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German Pages 240 Year 2019
Torsten Cress Sakrotope – Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken
Kulturen der Gesellschaft | Band 23
Torsten Cress (Dr. phil.), geb. 1974, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und lehrt u.a. Qualitative Methoden der Sozialforschung, Praxis-, Wissens-, Bildungs- und Religionssoziologie. Seine Forschungsinteressen umfassen Praxistheorien, Soziologie der Materialität, Materielle Kultur, Religion sowie Bildung und Digitalisierung.
Torsten Cress
Sakrotope – Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport – der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
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Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung: Religion und die Materialität sozialer Praktiken | 9
G RUNDLAGEN UND V ORÜBERLEGUNGEN Entwurf einer materialitätsorientierten Praktikenforschung | 31
Die Organisation sozialer Praktiken (Th. Schatzki) | 31 Vertiefung und Weiterführung | 39 Zur materiellen Dimension sozialer Praktiken | 48 Religiöse Praktiken: Annäherungen an den Gegenstand | 58 Wie beforscht man Praktiken-als-Entitäten? | 68
P RAKTIKENTHEORETISCHE STUDIEN Ein Gebet in einer Kirche | 79
Der Eintritt in das Gebet: Zustandsmanagement und die materielle Infrastruktur der Praktik | 79 Die Hinwendung nach innen: Welche Anforderungen stellt das Gebet an seine Teilnehmerin? | 88 Die Rosenkranzandacht | 99
Wie man den Rosenkranz betet | 99 Die Betrachtung der ›Geheimnisse‹: Eine Technik zur Evokation von Imaginationen | 103 Navigationshilfe und Gebetsregistratur: Die Leistung der Gebetskette | 108 Der Besuch der Massabielle-Grotte in Lourdes | 117
Die Marienerscheinungen und der Wallfahrtsort | 118 Das Durchqueren der Grotte: Wie ein Arrangement eine Praktik organisiert | 125 Sakralisierung durch Berührung: Die Intelligibilisierung des Arrangements | 135
Die Lichterprozession in Lourdes | 151
Ablauf der Prozession | 152 Partizipation durch Illumination: Licht und die Konfiguration des Arrangements | 155 Von der Dunkelheit ins Licht: Lightscapes und die Dramaturgie des Heils | 161 Kerzenlichter als Glaubensbekenntnisse: Die Inszenierung eines devotionalen Kollektivs | 163 Pilgerpraktiken in Jerusalem | 171
Die Grabeskirche | 171 Irritation und Exploration: Der Salbungsstein und die Grenzen devotionaler Repertoires | 174 »Touch and Go!« Welche Regeln braucht ein Sakrotop? | 182 Wandeln auf den Spuren Jesu: Verfahren des Nacherlebens von Glaubensereignissen | 188 Schlussbetrachtung | 207 Literatur | 217 Abbildungen | 235 Darstellungskonventionen | 237
Danksagung
Ein erster Dank geht an all diejenigen, die sich mir als Interviewpartnerinnen und Interviewpartner zur Verfügung gestellt haben, mir ihre Zeit und ihr Vertrauen schenkten und mir vielfältige Einblicke in ihr Glaubensleben und ihr professionelles Handeln gewährten. Ohne sie wäre diese Studie nicht möglich gewesen. In besonderer Weise danke ich Herbert Kalthoff, der als Betreuer dieser Arbeit immer wieder wichtige und hilfreiche Anregungen gab, eine teils aufwändige Forschung ermöglichte und zugleich die Freiräume gewährte, die eine sich nach und nach an ihrem Gegenstand entwickelnde Forschung benötigt. Ich habe, auch über diese Studie hinaus, viel von ihm gelernt. An Stefan Hirschauer geht mein Dank für die Übernahme der Zweitbegutachtung meiner Arbeit, für die Einladung in sein Kolloquium und für wertvolle Anregungen. Oliver Scheiding danke ich für seine Bereitschaft zur Mitwirkung im Prüfungskolloquium, für hilfreiche Hinweise und für seine freundliche Einladung zu einer Reihe von Workshops und Vorträgen, von denen ich sehr profitiert habe. Eine Reihe weiterer Personen haben zum Entstehen dieses Buches beigetragen: Besonders danke ich Jana Hatáková für ihren unermüdlichen Einsatz beim Lektorat des Buches, für ihren stets kritischen und konstruktiven Blick und unzählige fruchtbringende Diskussionen. Auch Kornelia Engert, Tobias Röhl und Christiane Schürkmann sowie den Teilnehmern des Kolloquiums »Theoretische Empirie« verdanke ich Einsichten, ebenso den stets erhellenden Diskussionen mit Paul Gebelein. Besonders danken möchte ich auch Bettina Grünewald, die den Prozess der Entstehung meiner Dissertation mit großer Geduld begleitet hat, stets als Gesprächspartnerin zur Verfügung stand und auch sonst immer für mich da war. Schließlich danke ich meinen Eltern, auf deren Unterstützung ich immer bauen konnte.
Einleitung: Religion und die Materialität sozialer Praktiken
Es gibt Pilgergruppen, die einfach ihre Lieder singen, so dass man keinen anderen Pilger hört. Die schaffen sich einfach mit=ner gewissen Vehemenz jetzt den Ort. Also die schaffens, auf so=n Schnipsen hin sich ein Sakrotop zu schaffen.
Der Begriff des ›Sakrotops‹ begegnete mir zum ersten Mal in dieser Aussage eines Ordensmanns, mit dem ich während eines Forschungsaufenthalts in Jerusalem sprach.1 Im Mittelpunkt unseres Interviews standen die Erfahrungen des Mönchs mit christlichen Pilgergruppen, die sich auf den Weg in die ›Heilige Stadt‹ machten, sein Kloster als Anlaufpunkt wählten und mit denen er darum regelmäßig in Kontakt stand. In obiger Passage ging es um die Grabeskirche und andere heilige
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Der Begriff ist nicht neu: Der Theologe und Historiker Hubertus Lutterbach verwendet ihn in seiner historischen Darstellung der Stadt Münster des 16. Jahrhunderts und bezeichnet damit die durch Sakralbauten dominierte, durch ein intensives religiöses Leben und eine besondere Konstellation religiöser und politischer Kräfte geprägte Bischofsstadt (Lutterbach 2006). Eine weitere Bedeutung erhält der Begriff in Lutterbachs Auseinandersetzung mit der Ideen- und Lebenswelt ultramontaner Katholiken des 19. Jahrhunderts, in der die Heilige Familie von Nazareth als »raum- und zeitübergreifendes ›Sakrotop‹« als Orientierungspunkt zur Nachahmung und Schaffung eines innerweltlichen »›Sakralraum[s]‹« dient (Lutterbach 2002: 275). Der Ägyptologe Ludwig Morenz verwendet den Begriff in einem geografischen Sinne zur Bezeichnung einer durch die vorherrschende Verehrung bestimmter Gottheiten geprägten »Sakrallandschaft« (Morenz 2010: 136).
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Stätten, die jedes Jahr Millionen von Pilgern2 anziehen, sowie um die Art und Weise, wie sie den Pilgern zugänglich gemacht werden und für sie erfahrbar sind. Seine Bemerkung, wonach bestimmte Gruppen unter Absehung von den jeweiligen Bedingungen zu singen beginnen, spielt auf die Herausforderungen an, mit denen sich Pilger an diesen Orten, die bisweilen durch Überfüllung, Lärm, Geschäftigkeit und lange Wartezeiten gekennzeichnet sind, immer wieder konfrontiert sehen. Wo manche Pilger angesichts dieser Bedingungen mit Enttäuschung, Irritation oder Ärger reagierten, gelinge es solchen Gruppen, sich gewissermaßen auf Knopfdruck und trotz widriger Umstände ein Sakrotop zu schaffen. In Anlehnung an den Gebrauch meines Gesprächspartners bezeichne ich mit dem ›Sakrotop‹ nicht, wie es die Etymologie des Begriffs nahelegt, einen ›heiligen Ort‹ im Wortsinne, sondern einen religiös konnotierten Kontext, der von bestimmten Aktivitäten getragen wird und durch eine bestimmte Stimmung gekennzeichnet ist, in den man ›eintreten‹ kann, aber auch ›hineinfinden‹ muss, und in dem Möglichkeiten zu bestimmten Erfahrungen angelegt sind. Solche Kontexte werden performativ hervorgebracht: Sakrotope werden ›gemacht‹, sie entfalten sich mit der Durchführung spezifischer Handlungen und sind also das Ergebnis eines Vollzugsgeschehens. Sie sind nicht von Dauer, sondern werden über bestimmte Zeitabschnitte aufrechterhalten und vergehen wieder. Die Betonung dieser performativen Dimension deutet zwar an, dass Sakrotope im Grunde unabhängig von äußeren Gegebenheiten und besonderen Objekten hervorgebracht werden können. Tatsächlich aber entfalten sie sich oft an bestimmten, teils eigens hierfür ausgelegten Orten – in einer Kirche etwa, in einem Gebetsraum oder an einer Wallfahrtsstätte, sowie unter Einbezug eines weiten Spektrums von Artefakten und anderen materiellen Entitäten: Räumliche Arrangements können ebenso an der Konstitution von Sakrotopen beteiligt sein wie Figuren, Bilder, Gerüche, Farben oder Licht. Von einem Sakrotop zu sprechen heißt dann, gleichermaßen die performative wie die materielle Dimension eines religiösen Kontexts zu betonen. Wenn etwa die Besucher einer Wallfahrtsstätte in einer Kerzenprozession einen Weg entlang schreiten und dabei Gebete sprechen oder Lieder singen (Kap. 5), dann erschaffen sie damit ein Sakrotop; wenn eine Beterin ihre Gebetskette in die Hand nimmt, um sich in ein Rosenkranzgebet zu vertiefen (Kap. 3), dann begibt sie sich damit in ein Sakrotop; wenn sich Menschen durch eine kleine Grotte bewegen, andächtig ihre Hände über die Felswände gleiten lassen und dabei Mariengebete sprechen (Kap. 4), dann verwandeln sie diesen Ort in ein Sakrotop;
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In diesem Buch wird bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen das generische Maskulinum verwendet, das im Sinne der sprachlichen Vereinfachung und als geschlechtsneutral zu verstehen ist.
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wenn sich eine Kirchenbesucherin mit Weihwasser bekreuzigt und ein Gebet aufnimmt (Kap. 2), dann macht sie die Kirche damit zu einem Sakrotop; und wenn Pilger eine Wirkstätte Jesu aufsuchen, um sich dort der Ereignisse zu erinnern, von denen die Evangelien berichten (Kap. 6), dann transformieren sie diesen Ort in ein Sakrotop. In diesem Sinne hat der Begriff also eine dreifache Bedeutung: Er beschreibt einen religiös konnotierten Kontext; er verweist darauf, dass ein solcher Kontext nicht gegeben ist, sondern über den Vollzug spezifischer Handlungen immer wieder neu hergestellt wird; und er hebt die konstitutive Rolle des Materiellen bei der Hervorbringung dieser Kontexte hervor. So verstanden markiert der Begriff des Sakrotops eine Sicht auf Religion als materiell konstituiertes Vollzugsgeschehen. Die vorliegende Studie geht von dieser Sicht aus und stellt die materielle Dimension religiöser Praktiken in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Am exemplarischen Fall katholischer Glaubensvollzüge arbeitet sie heraus, wie Artefakte und andere materielle Entitäten in religiöse Praktiken involviert werden, wie sie solche Praktiken ermöglichen, mit hervorbringen und tragen, was sie im Rahmen solcher Praktiken leisten und wie sie an ihrer Stabilisierung und Weitergabe beteiligt sind. Wie erleichtert etwa eine Gebetskette die Evokation bestimmter Vorstellungen und Emotionen? Wie helfen die Elemente eines Kirchenraums einer Beterin dabei, sich zu fokussieren und sich auf ihr Gebet einzustellen? Welche Rolle spielt die Berührung eines Steins bei der Tradierung religiösen Gedächtnisses und der Konstitution einer religiösen Gemeinschaft? Wie wirkt Licht bei der Durchführung einer Marienprozession mit, wie weist es Bedeutung zu, wie wird es eingebunden in die Strukturierung religiöser Erfahrung? Wie werden über den Besuch religiös bedeutungsvoller Orte Erinnerungen generiert, die in die spätere Praxis Eingang finden können? Um diese und weitere Fragen geht es in diesem Buch. Mit ihrem Interesse an religiösen Praktiken verortet sich die Studie in einem praxistheoretischen Kontext. Sie nimmt die Theorie sozialer Praktiken von Theodore Schatzki, die sie als Werkzeug für eine detaillierte empirische Analyse sozialer Praktiken und ihrer materiellen Dimension nutzbar zu machen sucht, zum Ausgangs- und Referenzpunkt einer ethnografischen Praktikenforschung. Religiöse Praktiken sind dabei der exemplarische Fall, an dem grundlegende Einsichten in die materielle Dimension sozialer Praktiken im Allgemeinen gewonnen werden sollen. Als Inspirationsquelle für die praxistheoretische Forschung bieten sich religiöse Praktiken nicht nur deshalb an, weil sie mit einer vielfältigen materiellen Kultur verbunden sind, sondern auch, weil mit ihnen zwei Aspekte zum Tragen kommen, die für ein umfassendes Verständnis sozialer Praktiken von einiger Re-
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levanz sind und zu deren vertiefender Untersuchung diese Praktiken mit Nachdruck auffordern: dass sich Praktiken in unterschiedlichem Ausmaß auch ›in den Köpfen‹ ihrer Teilnehmer abspielen, und dass sie bis zu einem gewissen Grade die Gefühle und Stimmungen ihrer Teilnehmer organisieren. Die Studie möchte damit in dreifacher Hinsicht einen Beitrag zur praxistheoretischen Diskussion leisten: Erstens geht es ihr um eine systematische Exploration und konzeptuelle Bestimmung des Verhältnisses zwischen sozialen Praktiken und materiellen Entitäten. Zweitens verknüpft sie damit eine Erweiterung praxistheoretischer Forschungsperspektiven um mentale Aktivitäten und um Lebenszustände, die als – unterschiedlich relevante – Komponenten solcher Praktiken verstanden und in ihrer Bezogenheit auf den Gebrauch materieller Entitäten perspektiviert werden. Drittens wird erprobt, wie sich Schatzkis sozialtheoretischer Ansatz für eine ethnografische Praktikenforschung fruchtbar machen lässt, die dann umgekehrt die Theoriebildung inspirieren kann.
Materialität und Praxistheorien Mit ihrem Interesse für Materialität schließt die Studie zugleich an eine Entwicklung in den Sozial- und Kulturwissenschaften an, die bisweilen – und etwas plakativ – mit dem Schlagwort material turn bezeichnet wird. Gemeinsam ist dieser fächerübergreifenden Entwicklung eine Blickverschiebung bzw. -erweiterung, mit der die Aufmerksamkeit verstärkt auf die materielle Verfasstheit der kulturellen und sozialen Welt gerichtet wird: Neu- oder wiederentdeckt wurde die Relevanz zunächst von Artefakten, in jüngerer Zeit aber auch zunehmend von natürlichen Dingen, Substanzen, Materialien oder Zeichen, die daraufhin untersucht werden, wie sie etwa soziale Ordnung mit hervorbringen, Machtbeziehungen verkörpern und stabilisieren, an der Generierung und Etablierung wissenschaftlichen Wissens beteiligt sind oder als Ausdruck kultureller Identität fungieren. In Soziologie (s.u.), Erziehungswissenschaft (Nohl/Wulf 2013; Thompson et al. 2017), Geschichte (Laube 2011; Füssel/Habermas 2015; Schmidt-Funke 2017) oder historischer Kulturwissenschaft (Cremer/Muslow 2017), in Kunstwissenschaft (Lehmann 2012; Autsch/Hornäk 2017), Literaturwissenschaft (Tischleder 2014; Scholz/Vedder 2018) oder Ethnologie (Braun et al. 2015; Stockhammer/Hahn 2015), zusehends aber auch interdisziplinär, werden konzeptuelle Überlegungen angestellt, Programme formuliert und empirische Analysen vorgenommen, die zur weiteren Erschließung, Konturierung und Ausdifferenzierung des Themenkomplexes beitragen (vgl. Hahn 2015; Hilgert 2016; Kalthoff et al. 2016b). Mit der Ausrichtung auf Materialität geht es dabei nicht um eine bloße Ausweitung von
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Gegenstandsbereichen, sondern um eine »grundsätzliche Rekonfiguration der Perspektive« (Reckwitz 2014: 14) auf Kultur und Sozialität. Diese Neuperspektivierung hat eine reichhaltige Forschung hervorgebracht, in der das Materielle mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen betrachtet wird (Kalthoff et al. 2016a: 15ff.): So konzentrieren sich sozialkonstruktivistische Ansätze auf kontingente Prozesse bei der Entwicklung technischer Artefakte (Bijker et al. 1987), begreifen die Dinge als Objektivierungen von Sinn (Berger/Luckmann 2004) oder als Bestandteile kommunikativen Handelns (Knoblauch 2017); handlungstheoretische Ansätze betrachten Handlungen als auf Menschen und Artefakte verteilte Prozesse und fragen nach der Zurechenbarkeit der jeweiligen Beiträge (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002); eine phänomenologisch grundierte Technikforschung untersucht Artefakte als Mittler zwischen Mensch und Welt (Ihde 1990; Verbeek 2005); die aus Archäologie und Ethnologie hervorgegangenen, interdisziplinären Material Culture Studies interessieren sich für Dinge als Träger von Kultur und für die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen (Miller 2010; Ingold 2013; Hahn 2014; Samida et al. 2014); und posthumanistische Perspektiven, wie sie früh mit der Actor-Network Theory (Latour 2010) und in jüngerer Zeit mit den Ansätzen des New Materialism vertreten werden (Bennett 2010; Barad 2012; Morton 2013), suchen ontologische Asymmetrien zwischen Mensch und Materialität zu überwinden, indem sie etwa die selbstorganisierenden Potentiale des Materiellen betonen (Goll et al. 2013; Folkers 2013). Längst ist der material turn auch in der Religionsforschung angekommen. Ethnologie (Kohl 2003), Religionswissenschaft (Bräunlein 2017), Theologie (Heimbrock 2013; Giselbrecht/Kunz 2016; Beckmayer 2018) und Religionssoziologie (Karstein/Schmidt-Lux 2017) wenden sich zunehmend den Dingen zu, und mit der Material Culture of Religion (McDannell 1995; Arweck/Keenan 2006; Morgan 2010b; Meyer et al. 2010; Houtman/Meyer 2012) hat sich ein eigens auf die Untersuchung des Materiellen in der Religion ausgerichteter, interdisziplinärer Forschungsbereich entwickelt. Ein ganzer Kosmos materieller Entitäten – Bilder (Morgan 1998; Davis 1997), Figuren (Mitchell 2010), heilige Texte und Bücher (Stolow 2010), Masken, Textilien (Keenan 2006; Hermkens 2010), Körperflüssigkeiten wie Milch und Blut (Jansen/Dresen 2012), religiöse Architektur, Landschaften, Kunstobjekte, aber auch Alltagsdinge wie T-Shirts, Sticker und Poster (McDannell 1995) – wird zum Gegenstand einer Forschung, die zeigt, wie solche Artefakte, Substanzen und natürliche oder gebaute Umwelten in vielfältiger Weise mit dem religiösen Leben verknüpft sind: als Manifestationen religiöser Vorstellungswelten, als Repräsentationen von oder als Vermittler zu transzendenten Entitäten, oder als Speicher religiösen Gedächtnisses.
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An diesem Punkt schließt die vorliegende Studie an. Während die Rolle materieller Entitäten auch für tendenziell ›artefaktskeptische‹ religiöse Traditionen herausgearbeitet wurde – so etwa in Bezug auf die Bedeutung von Bildern im Protestantismus (Morgan 1996, 1999) –, gilt das Interesse hier dem Katholizismus als einer Tradition, deren besondere Beziehung zur Welt des Materiellen vielfach herausgestellt worden ist (vgl. etwa McDannell 1995; Orsi 2005; McGuire 2008). Die Betonung der Leiblichkeit Jesu (Miles 2005), die insbesondere durch das Instrument der Heiligsprechung hervorgebrachte Vielfalt transzendenter Bezugspartner (Bienfait 2006) oder das Wunder (Angenendt 2002) als Manifestation von etwas wesentlich ›Immateriellem‹ finden ihren Widerhall in einer vielgestaltigen materiellen Kultur, die durch Heiligenbilder, ›wundertätige‹ Medaillen, Marienfiguren, heilendes Wasser, Gebetsketten oder Kruzifixe ebenso geprägt ist wie durch heilige Öle, Weihwasser, Weihrauch, Altarschellen, Monstranzen oder Reliquien im liturgischen Leben der Kirche. Die Beschäftigung mit katholischen Glaubensvollzügen und mit der materiellen Kultur des Katholizismus fordert deshalb dazu auf, den Blick über Artefakte hinaus auch auf andere materielle Entitäten und Phänomene auszuweiten. Im Zentrum dieses Buches stehen eine Reihe privater devotionaler Praktiken und Praktiken des Pilgerns, die sich stark auf den Einbezug von Dingen stützen. Die Praxistheorien, deren Identifikation als Denk- oder Theoriebewegung (Schäfer 2016a: 10) maßgeblich auf Schatzkis Diagnose eines practice turn (Schatzki 1996; Schatzki et al. 2001) zurückgeht und deren Gemeinsamkeiten von Andreas Reckwitz weiter ausgearbeitet wurden (Reckwitz 2002, 2003), betreiben ebenfalls eine Neuperspektivierung des Sozialen.3 Sie besteht darin, dass sie sozi-
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Diese übergreifende theoretische Tendenz wurde im Nachhinein aus einer ganzen Reihe von Theorien und Ansätzen herausgearbeitet, die so vielfach zu Praxistheorien avant la lettre erklärt wurden und gemeinsam die heterogene ›Familie‹ der Praxistheorien ausmachen. Zu diesen Ansätzen werden neben Bourdieus Theorie der Praxis und Giddens᾿ Theorie der Strukturierung die Performativitätstheorie Judith Butlers, Garfinkels Ethnomethodologie, die Science and Technology Studies und die daraus hervorgegangene Actor-Network Theory, Goffmans Interaktionssoziologie, Foucaults Ansätze der Technologien des Selbst und der Gouvernementalität, die Figurationstheorie Norbert Elias᾿, die pragmatistische Interaktionsanalyse George Herbert Meads, Michel de Certeaus Theorie der Alltagspraxis und die Ansätze der Cultural Studies gezählt (vgl. etwa Hillebrandt 2014; Alkemeyer/Buschmann 2016; Schäfer 2016a). Differenzen bestehen im Hinblick auf die ANT, die teils den Praxistheorien zugerechnet (Schäfer 2013; Hillebrand 2014), teils lediglich als entfernt verwandt betrachtet wird (Hui et al. 2017: 2f.;
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ale Praktiken zur zentralen theoretischen Kategorie erheben und zum Ausgangspunkt der Analyse des Sozialen machen, womit sie nicht nur alternative Konzepte wie System, Individuum oder Struktur ablösen, sondern sich auch als Scharnier zwischen holistischen und individualistischen Konzepten positionieren (Bourdieu 1976; Giddens 1995; Schatzki 1996). Diese Mittlerposition erklärt sich insbesondere daraus, dass sie eine Sicht auf das je konkrete, individuelle, situative Vollzugshandeln, dessen Körperlichkeit und Materialität sie zugleich betont, mit einer Sicht verbindet, die dieses Handeln als immer schon eingebettet in überindividuelle soziale Praktiken begreift, die es ermöglichen und begrenzen, ihm seinen Sinn geben und es strukturieren. Soziale Praktiken – wie etwa Verhandeln, Forschen, Beten, Kochen oder Debattieren – erscheinen hier als organisierte Bündel körperlich basierter Aktivitäten, die einerseits dem Handeln des Einzelnen vorgängig sind, zugleich aber erst durch dieses Handeln verwirklicht werden. Auf diese Weise entwickelt die Praxistheorie eine Perspektive auf das Soziale als ein ›Feld von Praktiken‹ (Schatzki 2001a: 2), d.h. als ein umfassendes, gleichermaßen stabiles wie dynamisches Geflecht körperlich und materiell konstituierter Bündel von Aktivitäten, die sowohl regelhaft als auch offen für Veränderung sind und so zum Ansatzpunkt für die Erforschung der Reproduktion und Transformation des Sozialen werden. Dass Praktiken als ›Ort des Sozialen‹ (Schatzki 2002) verstanden werden, heißt dabei nicht nur, jedes Handeln als Bestandteil einer bestimmten sozialen Praktik zu begreifen, sondern es heißt auch, sämtliche soziale Phänomene – wie Institutionen, Macht, Bildung, Infrastrukturen, politische Bewegungen oder gezielte Desinformation – als Konstellationen, Aspekte oder Resultate von Praktiken zu beschreiben (Schatzki 2016: 30). Die Praxistheorie, die sich als »school of thought« (Hui et al. 2017: 1) längst etabliert hat und an die über die Soziologie hinaus angeschlossen wird (Elias et al. 2014; Bittner et al. 2018; für einen Überblick vgl. Schäfer 2016a: 15f.), scheint
vgl. Schatzki 2010: 134f.). Als philosophische Grundlagen der Praxistheorie gelten Heideggers Daseins-Analyse, Wittgensteins Spätphilosophie sowie John Deweys Version des Pragmatismus. Der perspektivischen Heterogenität der Praxistheorien entspricht, dass es kein eigentliches Leit- oder Referenzparadigma gibt (Hillebrand 2014: 31), sondern dass die Praxistheorien eher als »facettenreiches Bündel familienähnlicher Theorien, Analyseansätze und Forschungsrichtungen« (Alkemeyer/Buschmann 2016: 115) beschrieben werden. Dies schlägt sich auch in unterschiedlichen Bezeichnungen dieser Theoriebewegung etwa als »Praxistheorie(n)«, »Soziologie der Praxis«, »Theorien sozialer Praxis« oder »Praxeologie« nieder.
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mittlerweile in eine Phase der Konsolidierung eingetreten: Sie wird in Überblicksdarstellungen weiter konturiert, systematisiert und weitergedacht (Schmidt 2012; Nicolini 2012; Hillebrand 2014), man nimmt Bilanzierungen, Standortbestimmungen und Neuvermessungen des sich beständig ausdehnenden und intern weiter ausdifferenzierenden Feldes vor (Schäfer 2016c; Hui et al. 2017), es werden Begriffe geschärft (Hirschauer 2016; Welch/Warde 2017), Desiderate formuliert und neue Fragestellungen entwickelt (vgl. die Beiträge in Schäfer 2016c; Hui et al. 2017; Jonas/Littig 2017; Alkemeyer et al. 2015), man stellt Methodenfragen (Schmidt 2012; Schäfer et al. 2015; Jonas et al. 2017) und liest die philosophischen Vordenker neu (Koppetsch 2001; Schatzki 2007; Schäfer 2012). Parallel dazu wenden sich die heutigen Praxistheorien der ›zweiten Generation‹4 neuen Feldern und Themenbereichen zu und widmen sich etwa der Subjektbildung (Alkemeyer 2016), Affekten und Sinnen (Reckwitz 2012, 2015, 2016), dem »Theoretisieren« (Schmidt 2016), der Sprache (Schatzki 2017a) oder den materiellen Infrastrukturen sozialer Praktiken (Shove 2017). Die Praxistheorien betreiben dabei ihre eigene Version einer »Materialisierung der Kulturtheorie« (Reckwitz 2008: 146, vgl. 2014). Tatsächlich richten praxistheoretische Ansätze von Anfang an, wenn auch mit unterschiedlich starkem Gewicht, ein besonderes Augenmerk auf die materielle Bedingtheit und Einbettung des Handelns: Ob die Dinge als objektivierte Geschichte, als Träger symbolischer Ordnungen (Bourdieu 1997, 1976) und von Macht- und Disziplinierungstechniken (Foucault 1994), als Handlungsressourcen (Giddens 1997) oder als Wissensobjekte erscheinen (Knorr Cetina 1984; Preda 1999) – die materielle Seite der Praxis ist fester Bestandteil praxistheoretischen Denkens. Der Grund für den besonderen Status der Dinge in der Praxistheorie liegt in ihrer spezifischen Sicht auf das Soziale als Vollzugswirklichkeit, mit welcher dem körperlichen und dinglichen Charakter des Handelns besondere Aufmerksamkeit zuteil wird: Betont wird einerseits, dass die eine Praktik konstituierenden Aktivitäten durch den Körper hervorgebracht werden und im Grunde auf dem Einsatz von »Körpertechniken« (Mauss 1975) beruhen. Andererseits kommt in den Blick, dass sich dieses
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Die Einteilung nach Generationen oder Phasen ist im Grunde ein Ergebnis der nachträglichen Identifikation der Praxistheorien als einer Strömung, mit der eine Unterscheidung zwischen den ›frühen‹ und den auf ihnen aufbauenden ›späteren‹ Ansätzen eingezogen wird. So werden zu den »first generation practice theorists« Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Charles Taylor gerechnet, zur zweiten Generation dann etwa Theodore Schatzki, Andreas Reckwitz oder Elisabeth Shove (Schatzki 2017b: 18, vgl. auch Reckwitz 2016: 166).
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körperliche Tun unter Einbezug von Objekten vollzieht, die zu Aktivitäten auffordern, spezifische Praktiken erst ermöglichen und so neben den Körpern zu »Trägern« sozialer Praktiken werden (Reckwitz 2003: 291), und dass sich dieses Handeln in einer wie auch immer gearteten, materiell konstituierten Umgebung abspielt, die in direkter oder indirekter Weise auf dieses Handeln einwirkt (Schatzki 2016a). Wenn nun Praktiken einerseits der Ort des Sozialen sind und andererseits in Körpern und Artefakten ›verankert‹ und durch sie überhaupt erst ermöglicht werden, dann bedeutet das, dass die Körper und Artefakte einen zentralen Stellenwert bekommen: Sie werden zu den eigentlichen Trägern des Sozialen. Die aus verschiedenen Perspektiven gestellte Frage nach der Materialität des Sozialen übersetzt sich damit praxistheoretisch in die Frage nach der Materialität sozialer Praktiken.5 Sie wird auch in neueren Ansätzen immer wieder gestellt, wobei mittlerweile eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht wurden, die Relevanz des Materiellen entsprechend zu beschreiben, zu erforschen und konzeptuell zu fassen. So wird etwa festgestellt, dass materielle Entitäten die Entstehung und Durchführung sozialer Praktiken ermöglichen oder begünstigen, ihre Durchführung nahelegen, an ihrer Vermittlung und Verbreitung beteiligt sind (ebd.), oder dass sie soziale Praktiken beeinflussen und prägen (Hillebrandt 2014: 82f.). Dinge erscheinen dann zum Beispiel als »Elemente« von Praktiken, die für ihren Vollzug und ihre Reproduktion von zentraler Bedeutung sind und sie räumlich und zeitlich stabilisieren (Shove et al. 2012); als Elemente von »Arrangements«, mit denen Praktiken untrennbar verwoben sind (Schatzki 2016: 69); als Bestandteil von Interaktionen und Diskursen (Kalthoff/Röhl 2011); als materielle »Partizipanden sozialer Prozesse« bzw. als in die Dynamik der Praxis verwickelte Entitäten (Hirschauer 2004: 74); als Dinge des alltäglichen Gebrauchs, die ihre Nutzer immer wieder auch irritieren und zu kreativen Umgangsweisen auffordern (Hörning 2001); als »Attraktoren«, die zur Durchführung sozialer Praktiken motivieren (Hillebrandt 2014: 36), und als »Affektgeneratoren« (Reckwitz 2016: 111f.); als »Produzenten und Träger eines öffentlichen Raumes« (Schmidt/Volbers 2011: 30), oder als ›Knotenpunkte sozial sanktionierten Wissens‹ (Preda 1999: 347). Unterschiede existieren auch im Hinblick darauf, ob die Dinge aus einer ›humanistischen‹ bzw. ›asymmetrischen‹ (etwa Schatzki 2002) oder aus einer ›posthumanistischen‹ Sicht (etwa Gherardi 2017) beschrieben werden (vgl. Reckwitz 2003: 298).
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Wenn praxistheoretisch von Materialität die Rede ist, sind damit oft die beiden eben genannten Dimensionen des Materiellen bezeichnet: einerseits der Körper, andererseits die Dinge. Ich unterscheide hier zwischen Körperlichkeit und Materialität und bezeichne mit letzterem Artefakte sowie andere materielle Entitäten und Phänomene.
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Schatzkis Theorie sozialer Praktiken als Grundlage einer ethnografischen Praktikenforschung Wie man Materialität praxistheoretisch in den Blick bekommt, hängt dabei letztlich vom theoretischen Ausgangspunkt ab. Ein scharfer Begriff sozialer Praktiken, wie ihn Theoretiker der ›zweiten Generation‹ entwickeln, markiert dabei – das zeigen auch die eben erwähnten Konzeptualisierungsvorschläge – einen Wendepunkt der praxistheoretischen Materialitätsforschung: Während sich frühere Ansätze zumeist noch nicht auf ein klar ausgearbeitetes Konzept sozialer Praktiken stützen oder stützen können, wird es nun möglich, Materialität systematisch auf Praktiken zu beziehen und von hier aus zu untersuchen. Einen solchen Zugriff vertritt die vorliegende Studie. Sie schließt hierfür an einen Ansatz an, der starken Einfluss darauf hatte, soziale Praktiken als »kleinste Einheit[en] des Sozialen« (Reckwitz 2003: 290) oder »Letztelemente aller Praxis« (Hillebrandt 2014: 61) und damit als Untersuchungsgegenstand zu konturieren und ihnen analytischen Primat einzuräumen: Schatzkis Theorie sozialer Praktiken (Schatzki 1996, 2002). Seine in Auseinandersetzung insbesondere mit dem Spätwerk Ludwig Wittgensteins und mit den Praxistheorien Bourdieus und Giddens᾿ gewonnene Beschreibung sozialer Praktiken als übersubjektive Einheiten oder Entitäten, die eine Reihe klar bestimmbarer Strukturmerkmale aufweisen, kann als der eigentliche Kern seines beständig weiter entwickelten Werks (vgl. etwa Schatzki 2003, 2010, 2016b) gelten. Die vielzitierte Definition sozialer Praktiken als »nexus[es] of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89) und damit als Bündel körperlich basierter, miteinander zusammenhängender Handlungen oder Aktivitäten ist dabei nur der elementarste Punkt dieser Bestimmung. Herausgearbeitet wird weiter, wie diese Handlungszusammenhänge organisiert werden, nach welchen Prinzipien die einzelnen Handlungen also zueinander in Beziehung gebracht werden und wie sie so gemeinsam eine relativ stabile, identifizierbare und ›tradierungsfähige‹ Praktik konstituieren. Praktiken erscheinen in einer solchen Sicht als normative (Schatzki 2002: 98) Komplexe körperlicher und mentaler Aktivitäten, deren Organisation sich nicht auf ein implizites, im Körper verankertes Wissen oder Können beschränkt (Schatzki 1997: 295ff.), sondern die darüber hinaus durch explizite Regeln angeleitet werden, auf bestimmte Teleologien hin orientiert sind, ihren Teilnehmern ein Spektrum nicht nur möglicher Handlungen, sondern auch möglicher Stimmungen und Gefühle vorgeben und auf diese Weise Möglichkeitshorizonte im Hinblick darauf aufspannen, was man sinnvoll tun und sagen, aber auch was man fühlen und empfinden kann oder soll, und die so das Handeln ordnen, mit Sinn ausstatten und organisieren (Schatzki 1996: 88ff., 2002: 70ff.).
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Über die Aufschlüsselung ihres Aufbaus und die Herausarbeitung ihrer übergreifenden strukturellen Elemente und Charakteristika werden soziale Praktiken hier zu eigenständigen Untersuchungseinheiten, die im Detail analysiert und zueinander in Bezug gesetzt, aber auch hinsichtlich bestimmter Aspekte – wie eben der Materialität – untersucht werden können. Die vorliegende Studie lotet diesen Ansatz daraufhin aus, inwieweit er sich für eine ethnografische Erforschung der materiellen Dimension sozialer Praktiken nutzbar machen lässt, und entwickelt einen Zugang, der durch vier Schwerpunkte und Zielsetzungen gekennzeichnet ist: Erstens eine systematische Exploration der materiellen Dimension sozialer Praktiken; zweitens eine gezielte Berücksichtigung mentaler Aktivitäten – sich etwas vorstellen, sich auf etwas einstellen, sich an etwas erinnern – als Komponenten sozialer Praktiken; drittens ein konsequenter Einbezug von Gefühlen, Stimmungen, Empfindungen und anderer Befindlichkeiten der Teilnehmer sozialer Praktiken; viertens die Vermittlung einer Entitäten-Perspektive mit einer teilnehmerorientierten Performanz-Perspektive.
Materialität und die Organisation sozialer Praktiken Die Fruchtbarkeit von Schatzkis Konzeption für eine Erforschung der Materialität sozialer Praktiken liegt nicht zuletzt in einem scharf umrissenen Praktikenbegriff und einer damit einhergehenden Erhöhung des Auflösungsvermögens. Mit der analytischen ›Öffnung‹, der Dekomposition sozialer Praktiken in ihre konstitutiven Elemente und Strukturen, wird es möglich, so die Überlegung, die Rolle materieller Entitäten nicht nur für Praktiken ›als Ganzes‹, sondern im Hinblick auf ihre einzelnen Komponenten zu untersuchen (vgl. auch Shove et al. 2012) und also danach zu fragen, wie genau materielle Entitäten in die Organisation sozialer Praktiken eingebunden sind: Wie sind Dinge daran beteiligt, die Handlungen, die eine Praktik konstituieren, mit hervorzubringen? Wie tragen sie dazu bei, diese Handlungen miteinander zu verbinden, sie aufeinander hin zu ordnen und in einen hierarchischen Zusammenhang zu stellen? Inwiefern sind die handlungsleitenden Regeln einer Praktik Regeln des Umgangs mit Dingen? Wie evozieren Dinge, eingebunden in je spezifische praktische Zusammenhänge, bestimmte Sinneswahrnehmungen, Stimmungen und Gefühle? Wie motivieren sie Teilnehmer dazu, sich in praktische Zusammenhänge involvieren zu lassen? Wie ermöglichen sie Reproduktion und Transfer sozialer Praktiken (vgl. Schatzki 2016a, Shove et al. 2012)? Die Frage nach der Materialität sozialer Praktiken wird so zur Frage nach den Relationen zwischen sozialen Praktiken – genauer: ihrer Organisation – und materiellen Entitäten. Zur Untersuchung solcher Relationen kann an Schatzkis Theo-
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rie der Arrangements angeschlossen werden, die diese Zusammenhänge aus sozialontologischer Perspektive beleuchtet und eine Reihe konzeptueller Vorschläge dazu macht (Schatzki 2016a). Für viele religiöse Praktiken gilt, dass sie sich nicht nur auf Artefakte wie liturgische oder devotionale Dinge – so etwa die Innenausstattung einer Kirche (Kap. 2), Gebetsketten (Kap. 3) oder Erinnerungsobjekte (Kap. 6) – stützen, sondern dass auch natürliche Dinge und Settings, Substanzen oder Phänomene wie etwa Felswände, Wasser (Kap. 4) oder Licht (Kap. 5) in den praktischen Vollzug einbezogen werden. Relationen zwischen religiösen Praktiken und materiellen Entitäten zu untersuchen, verlangt also nach einer Transzendierung der Kategorie der Artefakte und danach, die materielle Welt in einem umfassenderen Sinne einzubeziehen. Im Gegensatz zu einem Zugriff, der Materialität oft auf Artefakte beschränkt und damit nur einen begrenzten Ausschnitt der materiellen Konstitution sozialer Praktiken in den Blick bekommt, lege ich deshalb einen erweiterten Materialitätsbegriff zugrunde, der neben Artefakten auch Substanzen, natürliche Dinge und Umgebungen sowie flüchtige Phänomene wie Licht oder Dunkelheit umfasst (vgl. ebd.; vgl. Kalthoff et al. 2016a).
Mentale Aktivitäten als Komponenten sozialer Praktiken Eine Erweiterung der Perspektive ergibt sich auch im Hinblick auf den Aufbau sozialer Praktiken. Praxistheorien sind im Allgemeinen nicht besonders interessiert daran, was ›in den Köpfen‹ der Teilnehmer passiert: Ihre Betonung der körperlichen Sedimentierung des Wissens, der Prä-Reflexivität des Handelns und ihre Abgrenzung von individualistischen und mentalistischen Perspektiven (vgl. kritisch auch Alkemeyer/Buschmann 2016) hat die Praxistheorien zu einer Marginalisierung der ›mentalen Seite‹ sozialer Praktiken geführt: Das Mentale wird dann oft im Körper bzw. in Dispositionen ›aufgelöst‹ (vgl. hierzu auch Schmidt 2018: 20), so dass sich das, was Teilnehmer ›mental tun‹, dem praxistheoretischen Zugriff weitgehend entzieht. Schatzkis Konzeption sozialer Praktiken erlaubt diesbezüglich eine Öffnung: Die Spanne an Aktivitäten, die eine Praktik ausmachen, ist in dieser Sicht nicht auf körperliche Performanzen im engeren Sinne beschränkt, sondern umfasst auch »›mental‹ actions« wie beispielsweise sich etwas vorstellen, denken, rechnen oder zählen (ebd.; Schatzki 2012: 15; Schatzki 1996: 39). Nicht zuletzt religiöse bzw. spirituelle Praktiken fordern dabei zu einer dezidierten Berücksichtigung mentaler Aktivitäten auf. So gilt es etwa als ein integraler Bestandteil des Rosenkranzgebetes, sich konkrete Szenen aus dem Leben Jesu
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›vor das innere Auge‹ zu stellen (Kap. 3); Gebete werden oft nicht laut gesprochen, sondern ›in Gedanken‹ durchgeführt (Kap. 2); und es ist ein wesentliches Element vieler Meditationspraktiken, den Strom der eigenen Gedanken und Empfindungen zu beobachten und bestimmte Umgangsweisen damit einzuüben. Aktivitäten der Imagination, Konzentration oder Kontemplation sind damit wesentliche Bestandteile solcher Praktiken des Betens und Meditierens, die ohne deren dezidierte Berücksichtigung nur unzureichend beschrieben werden können. Mit einer Sicht, die mentale doings als Komponenten sozialer Praktiken betrachtet, lassen sich solche Aktivitäten konzeptuell aufwerten und, gleichberechtigt zu körperlichen doings, zum Gegenstand praxistheoretischer Forschung machen, so dass gezielt nach ihrem Stellenwert im organisatorischen Gefüge einer jeweiligen Praktik gefragt werden kann. In Bezug auf die materielle Dimension heißt das, Praktiken daraufhin zu untersuchen, inwieweit der Vollzug mentaler Aktivitäten mit der Involvierung materieller Entitäten verschränkt ist, sich auf sie stützt und durch sie beeinflusst wird.
Lebenszustände und soziale Praktiken Ein weiterer Punkt betrifft die gezielte Integration von Sinneswahrnehmungen, Emotionen, Stimmungen und anderen ›Lebenszuständen‹ (»conditions of life«, Schatzki 1996: 25ff.) in die praxistheoretische Perspektive. Schatzkis Idee, Praktiken – genauer: ihre teleo-affektiven Strukturen – als ›Ordnungen von Lebenszuständen‹ (»orders of life conditions«, Schatzki 1996: 101) aufzufassen, besagt, vereinfacht formuliert, dass soziale Praktiken bestimmte Muster etwa emotionaler oder kognitiver Zustände beinhalten und auf diese Weise den Fluss der Empfindungen, Wahrnehmungen oder Gefühle ihrer Teilnehmer strukturieren und organisieren. Die mit der Performanz einer Praktik verbundenen Lebenszustände werden demnach nicht als Eigenschaften von Individuen verstanden, sondern als Komponenten einer jeweiligen Praktik und als durch die Teilnahme ›geformt‹ (Schatzki 2002: 75). Dieser Grundgedanke eröffnet die Möglichkeit, das, was Teilnehmer fühlen, spüren, erfahren und durchleben, aus seiner Beschränkung auf das vermeintlich Private zu lösen (Schatzki 1996: 41) und es als ein Problem der Praktikenforschung zu betrachten. In einem ähnlichen Zugriff werden in jüngerer Zeit Sinne und Affekte verstärkt als Komponenten von Praktiken thematisiert (Reckwitz 2015, 2016; vgl. Shove et al. 2012). Um einen Determinismus, wie ihn eine Entitäten-Perspektive nahelegen kann, zu vermeiden, nehme ich hier eine analytische Trennung zwischen den Lebenszuständen der Teilnehmer und den in der teleo-affektiven Struktur einer Praktik ›aufgehobenen‹ Lebenszuständen vor. Von einer Sicht aus, die mit Teilnehmern als
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Trägern von Lebenszuständen rechnet, kann deutlich werden, welche Herausforderungen eine Praktik an ihre Teilnehmer im Hinblick auf ihre Befindlichkeit stellt, was Teilnehmer von ihrer Partizipation erwarten, was sie ›davon haben‹ und welche Schwierigkeiten einem gelingenden Vollzug im Wege stehen. Dies ermöglicht es dann einerseits, Praktiken in ihrer lebensweltlichen Einbettung zu betrachten und die Rolle der Teilnehmer einer deterministischen Sicht gegenüber aufzuwerten. Weil Schatzkis Konzeption der life conditions das ganze Spektrum an Zuständen beinhaltet, in denen sich Menschen befinden können, und etwa Intentionen, Wünsche, Hoffnungen, Einstellungen, Haltungen, Stimmungen oder Gefühle umfasst, lässt sich der Fokus andererseits über Sinne und Affekte hinaus ausweiten. In Bezug auf die Materialität religiöser Praktiken heißt das, danach zu fragen, wie die Involvierung materieller Entitäten mit der Modifikation von Lebenszuständen verbunden ist.
Praktiken-als-Entitäten / Praktiken-als-Performanzen Um ihren Zugang zu sozialen Praktiken weiter zu konturieren, schließt die Studie über Schatzki hinaus an den Ansatz von Shove et al. (2012) an, die eine besonders entschiedene Variante der Entitäten-Perspektive vertreten. Damit stellt sich die Frage nach der Anlage einer Forschung, die von einer starken Entitäten-Perspektive ausgeht, dabei aber eine posthumanistische Sicht vermeiden möchte, in der Teilnehmer auf »bloße Vollzugsorgane« sie »›rekrutierender‹ Praktiken« (Alkemeyer/Buschmann 2016: 117, mit Bezug auf Shove et al. 2012) reduziert werden – eine Forschung also, die sich für die Details und den Reichtum einer je konkreten Vollzugssituation interessiert und die neben einem gelingenden Vollzug gleichermaßen die Herausforderungen, Kontingenzen, Brüche, Unregelmäßigkeiten und Krisen (Alkemeyer/Buschmann 2016; Hirschauer 2016) berücksichtigen will. Ich verfolge einen solchen Forschungsansatz über die gezielte Vermittlung der Entitäten-Perspektive mit einer Performanz-Perspektive (vgl. mit einem anderen Zugriff Shove et al. 2012). Hintergrund dieser Überlegung ist die Annahme eines »Doppelcharakter[s]« (Schäfer 2016a: 13) sozialer Praktiken, wonach »practicesas-entities« und »practices-as-performances« (Shove et al. 2012: 12, 17) untrennbar miteinander verbunden sind: Praktiken sind demnach nur durch ihren Vollzug überhaupt ›in der Welt‹, während jeder Vollzug die schon gegebene Praktik voraussetzt (Schatzki 1996: 90). Der konkrete praktische Vollzug kann so zum Ausgangspunkt für die Beforschung einer jeweiligen Praktik und ihrer Organisation werden.
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Die Annäherung an diese performative Seite erfolgt hier über teilnehmende Beobachtung, Videografie und Interviews und somit über den Einsatz ethnografischer Methoden. Die Entscheidung für Verfahren der Beobachtung und audio-visuelle Aufzeichnungen resultiert aus der Annahme, dass Praktiken als Komplexe körperlich basierter Aktivitäten beobachtbare Phänomene sind und dass man das understanding einer Praktik dadurch erwirbt, dass man sie entweder selbst ausübt oder sich entsprechenden Performanzen von ihr aussetzt (ebd.: 106). Es geht dann darum, »interobjektive« (Latour 1996; Reckwitz 2016: 36) Handlungsvollzüge dort aufzusuchen, wo sie sich ereignen, sie als aufeinander bezogene Bewegungen detailliert zu betrachten und danach zu fragen, wie genau materielle Entitäten in diese Abläufe eingebunden sind und sie mit hervorbringen. Dass eine solche Beobachtung immer auch teilnehmend erfolgt, ist insbesondere aufgrund der Annahme einer Formung von Lebenszuständen von Bedeutung: Obwohl ethnografische Partizipation ihre eigene organisatorische Struktur aufweist, also etwa ihren eigenen Regeln folgt und sich durch eine spezifische teleologische Gerichtetheit auszeichnet, können Eindrücke und Wahrnehmungen, die sich in einem solchen Vollzug einstellen – der Eindruck bei der Berührung eines Steins, der von einem Objekt ausgehende Geruch, ein Gefühl der ›Störung‹ durch laute Unterhaltungen – erste Hinweise auf die Organisation einer Praktik liefern, denen dann weiter nachgegangen werden kann. Eine Forschung, die mit mentalen Aktivitäten als Konstituenten sozialer Praktiken rechnet und davon ausgeht, dass Praktiken die Lebenszustände ihrer Teilnehmer modifizieren, kann bei der Beobachtung körperlicher Performanzen nicht stehen bleiben, sondern muss Wege finden, sich dem zuzuwenden, was Teilnehmer einer Praktik mental tun, welche Hoffnungen, Ziele, Wünsche sie damit verbinden und was sich für sie dabei ereignet. In Kontrast zu einer Perspektive, die aufgrund ihrer starken Betonung des impliziten Wissens nicht viel auf die Berichte von Teilnehmern gibt, erlaubt die hier zugrunde gelegte Konzeption sozialer Praktiken, die mit Gefühlen, Stimmungen oder expliziten Regeln Aspekte mit berücksichtigt, ›über die man sprechen kann‹, eine Neubewertung bzw. Aufwertung und Integration solcher Berichte. Ausgehend von der Einsicht, dass die Durchführung einer Praktik von einem wie auch immer hohen Grad an Selbstbeobachtung begleitet wird (Shove et al. 2012: 100), betrachte ich Teilnehmer als Experten für die Praktiken, an denen sie partizipieren, die mehr oder weniger detailliert darüber Auskunft geben können, was sie tun, wie sie etwas tun, was es für sie bedeutet und welche Erfahrungen sie dabei machen. Diese Berichte erscheinen dann weniger als Auskünfte über Subjekte, sondern als Auskünfte über – subjektiv durchgeführte und subjektiv erlebte – Praktiken. Bei allen Schwierigkeiten, die ein solches
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rekonstruktives Verfahren mit sich bringt, halte ich es für einen viel versprechenden Weg, sich der Komplexität und dem Reichtum des praktischen Vollzugs anzunähern. Ausgehend von dem Gedanken, dass jede Performanz einer Praktik einzigartig ist (ebd.: 122) und dass Praktiken somit nur in einer unendlichen Vielzahl immer neuer Performanzen existieren, bedeutet die Erforschung von Praktiken im beschriebenen Sinne immer die Erforschung von Varianten von Praktiken. Es geht dann also weniger um eine Rekonstruktion von Idealtypen, sondern darum, sich einer Praktik als der Version einer jeweiligen Praktik zuzuwenden und so das ›praktische Leben‹ in seiner Vielfalt, seiner Offenheit und Dynamik und mit seinen Graduierungen und Schattierungen in den Blick zu bekommen. Die Forschungsperspektive ist also dadurch charakterisiert, dass sie zwar Praktiken als überindividuelle Einheiten zugrunde legt und die von ihnen ausgehenden Einschränkungen, Ermöglichungen und Präfigurationen des Handelns betont, sie aber von der Seite des Vollzugs und zugleich von der Seite der Teilnehmer her betrachtet, indem sie sich möglichst detailliert auf die je konkrete Umsetzung, d.h. auch auf die Kontingenzen und Brüche, konzentriert. Teilnehmer erscheinen dabei als »kompetente[…] Teilnehmersubjekt[e]« (Alkemeyer/Buschmann 2016: 117), die ihre eignen Wege finden, an Praktiken heran- und mit ihnen umzugehen, sie unterschiedlich interpretieren, in die eigene Biografie einbinden und in ihrer je individuellen Ausübung immer neue Versionen des Vollzugs hervorbringen. Auf diese Weise lassen sich Ambivalenzen zwischen Strukturiertheit und Kontingenz, »Aktivität und Passivität, Anpassung und Eigensinn« (ebd.: 118) ebenso berücksichtigen wie zwischen Reproduktion bzw. Wiederholung und Transformation bzw. Kreativität (vgl. Shove et al. 2012; Schäfer 2016b; Reckwitz 2016). Die Studie versteht sich somit nicht als Ethnografie im Sinne einer systematischen Erschließung eines Praxisfeldes, sondern konzentriert sich vielmehr darauf, ethnografische Methoden für eine materialitätsorientierte Praktikenforschung einzusetzen und zu erproben. Im Sinne einer für die Praxistheorien charakteristischen engen Verschränkung zwischen Theorie, Methodologie und Analyse (Schäfer 2016a: 9) versteht sie sich dabei als eine »theoretische Empirie« (Kalthoff 2008: 20ff.): Sie verwendet den theoretischen Ansatz einerseits als Grundlage für die Generierung empirischen Materials und als Heuristik für die Analyse, speist die hieraus gewonnenen Erkenntnisse aber zugleich in die Theorie zurück und versucht sie so für eine Weiterentwicklung praxistheoretischen Denkens nutzbar zu machen. Eine so verstandene theoretische Empirie durchzuführen heißt dann, theoriegeleitet zu forschen, theoretische Annahmen vor dem Hintergrund der empirischen Einsichten zu befragen und zu irritieren und die Theorie durch die Empirie zu informieren.
