verhaltens als grausam wahrnähmen.397 Beides deutet darauf hin, dass, wer so fragt, das Problem nicht bei der Sanktionsart, sondern der Sanktionstätigkeit schlechthin sieht. Solche Positionen werden etwa vom starken Abolitionismus398 vertreten.399 Dagegen gibt es etliche Argumente. Ich will hier nur eines aus dem hier
395 Und es so wenig zu unserem Verständnis als kommunikative Akteure passt wie ein Regentanz zu einem modernen Landwirtschaftsbetrieb. Das Bild gegenüber Newmans Körperstrafe (s. dazu C. V. 2.) äußernd, Simon, Back to the Future: Newman on Corporal Punishment, American Bar Foundation Research Journal 927 (1985), S. 927. 396 Zum „Unter-Beobachtung-Stellen“ als natürliche Verlängerung einer von Disziplinarmethoden und Überprüfungsverfahren erfassten Justiz, dort freilich auf das fabrikähnliche Panoptikum des Zellengefängnisses bezogen, Foucault, Überwachen und Strafen, (1975), 1994, S. 291 f. Jedoch ist „das panoptische Prinzip (. . .) weniger das der Architekturgeschichte des Gefängnisses, sondern vielmehr das Prinzip der Polizei“, so Bung, Wie viel Foucault braucht die Kriminologie heute?, in: Kaiafa-Gbandi/Prittwitz, Überwachen und Strafen in der modernen Kriminalpolitik, 2011, S. 229 ff. (bei der 3. These). 397 Siehe v. Hirsch, Tadel und Prävention: Die Übelszufügung als Element der Strafe, in: Schünemann u. a. (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 101 f. 398 Vgl. den Überblick zum Abolitionismus bei Mühl, Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?, 2014, S. 51 ff.; s. auch die Auseinandersetzung bei Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 207 ff. 399 Richtig dürfte daran sein, dass wir uns darum bemühen sollten, möglichst wenig zu strafen, um die Elemente der Nötigung und Machtausübung so gering wie möglich zu halten.
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entwickelten Zusammenhang nennen: Wir haben etabliert, dass jede soziale Handlung, sogar jede Begriffsanwendung auf der Einnahme und Vermittlung einer positiv- oder negativ-sanktionalen Haltung beruht. Die sanktionale Haltung ist demzufolge vertrauen-gewährend oder komplementär vertrauen-verweigernd, kooperativ oder strafend. Ein Abschied von jeglicher Sanktionierung würde somit einen Abschied von der Vorstellung eines Menschen als sanktionierenden, aber auch kooperativen Wesen bedeuten. Es bräuchte dafür einen neuen Menschen. 3. Refiduzierung Man mag meinen, dass die vorgestellte Idee der Rückgewinnung der legalen Vertrauenswürdigkeit die Präsentation einer Resozialisierungsvorstellung ist, also der Überlegung, dass wir strafen, um den Täter zu bessern und ihn wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Das ist nicht völlig unzutreffend, jedoch ist Vorsicht geboten: Zum einen geht es bei der Rückgewinnung der legalen Vertrauenswürdigkeit gerade nicht um die Rechtfertigung der Praxis der intentionalen Zufügung des Übels, sodass es sich also nicht um eine Zweckbestimmung der (Freiheits-) Strafe handelt.400 Auch dreht es sich dabei nicht um das Ziel des Strafvollzugs oder darum, die Schäden des Freiheitsstrafen-Vollzugs auszugleichen.401 Es geht auch nicht darum, dass der Täter behandelt oder gebessert wird: Er wird nicht als Defizitwesen402 verstanden, dessen mutmaßliche Sozialisationsmängel es auszumerzen gilt. Er soll vielmehr dazu befähigt werden, Bedingungen zu schaffen, die es den anderen Akteuren ermöglichen, sich seiner Bereitschaft, rechtlich relevanten Gründen zu folgen, wieder gewiss zu sein.403 Das ist nicht dasselbe, nur komplizierter ausgedrückt, denn Ziel des vorgeschlagenen Konzepts ist nicht Resozialisierung404, sondern „Refiduzierung“:
400 Wenn man das Konzept der Resozialisierung ernstnimmt, also nicht als Anpassung, sondern emanzipativ versteht, ist es im Rahmen der Strafe unter falscher Flagge unterwegs, so Lüderssen, Gibt es zwischen Ost und West ein gemeinsames Rechtsbewusstsein als Grundlage für strafrechtliche Wiedergutmachung und Resozialisierung?, in: ders., Abschaffen des Strafens, 1995, S. 172. 401 Den Anspruch auf Förderung der Resozialisierung im Strafvollzug kann man auch auf den Gedanken der Folgenbeseitigung stützen, da der Vollzug notorisch desozialisierend wirkt und auch ein Sonderopfer (auch) im Interesse der Allgemeinheit darstellt. So Weigend, Resozialisierung – die gute Seite der Strafe?, in: Radtke u. a., Muss Strafe sein? Jung-Kolloquium, 2004, S. 191. 402 Siehe zur Kritik daran Bung, Abbau der Defizite von Gefangenen oder Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme, Kritische Justiz 2009, S. 296 ff. 403 Vgl. zur Unterscheidung zwischen einem autoritären und einem anthropozentrischen Modell der Rehabilitation, Rotman, Beyond Punishment, in: Duff/Garland, A Reader on Punishment, 1994, S. 292 f. 404 Auch das Bundesverfassungsgericht spricht nicht mehr von Resozialisierung (so noch BVerfGE 64, 261, 276), sondern vom Vollzugsziel der „sozialen Integration“, vgl. BVerfGE 116, 69, 85.
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ridare fiducia405. Der Schwerpunkt der Aktivität wird verschoben: Angestrebt wird nicht Be-Handlung, die von außen möglich ist, intendiert wird vielmehr die Aussicht darauf, dass der Täter sich vertrauenswürdig macht, und ihm Vertrauen zurückgegeben werden kann.406 Auch zeigt sich am Gedanken des Vertrauens ein weiterer grundlegender Unterschied zur Idee der Resozialisierung: Der angepasst lebende, gut sozialisierte Wirtschaftsstraftäter mag keiner „Resozialisierung“ bedürfen,407 aber in seinem Willen, zuverlässiger rechtlicher deontischer Kontoführer zu sein, ist er unsicher geworden.408 Wie stellt der Täter – es ist nämlich er und nicht der Strafschmerz, der versichert – nun dieses Vertrauen her? Das ist die wohl schwierigste Frage. Das hier Entwickelte kann Hinweise liefern, die echten Antworten können nur in der Praxis, insbesondere bei denjenigen Experten liegen, die sich mit der Tätigkeit der Legalprognose beschäftigen. Mehr als nur die Prüfung, welche kriminovalenten oder kriminoresistenten Faktoren vorliegen, wäre dabei in den Blick zu nehmen, wie der Täter solche kriminoresistenten Faktoren akquirieren kann. Das ist eine Frage der praktischen Erfahrungen von Psychologen, Bewährungshelfern, Sozialtherapeuten und nicht zuletzt Richterinnen. Am Versuch, die geschilderte Vorstellung einer Vertrauenspraxis als Sanktionstheorie einzuordnen, kann man sich abschließend noch einmal die Überkommenheit der Dichotomie der Straftheorien vergegenwärtigen: Entziehen wir Vertrauen aus präventiven oder retributiven Gründen? Wir könnten es retributiv deuten: Wir vergelten das Verhalten desjenigen, der nicht den rechtlich relevanten Gründen folgt, indem wir ihm das verdiente Misstrauen zuteilen, und zwar in gerechter und tatproportionaler Weise. Mühelos ist auch die präventive Version möglich: Wir verlangen nach der Tat, dass der Verurteilte uns glaubhaft verspricht, künftig den rechtlich relevanten Gründen zu folgen, um ihm (wieder) vertrauen zu können; denn nur ein solches, den Vertrauensbruch kompensierendes Versprechen reintegriert den Täter, schreckt ihn ab, lässt die übrigen Akteure erkennen, dass es sich bei der Tat um ein missglücktes Unternehmen, um Unrecht handelte. Wir entziehen Vertrauen, und gewähren Vertrauen. Die Frage ist lediglich, welchen Aspekt dieses einen Vorganges wir besonders akzentuieren. Und so verhält es sich auch bei unserer gegenwärtigen, schmerzzufügenden Strafpraxis: Retribution und Prävention sind zwei Weisen der Phrasierung ein 405
Latinisiert: reddere fiduciam. Freilich ist das kein die Resozialisierung ausschließender Aspekt, ganz im Gegenteil: dadurch, dass Täter resozialisiert erscheint, macht er sich gerade vertrauenswürdig. Resozialisierung ist also Medium, um sein Legalversprechen zu plausibilisieren. 407 Zu diesem Vorwurf des Klassenstrafrechts gegen den Resozialisierungsgedanken s. Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 32 f. 408 Zum Gedanken, dass die Resozialisierungstheorie bei gut sozialisierten Tätern versagt, siehe etwa Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 1963, S. 56 ff. 406
VIII. Schlussbetrachtung
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und derselben Bewegung. Selbstverständlich kommt etwas anderes heraus, je nachdem, worauf wir die Betonung setzen. Und doch spielen wir dasselbe Lied – und bei aller Suche um die richtige Betonung darf nicht in Vergessenheit geraten, dass wir vielleicht ein ganz anderes Lied spielen könnten – eines, das eher zu unseren Fähigkeiten und Einstellungen als Menschen passt.
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Empörungseinstellungen 246 Enttäuschung des Normgeltungsvertrauens 113 Fairness 62, 65 Freiheit 131, 218, 235 – Handlungsfreiheit 202 – positive 159 – Zusammenhang zwischen Mitwirkung und Freiheit 126 Freiheitsverteilung 119 Gefühle der Empörung 67 Gewinnerperspektive 53 Glaubwürdigkeit 206, 212, 213 – konstruktive Akte 248 – Rückgewinnung rechtlicher 261 – Wiederherstellung der 247 Gründe 197 – für dich gute 198 – für uns gute 200 – Geben und Nehmen von -n 181 Gruppenaufgabe 95 Hegels Strafbegründung 36 Herdplatte 21 Homunculi 110 Hybride Theorie 63 Inferenzen – inferentielle Relationen 182 – inferentielle Rolle eines Begriffs 178 – materiale 185, 204 Informationsweitergabe, Bereitschaft zur 210 Inselbeispiel 14, 49
Stichwortverzeichnis
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Institution 213, 265 – freiheitssichernde Institutionen 131 – Strafrecht als 213 Institutionalisierung 246 – der sanktionalen Praxis 193 Institutionelle Tatsachen 174 Instrumentalisierung 50, 62, 140 – Instrumentalisierungs-Erlaubnis-Erhaltungssatz 152 Interlokut 250 Intuitionen zu Extremfällen 262
Objektivierung einer Bedeutung 77 Opfer – aktuales 231 – Fonds 256 – in der Straftheorie 233 – Neutralisierung des -s 237 – solidarische Einstellung 60, 243 – subjektiv-öffentliches Recht auf Strafverfolgung 234 – Wert des -s 133 Organtauschring 156