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Religion als Feld einer materialitätsorientierten Praktikenforschung Sich mit der erörterten Perspektive der Religion zuzuwenden, bedeutet, Religion als ein dynamisches Feld von Praktiken zu betrachten, als einen Bereich, der durch eine Vielfalt von Praktiken etwa des Singens, Betens und Gedenkens, der Kontemplation, Meditation und Schriftauslegung, des Lesens, Fastens, Feierns, Erziehens, Predigens, Tanzens, Bekennens oder Debattierens konstituiert wird, die wiederum als relativ stabile, über bestimmte Prinzipien organisierte Handlungszusammenhänge vorgestellt werden. Das Spezifikum dieser Praktiken kann in Anlehnung an religionssoziologische Definitionsversuche darin gesehen werden, dass sie direkt oder indirekt auf übernatürliche Bereiche oder transzendente Wesenheiten ausgerichtet sind (vgl. Hill 1974: 42f.; Wuthnow 2001: 307), dass sie durch darauf bezogene Überzeugungen mit organisiert sind und dass sich solche Überzeugungen in ihrem Vollzug zum Ausdruck bringen. Praktiken-als-Performanzen zum Ansatzpunkt der Erforschung von Praktiken-als-Entitäten zu machen, erfordert dann einerseits, an konkreten Handlungsvollzügen anzusetzen – fokussiert wird dann nicht, was geglaubt wird, sondern wie geglaubt wird, wie also Religion sich ereignet, ›gemacht‹ und ›gelebt‹ wird (McGuire 2008: 12ff.) –, andererseits erfordert es, sie konsequent aus der Perspektive der Praktiken zu betrachten und sie von hier aus verständlich zu machen. Das impliziert erstens, Religion als Vollzugsgeschehen zu begreifen, als das Ergebnis kontinuierlicher Vollzüge des Betens, Imaginierens, Meditierens oder Singens, die die Existenz der entsprechenden Praktiken voraussetzen und sie zugleich immer wieder aktualisieren und neu ›beleben‹. An der performativen Ebene anzusetzen heißt zweitens, die körperliche und mentale Dimension dieses Vollzugsgeschehens hervorzuheben und zu klären, wie diese Praktiken durch bestimmte Körpertechniken (Scheer 2009: 193; Morgan 2010a: 4) und Gesten wie Knien, Schreiten oder Sich-Bekreuzigen, aber auch durch mentale Aktivitäten der Kontemplation, Imagination oder der Selbstbeobachtung hervorgebracht werden. Es heißt drittens, die Ebene der Stimmungen, Gefühle und Sinnesempfindungen zu berücksichtigen und danach zu fragen, wie über bestimmte Aktivitäten etwa des Berührens (Brown 2009: 770f.; McGuire 2007: 187f.) oder des Betrachtens bestimmte Eindrücke evoziert werden, wie sich darüber bestimmte Stimmungen entfalten, wie spezifische affektive Gehalte in den Vollzug ›eingelagert‹ sind, inwiefern solche Praktiken ihren Teilnehmern ›Emotionsmanagement‹ (Scheer 2012: 209) abverlangen, und wie die Hoffnungen, Wünsche oder Intentionen der Teilnehmer in den praktischen Vollzug hineinspielen. Auf dieser Grundlage kann dann im Detail untersucht werden, wie materielle Entitäten und Phänomene – Felswände und Wasser, Steinplatten und Altäre, Ge-
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betsketten und Marienfiguren, Licht und Dunkelheit etc. – in solche Praktiken involviert sind: wie sie die jeweiligen Aktivitäten ermöglichen, beschränken und ihnen eine Richtung geben, wie sie zu ihnen auffordern, sie begünstigen und sie mit hervorbringen, sie aufeinander hin ordnen und sie strukturieren; es heißt, herauszuarbeiten, wie sie Praktiken mit Affektivität ›aufladen‹, wie sie in Techniken der Einstimmung und Fokussierung bzw. der Modifikation von Befindlichkeiten einbezogen werden und wie sie Vorstellungen und Erinnerungen hervorbringen helfen; und es heißt, zu explorieren, wie sie in Prozesse der religiösen Selbstvergewisserung, der Zuschreibung von Bedeutungen und der Tradierung religiösen Gedächtnisses eingebunden sind, wie sie religiöse Vorstellungswelten erfahrbar machen und wie sie Teilnehmern dabei helfen, Beziehungen zu ihren transzendenten Bezugspartnern aufzunehmen bzw. aufrechtzuerhalten (Orsi 2005). Für eine solche Forschung, die sich für die exemplarische Untersuchung der materiellen Dimension religiöser Praktiken interessiert, ergeben sich Ansatzpunkte in der ganzen Breite des religiösen Lebens: Sie findet sie sowohl im offiziellen rituellen Leben religiöser Institutionen als auch im individuellen Glaubensleben, sie kann sich regelmäßig und routinisiert vollzogenen Gebeten ebenso zuwenden wie ›außeralltäglichen‹ Praktiken, und sie kann Praktiken entweder dort aufsuchen, wo sie sich vollziehen, oder sie mithilfe von Teilnehmerberichten zu rekonstruieren versuchen. Bei der Entscheidung darüber, welche Praktiken sie auf welche Weise beforscht, kann sie sich von ihrem Interesse für bestimmte materielle Entitäten, für bestimmte Vollzüge oder für bestimmte Aspekte leiten lassen, also etwa davon, ob sie ihre Aufmerksamkeit auf Licht, Kontemplation, Berührung oder Normativität richtet. Im Mittelpunkt stehen hier einerseits private Gebets- und Andachtspraktiken, andererseits Praktiken, wie sie an hoch frequentierten Pilgerorten zu beobachten sind. Mit beiden lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Während mit der Beforschung ›solitär‹ vollzogener Praktiken – die den praxistheoretischen Gedanken umsetzt, dass man Teilnehmern auch in die privaten Vollzüge hinein folgen kann und immer noch Sozialität findet – in den Blick kommt, wie Teilnehmer Dinge mehr oder weniger gezielt in die Durchführung solcher Praktiken involvieren, wie sie im individuellen Vollzug an etablierte Praktiken anknüpfen und ihre eigenen Wege der Umsetzung finden, und wie voraussetzungsreich auch alltäglich und routiniert vollzogene Praktiken sind, wird an den Pilgerstätten deutlich, wie Artefakte immer neue Teilnehmer in ihnen zunächst unbekannte Vollzüge verwickeln und so an der Hervorbringung und Kontinuierung religiöser Praktiken beteiligt sind.
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Zum Aufbau des Buches Das Buch gliedert sich wie folgt: Kapitel 2 erarbeitet zunächst die theoretischen und methodischen Grundlagen und geht dabei in vier Schritten vor. Den Ausgangspunkt bildet Schatzkis Theorie sozialer Praktiken, die in ihren Grundzügen dargestellt, als eine Morphologie sozialer Praktiken diskutiert und im Hinblick auf mentale Aktivitäten und Lebenszustände sowie auf das Verhältnis zwischen Praktiken und ihren Teilnehmern vertieft wird. Im dritten Schritt wird dieser Ansatz als theoretischer Rahmen für die systematische Untersuchung der materiellen Dimension sozialer Praktiken plausibilisiert und, angelehnt insbesondere an Schatzkis Theorie der Arrangements, mit Konzepten für die Analyse dieses Verhältnisses angereichert. Unter Anschluss an neuere Tendenzen in den Religious Studies, der Religionssoziologie und der Forschung zur Material Culture of Religion wird die Perspektive weiter auf religiöse Praktiken hin zugeschnitten. Das Kapitel schließt mit einer Erörterung ethnografischer Methoden als ein Weg zur Empirisierung des diskutierten Ansatzes und als Zugang zu einer materialitätsorientierten Praktikenforschung sowie mit einer Beschreibung des methodischen Vorgehens. Die empirische Studie teilt sich in fünf Kapitel auf, die sich der detaillierten Untersuchung je einer bestimmten Praktik widmen. In einer Rekonstruktion des Gebets einer Teilnehmerin in einer verlassenen Kirche wird herausgearbeitet, wie die Elemente eines Kirchenraums gezielt involviert werden, um bei der Beterin eine Haltung herbeizuführen, die eine erfolgreiche Aufnahme und Durchführung des Gebets erst ermöglicht. Die Untersuchung eines Rosenkranzgebets erörtert, wie eine Gebetskette als Träger dieser Andachtsform in Techniken der Kontemplation und Imagination eingebunden wird und an der gezielten Evokation emotional gefärbter Vorstellungsgehalte beteiligt ist. Das Durchschreiten der Massabielle-Grotte im südfranzösischen Marienwallfahrtsort Lourdes wird als eine eigendynamische, durch die konkrete Gestalt des materiellen Arrangements mit hervorgebrachte ›Maschinerie‹ untersucht, die sich über die kontinuierliche Involvierung immer neuer Teilnehmer ›am Laufen‹ hält und die, vermittelt über Aktivitäten der Berührung, den religiösen Charakter des Ortes auf Dauer stellt. Die Analyse der abendlichen Marienprozession in Lourdes arbeitet heraus, wie spezifische Konfigurationen von Licht und Dunkelheit ein praktikenspezifisches Arrangement konstituieren, an der Vermittlung und Erfahrbarmachung religiöser Bedeutungen beteiligt sind und zur Formierung devotionaler Kollektive beitragen. Am Beispiel von Praktiken, wie sie in der Grabeskirche in Jerusalem beobachtet werden können, wird diskutiert, wie die dortigen Gedenkstätten Teilnehmer aus verschiedenen religiösen Traditionen zusammenbringen und wie sich hier Vollzüge etabliert haben, die sich Teilnehmern als zu erschließende Erfahrungsräume anbieten, wie
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Praktiken einer ›andächtigen‹ Annäherung aber auch scheitern können, wenn bestimmte Bedingungen nicht gegeben sind. Schließlich wird der Besuch von Pilgerstätten als ein Verfahren der gezielten Hervorbringung von Erfahrungen und inneren Bildern erörtert, die in die spätere religiöse Praxis Eingang finden sollen.
Grundlagen und Vorüberlegungen
Entwurf einer materialitätsorientierten Praktikenforschung
Die Organisation sozialer Praktiken (Th. Schatzki) Das Soziale als Praktiken-Geflecht In Schatzkis Beschreibung erscheint das Soziale nicht als organisiert durch übergreifende Einheiten wie etwa soziale Systeme, und umgekehrt auch nicht als die Summe individueller Handlungen, sondern als ein »nexus of practice« (Schatzki 1996: 169), ein dynamisches Gewebe menschlicher, im Medium sozialer Praktiken geordneter Aktivität.1 Nahezu alles, was Menschen tun, ist in dieser Sicht Teil sozialer Praktiken, die als relativ stabile, durch eine Reihe klar bestimmbarer Prinzipien organisierte Bündel solcher Aktivitäten beschrieben werden. Die zentrale und sozialkonstitutive Rolle sozialer Praktiken in der sozialtheoretischen Anlage verdankt sich dabei der Annahme, dass das Soziale – verstanden als menschliche Koexistenz – sich ereignet und geordnet wird im Medium des Verstehens, und dass es Praktiken sind, die Verstehen transportieren und organisieren. Zugleich sind sie der Ort, an dem das individuelle Denken und Handeln einerseits und das Soziale andererseits organisiert und miteinander verbunden werden (ebd.: 12ff.;
1
Schatzki entfaltet seine Praxistheorie in Auseinandersetzung mit Wittgensteins Spätwerk, das er teils systematisch interpretiert, teils kreativ weiterdenkt, aber auch mit Heideggers Sein und Zeit (Schatzki 1996: 12ff., 88) und mit Charles Taylors Praxisphilosophie. Schatzki begreift seine Konzeption sozialer Praktiken dabei als Alternative zu holistischen und individualistischen Zugängen, die das Soziale entweder als Totalität oder als Resultat von Wechselbeziehungen zwischen Individuen betrachten (ebd.: 1ff.), aber auch als Alternative zu den praxistheoretischen Ansätzen von Bourdieu und Giddens (ebd.: 133ff.). – Ich erörtere im Folgenden die Grundzüge der Praxistheorie Schatzkis auf Basis meiner eigenen Lesart.
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vgl. Schatzki 2002: 87f.). Soziale Praktiken erscheinen deshalb als der zentrale Ort des Sozialen (Schatzki 2002), und Sozialität erscheint als ein durch Praktiken gestifteter »Zusammenhang« menschlicher Leben (Schatzki 1996: 173, Herv. im Orig.). Wie aber sind soziale Praktiken als ›kleinste Einheiten des Sozialen‹ genauer zu verstehen? Schatzki definiert sie als »organized nexus[es] of actions« (Schatzki 2002: 71), als »temporally unfolding and spatially dispersed nexus[es] of doings and sayings« (Schatzki 1996: 89), als »spatial-temporal manifolds of actions« (Schatzki 1997: 285) oder, genauer: […] a practice is a temporally evolving, open-ended set of doings and sayings linked by practical understandings, rules, teleoaffective structure, and general understandings (Schatzki 2002: 87).
In diesem Verständnis sind Praktiken also zunächst einmal Bündel (»bundle[s]«, Schatzki 2002: 71) von Handlungen bzw. Aktivitäten, die über bestimmte Logiken miteinander verbunden sind, auf diese Weise einen relativen stabilen Zusammenhang formen und so gemeinsam eine Praktik als Ganzes konstituieren. 2 Hände falten, Augen schließen, den Kopf senken und sich niederknien beispielsweise (sowie bestimmte mentale Aktivitäten, auf die ich zurückkomme) erscheinen dann als miteinander verbundene Teilelemente, die gemeinsam bestimmte Praktiken des Betens ausmachen. Solche »basic actions« (Schatzki 1996: 38) oder »basic activities« (Schatzki 2012: 15) werden über den Körper vollzogen, sind also grundsätzlich körperlicher Natur (»bodily doings«, Schatzki 1996: 47).3 Die Handlungen einer Praktik stehen allerdings nicht gleichrangig nebeneinander, sondern sind hierarchisch zueinander hin geordnet und bauen teils auch aufeinander auf. Beten etwa wird oft durch elementare Operationen wie ein Senken des Kopfes, Knien und Murmeln konstituiert, ist aber in vielen Fällen nur ein Bestandteil der übergreifenden Praktik eines Gottesdienstbesuchs, die zusammen mit anderen Handlungen wie Singen, dem Empfang der Hostie oder der Entge-
2
Ich verwende die Begriffe doing, (basic) action bzw. (elementare) Handlung und activity bzw. Aktivität deckungsgleich (vgl. Schatzki 1996: 22, 38, 106). Wo Handlungen weiter in ihre Teilelemente zergliedert werden, spreche ich darüber hinaus von Akten.
3
Diese grundlegende Körperlichkeit gilt auch für die sayings (»bodily sayings«, Schatzki 1996: 47), die Schatzki als körperliche Sprechakte begreift und den doings subsummiert: Es sind doings, die – wie etwa Kopfschütteln, Winken oder Zwinkern – etwas ›sagen‹ (Schatzki 2002: 72). Sie können, müssen aber nicht verbalsprachlich durchgeführt werden. Mit doings sind im Folgenden die sayings immer mitgemeint.
E NTWURF
EINER MATERIALITÄTSORIENTIERTEN
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gennahme des Segens konstituiert wird, die sich ihrerseits wiederum aus elementaren Operationen zusammensetzen (stehen, ins Gesangbuch schauen, umblättern, mit Amen antworten). Basic actions konstituieren in diesem Verständnis Aufgaben (»tasks«, Schatzki 2002: 73) wie das Beten, die ihrerseits wieder Vorhaben (»projects«, ebd.) wie die Teilnahme am Gottesdienst konstituieren. Dabei betrachtet Schatzki auch tasks und projects als Handlungen, aber – da sie sich aus einer Reihe von Einzelhandlungen zusammensetzen – als Handlungen höherer Ordnung (»higher-order actions« bzw. »›higher level‹ activites«, Schatzki 2012: 15). Indem man eine basic action ausübt, vollzieht man damit fast immer auch solche weitergehenden Handlungen. Gemeinsam sind elementare Handlungen und Handlungen höherer Ordnung somit in teleologischen Hierarchien (»teleological hierarchies«, ebd.) zueinander hin geordnet, und Praktiken beinhalten sämtliche Aktivitäten, die in solchen Hierarchien organisiert sind. Eine Praktik umfasst also eine Menge oder Kombination hierarchisch geordneter körperlicher Bewegungen und Sprechakte (eben doings und sayings), Aufgaben und Vorhaben (Schatzki 2002: 73). Praktiken erscheinen in diesem Verständnis als raum-zeitliche Entitäten, die, vermittelt über körperliche Aktivitäten, in der Welt präsent sind, bestimmte Orte im Raum einnehmen und sich über bestimmte Zeitabschnitte hinweg entfalten (ebd.: 72). Sie müssen keineswegs gleichförmig ablaufen, sondern umfassen auch gelegentliche, seltene oder neue Handlungen, während auf der anderen Seite einzelne Handlungen auch ausgespart werden können (ebd.: 74): So ist es etwa körperlich gebrechlichen Gottesdiensteilnehmern erlaubt, auf das Knien beim Gebet zu verzichten. Komplementär zur Entitäten-Perspektive verhält sich ein zweites Verständnis, mit dem nicht die Organisation sozialer Praktiken, sondern ihre je konkrete Performanz, das aktuelle »do-ing« (Schatzki 1996: 90) bezeichnet wird. Hervorgehoben wird hier der »stream of activity« (ebd.), die jeweilige Durchführung der miteinander verbundenen doings und sayings. Beide Verständnisse sind aufeinander bezogen: Ein jeweiliger Vollzug setzt demnach eine schon gegebene Praktik voraus, während er sie umgekehrt immer wieder neu hervorbringt und so aufrecht erhält. Praktiken-als-Performanzen und Praktiken-als-Entitäten sind so gesehen untrennbar miteinander verbunden und hängen wechselseitig voneinander ab.4
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Schatzki verwendet stets den im Hinblick auf eine Unterscheidung zwischen ›Praktik‹ und ›Praxis‹ indifferenten englischen Begriff practice. Im Deutschen ist dies mit einer begrifflichen Unschärfe verbunden, bezeichnet doch der Begriff der ›Praxis‹ – als Gegenbegriff zu ›Theorie‹ – das Gesamt menschlichen Handelns und damit etwas gänzlich
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Die Organisation von Praktiken-als-Entitäten Schatzki unterscheidet im Hinblick auf ihren Komplexitätsgrad und ihr Vorkommen zwei Klassen von Praktiken. Verstreute (»dispersed«, Schatzki 1996: 91) Praktiken sind demnach solche Praktiken, die – wie etwa Beschreiben, Erklären oder Fragen – in ganz verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens vorkommen und dabei auch durch die komplexeren integrativen (»integrative«, ebd.: 98; Schatzki 2002: 77) Praktiken ›wandern‹ (Schatzki 1996: 99) können. Sie können dabei ihre Form beibehalten (Beschreiben oder Nachfragen etwa tauchen in vielen Bereichen des sozialen Lebens in unveränderter Weise auf), werden manchmal aber auch transformiert (die verstreute Praktik des Fragens etwa nimmt im Rahmen juristischer, polizeilicher oder religiöser Praktiken, also etwa in Zeugenbefragung, Verhör oder Beichte, je spezifische Formen an). Diese ›Flexibilität‹ verstreuter Praktiken ist dabei auf ihre relativ einfache Struktur zurückzuführen (ebd.: 91ff.). Integrative Praktiken zeichnen sich demgegenüber durch eine höhere Komplexität aus und ›wandern‹ nicht durch die verschiedenen Bereiche des sozialen Lebens, sondern sind für sie vielmehr konstitutiv. Beispiele sind etwa religiöse Praktiken wie beten, Gottesdienste feiern oder Prozessionen durchführen, aber auch landwirtschaftliche, wissenschaftliche, geschäftliche Praktiken oder Praktiken des Unterrichtens, Kochens oder der Freizeitgestaltung (ebd.: 98ff.). Der Zusammenhang der körperlichen Bewegungen und Sprechakte, die gemeinsam eine integrative Praktik ausmachen, wird gestiftet durch vier Komponenten: praktische Verständnisse (»practical understandings«), Regeln (»rules«), eine teleo-affektive Struktur (»teleoaffective structure«) und allgemeine Verständnisse (»general understandings«) (Schatzki 2002: 77).5
anderes, als es mit einem Verständnis von Praktiken als ›Gewebe miteinander zusammenhängender Handlungen‹ gemeint ist (Reckwitz 2002: 249). Es ist deshalb wichtig, sich klar zu machen, dass bei Schatzki mit den Begriffen practice/practices immer ›Praktik‹/›Praktiken‹ gemeint sind; für den Vorschlag einer Differenzierung von practice (im Singular) und practices (im Plural), wobei ersteres der ›Praxis‹, letzteres der ›Praktik‹ entspricht vgl. Reckwitz 2002: 249 sowie 2003: 289. Diesem Verständnis entsprechend verwende ich, um ›Praktiken-als-Entitäten‹ zu bezeichnen, stets den Begriff der ›Praktik‹. 5
Die unterschiedliche Komplexität von verstreuten und integrativen Praktiken erklärt sich aus ihrer unterschiedlichen Organisation: Verstreute Praktiken sind demnach nicht über explizite Regeln und Teleo-Affektivität organisiert, sondern ausschließlich über das practical understanding. Gerade das Fehlen von Teleo-Affektivität ist demnach die Voraussetzung für die Flexibilität und damit die Verbreitung von Praktiken dieser Klasse (Schatzki 1996: 91f.)
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Das praktische Verständnis bezeichnet Fähigkeiten im Hinblick auf die Durchführung, Identifikation sowie das Auslösen bzw. Bewirken von und das Reagieren auf die eine Praktik konstituierenden Handlungen. Dieses praktische Verstehen oder auch »›knowing how to‹« (Schatzki 1996: 91) umfasst erstens das Vermögen, eine Handlung auszuführen. Teilnehmer ›wissen‹ dann, wie sie über die Performanz bestimmter Handlungen bestimmte Praktiken vollziehen – wie man etwa über das Senken des Kopfes, das Falten der Hände und Murmeln ein Gebet durchführt –, und sie können dafür in der Regel auf ein körperliches Repertoire zurückgreifen, das ihnen spontane Vollzüge erlaubt (ebd.: 122). Practical understanding meint zweitens die Fähigkeit, Handlungen als solche zu identifizieren und sie jemandem zuzuschreiben. Man erkennt dann ein Senken des Kopfes, ein Falten der Hände etc. als Beten, kann eine Geste als Gruß identifizieren oder versteht, dass ein angehobener Arm die Absicht ausdrückt, eine Frage zu stellen (Schatzki 1997: 301).6 Drittens ist damit die Fähigkeit gemeint, Handlungen anzustoßen bzw. umgekehrt auf Handlungen zu reagieren (Schatzki 2002: 77f.). Normalerweise sind Teilnehmer einer Praktik, so Schatzki, in der Lage, Handlungen (bzw. Aufgaben und Vorhaben) einer Praktik entweder selbst zu vollziehen, mindestens aber sie zu identifizieren und angemessen auf sie zu reagieren.7
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Über Handlungen hinaus erstreckt sich diese zweite Komponente des practical understanding auch auf die Identifikation und Zurechnung von Ereignissen, Objekten und Personen: Um richtig handeln zu können, muss man die jeweiligen Umstände klären können, im Rahmen derer man agiert, und muss etwa wissen, dass rot ›Stop!‹ bedeutet (Schatzki 1997: 301).
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Schatzkis insbesondere an Gilbert Ryles »knowing how« (Ryle 1945) anschließendes practical understanding beschreibt ein Handlungs- und Deutungswissen, das sich – wie bei der Erkennung von Gesichtern oder beim Fahrradfahren – nicht in Worte fassen lässt und oft Teil körperlicher Repertoires ist (Polanyi 1985). Diese Komponente bildet letztlich den ›impliziten Teil‹ der Organisation sozialer Praktiken. Schatzki diskutiert es in Auseinandersetzung mit Bourdieus Begriff der praktischen Logik (Bourdieu 1987) und Giddens᾿ Begriff des praktischen Bewusstseins (Giddens 1997), die er als alternative Fassungen des practical understanding begreift. Strittig ist dabei der Status dieses »knowing how to act« (Schatzki 1997: 296) als handlungsleitendes Prinzip: Nicht zuletzt die Tatsache, dass Individuen die meisten ihrer Handlungen im Detail erklären können, spricht für Schatzki dafür, dass es über dieses implizite Wissen hinaus weitere Prinzipien der Handlungsleitung geben muss. So beschränkt er sich auf eine restriktive Fassung des practical understanding als rein auf den Vollzug von Handlungen (und das Verständnis von Dingen) bezogenes Know-how, und ergänzt es um explizite Regeln
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Die Aktivitäten einer Praktik werden zweitens miteinander verbunden durch Regeln – Grundsätze, Prinzipien oder Instruktionen, die spezifizieren, wie Handlungen durchzuführen sind, um als korrekt zu gelten, und die Teilnehmer beim Vollzug dieser Handlungen anleiten. Schatzki begreift solche Regeln dezidiert als explizite Regeln, die den Lauf der Aktivität orientieren und bestimmen sollen und typischerweise durch diejenigen aufgestellt werden, die über die hierfür nötige Autorität verfügen.8 Beispiele für solche Regeln sind etwa, dass man zu einem Gottesdienst nicht zu spät kommen und sein Mobiltelefon ausschalten soll, dass man vor der Kommunion nichts essen soll oder dass man beim Empfang der Hostie ›Amen‹ sagt. Man kann diese Regeln zwar verletzen bzw. sie ignorieren. Der Normalfall ist aber, so Schatzki, dass die Partizipation an einer Praktik mit der Beachtung und Befolgung ihrer Regeln einhergeht (Schatzki 2002: 79f.). Die doings und sayings einer Praktik werden drittens zusammengehalten durch eine teleo-affektive Struktur.9 Vereinfacht gesagt, verweist Teleologie auf eine Gerichtetheit, die die einzelnen Handlungen in eine hierarchische Relation zueinander stellt, während Affektivität auf die mit ihrem Vollzug verbundenen Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften (»passions«, Schatzki 1996: 124) verweist. Schatzki betrachtet teleo-affektive Strukturen als normative Ordnungen, die Korrektheit (»oughtness or rightness«, ebd.: 101) oder Akzeptabilität (»acceptability«, ebd.: 102) dieser Handlungen und Gefühle spezifizieren (ebd.: 124): Der teleologische Teil der Struktur eröffnet demnach ein Feld von Aufgaben, Projekten und Zielen (etwa eine Kirche aufsuchen, eine Münze einwerfen, eine Votivkerze anzünden und platzieren, eine Gebetshaltung einnehmen und schließlich eine Fürbitte sprechen), die durchzuführen bzw. zu erreichen als korrekt oder akzeptabel betrachtet wird (Schatzki 2002: 80). Der affektive Teil hingegen definiert ein Spektrum von Empfindungen, Gefühlen, Stimmungen und Leidenschaften, die im Rahmen des Vollzugs dieser Handlungen zu haben als korrekt oder akzeptabel
und teleo-affektive Strukturen als weiteren Prinzipien der Selektion und Leitung von Handlungen (ebd.: 300ff.). 8
Die auf den ersten Blick eigentümliche Annahme, die Regeln einer Praktik seien explizierbar, erklärt sich daraus, dass die gesamte Organisation einer Praktik als normativ betrachtet wird: Demnach gibt es durchaus auch unausgesprochene Regeln, sie werden aber an anderer Stelle, etwa in der teleo-affektiven Struktur einer Praktik, verortet (Schatzki 1996: 100).
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Um hervorzuheben, dass es sich bei Teleo-Affektivität um zwei eng zusammenhängende, analytisch aber zu trennende Strukturen handelt, verwende ich den von der Schreibweise des englischen Originals abweichenden Bindestrich. Die Unterscheidung ist wichtig, um die beiden Komponenten aufeinander beziehen zu können.
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betrachtet wird (ein Gefühl des Schmerzes und des Verlusts bei Beerdigungen, ein Gefühl der Reue bei der Beichte, eine andächtige Haltung während einer Kerzenprozession). Die teleo-affektive Struktur spezifiziert also für die Teilnehmer einer Praktik einerseits, was zu welchem Zweck getan werden kann oder soll und was andererseits dabei gefühlt und empfunden werden kann oder soll (ebd.). Praktiken unterscheiden sich dabei erheblich im Hinblick auf die Komplexität ihrer teleologischen Struktur und die Tiefe ihrer affektiven Ordnung. Sie können von geringerer oder höherer Komplexität sein (etwa ein Stoßgebet vs. ein Rosenkranzgebet) und können ein geringeres oder höheres Niveau an Affektivität aufweisen (etwa ein bloßes Aufsagen von Gebetsformeln vs. ein leidenschaftliches Gebet) (ebd.). Grundsätzlich veranschlagt Schatzki den teleologischen Anteil höher als den affektiven, wobei das Verhältnis beider Anteile zueinander von Praktik zu Praktik variiert: So gibt es verhältnismäßig gefühls- und stimmungsarme Praktiken wie etwa das Kochen, während etwa religiöse Praktiken oder Praktiken der Erziehung einen deutlich höheren affektiven Anteil haben können (Schatzki 1996: 101). Auch wenn Schatzki der Affektivität Omnipräsenz zuschreibt – »human activity continuously expresses [...] emotions, moods, and feelings [...]« (Schatzki 1997: 302) – und Affektivität auch in Abwesenheit teleologischer Orientierung Handlung hervorbringen bzw. anleiten kann, etwa wenn jemand wütend ist und Geschirr zerschlägt, betrachtet er Handlung als in erster Linie nicht durch Affektivität, sondern durch Teleologie organisiert (ebd.: 302f.). Schließlich werden Praktiken durch ein allgemeines Verständnis (»general understanding«) organisiert. Im Gegensatz zum praktischen Verständnis geht es hier weniger um ein Können, sondern um einen Sinn etwa für den Wert oder die Bedeutung bestimmter Dinge (Schatzki 2012: 16). Solche generellen Verständnisse sind nicht für einzelne Praktiken spezifisch, organisieren sie aber mit und drücken sich in ihrer Durchführung aus. Beispiele sind etwa ein Sinn dafür, dass es gut ist, anderen zu helfen, dass man Teil einer Gemeinschaft ist oder dass man verantwortungsvoll agieren soll. Solche allgemeinen Verständnisse können sich dann in der Art und Weise der Durchführung von Handlungen (etwa in einer besonderen Hingabe), aber auch in Handlungen selbst ausdrücken (etwa wenn, wie in Schatzkis Beispiel der Religionsgemeinschaft der Quäker, bei der Arbeit spontan religiöse Lieder gesungen werden, Schatzki 2002: 86). Die Verständnisse, Regeln und teleo-affektiven Strukturen bilden gemeinsam die Organisation einer Praktik (Schatzki 1996: 99). Normativität betrifft dabei nicht nur teleo-affektive Strukturen, sondern die Organisation von Praktiken im Allgemeinen: Eine Praktik ist, so Schatzki, ein Spektrum normativer, also korrekter und akzeptabler, Handlungen und Zustände. Die Verständnisse, Regeln und
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teleo-affektiven Strukturen einer Praktik spezifizieren demnach für die involvierten Teilnehmer, was und wie etwas getan oder gesagt und wie darauf reagiert werden kann oder soll, welche Ziele verfolgt, welche Vorhaben, Aufgaben und Handlungen um dieser Ziele willen ausgeführt werden können oder sollen, und welche Empfindungen, Stimmungen oder Gefühle man dabei haben kann oder soll (ebd.: 101, 124). Dabei legt die Organisation einer Praktik zumeist keine einzig akzeptable Vorgehensweise, Stimmung etc. fest, sondern eröffnet eine ganze Spanne akzeptabler Handlungen (bzw. akzeptabler Varianten der Durchführung dieser Handlungen) oder Zustände. Bei einer Beerdigung können etwa starke emotionale Ausdrücke ebenso akzeptabel sein wie Ausdrücke von stiller Trauer. Dabei sind Praktiken allerdings unterschiedlich streng organisiert: Je ›totalitärer‹ (»totalitarian«, Schatzki 1996: 124) eine Praktik, desto stärker spezifiziert ihre Organisation korrekte Teleologien und Affektivitäten, und je weniger totalitär sie ist, desto stärker stellt ihre Organisation akzeptable Alternativen bereit. Praktiken können diesbezüglich über Zeit und Raum hinweg variieren (ebd.: 102). Ein für das Verständnis von Praktiken-als-Entitäten zentraler Gedanke ist nun weiter, dass die Organisation einer Praktik nicht ›in den Köpfen‹ der Teilnehmer ist, sondern ›da draußen‹ in der Praktik (ebd.: 105).10 Gemeint ist damit, dass Praktiken den Handlungen bzw. den Subjekten gewissermaßen vorausgehen. Das gilt
10 Schatzki stützt sich bei diesem Punkt auf Charles Taylor (Schatzki 1997: 105; 2002: 70, Anm. 13). Taylor schreibt: »It is not just that the people in our society all or mostly have a given set of ideas in their heads and subscribe to a given set of goals. The meanings and norms implicit in these practices [hier: wählen und verhandeln, T. C.] are not just in the minds of the actors but are out there in the practices themselves [...]. The actors may have all sorts of beliefs and attitudes [...]. They bring these with them into their negotiations, and strive to satisfy them. But what they do not bring into the negotiations is the set of ideas and norms constitutive of negotiation themselves. These must be the common property of the society before there can be any question of anyone entering into negotiation or not. Hence they are not subjective meanings, the property of one or some individuals, but rather intersubjective meanings, which are constitutive of the social matrix in which individuals find themselves and act“ (Taylor 1971: 27, Herv. T. C.). – Dieser Aspekt lässt sich am besten verstehen im Hinblick auf eine Abgrenzung zu mentalistischen Ansätzen, die das Wissen ›in den Köpfen‹ der Akteure zum Ausgangspunkt machen und die kognitive Strukturen als getrennt von der Praxis betrachten. Schatzki lokalisiert den ›Ort‹ des praktischen Wissens demgegenüber in den Handlungen selbst. Wissen und Verstehen hat hier weniger intellektuellen als vielmehr praktischen Status und wird demnach nicht als getrennt von der Aktivität betrachtet, sondern
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erstens für das praktische Verständnis: Individuelle körperliche Bewegungen und Sprechakte können eine Praktik erst vor dem Hintergrund des praktischen Verständnisses konstituieren, das durch die fragliche Praktik ausgedrückt und transportiert wird (ebd.: 92f.). Falten der Hände, Schließen der Augen, Senken des Kopfes und Murmeln etwa konstituieren die Praktik des Betens und sind gemeinsam als Beten erkennbar, indem sie in ihrer jeweiligen Durchführung das praktische Verständnis der Praktik des Betens transportieren: Jedes einzelne Erscheinen des Betens setzt damit die Existenz der Praktik des Betens voraus. Und eben weil sich das praktische Verständnis einer Praktik in ihrem Vollzug ausdrückt, erwerben Teilnehmer dieses Verständnis ausschließlich durch (direkte, aber auch sprachlich oder elektronisch vermittelte) Partizipation an jeweiligen praktischen Vollzügen, also indem sie sich Performanzen der Praktik aussetzen bzw. ihnen begegnen (ebd.: 93, 106). Hierhin gehört zweitens, dass Teilnehmer, wie schon erwähnt, qua Partizipation an einer jeweiligen Praktik deren Regeln, Grundsätze, Prinzipien und Instruktionen berücksichtigen (Schatzki 2002: 79): Teilnehmer eines Gottesdienstes bemühen sich normalerweise, nicht zu spät zu kommen, stellen sich für den Empfang der Kommunion an und antworten beim Empfang der Hostie mit ›Amen‹. Drittens übernehmen Teilnehmer qua Partizipation an einer Praktik die in diesen ›aufgehobenen‹ Teleologien und affektiven Zustände:11 Gefühle, Empfindungen, Stimmungen etc. erscheinen hier gewissermaßen als ›eingelagert‹ in die affektive Struktur einer Praktik und werden durch den Vollzug zur Entfaltung gebracht.
Vertiefung und Weiterführung Schatzkis Beschreibung sozialer Praktiken als durch verschiedene Komponenten organisierte Bündel körperlicher Aktivitäten, die man auch als eine Morphologie sozialer Praktiken begreifen kann, liegt dieser Studie als theoretischer Ausgangspunkt zugrunde, von dem aus Praktiken im Feld der Religion untersucht werden. In Reaktion auf Anforderungen, die ihr Untersuchungsgegenstand mit sich bringt, nimmt die Studie dabei eine Reihe von Schwerpunktsetzungen vor und schneidet
als eng damit verbunden. – Auch mit der grundlegenden Einsicht, wonach das Soziale gewissermaßen ›praktikenförmig‹ organisiert ist, schließt Schatzki an Taylor an. 11 Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von den Praktiken inhärenten, »implizite[n] Motiv/Emotions-Komplexe[n], [...] in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ [...]« (Reckwitz 2003: 293).
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die Perspektive in drei Hinsichten weiter zu: Ausgehend von der Einsicht in den konstitutiven Stellenwert mentaler Vollzüge etwa des Erinnerns, Imaginierens oder der Anwendung von Konzentrationstechniken in den hier untersuchten Praktiken greift sie erstens den Gedanken auf, mentalen Aktivitäten den Status von Handlungen zuzuerkennen und sie körperlichen Handlungen gleichzustellen, um sie auf diese Weise systematisch berücksichtigen zu können. Aufbauend auf der Beobachtung einer besonderen Bedeutung von Sinneswahrnehmungen, Stimmungen, Bewusstseinszuständen und Gefühlen greift sie zweitens das Konzept der Lebenszustände auf und fragt nach ihren Verwicklungen mit der Organisation und Performanz religiöser Praktiken. Drittens entwickelt sie einen Zugriff, der sich den Praktiken über die Beforschung ihrer konkreten Performanzen nähert und dabei auch nach den Verhältnissen von Praktiken und ihren Teilnehmern fragt.
Mentale Aktivitäten Es sind nicht zuletzt religiöse Praktiken, die mit besonderem Nachdruck zur Berücksichtigung dessen auffordern, was Teilnehmer im Rahmen ihrer Partizipation mental tun. Die Anwendung von Konzentrationstechniken, die Ausrichtung der Aufmerksamkeit ›nach innen‹ und die Beobachtung des eigenen Gedankenstroms, das ›Sprechen in Gedanken‹, das bewusste Hervorrufen innerer Bilder und ihre kontemplative Betrachtung sind nur einige Beispiele für die konstitutive Rolle mentaler Vollzüge für die Organisation und Durchführung solcher Praktiken. Mit Schatzki lassen sich solche Vollzüge als Handlungen begreifen und so in die Beschreibung sozialer Praktiken integrieren: The flow of activity is broken into a series of overlapping actions that contains interventions in the world as well as mental proceedings (Schatzki 2010: 114).
Zwischen körperlichen und mentalen Aktivitäten (»mental actions«, Schatzki 2014: 19) – sich etwas vorstellen, denken, zuschauen, zuhören, sich erinnern oder rechnen – wird hier kein grundlegender Unterschied gemacht (Schatzki 2010: 114f., 2012: 15, 2014: 19, vgl. 1996: 39). Für beide Arten von Handlungen gilt, dass sie willentlich vollzogen werden können – man kann zu ihnen auffordern und man kann dieser Aufforderung entweder nachkommen oder nicht –, und dass es für jemanden Sinn ergeben kann, sie zu vollziehen bzw. sie um einer bestimmten Sache willen zu vollziehen (Schatzki 2010: 114f.). Soziale Praktiken werden damit um eine zweite Art von Aktivitäten erweitert: Sie erscheinen dann als Bündel
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nicht nur körperlicher, sondern auch mentaler Aktivitäten (vgl. Reckwitz 2003: 290, 2002: 249).12 Indem man mentale Aktivitäten als gleichwertige Bestandteile neben körperlichen Aktivitäten betrachtet, lassen sich Vollzüge etwa der Meditation, Kontemplation, Introspektion oder Imagination systematisch in die Beschreibung sozialer Praktiken integrieren und ihre Rolle, ihr Platz und ihre Bedeutung im organisatorischen Gefüge einer Praktik gezielt untersuchen. Dabei kann man davon ausgehen, dass Praktiken in unterschiedlichem Ausmaß durch mentale Aktivitäten konstituiert werden, dass also das Verhältnis zwischen körperlichen und mentalen Aktivitäten zueinander, wenn man so will, variiert. Für bestimmte Praktiken des Konsums (einen Roman lesen, einen Film ansehen), des Lernens (sich für eine Klausur vorbereiten, einen Text auswendig lernen), künstlerische Praktiken, Praktiken der Wissensarbeit, der Psychotherapie und eben auch der Religion bzw. Spiritualität sind mentale Aktivitäten von zentraler Bedeutung (vgl. etwa Schatzki 2014, Schmidt 2008). Ein besonders anschauliches Beispiel sind Meditationspraktiken, bei denen – teils über Stunden hinweg – der Körper ruhiggestellt und in einer bestimmten Position gehalten wird, während sich die Aufmerksamkeit vollständig nach innen richtet, um den Strom der eigenen Gedanken und Empfindungen systematisch zu beobachten und bestimmte Umgangsweisen damit einzuüben.13 Auf diese Weise lässt sich dann in den Blick nehmen, wie genau mentale Aktivitäten an der Konstitution einer Praktik beteiligt sind – wie etwa das Hervorrufen bestimmter innerer Bilder zentraler Bestandteil bestimmter Andachtspraktiken ist, wie sich Gebete in Gedanken vollziehen, wie Teilnehmer Techniken der Fokussierung und des Ausblendens störender Eindrücke verfolgen –, wie solche Vollzüge in die teleologische Struktur einer Praktik eingebaut sind und wie sie mit körperlichen Aktivitäten zusammenspielen.
Conditions of Life Der zweite Punkt betrifft den Status von Gefühlen, Stimmungen, Empfindungen und Sinneseindrücken in der Organisation und Performanz religiöser Praktiken. Wichtig ist hier der Begriff der ›Lebenszustände‹ (»conditions of life« oder »life
12 Dabei sind natürlich auch mentale Aktivitäten letztlich Handlungen des Körpers, insofern sie ›in‹ und ›mit‹ einem Körper vollzogen werden (vgl. Reckwitz 2003: 290). 13 Von solchen offensichtlichen Fällen aus kann man dann aber auch nach der Rolle mentaler Aktivitäten in weniger offensichtlichen Fällen fragen, etwa im sportlichen Wettkampf oder in geschäftlichen Besprechungen.
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conditions«, Schatzki 1996: 22, 40).14 Lebenszustände sind ein zentraler Bestandteil von Schatzkis Überlegungen zum ›Mentalen‹ (»mind«, ebd.: 22), die er in enger Auseinandersetzung mit Wittgensteins Spätphilosophie entwickelt (ebd.: 19ff.; Reckwitz 2000: 177ff.). Mit Wittgenstein wendet sich Schatzki gegen eine kartesianische Auffassung des Mentalen als Substanz, Bereich oder abstrakten Apparat und betrachtet es demgegenüber als Teil der kontinuierlichen und sich von Moment zu Moment ereignenden Verwicklung des Menschen mit Personen, Objekten und Situationen. Das Mentale besteht in dieser Sicht darin, wie etwas für jemanden ist, oder, in Schatzkis Worten: »how things stand and are going for someone« (Schatzki 1996: 22). Conditions of life wie glauben, hoffen oder erwarten werden als Aspekte des Mentalen bzw. als mentale Phänomene (»mental phenomena«, ebd.) verstanden und umfassen letztlich alles, was sich für das Individuum im Zuge seiner Verwicklung mit der Welt ereignet – es sind, wie Schatzki mit Bezug auf Heidegger ausdrückt, »way[s] of being (-in-the-world)« (ebd.: 33). Schatzki unterscheidet dabei zwischen vier Kategorien solcher innerer bzw. mentaler Zustände: ›Bewusstseinszustände‹ (wessen sich jemand explizit bewusst ist: Schmerzen empfinden, sich unruhig fühlen, sich etwas vorstellen, sehen, hören), ›Seelenzustände‹ bzw. Emotionen und Stimmungen (wie sich jemand fühlt: fröhlich sein, glücklich sein, traurig sein, sorgenvoll sein), ›kognitive‹ oder ›intellektuelle Zustände‹ (jemandes Haltungen und Standpunkte: zweifeln, glauben, sicher sein, wünschen, intendieren, erinnern, verstehen), und schließlich ›Handlungen‹ (was jemand tut) (ebd.: 37ff., Herv. im Orig.; vgl. Anm. 16). Solche Zustände werden einerseits über für andere sichtbare ›äußere Phänomene‹ (»›outer‹ phenomena«, ebd.: 28) wie Gesten, Gesichtsausdrücke oder Stimmlagen in der Welt präsent gemacht (beispielsweise Zappeln als Ausdruck innerer Unruhe, ebd.: 31), aber auch über ›innere Phänomene‹ (»›inner‹ phenomena«, ebd.: 28) wie Sinneswahrnehmungen, Gefühle, Bilder und Worte »›before the mind‹« (ebd.: 28), die ausschließlich ihrem Besitzer zugänglich sind.15
14 Schatzki überträgt Wittgensteins Begriff des ›Zustands‹ nicht wie üblich als ›state‹ ins Englische, sondern als ›condition‹, um Konnotationen einer ›substanzbasierten Ontologie‹ zu vermeiden (Schatzki 1996: 30). 15 Dass sich Zustände in Phänomenen ausdrücken, meint dabei nicht, dass sie als eine Realität ›hinter‹ dem Phänomen zu verstehen wären – sie bestehen vielmehr in den Phänomenen bzw. den ›äußeren und inneren Episoden‹ (ebd.: 31). Schatzkis Auffassung des Mentalen entsprechend, bezeichnen conditions also keine Relation der Kausalität oder Determination, sondern einfach »the state of something᾿s being, its ›how it is‹« (ebd.: 22).
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[…] life is a continuous flow of bodily activity in the world directly accessible to persons other than their performer. It turns out, however, that life has, so to speak, two faces: a continuous behavioral one ›open to view‹ in the public world, and an intermittent ›inner‹ one accessible only to its possessor (ebd.).
Beide Ordnungen von Phänomenen machen für Schatzki den »stream of life« (ebd.: 27) aus, der damit nicht nur als »stream of activity« (ebd.: 90), sondern zugleich als unregelmäßiger Strom von Empfindungen, Sinneseindrücken, Gefühlen, Vorstellungen und diffusen inneren Bildern (ebd.: 30) betrachtet wird. Ihre Relevanz für die Analyse sozialer Praktiken erhalten Lebenszustände durch ihre enge Verklammerung mit Handlungen bzw. sozialen Praktiken. Eine Handlung wie etwa das Knien auf einer Gebetsbank besteht demzufolge nicht nur in der Verlagerung des Körpergewichts auf die Knie, sondern auch aus Empfindungen, Gefühlen und Bildern, die diese körperliche Aktivität begleiten, etwa einer Schmerzempfindung oder einem Gefühl der Demut. Etwas tun heißt so gesehen immer auch, etwas zu fühlen, etwas wahrzunehmen, oder sich in einer bestimmten Stimmung zu befinden (ebd.: 39).16 Um eine Handlung umfassend verstehen zu können, ist es deshalb wichtig, so Schatzki, nicht nur ihre äußeren, sondern auch die ›inneren Ausdrücke‹ (»inner expression[s]«, ebd.) einzubeziehen. Systematische Berücksichtigung erfährt dieser Gedanke einer Verklammerung von Handlungen und Zuständen mit den teleo-affektiven Strukturen, die bei Schatzki als ›Ordnungen von Lebenszuständen‹ (»orders of life conditions«, ebd.: 101) aufgefasst werden. Soziale Praktiken erscheinen dann als mit bestimmten Mustern etwa emotionaler oder kognitiver Zustände verbunden, die in die Organisation einer Praktik gewissermaßen ›eingebettet‹ sind und die qua Teilnahme unter bestimmten Bedingungen wirksam werden bzw. sich entfalten können: An einer Kerzenprozession teilzunehmen heißt beispielsweise nicht nur, mit einer Kerze in der Hand einen Weg entlang zu schreiten und Gebetsformeln zu murmeln, sondern es kann auch bedeuten, in einer andächtigen Stimmung zu sein, sich Gebeten und Gesängen hinzugeben und einen Sinn für Gemeinschaft zu teilen. Gefühle, Stimmungen und Sinneswahrnehmungen werden dann nicht als Eigenschaften von Individuen bzw. als private Phänomene verstanden, sondern als Komponenten der Organisation einer jeweiligen Praktik: Es sind Teilnehmer, die
16 Dass Handlungen als Lebenszustände betrachtet werden (s. o.), hat insbesondere mit dieser »›consists in‹ relation« (Schatzki 1996: 39) zu tun, derzufolge Handlungen immer auch aus den mit ihnen einhergehenden Lebenszuständen bestehen. Der Klarheit halber nehme ich hier eine analytische Trennung zwischen Handlungen und Lebenszuständen vor.
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in einer bestimmten Stimmung ›sind‹, die bestimmte Gefühle ›haben‹ oder bestimmte Dinge wahrnehmen, aber diese Lebenszustände werden betrachtet als geformt durch die Praktiken, an denen sie teilnehmen (Schatzki 2002: 75; Reckwitz 2016: 172f.).17 Was Teilnehmer fühlen, spüren, erfahren und durchleben kann so von seiner Beschränkung auf das vermeintlich Private gelöst (vgl. Schatzki 1996: 41) und zu einem Problem der Praktikenforschung werden. Wenn Teilnehmer etwa darüber berichten, dass sie ein Gefühl der inneren Unruhe am Beten hindert, dass sie über die Berührung einer Felswand dem ›Transzendenten‹ näher kommen, dass sie willentlich eine Schmerzempfindung herbeiführen, um sich besser konzentrieren zu können, oder dass sie den Besuch heiliger Orte mit der Suche nach tiefgreifenden emotionalen Erfahrungen verbinden, dann sind diese Aussagen nicht oder nicht in erster Linie als Aussagen über Teilnehmer zu betrachten, sondern als potentielle Hinweise auf die teleo-affektive Organisation der fraglichen Praktiken: Wie, zum Beispiel, erweisen sich bestimmte Bewusstseinszustände als hinderlich für den Vollzug einer Gebetspraktik? Welche Arbeit verlangt eine Praktik ihren Teilnehmern ab, um sich auf einen erfolgreichen Vollzug ›einzustellen‹? Wie beeinflusst eine Schmerzempfindung die Durchführung eines Gebets? Welche affektiven Gratifikationen hält eine Praktik für ihre Teilnehmer bereit? Lebenszustände als Komponenten der Organisation einer Praktik zu konzeptualisieren, eröffnet damit einen Weg, Gefühle, Stimmungen oder Motive der Teilnehmer systematisch in die praktikentheoretische Perspektive einzubeziehen, sie als eine Ressource für die Erforschung von Praktiken zu nutzen und nach ihrer Bedeutung im organisatorischen Gefüge einer jeweiligen Praktik zu fragen.
Praktiken und ihre Teilnehmer Für die Beforschung der Organisation sozialer Praktiken schließt die Studie über Schatzki hinaus an den Ansatz von Shove et al. (2012) an, die – gestützt auf eine vereinfachte Rezeption von Schatzkis Praktikenbegriff und unter Anschluss an
17 Es gibt hier Parallelen zu emotionstheoretischen Ansätzen, die Gefühle nicht als persönliches, psychologisches und privates, sondern vielmehr als soziales und öffentliches Phänomen betrachten. Menschen ›haben‹ demnach zwar Emotionen, aber diese erscheinen als verursacht durch, bezogen auf bzw. als Teil von oder eingebunden in je spezifische sozio-kulturelle Kontexte (vgl. Scheer 2012; Riis/Woodhead 2010: 5ff., 17; vgl. Schützeichel 2012). Soziale Praktiken lassen sich als ein solcher Kontext betrachten. – Ich verstehe den Gedanken einer Formung von Lebenszuständen durch Praktiken nicht in einem deterministischen Sinne. Ich komme darauf zurück.
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Reckwitz᾿ Bestimmung sozialer Praktiken als »a pattern which can be filled out by a multitude of single and often unique actions« (Reckwitz 2002: 250) –, eine Perspektive entwickeln, die sich für die Reproduktion und Transformation sozialer Praktiken, für Dynamiken ihres Wandels, ihre Trajektorien in Raum und Zeit sowie ihre Verbreitung und Zirkulation interessiert, und dabei eine ›radikalisierte‹ Variante der Entitäten-Perspektive entwerfen. Praktiken erscheinen in dieser Sicht als Entitäten, die ›Karrieren haben‹, die miteinander um die Ressourcen ihrer Teilnehmer ›konkurrieren‹ – die Autoren rechnen etwa vor, wie viele Millionen ›Personen-Stunden‹ weltweit zur Verfügung stehen, um von Praktiken ›kolonisiert‹ zu werden (Shove et al. 2012: 64f.) –, die immer neue Kohorten von Teilnehmern bzw. ›Trägern‹ (»carriers«, ebd.: 7) gewinnen, motivieren bzw. ›rekrutieren‹ müssen, um sich ›am Leben erhalten‹ zu können, die Anforderungen an ihre Teilnehmer stellen (etwa im Hinblick auf Geschicklichkeit oder andere Fähigkeiten), ihnen auf der anderen Seite aber auch Gratifikationen bieten (etwa in Form von Prestige oder besonderen Affekten). Für die Beforschung der Organisation sozialer Praktiken bietet dieser Zugriff eine Reihe weiterer Ansatzpunkte. Anschließen lassen sich hier Fragen nach den ›Erfolgsbedingungen‹ der Aufnahme, Aufrechterhaltung und Weitergabe von Praktiken, danach, was sie ihren Teilnehmern für eine erfolgreiche Partizipation einerseits abverlangen, ihnen andererseits aber auch bieten, sowie nach dem Verhältnis von Praktiken zueinander, die in Verhältnissen der Kompetition, der wechselseitigen Abhängigkeit, aber auch der Vermischung bzw. Hybridität stehen können (ebd.: 87ff., 124f.). Die hier eingenommene Sicht ist damit durch zwei scheinbare Polaritäten gekennzeichnet. Auf der einen Seite steht ein Zugriff, der die praxistheoretische Dezentrierung des Subjekts (Reckwitz 2004: 19) entschieden weiter treibt und so auch als ›posthumanistische‹ Variante der Praxistheorie charakterisiert werden kann (vgl. kritisch Alkemeyer/Buschmann 2016: 120ff.; vgl. auch Schatzki 2017b: 26ff.). Auf der anderen Seite steht Schatzkis ›humanistische‹ Theorie, die vom »stream of life« aus argumentiert, Intelligibilität zum Dreh- und Angelpunkt macht und die sinnhafte Orientierung von Individuen betont (Schatzki 2002: 75). Es stellt sich damit die Frage, wie eine ›starke‹ Entitäten-Perspektive mit einem Zugriff vermittelt werden kann, der sich für die Teilnehmer und ihre Gefühle, Stimmungen, Hoffnungen, Wünsche, Motive und Intentionen interessiert, der neben den Regelmäßigkeiten immer auch das Besondere eines praktischen Vollzugs berücksichtigt und der eine auf die Verbreitung und Entwicklung von Praktiken ausgerichtete Sicht um einen Zugang zu ergänzen sucht, der dem situativen Reichtum eines jeweiligen praktischen Vollzugs gerecht wird. Der Weg dorthin führt über das schon erörterte wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Prakti-
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ken-als-Entitäten und Praktiken-als-Performanzen, an das auch Shove et al. anschließen. Aufbauend auf einer Konzeption, die Praktiken als eine Art Form betrachtet, die im Zuge eines jeweiligen doing ausgefüllt und reproduziert, tendenziell aber auch modifiziert wird (Shove et al. 2012: 7f.), erscheint dort jede Ausführung einer Praktik als eine situierte, einzigartige, aktive und dynamische Integration ihrer Elemente, weshalb sich Praktiken immer wieder auch verändern und entwickeln (ebd.: 119ff.). Die vorliegende Studie baut auf der Doppelfigur Entität/Performanz auf, richtet ihr Interesse aber weniger auf längerfristige Transformationsprozesse, sondern macht den je konkreten Vollzug zum Ausgangspunkt der Beforschung einer jeweiligen Praktik und ihrer Organisation. Eine Performanz als eine immer auch anders mögliche Aktualisierung zu begreifen, die relative Einzigartigkeit jedes praktischen Vollzugs zu betonen und davon auszugehen, dass Praktiken nur in einer unüberschaubaren Vielzahl immer neuer Performanzen existieren, lenkt dann den Blick auf die Offenheit und die Kontingenzen des Handelns, auf seine je konkreten situativen Bedingungen, auf die schöpferischen und kreativen Momente und auf die Freiheitsgrade, die Praktiken ihren Teilnehmern lassen, auf der anderen Seite aber auch auf Herausforderungen, Schwierigkeiten, Brüche und Krisen. Zugleich fordert dies auch zu einer gezielten Berücksichtigung der Teilnehmer auf, die eine Quelle dieser performativen Heterogenität darstellen können. Deutlich machen lässt sich dies mit Blick auf die bereits diskutierten Lebenszustände. Die Annahme, dass Lebenszustände durch Praktiken geformt werden, sollte nicht in einem deterministischen Sinne verstanden werden, so als ob die Gefühle und Stimmungen eines Teilnehmers im Zuge der Partizipation an einer Praktik einfach restrukturiert würden. Dies würde den Blick dafür verstellen, dass Praktiken auch scheitern können, und zwar nicht zuletzt auch deshalb, weil die Lebenszustände der Teilnehmer einen erfolgreichen Vollzug verhindern oder erschweren: Statt etwa mit der Teilnahme an einer Andacht in eine Stimmung der Kontemplation zu finden, fühlt man sich vielleicht unbehaglich oder fehl am Platze, ist abgelenkt oder hängt Gedanken nach. Ein solcher Partizipationsmodus scheitert dann bis zu einem gewissen Grade darin, sich vollständig auf den praktischen Vollzug einzulassen und etwa das auszuschöpfen, was in der affektiven Struktur einer Praktik eingelagert ist. Aus einer Sicht, die den prozessualen Charakter des Mentalen betont, erscheinen die Zustände, in denen man sich in einem bestimmten Moment befindet, nicht als bloßes Resultat der Partizipation an einer jeweiligen Praktik, sondern sind Teil komplexerer Verwicklungen des Menschen mit der Welt. Sinneswahrnehmungen, Assoziationen, Erinnerungen, Impulse, Einfälle, Ablenkung, Unbehagen, Schmerzen, Langeweile oder Angst etwa lassen
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sich nicht einfach einer bestimmten Praktik zuordnen, sondern müssen vor dem Hintergrund dieser Verwicklungen betrachtet werden. Der Vollzug bzw. die Aufnahme einer Praktik lässt sich dann verstehen als ein ›Aufeinandertreffen‹ dessen, was Teilnehmer als Träger von Lebenszuständen an die Performanz einer Praktik ›herantragen‹, mit den in ihrer teleo-affektiven Struktur eingelagerten Lebenszuständen, wobei beides einander entsprechen, aber auch miteinander konfligieren kann. Angesichts der praxistheoretischen Einsicht, dass Subjekte erst in Praktiken konstituiert werden, man letztlich hinter Praktiken nicht zurücktreten kann, sondern zwangsläufig immer im Rahmen sozialer Praktiken agiert (vgl. Shove et al. 2012: 126), und sich in bestimmten Zuständen qua Partizipation an je spezifischen Praktiken (Schatzki 2012: 13f.) befindet, handelt es sich dabei natürlich um eine Vereinfachung. Die Rede von einem ›Herantragen‹ vorgängiger Lebenszustände meint deshalb nicht, diese Zustände einem außerhalb von Praktiken stehenden Subjekt zuzurechnen. Vielmehr bedeutet es, die Komplexität der Zustände, in denen sich Teilnehmer befinden können, anzuerkennen, sie nicht einseitig einer bestimmten Praktik zuzurechnen, sondern sie als Teil ihrer kontinuierlichen Verwicklung mit der Welt zu betrachten und die Annahme einer bruchlosen ›Gleichschaltung‹ der Lebenszustände qua Vollzug einer Praktik zu vermeiden. Eine Berücksichtigung der ›außerhalb‹ oder ›vor‹ einer zu beforschenden Praktik liegenden Lebenszustände zielt also auf eine analytische Trennung, die es erst ermöglicht, zu beobachten, wie Praktiken die Lebenszustände ihrer Teilnehmer formen, wie die Lebenszustände der Teilnehmer einer erfolgreichen Partizipation umgekehrt aber auch im Wege stehen können. Die – empirische – Frage ist dann, inwieweit und bis zu welchem Grade es mit einem »Einrücken« (Reckwitz 2003: 293) zu einer Reorganisation der Lebenszustände eines Teilnehmers kommt, wie das, was die Teilnehmer an Intentionen, Wünschen und Erwartungen herantragen, die jeweilige Ausführung einer Praktik betrifft und beeinflusst, was in einem solchen Aufeinandertreffen geschieht und was das für den Vollzug einer jeweiligen Praktik bedeutet. Mit einer dezidierten Anerkennung individueller Lebenszustände wird zugleich deutlich, dass sich die performative Heterogenität bzw. der Variantenreichtum sozialer Praktiken nicht auf den körperlichen Vollzug beschränkt, sondern sich eben auch auf die Lebenszustände der Teilnehmer erstreckt. Mit einem Zugang, der berücksichtigt, wie Teilnehmer an Praktiken ›herangehen‹, was sie für sie bedeuten oder was sie sich erwarten, wird verständlich, dass eine Praktik auch bei äußerlich kaum voneinander unterscheidbaren Vollzügen auf der ›Innenseite‹ ganz anders ›funktionieren‹ kann: Sie kann mit unterschiedlichen Verständnissen versehen und biografisch anders eingebettet sein, mit verschiedenen Motiven und
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Zielsetzungen vollzogen und unterschiedlich erlebt werden, und mit unterschiedlichen Gefühlen oder Stimmungen einhergehen. Teleo-affektive Strukturen als Ordnungen von Lebenszuständen sind vor diesem Hintergrund als Möglichkeitsstrukturen zu betrachten. In den Blick kommt dann, wie Praktiken Freiräume für unterschiedliche Arten und Weisen auch der inneren Beteiligung eröffnen. Teilnehmer erscheinen dann nicht als passive ›Exekutoren‹ von Praktiken, sondern als aktive und kreative Subjekte, die ihr Wünschen, Hoffen, ihre Befindlichkeit in den praktischen Vollzug einbringen, Spielräume nutzen und Praktiken auch ›gestalten‹. Ein solcher Ansatz, der mit den Teilnehmern als Trägern von Lebenszuständen rechnet, versteht sich als Versuch einer systematischen Berücksichtigung dessen, was Teilnehmer wollen, hoffen oder intendieren, ohne dies auf Dispositionen engzuführen. Ziele, Motive oder Erwartungen der Teilnehmer haben in dieser praxistheoretischen Anlage ebenso einen Platz wie ihre Gefühle, Empfindungen und Stimmungen.18 Entscheidend ist aber: Ausgangspunkt sind nicht handelnde Subjekte – denn Handeln ist, praxistheoretisch gedacht, nur möglich im Medium sozialer Praktiken –, sondern Ausgangspunkt sind die sozialen Praktiken, im Rahmen derer diese Subjekte erst handlungsfähig, ja überhaupt erst konstituiert werden. Die Lebenszustände eines Teilnehmers werden deshalb stets im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Organisation und Performanz sozialer Praktiken betrachtet.
Zur materiellen Dimension sozialer Praktiken Die Organisation von Praktiken als Ausgangspunkt Indem die Studie Praktiken zum Ausgangspunkt macht und sich von hier aus ihrer materiellen Dimension nähert, fragt sie nach dem Verhältnis zwischen sozialen Praktiken und materiellen Entitäten.19 Die Stärke des beschriebenen Konzepts sozialer Praktiken für eine systematische Untersuchung dieses Verhältnisses liegt
18 Es mag in einer solchen Anlage, die die sinnhafte Orientierung der Teilnehmer zu berücksichtigen sucht, Parallelen zur Handlungstheorie geben, wie bisweilen kritisch bemerkt wird (vgl. Schulz-Schaeffer 2010). Die zentrale Blickverschiebung von den Individuen hin zu den Praktiken, in denen sie engagiert sind, bleibt hiervon aber unberührt (zum Verhältnis von Handlungs- und Praxistheorien vgl. Reckwitz 2004). 19 Zur Bezeichnung der materiellen Seite sozialer Praktiken kommen in dieser Studie mehrere Begriffe zum Tragen. Um eine Perspektive zu markieren, die auch den Eigen-
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dabei insbesondere in einer Erhöhung des Auflösungsvermögens: Mit einem Begriff, der eine Dekomposition sozialer Praktiken in ihre konstitutiven Elemente und Strukturen bzw. organisatorischen Komponenten erlaubt, lassen sich nicht nur Praktiken selbst im Detail untersuchen, sondern auch ihre materielle Dimension. Über ein solches ›Hineinzoomen‹ wird es dann möglich, das Verhältnis zwischen sozialen Praktiken und materiellen Entitäten weiter zu differenzieren und jede einzelne ihrer Komponenten daraufhin zu betrachten, welche Rolle Dinge in Bezug darauf jeweils spielen, wie sie dort involviert sind und welche Wirkungen sie dort entfalten. Allgemeine Fragen nach dem Verhältnis von Praktiken und Dingen – Wie sind Dinge und Praktiken miteinander verflochten? Was leisten Dinge für eine Praktik? Wie wirken umgekehrt Praktiken auf Dinge? – lassen sich aus dieser Sicht weiter spezifizieren: (1) Wie werden materielle Entitäten in die körperlichen und mentalen Aktivitäten einer jeweiligen Praktik eingebunden, wie bringen sie diese Aktivitäten mit hervor, wie wirken sie auf die konkrete Form ihrer Durchführung ein? (2) In Bezug auf das practical understanding: Inwiefern sind Dinge am Erlernen und an der Weitergabe einer Praktik beteiligt? Inwiefern sozialisieren sie ihre Nutzer in eine Praktik? Wie macht der Umgang mit ihnen eine Praktik als eine bestimmte
sinn, die Wirkmächtigkeit und die physischen Eigenschaften des Materiellen berücksichtigt, wird hier – anstelle von Begriffen wie ›Objekt‹, ›Gegenstand‹ oder ›Sache‹, die stärker Trennung, Entgegensetzung (Kohl 2003, 118ff.) und Verfügbarkeit suggerieren (Hahn 2014: 19) – der Begriff des Dings verwendet. Dabei unterscheide ich zwischen Artefakten als hergestellten oder bearbeiteten Dingen einerseits und natürlichen Dingen andererseits, wobei es sich hier um eine lediglich graduelle Unterscheidung handelt (vgl. Linde 1972: 11, vgl. Gibson 1977: 70, vgl. Schatzki 2002: 52). Mit dem breiteren Begriff der materiellen Entität (mit etwas anderer Konnotation Schatzki 2016a: 133) werden neben den Dingen auch Substanzen (Wasser, Asche), Materialien (Wolle, Werkstoffe), teils auch Zeichen und Symbole bezeichnet (vgl. Kalthoff et al. 2016a: 12). Den Begriff der materiellen Kultur verwende ich als Sammelbegriff für diejenigen materiellen Entitäten, »die in einer Gesellschaft genutzt werden oder bedeutungsvoll sind« (Hahn 2014: 18; vgl. Tilley 2006: 4). Der Begriff des materiellen Phänomens umfasst darüber hinaus alles Physische, das in den genannten Kategorien nicht aufgeht: natürliche Phänomene wie Kälte, Regen, Tageslicht oder die Dämmerung, Phänomene wie radioaktive Strahlung oder elektrisches Licht. Den Begriff der Materialität verwende ich als Abstraktum, das alle bisher genannten Bedeutungen enthält. Der Lesbarkeit halber fungieren ›Dinge‹ oder ›materielle Entitäten‹ hier bisweilen als Synonym für ›materielle Entitäten und Phänomene‹.
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Praktik erkennbar? (3) Welche Bedeutung kommt materiellen Entitäten im Hinblick auf die Regeln der Durchführung einer Praktik zu? Inwiefern stabilisieren sie diese Regeln? Inwieweit sind die Regeln einer Praktik zugleich Regeln des Umgangs mit ›ihren‹ Dingen und umgekehrt? (4) Wie sind Dinge in den teleologischen Aufbau einer Praktik eingebunden? Wie verbinden sie die verschiedenen Handlungen einer Praktik miteinander? Wie unterstützt der Gebrauch von Dingen die Erreichung bestimmter, in die teleologische Struktur einer Praktik eingelassener Aufgaben und Ziele? Inwiefern ist die affektive Struktur einer Praktik an die Involvierung von Dingen gebunden? Wie evoziert der Gebrauch von Dingen sinnliche Wahrnehmungen, Gefühle oder Stimmungen, die für eine Praktik konstitutiv sind? (5) Welche generellen Verständnisse sind mit den Dingen verbunden? Inwiefern drücken sich solche Verständnisse im Vollzug einer Praktik aus, wie beeinflussen sie ihren Verlauf? Wie schaffen die Dinge auch die Bedeutung, die eine Praktik für ihre Teilnehmer hat, mit? (6) Schließlich, mit einem Blick auf Praktiken ›als Ganzes‹: Wie sind materielle Entitäten an der Weitergabe einer Praktik beteiligt? Wie unterstützen sie die Verbreitung einer Praktik und die Rekrutierung neuer Teilnehmer? Auf welche Weise fordern sie Teilnehmer zur Aufnahme praktischer Vollzüge auf? Wie sind sie eingebunden in die Konstitution längerfristiger Beziehungen zwischen Praktiken und ihren Teilnehmern?
Praktiken und Arrangements Zur Beantwortung solcher Fragen kann weiter an die Sozialtheorie Schatzkis angeschlossen werden, die sich zunächst eher beiläufig, im Rahmen der site ontology später systematisch mit der Relation zwischen Materialität und sozialen Praktiken beschäftigt.20 Soziale Praktiken erscheinen hier als die eine Seite enger Verflech-
20 Schatzki stellt schon früh grundlegende Überlegungen zur Rolle des Materiellen für soziale Praktiken an (Schatzki 1996: 111ff., 169ff.) und baut diesen Aspekt später zunehmend aus, wobei es hier zu einer perspektivischen Ausweitung kommt: Während Schatzki zunächst vor allem von der Seite der Praktiken aus denkt, verschiebt sich der Fokus später hin zum sozialontologischen Konzept der ›Praktiken-Arrangements-Geflechte‹. Schatzkis Überlegungen zu Praktiken und Arrangements, die ich hier nur in ihren Grundzügen und in meiner eigenen Lesart widergebe, verstehen sich als Weiterentwicklung seiner Praxistheorie und als Versuch einer systematischen sozialtheoretischen Berücksichtigung von Materialität (Schatzki 2010 bzw. 2016a) und zugleich als Alternative zu anderen »theories of arrangements« wie der ANT (Schatzki 2002: xii). Indem die vorliegende Studie Praktiken in den Mittelpunkt stellt und von hier aus nach
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tungen, deren andere Seite durch materielle Arrangements gebildet wird, die wiederum als Konfigurationen wechselseitig miteinander verbundener materieller bzw. physischer Entitäten – Menschen, Artefakte, Organismen und natürlicher Dinge – verstanden werden (Schatzki 2016a: 69). Diese ›Praktiken-Arrangements-Geflechte‹ (ebd.: 70) werden zum eigentlichen Kern der Theorie des Sozialen. Es sind solche Geflechte oder Gewebe (ebd.: 70), die als der Ort betrachtet werden, als Teil und inmitten dessen sich das soziale Leben vollzieht: […] the site of the social […] is a mesh of practices and orders: a contingently and differentially evolving configuration of organized activities and arrangements (Schatzki 2002: xii).
Soziale Praktiken sind in dieser Sicht grundlegend verflochten mit materiellen Entitäten: Sie stützen sich auf sie oder sind auf sie gerichtet, werden durch sie mitgeformt, stabilisiert und mitunter auch durch sie bedingt (Schatzki 2002, insb. 105f.). Dabei konzipiert Schatzki das Verhältnis zwischen Praktiken und Arrangements im Rahmen solcher Zusammenhänge als wechselseitig: Praktiken werden ausgeführt inmitten solcher materieller Arrangements und werden durch sie mit geformt, sie beeinflussen und formen diese Arrangements umgekehrt aber auch (Schatzki 2016a: 70). Unterschieden werden dabei drei Arten von Kontexten. Einmal bilden demnach Arrangements und Praktiken füreinander einen Kontext. Beide Seiten bilden aber auch einen Kontext ›nach innen‹: Praktiken für die sie konstituierenden Handlungen, Arrangements für die sie konstituierenden materiellen Entitäten (Schatzki 2002: 116ff.). Gemeinsam bilden Praktiken und Arrangements als social site schließlich wiederum einen Kontext für menschliches Zusammenleben überhaupt. Als eine Weiterentwicklung der Praktikentheorie und mit ihrer grundsätzlichen Ausgangsfragestellung und Anlage bietet die Theorie der Arrangements eine Reihe grundlegender und konzeptueller Überlegungen, die eine empirische Forschung zur materiellen Dimension sozialer Praktiken aufgreifen kann. Ich skizziere im Folgenden die teils direkt hieran anschließenden, teils daraus abgeleiteten Überlegungen, die den Blick der Studie geleitet und in die empirische Analyse Eingang gefunden haben. Ganz grundsätzlich kann mit Schatzki und anderen von einer unhintergehbaren Materialität allen Handelns ausgegangen werden. Demzufolge ist jedes Handeln eingebettet in eine materiell konstituierte Umwelt, inmitten derer es sich vollzieht, mit der es sich auseinandersetzt und zu der es sich verhält, so dass in einer
der Materialität fragt, stützt sie sich grundlegend auf Schatzkis Konzept sozialer Praktiken und schließt an die Theorie der Arrangements eher selektiv an.
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jeden vorstellbaren Handlungssituation materielle Entitäten und Phänomene kopräsent sind. Dabei können Elemente einer jeweiligen materiellen Handlungsumwelt eine besondere Rolle für das sich in ihr vollziehende Handeln spielen oder schlicht seinen Hintergrund bilden: Praktiken werden oft mit, aber immer inmitten materieller Entitäten und Phänomene durchgeführt. So gesehen sind auch solche Praktiken, die in mehr oder weniger weiten Teilen ohne die gezielte Involvierung von Dingen auskommen, nie als vollständig losgelöst von ihrer materiellen Einbettung zu betrachten. Die Frage, die sich mit einer solchen Berücksichtigung materieller ›Hintergrundbedingungen‹ stellt, ist dann, ob soziale Praktiken Elemente ihrer jeweiligen Umgebung als praktische Ressourcen direkt involvieren oder nicht, ob sie also lediglich materiell situierte oder im engeren Sinne »interobjektive« (Latour 2001; Reckwitz 2003: 292; Kalthoff/Röhl 2011) Praktiken sind. Mit dem Konzept der materiellen Arrangements lassen sich diese Zusammenhänge genauer beschreiben.21 Ich verstehe ein Arrangement als den materiellen Handlungskontext, inmitten dessen sich eine Praktik vollzieht und der für den Vollzug dieser Praktik unterschiedlich relevant werden kann. Das Arrangement bezeichnet dann zum einen die Umgebung, zum anderen aber auch diejenigen Elemente dieser Umgebung, die in eine Praktik direkt einbezogen werden. Wichtig ist dabei, Arrangements immer in Relation zu sozialen Praktiken zu betrachten: Ein Arrangement besteht so gesehen nicht ›für sich‹, sondern nur in seiner Bezogenheit auf die Praktiken, die sich – aktuell oder potentiell – an und mit ihm vollziehen und durch die materielle Entitäten und Phänomene erst zu einem Arrangement ›zusammengebunden‹ werden: So transformiert etwa eine Prozession die Elemente der Umgebung, durch die sie sich bewegt, in Elemente des Arrangements dieser Praktik. Arrangements können, müssen aber nicht für den Vollzug bestimmter Praktiken ausgelegt sein, und sie sind – anders als der Begriff suggeriert – keineswegs immer das Resultat von Planung oder überhaupt menschlicher Einwirkung: Auch ein plötzlicher Platzregen gehört zu den Elementen, die das Arrangement einer Freiluftmesse bilden und sich auf die praktischen Vollzüge auswirken. Mit dem Arrangement-Begriff lassen sich ferner nicht nur Relationen zwischen Praktiken und materiellen Entitäten beschreiben, sondern auch Relatio-
21 Ich nehme hier zwei Modifikationen vor: So lege ich erstens einen Begriff des Arrangements zugrunde, der materielle Entitäten und Phänomene im oben genannten Sinne berücksichtigt, Menschen und Organismen im Gegensatz zu Schatzki aber ausklammert. Ich unterscheide außerdem zwischen Arrangements als der materiellen Einbettung oder Umgebung von Praktiken und einzelnen materiellen Entitäten und Phänomenen als Bestandteilen von Praktiken.
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nen zwischen den materiellen Entitäten eines Arrangements untereinander. Beispiele für solche Zusammenhänge sind etwa die aufeinander bezogenen Artefakte eines Gebetsraums, an einer Felswand herabrinnendes Wasser oder eine durch eine Lichtquelle illuminierte Marienfigur. Mit den Arrangements korrespondiert dabei ein weiter Materialitätsbegriff. Die Betonung einer materiellen Einbettung allen Handelns und die Einnahme einer relationalen Perspektive, die nach den Beziehungen eines Handelns zu seiner jeweiligen materiellen Handlungsumwelt fragt, fordert letztlich dazu auf, nichts, was für die Durchführung einer Handlung oder Praktik relevant werden kann, auszuschließen. Nicht nur Artefakte und natürliche Objekte, auch Substanzen wie Wasser oder Öl, Wetterphänomene wie Hitze oder Regen, Phänomene wie Tageslicht, eine Mondfinsternis oder eine Geräuschkulisse können sich auf den Vollzug sozialer Praktiken auswirken: Solche materiellen Entitäten und Phänomene stellen mindestens Hintergrundbedingungen dar, werden aber teils auch aktiv in praktische Vollzüge involviert – so etwa, wenn eine Kerzenprozession gezielt auf den Einbruch der Dämmerung abgestimmt ist, wenn die Stellung von Himmelskörpern die Durchführung religiöser Rituale veranlasst oder wenn ein gemeinsames Gebet von Pilgern störender Außengeräusche wegen unterbrochen werden muss. Mit einer solchen umfassenden Sicht auf Materialität lässt sich die praxistheoretische Aufmerksamkeit über die oft im Vordergrund stehenden Artefakte hinaus dezidiert auf andere Aspekte der physischen Welt ausweiten (vgl. Kalthoff et al. 2016a: 11f.), die so in ihrem Bezug auf soziale Praktiken verständlich werden können. Die Theorie der Arrangements stellt dabei mehrere Konzepte zur Verfügung, mit denen sich Zusammenhänge zwischen Praktiken und materiellen Entitäten bzw. Arrangements genauer bestimmen lassen und von denen ich hier drei aufgreife: Für alle der hier untersuchten Praktiken gilt, dass sie sich auf den Einbezug bestimmter materieller Entitäten und Phänomene stützen, ohne die sie nicht oder zumindest nicht in der jeweiligen Form durchführbar wären, und dass also ihre Performanz bzw. Reproduktion an diese Dinge gebunden ist. Dieser Aspekt lässt sich mit dem Begriff der Konstitution (Schatzki 2016a: 80) fassen, der letztlich den Gedanken einfängt, dass Dinge Träger von Praktiken sind (Reckwitz 2003: 291) und Praktiken in ihrer je konkreten Erscheinungsform mit hervorbringen und stabilisieren. Die Art und Weise, wie Dinge auf eine Praktik, ihren Verlauf und ihre Organisation einwirken, lässt sich mit dem Begriff der Präfiguration (Schatzki 2016a: 79f.; vgl. 2002: 44ff.) genauer bestimmen, der insbesondere auf die physischen Eigenschaften der Dinge abstellt. Gemeint ist, dass Dinge in ihrer konkreten Beschaffenheit, aber auch in ihrer jeweiligen Anordnung und Einbettung bestimmte Handlungen nicht nur ermöglichen und beschränken, sondern sie
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beispielsweise auch vereinfachen oder erschweren, beschleunigen oder verlangsamen, angenehm oder unangenehm machen. So kann etwa das längere Knien auf einer Kniebank Empfindungen hervorrufen, die den Fortgang des Gebets beeinflussen können (vgl. Kap. 2), die Beschaffenheit der Oberfläche einer Felswand kann eine bestimmte Verteilung von Berührungsaktivitäten begünstigen (vgl. Kap. 4), und die Verteilung von Licht lenkt eine Ausrichtung von Blicken und Schritten (vgl. Kap. 5). Auf diese Weise tragen Dinge und Arrangements dazu bei, mögliche Handlungspfade, Handlungskombinationen und Handlungssequenzen zwar nicht zu determinieren, wohl aber zu ›qualifizieren‹ (Schatzki 2016: 80) und damit wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen, nahezulegen oder auszuschließen. Ein weiteres Verhältnis zwischen Praktiken und Materialität lässt sich mit dem Begriff der Intelligibilität (Schatzki 2016a: 80) fassen. Aufbauend auf dem Gedanken, dass etwas das ist, als was es verstanden wird (Schatzki 2002: 58ff.), dass Dinge also vieldeutig (vgl. Hahn 2014: 122) und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen prinzipiell unbeständig oder variabel sind (Schatzki 2002: 16f., 54; vgl. auch Kopytoff 1986; Hörning 2001), entwickelt Schatzki die Einsicht, dass die Dinge ihre Bedeutungen (auch) über ihre Einbindung in Praktiken erhalten. Das Verständnis materieller Entitäten – Schatzki beschreibt diesen Aspekt mit dem umfassenderen Begriff der ›Welt-Intelligibilität‹ (»world intelligibility«, Schatzki 1996: 111) – ergibt sich demnach daraus, wie mit ihnen bzw. ihnen gegenüber gehandelt wird. Aktivitäten des andächtigen Berührens etwa, des forschenden Betrachtens oder des Tauschens involvieren ein Artefakt in unterschiedliche praktische Zusammenhänge und machen es zum Objekt religiösen, musealen oder ökonomischen Interesses, oder anders gesagt: zu einer Reliquie, einem Ausstellungsstück oder einer Ware. Bedeutungen können also – auch von einem Moment auf den nächsten – changieren (ebd.: 116). Soziale Praktiken bilden in dieser Sicht einen Kontext, ein ›Gewebe der Intelligibilität‹ (»web of intelligibility«, Schatzki 2002: 100), in das Dinge verwickelt sind, die damit die in dieses Gewebe eingelagerten Bedeutungen erhalten. Die Bedeutung von Dingen liegt folglich nicht in den Dingen selbst, sondern sie ist ›niedergelegt‹ in Praktiken, die als »regimes of activity and intelligibility« (ebd.: 58) eine Spannweite korrekter und akzeptabler Bedeutungen und Umgangsweisen artikulieren und etablieren. Praktiken weisen Dingen aber auch dadurch Bedeutung zu, dass sie sie zueinander in Verweisungszusammenhänge stellen (Schatzki 1996: 111ff.): So statten sich etwa eine Gebetbank, eine Rosenkranzkette und eine Marienfigur als teleologisch aufeinander bezogene Elemente einer Gebetspraktik gegenseitig mit entsprechenden Bedeutungen aus. Schließlich bilden die Dinge
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eines Arrangements auch untereinander intelligibilisierende Verweisungszusammenhänge (Schatzki 2016a), so etwa, wenn eine Marienstatue einen Ort als religiösen Erinnerungsort markiert.22 Denkt man auf dieser Grundlage über das Verhältnis von Praktiken und Dingen nach, stellen sich auch Fragen im Hinblick auf die Agency der Dinge. Praktiken werden in vielen Fällen gleichermaßen konstituiert durch körperliche Aktivitäten und einen wie auch immer gearteten Beitrag der Dinge, anders gesagt: durch menschliche und nicht-menschliche Agency (Schatzki 2002: 190 ff.), die in unterschiedlicher Weise zum Zustandekommen einer Praktik beitragen. Ich gehe im Anschluss an die vorangegangenen Überlegungen erstens davon aus, dass Praktiken den Dingen nicht nur Bedeutung zuweisen, sondern auch darüber mit bestimmen, welche Wirkungen sie entfalten können. So spielt etwa der in anderen Zusammenhängen durchaus relevante Geschmack eines Olivenöls keinerlei Rolle, wenn es nicht in Praktiken der Nahrungszubereitung, sondern als ›heiliges Öl‹ in liturgische Praktiken eingebunden wird (vgl. Cress 2015). Was Dinge zu tun ›imstande sind‹, hängt insofern nicht nur von ihrer physischen Erscheinungsform ab, sondern auch von den Praktiken, in die sie verwickelt werden. Sie erscheinen dann weder als handlungsdeterminierende Kräfte noch als bloße Hilfsmittel oder Requisiten, sondern als Elemente und Konstituenten von Praktiken, in denen sie etwas tun oder bewirken, wobei dieses Tun oder Bewirken auch von den Praktiken mit bestimmt wird. Die Agency der Dinge ist deshalb nicht ›gegeben‹, sondern wird organisiert durch die Praktiken, in die sie involviert werden.23
22 Eine vierte von Schatzki definierte Art des Zusammenhangs ist die Kausalität, die hier nicht weiter aufgegriffen wird. Für die genannten Zusammenhänge gilt, dass sie bei Schatzki als wechselseitig konzipiert werden, während für die Zwecke dieser Studie teils nur eine Richtung dieser Zusammenhänge betont wird. – Ich habe Prozesse der Bedeutungskonstitution von Dingen mit Bezug zu Erving Goffman (1977) an anderer Stelle als »framing« beschrieben und vier Arten der Rahmung herausgearbeitet: eine Rahmung durch Praktiken; eine Rahmung durch materielle Verweisungszusammenhänge; eine Rahmung durch die physische Konstitution der Dinge; eine Rahmung durch »immaterielle Skripte« (Cress 2015). 23 Vor dem Hintergrund der Einsicht, dass erstens Dinge von Menschen zum Handeln oder Wirken gebracht, mindestens aber ihre Effekte und Wirkungen von Menschen interpretiert werden, zweitens materielle Arrangements und Entitäten die Ausübung bestimmter Praktiken zwar nahelegen, meist aber nicht determinieren können (Schatzki 2002: 117ff.), gehe ich mit Schatzki – in Abgrenzung zur symmetrischen Anthropologie der ANT – von einer Asymmetrie im Verhältnis zwischen Menschen und Dingen aus. Eingedenk der Beteiligung von Dingen an der Konstitution von Praktiken, die dann
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Zweitens wird eine Perspektive eingenommen, die Unterschiede zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Agency berücksichtigt und die Sinne, Wahrnehmungen und Gefühle der Teilnehmer nicht unterschlägt (Schatzki 2002: 116; 189ff.; vgl. Kirchhoff 2009). Sie bezieht systematisch ein, was posthumanistische Ansätze wie die – insbesondere frühe – ANT weitgehend ausklammern, nämlich die »Körper und Sinne, Wünsche und Vorstellungen« der menschlichen Teilnehmer (Kalthoff 2014: 75), und hebt etwa die Einsicht hervor, dass der »Gebrauch von Dingen […] eng verbunden [ist] mit der Erfahrung des Gebrauchs« (ebd.: 81). Dabei liegt der Akzent drittens nicht alleine auf der Frage, wie sich die Performanz einer Praktik auf den Beitrag von Menschen und Dingen verteilen lässt, sondern auf den konkreten Arten und Weisen, wie Dinge in Praktiken verwickelt werden, wie sie das Handeln, Fühlen und Imaginieren beeinflussen und wie sie sich also auf ein jeweiliges praktisches Geschehen auswirken. Anders gesagt: Statt einer »kontributorischen« Perspektive, die von der Praktik als einem Ergebnis ausgeht und von hier aus nach dem Beitrag der Dinge fragt, wird eine »partizipatorische« (Hirschauer 2004: 74) Perspektive eingenommen, die sich für den Verlauf einer Praktik interessiert sowie dafür, was sich im Zuge dieses Verlaufes ereignet – was natürlich nicht ausschließt, auch den Beitrag der Dinge für die Verwirklichung einer sozialen Praktik ›als Ganzes‹ einzubeziehen.
Affordanzen und Körpertechniken Schließlich lassen sich in einen solchen Zugriff auch ›klassische‹ Konzepte einbringen, die mit Bezug auf eine materialitätsorientierte Praktikenforschung neu gelesen und fruchtbar gemacht werden können. Ich greife zwei von ihnen heraus, die für diese Studie von Bedeutung sind. Für eine nähere Bestimmung des Verhältnisses zwischen Dingen und Praktiken erweist sich zum einen der aus der ökologischen Wahrnehmungspsychologie James Gibsons stammende und auch in praxistheoretischen Zusammenhängen rezipierte Affordanz-Begriff als instruktiv (vgl. etwa Schmidt 2012: 65ff.). Das Konzept der Affordanz, das bezeichnet, wie Dinge und andere Elemente einer jeweiligen Umwelt ein Lebewesen zu einem bestimmten Verhalten ›auffordern‹ oder ›einladen‹, was sie ihm ›anbieten‹ oder für es ›bereithalten‹, lässt sich dazu heranziehen, den Beitrag der Dinge für die Konstitution und Strukturierung sozialer Praktiken genauer zu betrachten.
wiederum den einzelnen Teilnehmern vorgängig sind, für sie Möglichkeitshorizonte aufspannen und verschließen und sich ihnen auch entziehen, ist diese Asymmetrie aber eine schwache.
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Dinge werden in diesem Zugriff stets bezogen auf die an und mit ihnen ausführbaren Handlungen betrachtet – sie erscheinen dann etwa als »stand-on-able«, »walk-on-able« oder »lie-on-able« (Gibson 1977: 68, 72) und tragen so zur Hervorbringung von Aktivitäten des Stehens, Gehens oder Liegens bei. Das Konzept erlaubt dabei nicht nur den gezielten Einbezug der physischen Dimension des Materiellen bei der Hervorbringung von Praktiken – der ›Angebotscharakter‹ eines Dings ist etwa gebunden an seine Stofflichkeit, seine Oberfläche etc. –, sondern ermöglicht auch die Einnahme einer relationalen Perspektive: So wird die von einer materiellen Entität ausgehende Affordanz als abhängig gedacht von der Beschaffenheit eines sich ihm nähernden Körpers, etwa von seiner Größe oder seinem Gewicht: Ein zu niedriger Stuhl eignet sich nicht gut zum Sitzen, und eine Kniebank fordert einen zu gebrechlichen Körper eher nicht zum Knien auf. Praktikentheoretisch gewendet lässt sich der von einer materiellen Entität ausgehende Angebotscharakter begreifen als gebunden an die Praktiken, in die sie einbezogen wird: Ein Artefakt kann etwa, je nach dem, ob man sich ihm im Rahmen wissenschaftlicher, religiöser, ökonomischer oder musealer Praktiken nähert, ganz unterschiedliche Affordanzen bereithalten. Auch hier ist also von einer Wechselseitigkeit auszugehen: Dinge bringen über Affordanzen Praktiken mit hervor, aber Praktiken organisieren auch die Affordanz der Dinge. Insofern sich das Konzept nicht auf hergestellte Objekte beschränkt und nicht nur ›gemachte‹, sondern auch ›gegebene‹ Affordanzen berücksichtigt, ist er umfassender angelegt als der mit ihm verwandte Begriff des Skripts in der ANT (Latour 2010: 124, Anm. 16; Lehmann 2012: 83) und erlaubt eine Ausweitung auch auf die Aufforderungen, die von natürlichen Entitäten und Phänomenen ausgehen.24 Ähnlich praktikentheoretisch anschlussfähig ist auch Marcel Mauss’ Konzept der Körpertechniken. Mauss beschreibt Körpertechniken als die »Kunst, sich des Körpers zu bedienen« (Mauss 1975: 203), wie sie sich in den verschiedensten Körperhaltungen und Bewegungsabläufen etwa des Gehens, Marschierens, Schwimmens, Grabens, Schlafens, Ausruhens, Tanzens, Kletterns, Essens oder der Sexualität ausdrückt. Einzelne Körperhaltungen und Bewegungen erscheinen dabei als eingebunden in umfassendere »Handlungsreihen« (ebd.: 218), die auf ein bestimmtes Ziel hin orientiert sind und dann gemeinsam ein Schwimmen, Marschieren, Trinken etc. ausmachen: Ein »physisches, mechanisches, chemisches
24 Sowohl Latours Skript-Begriff als auch Gibsons Affordanz-Begriff lassen sich dabei als Varianten der – konzeptuell allerdings weiter gefassten – Idee der Präfiguration betrachten. Im Übrigen sensibilisiert auch Gibsons Konzept für eine grundlegende materielle ›Eingebettetheit‹ allen Handelns: »a way of life is a set of affordances that are utilized« (Gibson 1977: 69).
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Ziel (zum Beispiel wenn wir trinken) wird in einer Reihe festgelegter Handlungen verfolgt, und zwar beim Individuum nicht einfach von ihnen selbst festgelegt, sondern durch seine ganze Erziehung durch die Gesellschaft, dessen Teil es ist, an dem Platz in ihr, den es einnimmt« (ebd.: 206). Zu einem praktikentheoretischen Ansatz gibt es hier deutliche Parallelen: Körpertechniken werden bei Mauss als überindividuelle, kulturell geformte, durch bestimmte Teleologien zusammengehaltene ›Bündel‹ von Körperbewegungen konzipiert, die gemeinsam eine jeweilige Körpertechnik konstituieren. Auch die Vorstellung der Normativität, also der Korrektheit und Akzeptabilität im Hinblick auf die Durchführung solcher Handlungen findet sich hier wieder, interessanterweise verbunden mit der Idee des ›Wanderns‹ solcher Handlungen durch soziale Kontexte und damit einhergehender Transformationen, ähnlich den ›verstreuten Praktiken‹ bei Schatzki: »Wir verfügen über eine Reihe erlaubter und unerlaubter, natürlicher und unnatürlicher Haltungen. So geben wir einer Handlung, wie jemanden starr anzublicken, unterschiedliche Bewertungen: sie ist Zeichen von Höflichkeit bei der Armee und Zeichen der Unhöflichkeit im täglichen Leben« (ebd.). Schatzkis körperliche doings lassen sich so mit Mauss als Körpertechniken konzipieren, was eine weitere Differenzierung der praktikentheoretischen Perspektive erlaubt: Der Analyse zugänglich werden dann auch die kleinsten eine soziale Praktik konstituierenden Elemente – Arten und Weisen des Atmens, des Blickens, des Gehens –, die in ihrer Regelmäßigkeit, aber auch ihrer Variabilität verstehbar werden. Mauss legt dabei zwar den Schwerpunkt auf den Körper als »das erste und natürlichste Instrument des Menschen« (ebd.), doch erscheinen die bei ihm behandelten Techniken als in unmittelbarer oder mittelbarer Weise mit Artefakten (etwa Schuhen oder Spaten), Substanzen (etwa Wasser) oder natürlichen materiellen Entitäten (etwa einem Boden, der zur Schlafstätte wird) verbunden. So geht es dann etwa um die Frage, wie man mit dem Schließreflex der Augen umgeht, wenn man Kinder das Tauchen lehrt. Mauss’ Konzept der Körpertechniken öffnet damit den Blick für die materielle Verfasstheit sozialer Praktiken auf der Ebene ihrer kleinsten Elemente, nämlich der sie konstituierenden Akte.
Religiöse Praktiken: Annäherungen an den Gegenstand Sich praktikentheoretisch der Religion zu nähern, heißt, sie als ein dynamisches Feld organisierter Aktivitäten zu betrachten, als einen Bereich der Gesellschaft,
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der durch eine Vielfalt integrativer Praktiken etwa des Betens, Feierns, Fastens oder Predigens konstituiert und immer wieder neu hervorgebracht wird. In Anlehnung an religionssoziologische Definitionen, die in Überzeugungen im Hinblick auf die Existenz übernatürlicher Wesen, Bereiche und Ordnungen das zentrale Spezifikum von Religion sehen (vgl. etwa Hill 1974: 42f.), können Praktiken dann als religiös betrachtet werden, wenn sie durch solche Überzeugungen mit organisiert werden, genauer: wenn ihre teleologische Struktur solche Überzeugungen beinhaltet bzw. auf ihnen basiert.25 Religiöse Praktiken sind dann Praktiken, die die Existenz transzendenter Ordnungen oder Entitäten voraussetzen und darauf ausgelegt sind, sich mit ihnen zu verbinden oder sich auf sie zu beziehen (vgl. auch Meyer 2008: 705). Das heißt nicht, dass Teilnehmer religiöser Praktiken zwingend solche Überzeugungen haben müssen, sondern nur, dass die Teleologie dieser Praktiken entsprechend strukturiert ist. Auf die Kontaktaufnahme mit einem transzendenten Bezugspartner, auf die Expression einer devotionalen Haltung oder auf eine Vertiefung des eigenen Glaubensverständnisses ausgerichtete Praktiken wie Gebete, Prozessionen oder der Besuch religiöser Gedenkstätten sind einfache Beispiele hierfür. Unter Anschluss an jüngere Ansätze aus den Religious Studies, der Material Culture of Religion und der Religionssoziologie, die sich in verschiedener Weise auf Religion als Praxis konzentrieren und dabei die performative, emotionale, materielle und sinnliche Dimension der Religion fokussieren (vgl. Orsi 2005; McGuire 2008; Morgan 2010b; Riis/Woodhead 2010; Meyer 2008), lässt sich die Perspektive auf religiöse Praktiken weiter schärfen.
Lived Religion In Übereinstimmung mit der bereits erörterten Teilnehmerorientierung der hier vertretenen Entitäten-Perspektive kann einmal an die religionssoziologische Variante (McGuire 2008) der aus den Religious Studies stammenden Lived ReligionForschung (Hall 1997b; Orsi 1997) angeschlossen werden. Diese Forschung, die sich auf die religiöse Praxis im Alltag ›gewöhnlicher Leute‹ richtet und dabei auch
25 Die Schwierigkeit, einen kulturübergreifenden und vielgestaltigen Bereich wie Religion angemessen zu definieren, ist ein altes Problem religionssoziologischer und religionswissenschaftlicher Beschäftigungen mit dem Thema, wie sich an der Vielzahl existierender Bestimmungsversuche deutlich ablesen lässt (vgl. etwa Pollack 2001). Zur historischen Einbettung jedweder Perspektivierung von Religion und zu einer grundlegenden Kritik an transkulturellen und transhistorischen Religionsbegriffen aus anthropologischer Perspektive vgl. Asad 1993; zur Historizität eines Religionsbegriffs, der den ›Glauben‹ gegenüber der ›Praxis‹ privilegiert, vgl. McGuire 2007: 188ff.
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die körperlichen, materiellen, emotionalen und erfahrungsmäßigen Aspekte einbezieht (McGuire 2008: 12f.; 56f.), betont vor allem Kreativität, Diversität und Komplexität dieser Praxis, die sich, verstanden aus den jeweiligen biografischen Kontexten heraus, durch eigene Herangehensweisen, Bedeutungszuschreibungen und Akzentuierungen auszeichnet und oft hybride Formen annimmt. Eine solche Herangehensweise, die Individuen zum Ausgangspunkt der Erforschung religiöser Praxis macht und damit gewissermaßen ›Teilnehmer und ihre Praktiken‹ in den Blick nimmt, ist für eine praktikentheoretische Religionsforschung insbesondere aufgrund der damit einhergehenden Aufwertung der Teilnehmerperspektive instruktiv. So wird etwa aufgezeigt, wie auch ganz alltägliche oder ›weltliche‹ Praktiken von ihren Teilnehmern als religiöse Praktiken konzipiert und vollzogen werden – etwa wenn Gartenarbeit als Meditation und als ›Gottesdienst‹ (ebd.: 110) betrachtet wird. Deutlich wird damit, dass sich die Entscheidung darüber, ob eine Praktik als religiös zu begreifen ist oder nicht, oft erst über die Verständnisse der Teilnehmer treffen lässt, über die Deutungen, Absichten und Motive, die aus einer ›weltlichen‹ eine religiöse Praktik machen bzw. solche Praktiken ›spiritualisieren‹ (vgl. Ebertz 2005: 195). Umgekehrt lenkt das den Blick darauf, dass Teilnehmer auch strenger reglementierten religiösen Praktiken – etwa bestimmten Andachtsformen, Gebeten oder liturgischen Vollzügen – ihre eigenen Verständnisse unterlegen können: dass sie ihre je eigenen Hoffnungen, Wünsche und Erfahrungen an den Vollzug ›herantragen‹, individuelle Bezüge zu religiösen Symbolen entwickeln (Riis/Woodhead 2010: 72), mit diesen Praktiken einen unterschiedlichen Sinn verbinden, sie in verschiedener Weise in den Alltag integrieren, bestimmte Wege der Durchführung für sich finden, ihre eigenen Relevanzen und ihre eigenen Schwierigkeiten haben können. Der analytische Einbezug dieser Varianten ist wichtig für das Verständnis dieser Praktiken, für die ›Vorgaben‹, die sie ihren Teilnehmern machen, die Möglichkeiten, die sie ihnen bieten und die Freiräume, die sie ihnen eröffnen. Schließlich ist eine Berücksichtigung der Verständnisse der Teilnehmer auch der Schlüssel dafür, bei vordergründig identischen Handlungsvollzügen verschiedene Partizipationsmodi voneinander unterscheiden und etwa auseinander halten zu können, ob der Besuch eines Heiligtums touristisch oder religiös motiviert ist und somit unterschiedlichen Teleologien folgt. Anders als die manchmal ›anti-institutionelle‹ Stoßrichtung solcher Forschungen nahelegt, die individuelle Religiosität mit Blick auf institutionalisierte Religion teilweise als Widerstand, Subversion oder Emanzipation begreifen, ihr mindestens aber gegenüberstellen (McGuire 2008: 3ff.; 2007: 189), lässt sich der teilnehmerorientierte Fokus der Lived Religion-Forschung auf die gesamte Breite des
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religiösen Lebens ausweiten. Statt von Unterscheidungen zwischen ›Hochreligion‹ und ›Volksfrömmigkeit‹ oder zwischen ›Religion‹ und ›Spiritualität‹ auszugehen, die manchmal dazu tendieren, Praktiken außerhalb institutioneller Kontexte entweder zu marginalisieren oder sie umgekehrt einer als eng, einschränkend, dogmatisch und autoritär erscheinenden institutionellen Religion als authentischere und offenere Alternative gegenüberzustellen (Wuthnow 2001: 306), geht es dann darum, religiöse bzw. spirituelle Praktiken unabhängig von ihrer institutionellen Verortung oder Anbindung in den Mittelpunkt zu rücken und unvoreingenommen zu untersuchen, wie Teilnehmer an ihnen partizipieren.26
Emotionen und religiöse Praktiken Ein zweiter Punkt betrifft die Bedeutung von Emotionen für die Organisation und den Vollzug religiöser Praktiken und damit ihre affektive Struktur. Der besondere Stellenwert von Emotionen zeigt sich in jeder der hier untersuchten Praktiken – sei es, dass an einer Überwindung emotionaler Zustände gearbeitet wird, dass Gefühle als Indikatoren göttlicher Präsenz verstanden werden oder dass die Evokation bestimmter Emotionen angestrebt wird. Aus einer praktikentheoretischen Perspektive erklärt sich die Relevanz von Emotionen, wie erörtert, aus ihrer Verortung im organisatorischen Gefüge sozialer Praktiken, d.h. aus ihrem Charakter als Komponenten einer teleo-affektiven Struktur. Die fraglichen Praktiken erscheinen dann als mit Affektivität verbunden oder ›aufgeladen‹, die sich mit dem Eintritt in diese Praktiken entfalten und so die Lebenszustände der Teilnehmer formen kann. Neuere Ansätze der Religionsforschung beschreiben die Verbindungen zwischen religiösen Praktiken und Emotionen in ganz ähnlicher Weise und helfen
26 Ich schließe hier an ein breites Verständnis von Spiritualität an, die sich demnach verstehen lässt als »a state of being related to a divine, supernatural, or transcendent order of reality or, alternatively, as a sense or awareness of a suprareality that goes beyond life as ordinarily experienced« (Wuthnow 2001: 307). Eine solche Bestimmung verzichtet auf eine Trennung zwischen Religion und Spiritualität und beschreibt dann subjektive Verhältnisse zum Transzendenten, die nicht zwangsläufig außerhalb des Wirkungskreises religiöser Institutionen lokalisiert sein müssen, sondern eben auch innerhalb solcher Kontexte zu finden sein können. Wenn es mir in dieser Studie um religiöse Praktiken geht, dann ist diese Dimension einer subjektiv bedeutungsvollen »Bezugnahme auf Transzendentes« (Ebertz 2005: 196) immer mitgemeint: ›Religiöse‹ Praktiken sind dann – zumindest tendenziell – immer auch ›spirituelle‹ Praktiken (vgl. zum Verhältnis der Begriffe »Religion« und »Spiritualität« Knoblauch 2005).
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zugleich, diese Zusammenhänge noch genauer zu fassen. 27 Als ein Referenzrahmen, der den Teilnehmern hilft, ihre Alltagswelt zu deuten und sich darin zu orientieren, verspricht Religion Ordnung und Kontrolle, Unterstützung und Hilfe sowie kurzfristige, aber auch langfristige Verbesserung emotionaler Zustände (Riis/ Woodhead 2010: 82, 93).28 Der Ort, an dem Gefühle zum Ausdruck gebracht, evoziert, formiert, geordnet und reorganisiert werden, sind religiöse Praktiken: Betont wird eine formierende Kraft solcher Praktiken, die Teilnehmer aus ihrem alltäglichen emotionalen Leben herauslösen und ihnen alternative emotionale Zustände ermöglichen (ebd.: 71) – sei es etwa durch Entlastung des Gewissens in der Beichte (vgl. Hahn 2010), durch spontane emotionale Entäußerungen in einem Erweckungsgottesdienst (Scheer 2009) oder durch die Transformation von Zweifel in Zuversicht durch die Formulierung einer Bitte im Gebet. Mit dem Vollzug religiöser Praktiken kann es also zu einer Beeinflussung oder Rekonfiguration der Emotionen ihrer Teilnehmer kommen, sie ermöglichen die Aufrechterhaltung bzw. Stabilisierung von Bindungen und damit zugleich emotionale Reorientierung (Riis/Woodhead 2010: 89f.). Ähnliches trifft auch für Erfahrungen zu: Religiöse Praktiken können eng mit bestimmten Erfahrungen verbunden sein, und in ihnen können Strategien angelegt sein, bestimmte erfahrungsmäßige Zustände zu evozieren bzw. zu erreichen (Neitz/Spickard 1990; Spickard 1991; vgl. Knoblauch 2004). Emotionen und Erfahrungen erscheinen also auch hier nicht als etwas rein
27 Die besondere Verbindung von Religion und Emotion wurde schon von klassischen Autoren der Religionsphänomenologie und Religionssoziologie herausgearbeitet. Während bestimmte mentale Zustände und Emotionen dort noch als spezifisch religiös identifiziert wurden – Gefühle wie Ehrfurcht, Faszination und Angst in der Gegenwart des Heiligen (Otto 1973), Ernst und Würde im Kontakt zwischen Mensch und Gott (James 1997), oder das ekstatische Gefühl der »kollektiven Efferveszenz« im gemeinschaftlichen Ritual (Durkheim 1981) –, bezweifeln neuere Ansätze die Existenz spezifischer religiöser Gefühle und betonen vielmehr, dass in religiösen Kontexten das ganze Spektrum möglicher emotionaler Regungen zum Tragen kommen kann (Riis/Woodhead 2010: 55ff.). So können Beziehungen, die Teilnehmer zu transzendenten Entitäten unterhalten – ganz ähnlich wie zwischenmenschliche Beziehungen auch – einhergehen mit Liebe, Zuneigung, Angst, Verzweiflung, Frustration, Schuld, Reue, Hoffnung oder Zuversicht (Orsi 2005: 2; Riis/Woodhead 2010: 70). 28 Dort, wo etwa Schuld- und Sündhaftigkeit oder die Existenz des Bösen betont werden, kann Religion auch mit negativen Emotionen verbunden sein (Riis/Woodhead 2010: 82). Sie macht also das Leben ihrer Teilnehmer nicht zwangsläufig einfacher, erträglicher oder besser, sondern ist von einer grundlegenden Ambivalenz (Orsi 2005: 2).