Kampf um Anerkennung 100 Karmahaftes Equilibrium 43 Klugheitsgründe 59, 219, 228, 231, 247 Klugheitsregeln 59 Knowing-how 180 Kognitive Untermauerung 81, 90 Kontoführer, Zuverlässigkeit als 214 Kooperationsentzug 209 Körperliche Züchtigung von Kindern 23 Körperstrafe 223
Person 73 – defizitäre 89 Pflichtentauschvertrag 146 Poena naturalis 22, 253 Präferenzzentren 72 Praxis des Tadelns 69 Probabilisten 204
Laufzeitleistungsstrafe 249 Fn. 311 Legitimität der Drohung 63 Leistung des Rechts 201 Leistungsverantwortung 182 Loyalität der Bürger 120 Mehrwert der generellen Geltung 245 Fn. 304 Misericordia 30 Misstrauen als Sanktion 220 Nichtnutzungsschaden 82 Normen 73 – als Sammlung über-individueller Interessen 94 – normative Bindung 93, 98 – Normvertrauen 85 – Nucleus der Normativität 193 – Quelle der Normen 191 – Stabilität der Norm 80 Normwiderspruch des Täters 189
Reactive attitude 244 Reduktionismus 192 Refiduzierung 267 Reputationssysteme 211 Reueschmerz 169 Sanktionale Praxis 180 Sanktionen – Ankündigung von 64 – elektrischer Schock 226 – exklusive 218 – externe 186 – interne 186, 188, 221 – körperliche Gewalt 222 – Misstrauen als Sanktion 208 – wechselseitige 191, 230 Schadensersatz 45, 71, 248 – intellektueller 85, 86 – zivilrechtlicher 42, 52, 86, 121, 219, 241 Schmerzzufügung 19, 29, 30, 128, 227 – als Beweismittel 137 – als Symbol 35
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Stichwortverzeichnis
Schuldnergemeinschaft der Täter 149 Schuldspruch 16, 174, 251, 252, 255 – als Hauptsanktion 247 – Antwort des Täters auf den 215 – Aussage des -s 176 – Feststellungsfunktion des -s 203 – Strafcharakter des -s 251 Fn. 318 Sekundäres Sanktionssystem 211 Sekundärpflicht 121, 126, 142 Selbstbewusstsein 99, 101, 107 Selbstjustiz 28 Selbstverständnis 176, 217, 266 Sicherungspraxis 66 Spaziergang im Park 91 Sprechakt 174 Strafbedürfnis 42, 175 Fn. 18 – faktisches 41 Strafe – als kommunikatives Geschehen 203, 215 – als säkulare Buße 165 – durch Elektroschock 227 – expressives Element 17, 60 – kommunikative Komponente 19, 173 – straff ziehen 29 Strafrecht – als common law 161 – als Zertifikation legaler Zuverlässigkeit 213 – Funktion der zentralisierten Zertifizierung 216 – ursprüngliches 195 Strafschmerz 81, 249 – Abschied vom 260 – als Motivationsfaktor 25 – als nachträglicher Notwehrschmerz 145 – kathartische Wirkung des -s 34
– Vertrauenswiderherstellung als Strafschmerz 266 Struwwelpeter 22 Teilnehmende Einstellung 68 Tiger prevention fallacy 51 Überindividuelles Substrat 128 Überzeugungsversuch 160, 171 Unmaßgeblichkeit des Normbruchs 77 Unterfütterung des Verbalen 61 Verbrechen – als Anerkennungsverletzung 244 – als horizontaler Konflikt 231 – als Selbstwiderspruch 98 Fn. 317 – als vertikaler Konflikt 231, 242 – Nichtigkeit des -s 36 Verdienst 13, 31, 40, 131 Vertrauen 177, 207, 217 – durch Ausgleichsbemühungen 255 – Praxis des Vertrauens 207 – Treue und Vertrauen als ursprüngliche Attribute 196 – Wiederherstellung des -s 268 Vertrauensschaden 209 Verzauberte Sprachverwendung 108 Vollkommener Ausdruck 35 Vorteil, unfairer 124 Wahrscheinlichkeit der Nicht-Entdeckung 248 Widerstand 194 Zustimmung zur Sanktionspraxis 57 Zweiteilung der Welt 92