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Subjektives, das aus soziologischer Perspektive zu vernachlässigen wäre (ebd.: 191f.), sondern als eng an den Vollzug religiöser Praktiken gekoppelt. Zugleich wird argumentiert, dass sich in religiösen Praktiken die ›emotionalen Regime‹ (Reddy 2001; Riis/Woodhead 2010: 47ff.; 69ff.) und die zu ihnen gehörenden ›emotionalen Programme‹ (ebd.: 47) einer religiösen Tradition bzw. Gruppe vermitteln und verwirklichen.29 Emotionale Regime als überindividuelle Repertoires von Emotionen stecken gewissermaßen den Horizont dessen ab, was gefühlt werden kann oder soll, und ordnen diese Repertoires auch im Hinblick auf die Bewertung der jeweiligen Gefühle, indem sie manche Emotionen mit besonderer Wertschätzung unterlegen, während sie andere als unerwünscht ausschließen. Sie beinhalten damit einen emotionalen ›Standard‹, der sichtbar gemacht, reguliert, zur Geltung gebracht und gegebenenfalls sanktioniert wird (ebd.: 10ff., 71, 76ff.; vgl. Scheer 2012: 215ff.; vgl. auch Knoblauch/Herbrik 2014). Religiöse Praktiken geben in dieser Sicht »Vokabular, Sinneswahrnehmungen, Körperhaltungen und -bewegungen vor, die Gefühle formen und formen sollen« (Scheer 2009: 191f.). In ihnen erfolgen Einübung und Aneignung, Evokation und Reproduktion bestimmter emotionaler Zustände (Riis/Woodhead 2010: 71; vgl. Scheer 2012: 209). Religiöse Praktiken werden damit nicht nur verständlich als der Ort, an dem das Formieren, Erleben und Kultivieren bestimmter Emotionen (bzw. affektiver Zustände im Allgemeinen) erfolgt, sondern es wird auch der teils normative Charakter solcher Emotionen begreiflich. Schließlich zeigt sich damit, dass die in Praktiken angelegten Gefühle unter Umständen im weiteren Kontext einer bestimmten religiösen Tradition betrachtet werden müssen. Eng damit verbunden ist schließlich ein Aspekt, der mit der Teleologie religiöser Praktiken zu tun hat. Viele Religionen bieten ihren Teilnehmern einen mehr oder weniger großen Pool an transzendenten Bezugspartnern wie Heiligen, Göttern, Ahnen, Geistern, Dämonen und anderen Wesenheiten an. Katholische Vorstellungswelten etwa sind bevölkert mit einer Vielzahl von Heiligen, von denen Beziehungsangebote ausgehen, die unterschiedliche Aufgaben oder ›Zuständigkeiten‹ haben, Ansprechpartner für je verschiedene Bitten und Belange sind und
29 Reddy definiert seinen Begriff des emotional regime als »set of normative emotions and the official rituals, practices, and emotives [Akte emotionalen Ausdrucks, Anm. T. C.] that express and inculcate them« (Reddy 2001: 129; vgl. auch 128). Wo Reddy das Konzept im Kontext des Politischen einführt – emotionale Regimes erscheinen hier als Fundament jeder Art politischer Ordnung (ebd.) –, übertragen Riis/Woodhead den Begriff mit einer Reihe von Modifikationen auf Religion (Riis/Woodhead 2010: 47ff.). Während Programme den Kern solcher Regime bilden, wird mit den Regimen der Durchsetzungsaspekt der in ihnen enthaltenen Programme betont (ebd.: 49).
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die auch zueinander in mehr oder weniger komplexen Beziehungen stehen.30 Solche Beziehungsgeflechte, die Menschen und transzendente Entitäten und damit ›Himmel und Erde‹ (Orsi 2005: 2) miteinander verbinden und das Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen ergänzen (Riis/Woodhead 2010: 70f.), werden innerhalb sozialer Praktiken gestiftet: Sie bieten ihren Teilnehmern Wege, mit denen Beziehungen zu transzendenten Entitäten aufgenommen, aufrechterhalten, erneuert, repariert oder vertieft werden können. Das gilt natürlich insbesondere für das als eine Interaktionsform angelegte Gebet, bei dem sich Teilnehmer etwa mit Bitten oder Danksagungen an transzendente Bezugspartner richten, die als mächtige, rationale und verantwortungsvolle Wesen betrachtet werden, die in der Lage sind, Gebete zu empfangen und auch zu ›erhören‹, also darauf reagieren und lenkend in die Geschicke der Betenden intervenieren zu können (Swatos 1982: 154f.). Letztlich aber kann dieser Beziehungsaspekt auch die teleologische Struktur anderer Praktiken informieren (karitative Tätigkeit etc.). Religiöse Praktiken in dieser Weise als Beziehungsgeschehen zu betrachten, impliziert zugleich, eine bestimmte Perspektive auf die in solche Beziehungen involvierten transzendenten Entitäten einzunehmen. Teilnehmer begegnen diesen »Nonhumans« (Cerulo 2009) in grundlegend sozialer Weise, machen sie zu legitimen Partnern in der sozialen Interaktion und schreiben ihnen auch Handlungsfähigkeit zu. Prinzipiell geht es dabei weniger darum, was eine solche nichtmenschliche Entität ist, als vielmehr darum, was sie tut – und das hängt stark davon ab, wie Teilnehmer ihr transzendentes Gegenüber begreifen, welche Fähigkeiten sie ihm zuschreiben und
30 Die »soziale Konstruktion von Heiligkeit« (Bienfait 2006: 1; Herv. im Orig.) geschieht im Zuge eines juristisch streng reglementierten Verfahrens, das von der hierfür zuständigen Kongregation der katholischen Kirche durchgeführt wird. Bienfait analysiert dieses Verfahren mithilfe von Webers Charisma-Konzept als ein Instrument institutioneller Legitimation: Während das an die Person Christi gebundene Charisma nach dem Tod des Religionsstifters ›versachlicht‹ wird, indem es auf die Institution Kirche und ihre Amtsträger übergeht, erlaubt die Selig- bzw. Heiligsprechung eine »›Repersonalisierung‹« des Amtscharismas und somit eine ›Wiederverzauberung‹ einer bürokratisierten »›Gnadenanstalt‹« (ebd.: 20), die als eine permanente Revitalisierung des Charismas dieser Institution verstehbar wird. Daneben dient die »Funktionalisierung der Seligen und Heiligen« (ebd.: 17) auch der Einbindung bestimmter Regionen und Gruppen sowie der Mission. Indem es dieses Verfahren ermöglicht, Verstorbene in den Rang transzendenter Bezugspartner zu erheben, lässt es sich auch als Instrument zur systematischen Erweiterung des Kreises legitimer sozialer Bezugspartner (Lindemann 2009) betrachten. Zugleich verweist es darauf, dass transzendente Entitäten hervorgebracht und geformt werden und so ›Markierungen der Geschichte‹ (Orsi 2005: 4) tragen.
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unterstellen, wie sie die Beziehung zu ihm verstehen und definieren und wie sie es auch zum Handeln bringen (ebd.: 539ff.).
Materielle Kultur der Religion Mit ihrem Interesse für die materielle Dimension religiöser Praktiken versteht sich diese Studie als ein Beitrag zur interdisziplinären Forschung zur Material Culture of Religion (grundlegend McDannell 1995; Arweck/Keenan 2006; Morgan 2010b; Houtman/Meyer 2012; vgl. Meyer et al. 2010). Solche Forschungen rücken gezielt die Rolle des Materiellen in der Religion in den Mittelpunkt und arbeiten die vielfältigen Verflechtungen zwischen Materialität und Spiritualität heraus, die hier nicht als Gegensatz begriffen (Keenan/Arweck 2006; Meyer 2008: 722f.), sondern in ihrer wechselseitigen Bezogenheit verständlich werden. Formen religiöser materieller Kultur erscheinen als konstitutive Elemente religiöser Welten (ebd.: 715), die helfen, Religion ›herzustellen‹ und sie zu reproduzieren, und werden mitunter auch als unentbehrlich beschrieben, um Religion in der Welt präsent zu machen (Houtman/Meyer 2012, 12f.). In solchen Studien, die den Einbezug der Dinge über die verschiedenen religiösen Traditionen und Zusammenhänge hinweg und sowohl in synchroner wie diachroner Perspektive untersuchen und sich dabei insbesondere für die praktische, performative und körperlich-sinnliche Dimension von Religion interessieren (vgl. Morgan 2010b: 7ff.), bildet sich die ganze Breite des Spektrums religiöser Dinge ab: Artefakte sakraler Kunst wie Gemälde, Statuen, Reliefs, Sakralbauten, massenfabrizierte Devotionalien wie Figuren, Bilder oder Gebetsketten, aber auch Poster, T-Shirts, oder Schmuck, Landschaften sowie Bäume, Berge oder Flüsse, Substanzen wie Wasser, Weihrauch oder Körperflüssigkeiten werden in den Vollzug religiöser Praktiken involviert und sind an ihrer Konstitution beteiligt.31
31 Für die Vielfalt der religiösen Dinge und die Arten und Weisen ihres Einbezugs vgl. insbesondere die Beiträge im Periodikum Material Religion, das diesem Forschungsbereich einen seiner inzwischen gebräuchlichen Namen verliehen hat. Das interdisziplinär ausgerichtete Journal versammelt Studien aus der gesamten Breite der Sozial- und Kulturwissenschaften und arbeitet an einer systematischen Erschließung des Feldes (vgl. Meyer et al. 2010). Vgl. außerdem die wegweisende Studie von Kohl (2003), die die spezifischen Eigenschaften sakraler Objekte herausarbeitet und die argumentiert, dass letztlich jedes materielle Objekt, unabhängig von seinem primären Verwendungszweck, zu einer Repräsentation des Heiligen werden kann. Sakrale Objekte sind demnach »arbiträre Zeichen« (ebd.: 155; vgl. Cress 2014).
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Zugleich wird mit dieser Forschung die Vielfalt der Rollen, die solchen Dingen im Rahmen der Religion zukommen, deutlich. Hervorgehoben wird etwa, dass Elemente materieller religiöser Kultur als Speicher religiösen Gedächtnisses fungieren, dass sie religiöse Narrative erzählen und veranschaulichen, als Verkörperungen oder Repräsentationen religiöser Vorstellungen bzw. Glaubenswelten sowie als Ausdruck von Wertvorstellungen, Marker religiöser Identität und Zugehörigkeit dienen und auch in religionssozialisatorischer Hinsicht von Bedeutung sind (Keenan/Arweck 2006; McDannell 1995: 43ff.; Wuthnow 2001: 318; Frances King 2010). Neben der Ausdrucksdimension wird aber auch die vermittelnde Rolle religiöser materieller Kultur herausgearbeitet. Über die Adressierung der menschlichen Sinne werden religiöse Vorstellungswelten demnach nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch evoziert, sinnlich zugänglich gemacht und mit einer erfahrungsmäßigen Tiefe ausgestattet: Es wird gesehen und gehört, berührt, gerochen und geschmeckt (Keenan/Arweck 2006: 3ff.; McGuire 2007: 8). Religion postuliert damit auf der einen Seite eine Distanz zwischen dem Menschen und dem Transzendenten, bietet aber zugleich Mittel und Wege an, um diese Distanz zu überbrücken (Meyer 2008: 710). Das Transzendente als eine ›unmögliche Repräsentation‹, etwas, das die repräsentationalen Kapazitäten des Menschen übersteigt, das der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen verschlossen ist und auch durch Sprache nicht eingefangen werden kann, wird mithilfe religiöser materieller Kultur überhaupt erst zugänglich gemacht (Meyer 2006, 2008: 708ff.; Riis/Woodhead 2010: 71). Als ›Ankerpunkte‹ für die Entfaltung religiöser Ästhetiken ist materielle Kultur zugleich konstitutiv für die ›sinnlichen Regime‹ (»sensory regimes«, Meyer 2008: 716) bzw. den ästhetischen Stil einer religiösen Gruppe oder Tradition (ebd.: 716ff.).32
32 Die verschiedenen religiösen Traditionen pflegen dabei ein unterschiedlich starkes Verhältnis zur Materialität. So existiert in den vielzähligen Formen des Hinduismus eine reichhaltige Fülle bildlicher und figürlicher Darstellungen, während andere Traditionen etwa Bilderverbote kennen und auch in Bezug auf die Involvierung anderer Dinge restriktiver sind. Dabei zeigen viele Beispiele, dass sich auch Bildern und Artefakten gegenüber skeptische Religionen durchaus auf den Einbezug von Dingen stützen. So ist etwa für den Protestantismus gezeigt worden, dass (so etwa in der Strömung des Methodismus) Praktiken existieren, die Züge eines Reliquienkultes tragen (vgl. McDannell 1995: 42f.), dass Jesus-Bildnisse für Gläubige eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen spielen können (Morgan 2005; McDannell 1995: 27ff.) oder dass dem Buch als Trägermedium der heiligen Schrift besondere Bedeutung zukommt, das besonders reichhaltig verziert und gestaltet und in sinnliche religiöse Praxis eingebunden sein kann (ebd.: 67ff.). Diese Beispiele verweisen zugleich darauf, dass
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Auch die römisch-katholische Tradition (vgl. etwa Norget et al. 2017), in deren Kontext die hier untersuchten Praktiken zu verorten sind, ist geprägt durch eine reichhaltige und vielgestaltige materielle Kultur. Das sakramentale System der Kirche stützt sich etwa auf Wasser, geweihte Öle, Hostien oder Wein, die in die Spendung der Sakramente als sinnlich wahrnehmbare und wirksame ›Zeichen der Gnade‹ eingebunden werden, und im Rahmen sakramentaler Handlungen fungieren Dinge sowohl als Träger als auch als Empfänger von Weihehandlungen. Die offizielle kirchliche Liturgie stützt sich auf Kelche und Hostienschalen, Gefäße zur Aufbewahrung und Ausstellung geweihter Hostien, Altartücher und liturgische Gewänder, Kerzenlicht, Feuer oder Weihrauch, und vollzieht sich in Räumen, die mit Altären, Figuren, Bildern, Symbolen, Kerzen oder Blumenschmuck für die Durchführung liturgischer Vollzüge besonders ausgestattet sind. Aber auch außerhalb des rituellen Lebens der Kirche sind katholische Glaubensvollzüge – so wie etwa die im Folgenden untersuchten Gebets- und Andachtspraktiken und Praktiken im Kontext des Pilgerns – geprägt durch den Einbezug einer Vielzahl von Dingen wie etwa Heiligenfiguren, Rosenkranzketten, Kruzifixen, Gebetskarten, wundertätigen Medaillen, heiligen Ölen, heilendem Wasser und besonders hergerichteten Erinnerungsorten (vgl. Frances King 2010: 78ff.).33 All diese Dinge sind in vielfältiger Weise daran beteiligt, die Wege zu konstituieren, in denen sich Teilnehmer mit religiösen Welten verbinden und über die ihnen »das Heilige« zugänglich gemacht wird – Sakramente und Sakramentalien, Beziehungen zu Heiligen, Wunder (Berger 1988: 108) –, und den besonderen »ästhetischen Charakter« (Greeley 2000, Perniola 2003) ebenso mit hervorzubringen wie die von Taktilität geprägte devotionale Kultur des Katholizismus (vgl. Ryan 2004; Brown 2009: 773f.).34
der Status von Dingen auch innerhalb religiöser Traditionen strittig sein und auch historisch variieren kann. 33 Dabei war und ist die materielle Dimension religiöser Praktiken auch im Katholizismus immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen: So galt religiösen Eliten der Einbezug devotionaler Dinge als Kennzeichen einer minderwertigen Form der Glaubensausübung, die stigmatisiert, bekämpft (McDannell 1995) und zurückgedrängt wurde (Orsi 2005); sie gilt aber vielen auch heute noch als Relikt eines vormodernen Geistes (Keenan/Arweck 2006: 14). Es geht in solchen Auseinandersetzungen primär um die Frage, welche Dinge auf welche Weise in religiöse Praktiken einbezogen und wie sie verstanden werden sollen. 34 Dem Wunder kommt im Kontext der materiellen Kultur des Katholizismus besondere Bedeutung zu. Mit dem Wunder als »(mehr oder weniger) unerwartete[n] Eingriffe[n] übernatürlicher Kräfte in die menschliche Welt« (Heinzelmann/Herbers 2002: 13) und
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Von hier aus kann nun nach den konkreten Arten und Weisen gefragt werden, wie materielle Formen in den Vollzug religiöser Praktiken einbezogen werden, was sie für diese Praktiken leisten, wie sie mit ihnen verflochten sind und wie sie zur Konstruktion religiöser Welten beitragen. Über den praktikentheoretischen Zugriff, der die Einbindung der Dinge gezielt vor dem Hintergrund der Organisation sozialer Praktiken in den Blick nimmt, verfolgt die Studie eine neue Herangehensweise an die Erforschung Materieller Religion, die sich an die genannten Forschungen anschließen lässt, ihnen aber zugleich eine neue Wendung gibt: Untersucht werden kann dann etwa, wie die Dinge in den Vollzug ›gelebter Religion‹ einbezogen werden und an der Hervorbringung der hier erörterten Spezifika religiöser Praktiken – Formierung und Restrukturierung von Gefühlen, Vermittlung emotionaler Regime, Aufrechterhaltung und Vertiefung von Beziehungen etc. – beteiligt sind.
Wie beforscht man Praktiken-als-Entitäten? Für die empirische Umsetzung ihrer Überlegungen wählt die vorliegende Studie einen Zuschnitt, der sich auf die Durchführung ethnografischer Methoden stützt. Ausgehend von der Annahme eines doppelten Bedingungsverhältnisses zwischen Entitäten und Performanzen macht sie die Erforschung konkreter Handlungsvollzüge zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion sozialer Praktiken und führt hierfür teilnehmende Beobachtungen, videografische Forschung und Interviews durch, die sie im Sinne eines feldspezifischen »Methodenopportunismus« (Breidenstein et al. 2013: 34) in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Gegenstand einsetzt und teils für sich genommen verfolgt, teils kombiniert und miteinander in
als »sichtbare[n] Zeichen für das […] Handeln Gottes« (Angenendt 2002: 99) oder anderer transzendenter Entitäten – seien es Erscheinungswunder, Heilungen chronischer Krankheiten oder die Hilfe von Heiligen in alltäglichen Notsituationen (Heinzelmann/Herbers 2002: 16) – durchbricht das Transzendente die Grenze zwischen dem transzendenten Bereich und der irdischen Welt, macht sich den menschlichen Sinnen wahrnehmbar und bezeugt gleichzeitig das Wirken übernatürlicher Kräfte. Wunder stellen damit eine Art der ›Materialisierung des Immateriellen‹ dar und wirken so als glaubensfördernde Zeugnisse (Heinzelmann 2002: 61). Dabei können sie auch als Stimulatoren religiöser materieller Kultur (Pilgerstätten, Erinnerungsobjekte etc.) verstanden werden.
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Beziehung setzt. Sie geht dabei von einer engen Verwobenheit und wechselseitigen Durchdringung von Theorie und Empirie aus, in der sich empirische und theoretische Forschung gegenseitig informieren und formatieren (Kalthoff 2008; Hirschauer 2008), wie dies auch als zentrales Kennzeichen praxistheoretischer Erkenntnisstrategien ausgewiesen wird (Schmidt 2012: 13; Hillebrand 2014: 9f., 118; Schäfer/Daniel 2015: 38, Schäfer 2016a: 14). Die Studie verfolgt damit ein doppeltes Ziel: Sie erprobt einerseits, wie ein praktikentheoretisch informierter und in der erörterten Weise weiter zugeschnittener Zugriff ethnografische Forschung anleiten und dabei helfen kann, religiöses Leben und seine materielle Dimension mit einem neuen Blick verständlich zu machen. Andererseits geht es ihr darum, die hieraus resultierenden Einsichten in die Theorie zurückzuspeisen und sie auf diese Weise empirisch zu informieren (Kalthoff 2006: 147).
Teilnehmende Beobachtung Praktiken zu beforschen heißt, öffentliche Phänomene zu beforschen. Praktiken vollziehen sich über den Körper und machen sich über ihre Performanzen im Bereich der Sinneswahrnehmung präsent (vgl. Schatzki 1996: 41; vgl. Scheer 2012: 218). Aus diesem praxistheoretischen »Öffentlichkeitspostulat« (Schmidt/Volbers 2011: 27) resultiert eine starke Affinität praxistheoretischer Studien zu Verfahren der Beobachtung (ebd.: 35; Schmidt 2012: 44ff., 226ff.), die auch der vorliegenden Studie zugrunde liegt: Die Annahme, dass die Organisation ›da draußen in den Praktiken‹ ist, aktuelle Vollzüge das Verständnis einer Praktik transportieren und sich dieses Verständnis erst dadurch vermittelt, dass man sich diesen Vollzügen aussetzt bzw. ihnen begegnet, verlangt für einen rekonstruierenden Zugriff danach, den Performanzen zu folgen und sie dort aufzusuchen, wo sie sich ereignen, zu beobachten, wie sie ›funktionieren‹, und sich nach Möglichkeit selbst in sie verwickeln zu lassen. Eine solche Beobachtung richtet sich auf konkrete körperliche Aktivitäten und ihr Zusammenspiel mit materiellen Entitäten, auf die Arten und Weisen, wie sie sich an, mit und inmitten von Dingen vollziehen, auf die gestischen und mimischen Ausdrücke, von denen sie begleitet werden, auf Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten des Vollzugs. Sie zielt darauf ab, die fraglichen Aktivitäten in ihrem Gesamtzusammenhang als Praktiken zu analysieren und so nach und nach deren Aufbau und die Rolle des Materiellen im jeweiligen organisatorischen Gefüge herauszuarbeiten. Beobachtung richtet sich somit auf die Rekonstruktion der Organisation sozialer Praktiken und den Beitrag der Dinge zu ihrer Hervorbringung und Strukturierung. Die eigene Teilnahme ist dabei von besonderer Bedeutung. Mit der Idee der teleo-affektiven Strukturen als Ordnungen von Lebenszuständen und der damit
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einhergehenden Annahme, dass man mit dem Vollzug einer Praktik potenziell auch an den in ihre Organisation eingelagerten Lebenszuständen partizipiert, werden sämtliche sich im Rahmen ethnografischer Partizipation einstellenden Empfindungen, Gefühle oder Gedanken zu einer potentiellen Ressource für die Rekonstruktion der fraglichen Praktiken: Im beobachtenden Vollzug wird die Organisation einer Praktik – unter Umständen und bis zu einem gewissen Grade – am eigenen Körper und an der eigenen Erfahrung beobachtbar. Gerüche und haptische Eindrücke, Atmosphären und Stimmungen, aber auch das Gefühl, beobachtet zu werden, unter Zeitdruck zu stehen oder sich zu etwas überwinden zu müssen, schließlich etwas schön, angenehm oder unangemessen zu finden – all das lässt sich für eine Rekonstruktion der Organisation einer Praktik nutzbar machen.35 Solche Wahrnehmungen werden zu potentiellen Hinweisen auf die teleologische und affektive Struktur einer Praktik, ihre temporale und sensorische Organisation (vgl. Reckwitz 2015, Sparkes 2009), ihre Normativität, die von ihr ausgehenden Herausforderungen und Schwierigkeiten. Auch Grenzen einer erfolgreichen ethnografischen Teilnahme können als entsprechende Hinweise verstanden werden, etwa auf den möglichen Voraussetzungsreichtum einer Praktik. Es geht deshalb um eine aufmerksame Registrierung all dessen, was sich für den Ethnografen im Rahmen teilnehmender Beobachtung mit dem Vollzug der jeweiligen Aktivitäten ereignet. Die ethnografische Forderung nach einer Involvierung des Körpers als Forschungsinstrument und nach einem Engagement des eigenen Wahrnehmungsapparates (Scheffer 2002) wird so daraufhin gewendet, teilnehmende Beobachtung immer auch als auf die Rekonstruktion von Praktiken ausgerichtete Selbstbeobachtung zu vollziehen (vgl. Hitzler 1999). Dabei gibt es natürlich eine Vielzahl von Beschränkungen, weshalb es hier nicht um eine Gleichsetzung geht – so als könnten, ausgehend von eigenen Wahrnehmungen und Befindlichkeiten, einfache Rückschlüsse auf die Organisation einer Praktik gezogen werden. Sie sind für sich genommen noch kein Datum, son-
35 Solche Eindrücke gilt es umso mehr zu berücksichtigen, als religiöse Dinge als Bausteine zur Konstruktion von und als Vermittler zu transzendenten Welten helfen können, die Distanz zwischen der emischen Perspektive der Teilnehmer und der etischen Perspektive des Ethnografen ein Stück weit zu überbrücken: »Material expressions of religion function to ›awaken‹ and ›transport‹ us to this ›other-world‹« (Keenan/Arweck 2006: 9). Materialität wird dann – nicht zuletzt über ihre sinnliche Dimension – zu einem Medium der Annäherung an den sinnlich-erfahrungsmäßigen Reichtum religiöser Praktiken und somit an die religiösen Erfahrungswelten der Teilnehmer (Meyer 2006: 19ff.).
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dern bilden lediglich eine Spur, die man aufnehmen und der man dann – insbesondere im Rahmen von Interviews – weiter folgen kann. Eine dieser Beschränkungen besteht darin, dass Praktiken teilnehmender Beobachtung ihrer eigenen Organisation folgen und mit den zu beforschenden Praktiken nicht identisch sind: Teilnehmende Beobachtung teilt vielleicht bis zu einem gewissen Grade die körperlichen doings und sayings einer jeweiligen Praktik. Sie unterscheidet sich von ihr aber durch eigene Regeln (Verhaltensmaßregeln oder -empfehlungen zur Minimierung reaktiver Effekte, ethische Richtlinien etc.), durch anders ›gebaute‹ teleologische Strukturen (der Vollzug erfolgt nicht um seiner selbst, sondern um seiner Beforschung willen; es schließen sich Tätigkeiten der Dokumentation und Analyse, auf längere Sicht vielleicht auch der Präsentation und Diskussion von ›Ergebnissen‹ an) und anders angelegte affektive Strukturen (der ›Erfolg‹ ergibt sich nicht aus die Teilnahme selbst, sondern besteht in der Beantwortung und Generierung von Fragen, in neuen Einsichten, in ›gutem Datenmaterial‹ etc.). In der Folge oszilliert das eigene Wahrnehmen, Denken und Fühlen gewissermaßen zwischen verschiedenen teleo-affektiven Strukturen – freilich nur, um die auf dieser Basis gewonnenen Erkenntnisse schließlich wieder der ethnografischen Analyse zuzuführen.36
Videografie Ergänzt wird die teilnehmende Beobachtung um den Einsatz videografischer Verfahren, die sich für die Rekonstruktion sozialer Praktiken in mehrfacher Hinsicht nutzbar machen lassen. Die mit der audio-visuellen Aufzeichnung erfolgende »registrierende Konservierung« (Bergmann 1985: 306) und die damit verbundenen technischen Wiedergabemöglichkeiten ermöglichen es, die praktischen Vollzüge noch höher aufzulösen und erlauben dadurch eine minutiöse Analyse ihrer körperlich-materiellen Seite. Die Frage danach, wie materielle Entitäten die Organisation einer Praktik tragen und beeinflussen, macht sich dann den Blick auf die konkreten Einzelheiten interobjektiver Handlungsvollzüge zunutze: Videografie in diesem Sinne zielt auf die detaillierte Beobachtung und Analyse interobjektiver Handlungen, darauf, wie körperliche doings als Sequenzen von Körperbewegungen auf Dinge bezogen sind, wie sie von den Dingen mit ihrer je konkreten physischen Beschaffenheit mit hervorgebracht werden, wie Dinge das Zusammenspiel der körperlichen Akte und Aktivitäten strukturieren und so an der Konstitution der
36 So kann auch das Haben von Gefühlen und das Analysieren von Gefühlen nicht zeitgleich erfolgen: »[...] to stop and ask yourself what you really feel is to stop the affective flow« (Riis/Woodhead 2010: 219).
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sich an ihnen vollziehenden Praktiken beteiligt sind.37 Auf der anderen Seite macht sich die Videografie die Möglichkeit zunutze, die Komplexität einer Handlungssituation einzufangen, um die fraglichen Handlungsvollzüge in ihrer sozialen Situiertheit und materiellen Einbettung zu beobachten. Sie kann dann aufzeigen, wie Dinge nicht nur in die Handlungen einzelner Teilnehmer eingebunden sind, sondern wie sie Teilnehmer zueinander in Position und in Bezug setzen, wie sie die Koordination und Weitergabe von Handlungen gewährleisten, wie sie praktische Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten mit hervorbringen und wie sowohl einzelne Elemente eines Arrangements wie auch Arrangements als Ganzes an der Strukturierung von Praktiken beteiligt sind. Durchgeführt wird dabei eine Kameraforschung, die sich flexibel den Gegebenheiten anpasst und verschiedene Aufzeichnungsstrategien verfolgt (vgl. Heath et al. 2010: 38ff.): Sie wählt fixierte Kamerapositionen, die ein praktisches Geschehen über mehr oder weniger lange Zeiträume aufzeichnen und arbeitet dabei mit unterschiedlichen Perspektiven und Bildausschnitten, integriert die Kamera aber auch in den teilnehmenden Vollzug, filmt das Geschehen aus seinem Inneren heraus und lässt sich von immer neuen Aufmerksamkeitspunkten leiten. Dabei nimmt sie eine reflexive Forschungshaltung ein, die die eigene Selektion von Ereignissen, Kamerastandpunkten oder Bildausschnitten ebenso daraufhin reflektiert, ob sie etwas bzw. was sie über die Organisation einer jeweiligen Handlungssituation aussagt (man lässt sich etwa von bestimmten Sensibilitäten leiten, die Aufschluss darüber geben können, wie man sein eigenes praktisches Wissen in Anschlag bringt), wie Irritationen oder andere Formen der Reaktivität, die der Einsatz einer Kamera verursachen kann (vgl. Lomax/Casey 1998). Schließlich wurden insbesondere Aufnahmen aus der ›Mitte‹ des Vollzuges heraus später in Verfahren der Video-Elizitation eingebunden. Aufgrund der Begrenzung auf die audio-visuelle Ebene (Tuma et al. 2013: 31ff.), die ›blind‹ ist etwa für Stimmungen
37 Der angestrebte Auflösungsgrad richtet sich bei einem solchen praktikentheoretisch inspirierten Vorgehen stets nach der Maßgabe, einzelne interobjektive Akte und Aktivitäten als Elemente einer übergreifenden Praktik und damit in ihrem organisatorischen Gesamtzusammenhang verständlich zu machen. Die Konzentration auf kleinste Details des praktischen Vollzugs, wie sie etwa für konversationsanalytische Studien zur interaktionsstrukturierenden Rolle von Dingen bzw. Technologien charakteristisch ist (vgl. etwa Heath/Luff 2000), kann – je nach eingenommener Perspektive und Fragestellung – durchaus von Bedeutung sein. Maßstab bleibt aber stets die Rekonstruktion der Praktiken, als deren konstituierende Elemente diese Vollzüge betrachtet werden.
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und Atmosphären einer Situation, bette ich videografische Verfahren in eine übergreifende, methodenplurale Strategie ein, die auch teilnehmende Beobachtung und Interviews umfasst.
Interviews Aus einer Sicht, die Handeln mit Rückgriff auf Habitualisierung, Inkorporierung, Dispositionen und damit letztlich auf implizites Wissen erklärt, die gerade die PräReflexivität des Handelns betont und der Möglichkeit der Introspektion und der Rekonstruktion von Bewusstseinsvorgängen skeptisch gegenübersteht (Schmidt/ Volbers 2011:35), resultiert eine oft kritische Haltung zum Interview. Die Betonung dessen, was Teilnehmer ›nicht zu sagen wissen‹ (Polanyi 1985: 14), führt damit oft zu einer Vernachlässigung dessen, was sie zu sagen wissen (und auch zu sagen haben). Demgegenüber plädiert die vorliegende Studie für eine dezidierte Anerkennung des Erkenntniswerts explizierbaren Wissens und setzt auf Interviews als einen wichtigen Baustein praktikentheoretischer Methodologie (vgl. auch Hitchings 2012). Diese methodische Entscheidung ergibt sich aus der zugrunde gelegten Konzeption, die soziale Praktiken nicht allein als durch ein implizites ›praktisches Verstehen‹ organisiert sieht, sondern darüber hinaus durch explizite Regeln, eine teleo-affektive Struktur und allgemeine Verständnisse. Praktiken sind demnach durch Komponenten mit organisiert, die sich der Explikation nicht entziehen, sondern über die man sprechen kann (Schatzki 1997: 301). Ich gehe mit Schatzki davon aus, dass Teilnehmer für die Praktiken, an denen sie partizipieren, ›Worte haben‹. Sie verwenden ein bestimmtes Vokabular, um ihre Aktivitäten zu klassifizieren (Schatzki 1996: 104). Sie haben Begriffe für die Praktiken, an denen sie partizipieren und die sie – je nach gesellschaftlich-kultureller Verbreitung der Praktik – mit einem unterschiedlich großen Personenkreis teilen, für die körperlichen und mentalen Aktivitäten, die sie vollziehen, für die sich dabei einstellenden Wahrnehmungen, Gefühle und Erfahrungen, für die Ziele, die sie verfolgen, für ihre Vorstellungen im Hinblick auf Richtigkeit oder Angemessenheit, für die Schwierigkeiten, die ihnen im Vollzug begegnen, und für die Arten und Weisen, wie sie das, was sie tun, deuten. Teilnehmer als Experten für ihre Praktiken sind in der Regel – Bereitschaft und Fähigkeit zur Verbalisierung vorausgesetzt – imstande, mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen all dessen zu geben. Eine Handlung zu vollziehen heißt zumeist auch, sich selbst bei diesem Vollzug zu beobachten (Shove et al. 2012: 100), und diese Selbstbeobachtungen können bis zu einem gewissen Grade thematisiert und expliziert werden. Der Einsatz von Interviews – seien es ethnografische Interviews im Feld (vgl. Spradley 1979) oder teilstrukturierte Experteninterviews (vgl. Gläser/Laudel
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2010) – als eine Strategie zur Rekonstruktion von Praktiken-als-Entitäten baut auf dieser Annahme auf und zielt auf möglichst konkrete Beschreibungen von Vollzügen und Abläufen, Vorgehensweisen und Strategien, Motiven und Konsequenzen, Hindernissen und Gratifikationen, Eindrücken und Empfindungen, ist dabei aber offen und explorativ angelegt. Interviews reagieren hier, teils im Rahmen einer methodenpluralen Strategie, die eine »prozedurale Ethnografie« um eine »Informantenethnografie« (Kalthoff 2003: 75f.) ergänzt, teils und je nach Fall auch als alleiniges Mittel zur Rekonstruktion von Praktiken, auf Grenzen der Beobachtbarkeit, die für die vorliegende Forschung aus mehreren Gründen wichtig sind: Erstens ihr Interesse an mentalen Aktivitäten und Lebenszuständen; zweitens die Annahme, dass sich Praktiken oft erst über die subjektiven Deutungen ihrer Teilnehmer umfassend verstehen lassen; drittens die Einsicht, dass eine Praktik in ihrer aktuellen Performanz nicht zwangsläufig ›aufgeht‹, sondern ihre Grenzen über eine jeweilige Handlungssituation hinausweisen können, so dass etwa die Anbahnung oder Vorbereitung eines Vollzugs ebenso berücksichtigt werden muss wie Konsequenzen, die aus einem Vollzug resultieren bzw. sich an ihn anschließen; viertens die in manchen Fällen erfolgende Involvierung transzendenter Bezugspartner, deren Einfluss auf Vollzug und Verlauf der entsprechenden Praktiken oft nur über den Umweg der Beschreibung herausgearbeitet werden kann. Zu berücksichtigen ist dabei: Wenn Teilnehmer über die Praktiken sprechen, an denen sie partizipieren, dann sprechen sie in der Regel über ihre Praktiken, das heißt: über eine bestimmte Version einer Praktik. Teilnehmer können also mehr oder weniger gut Auskunft über Praktiken geben, aber es sind eben immer Auskünfte über Varianten von Praktiken. Schließlich kann auch die Sammlung und Analyse von Dokumenten im Feld für eine Rekonstruktion von Praktiken nutzbar gemacht werden: Anleitungen etwa, die den Teilnehmern die richtige Durchführung bestimmter Gebete vermitteln, Richtlinien für die Regelung der Abläufe bei Gottesdiensten oder Prozessionen, im Feld zirkulierende Broschüren, die über Marienerscheinungen berichten oder Deutungsangebote, wie sie sich im Internetauftritt einer Wallfahrtsstätte finden, geben Auskunft darüber, wie bestimmte Praktiken verstanden werden, wie und mit welchen Zielsetzungen sie durchgeführt werden sollen, wie bestimmte Dinge zu interpretieren sind und wie mit ihnen umgegangen werden soll, welches Hintergrundwissen in diese Praktiken eingespeist wird oder welche normativen Vorstellungen existieren.
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Beschreibung des Vorgehens Die Studie beschäftigt sich einerseits mit privat durchgeführten religiösen Praktiken, andererseits mit Praktiken an Pilgerstätten. Die Untersuchung der privaten Vollzüge erfolgte als Interviewforschung, bei der mit einzelnen Teilnehmern in mehrstündigen und wiederholten Sitzungen Leitfadeninterviews geführt wurden. Diese Interviews bezogen sich auf die religiöse Praxis im Alltag und auf die Arten und Weisen, wie sich diese Praxis auf den Einbezug von Devotionalien und anderen Dingen stützt. Hieraus gingen die beiden Fallstudien zum Gebet in einer Kirche und zum Rosenkranzgebet hervor. Die Erforschung von Pilgerpraktiken, die an der südfranzösischen Wallfahrtsstätte Lourdes und an christlichen Pilgerstätten in Jerusalem durchgeführt wurde, erfolgte unter Einsatz ethnografischer Methoden. Während eines zehntägigen Aufenthalts in Lourdes fanden teilnehmende Beobachtungen in Gottesdiensten, Rosenkranzandachten, Prozessionen und Kreuzwegandachten statt. Einen Schwerpunkt der teilnehmenden Beobachtung und auch der videografischen Arbeit bildeten das Geschehen an der Grotte von Massabielle, die das Herzstück der Wallfahrtsstätte bildet, und die abendliche Lichterprozession, die neben dem Besuch der Grotte einen zentralen Anziehungspunkt für viele Besucher darstellt. Darüber hinaus wurden Leitfadeninterviews mit Pilgern und vor Ort tätigen Seelsorgern sowie kürzere ethnografische Interviews im Feld geführt. Während eines elftägigen Aufenthalts in Jerusalem standen Beobachtungen an einer Reihe heiliger Stätten, die beobachtende Teilnahme an Prozessionen, Gottesdiensten und Andachten, die Begleitung einer Pilgergruppe sowie Interviews mit Geistlichen und Pilgern im Mittelpunkt. Die Forschung konzentrierte sich hier vor allem auf das Geschehen in der Grabeskirche sowie die Arten und Weisen der Annäherung an heilige Stätten innerhalb und außerhalb der Kirche. Für eine Reihe von Leitfadeninterviews konnten eine Reihe von Mönchen und Geistlichen vor Ort gewonnen werden, die mit der Betreuung und Führung von Pilgern, teils auch mit der Verwaltung der Grabeskirche betraut waren. Einige der Interviewpartner wurden über einen Kontakt vor Ort vermittelt, andere Interviewmöglichkeiten entstanden durch anschließende Weitervermittlung. Den thematischen Schwerpunkt dieser Interviews bildeten die Erfahrungen der Befragten mit der Betreuung von Pilgern, mit den Bedingungen in der Grabeskirche und mit der Führung an die heiligen Stätten. Der Datenkorpus der Studie umfasst damit Beobachtungsprotokolle, Interviewmitschnitte und audio-visuelle Aufnahmen sowie die daraus hervorgegangenen Transkripte, daneben Fotos und im Feld gesammelte Dokumente. Insgesamt wurden rund fünfzehn Stunden Interviewmaterial sowie dreißig Stunden an audio-visuellen Aufzeichnungen generiert. Die Interviewmitschnitte wurden transkribiert, das Videomaterial gesichtet, katalogisiert und an den für die
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Feinanalyse ausgewählten Abschnitten in Videotranskripte überführt. Die Analyse des Materials erfolgte in Anlehnung an die Verfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996; Strauss 1998, Strübing 2008).
Praktikentheoretische Studien
Ein Gebet in einer Kirche
Der Eintritt in das Gebet: Zustandsmanagement und die materielle Infrastruktur der Praktik Sophie, eine junge Frau, die in mehreren Interviewsitzungen Einblick in ihre religiösen Überzeugungen und ihre Glaubenspraxis gab, beschreibt ihre Spiritualität als geprägt durch enge Beziehungen zu einer Reihe transzendenter Bezugspartner. Sie charakterisiert diese als verlässliche ›Vertrauenspersonen‹ und wirkmächtige Helfer, die ihr in verschiedenen Bereichen ihres Lebens zur Seite stehen. Ihre Gebetspraxis umfasst eine Reihe unterschiedlicher Formen des Gebets, die in Abhängigkeit vom Anlass und vom jeweiligen Adressaten variieren: verhältnismäßig voraussetzungsarme, aus der Mitte des Alltags heraus erfolgende Stoßgebete an Engel, Heilige oder verstorbene Familienangehörige, die in der Regel einseitige Bitten um Intervention in Krisensituationen darstellen; regelmäßige, vor allem in den eigenen Privaträumen erfolgende Gebete zur Heiligen Jungfrau, in denen grundlegende Befindlichkeiten zur Sprache gebracht und etwa Fragen im Hinblick auf die Gesundheit thematisiert werden; und schließlich die nur unregelmäßig erfolgende und voraussetzungsreichere »Zwiesprache«1 mit Gott, die ihre eigenen, vom Alltag abgesonderten Zeiten und Räume hat. Um solche Gebete aufzunehmen, sucht Sophie von Zeit zu Zeit eine Kirche auf, die sie entweder bereits kennt oder auf die sie zufällig unterwegs trifft und die sie, um ungestört zu sein, möglichst leer anzutreffen hofft. Über ihre Vorgehensweise, wenn sie dort angekommen ist, gibt sie den folgenden Bericht:
1
In der Auseinandersetzung mit Interviewzitaten markieren doppelte Anführungszeichen wörtliche Übernahmen. Einfache Anführungszeichen kennzeichnen, sofern sie sich auf Interviewpassagen beziehen, indirekte, d.h. grammatisch angepasste und/oder sinngemäße Übernahmen bzw. bei englischen Zitaten die deutsche Übersetzung.
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Also, grundsätzlich beginnt alles in dem Moment, wo ich die Tür öffne. Ich öffne eine Tür, und wenn die Tür geöffnet ist, greif ich diese Tür an. Ähm (-) des erste wohin ich schaue is, wo is des Weihwasser, weil des is in jeder Kirche anders […], und nehm Weihwasser auf. […] Indem ich mich mit Weihwasser bekreuzige isses [...] die Kontaktaufnahme, dass ich sag, ›hey passt auf da oben, eine von euch is jetzt hier, ja? Und das merkt ihr am Weihwasser.‹ […] Ähm, dann bekreuzige ich mich, [...] knie [...] mich nieder, […] dann steh ich auf, lauf zur Bank, knie nochma nieder und bekreuzige mich, gehe dann in die Bank und setze mich oder knie mich. [...] also wirklich so ritualisiert, ja? Für MICH aber ritualisiert. Fernab von dem, wie ichs gelernt hab, sondern wirklich für MICH.2
Beginnend mit dem Öffnen oder Berühren der Kirchentür, das sie als den Startpunkt des folgenden Geschehens markiert, führt die Teilnehmerin demnach eine Reihe ritualisierter Handlungsabläufe durch, die schließlich darin münden, dass sie in der Kirchenbank Platz nimmt. 3 Sie adaptiert hier eine Prozedur, wie sie sich
2
Um die Rolle des Interviewers bei der Hervorbringung von Antworten transparent zu machen, wird manchmal gefordert, Interviewfragen mit aufzuführen. Eine solche Darstellungsstrategie unterschlägt allerdings die Situierung von Antworten im breiteren Kontext der Geschichte eines jeweiligen Interviews: Antworten werden nicht einfach durch eine bestimmte Frage unmittelbar hervorgebracht, sondern von einer Vielzahl von Faktoren mit bestimmt – dem Briefing zu Beginn des Interviews, das dem folgenden Gespräch eine Rahmung gibt, den oft nonverbalen und in Interviewtranskripten nicht auftauchenden Rezeptionssignalen des Interviewers, der allgemeinen Gesprächsatmosphäre, überhaupt der jeweiligen Geschichte der bisherigen Fragen und Antworten. Ein zweiter Punkt ist, dass Interviewees Bezug auf diese Geschichte nehmen, dass man Bögen schlägt, an zuvor Besprochenes anschließt, auf etwas zurückkommt, etwas ergänzt etc., was die sequentielle Logik von Frage und Antwort immer wieder aufbricht. Drittens steht dem die hier gewählte Darstellungsstrategie einer Raffung und Zusammenführung von über mehrere Redezüge verstreuten Aussagen zu prägnanten Sinneinheiten auf Basis der vorangegangenen Analyse entgegen. Interviewfragen werden deshalb nur dort mit aufgeführt, wo dies für die Kontextualisierung der Antworten notwendig ist. – Eine Übersicht über die hier angewandten Transkriptionskonventionen findet sich im hinteren Teil des Buches.
3
Die Vorstellung, wonach Einzelhandlungen gemeinsam Handlungen höherer Ordnung bilden und Praktiken als eine Art Matroschka aus ineinander verschachtelten Handlungen höherer und niedrigerer Ordnung verstanden werden können, ermöglicht dabei eine Adaption des Blickwinkels an das jeweilige Erkenntnisinteresse. So ließe sich die hier beschriebene Bekreuzigung mit Weihwasser durchaus als eine Praktik begreifen, die
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für den Übergang von der ›Welt des Alltags‹ in die sakrale Sphäre der Kirche etabliert hat und die in ähnlicher Weise auch von Gottesdienstbesuchern vollzogen wird, bevor sie in einer Kirchenbank Platz nehmen, um von dort aus den Beginn der Liturgie zu erwarten. Sophie ist mit diesen Abläufen offenbar durch ihre kirchliche Sozialisation vertraut, möchte ihre Vollzüge aber nicht als bloße Wiederholung verstanden wissen, sondern markiert eine persönliche Aneignung dieser praktischen Formen.4 Interessant ist nun, welche Rolle sie diesen Aktivitäten im Hinblick auf ihr Gebetsvorhaben zuweist: [...] die Zwiesprache in der Kirche wird begleitet von Ritualen, die mir ganz wichtig sind. Also des is schon was, was fast andächtig ist, was=ne ganz, ganz spezielle Wirkung auf mich hat, die auch nur in der Kirche ausgelöst werden kann. [...] es verändert mein Bewusstsein, des is wie des Warmmachen eines Sportlers [...]. Also jede Sportart, die man ausüben kann, hat ihre eigene Art und Weise, wie man sich aufwärmt. Wie man den Körper darauf vorbereitet, was gleich kommt. Und so entspricht des für meinen Geist [...]. Ja (also nichts) für meinen Körper in primärer Hinsicht, klar in sekundärer auf jeden Fall, weil ich dadurch absolut entspanne. Also ich kann wirklich einfach mal alle Glieder fallen lassen, ich muss nichts nebenbei machen, nich Auto fahrn, mich irgendwie rührn oder, keine Ahnung was, schreiben oder sonst irgendwas, aber primär isses eigentlich für meinen Geist. Das is die Aufwärmphase für meinen Geist. Ich leite für meinen Geist des ein, dass er weiß, was als nächstes auf ihn zukommt.
sich aus einer Reihe von Einzelhandlungen wie dem Eintauchen der Finger, der Geste der Bekreuzigung und ggf. dem Sprechen einer Gebetsformel zusammensetzt, und die ihre eigenen Verständnisse, Regeln und ihre eigene Teleo-Affektivität hat. Mit einem weiteren Fokus hingegen, der sich für diese Geste im übergreifenden Kontext des Gebets interessiert, erscheint sie als eine Handlung, die gemeinsam mit anderen Handlungen die Praktik des Gebets konstituiert. 4
Die Bekreuzigung mit Weihwasser aus den meist in der Nähe des Eingangs positionierten Becken ist für viele Katholiken fester Bestandteil des Betretens und Verlassens der Kirche. Diese Geste ist mit einer Reihe eng miteinander zusammenhängender Deutungen verbunden: Sie ist Erinnerung an die Taufe, Vergewisserung der Zugehörigkeit, Bewusstmachung des Übertritts in die Kirchenraum, aber auch Reinigung: »[...] wenn du aus der Welt in die Kirche kommst, wäschst du auch im Grunde die Sünde wieder ab, die, wo du dich mit befleckt hast […]«, so ein Geistlicher im Interview. Indem sie die Geste als eine Form der Kontaktaufnahme versteht, mit der sie sich direkt an transzendente Adressaten wendet und latente Beziehungen aktiviert (»passt auf, ihr da oben«), gibt die Teilnehmerin der Aktivität eine etwas andere Deutung.
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Mit Rückgriff auf die Analogie zum Sport beschreibt Sophie den skizzierten Ablauf als eine »Aufwärmphase«, die zwar Wirkungen auch auf den Körper hat, in erster Linie aber auf ihr Bewusstsein gerichtet ist. Wie ein Sportler Muskeln und Herz-Kreislauf-System im Vorfeld eines Trainings oder eines Wettkampfes aktiviert, indem er etwa Dehnungsübungen macht oder sich ›warmläuft‹, arbeitet sie aktiv an der Herstellung eines bestimmten Bewusstseinszustandes, den sie als »fast andächtig[e]« Haltung charakterisiert und den sie offenbar als Voraussetzung für die Aufnahme des Gebets betrachtet. 5 Aktivitäten wie das Berühren der Kirchentür oder des Türgriffs, das Aufsuchen des Weihwasserbeckens, der Vollzug des Kreuzzeichens mit den durch das Weihwasser befeuchteten Fingern sowie die Kniebeuge vor dem Betreten der Kirchenbank formieren so gesehen einen Handlungszusammenhang, der auf die ›Einstimmung‹ oder mentale Vorbereitung auf das Gebetsvorhaben ausgerichtet ist oder sich doch zumindest in dieser Weise nutzen lässt. Die Vorbereitungsarbeit ist damit aber noch nicht beendet: Also, es is so, dass ich reinkomme, und meine Rituale praktisch vollziehe, dann dort sitze, meistens einen Augenblick brauche, um mich selbst zu beruhigen, weil der Tag einfach zu viel hat [...] dann hab ich immer noch so=n bisschen Unruhe im Gehirn, Gedanken, Gedanken, Gedanken, Gedanken, Gedanken, Gedankenströme, Blitze, was is am Tag passiert, was muss ich noch machen, keine Ahnung. Und dann auf einmal fang ich an zu reden, in meinen Gedanken, und versuch mich wirklich selbst zusammenzureißen, ja, also des Konzentrieren dadrauf was ich sage. [...] un dann hab ich=ne Ruhe in mir, des is wie ein Frieden, der in dem Moment ausgelöst=wie eine absolute Entspanntheit.
Es wird deutlich, dass die einleitenden Routinen lediglich ein Auftakt sind und dass die Aufnahme des Gebets noch mehr erfordert, als sich in der beschriebenen Weise einzustimmen. Im Anschluss an die ersten Schritte verlagert die Teilnehmerin ihre Aufmerksamkeit ›nach innen‹ und führt eine aktive Beobachtung mentaler Prozesse durch, mithilfe derer sie ihren Bewusstseinszustand auf die erfolgreiche Aufnahme der Gebetsinteraktion hin evaluiert. Dies impliziert auch, dass sie als erfahrene Beterin weiß, wie sich die richtige, dem Gebet entsprechende Haltung ›anfühlt‹ und dass sie die Ergebnisse ihrer Selbstbeobachtung daraufhin bewerten kann, ob die für eine erfolgreiche Durchführung des Gebets erforderli-
5
Man kann hinzufügen, dass auch Sportler mit dem ›Aufwärmen‹ nicht ausschließlich auf den Körper abzielen, sondern sich auch mental auf die bevorstehende Aufgabe einstellen (vgl. etwa Ritz 2012).
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chen Bedingungen gegeben sind oder nicht. Der kontinuierliche Fluss eigendynamisch und rekursiv aneinander anschließender Gedanken, den sie dabei beobachtet, erscheint hier als ein Hindernis für eine erfolgreiche Aufnahme der Gebetsinteraktion, das durch den Versuch überwunden werden muss, sich selbst zu beruhigen und so in einen Zustand der Ruhe und der Konzentration zu finden. Einem eventuellen Scheitern ihrer Bemühungen begegnet sie wiederum mit einem erprobten Verfahren:6 S:
Meistens setz ich mich zuerst und knie dann zwischenzeitlich, (---) oder sitze halt
die ganze Zeit. Ka- weiß ich aber auch nich warum des eine un-n, DOCH! Ich weiß warum, warum ich manchmal knie! Weil Knien mit Schmerzen verbunden is. Knien is mit Schmerzen verbunden, und es gibt Tage, an denen ich so wütend und so ärgerlich bin, dass ich gern meinen Körper auch dadrauf wieder programmieren möchte, also ich möchte ihn programmieren dadrauf, dass es=n Gedankenaustausch is, dass ich mich konzentriere, dann bin ich, also damit ich wirklich FREI im Kopf bin von allem. Ähm (-) und über den, über den Faktor Schmerz kann ich des relativ gut steuern. (---) Also für mich is des unheimlich anstrengend und schmerzhaft mit den Knien, einfach auf dem (-) Holz (-) zu knien. TC: [...] es is ja auch so=ne Ehrfurchtsgeste, ne? S:
Ne-e, für mich nicht.
TC: Für dich nicht. S:
NEIN. Für (m)ich isses, äh, für mich spielt des keine Rolle, ob ich sitze oder ob
ich knie. (---) Für mich is des Knien, während ich mich bekreuzige, DAS is für mich eine, eine eine äh, Demutshaltung, ja, eine Ehrfurchtshaltung, ja? Ähm (-) aber des Knien komplett hat für mich nichts damit zu tun, gar nichts.7
6
Eine solche objektivierende und problematisierende Hinwendung zum eigenen Bewusstseinszustand bzw. zu den eigenen Gedanken lässt sich als eine verstreute Praktik begreifen, die Bestandteil auch von Praktiken etwa der Meditation, der Psychotherapie, der Beichte, des Wettbewerbs oder von Aufführungspraktiken ist. Unterschiede gibt es im Hinblick darauf, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet (Gedankeninhalte, Gedankenstrom), mit welchen Zielen das getan wird (Herbeiführung von Konzentration, längerfristige Transformationsprozesse) und welche weiteren Schritte sich an solche Beobachtungen anschließen.
7
Der Ausruf »DOCH! Ich weiß warum, […]!« markiert die anschließende Aussage als zuvor unverfügbare, offenbar erst im laufenden Interview gewonnene Einsicht. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Teilnehmer, detailliert nach ›ihren‹ Praktiken gefragt, an Grenzen der Rekonstruierbarkeit stoßen und Suchbewegungen aufnehmen, um sie sich und
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In Situationen, in denen es der Teilnehmerin besonders schwer fällt, sich zu konzentrieren, löst sie also ihre Sitzhaltung auf und geht dazu über, sich mit den Knien auf das Kniebrett zu stützen, der an der rückwärtigen Seite von Kirchenbänken knapp über dem Boden angebrachten und hierfür vorgesehenen Holzleiste. Im Gegensatz zur Kniebeuge vor dem Eintritt in die Kirchenbank versteht sie die Einnahme dieser Körperhaltung nicht als Ausdruck einer devotionalen Haltung, sondern als ein Verfahren zur Hervorbringung einer Schmerzempfindung, mit der sie den Eintritt des erwünschten Zustands der Fokussierung zu forcieren sucht. Mit diesem Verständnis verschiebt sich dann auch die Relation der Handlungen zueinander: Statt das Knien als mit dem eigentlichen Gebet verbunden zu betrachten, löst die Teilnehmerin die Verknüpfung von Knien und Beten auf und verlagert das Knien vor das eigentliche Gebet. Sie bedient sich damit einer im Rahmen devotionaler katholischer Praktiken etablierten »Körpertechnik« (Mauss 1975: 203), deutet sie aber um, entkleidet sie ihres expressiven Charakters, gibt ihr eine andere Position im zeitlichen Ablauf, weist ihr eine rein instrumentelle Rolle zu und bindet sie auf diese Weise in ihre Strategie der Vorbereitung ein: Knien wird zu einer bloßen Verlagerung des Körpergewichts auf ein Holzbrett, zu einem Verfahren der gezielten Produktion einer Schmerzempfindung und zu einer Manipulationstechnik, mit der sie den Strom ihrer Gedanken zu kontrollieren bzw. beeinflussen sucht.8
anderen verständlich zu machen. In diesem Fall resultiert eine solche Begrenzung offenbar aus der Routiniertheit der fraglichen Vollzüge, die insofern ohne entsprechende Rechenschaftslegung auskommen: Die Teilnehmerin handelt einfach. 8
Dass die Einnahme bestimmter Körperhaltungen nicht nur Ausdruck (etwa von Demut) ist, sondern auch Wirkungen im Hinblick auf mentale Zustände entfaltet, wird etwa in Gebetsanleitungen reflektiert: »[...] physical prayer becomes prayer itself. [...] our physical expressions of faith lead the mind into deeper and more meaningful prayer. In this process the mind comes under the reign of the body [...], and we experience a genuine connectedness between what we do and what we think« (Pagitt/Prill 2013: 6, vgl. Koll 2007: 139ff.). Solche Zusammenhänge thematisiert auch Marcel Mauss, etwa anhand der Herbeiführung »mystische[r] Zustände« durch die Anwendung von Atemtechniken im Yoga. So erscheinen auch bei Mauss Körpertechniken als ein Mittel, »um in ›Kommunikation mit Gott‹ zu treten« (Mauss 1975: 220). Obwohl sich Sophies Einsatz des Kniens lediglich einen Aspekt dieser Körpertechnik zunutze macht, lässt er sich als eine Variante der Hervorbringung einer inneren Haltung qua Einnahme einer Körperhaltung begreifen. Die Möglichkeit, das Knien in dieser Weise einzusetzen, verweist dabei auf eine grundlegende Ambivalenz dieser Körpertechnik, die dem Gebet förderliche Zu-
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Die Empfindung des Schmerzes als Resultat des Einsatzes dieser Körpertechnik bekommt auf diese Weise eine konstitutive Rolle im Prozess der Vorbereitung auf das Gebet. Wo sie unter anderen Vorzeichen eher ein unerwünschter Nebeneffekt einer auf den Ausdruck einer demütigen Geisteshaltung zugeschnittenen Körperhaltung ist, wird sie hier aktiv herbeigeführt und im Rahmen der Fokussierungsarbeit nutzbar gemacht. Zwischen der Beterin und ihrem Gebet steht der eigendynamische, mit anderen Mitteln offenbar nur schwer zu kontrollierende Fluss der Gedanken, ein Nachhall ihrer Verwicklung in Praktiken des Alltagslebens, den sie in die Kirche mit hereingebracht hat und den auch die einleitenden Aktivitäten nicht vollständig beseitigen konnten. Die Schmerzempfindung bietet sich offenbar als eine Möglichkeit an, sich hiervon freizumachen und den für die Konzentration auf das Gebet erforderlichen gedanklichen Raum zu schaffen. Sie wird auf diese Weise zu einer ›Brücke‹ in das Gebet.9 Sie ist nicht etwas, das beiläufig entstünde oder störte, sondern wird aktiv hervorgebracht und ist ein fester und systematischer Bestandteil der Vorbereitung. Das Hervorrufen dieser Empfindung, aber auch die ihm vorausgehenden Aktivitäten des ›Ankommens‹ in der Kirche, erscheinen so als Arbeit an der Modifikation der Zustände, in denen sich die Teilnehmerin befindet, als eine Form des
stände einerseits unterstützen mag, einen Zustand der Fokussierung auf das Gebet andererseits aber auch behindern kann: Der Körper macht sich bemerkbar und es werden Empfindungen generiert, mit denen man irgendwie umgehen muss. 9
Willentlich herbeigeführte Schmerzempfindungen sind immer wieder Bestandteil religiöser Praktiken. Man findet sie etwa in asketischen Praktiken, Initiationsriten, Trauerriten, religiösen Festen oder im Rahmen von Praktiken des Pilgerns. Während im hier besprochenen Fall eine nur kurzfristige Zustandsveränderung angestrebt wird, die den Eintritt in eine religiöse Praktik erst ermöglicht, richtet sich das intendierte Hervorrufen von Schmerzen oft auf längerfristige Ziele und Transformationsprozesse wie etwa die ›Abtötung‹ der Lust, die Transformation der Identität oder die Glaubensvertiefung. Solche Empfindungen sind dann eingebunden in eine je unterschiedlich gebaute teleologische Struktur und werden damit zugleich auch unterschiedlich verstanden. Die Parallele besteht darin, dass der Schmerz willentlich herbeigeführt, positiv bewertet, vor allem aber für die Erreichung bestimmter Ziele benutzt wird (für einen umfassenden Überblick über das Phänomen des »Heiligen Schmerzes« vgl. Glucklich 2001; für einen religionsvergleichenden Zugang auf Basis der Askese vgl. Flood 2004; zu Ritualen des Schmerzes im Christentum vgl. Bräunlein 2010).
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condition management, mithilfe dessen unerwünschte Bewusstseinszustände beseitigt und erwünschte Bewusstseinszustände herbeigeführt werden sollen.10 Den Maßstab für die Bewertung eines Zustandes als erwünscht oder unerwünscht gibt dabei die Praktik vor, die die Teilnehmerin durchzuführen im Begriffe ist: Sie versucht, sich auf das Gebet auszurichten bzw. einzustellen, den Anforderungen zu entsprechen, die ihr Gebetsvorhaben an sie stellt, und so die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Durchführung zu erfüllen. Es handelt sich so gesehen um Arbeit an der Schaffung von Bedingungen, die ein Eintreten in die Gebetspraktik erst ermöglichen.11 Geht man davon aus, dass das Gebet ohne eine solche Arbeit an der eigenen Befindlichkeit nicht funktioniert, diese also eine wesentliche Voraussetzung für seine Durchführung darstellt, und berücksichtigt man, dass das beschriebene Vorgehen auf den Eintritt in die Praktik hin zugeschnitten und darauf ausgerichtet ist, lässt sich diese Vorbereitung als ein wesentlicher Bestandteil des Gebets begreifen. Sophie markiert diesen Zusammenhang, wenn sie formuliert: »Also, grundsätzlich beginnt alles in dem Moment, wo ich die Tür öffne.« Die Berührung oder Öffnung der Kirchentür, die Aufnahme von Weihwasser und die Bekreuzigung, die zum Altar hin erfolgende Kniebeuge vor dem Eintritt in die Kirchenbank sowie die Positionierung des Körpers auf der Bank und später auf dem Kniebrett werden so gesehen zu teleologisch miteinander verbundenen Aktivitäten, die gemeinsam die erste Phase der Gebetspraktik darstellen.
10 Ich schließe hier an Scheer an, die emotional management (Reddy 2001: 129ff.) im Kontext ihrer Konzeption von »Emotional Practices« als ›Mobilisierung‹ diskutiert: »Emotional practices in this sense are manipulations of body and mind to evoke feelings where there are none, to focus diffuse arousals and give them an intelligible shape, or to change or to remove emotions already there. [...] These practices are very often distributed, that is, carried out together with other people, artifacts, aesthetic arrangements, and technologies« (Scheer 2012: 209ff.). Dieser Gedanke der Mobilisierung lässt sich ähnlich auch auf Bewusstseinszustände oder Stimmungen übertragen. 11 Damit ist noch etwas anderes angesprochen: In Bezug auf den Zusammenhang zwischen praktischen Vollzügen und Lebenszuständen hatte ich beschrieben, dass ich den Vollzug einer Praktik verstehe als ein Zusammentreffen zwischen den Zuständen, die eine Person in den Vollzug einer Praktik ›hineinträgt‹, und den in eine Praktik eingelagerten Zuständen, und dass die Zustände einer Person mit dem Eintritt in eine Praktik bis zu einem gewissen Grade modifiziert werden bzw. werden können. Deutlich wird hier, wie solche Modifikationen auch aktiv herbeigeführt werden können.
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Diese Aktivitäten sind eng mit dem materiellen Arrangement des Kirchenraums verschränkt, inmitten dessen sie sich ereignen. Die Tür, das Weihwasserbecken, der Altar und die Kirchenbank mit dem Kniebrett erscheinen als »activityplaces« (Schatzki 2002: 43), die als Anlaufpunkte dienen, eine Abfolge von Berührungen, Gesten und Körperhaltungen evozieren und ermöglichen und so den Prozess der Vorbereitung strukturieren. Über den kompetenten und zielgerichteten Umgang mit diesen Dingen erreicht die Teilnehmerin einen zunehmenden Abbau ihrer anfänglichen Unruhe und einer zunehmende Gerichtetheit ihrer Aufmerksamkeit. Condition management wird auf diese Weise verständlich einerseits als aktive Leistung, andererseits als das Ergebnis einer gezielten Einbindung von Elementen des materiellen Settings des Kirchenraums in eine Reihe eng miteinander zusammenhängender und zu einem festgefügten Ablauf hintereinander geschalteter, interobjektiver Aktivitäten. Noch ein weiterer Aspekt wird hier deutlich. Sophies Handhabungen der Dinge des Kirchenraums und die Positionierung ihres Körpers in der Kirchenbank zielen darauf ab, bestimmte Zustände zu erwirken, deren Eintreten aber nicht sicher vorausgesagt oder kontrolliert werden kann. Die Beterin kann lediglich Bedingungen schaffen, die eine stärkere Konzentration begünstigen, und sie kann ihre Aufmerksamkeit nach innen verlagern und sich selbst daraufhin beobachten, ob sich die gewünschten Veränderungen einstellen oder nicht. Das Sich-Vorbereiten auf das Gebet erscheint so gesehen nicht allein als etwas, das getan wird, sondern auch als etwas, das geschieht. Aktivität und Passivität, Handlung und Ereignis, Agieren und Beobachten, was passiert, sind eng miteinander verschränkt (vgl. Gomart/Hennion 1999, insb. 235f.).12 Dort, wo Sophie den erforderlichen Zustand auch über das beschriebene Verfahren nicht selbst herbeiführen kann, wendet sie sich an ihren jeweiligen Bezugspartner und bittet um Unterstützung:
12 In ähnlich dezentrierender Perspektive thematisieren Gomart/Hennion (1999) solche Übergänge vom Tun zum Erleben bzw. von der Handlung zum Ereignis am Beispiel der Rezeption von Musik und des Konsums von Drogen. In Anlehnung an die ANT und an Foucault beschreiben sie solche Zusammenhänge nicht als Praktiken, sondern als sozio-technische, durch die Vermittlungsleistung von Objekten konstituierte Dispositive. Deutlich wird, wie Teilnehmer bestimmte Bedingungen schaffen, um in ein solches Dispositiv ›eintreten‹ zu können, dann aber die Kontrolle abgeben, um sich der gesuchten Erfahrung hingeben zu können, und so Ereignissen dabei ›helfen‹, einzutreten. Solche Ereignisse lassen sich dann weder auf einen Akteur noch auf eine Handlung zurückführen, sondern emergieren aus einem sozio-technischen Dispositiv.
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›Entschuldigung lieber Gott, ich schaff es grad‹=oder ›liebe Muttergottes‹, bei der Muttergottes sag ich, ›liebe Muttergottes bitte hilf mir jetz kurz ma irgendwie vom Tag abzuschalten. Ich krieg das grad nicht hin.‹ Ja? [...] Es gab=ne Phase in meinem Leben, da hab ich gesagt, das geht nicht. Weil ich nich von meinem Kopf her runtergekommen bin, ich habs nich geschafft, mich selbst (runterzuschalten). Un jedesmal in dem Moment, wo ich gedacht hab, ich schaff des heut nich, wo ich gesagt hab, ›lieber Gott, ich schaffs heut nich, ich kann heut nichts sagen, ich krieg meine Gedanken nicht zum Stillstand‹, isses passiert.
Der Übergang vom Tun zum Geschehen-Lassen wird jetzt noch deutlicher. Die Teilnehmerin sucht eine Kirche auf, durchläuft die Handlungsreihen, die sich hier für sie bewährt haben, greift in schwierigen Fällen noch auf das zusätzliche Hilfsmittel des Kniens in der Bank und das Hervorrufen einer Schmerzempfindung zurück und schafft so die Bedingungen für den Eintritt eines Zustands der Konzentration. Wo all dies nicht zum gewünschten Ergebnis führt, delegiert sie, am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen, die Aufgabe der Beruhigung an ihren transzendenten Bezugspartner, und spätestens dieser letzte Schritt funktioniert dann. Der Eintritt eines für das Gebet erforderlichen Zustands der Konzentration und Ruhe erscheint dann nicht als das Ergebnis eigener Aktivität, sondern wird dem Wirken ihres transzendenten Bezugspartners zugeschrieben und so zu einem Indikator göttlicher Agency.
Die Hinwendung nach innen: Welche Anforderungen stellt das Gebet an seine Teilnehmerin? Woraus aber ergibt sich überhaupt die Notwendigkeit, einen solchen Zustand der Fokussierung herbeizuführen? Schließlich lassen sich viele Praktiken ohne größere Schwierigkeiten, without further ado« (Schatzki 2012: 15), vollziehen, ohne dass ihnen dabei zwangsläufig die volle Aufmerksamkeit zuteil werden müsste und ohne dass sie einen ähnlich anspruchsvollen Vorlauf erforderten. Es spricht einiges dafür, dass die Bedingungen, die das Gebet an seine Teilnehmerin stellt, eng mit seiner Eigenschaft als einer besonderen Form der Interaktion zusammenhängen. [...] der liebe Gott ist glaub ich=ne Sache, die man mitm Kopf is. (--) Zu der ich mich, also ich hab schon=ne Verbindung, weil ich weiß, der sitzt da irgendwo, aber ich hab
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kein, ich möchts gern beschreiben als Bild, ich habe keinen Weg, also schon Weg dorthin, aber es is wirklich wie in Kindheitstagen ein Tor, ich kann nicht dahintergehen. [...] Gott is für mich keine Person. Gott is für mich (--) nicht beschreibbar. [...] Als Materie nicht beschreibbar. [...] Ähm (-) die Muttergottes erscheint mir, nich ich ihr. Sie kommt. Ähm, wenn ich bete, zum Beispiel, ich hab Mariengebete, die ich bete, [...], oder wenn wenn=wenn ganz spezielle Sachen (passiern), zum Beispiel, jetzt, privat mit mir, etwas persönlich is, und es is was passiert, ja, ähm, wo=s einfach um des Körperliche geht, dann bitt ich sie auch um Hilfe. Und dann kommt sie [...].
Die Adressaten ihres Gebets sind für die Teilnehmerin zwar ansprechbar, residieren aber in Sphären, die ihr prinzipiell unzugänglich sind. Die Beterin ist deshalb darauf angewiesen, dass ihre Bezugspartner »kommen«, »erscheinen« und sich für sie präsent machen, wenn sie sich an sie wendet, wobei diese Präsenz durch ›Immaterialität‹ bzw. Körperlosigkeit und ›Unbeschreibbarkeit‹ gekennzeichnet ist. Es gilt also, in Kontakt mit jemandem zu treten, der nicht im physischen Sinne präsent ist, den man also weder unmittelbar sehen noch hören kann. S:
Ja es sin nur Gedanken, reine Gedanken, is kein kein gesprochenes Wort. (---)
Ähm (-) des is eine, hängt einfach damit, also is nich so dass ich keinen geschützten Raum hätte, also=n stillen Raum, wo ich wirklich laut reden könnte, es is mir UNangenehm. Weil die menschliche Sprache etwas Menschliches is, und der Gedanke (-) is vielleicht auch menschlich, aber nicht greifbar. Und des passt wieder für mich zu diesem medialen so diese Verbindung, die ganz starke. Ja-a. […]. TC: Macht das=nen Unterschied für dich, ob du laut oder leise dann betest [...]? S:
Ja. Also in dem Moment schon. Weil meistens isses so, ähm (--) wenn ich etwas
laut formuliere, isses so, dass ich tatsächlich in der wirklichen Welt bin, [...] wenn ich des laut von mir sage, dann bin ich gerade jetzt im Moment in der Realität drin, ja? Un nehm des alles noch wahr. Wenn ich etwas leise nur für mich formuliere, also leise im Sinne von ganz stumm, dann isses so, dass des nur in in ähm (-) in dem diesem Ruhefeld, mit der Verbindung nach oben stattfindet=aber wenn ich etwas laut bin, dann hab ich die direkte (-) Kontakt praktisch [...] zum Hier und Jetzt.
Sophie unterscheidet hier zwischen einer Sphäre der Alltagswelt (»Realität«, »Hier und Jetzt«) und einer Sphäre des Gebets (»Ruhefeld«) und schreibt diesen beiden Sphären ihren je eigenen Modus der Informationsübermittlung zu: Während sie die lautsprachliche Formulierung zu einer Sache der Alltagswelt erklärt, eignet demnach einzig die gedankliche Formulierung ihrer Gebetsanliegen der Aufnahme einer »Verbindung« zu ihrem transzendenten Adressaten. Dies scheint
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aber nicht nur einem Gefühl der Angemessenheit geschuldet, wie die Teilnehmerin dies andeutet. Vielmehr sind diese Modi des Sprechens offenbar mit Modi des Wahrnehmens verbunden und zeitigen diesbezüglich bestimmte Wirkungen: Lautes Sprechen bewirkt demnach, dass die Teilnehmerin mit ihrer Wahrnehmung in der Alltagswelt verhaftet bleibt; sie verbleibt im »direkten Kontakt zum Hier und Jetzt« und nimmt das »alles noch wahr«. Im Gegensatz dazu lenkt das ›gedankliche Sprechen‹ die Aufmerksamkeit von außen nach innen und schafft einen Wahrnehmungsraum, aus dem die Alltagswelt und damit all das, was dem Gebet hinderlich ist oder ihm nicht zugehört, ausgeblendet und damit ausgeschlossen wird. Es ist also dieses ›Umschalten‹, mit dem die Welt des Alltags zurückgelassen und der Eintritt in die ›Sphäre des Gebets‹ ermöglicht wird. Damit korrespondiert zugleich die Art und Weise, wie die Beterin die Antwort ihres Gegenübers erfährt: S:
[...] ich spür diesen Blick. (-) Ja, ich spür diesen gewaltigen Blick, wie er mich
beobachtet. (--) Ähm, das is der Moment, in dem ich mit ihm rede. (--) Ähm, dann spür ich diesen Blick, also=des=is=wie praktisch durch durch durch einen Kessel, der geschützt ist von allen Seiten, und des is grade in dem Moment unterhalt ich mich mit ihm. Und als Antwort is einfach (n) dieser Blick, der (auch) vollkommen reicht. Also der dieser Blick is, m-m, (---) ein absolut verständnisvoller Blick. ›Ich versteh genau was du mir sagen willst, und ja, ich weiß genau, alles is gut.‹ TC: [...] Und der vermittelt auch=n bestimmtes Gefühl? S:
JA! Ein Angenommensein, eine Ruhe, eine, ich ke- das kann man nich in Worte
fassen, das is etwas, was was ähm (-) von Glück erfüllt ist, von, von absoluter, es gibt keine Sehnsucht, es gibt nichts Negatives, es gibt nichts Positives, es gibt Nichts. Des Sein in seiner ganzen Vielfältigkeit. Alles zusammengenommen. Nichts überwiegt. Alles is im Gleichstand. Das is des Gefühl (das entsteht).
Über das Aufkommen bestimmter Gefühle im Verlauf der Gebetsinteraktion berichtet Sophie auch im Hinblick auf andere Bezugspartner: […] die Muttergottes […] kommt. [...] und es is wie ein warmes Lächeln das das sie für mich darstellt, ja, das kann man so beschreiben, [...] wie=n warmes Lächeln, so kommt des rüber, diese Emotion wird dann in mir ausgelöst, ja? Ähm (-) also=n ganz ruhiges Gefühl.
Das Bild des nach allen Seiten geschützten »Kessels« verweist noch einmal auf diese Sondersphäre der Wahrnehmung, in der sich die Teilnehmerin ganz dem Gebet hingibt und äußere, alltagsweltliche Einflüsse ausgeschlossen bleiben. Deutlich wird auch, dass der gelingende Übertritt über die Schwelle des Gebets
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mit einer bestimmten Qualität des Erlebens oder der Erfahrung einhergeht: Beschrieben wird hier ein Moment der Präsenz, eines Aufgehens in diesem Moment (Gumbrecht 2004, Csikszentmihalyi 2010). Interessant ist dabei, dass Sophie die Gegenwart ihres Gegenübers, aber auch seine Antwort, in Form eines Gewahrseins erfährt: Gott antwortet gewissermaßen mit einer Emotion. Wo verhaltensmäßige Ereignisse als Rezeptionssignale unverfügbar sind, werden hier Empfindungen und Gefühle – der Eindruck eines »verständnisvollen Blicks«, die Empfindung eines »warmen Lächelns«, ein »ruhiges Gefühl« – zu Indikatoren göttlicher Präsenz, zum Maßstab des Erfolgs der Kontaktaufnahme und zugleich zu Trägern der Kommunikation. Den Erfolg der Kontaktaufnahme beobachten heißt dann vor allem: sich selbst beobachten.13 Die Teilnehmerin charakterisiert ihr Gebet somit als eine Sonderform der Interaktion, die in zweifacher Weise ›im Inneren‹ der Beterin stattfindet: Einerseits erfolgt die Mitteilung ihres Gebetsanliegens ausschließlich in Form einer gedanklichen Verbalisierung, andererseits empfängt sie die Antwort ihres Gegenübers durch bestimmte Gefühle. Es scheinen genau diese Charakteristika zu sein, die den Voraussetzungsreichtum des Gebets ausmachen und die den zuvor diskutierten Prozess der Vorbereitung erfordern: Diese Form der Kommunikation, die sich im Gegensatz zu einem Gespräch in der »wirklichen Welt« nicht über den ›Umweg‹ lautsprachlicher Formulierung und über sicht- und hörbare Rezeptionssignale vollzieht, sondern in ganz unmittelbarer Form, über das Denken und Fühlen der Beterin, verlangt der Teilnehmerin ein hohes Maß an Konzentration ab, eine Ausrichtung ihrer Aufmerksamkeit auf die eigenen gedanklichen und emotionalen Prozesse und damit die Durchführung kontinuierlicher Selbstbeobachtung. Vorbereitet sein heißt dann, in einer Verfassung zu sein, die es einerseits erlaubt, den Strom der Gedanken zu kontrollieren, störende Gedanken auszublenden und dem Gebetsanliegen eine gedankliche Form zu geben, und die es andererseits ermöglicht, den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen gegenüber, wie sie sich im Verlauf des Kontakts ereignen, aufmerksam zu sein. Neben der gewissermaßen ›technischen‹ Frage, wie sich das Gebet als eine Form der Kommunikation vollzieht,
13 Vorstellungen, wonach bestimmte Gemütsregungen als Indikatoren göttlichen Wirkens zu betrachten sind, kennen auch protestantische Strömungen wie der englische Puritanismus, der deutsche Pietismus oder der Methodismus (Scheer 2009: 185f., 199). Eine ›seelische Ruhe‹ wird dort etwa zu einem Kennzeichen der Inspiration durch den Heiligen Geist. Mit Bezug auf John Wesley, den Gründer des Methodismus, bemerkt Scheer: »Letzten Endes könne man die wahre Inspiration nur an deren Früchten – an den inneren Früchten der Gefühle und den äußeren Früchten der Lebensführung – erkennen« (ebd.: 199).
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scheint es aber auch inhaltliche Spezifika zu geben, die eine entsprechende Ausrichtung erfordern: [...] dass ich [...] halt irgendwie Sühne tun möchte [...]. Dass ich sag, ›hallo lieber Gott, ähm (-) ich hab in der Woche ziemlich viel Blödsinn gemacht un ich hab wahrscheinlich ziemlich viele Sünden begangen [...]. Und ich weiß, eigentlich bin ich kein guter Mensch, und vielleicht bin ich doch=n guter Mensch un ich hab keine Ahnung, was ich dir sagen soll‹, ich sag ganz oft, ›ich hab keine Ahnung was ich dir sagen soll, du wirst schon wissen, was ich bin und wer ich bin und was ich denke und was ich mache‹, ja? Und ähm (-) meistens sag ich dann noch, ›ich danke dir für alles, was ich hab, und es tut mir leid, dass ich so wenig bete, wenns mir schlecht geht‹, ähm (-) DAS is ein Gebet für mich. [...] Ähm, ich weiß dass ich sehr oft zur Beichte gehen musste, ja, also im traditionellen, herkömmlichen Sinne, ähm (-) ich weiß aber auch, dass das Gefühl, was ich dabei hatte, nämlich dieses warum mach ich das eigentlich grad, warum reicht des nicht, dass ich Zwiesprache mit Gott halte [...], warum reicht des nicht aus? Ich habs bis heute nicht verstanden, warum man zur Beichte geht. Bin ich ganz ehrlich, ich weiß es nicht, weils für mich keinen Sinn macht. [...] ER is derjenige, der mir alle Sünden vergeben kann. Gott kann mirs Leben nehmen.
Aus dieser Beschreibung geht ein bestimmtes Verständnis hervor, das die Teilnehmerin mit ihrer Gebetspraktik verbindet und das von einer grundlegenden Asymmetrie der fraglichen Begegnung ausgeht (Swatos 1982: 154f.). Sophie tritt einem allmächtigen Bezugspartner gegenüber, mit dem ihr Leben in existentieller Weise verbunden ist, dem sie Dank schuldet, den sie aber auch um etwas bitten kann, der ein Mindestmaß an regelmäßiger Adressierung erwartet und dem gegenüber sie für das, was sie tut, rechenschaftspflichtig ist.14 Dass sie diese »Zwiesprache« als eine Art Beichte anlegt, markiert das Gebet einerseits als Form einer »Intimkommunikation« (Luhmann 2005), in der eine umfassende, d.h. rollenübergreifende »Selbstthematisierung« (Hahn/Kapp 1987: 7) stattfinden kann und in der Geheimhaltung weder möglich noch erforderlich ist. Andererseits erscheint es als ein Ort der Gewissenserforschung, die nötig ist, um die »bekenntnisrelevanten
14 Dies wird auch durch die »zeremoniellen Verhaltenselemente« reflektiert, in die das Gebet eingebettet ist: Ein Senken des Blickes beim Hereinkommen, das Vollziehen einer Kniebeuge, aber auch die Art und Weise des Verlassens der Kirche, bei der vermieden wird, den Rücken zuzukehren, sind Mittel eines gestischen Ausdrucks von »Ehrerbietung« (Goffman 1986: 64ff.) dem transzendenten Interaktionspartner gegenüber.
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Gegenstände« (Hahn 2005: 172f.) identifizieren und zur Sprache bringen zu können.15 Die Selektionsprobleme, die sich aus der Gewissheit ergeben, dass ihr Bezugspartner jeden möglichen Gebetsinhalt kennt, noch bevor er zur Sprache gebracht wird (»ich hab keine Ahnung, was ich dir sagen soll, du wirst schon wissen«), deuten dabei einerseits auf eine grundlegende Verbalisierungszumutung – das Gebet vollzieht sich im Medium der Sprache und verlangt Artikulation –, zeigen andererseits aber auch, dass das Gebet nicht zwangsläufig ein Ort der Übermittlung von Informationen ist. Vielmehr resultiert aus der Unterstellung dieses umfassenden Wissens in vielen Fällen (»ganz oft«) offenbar geradezu ein Verzicht auf Introspektion und Gewissenserforschung: Das Gebet reduziert sich dann auf sehr allgemeine Reuebekundungen, Danksagungen und eben die Feststellung, es müsse ja eigentlich gar nichts gesagt werden. Diese paradoxe Konstellation – es muss etwas gesagt werden, ohne dass etwas zu sagen wäre – deutet darauf hin, dass Sophies Gebet nicht zwangsläufig mit einem über sich hinausreichenden Ziel verbunden ist, sondern dass sich sein Zweck bereits in der bloßen Durchführung erschöpfen kann. Ein solches Prinzip des Betens um des Betens willen verweist grundlegend auf die Ausdrucksdimension dieser Praktik: Mit der Aufnahme des Gebets dokumentiert die Teilnehmerin bestimmte Überzeugungen, die Anerkennung bestimmter Verpflichtungen, ihre Bereitschaft, sich bestimmten Beurteilungen zu unterziehen, überhaupt eine grundlegende Einsicht in die existentielle Relevanz des Verhältnisses zu ihrem Bezugspartner. Das Gebet ist in diesem Sinne aus sich selbst heraus Glaubensbekenntnis. Dass die Teilnehmerin das Gebet als eine Verpflichtung betrachtet, die ein Minimum an Regelmäßigkeit verlangt und deren Vernachlässigung rechtfertigungsbedürftig ist, hängt eng mit diesem bekräftigenden Charakter des Gebets zusammen: Das ausbleibende Gebet ist gleichbedeutend mit einem ausbleibenden Bekenntnis. Zugleich zeigt sich hier der beziehungsstiftende bzw. -bekräftigende und performative Charakter des Gebets: Unabhängig von den übermittelten Inhalten wie Bitten oder Danksagungen aktualisiert und erneuert es die Beziehung und hält sie in Gang. Hat die Teilnehmerin ihr Gebet schließlich beendet, verharrt sie noch einen Moment an ihrem Platz:
15 Die Notwendigkeit der »Sühne« (vgl. auch Sophies Rückgriff auf das Konzept der »Sünde«) deutet hier auf grundlegende Fragen der Erlangung und Bewahrung göttlicher Gnade und damit auf die Einbindung des einzelnen Gebetsakts in eine übergreifende teleologische Struktur.
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[...] wenn ich mit dem Herrgott kommunizier=wenn ich sag ›lieber Gott‹, ähm (--) dann end ich auch mit ›Amen‹. [...] des is mein Gebet, meine Zwiesprache mit Gott. Dieses Amen (-) und was danach kommt, als Abspann, wenn ich fertiggeredet hab, is meistens, vergleichs mal mit einer großen Müdigkeit. Und dann denk ich nichts mehr. Des is faszinierend, des is die einzigste Möglichkeit, dass ich nichts denke, gar nichts. Also da kommt kein Bild, da kommt kein ämb (-) ich fühl grad so oder sonst irgendwas was man immer so hat, ja? Nichts. Da is gar nichts, ja? [...]. Und dann sitz ich da, und dann genieß ich einfach diese Ruhe, und dann merk ich auch, wie mein Körper abschaltet [...]. [...] es hat diesen starken Zustand der absoluten Ruhe und Erschöpfung gleichermaßen. [...] Des is wie eine Auszeit, [...] die ich mir nehme. Wo einfach eine Ruhe plötzlich in mir drin is, wo ich abschalten kann, wo ich nich mehr, ich denk nich nach in der Kirche. Ich hab gar keine Gedanken, sondern ich sitz einfach nur da und sitze. Bin einfach nur da.
Der Moment im Anschluss an das Gebet ist diesem Bericht zufolge wiederum durch eine bestimmte affektive Qualität gekennzeichnet, die sich bei näherer Betrachtung spiegelbildlich zur Phase der Vorbereitung verhält: Einer Unruhe in der Vorbereitung steht jetzt ein Zustand der Ruhe gegenüber, der Anspannung zu Beginn Müdigkeit und Erschöpfung, dem unkontrollierten Fluss der Gedanken die Freiheit von Gedanken, wobei der Eintritt dieses Zustands als unmittelbare Folge des erfolgreichen Vollzugs des Gebets erscheint. Auffällig ist dabei, wie auch die Bewertung der fraglichen Zustände divergiert: War die Unruhe vor Aufnahme des Gebets etwas, das es zu überwinden galt, so betrachtet die Teilnehmerin die Ruhe und das ›Abschalten‹ nach Ende des Gebet als etwas Wünschenswertes, etwas, das man ›genießen‹ kann, etwas, das mit anderen Mitteln nur schwer erreichbar ist und das offenbar aktiv gesucht wird (eine »Auszeit, die ich mir nehme«). Der hier geschilderte, meditationsähnliche Zustand (»einfach nur da« sein) lässt sich insofern begreifen als eine in das Gebet eingelagerte Gratifikation: Der Übertritt in das Gebet ermöglicht eine Distanzierung von ihrem Alltag, führt die Beterin in eine Art meditativen Zustand und gratifiziert sie so mit einer bestimmten Befindlichkeit.16 Nachdem sie im Anschluss an das Gebet eine Zeit lang im beschriebenen Zustand verblieben ist, macht sich die Teilnehmerin schließlich daran, den Ort des Gebets wieder zu verlassen.
16 Man kann annehmen, dass sich solche affektiven Gratifikationen auch auf die Motivation auswirken, eine solche Praktik überhaupt aufzunehmen (vgl. zu diesem Aspekt Reckwitz 2016: 172 sowie Shove et al. 2012: 63ff.).
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Und danach, ähm, lächele ich meistens nochmal und nicke zu. Ich nick entweder der Muttergottes zu oder [...] Jesus, [...] das is der Moment, wo ich sag, ›jetzt kann ich wieder zurück. Jetzt gehts weiter. Jetzt renn ich weiter durchs Leben und mache weiter bis (zum nächsten Mal) bis ich hierher zu dir zu Besuch komme>.‹ [...] und dann geh ich sehr bewusst aus der Bank raus, knie noch mal nieder und bekreuzige mich (oder) bekreuzige mich zum Altar hin, mit dem, also mit dem Blick, mit direktem Blick zum Altar [...], ähm, weil wir uns alle um einen Tisch immer versammeln. [...] deswegen der letzte Blick zum Altar. So dieses, dass wir alle zusammen gehören [...], dann geh ich zurück an die Tür, knie mich wieder hin, bekreuzige mich noch mal und nehm Weihwasser dazu. [...] Eigentlich mit demselben Ritual, wie ich reingekommen bin. [...] Und dann verlass ich die Kirche. Meistens lauf ich dann sogar noch=n paar Schritte rückwärts, bevor ich mich dann umdrehe und gehe. Des is für mich=ne [...] Geste einfach. Aus Respekt. Und zeig nicht den Rücken.
Die Einleitung der Schlussphase ist gekennzeichnet durch eine gezielte Lenkung der Blicke zum Altar und zu den in der Kirche befindlichen Figuren. Diese Blicke, mit denen sich Sophie lächelnd von ihren Bezugspartnern verabschiedet, bei denen sie »zu Besuch« war, mit denen sie sich aber auch der Zugehörigkeit zu ihrer Glaubensgemeinschaft erinnert, leiten, zusammen mit der Kniebeuge und der Bekreuzigung mit dem Weihwasser, das Ende ihres Besuchs und das Verlassen der Kirche ein. Mit der Kennzeichnung der Blicke als Verabschiedung und der Aussage, sie werde nun »weiter durchs Leben rennen«, wird einerseits noch einmal der außeralltägliche Charakter der Gebetsinteraktion hervorgehoben, andererseits werden die Aktivitäten spiegelbildlich zur Einleitungsphase verstehbar: Wo ähnliche, mit dem Betreten der Kirche durchgeführte Aktivitäten mit der Vorbereitung auf das Gebet und mit einem »Aufwärmen« verbunden waren, geht es nun, beim Verlassen der Kirche nach vollzogenem Gebet, um die Vorbereitung der Rückkehr in den Alltag. Mit der Einleitung dieses Übertritts wird die Gebetspraktik ihrem Abschluss zugeführt.
Zusammenfassung Die hier rekonstruierte Gebetspraktik wird verständlich als eine sich inmitten eines spezifischen materiellen Arrangements vollziehende und Elemente dieses Arrangements gezielt involvierende Abfolge aufeinander aufbauender bzw. teleologisch aufeinander hin geordneter körperlicher und mentaler Aktivitäten, die von einem Fluss von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen begleitet werden, die wiederum sich teils als hinderlich, teils als konstitutiv für den Vollzug dieser Praktik erweisen. Das Gebet folgt einem stufenförmigen Aufbau und umfasst über die
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eigentliche Gebetsinteraktion hinaus Abschnitte der Hinführung und Beendigung sowie dazwischen liegende ›liminale‹ Phasen, die mit ihren je eigenen Zwecksetzungen und Befindlichkeiten verbunden sind, die den Eintritt in das Gebet sowie den Wiedereintritt in den Alltag vorbereiten, organisieren und ermöglichen, und die deshalb als integrale Bestandteile dieser Praktik betrachtet werden können. Als wesentliche Voraussetzung für den erfolgreichen Vollzug des Gebets als einer sich auf der Ebene der Gedanken und Gefühle abspielenden Interaktion erscheint dabei die Arbeit an der eigenen Befindlichkeit: die Beobachtung des eigenen Gedankenstroms, die Evaluation des eigenen Bewusstseinszustands nach Maßstäben seiner ›Passung‹ für den bevorstehenden Vollzug und der hieran anschließende Einsatz eines Verfahrens zur Herbeiführung der erforderlichen Konzentration. Eine solche Arbeit an der eigenen Zuständlichkeit verweist auf Bedingungen, die die Teilnehmerin erfüllen muss, um in die Praktik ›hineinzufinden‹ und erfolgreich an ihr partizipieren zu können. Zustandsmanagement zu betreiben heißt in diesem Zusammenhang deshalb, sich einzustellen und sich in eine Verfassung zu bringen, die die zu vollziehende Gebetspraktik von ihrer Beterin verlangt, diejenigen Zustände zu beseitigen oder zu modifizieren, die dem Vollzug im Wege stehen, und diejenigen Zustände herbeizuführen, die hierfür erforderlich sind. Dabei sind die Anforderungen, die diese Praktik an ihre Teilnehmerin stellt, nicht unabhängig von der Art und Weise, wie diese ihre Praktik anlegt und versteht: So betrachtet Sophie ihr Gebet etwa als einen ›Austausch‹ – und nicht etwa als ein einseitiges Sprechen, von dem sie dann nur hoffen kann, dass es seinen Adressaten schon irgendwie erreichen wird. Einer solchen Anlage entsprechend hat sie ihren eigenen Standard im Hinblick auf die Gelingensbedingungen der Gebetspraktik entwickelt: Sie weiß, in welcher Verfassung sie sein muss, damit die Aufnahme des Gebets gelingt, und kann auf dieser Grundlage überprüfen, ob sie die Bedingungen für den erfolgreichen Vollzug ihrer Version einer Gebetspraktik erfüllt oder nicht. Dabei verweist der Verlauf von negativ zu positiv bewerteten Gefühlszuständen – von Unruhe über Ärger zu Ruhe und Ausgeglichenheit – auf die affektive Architektur dieser Praktik: Das Gebet stellt nicht nur mehr oder weniger hohe Anforderungen an die Beterin, sondern hält auch affektive Gratifikationen für sie bereit. Beginn, Durchführung und Beendigung dieser durch klare Start- und Endpunkte markierten Gebetspraktik stützen sich dabei auf den kompetenten Einbezug einzelner Objekte des Kirchenraums, die so gemeinsam die ›materielle Infrastruktur‹ dieser Praktik bilden. In das organisatorische Gefüge dieser Praktik einzutreten, heißt zugleich, in ein spezifisches materielles Arrangement einzutreten und Handlungen zu vollziehen, die in diesem Arrangement situiert sind, die bestimmte Elemente dieses Arrangements involvieren, sich auf sie stützen, durch sie
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ermöglicht werden und die insofern ›interobjektive‹ Handlungen sind. Der Raum der Kirche wird so verstehbar als ein Set miteinander verbundener activity-places, an denen sich diese interobjektiven Handlungen vollziehen und die den praktischen Ablauf ordnen und strukturieren. Dabei wird die Rolle der Dinge vor allem im Hinblick auf das Management von Lebenszuständen verständlich: Der Übergang von der Welt des Alltags in die außeralltägliche Sphäre des Gebets vollzieht sich über eine Abfolge von Berührungsakten und symbolischen Gesten, in die einzelne Elemente des Kirchenraums – Tür, Weihwasserbecken und Weihwasser, Kirchenbank, Kniebank, Figuren – einbezogen werden, die maßgeblich auf Wirkungen gerichtet sind, die sich ›im Inneren‹ der Teilnehmerin ereignen sollen und die so dabei helfen, den Eintritt in das Gebet zu ermöglichen. Die teleo-affektive Struktur dieser Praktik als eine Ordnung von Lebenszuständen und die materielle Infrastruktur der Praktik sind eng miteinander verschränkt.
Die Rosenkranzandacht
Wie man den Rosenkranz betet Im Gegensatz zum offenen Gebet, in dem sich eine Beterin in freier Form an ihren Bezugspartner wendet, handelt es sich beim Rosenkranzgebet um eine standardisierte Gebetsform. Der Rosenkranz, eines der am weitesten verbreiteten Gebete der römisch-katholischen Tradition, verbindet ein marianisches Bittgebet mit Betrachtungen von Ereignissen aus dem Leben Jesu und setzt sich aus einzelnen, zu einer feststehenden Abfolge hintereinander gereihten Gebeten zusammen.1 Diese
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Ausbreitung und Popularisierung der heute weltweit verbreiteten Andachtsform wurden vor allem durch den Dominikanerorden unterstützt: Eigens für seine Förderung gründeten die Dominikaner im 15. Jahrhundert sogenannte Rosenkranzbruderschaften, in denen man sich zur wöchentlichen Durchführung einer bestimmten Anzahl von Rosenkranzgebeten verpflichtete (Jäger/Kruse 2013: 104), und die sich als »wirksamste(s) Vehikel« (Kroiß/Kroiß 2010: 37) einer Proliferation dieser Gebetsform erwiesen. Zur Verbreitung trug aber auch bei, dass die Päpste die Absolvierung des Gebets mit der Gewährung von Ablässen verbanden. Während das Gebet damit aufgewertet wurde, konnte die Kirche auf diese Weise zugleich seine Durchführung regulieren: Nur die korrekte Durchführung in der vorgeschriebenen Form führte zur Gewährung des Ablasses (ebd.: 17). Die Ausbreitung dieser Andachtspraktik beruhte also darauf, dass sie Träger fand – in diesem Fall religiöse Experten und Autoritäten –, die als Anwälte und Förderer dieser Praktik auftraten, ihre Verbreitung mittels gezielter Maßnahmen beförderten und so die Wahrscheinlichkeit für die Rekrutierung neuer Teilnehmer erhöhten. Eine Maßnahme wie die Verbindung dieser Andachtsform mit einer Ablassgewährung stellt dabei eine gezielte Einflussnahme auf die Organisation dieser Praktik dar, insofern durch das Versprechen, bei korrekter Durchführung entfalteten sich gewisse Gnadenwirkungen, die teleologische (und möglicherweise auch die affektive) Struktur dieser Praktik umgebaut wird: Das Gebet wird dann zu einem Instrument für die unmittelbare
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durch starke Repetitivität gekennzeichnete Andachtsform wird mithilfe einer Gebetskette durchgeführt, mit deren Hilfe man durch die verhältnismäßig komplizierte Struktur des Gebets geleitet wird.2 Ein Rosenkranz besteht aus einer Schnur oder Kette mit fünfzig Perlen, die von vier größeren Perlen in Zehnergruppen oder »Dekaden« aufgeteilt werden, und einer kleineren Schnur mit fünf weiteren Perlen, an deren Ende ein Kreuzanhänger befestigt ist. Jeder dieser Perlen ist eine eigene Gebetsformel zugeordnet (s. Abb. 1).
Abb. 1: Anleitung zum Rosenkranzgebet (nach Tibi 2009: 30, eigene Abb.). (1) Apostolisches Glaubensbekenntnis; (2) Vater Unser; (3) drei Ave Maria mit angefügten Bitten um Glauben, Hoffnung und Liebe; (4) Ehre sei dem Vater, Vater Unser; (5) zehn Ave Maria; (6) Ehre sei dem Vater, Vater Unser
Die Gebetskette wird dabei so in der Hand gehalten, dass jeweils eine der Perlen zwischen Daumen und Zeigefinger liegt, während das dieser Perle zugeordnete Gebet laut oder ›im Geiste‹ gesprochen wird. Indem die Daumenspitze von einer Perle zur nächsten wandert, arbeitet man sich sukzessive durch das Gebet vor, während die Kette nach und nach durch die Hand gleitet. Man beginnt mit dem Kreuzzeichen, bei dem die Finger der rechten Hand von der Stirn zur Brust und
Erlangung von Gnadenwirkungen, für die Teilnehmer wird »die positive Wirkung des Gebets berechenbar« (Jäger/Kruse 2013: 105). Die Förderung der Verbreitung des Rosenkranzgebets erfolgt hier also, wie man sagen kann, über eine gezielte Manipulation der Organisation dieser Praktik. 2
Die Bezeichnung von Gebet und Gebetskette ist deckungsgleich, worin sich zugleich die enge Verbindung zwischen Praktik und Artefakt ausdrückt. – Die Verbreitung des Gebets zeigt sich auch darin, dass der Rosenkranz wohl eines der bekanntesten Elemente römisch-katholischer materieller Kultur darstellt.
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dann zur linken und rechten Schulter geführt werden (Tibi 2009: 29).3 Daraufhin ergreift man den Kreuzanhänger und spricht das Apostolische Glaubensbekenntnis, wandert weiter zur ersten Pater Noster-Perle und spricht das Vater Unser, erreicht dann die drei Ave Maria-Perlen – wobei an dieser Stelle jedes der drei Ave Maria eine spezifische Ergänzung erhält –, bevor ein Ehre sei dem Vater bei der nächsten großen Perle den einleitenden Teil abschließt und zum ersten der fünf »Gesätze« überleitet. Ein Gesätz beginnt mit dem Vater Unser und wird fortgeführt mit zehn Ave Maria, bis man bei der nächsten größeren Pater Noster-Perle angekommen ist, an der ein Ehre sei dem Vater das Gesätz abschließt und an der man zugleich mit einem weiteren Vater Unser das nächste Gesätz beginnt.4 Ergänzt werden die Ave Maria-Gebete um die sogenannten »Geheimnisse«, bei denen es sich technisch betrachtet um kurze Sätze handelt, die sich um zentrale Ereignisse aus dem Leben Jesu drehen und die gewissermaßen das Evangelium in komprimierter Form enthalten. Diese Sätze sind zu vier thematisch geordneten Kategorien gruppiert, die bestimmte Ereignisse aus den Evangelienberichten rekapitulieren und jeweils fünf dieser Geheimnisse enthalten: Die »freudenreichen Geheimnisse«, die sich um die Menschwerdung Jesu, genauer: seine Geburt und
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Begleitet wird das Kreuzzeichen von der Formel »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«. – Den genauen Wortlaut der einzelnen Gebete nenne ich im Folgenden nur dort, wo es für das Verständnis der erläuterten Zusammenhänge erforderlich erscheint.
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Gebetsketten wie der Rosenkranz sind über verschiedene religiöse Traditionen hinweg verbreitet und haben ihren Ursprung vermutlich in Indien und im Hinduismus. Im Christentum wird schon für die Frühzeit eine Technik des Zählens von Gebeten mithilfe von Steinchen erwähnt, als Vorläufer im engeren Sinne werden aber geknotete Gebetsschnüre genannt, deren Knoten später durch andere Materialien ersetzt wurden. Der eigentliche Ursprung der heutigen Form des Rosenkranzes liegt etwa im 13. Jahrhundert, wobei sich hier zunächst zahlreiche Varianten des Gebets (Kirfel 1949: 8ff., 62ff.) wie auch der Gestaltung der Kette herausgebildet haben: Die Perlen konnten (und können noch heute) einfach oder prachtvoll gestaltet sein und etwa aus Holz, Bernstein, Messing, Glas, Kristall, Silber oder Gold gefertigt werden; und als Anhänger konnten anstelle eines Kruzifixes auch andere Artefakte wie Wallfahrtsmedaillen oder Reliquienkapseln (Kroiß/Kroiß 2010: 21f.) dienen, in anderen Fällen auch eine kostbar gestaltete »Betnuss« oder auch ein Totenkopf aus Elfenbein als Memento Mori-Symbol (Jäger/Kruse 2013: 105ff.). – Für die Verbreitung und Praxis des Rosenkranzgebets in historischer Perspektive vgl. Winston-Allen 1997 sowie Galandra Cooper/Laven 2017. Was die Form des Gebets angeht, so ist diese seit 1569 durch Pius V. verbindlich festgelegt (Heinz 2009: 1303ff.).
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Kindheit, drehen; die »lichtreichen Geheimnisse«, die das öffentliche Wirken Jesu thematisieren;5 die »schmerzhaften Geheimnisse«, in denen die Passion, also das Leiden und Sterben Jesu betrachtet werden; und schließlich die »glorreichen Geheimnisse«, die die Erhöhung Jesu, also seine Auferstehung und Himmelfahrt, aber auch die Aufnahme Mariens in den Himmel zum Gegenstand haben. Dabei wird in einem Rosenkranzgebet immer nur eine Gruppe von Geheimnissen betrachtet, so dass man sich vor Beginn für einen der vier »Rosenkranzzyklen« entscheidet.6 Sollen etwa die schmerzhaften Geheimnisse betrachtet werden, so werden die zugehörigen fünf Geheimnisse auf die fünf Gesätze des Rosenkranzes verteilt.7 Man betet dann im ersten Gesätz das erste Geheimnis, im zweiten das zweite etc. Die Geheimnisse werden jeweils als Relativsatz in das Gegrüßet seist du, Maria eingeflochten, das dann beispielsweise im vierten Gesätz lautet: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
Da jedes Gesätz zehn Ave Maria-Gebete beinhaltet, wird jedes der fünf Geheimnisse zehnmal gebetet.
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Die lichtreichen Geheimnisse sind ein noch sehr junger Bestandteil dieser Andachtspraktik. Sie wurden erst 2002 durch Papst Johannes Paul II. hinzugefügt (Tibi 2009: 52).
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Für den kirchlichen Gebrauch ist dies durch eine klare Zuordnung der Rosenkranzzyklen zu Wochentagen festgelegt: Demnach werden die freudenreichen Geheimnisse am Montag und Samstag betrachtet, die lichtreichen Geheimnisse am Donnerstag, die schmerzhaften Geheimnisse am Dienstag und Freitag und die glorreichen Geheimnisse am Mittwoch und Sonntag.
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Die schmerzhaften Geheimnisse, auf die ich im Folgenden näher eingehe, lauten im Einzelnen: 1. Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat; 2. Jesus, der für uns gegeißelt worden ist; 3. Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist; 4. Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat; 5. Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist.
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Die Betrachtung der ›Geheimnisse‹: Eine Technik zur Evokation von Imaginationen Den Geheimnissen kommt beim Rosenkranzgebet zentrale Bedeutung zu: Sie sind nicht nur Gebetsformeln, sondern bilden den Ausgangspunkt einer geordneten und planmäßigen Kontemplation, bei der es darum geht, sich die mit einem Geheimnis verbundenen Szenen des Lebens Jesu, wie sie in den Evangelien berichtet werden, vor Augen zu stellen und sie auf diese Weise zu vertiefen. Verbunden ist dies mit der Herbeiführung einer meditativen Stimmung, die vor allem aus der repetitiven Anlage des Gebets resultiert. Eine Teilnehmerin erläutert diesen Aspekt: TC: Was heißt in dem Zusammenhang eigentlich ›betrachten‹? Also heißt das, dass man sich auch Dinge vorstellt in dem Moment? Und was heißt Meditation jetzt in dem Zusammenhang? T:
Also Meditation is in dem Fall glaub ich eher so die Stimmung, also einfach durch
dieses viele Wiederholen, ›gegrüßet seist du, Maria‹. Also man betrachtet ja eine Lebenssequenz im Leben Jesu, äh ja, zehn Mal, weil man das ja zehnmal wiederholt und so, und durch dieses, ja Geleier, will ich mal sagen >, kommt man da halt schon in so=ne meditative Stimmung, in so=ne Endlosschleife irgendwie rein, und ähm (-) und dieses Betrachten, da stell ich mir schon wirklich so vor, also ich stell mir, da bin dann wie in so=ner Geschichte irgendwie, als ob ich nochmal so=ne Geschichte Revue passieren lasse, und da einfach draufgucke, so=n bisschen, genau.
Die Beschreibung gibt einen Hinweis auf die Rolle der Repetitivität im Rahmen dieser Andachtsform. Die Gleichförmigkeit und Monotonie, die mit der kontinuierlichen Wiederholung des Ave Maria einhergeht, entfaltet demzufolge eine bestimmte Wirkung in Bezug auf die Geisteshaltung der Beterin: Die Teilnehmerin begibt sich in eine »Endlosschleife« und damit in eine Stimmung, die sie als »meditativ« kennzeichnet. Ganz ähnlich wie in der zuvor rekonstruierten Gebetspraktik hat man es hier also mit einer Modifikation von Bewusstseinszuständen zu tun. Im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel wird diese Zustandsveränderung aber nicht durch Techniken der Einstimmung hervorgebracht, die mehr oder weniger ›in Eigenregie‹ erprobt und etabliert und dann im Vorfeld des Gebets zur Anwendung gebracht würden, sondern sie ergibt sich aus dem Vollzug des Gebets selbst. Gleichwohl scheint das Herbeiführen eines meditativen Zustands auch in diesem Fall kein Selbstzweck zu sein, sondern eine Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung dessen, was den eigentlichen Kern dieser Andachtsform ausmacht: der Betrachtung der Geheimnisse, die hier als eine imaginative Rekapitulation einzelner Sequenzen aus dem Leben Jesu beschrieben wird. Repetition und
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Kontemplation erscheinen hier eng miteinander verbunden. Dabei changiert die Teilnehmerin in ihrer Beschreibung zwischen ›in der Geschichte sein‹ und ›auf die Geschichte schauen‹. Sie präzisiert diesen Punkt weiter: T:
Also ich stell mir das dann schon so vor, also wenn das dann heißt, oder auch,
schmerzhafter Rosenkranz, ›Jesus, der für uns gegeißelt worden ist‹, dann stell ich mir das schon so vor, also ich guck dann schon dieses Bild an, gedanklich, genau, [...] ich stell mir dann schon dieses Bild vor, genau. Und auch schon so die Grausamkeit, wie das war, und ähm (-) auch als Erinnerung, äh ja, weshalb wir eigentlich Christen sind oder so, genau. TC: Also man versucht sich dann auch reinzuversetzen? T:
Ja genau. Mh genau. Also ich versuch mich jetzt nicht reinzuversetzen in Jesus,
was der da gefühlt hat, als er gegeißelt worden is, ich gucke da schon als Außenstehender auf die Szene, aber ja halt, ich denk dann halt schon so mit Schrecken irgendwie dadran, was das für=ne schlimme Szene ist, wie demütigend das ist, ähm oder war, das stell ich mir schon so vor.
Korrespondierend mit dem Inhalt eines jeweiligen Geheimnisses stellt sich die Beterin also ein »Bild« vor das ›innere Auge‹, um sich die mit ihm verbundene Szene zu vergegenwärtigen. Im vorliegenden Fall stellt sich die Beterin die Geißelung vor, eine Szene der Misshandlung durch römische Soldaten, versetzt sich dabei aber nicht in die Person Jesu, sondern beobachtet das Geschehen gewissermaßen aus der Außenperspektive.8 ›Betrachten‹ beschränkt sich dabei aber offenbar nicht auf einen solchen Akt der Imagination, sondern umfasst auch ein ›Nachempfinden‹ dieser Szene, die als »grausam«, »schlimm« und »demütigend« beschrieben und an die »mit Schrecken« gedacht wird. Für die Beterin sind diese Bilder also mit spezifischen Emotionen konnotiert, deren Wachrufen als ein wesentlicher Bestandteil dieser Kontemplationstechnik erscheint: Die Evokation der
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Obwohl die konkrete Ausgestaltung dieser inneren Bilder sicher stark variiert, spricht einiges dafür, dass sie sich aus einem Reservoir tradierter Darstellungen speisen oder sich zumindest hieran orientieren. Sie erscheinen insofern ihrerseits als mit hervorgebracht bzw. informiert durch religiöse materielle Kultur (so etwa durch Passionsdarstellungen in der Kunst, vgl. Harries 2004), aber auch durch filmische Darstellungen. Ein Teilnehmer (vgl. Kap. 6) berichtete davon, gezielt auf Bilder aus dem Hollywood-Passionsspektakel Passion of Christ zurückzugreifen, an die er sich noch erinnerte. Dies ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie solche Bilder einerseits die imaginativen Aktivitäten dieser Praktik informieren, andererseits auf diese Weise angeeignet und reproduziert werden.
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Bilder geht einher mit der Evokation damit verbundener affektiver Gehalte. Der Rosenkranz lässt sich damit als Verfahren zur Erreichung »emotionale[r] Gotteserfahrung« (Schulze 2003: 211) begreifen.9 Dabei unterscheiden sich die einzelnen Geheimnisse – wie sich das bereits in der Bezeichnung der Geheimnisse als »freudenreich«, »schmerzhaft« etc. widerspiegelt – im Hinblick auf ihre jeweilige emotionale Färbung. TC: Das heißt es gibt dann auch einen emotionalen Unterschied zwischen den schmerzhaften und jetzt den freudenreichen Geheimnissen? T:
Ja, auf jeden Fall, genau. Also ich würde jetzt auch (-) es kommt auch drauf an,
zum Beispiel würd ich jetz eher den schmerzhaften beten, wenn ich da gedanklich vielleicht, wenn ich den für jemanden bete, der auch wirklich gerade krank ist oder leidet
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Schulze beschreibt die emotionale Gotteserfahrung als zentrales Kennzeichen des spätmittelalterlichen geistlichen Diskurses und als wesentliches Element bestimmter religiöser Praktiken genauer: »Sie rückt das Transzendente, das Heilige, an den Menschen heran, versinnlicht es gleichsam, indem Gott nicht mehr nur erhöht und abgerückt im Gegenüber gedacht wird, sondern im affektiven Nachvollzug markanter Phasen des Erdenlebens Christi erfassbar erscheint. Es handelt sich um eine ›neue‹ Grundstruktur des ›Gotteserlebnisses‹ und der Begegnung mit dem Heiligen, die durch unterschiedliche Übungen (Gebet und Meditation, Bildbetrachtung, Hören von Predigten, von Gesängen, Anschauen von Spielen u.a.) praktiziert werden kann« (Schulze 2003: 211f., Herv. T. C.). Dem Leiden kommt dabei eine besondere Stellung zu: »Das Leiden erscheint als der wesentliche Kontaktbereich für den Menschen, um Gott in Christus zu begegnen [...]« (ebd.). So ist denn auch die Vergegenwärtigung der Leiden Christi (zur Bedeutung des Leidens im Katholizismus vgl. etwa Orsi 2005: 19ff.; Kane 2002) spätestens seit dem Mittelalter ein wichtiger Bestandteil christlicher Erinnerungskultur. Dies ist eng verbunden mit einem spezifischen Verständnis der Imitatio Christi, wie sie sich mit einer im Hochmittelalter erfolgenden Verschiebung der Konzentration auf den leidenden Körper Christi ergibt und die dann weniger im Sinne einer bestimmten Lebensführung, sondern als Nachvollzug der Leiden Christi verstanden wird. Die Bedeutung der Schmerzen liegt dabei im stellvertretenden Opfertod begründet: Die Schmerzen Christi bedeuten eine Abwendung »jenseitige[r] Schmerzen der Gläubigen« (Schmidt-Hannisa 2005), und sich dieser Schmerzen zu erinnern, erscheint dann als ein Weg zur Teilhabe (vgl. Mertens Fleury 2006: 15). Dies kann durch Nachvollzug am eigenen Körper geschehen wie in Praktiken der Buße und Askese, oder, in extremen Fällen, der Selbststigmatisierung und Selbstkreuzigung (ebd.; vgl. zu diesem letzten Aspekt auch Bräunlein 2010, Daxelmüller 2001). Demgegenüber handelt es sich bei den Vergegenwärtigungstechniken des Rosenkranzes um eine geistige Form der Compassio.
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oder so. Wohingegen ich den freudenreichen bete, wenn ich vielleicht für irgendwas dankbar bin oder so, also ich man ist nicht für jedes Anliegen, bin ich in der Stimmung jetz unbedingt den schmerzhaften Rosenkranz zu beten, weils einfach nicht so passt von der, von der Betrachtung der Bilder, ja. Genau.
Die unterschiedliche affektive Aufladung der Geheimnisse, die sich aus der Unterteilung der Biografie Jesu in thematisch gegliederte Episoden ergibt – angefangen von der Verkündigung seiner Geburt, über Ereignisse in seiner Kindheit und Jugend, das Vollbringen von Wundertaten, bis hin zu Passion, Wiederauferstehung und Himmelfahrt –, wird für die Beterin zu einem maßgeblichen Kriterium bei der Entscheidung zwischen den Rosenkranzzyklen. Die mit einem Zyklus einhergehenden Inhalte, emotionalen Gehalte und Stimmungen müssen demzufolge mit einer jeweiligen Gebetsintention korrespondieren: Mit Krankheit und Leid verbundene Fürbitten korrespondieren mit den schmerzhaften Geheimnissen, Dankesgebete eher mit den freudenreichen. Über diese thematische Übereinstimmung hinaus entscheidet die Teilnehmerin, die für den schmerzhaften Rosenkranz mit seinen herausfordernden Bildern und Gefühlen nicht immer »in der Stimmung« ist, aber auch auf Basis ihrer momentanen Befindlichkeit. Eine solche Beurteilung der ›Passung‹ eines Rosenkranzzyklus nach Maßgabe seines jeweiligen affektiven Gehalts verweist darauf, wie stark die Andachtsform von dieser Komponente geprägt ist. Die verschiedenen Zyklen halten also unterschiedliche Sets an Stimmungen und Gefühlen bereit, deren jeweilige Färbung mit darüber entscheidet, ob ein Zyklus gebetet wird oder nicht. Was aber leistet Affektivität im Rahmen dieser Praktik? [...] man neigt halt schon, weil des is ja schon irgendwie sehr lange her, sehr abstrakt, und (-) ja-a, es wird auch grad nicht mehr als manchmal so als besonders wahrgenommen, aber wenn man sich, wenn man jetzt gläubiger Christ ist, und macht sich halt wirklich klar, dass Jesus den Leidensweg für unsere Sünden gegangen ist, und wirklich geLITTEN hat, gestorben ist für uns, dass wir erlöst sind, also man nimmt das, ähm (-) also=ne gewisse Dankbarkeit, die man dann hat, ich jetzt und ähm ja, es macht mir halt nochmal dieses gro- oder im Prinzip diese Liebe Gottes halt noch mal bewusst, was er für uns getan hat.
Die Beschreibung gibt einen Hinweis auf tiefer liegende, mit der Durchführung dieser Andachtsform verbundene Zielsetzungen. Die Teilnehmerin problematisiert einen Bezugsverlust zu den Ereignissen um das Leben und Sterben Christi, deren Bedeutung heute nicht mehr ohne Weiteres verstanden werde. Die Betrach-
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tung der Geheimnisse erscheint als Antwort auf dieses Problem, indem sie es ermöglicht, sich der fraglichen Ereignisse nicht nur zu erinnern, sondern sie auch emotional nachzuvollziehen und sich auf diese Weise ihre grundlegende Bedeutung zu erschließen: Man macht sich dann nicht nur »wirklich klar«, dass Jesus einen »Leidensweg« gegangen ist, sondern auch wie er ihn gegangen ist (wie er »wirklich gelitten« hat) und warum er ihn gegangen ist (»für unsere Sünden«, »dass wir erlöst sind«). Man taucht in die Geschichte ein, lotet sie im Hinblick auf ihre affektiven Qualitäten aus, vollzieht und erlebt sie nach, und erschließt sich auf diese Weise ihren tieferliegenden Sinn, ihre heilsgeschichtliche Bedeutung, den Zusammenhang, den sie zwischen Sünde, Opfertod und Erlösungsversprechen herstellt: Man erinnert sich auf diese Weise, wie es die Teilnehmerin ausdrückt, »weshalb wir eigentlich Christen sind«. Die Praktik des Rosenkranzgebets als eine geregelte Aufeinanderfolge von Gebetsformeln und affektiv konnotierten Bildern lässt sich so gesehen als eine Technik begreifen, mithilfe derer Kernereignisse des christlichen Narrativs auf der Ebene der Vorstellungen und Gefühle verfügbar gemacht werden. Die Rosenkranzandacht hält damit einen Erfahrungsraum bereit, in den Betende ›eintreten‹ können und auch sollen.10 Das Gebet ist angelegt als ein Eintauchen in eine Geschichte, die lebendig werden, emotional nachvollzogen und so in die persönliche
10 Die Päpste als institutionell legitimierte Hüter dieser Andachtspraktik haben sich immer wieder zu diesem Punkt eingelassen. Demnach erscheint ein rein mechanisches ›Aufsagen‹ – ein »Lippengebet« (Johannes XXIII. 1962: 2f.) – als eine reduzierte und ungenügende Form der Durchführung, die den Sinn, aber auch das Potential dieser auf Verinnerlichung abzielenden Praktik nicht auszuschöpfen vermag (vgl. ebd.). »Ohne Betrachtung ist der Rosenkranz ein Leib ohne Seele, und das Gebet läuft Gefahr, zu einer mechanischen Wiederholung von Formeln zu werden, ganz im Widerspruch zur Mahnung Jesu: ›Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen‹ (Mt 6, 7)« (Paul VI. 1974). Das kontemplative Gebet hingegen »befähigt«, seinen richtigen Vollzug vorausgesetzt, »immer mehr [...] zur Betrachtung der göttlichen und menschlichen Natur Christi« (Pius XII. 1948: 97), es »versetzt uns ganz natürlich in das Leben Christi und erlaubt uns gleichsam, seine Empfindungen nachzuvollziehen« (Johannes Paul II. 2002: 16). Ein solcher, offenbar auf Regelmäßigkeit angelegter Nachvollzug zielt auf ein vertieftes Glaubensverständnis ab: »Das Betrachten Mariens ist in erster Linie ein Erinnern. [...] sich in der Haltung des Glaubens und der Liebe daran ›erinnern‹, heißt, sich der Gnade öffnen, die Christus uns in den Geheimnissen seines Lebens, seines Todes und seiner Auferstehung erworben hat« (ebd.: 14, Herv. im Orig.). Die teleo-affektive Struktur eines ›betrachtenden Betens‹ ist damit ganz anders gebaut als die eines ›aufsagenden Betens‹, das den
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Erfahrungswelt der Betenden transportiert werden soll. Das Betrachten der Geheimnisse als Kontemplation zentraler religiöser Gehalte erscheint so als Vergegenwärtigungs- und Aktualisierungsarbeit, als imaginativ-affektive Rekapitulation einzelner Szenen eines zusammenhängenden Ganzen und als Technik religiöser Selbsterinnerung und Selbstvergewisserung.11 Die geregelte und zielgerichtete Evokation von Imaginationen und Emotionen stellt damit ein wesentliches Kennzeichen der teleo-affektiven Organisation dieser Andachtspraktik dar.
Navigationshilfe und Gebetsregistratur: Die Leistung der Gebetskette Es wurde schon deutlich, dass der Eintritt in einen meditativen Zustand eine Voraussetzung für die Betrachtung der Geheimnisse ist oder diese Aktivität der Kontemplation zumindest begünstigt. Die Gebetskette ist dabei maßgeblich daran beteiligt, die Versenkung ins Gebet zu ermöglichen. Da [ohne den Rosenkranz, T.C.] würd ich manchmal zwölf beten [...] also wenn man nich- keine irgendwie Orientierungshilfe hat, dann betet man dann mal acht, mal zwölf, also man (-) da kommt man ja völlig aus dem Rhythmus, und das is schon hilfreich, wenn man einfach dieses, diese Struktur hat. [...] und dieses mit den Perlen gehn, das macht man ja auch irgendwie so automatisch dann mit irgendwie, und äh-h dann, ja das läuft dann so nebenher, man weiß dann, wo man ist, aber kann trotzdem glaub ich=n bisschen ähm ja (ich find) besser beim Gebet bleiben [...].
Die komplizierte Struktur des Rosenkranzes mit seinen vielen Wiederholungen und seiner strengen Taktung erfordert es, die Anzahl der absolvierten Gebete stets im Blick zu behalten, um den jeweils folgenden Gebetsschritt antizipieren zu kön-
Erfordernissen einer korrekten Durchführung in einer solchen Sicht nicht genügt. Sich die mit den Geheimnissen verbundenen Bilder vor Augen zu führen, sich ihrer zu erinnern, sich hineinzuvertiefen und sie nachzuempfinden, wird so zu einem elementaren und normativen Bestandteil dieser Andachtspraktik erklärt: Wenn sie als korrekt durchgeführt gelten soll, kann auf die Kontemplation nicht verzichtet werden. 11 Der Rosenkranz lässt sich insofern begreifen als eine Mnemotechnik, wie sie die christliche Erinnerungskultur in vielfältiger Weise hervorgebracht hat (Schmidt-Hannisa 2005: 69).
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nen. Die Notwendigkeit des Zählens ergibt sich dabei vor allem innerhalb der Gesätze: Während nämlich das aktuell betrachtete Geheimnis einen klaren Hinweis darauf liefert, ob man sich gerade etwa im dritten oder vierten Gesätz befindet, gibt es innerhalb eines Gesätzes keine solche Variation, die etwaige Rückschlüsse erlauben würde. Nach einigen Wiederholungen des Ave Maria mit dem jeweiligen Geheimnis verliert man tendenziell die Orientierung und absolviert dann unter Umständen zu viele oder zu wenige Gebete. Will man nicht »völlig aus dem Rhythmus« kommen, ist man deshalb gezwungen, die absolvierten Gebete kontinuierlich mitzuzählen. Dabei scheint es allerdings ein Vereinbarkeitsproblem im Hinblick auf die beiden Aktivitäten zu geben, die diese Gebetspraktik maßgeblich konstituieren: Beten (hier verstanden als Beten-in-Versenkung) und Zählen sind zwei grundlegend unterschiedliche kognitive Operationen, die offenbar nicht gut synchron ausgeübt werden können. Während das Beten verlangt, sich in das Gebet zu vertiefen, Bilder vor dem ›inneren Auge‹ entstehen zu lassen und diese auch emotional nachzuvollziehen, verlangt es das Zählen, aus dem Gebet herauszutreten und es als eine zählbare Einheit zu objektivieren. Gefordert wäre gewissermaßen ein dauerndes Oszillieren zwischen Innen und Außen, zwischen der Betrachtung der Geheimnisse und der Beobachtung des eigenen Betens: Die Beterin müsste gewissermaßen in das Gebet eintauchen und sich gleichzeitig dabei beobachten. Der Rosenkranz bietet für dieses praktische Dilemma eine Lösung, indem er es erlaubt, die einfachere der beiden Aktivitäten in eine körperliche Operation zu transformieren. Er ermöglicht es, die Aktivität des Zählens an den Daumen zu delegieren, der sich Stück für Stück vorarbeitet, bis er an einer der fünf Pater Noster-Perlen angekommen ist, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit (Größe, Material, bestimmte Gravuren etc.) und ihrer Position auf der Kette (sie sind meist in einem gewissen Abstand zur Zehnerreihe auf der Kette aufgespannt) leicht identifiziert werden können. Der haptische Eindruck dient dann als Signal, die Wiederholungsreihe zu unterbrechen und das jeweilige Gesätz zu beenden. Alles, was die Beterin tun muss, ist, den Daumen nach jedem Gebet eine Perle vorwärts wandern zu lassen, was sich verhältnismäßig leicht automatisieren lässt und nur wenig Aufmerksamkeit erfordert. Das ›Mit-den-Perlen-Gehen‹ erfolgt dann »irgendwie so automatisch«, »läuft [...] so nebenher«: Als ein einfacher Speicher von Gebetsformeln – jeder Perle ist ein Gebet zugeordnet, das durch ihre Berührung evoziert wird – führt die Gebetskette ihre Nutzerin durch die komplizierte Struktur der Rosenkranzandacht und dient so als Navigationshilfe. Mit der Delegation des Zählens an den Körper wird andererseits eine kognitive Entlastung erreicht, die es erlaubt, die Kapazitäten zugunsten der Versenkung in das Gebet zu bündeln: Man weiß dann zwar, »wo man ist, aber kann trotzdem [...] besser
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beim Gebet bleiben«. Dabei lässt sich eine solche Entlastung durchaus auch ohne Zuhilfenahme einer Gebetskette erreichen:12 [...] ja manche können das schon, die zählen halt dann mit den Fingern [...], des macht zum Beispiel unser Pfarrer dann auch [...], also der zählt denn mit=n Fingern so mit beim Beten, das is für mich dann, das is für mich komisch irgendwie. A- weil das für mich dann nich diese Runde irgendwie hat [...].
Bei diesem Vorgehen übernehmen die Finger die registrierende Funktion der Perlen: Man zählt die Gebete mit, indem man nach jedem Ave Maria einen Finger ausstreckt und stehen lässt, dann den nächsten und so weiter. Hat man die Zehnerreihe absolviert, klappt man die Finger wieder ein und fängt von vorne an, womit man das Orientierungsproblem allerdings verlagert: Ging es vorher um die Orientierung innerhalb eines Gesätzes, stellt sich nun die Frage, wie man wissen soll, bei welchem der fünf Gesätze man gerade angelangt ist. Das Problem bei dieser Technik scheint also ihre mangelnde Kapazität zu sein, die absolvierten Gebete dauerhaft zu registrieren. Dieses Defizit lässt sich zwar durch die Orientierung an den Geheimnissen kompensieren – ist man etwa beim vierten Geheimnis angekommen, befindet man sich in der vierten Dekade –, doch absolviert man so nicht »diese Runde«, wie das mithilfe der Gebetskette möglich ist, man könnte auch sagen: Es wird auf diese Weise keine vollständige Entlastung der Aufmerksamkeit erreicht. Die Gebetskette ermöglicht es demgegenüber, die Zahl der absolvierten Gebete auch dann zu registrieren und festzuhalten, wenn sie die zehn überschritten hat: Sie dient dann nicht nur als Zählhilfe, sondern auch als (Gebets-)Registratur. Als Navigationshilfe bei der Bewegung durch das Gebet und als Evokator von Gebetsformeln ist das Artefakt in zweifacher Weise Träger der teleo-affektiven Struktur dieser Gebetspraktik. Erstens ist die Abfolge von Einzelgebeten, der an sie gekoppelten imaginativen Aktivitäten und der mit ihnen assoziierten emotionalen Gehalte in die Gebetskette eingeschrieben.13 Mit der Kette richtig umzugehen, heißt dann, sie nach und nach durch die Hände gleiten zu lassen und sich
12 Zwar ist das Beten mithilfe der Kette weit verbreitet, ihr Gebrauch ist kirchlicherseits aber freigestellt (Heinz 2009: 1303f.). 13 Zur Idee der Inskription von »Handlungsprogrammen« oder Handlungsimperativen in die physische Gestalt eines Artefakts vgl. Latour 2006; Latour/Akrich 2006. Es handelt sich in dem hier besprochenen Fall um ein verhältnismäßig ›schwaches‹ Handlungsprogramm: Im Gegensatz zu Artefakten, die ihren Nutzern das in sie eingeschriebene Handlungsprogramm qua physischer Beschaffenheit mehr oder weniger aufzwingen (verkehrsberuhigende Bodenschwellen, die zum langsamen Fahren zwingen; Schlüssel,
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dabei in die Abfolge von Gebetsformeln, Bildern und emotionalen Zuständen zu begeben, die durch den Gebrauch der Kette evoziert werden. Insofern sie als Zählhilfe und Registratur den kognitiven Freiraum für die Kontemplation der fraglichen Szenen schafft, ermöglicht bzw. vereinfacht sie zweitens erst die Annäherung an die in die Andachtspraktik ›eingelassenen‹ affektiven Gehalte. Die Aufeinanderfolge von Handlungen und Zuständen und die erfolgreiche Versenkung sind damit eng an den Gebrauch der Kette gekoppelt. Das Artefakt ist dabei nicht nur eng mit der eigentlichen Durchführung des Gebets verbunden, sondern kann bereits den Eintritt in die Praktik unterstützen. Aufnahme und Beendigung der Andacht beschreibt die Teilnehmerin in der folgenden Weise: [...] also ich brauch erstmal=n Raum, der=der dafür geeignet ist, und dann nehm ich halt, das mach ich schon im Sitzen meistens, [...] dass ich praktisch schon=ne bequeme, aber schon aufrechte Haltung hab, dann, ja auch erstmal, sammel ich mich so kurz, einfach so zur Ruhe kommen, und dann fang ich halt einfach an. ›Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes‹, und dann gehts halt los. Is ja erstmal das Glaubensbekenntnis, was dem vorangeht, und dann kommen ja noch drei Geheimnisse, Glaube, Liebe, Hoffnung, bevors dann wirklich erst an diese zehn Geheimnisse geht, die ich dann betrachte. Also ich hab im Prinzip ja durch den Rosenkranz an sich schon=ne kurze Einstimmung, um da erstmal reinzukommen, bevor ich wirklich an die betrachteten Sachen rangehe. Und da kommt man eigentlich so automatisch rein, und wenn das dann fertig ist, mach ich dann auch wieder=n Kreuzzeichen, und äh (-) meistens sag ich dann noch ›gelobt sei Jesus Christus, in Ewigkeit, Amen‹, und dann bin ich auch schon so, dass ich dann halt wieder leise aufstehe [...], aber in Ruhe, ich bin dann nicht gleich, dass ich mich mit meinem Banknachbarn schon wieder unterhalten müsste, in Ruhe verlässt man dann halt die Kirche oder den Ort oder wo man grad is, und geht halt noch mal kurz so in Stille auseinander. Aber dann bin ich auch relativ schnell wieder im Hier und Jetzt.
die erst nach Verriegelung der Tür wieder freigegeben werden etc. – vgl. Latour 2002, 2014), determiniert die Rosenkranzkette den konkreten Umgang nicht von sich aus. Zur Einschreibung muss vielmehr eine Zuschreibung kommen. Imperative einer korrekten Handhabung sind dann nicht nur in die physische Gestalt der Gebetskette eingeschrieben, sondern speisen sich auch aus kulturellen Übereinkünften: Zum ›materiellen Skript‹ oder der ›materiellen Rahmung‹ des Artefakts muss ein ›immaterielles Skript‹ oder eine ›immaterielle Rahmung‹ hinzutreten (zu diesen Begriffen und zu einer Komplementarität materieller und immaterieller Skripte vgl. Cress 2015).
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Die hier geschilderte Rosenkranzandacht scheint ganz ähnlich eingeleitet und beendet zu werden wie das im vorangegangenen Kapitel erörterte offene Gebet. Sie wird beschrieben als ein Austritt aus dem »Hier und Jetzt«, der über verschiedene Aktivitäten wie das Aufsuchen eines geeigneten Raums, die Einnahme einer bestimmten Körperhaltung und eine ›innere Sammlung‹ vorbereitet und mit einer Ruhephase beschlossen wird. Eintritt in die Sphäre des Gebets und Wiedereintritt in die Sphäre des Alltags sind also verbunden mit Maßnahmen der Vor- und Nachbereitung, die solche Übergänge begleiten und organisieren. Die angesprochene ›innere Sammlung‹ verweist dabei abermals auf die Notwendigkeit zur Herstellung einer bestimmten inneren Ausrichtung als Voraussetzung für einen erfolgreichen Vollzug. Ähnlich wie das Gespräch mit einem transzendenten Bezugspartner, so erscheint auch die Kontemplation der Geheimnisse als eine voraussetzungsreiche Aktivität, die von der Beterin ein gewisses Maß an Konzentration verlangt. Neben den einleitenden Aktivitäten ist es dabei offenbar die Anlage des Rosenkranzgebets selbst, die ein Hinübergleiten in einen meditativen Bewusstseinszustand vorbereiten hilft. Die noch nicht mit der eigentlichen Betrachtung einhergehenden Gebetsformeln des hinführenden Teils bieten demnach eine »kurze Einstimmung, um da erstmal reinzukommen« und stellen also eine ›Aufwärmübung‹ dar, die den Einstieg in den meditativen Teil des Gebets vorbereitet. Dieser Übergang ergibt sich dann fast von selbst, »da kommt man eigentlich so automatisch rein«. Das Zustandsmanagement, der Gebetsinteraktion in der Kirche noch vorgeschaltet, ist in diesem Fall also in das Gebet selbst eingebaut: Die Praktik ist so angelegt, dass sie die Voraussetzungen für einen gelingenden Vollzug bis zu einem gewissen Grade selbst schafft. Die Gebetskette kann nun ihrerseits dazu beitragen, die Teilnehmerin in das Gebet hineinzuführen. [...] genau so wie wenn ich mich irgendwo hinsetze beim Gebet, und vielleicht=ne Kerze anzünde, die irgendwie mich auch in=ne Stimmung bringt, is auch das Halten von=nem Rosenkranz [...], ich bräuchte sogar, also angenommen ich will nicht den Rosenkranz beten, sondern mich einfach meditativ irgendwie Geb- in=ner Gebetshaltung irgendwie hinsetzen, will was beten, und ich hab den Rosenkranz nur in der Hand, so als Rosenkranz an sich, ohne den zu beten, glaube ich, bringt auch schon, mich jetzt, in=ne irgendwie andere Stimmung. [...] so=ne rituelle Geschichte (-) einfach so in Kontakt treten. [...] also is vielleicht auch noch mal wie=ne Bindung, bisschen greifbarer [...]. Und es hilft zum Konzentrieren, dass ich den Faden nicht verliere.
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Die Herstellung einer meditativen »Gebetshaltung« resultiert dieser Beschreibung zufolge nicht nur aus den vorbereitenden Aktivitäten oder aus der Anlage des Gebets, sondern auch aus der Handhabung bzw. Berührung der Gebetskette. Das Vermögen des Artefakts zur Evokation einer »irgendwie anderen Stimmung« erscheint dabei als das Ergebnis seines Einbezugs in vorangegangene praktische Vollzüge (»so=ne rituelle Geschichte«) und einer daraus erwachsenen Identifikation zwischen Gebetskette und Gebetspraktik: Den Rosenkranz »nur« in der Hand zu haben, bedeutet dann bereits, »in Kontakt« zu treten. Zugleicht trägt die Berührung der Kette aber auch während des laufenden Vollzug dazu bei, die Konzentration aufrechtzuerhalten, die »Bindung« zu stabilisieren und die Teilnehmerin so im Gebet zu halten. Die Gebetskette fungiert auf diese Weise als Zustandsmodifikator, als Brücke in das Gebet, als Konzentrationshilfe und somit als Verbindungsglied zwischen der Beterin und dem Gebet. Aus der regelmäßigen Nutzung des Artefakts ergibt sich schließlich noch ein weiterer Aspekt, der für den Erfolg des Gebets von Bedeutung ist: [Der Rosenkranz ist, T. C.] so=n bisschen so=n Begleiter, so, für mich, durch mein Glaubensleben, [...]. Is [...] so=ne Art [...] Gebrauchsgegenstand für den Glauben, der mir halt persönlich is [...] den hab ich mir ja mal selber gekauft, der is halt aus ganz glattem Holz [...], aus Olivenholz, ganz einfaches Kreuz, einfache Perlen, supereinfach, aber der is so ganz weich, biegsam, den kann ich auch in die Hand, also der is äh super, der geht auch nicht kaputt, ganz wunder- sehr robust. [...] und [...] der packt sich halt auch gut an, [...] der liegt mir gut in der Hand [...]. Der ist auch so eingebetet, das läuft dann irgendwie so [...]. Dann hab ich zum Beispiel zur Kommunion von meiner Patentante so=n Perlmutt gekriegt mit Kreuz drauf [...]. [...] also ich hab den schon auch mal versucht zu beten, aber das is- gefällt mir nicht so mit dem, also des is irgendwie nich so der richtige. Der is von der Größe nich richtig, es is und auch er gefällt mir auch nich so [...] mit dem kann ich so gar nichts ähm, anfangen, irgendwie. Also ich brauch dann schon meinen.
Angesprochen mit dieser Erörterung der Tauglichkeit sind die Bedingungen des praktischen Funktionierens der Gebetskette als Hilfsmittel oder Werkzeug, das, um den Vollzug des Gebets zu ermöglichen, im Hintergrund der Wahrnehmung verbleiben muss: Ihre Funktion, die Beterin durch das Gebet zu führen und es ihr zu ermöglichen, sich in die Kontemplation zu versenken, kann die Perlenkette nur dann erfüllen, wenn sie quasi nebenbei, d.h. frei von Störungen und Irritationen durch die Finger gleiten kann, ohne die Aufmerksamkeit vom Gebet weg und auf sich hin zu lenken. Dies scheint umso leichter zu fallen, je vertrauter die Beterin
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mit den physischen Eigenschaften ihres Artefakts ist und je besser sie die mit seinem Gebrauch einhergehenden Körperwahrnehmungen antizipieren kann. Die Praxistauglichkeit des Artefakts resultiert dann nicht nur aus bestimmten materiellen Eigenschaften – seiner Gestaltung, als angenehm empfundenen haptischen Qualitäten, einer gewissen Biegsamkeit und Belastbarkeit –, sondern ergibt sich aus seiner praktischen Einbindung selbst. Im Zuge eines routinierten Einbezugs in die Gebetspraxis hat sich die Beterin im Verlauf der Zeit offenbar auf das Artefakt eingestellt: auf die Größe der Perlen, ihre Haptik, die Abstände zwischen ihnen, vielleicht auch auf das immer wieder ertönende, klackende Geräusch, das entsteht, wenn zwei Perlen mit einem Ruck aufeinandertreffen. Auf der anderen Seite hat sich offenbar auch die Kette auf die Beterin ›eingestellt‹ – sei es, dass die Perlen leichter gleiten, sei es, dass die Kette insgesamt flexibler geworden ist. ›Eingebetet-Sein‹ verweist damit auf einen Prozess, in dessen Verlauf sich Körper und Artefakt zunehmend aufeinander eingespielt haben und im Zuge dessen die Gebetskette zu einem »zuhandenen« Ding (Heidegger 1967: 68f.) transformiert wurde, einem Werkzeug, dessen ›Funktionieren‹ sich darin zeigt, dass es unauffällig seinen Dienst verrichtet. Wie sich eingetragene Schuhe im Zuge ihres Gebrauchs dem Körper nach und nach so anverwandelt haben (Heidegger 1992: 26ff.; vgl. Schivelbusch 2015: 12ff.), dass man sie schon wenige Augenblicke nach dem Hineinschlüpfen mehr oder weniger vergessen hat, so rücken auch die Gebetskette und die mit ihrem Gebrauch verbundenen Wahrnehmungen im praktischen Vollzug in den Hintergrund. Das Gebet »läuft dann irgendwie so«, man nimmt das Objekt wahr und vergisst es zugleich. Wo Artefakt und Körper wie im angeführten Beispiel nicht in dieser Weise aufeinander eingespielt sind, kann die Gebetskette ihre Aufgabe als »Gebrauchsgegenstand für den Glauben« unter Umständen nicht erfüllen, sondern drängt sich in den Vordergrund. Hier zeigt sich dann eine »Aufdringlichkeit« (ebd.: 73) des Artefakts, das sich für die erfolgreiche Durchführung der Gebetspraktik als untauglich erweist.
Zusammenfassung Im Gegensatz zum offenen Gebet in der Kirche gibt die ›standardisierte‹ Praktik der Rosenkranzandacht ihrer Teilnehmerin eine klare Struktur vor. Im Mittelpunkt stehen hier nicht Kontaktaufnahme und Interaktion, sondern vielmehr die geleitete und planvolle Durchführung von Kontemplation: Den Rosenkranz beten heißt, sich über die Wiederholung von Gebetsformeln in einen meditativen Zustand zu bringen und sich bestimmte, mit unterschiedlichen affektiven Färbungen verbundene Bilder vor das ›innere Auge‹ zu stellen. Über ihr gedankliches Enactment
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und ihren affektiven Nachvollzug werden zentrale Glaubensereignisse auf der Ebene der Bilder und Gefühle verfügbar gemacht, fordern zur Erschließung ihrer tiefer liegenden Bedeutung auf und bieten sich für die Integration in die persönliche Erfahrungswelt der Beterin an. Die Betrachtung der Geheimnisse wird damit verständlich als eine Technik religiöser Selbsterinnerung und Selbstvergewisserung und zugleich als auf eine Vertiefung des eigenen Glaubens ausgerichtete Arbeit an der eigenen religiösen Haltung. Dabei erscheint die Evokation von Bildern und Gefühlen als wesentliches und normativiertes Element dieser Andachtspraktik und zugleich als Unterscheidungskriterium zwischen einem korrekten Vollzug und einem mechanischen Lippengebet. Die Einnahme der für die Durchführung der Kontemplation erforderlichen Gebetshaltung wird dabei durch die repetitive Struktur des Gebets, aber auch durch einen hinführenden Einleitungsteil begünstigt. Die Anlage des Gebets schafft damit die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Eintritt und Vollzug bis zu einem gewissen Grade selbst. Anders als im vorangegangenen Beispiel stützt sich die Rosenkranzandacht weniger auf ein materielles Arrangement als vielmehr auf den Einbezug eines einzelnen Artefakts. Die besondere Bedeutung der Gebetskette beruht dabei auf einer Verkörperung der Ordnung des Gebets in der Ordnung der Perlen. Während über die Berührung der Perlen die mit ihnen assoziierten Gebetsformeln samt der damit verbundenen imaginativen und affektiven Gehalte evoziert werden, wird die Beterin auf diese Weise nach und nach durch die relativ komplizierte Struktur des Gebets geführt. Indem die Kette die absolvierten Gebete zählen hilft und sie zugleich registriert, löst sie zugleich das Problem der synchronen Ausführung von Beten und Zählen als zweier miteinander konfligierender mentaler Aktivitäten und schafft so den Freiraum für die Versenkung in das Gebet und für den einfühlenden Nachvollzug des imaginativen Materials. Schließlich hilft sie aufgrund ihrer engen Identifikation mit der Praktik auch dabei, in das Gebet hineinzufinden und die Konzentration auch während des laufenden Vollzugs aufrecht zu erhalten. Das Artefakt erweist sich damit in mehrfacher Hinsicht als Träger dieser Andachtsform: Es erscheint als Brücke in das Gebet, als Speicher und Evokator von Gebetsformeln, Bildern und Gefühlen, als Zählhilfe und Gebetsregistratur, als Navigations- bzw. Orientierungshilfe, als Meditationsinstrument, Immersionshilfe und Zustandsmodifikator. Als Verkörperung einer strukturierten Abfolge normativierter Aktivitäten und Zustände ist die Gebetskette zugleich Verkörperung und Träger von Teleo-Affektivität.
Der Besuch der Massabielle-Grotte in Lourdes
Mit dem Gebet in der Kirche und der Rosenkranzandacht wurden zwei Praktiken analysiert, die sich in unterschiedlicher Weise auf die Involvierung materieller Entitäten stützen und durch sie mit hervorgebracht werden: ein freies Gebet, dessen Zustandekommen maßgeblich darauf beruht, dass die Elemente eines räumlichen Arrangements als ›Zustandsmodifikatoren‹ engagiert werden, die eine Einstimmung und Vorbereitung auf die Durchführung der Praktik und damit das Management von Übergängen zwischen verschiedenen praktischen Zusammenhängen ermöglichen; und ein standardisiertes Gebet, das sich auf die Gebetskette als Träger dieser Praktik stützt, die über den Einstieg hinaus auch während des Vollzugs mit dem Körper der Teilnehmerin kurzgeschlossen bleibt, sie durch die Struktur des Gebetes führt und die geordnete Hervorbringung von Sprechakten und Imaginationen sowie die Erschließung spezifischer affektiver Gehalte ermöglicht bzw. erleichtert. Beiden Fällen ist gemein, dass es sich um privat und außerdem routiniert durchgeführte Praktiken handelt: Die Teilnehmer sind mit diesen Praktiken vertraut, kennen die einzelnen Handlungsschritte, wissen, wie sie mit den fraglichen Objekten umgehen müssen und wissen auch um bestimmte Herausforderungen oder Schwierigkeiten, vor die sie der praktische Vollzug stellt. Was aber geschieht, wenn sich Teilnehmer mit interobjektiven Praktiken konfrontiert sehen, mit denen sie nicht bereits vertraut sind, sondern deren praktisches Verständnis sie erst erlangen müssen? Wie erwerben sie das Wissen um den richtigen Umgang mit den jeweiligen Artefakten? Wie bringen die Dinge und materiellen Konfigurationen unter diesen Bedingungen Ordnung und Regelmäßigkeit hervor? Wie setzen sie die Teilnehmer über die Partizipation an den von ihnen mit hervorgebrachten Praktiken in Beziehung zueinander? Zur Annäherung an diese Fragen lenke ich die Perspektive im Folgenden weg von privaten und hin zu öffentlichen Vollzügen, wie sie an hoch frequentierten Pilgerorten beobachtet werden können. In diesem Kapitel steht eine Praktik im Mittelpunkt, die sich am französischen Marienwallfahrtsort Lourdes etabliert hat:
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der Besuch der sogenannten Erscheinungsgrotte. Die Analyse erfolgt in drei Schritten: Zunächst wird das Durchqueren der Grotte als eine gleichermaßen stabile wie dynamische Praktik betrachtet, die durch das materielle Arrangement mit hervorgebracht wird, kontinuierlich neue Teilnehmer involviert und sich so ›am Laufen‹ hält. Im zweiten Schritt wird danach gefragt, wie diese Praktik einerseits durch das Verständnis des Arrangements informiert wird, an dem sie sich vollzieht, und wie sie dieses Verständnis ihrerseits fortwährend mit hervorbringt. Anhand einer Spannung zwischen einem ›magischen‹ und einem symbolischen Verständnis des Arrangements wird diskutiert, wie damit auch das Verständnis der Praktik Gegenstand kontinuierlicher Bearbeitung und Auseinandersetzung ist.
Die Marienerscheinungen und der Wallfahrtsort Der Aufstieg der südfranzösischen, am Rande der Pyrenäen gelegenen Kleinstadt Lourdes zu einem der wichtigsten Marienwallfahrtsorte der Welt ist eng mit der Geschichte von Bernadette Soubirous verbunden, der Tochter eines verarmten Müllers, die bei einer außerhalb des Ortes gelegenen Grotte Zeugin von Marienerscheinungen geworden sein soll. Demnach erblickte die damals vierzehnjährige Bernadette, als sie mit zwei Gefährtinnen am nicht weit entfernten Fluss Gave de Pau Brennholz sammelte, in der Massabielle-Grotte ein Licht, in dem ihr eine weiß gekleidete junge Frau erschien (vgl. Moll 2009: 747). Dieses Ereignis, das sich der Überlieferung zufolge am 11. Februar 1858 zutrug, bildete den Auftakt zu einer Reihe von insgesamt achtzehn Begegnungen, die sich in den darauffolgenden Wochen und Monaten bis zum 16. Juli des Jahres in der Grotte ereignet haben sollen. Hinweise auf ihre Identität gab die mysteriöse Frau erst später, indem sie sich als ›Unbefleckte Empfängnis‹ (Immaculata conceptio)1 vorstellte und sich damit als die Heilige Jungfrau Maria zu erkennen gab. Im Verlauf der Begegnungen ergingen von der Erscheinung eine Reihe von Mahnungen, Versprechungen und Aufträge: Sie forderte Bernadette auf, Buße zu tun und für die Bekehrung der Sünder zu beten, bedeutete ihr, an einer bestimmten Stelle der Grotte zu graben, woraufhin das Mädchen eine schlammige Quelle entdeckte (»Trinken Sie aus der Quelle und waschen Sie sich dort«), und trug ihr auf, die hiesigen Geistlichen zum
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Der Name steht in Verbindung zum wenige Jahre zuvor in Rom verkündeten gleichnamigen Dogma, demzufolge Maria frei von Erbsünde geboren wurde.
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Bau einer Kapelle und zur Durchführung von Prozessionen zu bewegen (Harris 2000: 3ff.).2 War Bernadette zunächst noch alleine, so wurden die Erscheinungen schon bald zu einem öffentlichen Ereignis, begleitet von einer zunehmend größeren Menge, die von einigen wenigen bei den frühen Begegnungen auf später rund 7.000 Menschen anwuchs. Der Andrang war bisweilen so stark, dass viele von der anderen Seite des Flusses aus dem Geschehen zusehen mussten, wobei die Zuschauer der Erscheinung niemals direkt, sondern nur vermittelt über das Verhalten Bernadettes gewahr wurden, die, einen Rosenkranz und eine Kerze in der Hand haltend, abwechselnd sprach und verstummte, stand, saß und sich hinkniete, nickte oder den Kopf schüttelte, weinte oder lächelte, betete und sich bekreuzigte. Dabei zeigte sie teils ekstatische und tranceartige Zustände, teils auch befremdliche Verhaltensweisen, als sie etwa bei der Entdeckung der Quelle mit bloßen Händen in der Erde wühlte, von dem schlammigen Wasser trank, es wieder ausspuckte oder Gras aß (ebd.: 6f., 55ff.). Die zeitgenössischen Beobachter diskutierten die Geschehnisse kontrovers. Während ›aufgeklärte‹ Zeitungen das Verhalten Bernadettes als pathologisch einstuften, dominierten insgesamt eher affirmierende Wahrnehmungen. Die weltlichen Autoritäten befürchteten angesichts der starken Aufmerksamkeit Störungen der öffentlichen Ordnung, Kirchenvertreter zeigten sich zunächst skeptisch. Noch im Juli 1858 aber, wenige Tage, nachdem sich die Erscheinung zum letzten Mal gezeigt hatte, setzte der zuständige Bischof in Reaktion auf das zunehmende Interesse eine Untersuchungskommission ein, die 1861 die Echtheit der Erscheinungen feststellte und 1862 offiziell die Wallfahrt nach Lourdes bestätigte (ebd.: 4ff., 55ff.). Seit 1891 feiert die Kirchenprovinz mit päpstlicher Zustimmung jeweils am 11. Februar das »Fest der Erscheinung«; seit 1907 wird das Fest in der gesamten römisch-katholischen Kirche gefeiert (Roton 2009: 1067). Die Erscheinungsberichte legten den Grundstein für die Entwicklung von Lourdes zu einer der meistbesuchten Pilgerstätten der Welt, wobei sich die Wallfahrt von Beginn an kontinuierlich entwickelte. 1870 zählte man bereits 30.000 Besucher, 1930 waren es 220.000, 1970 2,1 Millionen. Heute bewegt sich die Zahl
2
Ähnliche Überlieferungen begründeten die Entwicklung des portugiesischen Fatima und des mexikanischen Guadalupe zu Marienwallfahrtsorten von vergleichbarer Bedeutung. Für einen Überblick über prominente Marienerscheinungsberichte und ihre gemeinsamen Charakteristika vgl. Horsfall 2000.
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der jährlichen Besucher bei fünf bis sechs Millionen (ebd.).3 Einen nicht unwesentlichen Teil seiner Anziehungskraft schöpft Lourdes aus der Idee der Heilung. Ausgehend von der Überzeugung, dass sich die wundertätige Kraft der Heiligen auf den Ort und insbesondere auf das Wasser aus der Quelle übertragen hatte, kamen die Pilger schon in den frühen Tagen in der Erwartung hierher, von ihren Leiden geheilt zu werden, was durch die Anerkennung von Heilungswundern noch bestärkt wurde (Harris 2000: 288ff.).4 Auch heute sind viele Besucher Menschen mit Krankheiten und Behinderungen, die sich Heilung oder Linderung ihrer Leiden erhoffen (vgl. Dahlberg 1991). Die Infrastruktur der Wallfahrtsstätte mit ihren Spitälern und ihrem Freiwilligenwesen ist auf die Bedürfnisse solcher Besucher ausgerichtet. Parallel zu den Besucherströmen entwickelte sich auch das Wallfahrtsgelände und nahm nach und nach seine heutige Form an. 1876 wurde die oberhalb der Grotte in den Felsen gebaute neugotische Basilika der Unbefleckten Empfängnis (auch: Obere Basilika) eingeweiht, 1889 die direkt unterhalb gelegene Rosenkranzbasilika, 1958 die Basilika Pius X. (auch: Unterirdische Basilika) – ein moderner, unter der Erde gelegener Sakralbau, der bis zu 25.000 Besuchern Platz bietet (Roton 2009: 1067). Neben diesen drei zum Heiligen Bezirk gehörenden Kirchen umfasst die Wallfahrtsstätte heute ein großes, sich links und rechts des Flusses Gave de Pau erstreckendes Areal, auf dem sich neben der eigentlichen Erscheinungsgrotte mehr als zwanzig Kirchen und Kapellen, Bäder zur rituellen Waschung mit dem Lourdes-Wasser, mehrere Gebetswege, ein Informationszentrum mit Buchladen, eine Radiostation, eine Vielzahl an Versammlungs-, Konferenz- und Büroräumen, eine Krankenherberge, Unterkünfte für ehrenamtliche Helfer sowie Wohnsitze für Wallfahrtsseelsorger und Bischöfe befinden. 5
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Die Zahlen werden über einen monatlichen Zähltag ermittelt, dessen Ergebnisse dann
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Die katholische Kirche hat von den frühen Tagen des Wallfahrtsortes an bis heute – die
hochgerechnet werden. letzte Anerkennung erfolgte im Februar 2018 – siebzig Wunderheilungen anerkannt, von denen viele auf einen Kontakt mit dem Wasser aus der Quelle zurückgeführt werden (vgl. François et al. 2014). – Das Wasser hat noch heute einen hohen Stellenwert in Lourdes. Es wird den Pilgern über Wasserhähne zugänglich gemacht, aus denen es direkt konsumiert oder in Behältnisse abgefüllt und mit nach Hause genommen werden kann. Darüber hinaus wird in den Bädern der Wallfahrtsstätte ein Baderitual durchgeführt. 5
Etwas außerhalb des Heiligen Bezirks kommen Museen, Unterkünfte für Seminaristen und Priester, ein Jugenddorf, eine weitere Krankenherberge und ein größerer Gebets-
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Die mehr oder weniger geschäftige Außenwelt hat man mit dem Betreten der Wallfahrtsstätte, die an manchen Stellen durch den Fluss, an anderen durch bewaldete Bereiche von der angrenzenden Stadt getrennt ist, schon nach wenigen Schritten hinter sich gelassen.6 In den akustischen Hintergrund mischen sich das je nach Standort und Andrang unterschiedlich laute Stimmengewirr der Besucher, die stündlich vom Glockenturm der Oberen Basilika her ertönende Melodie des »Lourdes-Liedes«, die von Zeit zu Zeit zu vernehmenden Durchsagen, die in verschiedenen Sprachen Prozessionen, Gottesdienste und andere Veranstaltungen ankündigen oder über andere aktuelle Vorgänge informieren, und die – vermittelt über die auf das gesamte Gelände verteilten Lautsprecher – überall gut zu hören sind, und schließlich all die Geräusche, die die verschiedenen religiösen Vollzüge begleiten: das Gemurmel der Rosenkranzandachten an der Grotte, die Gebete und feierlichen Gesänge im Rahmen der Prozessionen.7 Die Tage in Lourdes sind geprägt von einer ganzen Reihe regelmäßig stattfindender und den Tag auf diese Weise strukturierender religiöser Veranstaltungen:
weg hinzu. Rund dreißig hauptamtliche und daneben eine Reihe ehrenamtlicher Geistlicher organisieren den laufenden Betrieb, leiten liturgische Feiern und Andachten und sind in der Seelsorge tätig. Einen maßgeblichen Teil des Personals vor Ort stellen zahlreiche freiwillige Helfer, die im Rahmen mehrwöchiger Einsätze etwa in der Krankenpflege oder in den Bädern tätig sind. 6
Um den Heiligen Bezirk herum haben sich Geschäfte in großer Zahl angesiedelt, die die zum Bezirk hinführenden Straßen gemeinsam mit einer Reihe von Restaurants oder Hotels säumen und das Bild der kleinen Stadt prägen. Diese Devotionalienläden – von kleinen Krämerläden bis hin zu hell ausgeleuchteten Kaufhäusern – sind wahre Fundgruben katholischer materieller Kultur: Rosenkranzketten, Kreuze und Kruzifixe, Heiligenfiguren, Poster, Vexierbilder, Gemälde, Ikonen, Gebet- und Liederbücher, Bilderbücher für Kinder, Plastikkanister für den Transport des Quellwassers, Räucherwerk, Kerzen und vieles mehr sind hier, oft in unterschiedlicher Ausführung und Qualität, zu haben. Die sich darin ausdrückende Kommerzialisierung der Wallfahrt hat Lourdes bisweilen einen negativen Ruf eingebracht. Der Heilige Bezirk selbst bleibt von der mit dem Devotionalienhandel einhergehenden Geschäftigkeit weitgehend unberührt (vgl. zur Kommerzialisierung der Lourdes-Wallfahrt aus historischer Sicht Kaufman 2005).
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In der von Besuchern aus ca. einhundertvierzig Ländern besuchten Wallfahrtsstätte (Roton 2009: 1067) existieren mit Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Niederländisch und Deutsch sechs offizielle Sprachen. Großveranstaltungen wie die Internationale Messe oder die täglichen Prozessionen werden in allen sechs Sprachen durchgeführt.
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Morgendliche Messen in verschiedenen Sprachen, nachmittags eine Eucharistische Prozession, eine Kerzenprozession am Abend, zweimal in der Woche ein feierlicher, groß angelegter Internationaler Gottesdienst in der Unterirdischen Basilika.8 Dazwischen führen einzelne, hierfür angemeldete Wallfahrtsgruppen ihre eigenen Gottesdienste in einer der Kirchen oder Kapellen oder vor der Grotte durch, treffen sich zur Rosenkranzandacht an der Grotte oder begehen miteinander den ausladenden Kreuzweg, der auf einem Hügel gegenüber der Wallfahrtsstätte seinen Ausgang nimmt und sich weit in die Natur erstreckt. Neben diesen organisierten Veranstaltungen gibt es eine ganze Reihe weiterer Beschäftigungen, denen die Besucher eigenständig nachgehen können. Sie können die Grotte und damit den eigentlichen Ort der Marienerscheinungen besuchen und, meist direkt im Anschluss, den hieran angrenzenden Kerzenbereich betreten, Votivkerzen anzünden und dabei eigene Gebete oder Fürbitten für die Daheimgebliebenen sprechen; sie können die Bäder besuchen, wo man, mit einem nassen Tuch umhüllt, von mehreren Helfern in das kalte Lourdes-Wasser getaucht wird, oder sich das begehrte Wasser an einem der vielen, im Halbrund nebeneinander angebrachten Wasserhähne in mitgebrachte Flaschen und Kanister abfüllen oder sich damit erfrischen; sie können sich in einer der Kirchen niederlassen, sich in der Anbetungskapelle vor einer ausgestellten Hostie ins Gebet versenken, sich in der Krypta der Oberen Basilika über Reliquien der Bernadette an die Heilige wenden oder eine Beichtgelegenheit wahrnehmen; dazwischen können sie auf dem Gelände entlangflanieren, eine der Kirchen besichtigen oder sich auf den Weg in die Stadt machen, um die als Museen hergerichteten Stätten des Lebens Bernadettes zu besuchen, was an manchen Tagen und unter bestimmten Bedingungen mit einem Sündenablass verbunden werden kann. Von der Vielzahl an praktischen Vollzügen, die man hier beobachten kann, werde ich im Folgenden zwei genauer betrachten: den Besuch der Erscheinungsgrotte und die abendliche Marienprozession.
Die Massabielle-Grotte Den eigentlichen Kern der Wallfahrtsstätte bildet die Grotte von Massabielle, in der sich die Marienerscheinungen zugetragen haben sollen. Schon ein ganzes Stück vor der Grotte stößt man auf ein Schild mit einer schematisierten Abbildung zweier Gesichter, die mit dem Zeigefinger vor dem Mund zur Stille mahnen (vgl.
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Die Angaben gelten für die Hauptwallfahrtssaison in der Zeit von April bis November (genauer: von Palmsonntag bis Allerheiligen). In den Wintermonaten sind die Angebote eingeschränkt.
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Abb. 3, Reihe 1, Bild 1). Tatsächlich ist der Platz um die Grotte einer der ruhigsten Bereiche auf dem Gelände: Die Szenerie hier ist – ganz im Gegensatz zu einigen anderen Plätzen wie etwa bei den Wasserhähnen, an denen zu manchen Zeitpunkten reges und geräuschvolles Treiben herrscht – durch eine ruhige Grundstimmung gekennzeichnet. Zu hören sind hier vor allem das Rauschen des Flusses, Vogelgezwitscher, das Geräusch von Schritten, und hin und wieder ein leises Murmeln, wenn vernehmlich gebetet wird oder sich Besucher leise miteinander unterhalten. Besucher haben zwei Möglichkeiten, sich der Grotte zu nähern: Viele lassen sich auf einer der Sitzbänke nieder, die, in mehreren Reihen hintereinander angeordnet, vor der Grotte aufgestellt sind. Wer hier Platz nimmt, kann sich dem Gebet und der Stille hingeben, sich für einen Moment ausruhen, die Atmosphäre auf sich wirken lassen oder die Besucherströme beobachten, die sich mehr oder weniger kontinuierlich durch die Grotte hindurchbewegen. Ein Teil des Sichtfeldes ist dabei durch den markanten, tannenförmigen Kerzenständer versperrt, der rechts vor der Grotte aufgestellt ist. In einer oberhalb davon befindlichen Felsnische ist eine Marienstatue platziert, die den Ort, an dem die Gottesmutter erschienen sein soll – die Erscheinungsnische – markiert. Gestaltet mit einem weißen Umhang, einem blauen Gürtel um ihre Hüfte und einem großen Rosenkranz um ihren Arm, führt sie ihre Hände zum Gebet zusammen und scheint die Szenerie zu überblicken. 9 Eine Balustrade mit Absperrseil trennt den Gebetsbereich vom eigentlichen Besucherbereich. Abb. 2 zeigt den Gebetsbereich mit Blick auf die Grotte. Der eigentliche Besuch aber findet als ein Durchschreiten der Grotte statt. Hierfür betritt man zunächst einen durch Absperrvorrichtungen gekennzeichneten Weg, der den Besucher an einer sich steil auftürmenden Felswand entlang führt. Hat man den auffälligen Felsvorsprung am Ende des Weges passiert, eröffnet sich der Blick ins Innere der Grotte, die ein eher unauffälliger Ort ist: Es handelt sich um ein begehbares, mit glatten Steinplatten ausgelegtes Halbrund, das nur wenige Meter in den Fels hineinragt. Aufgrund der geringen Tiefe der kleinen Höhle fällt
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Beschreibungen Bernadettes zufolge soll die Erscheinung das Aussehen eines etwa zwölf Jahre alten Mädchens gehabt haben und nur etwa 1,40 Meter groß gewesen sein. In den Zeitungen und in den Beschreibungen Geistlicher wurde daraus schließlich eine etwa zwanzig Jahre alte ›Dame‹, was gängigen Darstellungskonventionen stärker entsprach. Auch der zur Anfertigung der Marienfigur beauftragte Bildhauer Joseph Fabisch orientierte sich stärker hieran als an den Beschreibungen Bernadettes, welche die Figur zeitlebens als zu groß und zu alt erachtete. Die 1864 fertiggestellte Figur der Notre-Dame de Lourdes setzte sich als charakteristische Darstellung der Jungfrau von Lourdes durch (Harris 2000: 72ff.).
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Tageslicht hinein, so dass die Szenerie nur schwach abgedunkelt ist. Im Zentrum der dem Gebetsbereich gegenüber leicht erhöhten Plattform befindet sich ein steinerner Altar, der auf die hier durchgeführten Heiligen Messen verweist, links daneben steht ein etwa zwei Meter hohes, schmales Kruzifix mit einer goldenen Jesus-Figur; rechts hinter dem Altar an der Felswand ist ein Tabernakel zur Aufbewahrung geweihter Hostien angebracht. Hat man die Grotte betreten, passiert man auf der linken Seite zunächst einen Opferstock und einen Behälter für den Einwurf von Gebetsanliegen. Links und rechts des hüfthohen Behältnisses sperren gläserne Barrieren diesen Teil der Grotte ab, auf dem Boden dahinter liegen in Folie gewickelte Blumensträuße. Etwas weiter rechts hinter der Absperrung ist eine kleine Glasplatte in den Boden eingelassen, hinter der man die sprudelnde LourdesQuelle erkennen kann.
Abb. 2: Blick auf die Grotte mit Erscheinungsnische und Gebetsbereich
Hat man den ersten Abschnitt des Halbrunds passiert, gelangt man etwa auf Höhe des Altars zu einer tiefen Felsspalte, die durch ein Absperrseil vor weiterer Annäherung geschützt ist. An dieser Stelle kann man etwas weiter ins Innere der Höhle schauen, doch der Blick verliert sich in der Dunkelheit schnell. Jenseits der Spalte verändert sich das Erscheinungsbild der Grotte: Während sich der Felsen im Eingangsbereich und im mittleren Teil immer stärker nach innen wölbt, begegnen dem Besucher im hinteren Teil annähernd senkrecht aufragende Felswände; stetig fließen hier schwache Rinnsale herab, die sich in den Vertiefungen der zerklüfteten Felswände sammeln und den Stein mit einem markanten Muster aus dunklen Streifen und Flecken überziehen; über eine am Boden angebrachte Rinne wird das
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Wasser abgeleitet. Abb. 3 zeigt den Weg zur Grotte und die beschriebenen Stationen in ihrem Inneren.
Abb. 3: Das Innere der Grotte. Reihe 1 (jeweils von links nach rechts): Mahnung zur Stille am Beginn des Weges zur Grotte; Felsvorsprung vor dem Eingang (2 Bilder); Blick ins Innere der Grotte mit Opferstock, Altar und Kruzifix; Reihe 2: Behälter für Gebetsanliegen mit Glasabsperrung; Berührung des Felsens im vorderen Bereich (2 Bilder); Quelle unter Glas; Reihe 3: Nach innen gewölbte Felswand; Felsspalte mit Absperrseil und Tabernakel; feuchte Stellen am Felsen (2 Bilder); Reihe 4: Feuchte Stellen am Felsen (2 Bilder); Abflussrinne am Boden; Ausgang
Die folgende Analyse konzentriert sich auf die Zusammenhänge zwischen dem Besuch der Grotte als einer Praktik und dem materiellen Arrangement, in und inmitten dessen sie sich vollzieht. Zunächst wende ich mich der Frage zu, wie diese Praktik ›funktioniert‹, durch welche Aktivitäten sie konstituiert wird, über welche Mechanismen sie weitergegeben wird und wie das Arrangement an der Hervorbringung, Stabilisierung und Weitergabe dieser Praktik beteiligt ist.
Das Durchqueren der Grotte: Wie ein Arrangement eine Praktik organisiert Beobachtet man das Geschehen an der Grotte, so fällt vor allem die Regelmäßigkeit auf, mit der es sich vollzieht. Teilnehmer nähern sich dem Ort in erster Linie berührend. In der Regel durchschreiten sie die Grotte relativ langsam (körperlich stärker beeinträchtigte Personen bewegen sich in den für Lourdes typischen Rollstühlen durch die Grotte) und zeigen dabei ein insgesamt zurückgenommenes Be-
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tragen, das sich in gemessenen Bewegungen ausdrückt. Zumeist wird geschwiegen oder man unterhält sich nur leise, so dass kaum etwas zu hören ist außer dem gelegentlichen Quietschen der Schuhsohlen. Sich in dieser Weise vorwärtsbewegend, lassen die Besucher die zumeist linke Hand an der Felswand entlanggleiten, während sie die Oberfläche bedächtig betrachten. Manche berühren Teile ihres Körpers, nachdem sie den feuchten Felsen angefasst haben, andere bringen mitgebrachte Devotionalien wie Rosenkränze oder Marienfiguren in Kontakt mit der Felsoberfläche, wieder andere legen für einen Moment den Kopf an die Felswände oder küssen sie. Millionen von Menschen nähern sich alljährlich dem Ort in dieser Weise und formieren einen sich mehr oder weniger kontinuierlich durch die Grotte bewegenden Besucherstrom.10 Aus einer praktikentheoretischen Sicht lässt sich das Durchqueren der Grotte als eine Praktik begreifen, die durch Aktivitäten des Durchschreitens, des Berührens der Felswände und des Betrachtens ihrer Oberfläche konstituiert wird, an der jeder einzelne Besucher über die von ihm vollzogenen Handlungen auf seine Weise partizipiert und sie so zugleich trägt und aufrechterhält. Diese Praktik erscheint als eine dynamische ›Maschinerie‹, die kontinuierlich neue Teilnehmer involviert, ihnen die richtigen Wege des Handelns vermittelt, sie dazu ermutigt, sich an ihr zu beteiligen und zu erkunden, was sie für sie bereithält. Wie aber funktioniert diese Maschinerie? Über welche Mechanismen werden diese Regelmäßigkeiten hervorgebracht und wie trägt das Arrangement dazu bei?
Materielle Aufforderungsstrukturen Ein erster Punkt betrifft die Strukturierung der Berührungsaktivitäten durch die Textur der Felsoberfläche. Es lässt sich beobachten, dass die Arten und Weisen der Berührung des Steins an den verschiedenen Stellen der Grotte variieren, dabei aber bestimmten Mustern folgen. Der Kontakt beginnt zumeist bei dem überspringenden Felsen, der den Eingang zur Grotte markiert: Teilnehmer heben den Arm
10 Das Besucheraufkommen kann je nach Tages- und Jahreszeit variieren. – Die Aktivitäten an der Grotte wurden zu verschiedenen Zeitpunkten und über längere Zeiträume hinweg beobachtet und aus verschiedenen Perspektiven heraus audio-visuell aufgezeichnet. Eine Akkreditierung mit Drehgenehmigung für den Heiligen Bezirk konnte bei der Pressestelle erwirkt werden, so dass in allen Bereichen der Wallfahrtstätte – mit Ausnahme der Bäder, für die kategorisches Drehverbot herrscht – mit offizieller Erlaubnis gefilmt werden konnte. Sämtliche Aufnahmen erfolgten offen und unter guter Sichtbarkeit des Aufzeichnungsgerätes, so dass im Einzelfall Nachfragen beantwortet werden konnten.
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halbhoch und berühren den Felsen mit der Handfläche der linken Hand. Charakteristisch ist weiter, dass die Hände während des langsamen Durchschreitens ›mitwandern‹: Nach und nach gleiten sie über die Felswände, ruhen einmal für einen Moment, werden zurückgezogen und ein paar Schritte weiter wieder an den Felsen geführt. Viele Besucher berühren den Felsen kontinuierlich, manche selektiv, nur wenige gar nicht. Die Möglichkeit kontinuierlichen Kontakts wird dabei durch die Anlage des Settings eingeschränkt: Dort, wo sich der Behälter für die Gebetsanliegen mit der Absperrung und dort, wo sich die Absperrung vor der Felsspalte befindet, ist der Felsen der unmittelbaren körperlichen Annäherung entzogen – Teilnehmer passieren diese Stellen, ohne den Stein hier berühren zu können.
Abb. 4: Schlange im Inneren der Grotte
Bis zu dem Punkt, an dem sich die Wand an der Felsspalte teilt, erfolgt die Berührung des Felsens eher ungerichtet: Wichtig ist, dass der Felsen berührt wird, weniger, wo er berührt wird. Im hinteren Teil der Grotte, wo das herabrinnende Wasser die Felsoberfläche mit einem ungleichmäßigen Geflecht auffälliger Flecken überzieht, zeigen sich andere Varianten der Kontaktaufnahme. Die aufgrund ihrer dunklen Einfärbung leicht identifizierbaren, feuchten Stellen sind hier Gegenstand einer gerichteten Aufmerksamkeit vieler Teilnehmer, die sich diesen Flächen gezielt zuwenden. Die Stillfolge in Abb. 5 zeigt einen typischen Fall: Zu sehen ist eine Teilnehmerin, die an einem bestimmten Punkt stehen bleibt, ins Zentrum einer größeren feuchten Fläche fasst und die Hand zunächst etwas nach unten, dann nach oben und wieder zurück zum Ausgangspunkt gleiten lässt. Einen Schritt weitergegangen, fährt sie mit der Berührung fort, benutzt nun aber die andere Hand und führt sie mit ausgestrecktem Arm am feuchten Felsen entlang. Dann bleibt sie abermals stehen und bückt sich, um eine tiefer gelegene Stelle zu erreichen, wobei ein Wechsel zurück zur linken Hand erfolgt. Schließlich richtet sie sich wieder auf, reibt die Handflächen aneinander und geht weiter.
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Abb. 5: Berührungsbewegung am Felsen
Die Bewegungen der Besucherin sind hier ganz darauf abgestimmt, die durch ihre Feuchtigkeit hervorgehobenen Stellen berühren zu können. Sie koordiniert die Abläufe so, dass sie auch im Vorübergehen Kontakt aufnehmen kann, macht aber auch eigens hierfür halt und beugt sich hinab, um bestimmte Flächen zu erreichen. Während die Felswände im vorderen Teil der Grotte eher beiläufig berührt werden, wird das Weitergehen hier gezielt unterbrochen, um sich mit den durch das herabrinnende und sich sammelnde Wasser klar demarkierten Stellen in Kontakt zu bringen. Eine Besucherin hierzu: [...] und diese Felsen, man merkt die sin ja auch so=n bisschen feucht, auch wahrscheinlich an der Quelle liegt das dann ja auch so mit [...].
Das Wasser auf dem Felsen wird hier mit dem Wasser aus der Quelle identifiziert, deren Entdeckung mit den Marienerscheinungen in Verbindung gebracht wird. Teilnehmer können hier also nicht nur mit dem Stein, sondern auch mit dem heilenden Wasser in Berührung kommen, so dass die feuchten Flächen einen besonderen Aufforderungscharakter erhalten. Die Felswände der Grotte sind damit durch Flächen mit unterschiedlich starken Berührungsaffordanzen gekennzeichnet. Die Art und Weise, wie Teilnehmer der Spur des Wassers folgen, wie sie sich von der dunkel gefärbten Oberflächenstruktur leiten lassen und ihre Bewegungen daran orientieren, verweist dabei auf eine teleologische Offenheit dieser Aktivitäten, deren genauer Verlauf zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme noch nicht feststeht. Solche Formen der körperlichen Annäherung vollziehen sich nicht vor dem Hintergrund vorgefasster Intentionen, sondern erfolgen im Wortsinne tastend, erkundend, nach und nach. Sie haben »improvisierend-flexiblen Charakter« (Jung 2009:
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153), entfalten sich im Fluss des Handelns selbst und nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den kontinuierlichen »Rückkopplungen« (ebd.: 152), die sich mit der Berührung des Felsens vermitteln.11 Die Felswände mit ihren feuchten Oberflächen sind damit an der sukzessiven Entfaltung der Berührungsaktivität beteiligt. Über visuelle und haptische Eindrücke zeigen sie an, zu welchem Punkt die Hand weiter gleiten kann, ob es sich vielleicht an einer Stelle ›lohnt‹, sie für einen Moment ruhen zu lassen, und an welchem Punkt der Kontakt beendet werden kann. Die Oberfläche des Felsens konstituiert auf diese Weise Handlungs-Intelligibilität (»action intelligibility«, Schatzki 1996: 18): Aus der Vielzahl der möglichen Wege, die das Handeln nehmen kann, spezifiziert sie für die Teilnehmer in jedem Augenblick des laufenden Vollzugs, welcher konkrete Schritt sich als der nächste anbietet.12 Die hier immer
11 Ein anderes Beispiel für den ›flüssigen Charakter‹ des Handelns und seine sukzessive Entfaltung im Zuge kontinuierlicher Verwicklungen mit der Welt und den sich daraus ergebenden Wechselwirkungen ist das Sprechen: »Wer […] spricht, der wird nicht nur von dem qualitativen Fluss der artikulierten Töne affiziert, er erfährt in Wechselwirkung mit diesem auch das aktive Gestaltungsmoment der Gliederung und vor allem der Prosodie in einer spezifischen qualitativen Tönung. [...] Zwischen dem Selbstgefühl des Sprechers und den qualitativen Reaktionen der Zuhörer, wie sie dem Sprecher erst durch deren spontanes expressives Verhalten, dann durch explizite Artikulation zugänglich werden, bestehen subtile Wechselbeziehungen« (Jung 2009: 165). – Ähnlich wie sich eine Praktik analytisch in ihre einzelnen Handlungen zergliedern lässt, so lässt sich auch eine solche Berührungsaktivität als Zusammensetzung einer Vielzahl einzelner, aufeinander aufbauender Berührungsakte begreifen. Vom Aufsetzen der Hand auf dem feuchten Felsen bis zu dem Moment, an dem sie wieder von ihm gelöst wird, entfaltet sich diese Berührungsaktivität als eine lückenlose Abfolge einzelner Kontakte der Handfläche mit dem Stein, die von Moment zu Moment und von Punkt zu Punkt ›wandert‹ und so über den Felsen gleitet. 12 Handlungs-Intelligibilität bezieht sich auf die Spezifikation dessen, was für jemanden als zu tun angezeigt ist, wie also aus der Menge der zu einem Zeitpunkt möglichen Vollzüge eine Handlung als eine Handlung ›gekennzeichnet‹ wird, die durchzuführen in diesem Augenblick Sinn ergibt: »What makes sense to people to do, (…), is ›signified‹ to them as the action to perform« (Schatzki 1996: 118). Dieses Kennzeichnen vollzieht sich demnach oft über »signifying chains« (ebd.: 122): Um Z muss man Y, um Y muss man X, um X muss man W, also tut man W, um Z zu erreichen (ebd.: 44f.). Dabei muss ein solches Kennzeichnen keineswegs intentional erfolgen, sondern kann sich einfach im Fluss des Handelns ergeben. Diesen Gedanken einer teleologischen Strukturierung von Handlungszusammenhängen kann man nun auf die Mikrostruktur
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wieder zu beobachtenden Regelmäßigkeiten des Berührens erscheinen so als mit hervorgebracht durch eine materielle Aufforderungsstruktur, die die einzelnen Vollzüge präfiguriert und die Berührungsbewegungen als relativ offene Abfolge einzelner, aneinander anschließender Akte konstituiert.
Die Temporalität der Praktik Betrachten wir ein weiteres Beispiel: Eine Teilnehmerin bleibt im hinteren Teil der Grotte plötzlich stehen. Sie beugt sich nach vorne, legt den Kopf an den feuchten Felsen, lässt zugleich die linke Hand an der Felswand ruhen und verweilt dann mehrere Augenblicke in dieser Position. Nachdem sie sich gelöst hat und zwei Schritte weiter gegangen ist, bleibt sie kurzerhand noch einmal stehen und beugt sich zu einer nun etwas tiefer gelegenen Stelle hinab. Sie berührt den Felsen jetzt weniger mit der Stirn als vielmehr mit der oberen Partie ihres Kopfes und verharrt abermals für einen längeren Moment. Schließlich richtet sie sich wieder auf, stupst den Stein kurz noch einmal mit der linken Hand an, bevor sie, versonnen lächelnd, in Richtung Ausgang weitergeht. Abb. 6 zeigt den beschriebenen Vorgang.
Abb. 6: Wartesituation an der Grotte
Die Teilnehmerin berührt den Stein also nicht wie die meisten anderen nur mit den Händen, sondern stellt über die Anlehnung des Kopfes intensivierten Kontakt her und vermittelt damit einen Eindruck verstärkter Andächtigkeit. 13 Während
eines praktischen Vollzugs, also wie im Beispiel auf seine sukzessive Entfaltung durch eine Reihe aneinander anschließender Akte, herunterbrechen. Praktikentheoretisch gewendet, bedeutet Affordanz damit nichts anderes als die Artikulation von HandlungsIntelligibilität. 13 Es zeigen sich an diesem Beispiel Grenzen der Deutung von Lebenszuständen auf der Basis expressiver Handlungen: Ob der beschriebene Eindruck den tatsächlichen Zuständen der Teilnehmerin entspricht, bleibt ungewiss. Was man sagen kann, ist, dass diese Teilnehmerin das Arrangement als einen Ort behandelt, an dem Handlungen im Modus der Andächtigkeit intelligibel vollzogen werden können und an dem solche
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sich viele Teilnehmer darauf beschränken, den Stein nur im Vorübergehen zu berühren und höchstens einmal für einen kurzen Moment stehen bleiben, nimmt sich diese Teilnehmerin Zeit. Ein solches Innehalten ist für einen der religiösen Andacht gewidmeten Ort vielleicht nichts Ungewöhnliches – überraschender ist eher, wie selten man hier solche zeitlich ausgedehnten Episoden beobachten kann. Warum das so ist, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die ko-präsenten Teilnehmer wirft, die nicht etwa zum ›Überholen‹ ansetzen, sondern offenbar selbst an die noch besetzte Stelle gelangen möchten und deshalb gezwungen sind, zu warten: Die Schlange gerät ins Stocken und wird zunehmend dichter, und den anderen Teilnehmern bleibt nicht viel anderes übrig, als zuzuschauen oder sich derweil etwas eingehender mit dem Teil der Felswand zu beschäftigen, der sich in ihrer unmittelbaren Reichweite befindet. Diese kurze Episode verweist auf eine grundlegende Spannung, die in der Organisation der Praktik des Durchschreitens der Grotte angelegt ist und die mit ihrer temporalen Struktur zu tun hat. Die hohe Besucherfrequenz und die Art der Besucherorganisation erfordern eine beständige zeitliche Koordination der individuellen Aktivitäten, womit die Zeitlichkeit des Vollzugs normativen Charakter erhält: Korrekt bzw. akzeptabel ist dann nicht mehr nur, was und wie etwas hier getan wird, sondern auch, wie langsam oder schnell es getan wird. Die am Beispiel beobachtbare ›Störung‹ des reibungslosen Ablaufs zeigt dabei, dass ein ›Ausschöpfen‹ der Annäherungserfahrung unter Umständen mehr Zeit verlangt, als es die temporale Organisation der Praktik mit ihren kurzen Zeitfenstern erlaubt. Teilnehmer haben verschiedene Möglichkeiten, mit diesen konfligierenden Erwartungen und Bedürfnissen umzugehen. Wo die meisten Besucher die Dauer ihrer Aktivitäten auf die Geschwindigkeit des kollektiven Durchschreitens abstimmen, sich diesbezüglich also den koordinatorischen Zwängen der gegebenen Form der Zugänglichmachung unterordnen, lässt sich die Teilnehmerin im Beispiel die ihr zur Verfügung stehende Zeit nicht vorgeben, sondern stimmt die Dauer ihres Verweilens umgekehrt auf die Erfordernisse ihrer individuellen Annäherung ab und dehnt sie auf Kosten eines reibungslosen Ablaufs aus.14 Es zeigt sich hier eine latente
Handlungen vielleicht korrekt, mindestens aber akzeptabel sind, und dass sich diese Orientierung im Hinblick auf Akzeptabilität bzw. Korrektheit bestimmter Umgangsweisen mit der Felsoberfläche vermutlich über die Beobachtung praktischer Vollzüge vermittelt hat. 14 Indem sie die Tasche in der Hand behält, signalisiert die Teilnehmerin den Wartenden allerdings, dass sie sich zwar gewisse Freiheiten nimmt, sich aber der dadurch verursachten Unterbrechungen bewusst ist: Im Verzicht auf ein Abstellen der Reisetasche
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Spannung zwischen Temporalität und potentieller Affektivität dieser Praktik – wer keinen Stau riskieren will, hat für eine andächtige Annäherung nur begrenzt Zeit. Zugleich wird deutlich, wie jeder einzelne Vollzug eine je individuelle und situative Auseinandersetzung mit den in dieser Praktik angelegten Möglichkeiten und Beschränkungen ist: Man kann sich anpassen und sich mit Beschränkungen abfinden, testen, wie weit man gehen kann, alternative Formen ausprobieren, Sanktionen riskieren, und so weiter.
Die Öffentlichkeit der Praktik Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Durchschreiten der Grotte um eine Praktik handelt, die viele Besucher vermutlich erstmalig durchführen, wirft die beschriebene Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit des Vollzugs Fragen auf. Auch wenn der Besuch der Grotte Parallelen zu einer Reihe anderer Praktiken des Gedenkens oder des Anschauens aufweist und die konstitutiven Aktivitäten bzw. ›verstreuten‹ Praktiken – sich in einer Schlange anstellen, warten, bedächtig etwas anfassen, sich langsam fortbewegen – mit großer Wahrscheinlichkeit Teil des Handlungsrepertoires vieler Teilnehmer sind und mehr oder weniger spontan und selbstverständlich ausgeübt werden können, stellt er die Erstbesucher unweigerlich vor mehr oder weniger unbekannte Handlungs- und Verhaltensaufforderungen, die in situ erfasst werden und beantwortet werden müssen. Selbst wenn man ungefähr weiß, was zu tun ist, lässt sich nicht vollständig antizipieren, an welcher Stelle und wie genau es getan werden kann oder soll. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich immer wieder auffällige Formen der Nachahmung beobachten lassen, wie es die Bilder in Abb. 7 exemplarisch zeigen. Die Besucher in den angeführten Beispielen orientieren sich direkt am Handeln ihrer unmittelbaren Vorderleute, die sich bestimmten feuchten Stellen am Felsen zugewandt haben und dort agieren, indem sie die Hand in die Flüssigkeit hineindrücken (erste Reihe), sie im Vorbeigehen über den Stein gleiten lassen (zweite Reihe), oder sich nach oben recken, um höher gelegene feuchte Stellen mit Tüchern zu erreichen (dritte Reihe). Die nachrückenden Teilnehmer wenden sich dann ebenfalls diesen Stellen zu und handeln dort in ganz ähnlicher Weise (wobei sich die dritte Teilnehmerin in Reihe 3 – wohl in Ermangelung eines Tuches – mit ihrer Hand begnügt). Die Vorderleute betätigen sich so gesehen als ›Kundschafter‹, die geeignete Orte des Handelns identifizieren und dort Aktivitäten vollziehen, die von den Nachfolgenden aufgegriffen werden können.
demonstriert sie eine grundsätzliche Anerkenntnis der temporalen Regeln des Grottenbesuchs und stellt zugleich in Aussicht, dass ihr Verweilen zeitlich begrenzt sein wird.
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Abb. 7: Mimetische Vermittlung von Berührungsaktivitäten
Die Anlage des Settings unterstützt solche Formen der mimetischen Weitergabe: Als ein begehbares Halbrund bringt es eine Ordnung von Körpern und Blicken hervor, die den hier durchgeführten Vollzügen einen durchgehend öffentlichen Charakter gibt: Die schlangenförmige Organisation des Besucherstroms mit ihrer Face-to-back-Anordnung der Teilnehmer, die Überschaubarkeit des Settings, die es gewährleistet, das Geschehen in der Grotte schon vom Eingangsbereich aus einzusehen, der kontinuierliche, aber langsame Fluss sowie die kleineren Warteperioden ermöglichen es, andere Teilnehmer dabei zu beobachten, wie sie die Hand empfangend in die Felsnische halten oder versonnen hineinblicken – oder sie, wie es ebenfalls oft vorkommt, unbeachtet lassen –, wie sie an den feuchten Stellen des Felsens verweilen, mit der Hand darüber gleiten oder nach oben zur Erscheinungsnische schauen. Die Beschaffenheit des Arrangements und die hierdurch hergestellte Öffentlichkeit der Aktivitäten ermöglichen es so, die Unbekanntheit mit der Praktik
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durch eine Orientierung an anderen Teilnehmern zu bewältigen.15 Über ihre Vollzüge und die mit ihnen einhergehenden körperlichen Displays zeigen Teilnehmer füreinander an, wie an den verschiedenen Stellen der Grotte gehandelt werden kann, und generieren damit einen Kontext von Aktivitäten, die aufgegriffen oder ignoriert, imitiert oder in modifizierter Weise durchgeführt werden können. Das praktische Verständnis dieser Praktik – ›wie geht‹ der Besuch der Grotte? – vermittelt sich so gesehen darüber, dass sich Teilnehmer mit dem Betreten des Arrangements den fraglichen Vollzügen dieser Praktik aussetzen, sich durch Beobachtung zu ›kompetenten Teilnehmern‹ machen (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2016: 128ff.) und daraufhin ihrerseits Modelle akzeptabler und korrekter Handlungsweisen für andere produzieren. Die Praktik des Durchquerens der Grotte pflanzt sich über solche Formen mimetischer Vermittlung von Träger zu Träger weiter fort, bis ein Teilnehmer diese Übertragungskette unterbricht und in Auseinandersetzung mit den materiellen Gegebenheiten wieder ›eigenständigere‹ Varianten des Handelns entwickelt. Die immer wieder zu beobachtende Etablierung kurzzeitiger Konjunkturen – sei es im Hinblick auf die Durchführung besonderer Aktivitäten (wie das versunkene Berühren des Felsens mit der Stirn) oder im Hinblick auf die Auswahl bevorzugter Stellen zur Kontaktaufnahme mit dem Felsen – erweist sich damit als ein Hinweis darauf, wie diese Praktik kontinuierlich über verschiedene Träger hinweg weitergegeben wird und sich auf diese Weise am Laufen hält.
Zusammenfassung Die Grotte von Massabielle mit ihren steinernen Felswänden steht im Mittelpunkt eines verhältnismäßig gleichförmig ablaufenden praktischen Geschehens. Zu beobachten ist eine endlose Bewegung von Besuchern, die mehr oder weniger kontinuierlich durch die Grotte hindurchströmen und ihre Felswände mit Berührungen und Blicken überziehen. Aus einer Entitäten-Perspektive, die diese Aktivitäten des Schreitens, Blickens und Berührens als Konstituenten einer übergreifenden Praktik betrachtet, erscheint das Durchschreiten der Grotte als eine eigendynamisch prozessierende, aus den einzelnen Handlungsvollzügen emergierende und diese zugleich organisierende Maschinerie, die kontinuierlich neue Teilnehmer involviert, ihnen qua Partizipation das praktische Verständnis vermittelt und über die
15 Die unvermeidliche Öffentlichkeit der Vollzüge hat unter Umständen Konsequenzen für den Erfolg einer andächtigen Annäherung an diesen Ort: Weil Teilnehmer hier ständig unter Beobachtung sind, ist es kaum möglich, eine Form der Annäherung zu praktizieren, die nicht zugleich auch eine Darstellung dieser Annäherung ist.
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immer neue Ausführung einander ähnlicher Aktivitäten am Laufen gehalten wird. Das materielle Arrangement der Grotte trägt in mehrfacher Hinsicht dazu bei, diese Aktivitäten in ihrer Form und Regelmäßigkeit mit hervorzubringen. Einmal präfigurieren und strukturieren die Felswände mit ihrer konkreten Oberflächenbeschaffenheit bestimmte Handlungsverläufe und bringen so bestimmte Muster der Berührungsaktivitäten hervor. Als ein begehbares Halbrund, das eine schlangenförmige Organisation der Besucherströme begünstigt, ist das Arrangement zudem an der Konstitution der Temporalität dieser Praktik beteiligt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die einzelnen Andachtsaktivitäten einem koordinatorischen Erfordernissen geschuldeten zeitlichen Regime unterworfen werden: Den einzelnen Teilnehmern bleibt dann nur so viel Zeit, wie dies unter Maßgabe eines störungsfreien Ablaufs möglich ist. Schließlich bringt das Arrangement eine Ordnung von Körpern und Blicken hervor, die den praktischen Vollzügen im Inneren der Grotte einen öffentlichen Charakter gibt, so dass sie über ihre körperlichen Displays für andere Teilnehmer Modellcharakter erhalten und sich so in einem fortlaufenden Handlungsstrom mimetisch weiter vermitteln. Das Arrangement wirkt sich so nicht nur auf die konkrete Ausgestaltung der Aktivitäten aus, sondern auch auf ihre zeitliche Struktur und ihre Weitergabe. Die Praktik des Durchschreitens der Grotte mit ihren Charakteristika und Regelmäßigkeiten erscheint damit als ko-konstituiert durch das materielle Arrangement, in und mit dem sie sich vollzieht.
Sakralisierung durch Berührung: Die Intelligibilisierung des Arrangements Wir haben bis hierher gesehen, wie diese Praktik, die sich um die Höhle und ihre Felswände etabliert hat, ›funktioniert‹, wie sie durch das Arrangement mit hervorgebracht und strukturiert wird und wie sie sich in einer endlosen Kette immer neuer Vollzüge kontinuierlich reproduziert. Über die Organisation dieser Praktik und ihre Verflechtungen mit dem Arrangement ist damit aber längst nicht alles gesagt: Die Praktik mag durch das Arrangement, seine Anlage und seine konkrete physische Gestalt mit hervorgebracht werden, aber das alles setzt ja voraus, dass es überhaupt Teilnehmer gibt, die sich hierher begeben und die bereit sind, ›mitzuspielen‹ und sich in die praktischen Vollzüge involvieren zu lassen. Wie ›schafft‹ es also das Arrangement, diese Praktik hervorzubringen, unablässig Menschen um sich zu versammeln und sie dazu zu bewegen, sich ihm anzunä-
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hern? Was stellt diese Praktik ihren Teilnehmern in Aussicht? Und inwiefern handelt es sich hier überhaupt um eine religiöse Praktik? Um das genauer zu verstehen, muss man den Blick von der eher technischen Frage, ›wie es geht‹, ausweiten auf die Frage, was die Grotte für die Teilnehmer eigentlich bedeutet, wie sie verstehen, was sie tun, was sie sich davon versprechen, sich in die Schlange einzureihen, und was sich für sie ereignet, wenn sie die Felswände berühren. Man muss, mit anderen Worten, Fragen stellen nach dem Verständnis des Arrangements und nach der Teleologie der sich hier vollziehenden Praktik.
Bedeutung herstellen: Der Felsen als Interface Das praktische Geschehen an der Grotte ist ohne die Geschichte, in die dieses Arrangement verwickelt ist, nicht zu verstehen. Die Berichte von den Erscheinungen sind in Lourdes omnipräsent und werden den heutigen Besuchern über eine Reihe verschiedener Kanäle vermittelt. Erstens werden sie in einer Vielzahl von Elementen religiöser materieller Kultur repräsentiert. Abgesehen von der Quelle, die Bernadette auf Geheiß der Heiligen entdeckt haben soll und die im Inneren der Grotte, geschützt unter einer Glasplatte, zu sehen ist, gibt es keine direkte Verbindung zwischen der Grotte und der Geschichte. Stattdessen fungieren andere Dinge als Marker der religiösen Bedeutsamkeit des Ortes. Sie sind zum Teil in unmittelbarer Nähe zur Grotte platziert, wie etwa die Marienfigur in der Erscheinungsnische, größtenteils sind sie aber über das gesamte Gelände der Wallfahrtsstätte verstreut: weitere Marienstatuen, an den Felswänden unterhalb der Rosenkranzbasilika befestigte Votivplatten mit einer der Erscheinung zugeschriebenen, in verschiedene Sprachen übersetzen Aussage (»Trinkt aus der Quelle und wascht euch dort«), oder auch die in einem Reliquiar aufbewahrten Gebeine der Bernadette. Indem sie die Wallfahrtsstätte mit einem Netz von Referenzen auf die Erscheinungsberichte überziehen, etablieren diese Artefakte einen intelligibilisierenden Kontext, der das Verständnis der Grotte als eines religiösen Erinnerungsortes manifestiert und auf Dauer stellt.16
16 Auch der in der Grotte vorfindliche Altar, das Kruzifix und der Tabernakel stellen die Grotte in einen religiösen Kontext, indem sie auf die regelmäßig hier stattfindenden liturgischen Feiern hindeuten und das Innere der kleinen Höhle zugleich zu einem Altarraum machen. Allerdings stellen sie andere symbolische Bezugspunkte her als die ›marianischen‹ Artefakte und verweisen damit auf die Bearbeitung einer latenten Spannung: Der Gefahr einer ›Überbetonung‹ der Bedeutung Mariens wird entgegengestellt, dass die Heilige – ganz wie sich dies auch im Rosenkranzgebet ausdrückt – nicht als
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Zweitens werden Bernadettes Visionen in einer Vielzahl von Druckerzeugnissen beschrieben, insbesondere in den Pilgerführern zur Wallfahrtsstätte. Sie machen den Leser mit Zeitangaben zu den Visionen, mit den der Erscheinung zugeschrieben Aussagen sowie mit besonderen Vorkommnissen wie der Entdeckung der Quelle vertraut. Drittens werden die Berichte auch mündlich weitergegeben, insbesondere durch religiöse Experten vor Ort, die nicht nur in Predigten während der Gottesdienste und im Rahmen der täglichen Prozessionen, sondern auch in informellen Kontakten zu Pilgern darauf Bezug nehmen. Tatsächlich ist es nahezu unmöglich, nicht mit Bernadettes Visionen und der ›Botschaft von Lourdes‹ in Berührung zu kommen, während man sich dort aufhält. Sowohl die Materialisierung der Geschichte in Artefakten als auch ihre Wiedergabe im gesprochenen und gedruckten Wort verweisen auf die kontinuierliche Arbeit, die geleistet wird, um das Verständnis des Ortes zu aktualisieren, zu vermitteln und aufrecht zu erhalten. Dass die Praktik des Durchquerens der Grotte von der sich um sie rankenden Geschichte informiert ist, zeigt sich auch in immer wieder erfolgenden Bezugnahmen der Besucher. Eine Teilnehmerin: [...] weil das für mich einfach=n besonderer Ort (is), also wo ich halt, wo ich halt, wo ich denke, hat da jetzt der Himmel die Erde berührt, also dieses Transzendente is so real irgendwie für mich. Un ich bin ja jetzt nu mal auch gläubig [...], und dann hat man natürlich schon auch das Bedürfnis, diesen Ort zu berührn [...].
Im Rückgriff auf die Erscheinungsberichte wird die Grotte in dieser Aussage in ein unmittelbares Verhältnis zu den fraglichen Ereignissen gesetzt und als axis mundi, als eine ›Schnittstelle zwischen Himmel und Erde‹ konzipiert, an dem das »Transzendente« eine besondere Präsenz hat. In diesem Verständnis erscheinen die Felswände der kleinen Höhle einerseits als steinerne Zeugen der lange vergangenen Marienerscheinungen und zugleich als ein Interface, über das sich die Besucherin dem Erscheinungswunder nähern und an ihm partizipieren kann. Der Fels der Grotte ist hier zugleich Speicher und Vermittler religiösen Gedächtnisses: Er bezeugt die Erscheinungen, stellt diese Zeugenschaft auf Dauer und macht sie dem späteren Besucher in vermittelter Form zugänglich. Indem die Teilnehmerin den
letztinstanzliches Objekt der Verehrung, sondern als Mittlerin zu Jesus begriffen werden soll. Eine solche Strategie der symbolischen Relativierung der Rolle der Heiligen ist in Lourdes immer wieder zu beobachten – etwa, wenn der Marienfigur bei der Lichterprozession ein großes hölzernes Kreuz vorausgetragen wird (vgl. Kap. 5). Zugleich wird damit einem weiteren potentiellen ›Missverständnis‹ vorgebeugt, nämlich dem Glauben an eine ›magische‹ Kraftübertragung bei der Berührung des Felsens.
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Akt des Berührens als ein »Bedürfnis« beschreibt, verweist sie zugleich auf einen ›Mehrwert‹ dieses spezifischen Modus der Annäherung an den Ort, der etwas zu leisten scheint, das andere Formen des Zugangs – etwa ein auf ein Schauen beschränktes, bloßes Durchqueren – nicht zu leisten imstande sind. TC: [...] was passiert in dem Moment, wenn man den Stein anfasst? [...] T:
Ja man verbindet sich [...] mit dem Ort, und [...] dieses Transzendente wird wahr-
scheinlich einfach=n bisschen greifbarer, also hergeholt in meine Wirklichkeit, und wahrscheinlich ist das einfach so, wie wenn ich jemandem Realen die Hand geben würde, als ob man sich so verbindet und irgendwie die Hand reicht und ähm (-) ja dann auf Kontakt irgendwie aus ist [...]. Das [...] is wirklich, also ich komm jetzt hier an, und wirklich, eher so dieses=dieses Göttliche, dann (-) ja damit in Kontakt treten, das (ist es) eher für mich.17
Und ein anderer Besucher: [...] we’re not spiritual [...] we are concrete, we are material humans, we are not [...] angels, we we need the con- concrete signs [...]. [...] The-e-e the faith is not only, ah spiritual, but we need material things. [...] And ah (-) with theology we can ah, forget the simplicity of the faith. Ah-h-h, it’s very intellectual. And so, for=for me, touch the, the rock is (--) is a, a sign of, ah, of simplicity [...] and ah-h, god, the holy virgin, [...] offer(ed) us like, like a rock, and so, ah (-) by touching the rock, it’s like touching god, touching the holy virgin [...].
In diesen Aussagen wird die vermittelnde Leistung des Berührungsaktes hervorgehoben. Berührung erscheint hier als ein Weg zur Herstellung einer sinnlichen Unmittelbarkeit, die einem ›intellektualistischen‹ Zugang zur Religion gegenübergestellt wird. Der Stein wird als ein von der Heiligen zur Verfügung gestelltes ›Angebot‹ beschrieben und damit zu einer Ressource, die heutige Teilnehmer zur Überbrückung einer Distanz zum »Transzendenten« nutzen können (vgl. Meyer 2008: 710). Indem die Berührung den Körper mit dem Ort des Geschehens ›kurzschließt‹, macht sie das mit diesem Ort verbundene Transzendente »greifbarer«, wie es die Teilnehmerin mit der Metapher des Handschlags beschreibt, und »holt es her« in die »Wirklichkeit« des Körpers und der sinnlichen Erfahrung. Zugleich
17 Die Suchbewegungen der Teilnehmerin bei der Schilderung ihrer Deutung verweisen auf den übersubjektiven Charakter der Praktik, in die sie verwickelt wird. Was sich im laufenden Vollzug ereignet, erscheint hier nicht als etwas, das sie intentional hervorbringt, sondern als etwas, das sie deutend einzuholen versucht.
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ermöglicht es die Berührung aber auch, in vermittelter Form an den Erscheinungen zu partizipieren, bei denen es sich um ein lange abgeschlossenes Ereignis handelt: Während das Wunder seine Bedeutsamkeit ja gerade dadurch erhält, dass es etwas ansonsten Abstraktes, Verborgenes, Unzugängliches den Sinnen offenbart und auf diese Weise die Existenz von etwas bezeugt, an das sonst nur geglaubt werden kann, sind die Marienerscheinungen längst Geschichte. Die Felswände der Grotte bieten sich als ein steinerner, den menschlichen Sinnen zugänglicher Speicher an, der es erlaubt, sich mit dieser Geschichte in »Kontakt« zu bringen: So wie sich die Erscheinungen gezeigt, sinnlich wahrnehmbar gemacht und ›in die irdische Wirklichkeit‹ gebracht haben sollen, so werden sie für die späteren Besucher vermittels der Berührung des Felsens »hergeholt in [ihre] Wirklichkeit«. Das Verständnis des Ortes übersetzt sich so unmittelbar in das Verständnis der Berührung, versieht sie mit einer teleologischen Rahmung und bringt damit zugleich bestimmte affektive Potentiale hervor.
Bedeutung aktualisieren: Wie man sich zum Staunen bringt Ich habe argumentiert, dass die Hervorbringung der Bedeutung des Ortes auf laufender Vermittlungsarbeit beruht und dass sich dieses Verständnis in den praktischen Vollzug hinein übersetzt und ihn dadurch informiert. Wie eine solche Übersetzung geschieht, wird in der Art und Weise deutlich, in der eine Teilnehmerin den unmittelbar bevorstehenden Besuch der Grotte für sich einleitet: [...] man muss sich dann ja meistens auch anstellen, bisschen warten, das heißt man ist dann da schon in so=ner wartenden Haltung, und [...] ich weiß dann, dass ich da jetzt da gleich durchgeh an=nem Ort, also, der früher wirklich Müllablade war, also urspvor den Erscheinungen, das war ja wirklich=n Müllabladeplatz, wirklich, also (-) wirklich, also da wo eigentlich wo man nie gedacht hätte, dass, äh-h lässt sich Maria herab und erscheint da irgendwem. Und dass ich da gleich an diesem Ort bin, der so auch so Ausmaße, also so=ne Entwicklung dann [...] durch die Erscheinung [...] erlebt hat, [...] also es is für mich dann schon so=n Gnadenort, und da bin ich dann emotional sehr runtergefahrn, so, sehr bei mir. Und ich geh dann halt durch, einfach so mit dieser respektvollen Haltung, (eim) in so=ner gewissen Demutshaltung [...].
In den Augenblicken vor dem Durchschreiten der Grotte macht sich die Teilnehmerin, so ihre Beschreibung, bewusst, was es mit diesem Ort auf sich hat: Sie macht sich seine Besonderheit als »Gnadenort« klar, die sich für sie in der Entwicklung dokumentiert, die der einst profane Ort im Gefolge der Marienerschei-
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nungen genommen hat. Es wäre zu weit gegriffen, diesen Vorgang als eine Technik der Zustandsmodifikation zu begreifen, wie dies für Sophies Gebet in der Kirche herausgearbeitet wurde, denn es lässt sich hier nicht entscheiden, ob die Teilnehmerin aktiv solche Vorstellungen hervorbringt oder ob sie sich im Zuge ihrer Teilnahme an der Situation, etwa über die Beobachtung der Besucherströme, von sich aus einstellen. Auch hier aber geht es letztlich um die Gelingensbedingungen der Praktik, an der zu partizipieren die Besucherin im Begriff ist: Wenn das Durchschreiten dieses im Grunde recht unscheinbaren Ortes – die kleine Höhle ist eben keine gotische Kathedrale, die ihren Betrachter schon von sich aus in Staunen versetzt – mehr sein soll als ein bloßes ›Durchgehen‹, wenn es, mit den Worten der Teilnehmerin, darum gehen soll, »dieses Transzendente« für sich »greifbarer« und konkreter zu machen, sich mit ihm zu »verbinden«, dann setzt dies voraus, ein entsprechendes Verständnis an den Ort heranzutragen. Indem sich die Besucherin dieses Verständnis im Vorfeld ihrer Partizipation bewusst macht, bringt sie damit die für einen gelingenden Vollzug erforderliche Haltung hervor und schafft so die Bedingungen dafür, die im Besuch der Grotte angelegten Erfahrungspotentiale zu bergen. Das Verständnis des Ortes ist hier also nicht einfach gegeben, sondern es wird im und auf den praktischen Vollzug hin aktualisiert. Noch ein anderer Punkt ist hier wichtig. Ich habe herausgestellt, dass die Berührung der Felswände auch auf das Problem der Historizität der Marienerscheinungen antwortet und dass die für die späteren Besucher ausgeschlossene Unmittelbarkeit der Partizipation an den Ereignissen durch eine vermittelte Form der Partizipation ersetzt wird. Nun wird deutlich, dass eine solche Modulation Folgen hat und heutigen Besuchern etwas abverlangt, wenn sie sich dem Ort ›erfolgreich‹ nähern wollen: Das Staunen der Zeitzeugen – die ja der Erscheinungen ihrerseits nur in vermittelter Form gewahr wurden, weil ihnen nur der gestische, mimische und sprachliche Ausdruck des Mädchens zugänglich war, nicht aber die Erscheinung selbst –, wird ersetzt durch eine sublimierte Form der Annäherung, in der sich die Teilnehmerin selbst zum Staunen bringen muss. Statt der Begegnung mit der Heiligen persönlich beizuwohnen, bemüht sie die eigene Vorstellungskraft; statt die Aufmerksamkeit auf ein äußerliches Geschehen zu richten, verlagert sie ihre Aufmerksamkeit nach innen; statt ›mit eigenen Augen‹ zu sehen, stellt sie sich etwas ›vor das innere Auge‹: Staunen erscheint hier als das Ergebnis einer Arbeit an der eigenen Haltung.18
18 Dass die Modifikation der eigenen Zuständlichkeit mit der Vorbereitung auf den bevorstehenden Besuch der Grotte nicht abgeschlossen ist, darauf verweist die Bemerkung der Teilnehmerin, über die Berührung vermittele sich ihr das Gefühl, sie komme »jetzt hier an«. Die Berührung der Felswände bringt so gesehen ihrerseits eine Bündelung der
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Bedeutung einschreiben: Berührung als Intelligibilisierungsarbeit Das Verständnis der Grotte als eines religiösen Erinnerungsortes bleibt nicht darauf beschränkt, dass es die Berührungsaktivitäten informiert, sondern es schreibt sich den Felswänden über deren Vollzug auch physisch ein. Noch einmal die Teilnehmerin: [...] und diese Felsen, man merkt die sin ja auch so=n bisschen feucht, [...] und dann fass- fasst man diesen kalten Felsen an, der is ja schon recht speckig, sehr abgegriffen, ich weiß da sind Tausende, Millionen von Leuten schon vor mir durchgegangen, die auch mit ihren Sorgen, ihren Problemen, Empfindungen da durch sind (-) und da komm ich dann einfach, ähm ja ich bin da irgendwie so ganz bei mir, und es is=ne gewisse Demutshaltung einfach, wobei dieser Ort für mich dann so besonders ist.
Die Beschreibung des Felsens als »kalt«, »feucht«, »abgegriffen« und »speckig« verdeutlicht die sensorische Qualität der beschriebenen, durch das Anfassen des Felsens herbeigeführten Verbindung: Es sind vor allem die durch den Berührungsakt vermittelten Sinneseindrücke – die Festigkeit und Unnachgiebigkeit des Steins, die von ihm ausgehende Kühle, seine von dem herabrinnenden Wasser herrührende Feuchtigkeit –, auf denen seine Vermittlungsleistung ebenso beruht wie sein Vermögen als Immersionshilfe. Über die Berührung vermitteln sich neben Temperatur und Feuchtigkeit aber noch weitere Qualitäten des Steins, die für die Teilnehmerin offenbar besondere Bedeutung haben: Der »recht speckige, sehr abgegriffene« Stein verweist für sie auf die immensen Besucherströme, die alljährlich die Grotte durchschreiten und ihre Spuren auf der Felsoberfläche hinterlassen: auf die »Millionen von Leuten«, die schon vor ihr »mit ihren Sorgen, ihren Problemen, Empfindungen da durch sind«. Die über Jahrzehnte hinweg immer und immer wieder vollzogene Aktivität des Berührens hat ihre Spuren auf der Oberfläche des Steins hinterlassen und sich ihm ›spürbar‹ eingeschrieben. Der Stein, derart gezeichnet durch diese Form der körperlichen Annäherung, ist so gesehen nicht nur Zeuge der Erscheinungen, sondern auch der Besuchermassen, die jahrein jahraus die kleine Höhle durchströmen.19
Aufmerksamkeit und eine entsprechende innere Ausrichtung hervor und erscheint insofern als Immersionshilfe. 19 Solche aus regelmäßigen Berührungsakten resultierende Abnutzungs- oder Gebrauchsspuren lassen sich auch an anderen religiös bedeutungsvollen Orten finden. Für den Bereich katholischer materieller Kultur dürfte die Bronzestatue des heiligen Petrus im römischen Petersdom eines der prominentesten Beispiele sein: Die Segenswirkungen versprechende Berührung hat die Oberfläche des rechten Fußes der Figur im Lauf der
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In der Oberfläche des Steins dokumentiert sich damit die Transformation eines profanen, wenig glanzvollen und unbeachteten Ortes zu einem stark frequentierten, religiösen activity-place, der Menschen aus aller Welt versammelt (Kalthoff 2014: 83; vgl. Heidegger 2000), um dort der Erscheinungen zu gedenken und an ihnen zu partizipieren, und der auf diese Weise zu einem Medium religiöser Vergemeinschaftung wird. Die Abgegriffenheit des Steins wird so selbst noch einmal zu einem Zeugnis für die Besonderheit dieses Ortes, und jeder den Stein berührende Besucher trägt zur Stabilisierung dieser Besonderheit bei. So gesehen partizipiert die Teilnehmerin über die Berührung nicht nur in vermittelter Form an den Erscheinungen, sondern wird zugleich Teil einer die konkrete Situation weit übergreifenden Gemeinschaft, die sich qua Partizipation an dieser Praktik konstituiert, die sich sequentiell, in einem kontinuierlichen Nacheinander in der Zeit formt und die insofern unabgeschlossen ist, als sie sich mit jedem neuen Teilnehmer, der die Höhle durchschreitet, erweitert. Das Gefühl, selbst Teil dieser Gemeinschaft zu sein, vermittelt sich der Besucherin über die Berührung des abgegriffenen Felsens. Die Unterstellung, dass auch ihre Vorgänger die Berührung des Felsens mit höchstpersönlichen Anliegen und Gefühlen verbunden haben, impliziert dabei die noch grundsätzlichere Annahme, dass die Besucher der Grotte diesen Ort – und den Akt der Berührung – wie sie selbst als religiös bedeutungsvoll verstehen. In diesen Verständnis, wonach der Besuch der Grotte durch eine religiöse Teleologie organisiert wird, konstituiert sich durch die Teilnahme an der Praktik und den Vollzug der Berührungsaktivitäten nicht nur eine Gemeinschaft der Besucher, sondern eine Gemeinschaft der Gläubigen: Die Grotte wird zu einem Ort, der seine Besucher zu einem übergreifenden Devotionskollektiv verbindet. Über die Berührung des Felsens vermittelt sich so nicht nur eine abstrakte Form der Zeugenschaft, sondern auch die Teilhabe an einem Zeit und Raum transzendierenden devotionalen Kollektiv, das im Glauben an die Heilige verbunden ist und seine Spuren in der Oberfläche des Steins hinterlässt.20 Ein Geistlicher bringt diesen Aspekt so auf den Punkt:
Zeit so stark abgetragen, dass der Fuß sichtlich – und spürbar – an Substanz verloren hat. 20 Teilnehmer, die den Besuch des Ortes mit einer anderen Teleologie verbinden (so etwa von der Bekanntheit des Ortes angezogene, auf der Durchreise befindliche Touristen), werden in der Konzeption der Teilnehmerin nicht berücksichtigt, die ihre Version dieser Praktik offenbar als den Normalfall betrachtet. Alternative Formen der Organisation dieser Praktik – etwa im Rahmen eines von religiösen Überzeugungen und Motiven entkoppelten Durchgehens und Berührens – werden damit zu einer Art Sonderfall deklariert, zumindest scheinen solcherart praktizierende Besucher an der Konstitution des
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[...] letzten Endes glaub ich mal, dass (man) sich einreiht natürlich in Menschen, die vorher schon diesen Ort als heilig empfunden haben. Is ja so=ne ganz lange Bewegung an diesen Orten. [...]. Also egal wie mer ja auch zu so Wallfahrtsorten wie Lourdes stehen kann, zumindestens merken Menschen, dort warn schon ganz viele vor m-mit ihrer Sehnsucht und mit ihren Fragen und mit ihren Themen irgendwie, und plötzlich wird dieser Ort offensichtlich dadurch irgendwie geheiligt [...].
Die Aussage des Priesters nimmt Bezug auf den performativen Charakter der hier zu beobachtenden Vollzüge. Die Berührung des Felsens – in der sich ja diese »ganz lange Bewegung« ausdrückt – markiert so gesehen nicht nur ein reges, aber irgendwie diffuses Besucherinteresse, sondern ist auch daran beteiligt, die religiöse Besonderheit dieses Ortes immer wieder neu mit herzustellen: In der Berührung dokumentiert sich, dass der Ort »als heilig empfunden« wird, und sie ist zugleich daran beteiligt, ihn zu ›heiligen‹. Anders ausgedrückt: Aktivitäten der Berührung intelligibilisieren das Arrangement, transportieren ein Verständnis, das sich mit jedem einzelnen Berührungsakt darauf überträgt, sich ihm im Lauf der Zeit auch physisch einschreibt und so auf Dauer gestellt wird. Die Sakralisierung des Arrangements erscheint so als das Ergebnis der kontinuierlich an ihm vollzogenen Aktivitäten.
Deutungskonflikte: Das Ringen um das richtige Verständnis An der mit einem Absperrband versehenen Felsspalte im tieferen Teil der Grotte, der weiter in das Innere des Massivs zu führen scheint, konnte der folgende Vorgang beobachtet werden: Ein Besucher bleibt vor der Absperrung stehen und schaut in die Öffnung. Dann streckt er den linken Arm aus, legt den Kopf leicht in den Nacken, hält die geöffnete Hand in Richtung der Felsspalte und verbleibt einige Augenblicke in dieser Position. Das Gewicht hat er auf das nach vorne gestellte linke Bein verlagert, so dass er mit dem Oberkörper noch etwas näher an die Vertiefung gelangt. Diese Haltung schließlich auflösend und sich abwendend, führt er die noch immer geöffnete Hand zum Mund und klappt sie nach oben, als
Devotionskollektivs auf den ersten Blick unbeteiligt. Weil im Nachhinein nicht unterschieden werden kann, mit welchen Motiven der Stein berührt und abgetragen wurde, schreiben aber auch solche Besucher gewissermaßen ein religiöses Verständnis ein, obwohl sie es mit ihrer Berührung nicht verbinden. Was der Vollzug dieser Praktik ausdrückt oder vermittelt, geht über das subjektive Verständnis einzelner Teilnehmer hinaus: Wer sich in den Besucherstrom einreiht, vollzieht damit nach außen hin eine religiöse Praktik.
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ließe er sich daraus Wasser in den Mund fließen. Anschließend fährt er mit der Hand über den Mund, über die rechte Wange, über den Nacken, von hier aus über die linke Wange, stets so, als würde er die entsprechenden Partien einreiben. Abschließend hält er die Handfläche vor den Mund und verharrt so einen Moment. Dann lässt er die Hand fallen, wendet sich nach rechts und dem vor ihm liegenden Felsen zu und geht weiter (vgl. Abb. 8). Ähnliche Vorgänge können hier immer wieder beobachtet werden: Viele Besucher führen die Hand, nachdem sie sie in empfangender Geste in Richtung der Felsspalte gehalten oder den Stein berührt haben, über das Gesicht oder über den Kopf, oft auch zu anderen Körperpartien wie dem Bauch oder dem Rücken. Andere führen Gegenstände in die Nähe der Öffnung. In einem Fall nähert sich etwa ein Pilger der Spalte mit einer weißen Plastiktüte, in der sich Kerzen und Kanister für das Wasser befinden, zieht die Griffe auseinander und hält die geöffnete Tüte mit ausgestreckten Armen mehrere Augenblicke lang in Richtung der Vertiefung. Wieder andere bringen mitgeführte Devotionalien wie Rosenkränze oder Marienfiguren in Kontakt mit dem feuchten Felsen oder sammeln das auf ihm befindliche Wasser mit Tüchern auf.
Abb. 8: Teilnehmer an der Felsspalte
Solche Formen der Annäherung scheinen an die Idee der Heilung anzuknüpfen, die für den Aufstieg von Lourdes zu einem ›Heiligtum der Kranken‹ (Harris 2000: 288) so wichtig war. In ihnen kommt ein Verständnis zum Ausdruck, das über eine rein ›andächtige‹ bzw. erinnernde Annäherung hinaus von der Grotte offenbar als einer Art ›Kraftfeld‹ ausgeht, einem Ort, an dem eine besondere Kraft waltet, an der wiederum über die Herstellung räumlicher und körperlicher Nähe partizipiert werden und die auch auf Dinge übertragen werden kann.21 Die Berührung
21 Eine ›erinnernde‹ und eine ›magische‹ Deutung des Felsens müssen sich keineswegs ausschließen, sondern können sich vielmehr ergänzen und miteinander einhergehen.
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wird zu einer Übertragung einer heilenden oder sich in anderer Weise positiv auswirkenden Kraft (vgl. Brown 2009). Ein solches Verständnis steht allerdings im Widerspruch zu Deutungen, wie sie von der Kirche als der Hüterin des Ortes vertreten und in Veröffentlichungen der Wallfahrtsstätte vermittelt werden. Im Internetauftritt und in Pilgerheften etwa wird der Fels der Grotte als eines der »Zeichen von Lourdes« mit einem Bibelzitat in Verbindung gebracht: ›Herr, du mein Fels, meine Burg, mein Retter, [...], meine Feste, in der ich mich berge, mein Schild und sicheres Heil, meine Zuflucht (Psalm 18, Vers 3).‹22
Weiter heißt es dort: Viele berühren den Felsen in der Grotte der Erscheinungen. Dabei geht es nicht um eine magische heilende Kraftübertragung, sondern um den Wunsch, Gott nahe zu sein, denn der Fels ist in der Heiligen Schrift ein Symbol für Gott. [...] Berühren Sie den Fels und bitten Sie Gott darum, dass er Ihnen einen festen Halt gibt im Leben.23
Der Fels der Grotte erscheint in dieser Lesart nicht als Träger einer diffusen heilenden Kraft, sondern als Symbol einer Glaubensbeziehung, für die Rolle Gottes im Leben des Glaubenden, für Stabilität und Beständigkeit, Schutz und Geborgenheit, für einen unerschütterlichen »Existenzgrund« (Pesch 2009). Die Grotte wird auf diese Weise ein Stück weit von der Erscheinungsnarration entkoppelt und in einen umfassenderen biblischen Kontext gestellt. Gleichzeitig wird mit der Deutung des Felsens als »Symbol für Gott« auch ein bestimmtes Verständnis der sich an ihm vollziehenden Aktivitäten verbunden: In der Erläuterung, worum es beim Berühren des Felsens ›geht‹ und worum es ›nicht geht‹, vermittelt sich ein normatives Verständnis dieser Aktivität, mit dem eine Deutung als korrekt markiert und eine andere für falsch erklärt wird. Die Berührung soll nicht als »magischer« Akt verstanden werden, in dem sich eine »heilende Kraftübertragung« ereignet, sondern als Gebetshandlung, in der sich der »Wunsch« artikuliert, »Gott nahe zu
Die geschilderten Fälle sensibilisieren deshalb dafür, dass auch weniger auffällige Aktivitäten des ›durchschreitenden Berührens‹ mit Annahmen einer solchen Kraftübertragung verbunden oder von ihnen getragen sein können. 22 URL: http://de.lourdes-france.org/vertiefen/die-zeichen-von-lourdes/der-fels [6. November 2015] 23 Ebd., Herv. im Orig.
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sein«. Auf diesem Verständnis basiert auch die hier vorzufindende ›Gebrauchsanweisung‹, die erläutert, wie man den Felsen berühren bzw. was man dabei tun soll.24 Die Vermittlung eines solchen Verständnisses ist dabei nicht auf Veröffentlichungen der Wallfahrtsstätte beschränkt, sondern erfolgt auch aktiv im Kontakt der mit der Betreuung der Pilger betrauten religiösen Experten. Ein vor Ort tätiger Seelsorger: [...] der Fels hat ja auch auch=ne religiöse, ne theologische Bedeutung, (vom) Alten Testament her, das, was man oft erstmal den Pilgern erklären muss. […] also mer sieht auch oft, wie die Leute den Fels berühren, oft vielleicht auch gar nich wissen, was denken sie jetz dabei, deshalb isses auch wichtig, da immer zu sagen, was es denn für Bedeutung hat der Fels, dass, dass sie jetz nich irgendwie denken, na da springt jetz irgendwas rübber oder so, ne-e, das, das isses nich. [...] mit Magik hat das nix zu tun. […] Also, äh ich tu die Themen immer wieder bei den Gottesdiensten oder bei Katechesen thematisieren, damit sie auch diese, diese ganze biblische, was da alles drinsteckt, ja, dass sie das auch mitbekommen, und äh das scheint mir äh wichtiger zu sein, dass sie dafür ein Verständnis bekommen, ne? Äh was da alles mit drinsteckt, nich? [...] wir betonen immer wieder, eben, dass, äh dass da eben keine Magik is [...].
Zusammentreffen mit Pilgern werden diesem Bericht zufolge von Kirchenvertretern für die gezielte Vermittlung einer theologischen und damit ›richtigen‹ Deutung genutzt. Was dieser Ort und was die an ihm vollzogenen Aktivitäten bedeuten, »was da alles mit drinsteckt«, wird demnach einerseits in den täglichen Gottesdiensten thematisiert, andererseits aber auch in Katechesen, also persönlichen Glaubensunterweisungen zwischen Seelsorgern und Pilgern. Angesichts des eigendynamischen Charakters der praktischen Maschinerie, die immer neue Besucher involviert und ihnen im laufenden Vollzug das praktische Verständnis vermittelt, kann die Annahme, Pilger wüssten oft vielleicht gar nicht, was sie beim
24 Dieses normative Verständnis richtet sich also gleichermaßen auf den Felsen wie auf seine Berührung. In diesem Zusammenfallen dokumentiert sich ein Verhältnis wechselseitiger Bedeutungszuweisung, in dem Praktiken und Dinge füreinander einen intelligibilisierenden Kontext bilden (Schatzki 2016a): Das Verständnis der Dinge ist zugleich das Verständnis der sich an und mit diesen Dingen vollziehenden Praktiken – und umgekehrt. Indem kirchliche Autoritäten bestimmte Bedeutungen der Dinge definieren, nehmen sie damit zugleich aktiv Einfluss auf die teleologische – und damit vermutlich auch die affektive – Organisation der sich an und mit ihnen vollziehenden Praktiken.
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Vollzug der Berührung eigentlich denken, einige Plausibilität für sich beanspruchen: Die Teilnehmer berühren zwar, müssen sich aber ihren eigenen Reim darauf machen, was dieses Berühren eigentlich ist bzw. bedeutet – der Vollzug ist dann seiner Deutung vorgängig. Deutlich wird in der Schilderung des Geistlichen (»wir betonen immer wieder«), dass es sich bei solchen Erläuterungen nicht um eine individuelle Schwerpunktsetzung handelt, sondern dass die Vermittlung der ›korrekten‹ Deutung fester Bestandteil des professionellen Handelns auch der anderen vor Ort tätigen Seelsorger ist. Zugleich verweist sie auf die Kontinuität dieser Vermittlungsarbeit: Offenbar wird die Vermittlung der richtigen Deutung des Handelns an der Grotte als eine unabgeschlossene – und wohl auch: unabschließbare – Aufgabe betrachtet. Es spricht einiges dafür, dass sich die Notwendigkeit einer solchen kontinuierlichen ›Richtigstellung‹ aus einer grundlegenden und kaum auflösbaren Ambiguität ergibt, die mit dem Erscheinungsnarrativ und den Heilungswundern verbunden ist und sich in die praktischen Vollzüge hinein übersetzt. 25 Die sich in Gottesdiensten, Katechesen und Texten manifestierenden Strategien der Intelligibilisierung, die darauf abzielen, den Teilnehmern diejenigen Deutungen des Arrangements und der dort vollzogenen Praktiken nahezubringen, für die die Vertreter der Wallfahrtsstätte Geltung beanspruchen und die im Einklang mit der kirchlichen Lehre stehen, werden verständlich als eine fortwährende Bemühung zur deutenden Einholung eines eigendynamisch prozessierenden praktischen Geschehens, als der auf Dauer gestellte Versuch, einer Gefahr von ›Fehlinterpretationen‹ zu begegnen, wie sie sich aus einer Mehrdeutigkeit des Materiellen ergibt, die sich hier in eine Mehrdeutigkeit der Praktik übersetzt.
Zusammenfassung In der Verwicklung des Arrangements der Grotte in Prozesse der Bedeutungszuschreibung liegt, so wurde hier deutlich, die Ursache für sein Vermögen, Menschen an diesem Ort zu versammeln und sie dazu zu bewegen, sich in die Besucherströme einzureihen und sich dem Ort in der beschriebenen Weise anzunähern. Dabei zeigt sich, dass auch die Intelligibilisierung des Arrangements ein kontinuierlicher und auf mehreren Ebenen ablaufender Prozess ist und dass die der Grotte zugewiesene Bedeutung das Ergebnis laufender Zuschreibungsarbeit ist. So fungiert die Vermittlung der Erscheinungsberichte mithilfe von Artefakten und Druckerzeugnissen sowie durch religiöse Experten als eine kontinuierliche Arbeit
25 Tatsächlich versuchte die Kirche bereits von den frühen Tagen an eine Identifikation zwischen dem Wasser und der Heiligen zu durchbrechen (Harris 1999: 295).
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daran, das Verständnis der Grotte als axis mundi und als einen Speicher religiösen Gedächtnisses zu aktualisieren und aufrechtzuerhalten. Erst über die Aufrechterhaltung dieser Deutung werden die Felswände zu einer Ressource religiöser Sinnstiftung, die heutige Besucher für sich nutzen können, um sich im Akt der Berührung den Ereignissen anzunähern. Diese Zuschreibungsarbeit ist mit den beschriebenen Maßnahmen aber nicht abgeschlossen. Am Fall der Teilnehmerin, die sich den besonderen Status der Grotte vor Augen führt, bevor sie den Ort betritt und dadurch zu einer Modifikation ihrer Haltung kommt, zeigt sich, wie das fragliche Verständnis im und für den praktischen Vollzug aktualisiert wird, sich so in diesen Vollzug hinein vermittelt und ihn so gleichermaßen auf der Ebene der Teleologie wie der Affektivität informiert. Das Verständnis der Berührung der Felswände als einer religiös konnotierten Aktivität und ihre Leistung, sich dem Transzendenten anzunähern und etwas Ungreifbares in der Welt des Körpers und der Sinne präsent zu machen, speist sich so aus dem Anschluss an das zuvor vermittelte Verständnis des Ortes. Dies verweist zugleich auf die Gelingensbedingungen und den Voraussetzungsreichtum einer erfolgreichen Partizipation. Weiter wurde deutlich, wie die so ›aufgeladenen‹ Berührungsakte an der kontinuierlichen Konstruktion, Aufrechterhaltung und Vermittlung dieses Verständnisses beteiligt sind, indem sie es einerseits im laufenden Vollzug ausdrücken und für andere sichtbar machen, und es andererseits, indem sie den Stein in millionenfacher Wiederholung nach und nach abtragen, allmählich in die Oberfläche des Felsens einschreiben und verstetigen. Indem sich das Verständnis auf diese Weise physisch manifestiert, wird es umgekehrt in der Berührung auch erfahrbar und verbindet die Teilnehmer zu einem über die Zeit hinweg sich konstituierenden devotionalen Kollektiv. Die Berührung hat damit einen Doppelcharakter bzw. eine expressive und eine rezeptive Seite: Sie übermittelt das in ihr enthaltene und durch sie transportierte Verständnis auf die Oberfläche des Felsens und schreibt es ihm ein, während dieses Verständnis umgekehrt in der Berührung erfahrbar wird. Zugleich zeigt sich, dass das Verständnis nicht nur immer wieder neu hervorgebracht und vermittelt werden muss, sondern dass sich diese Vermittlung immer auch gegen ›Fehldeutungen‹ richtet und dass um die ›korrekte Deutung‹ dieser Berührungsaktivitäten kontinuierlich gerungen wird. Die Bemühungen religiöser Experten, den Teilnehmern die richtige Deutung des Felsens und damit zugleich der sich an ihm vollziehenden Aktivitäten zu vermitteln, erweisen sich als der auf Dauer gestellte Versuch, die eigendynamisch prozessierende Praktik des Durchschreitens der Grotte mit einem bestimmten Verständnis zu informieren, diesbezügliche Ambiguitäten zu bearbeiten und zu kontrollieren und so Einfluss auf die
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Organisation dieser Praktik zu nehmen. Die im ersten Teil des Kapitels als eigendynamische, kontinuierlich neue Teilnehmer involvierende Maschinerie beschriebene Praktik des Durchschreitens der Grotte wird über die Analyse der Berührung als einer ihrer konstitutiven Aktivitäten und über den Einbezug von Teilnehmerperspektiven umfänglicher verständlich: Deutlich wird, wie sie kontinuierlich gespeist werden muss durch ein bestimmtes Verständnis, wie dieses Verständnis uneindeutig und umkämpft ist, wie es in den praktischen Vollzug hinein vermittelt wird und werden muss und wie es sich über den Vollzug manifestiert und materialisiert.
Die Lichterprozession in Lourdes
Neben dem Besuch der Grotte von Massabielle ist auch die Teilnahme an der abendlichen Lichterprozession für die meisten Pilger fester Bestandteil ihres Aufenthalts an der Wallfahrtsstätte. Mit der am Nachmittag stattfindenden Eucharistischen Prozession und dem Internationalen Gottesdienst in der mehr als zwanzigtausend Besucher fassenden Unterirdischen Basilika gehört sie zu den regelmäßig von der Wallfahrtsstätte ausgerichteten, besonders stark frequentierten Großereignissen. Während die Eucharistische Prozession, bei der eine Monstranz mit einer konsekrierten Hostie im Mittelpunkt steht, wie eine Fronleichnamsprozession abläuft, knüpft die Lichterprozession an den marianischen Hintergrund der Wallfahrtsstätte an und wird als Marienprozession durchgeführt. Dieses Ereignis, bei dem die Teilnehmer allabendlich mit Kerzen in der Hand einer hell illuminierten Marienfigur durch die Dunkelheit folgen, übt mit ihrer besonderen Atmosphäre und Szenerie eine starke Anziehungskraft aus und ist zu einer Art Hauptattraktion und Wahrzeichen von Lourdes geworden. Ihren besonderen Charakter erhält die auf den Einbruch der Dunkelheit abgestimmte Marienprozession durch einen gezielten Einsatz von Licht, das einerseits als Gestaltungsmittel für die Inszenierung der Umgebung genutzt wird, inmitten derer sich die Prozession ereignet, andererseits aber auch aktiv in die laufenden Vollzüge integriert wird. Das Licht erscheint so als zentraler Bestandteil eines praktikenspezifischen Arrangements, das in verschiedener Weise das Geschehen einbettet, beeinflusst und trägt. Mit der Analyse der Lichterprozession weitet das folgende Kapitel den Fokus der Studie über Artefakte und natürliche Objekte hinaus auf ephemere materielle Phänomene aus und fragt danach, wie Licht und Dunkelheit in die praktischen Vollzüge eingebunden werden, was sie für diese Praktik leisten und wie sie das praktische Geschehen strukturieren. Das Kapitel behandelt die Rolle des Lichts in Bezug auf drei Aspekte: Im ersten Schritt wird herausgearbeitet, wie über den Einsatz von Licht einzelne materielle Entitäten präsent gemacht, intelligibilisiert und in tragende Elemente des Arrangements transformiert
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werden. Der zweite Teil erörtert, wie mithilfe variierender Lightscapes eine spezifische Dramaturgie des Geschehens hervorgebracht wird. Schließlich wird diskutiert, wie Kerzenlicht als materialisierter Ausdruck einer Glaubenshaltung in die Inszenierung religiöser Vergemeinschaftung eingebunden wird.
Ablauf der Prozession Die Spitze des Zuges, die sich zusammen mit den ersten Pilgern am Sammlungspunkt an der anderen Uferseite eingefunden hat, setzt sich bereits einige Minuten vor dem offiziellen Beginn um 21 Uhr mit der Marienfigur in Bewegung, um sich zur eigentlichen Startposition zu begeben. Zunächst geht es in noch loser Ordnung am Fluss entlang Richtung Westen, zur hinteren der drei Brücken, die die beiden Ufer des Gave de Pau miteinander verbinden. Zu diesem Zeitpunkt ist es noch still, die Teilnehmer gehen schweigend oder sich leise unterhaltend neben- und hintereinander her. Auf der Brücke kommt der Zug für einige Minuten zum Stehen und die Teilnehmer an der Spitze nehmen ihre Positionen ein: ein Zeremoniar der Wallfahrtsstätte, der das Tempo vorgibt, ein Bannerträger, ein Kreuzträger, die von mehreren Pilgern auf einer Sänfte getragene Figur der Notre-Dame de Lourdes, Fackelträgerinnen, schließlich Träger mit Ständern zum späteren Abstellen der Figur. Das Glockenspiel der Oberen Basilika und die darauffolgenden Glockenschläge zur vollen Stunde markieren dann den eigentlichen Beginn: Nachdem der letzte Glockenschlag verhallt ist, ertönt eine Orgel, und die Stimme eines Vorbeters leitet die Prozession mit dem In nomine patris ein: Die versammelten Teilnehmer bekreuzigen sich, antworten mit Amen und heben zum Singen des Glaubensbekenntnisses in lateinischer Sprache an, während sich der Zug in Bewegung setzt. Das rund einstündige Prozessionsgeschehen ist geprägt durch ein kontinuierliches Voranschreiten und wird strukturiert durch einen festen Ablauf von Gebet und Gesang. Vorgegeben wird dieser Ablauf durch Vorbeter und Vorsänger, die sich am Zielpunkt des Zuges vor der Rosenkranzbasilika befinden und deren Stimmen über die in regelmäßigen Abständen entlang des Weges angebrachten Lautsprecher deutlich zu hören sind. Die Prozession ist im Grunde ein ›Rosenkranzin-Bewegung‹: Während die Teilnehmer mit einer Kerze in der Hand der Marienfigur folgen und in loser Formation die festgelegte Route entlanggehen, beten sie,
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im stetigen Wechsel mit den Vorbetern, den Rosenkranz in mehreren Sprachen.1 Manche Teilnehmer haben eine Gebetskette bei sich und lassen sie nach und nach durch die Hand gleiten. Ergänzt wird das Rosenkranzgebet durch eine Reihe weiterer Gebete und Gesänge, so etwa das mehrfach angestimmte »Lourdes-Lied« (eigentlich: »Ave Maria de Lourdes«), zu dessen Refrain die Teilnehmer ihre Kerzen zum »Mariengruß« erheben. Der Prozessionszug schreitet dabei einen großen Teil des Wallfahrtsgeländes ab. Nach Überqueren der Brücke bewegt er sich auf der anderen Seite des Flusses auf das Zentrum des Heiligtums zu: vorbei an den Bädern und dem Kerzenbereich, der Grotte, den Wasserhähnen und den Arkaden, durch die hindurch man schon den späteren Zielpunkt erkennen kann; danach auf den offenen, weiträumigen Platz mit der Statue der Gekrönten Madonna, die nun eine Zeit lang das Zentrum des Geschehens bildet; von hier aus links auf den bogenförmigen Prozessionsweg, der zunächst von der Rosenkranzbasilika weg, dann wieder zu ihr hin führt, und schließlich geradeaus zum Vorplatz vor der Kirche. Auf der ersten Etappe ist der Weg gesäumt von Teilnehmern, die sich entlang der Route positioniert haben, um sich dem vorbeiziehenden Prozessionszug nach und nach anzuschließen. Abb. 9 zeichnet den Verlauf der Prozession nach. Die stärker durch Elemente eines Gottesdienstes gekennzeichnete Zeremonie auf dem Vorplatz der Rosenkranzbasilika an der Ostseite der Prozessionsesplanade bildet dann den zweiten Teil des Ereignisses. Hier, wo sich der Prozessionszug unter Mitwirkung einer Vielzahl von Ordnern in eine in Blöcke geordnete Menschenmenge verwandelt hat, die, den Blick auf die Kirche gerichtet, den feierlichen Abschluss der Prozession erwartet, erreicht das Geschehen schließlich seinen Höhepunkt. Während die beleuchtete Kirchenfassade in stimmungsvolle, ineinander übergehende Farben getaucht wird, wird die für viele bislang nur aus der Ferne zu sehende Marienfigur unter Ave Maria-Gesängen durch die Menge getragen und erreicht schließlich ihren Bestimmungsort: Auf der Plattform vor der Kirche, die für diese Zeremonie als Bühne fungiert, wird sie unter Aufsicht der liturgischen Leiter, die sich im Hintergrund zusammen mit dem Pilgerchor in einer langen Reihe nebeneinander aufgestellt haben, auf einen Sockel niedergelassen
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Die Reihenfolge der Lieder und Gebete folgt einem klar geregelten Ablauf. Ein Gesätz teilt sich demnach auf in das vorangestellte, in Abhängigkeit vom jeweiligen Wochentag ausgewählte Geheimnis (vgl. Kap. 3), das in den offiziellen Sprachen der Wallfahrtsstätte genannt, um die jeweilige Stelle aus dem Evangelium ergänzt und mit einem Gebetsanliegen verbunden wird, einen Mariengesang, ein als Wechselgebet gesprochenes Vater Unser, die ebenfalls als Wechselgebet angelegten Ave Maria und ein gesungenes Ehre sei dem Vater.
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und, umgeben von ihren Begleitern mit dem Kreuz und den Fackeln, in Blickrichtung zur Menschenmenge positioniert. Die Aufmerksamkeit verlagert sich jetzt auf die Bühne, zu den liturgischen Akteuren und der Marienfigur. Nach einem gemeinsamen Gebet empfängt die versammelte Menge den bischöflichen Segen, bevor gemeinschaftlich das Salve Regina angestimmt wird. Zum Abschluss werden die Teilnehmer, ganz wie in einem Gottesdienst vor Empfang der Kommunion, zum »Friedensgruß« aufgefordert, bei dem man den umstehenden Personen die Hand reicht und sich Frieden wünscht. Nach und nach lösen sich die Reihen der Teilnehmer auf, die nun entweder das Wallfahrtsgelände verlassen oder sich noch einmal zur Grotte und zum Gebetsbereich begeben.
Abb. 9: Ausschnitt aus dem Grundriss des Wallfahrtsgeländes mit Verlauf der Prozessionsroute. Der Zug startet am Pavillon am anderen Flussufer (1), bewegt sich dann auf die Statue der Gekrönten Madonna im Zentrum des Prozessionsplatzes zu (2), beschreitet dann den Weg um die Ostseite des Platzes (3) und kommt schließlich vor der Rosenkranzbasilika (4) zum Stehen (Quelle: Wallfahrtsstätte Lourdes 2012; das Bild wurde leicht modifiziert)
Das Arrangement der Prozession wird durch eine Vielzahl materieller Entitäten gebildet: den Pavillon, an dem sich die Spitze des Zuges mit den ersten Pilgern sammelt und sich, zunächst noch ungeordnet, in Bewegung setzt; die Brücke, auf der sich die Teilnehmer in die richtige Position bringen und auf das Eröffnungssignal warten; die Marienfigur auf ihrer Sänfte, das ihr vorangetragene Kreuz, die Banner der Pilgergruppen; den geteerten Weg, auf dem sich der Zug voran bewegt, den angrenzenden Fluss, die das Flussufer säumende Mauer; die Gebäude am Wegesrand wie das Seitenschiff der Kirche, die Arkaden, die Erscheinungsgrotte; die im Zentrum des Prozessionsplatzes befindliche Statue der Gekrönten Ma-
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donna; die Plattform mit der Balustrade vor der Oberen Basilika, an der sich Zuschauer aufgestellt haben, die das Geschehen von oben betrachten; die Fassade der Rosenkranzbasilika. Manche dieser Elemente des Arrangements bleiben im Hintergrund und bilden für die Prozession lediglich eine Kulisse, andere werden aktiv in das Geschehen einbezogen, ermöglichen, tragen oder beeinflussen es. Dieses praktikenspezifische Arrangement wird aber nicht nur durch materielle Entitäten, sondern auch durch flüchtige physikalische Phänomene wie Dunkelheit und künstliches Licht konstituiert: Licht wird dabei einerseits für funktionale Zwecke eingesetzt – als Wegbeleuchtung oder in Form kleiner, in die Mauer am Fluss eingelassener Leuchten, die den Verlauf des Flussufers erahnen lassen –, andererseits wird es auch gezielt in das Geschehen einbezogen. Von der besonderen Illumination der Marienfiguren, die ein doppeltes Zentrum des Geschehens bilden, über die unterschiedlich intensive Beleuchtung des Weges und einzelner architektonischer Elemente, mit der eine affektive Dramaturgie des Geschehens erreicht wird, bis hin zu den Kerzen in den Händen der Teilnehmer, die sich zu einem wogenden Lichtermeer addieren, ist das Licht zentral daran beteiligt, das Prozessionsgeschehen zu ermöglichen, zu strukturieren und in Gang zu halten. Das Licht in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und mit seinen unterschiedlichen Qualitäten schafft so eine spezifische Lightscape (Bille/Sørensen 2007: 267), die ein wesentlicher Bestandteil des Arrangements ist, inmitten dessen sich die geschilderte Praktik vollzieht.
Partizipation durch Illumination: Licht und die Konfiguration des Arrangements Die weiße, etwa einhundertdreißig Zentimeter hohe Statue, die dem Zug von mehreren Pilgern vorausgetragen wird, ist von einer Glasvitrine umgeben und auf einer Sänfte positioniert. Sie trägt eine Krone, das Attribut der ›Himmelskönigin‹, hat die Ellenbögen angewinkelt und führt die Handflächen zum Gebet zusammen, ihr Blick scheint geradeaus gerichtet. Eindeutige Gesichtszüge oder andere Details lassen sich nicht ausmachen, lediglich der Faltenwurf am unteren Ende des Umhangs ist stärker konturiert. Zu den Füßen der Figur sind Pyramiden aus weißen und roten Rosen angehäuft. Die Last der Sänfte, auf der die Vitrine befestigt ist, verteilt sich auf acht Personen, die die mehrere Meter langen Gestänge auf ihren Schultern tragen und in Zweiergruppen hintereinander her schreiten. An den Ecken wird die Sänfte von vier Fackelträgerinnen flankiert, die einen schützenden Rahmen um die Figur bilden. Ihr voraus gehen der Zeremoniar, der Bannerträger
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und der Träger mit dem Kreuz, am hinteren Ende folgen die anderen Begleiter, danach schließt sich die erste Pilgergruppe an, wiederum angeführt von einem Banner. Besonders auffällig ist die Illumination der Statue: Auf den Innenseiten der mit Holz ausgekleideten Ecken der Vitrine sind Leisten mit mehreren Strahlern angebracht, die direkt auf die Figur ausgerichtet sind und sie in hellem Weiß erstrahlen lassen: Die Figur reflektiert das starke, auf sie gerichtete Licht so, dass sie geradezu von innen heraus zu leuchten scheint (vgl. Abb. 10).
Abb. 10: Marienfigur (Notre-Dame de Lourdes) an der Spitze des Zuges
Die zweite Marienfigur, die auf einem hohen Sockel im Zentrum der Prozessionsesplanade positionierte Gekrönte Madonna, wird in ganz ähnlicher Weise illuminiert. Im Gegensatz zur Statue auf der Sänfte, die den Zug die festgelegte Route entlang führt, ist sie fest an ihrem Platz installiert, den Blick ausgerichtet auf die Rosenkranzbasilika, den östlichen Teil der Esplanade im Rücken. Von mehreren, um sie herum am Boden angebrachten Strahlern wird die ebenfalls mit Rosenkranz und Krone ausgestattete Mariendarstellung so stark beleuchtet, dass auch sie in gleißendem Weiß erstrahlt. Während die Sichtbarkeit der anderen Figur über eine spezifische Dramaturgie und Choreografie aktiv hergestellt werden muss, ist die erhöht positionierte Gekrönte Madonna von dem Moment an, an dem der Prozessionszug auf den weiten Platz hinaus tritt und sie nach und nach umrundet, fortwährend und noch aus der Ferne sichtbar. Abb. 11 zeigt die Figur und den Zug auf dem um sie herum gelegenen Teil des Prozessionsweges. Die visuelle Dimension des Prozessionsgeschehens ist durch die beiden hell leuchtenden Figuren maßgeblich geprägt. Die ›mobile‹ Marienfigur, die den Zug durch die Dunkelheit und über die verschiedenen Stationen des Weges führt, und die Gekrönte Madonna, auf die der Zug zunächst zuläuft und die er anschließend in einer ausladenden Bewegung einmal fast umrundet, bilden ein doppeltes Zentrum des Geschehens. Als Orientierungspunkte und visuelle Anker, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und den Raum strukturieren, lenken sie die Blicke und die Schritte der Teilnehmer, leiten den Teilnehmerstrom und ordnen das Geschehen auf diese Weise.
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Abb. 11: Gekrönte Madonna und der östliche Abschnitt des Prozessionswegs
Dass den Figuren diese Rolle zukommen kann, verdankt sich der einfachen Tatsache, dass die Marienprozession erst nach Einbruch der Dunkelheit stattfindet. Der Beginn des Geschehens ist gezielt hierauf abgestimmt: Die Versammlung der Teilnehmer findet in der aufziehenden Dämmerung statt, und wenn sich der Zug in Bewegung setzt, bricht die Dunkelheit langsam herein und hüllt den Prozessionszug immer mehr ein. Dunkelheit wird somit gezielt in den Vollzug dieser Praktik einbezogen und ist insofern zentraler Bestandteil des Prozessionsgeschehens. Ihre Leistung, die man sich hier zunutze macht, besteht darin, dass sie alles, was ihr nicht über den Einsatz von Licht entrissen wird, mit einem verbergenden Schleier umhüllt und es so der visuellen Wahrnehmung entzieht. Die Dunkelheit ist so gesehen Bedingung und Ausgangspunkt für eine systematische Involvierung des Lichts: Ihr Vermögen, Dinge unsichtbar zu machen und sie mehr oder weniger zum Verschwinden zu bringen, ermöglicht es erst, ausgewählte Objekte über ihre gezielte Illumination hervorzuheben, sie in eine Situation ›hereinzuholen‹ und sie zu tragenden Elementen dieser Situation werden zu lassen. Die Positionierung der auf den maximalen Reflexionseffekt hin gestalteten Figuren im Kreuzungspunkt intensiver Strahler erscheint vor diesem Hintergrund als eine Strategie des gezielten Einbezugs dieser Figuren, die auf diese Weise zu Elementen des Arrangements und zu »Partizipanden« (Hirschauer 2004: 74f.) der fraglichen Praktik werden: Licht ermöglicht Partizipation qua Illumination. Indem Licht und Dunkelheit in ihrer jeweiligen Konfiguration determinieren, was gesehen und was nicht gesehen werden kann, produzieren sie gemeinsam die Lightscape der Lichterprozession und sind so miteinander daran beteiligt, das Arrangement, inmitten dessen und mit dessen Elementen sie sich vollzieht, zu konstituieren.
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Wie stark das Vermögen des Lichts, Partizipation zu ermöglichen, durch die planmäßige Involvierung der Dunkelheit gesteigert wird, wird besonders im Kontrast zum Tageslicht deutlich. Anders als ihr mobiles Gegenstück, das außerhalb des Prozessionsgeschehens in einem Seitenraum der Rosenkranzbasilika aufbewahrt und vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen wird, ist die Gekrönte Madonna auch tagsüber präsent. Auf ihrem Sockel stehend und von einer niedrigen, kreisförmigen Absperrung umgeben, begrüßt sie die über das St. Joseph-Tor hereinkommenden und direkt auf sie zugehenden Besucher und bildet für viele Pilger, die dort Blumen niederlegen und Gebete an sie richten, einen Anlaufpunkt. Obwohl die Statue aufgrund ihres zentralen Standorts und ihrer erhöhten Position also auch am Tag gut sichtbar und ihrer Umgebung ein Stück weit enthoben ist, bildet sie hier doch nur eines von mehreren Elementen eines Arrangements, zu dem auch Gebäude, Bäume und geteerte Wege gehören, die man im Hintergrund der Figur deutlich ausmachen kann. Anders stellt sich dies am Abend und in der Nacht dar (vgl. Abb. 12).
Abb. 12: Gekrönte Madonna bei Tageslicht und in der Dunkelheit
Jetzt, da man ihre unmittelbare Umgebung nur noch vage erkennen kann, ist die Sichtbarkeit der Figur maximal gesteigert: Während andere Bestandteile der Umgebung im Dunkel verschwinden, wird sie über ihre Illumination gezielt aus der sie umgebenden Schwärze herausgelöst und erscheint als eines der wenigen zentralen Elemente des nächtlichen Arrangements. Auf diese Weise kommt die Figur nicht nur deutlich stärker zur Geltung, als dies bei Tageslicht möglich wäre, sondern sie dominiert das Geschehen geradezu. Eingebunden in eine Logik des Enthüllens und Verbergens und damit zugleich eine ›Logik der Inklusion und Exklusion‹ (Bille/Sørensen 2007: 276), ermöglicht der Einsatz von Licht die Herstellung von Anwesenheit über die gezielte Manipulation ihrer Sichtbarkeit. Licht sorgt dabei aber nicht nur dafür, dass die Figur gesehen werden kann, sondern nimmt auch Einfluss darauf, wie sie gesehen werden kann. Die besondere Erscheinungsform des Lichts als Glanz, der im Grunde ein Übermaß an Licht dar-
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stellt, ist ein typisches Charakteristikum göttlicher Manifestationen, Attribut vieler Heiliger und verbreitetes Symbol des Mächtigen und Erhabenen (Bevan 2016: 125ff.; Kapstein 2004: 278; Werblowsky/Iwersen 2005: 5450ff.).2 Indem das Licht die Statue hell erstrahlen lässt, fungiert es als Marker von Numinosität. Allgemeiner formuliert: Indem Licht diesen Dingen eine bestimmte Wahrnehmungsform gibt (Bille/Sørensen 2007: 270), weist es Bedeutung zu, markiert, wie diese Dinge verstanden werden sollen und fungiert insofern als Medium ihrer Intelligibilisierung. Zugleich wird die Figur damit ganz anders erfahrbar (Kapstein 2004: 277ff.): Der eher unauffälligen Erscheinung am Tage steht am Abend eine ›verklärende‹ (Fischer-Lichte 2008: 231ff.) Repräsentation der Heiligen entgegen, die ihren numinosen Charakter auch sinnlich erfahrbar macht. Oft bleiben Besucher, wenn sie in die Nähe der Figur kommen, stehen und schauen sie an, zeigen auf sie oder machen Fotos. Vermutlich zeigt sich hier das besondere Vermögen konzentrierten Lichts bzw. des Glanzes, bestimmte Empfindungen zu evozieren, einen Sinn für das Herrliche und Erhabene anzusprechen und Bewunderung hervorzurufen (Bevan 1968: 142, 148; Böhme 2001: 154ff.). Eine dritte Funktion des Lichts in Zusammenhang mit den Figuren erschließt sich mit Blick auf das eigentliche Prozessionsgeschehen und seinen Charakter als Ausdrucksmittel bzw. als Aufführung, in der Wertvorstellungen, Glaubensvorstellungen und soziale Konstellationen dargestellt, verkörpert, theatralisch inszeniert und ›mimetisch bekräftigt‹ werden (Stokes 2001: 241). Die Prozession als eine Zelebration marianischer Frömmigkeit ist ein ›sorgsam strukturiertes‹ und ›symbolisch kohärentes‹ Schauspiel (ebd.), in dem verschiedene Aspekte marianischer Frömmigkeit zur Schau gestellt werden und in dem sich etwa Ehrerbietung, Gefolgschaft, Bekenntnis und Heilshoffnung zum Ausdruck bringen. Hervorgebracht
2
Lichtsymbolik und insbesondere die Dualität von Licht und Dunkelheit ist über viele Religionen hinweg verbreitet. Im Christentum steht das Licht für Erleuchtung und Bekehrung, für das heilsbringende Wirken Jesu, es ist Symbol für das Leben, die Überwindung des Todes, Bannung des Bösen, Heilserwartung und Inbegriff des Numinosen. In der römisch-katholischen Liturgie findet dies vor allem Ausdruck in der Osternachtsliturgie, wenn die Kerze als Christussymbol unter dem Ausruf Lumen Christi in die vollständig dunkle Kirche getragen wird, aber auch als ›ewiges Licht‹ beim Tabernakel, wo es die Gegenwart Christi anzeigt (Werblowsky/Iwersen 2005: 5450ff., Schwankl 2009: 902f.). In der materiellen Kultur des Christentums findet dies vielfachen Widerhall, etwa in der Ikonografie, in der Lichtarchitektur gotischer Kathedralen oder in geistlichen Büchern etwa des Frühmittelalters, die mit Gold oder Edelsteinen verziert wurden und so das »göttliche Wort […] zum Leuchten« brachten (Wandhoff 2008: 23).
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werden solche Ausdrücke über die Durchführung bestimmter Vollzüge – das Tragen der Figur, das Hinterherschreiten, die Anhebung der Kerzen zum »Mariengruß« – sowie durch bestimmte Anordnungen und räumliche Konfigurationen von Körpern und Dingen, wie etwa die erhöhte Positionierung der Figur an der Spitze des Zuges. Mithilfe des Lichts erfolgt hier eine gezielte Markierung und Unterstreichung der sich in diesen Aktivitäten und Konstellationen vermittelnden Ausdrücke, wie dies etwa an der Fortbewegung der Figur deutlich wird: Während die auf der Sänfte befindliche, gleißend helle Figur weithin sichtbar ist, bleiben die Männer, die das Gewicht der Sänfte auf ihren Schultern tragen, weitgehend im Dunkel verborgen und erscheinen als ›unsichtbare Kräfte‹, die die Sänfte kontinuierlich in Bewegung halten – sichtbar werden sie nur, wenn sie in den Lichtkegel einer Straßenlaterne treten oder wenn das flackernde Licht einer der Fackeln auf ihr Gesicht fällt. Die in der Aktivität des Tragens zum Ausdruck kommende hierarchische Relation zwischen der Getragenen und ihren Trägern wird über diese gezielte Verteilung von Licht und Dunkelheit zusätzlich hervorgehoben und bekräftigt. Ähnlich verhält es sich mit der Aufteilung des Zuges in Spitze und Gefolge: Der hell illuminierten Figur an der Spitze steht eine große Menge von Kerzenlichtern gegenüber, die sie wie eine Art Schleppe hinter sich herzieht. Der Gegensatz von Führen und Folgen übersetzt sich hier in einen Gegensatz zwischen dem gleißenden, sich auf der Figur konzentrierenden Licht und dem schwächeren, auf die Kerzen der Teilnehmer verstreuten Licht. Eine Besonderheit der Lichterprozession, die in ihrer Choreografie anderen Heiligenprozessionen in vielen Hinsichten ähnelt (vgl. etwa Mitchell 2010), besteht also darin, dass das Geschehen über Konstellationen von Licht und Dunkelheit informiert wird, die die in dieser Choreografie transportierten Ausdrücke durch die Verteilung eines Mehr und Weniger an Licht zusätzlich unterstreichen. Die Dichotomien, entlang derer das Geschehen strukturiert ist – vorne/hinten, oben/unten, Führung/Gefolgschaft, Macht/Demut, Heilsversprechen/Heilshoffnung –, werden gewissermaßen mit einem Filter belegt, der je einer Seite Licht oder Dunkelheit, helleres oder weniger helles, konzentriertes oder verstreutes Licht zuweist und diese Gegensätze als Gegensätze sichtbar macht. Über die Ausschaltung konkurrierender visueller Einflüsse durch die Einbindung von Dunkelheit und eine gezielte Distribution von Licht kommt es so zu einem Purifikationseffekt, der den in den Vollzügen angelegten Ausdruck ›in Reinform‹ zutage fördert und wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar macht. Wo hier Werte, Haltungen und Überzeugungen auf die Ebene des Dramatischen, Performativen und Sinnlichen gehoben, sichtbar und erfahrbar gemacht werden, wirkt das Licht als ein Verstärker, der die in den Vollzügen transportierten Bedeutungen hervorhebt
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und auf diese Weise die Ausdrucksdimension der Praktik informiert. Licht sorgt damit gleichermaßen für die visuelle Integration von Dingen in die Praktik der Prozession, für die Zuweisung von Bedeutung an diese Dinge, für die Unterstreichung der Ausdrucksdimension der mit diesen Dingen vollzogenen Aktivitäten und für die räumliche und symbolische Ordnung des Prozessionsgeschehens. Indem die Figuren zu passiven Objekten illuminativer Strategien gemacht werden, können sie aktiv etwas tun, anders gesagt: Die ›Agency des Lichts‹ (Bille/Sørensen 2007) übersetzt sich in die Agency der Figuren.
Von der Dunkelheit ins Licht: Lightscapes und die Dramaturgie des Heils Ich hatte erwähnt, dass sich die Prozession vorwiegend als ein Beten-in-Bewegung vollzieht, während sie zum Ende hin, wenn sich die Teilnehmer vor der Rosenkranzbasilika positioniert haben, stärker Elemente eines kirchlichen Gottesdienstes aufweist. In Bezug auf die Szenerie, durch die sich der Prozessionszug bewegt, teilt sich aber schon der erste Abschnitt in mehrere Etappen, deren Abfolge durch einen Gegensatz zwischen Enge und Offenheit, aber auch zwischen Dunkelheit und Licht strukturiert wird. Wie beschrieben, sammelt sich die Spitze des Zuges am Pavillon auf der anderen Seite des Flusses, startet dann an der Brücke und passiert, auf der anderen Seite angekommen, zunächst die Bäder, dann den Kerzenbereich, bald die Grotte und schließlich die Wasserhähne. Dieser erste Teil des Weges ist durch eine weitgehend schwache Beleuchtung gekennzeichnet: Auf der anderen Seite des Flusses ist der Weg nur spärlich beleuchtet, die Brücke liegt vollständig im Dunkel. Diesseits des Flusses ändert sich hieran zunächst wenig. Entlang der zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossenen Bäder und entlang des von außen kaum einsehbaren Kerzenbereiches beschränkt sich die Illumination auf die Wegbeleuchtung und damit auf funktionale Zwecke. Das ändert sich in der unmittelbaren Nähe der stimmungsvoll beleuchteten Grotte, deren Vorplatz mit Wartenden angefüllt ist, die der vorbeiziehenden Prozession mit Kerzen in den Händen zuschauen und sich ihr nach und nach anschließen. Der Platz bei den Wasserhähnen ist dann wieder dunkler und wird in erster Linie durch die Laternen der Wartenden erleuchtet. In dem Augenblick, in dem der Zug die Arkaden passiert hat und die Prozessionsesplanade betritt, ändert sich die Szenerie schlagartig: Während man sich bis dahin auf einem relativ schmalen Weg befand, auf dem nur wenige Menschen
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nebeneinander gehen konnten, der durch die Lichtkegel einiger Straßenlampen lediglich punktuell erhellt und ansonsten nur durch die Kerzen einiger Wartender gesäumt wurde, gelangt man jetzt auf einen weiträumigen Platz, der mit Menschen und ihren brennenden Kerzen gefüllt ist und in dessen Mitte sich die leuchtende Statue der Gekrönten Madonna befindet, auf die man sich nun direkt zubewegt.
Abb. 13: Die Etappen des Prozessionswegs. Reihe 1 (jeweils von links nach rechts): Versammlungspunkt am Pavillon (anderes Flussufer); Prozessionszug auf dem Weg zur Brücke (2 Bilder) und nach Überqueren der Brücke; Reihe 2: Zug nach Überqueren der Brücke (Nahaufnahme); Passieren der Bäder; Passieren der Wasserhähne; Zug kurz vor Betreten des Prozessionsplatzes; Reihe 3 und 4: Zug kurz nach Betreten des Prozessionsplatzes; Schlussetappe mit Fassade der Rosenkranzbasilika in weiter Ferne; Beleuchtung der Fassade in unterschiedlichen Farbtönen (4 Bilder); hell beleuchtete Fassade (2 Bilder)
Nachdem der Prozessionszug den Scheitelpunkt des bogenförmigen, um die Statue herum führenden Wegs im Osten des Platzes durchschritten hat und sich schließlich geradewegs zum Zielpunkt vor der Rosenkranzbasilika hinbewegt, weitet sich der Blick ein zweites Mal. Erneut tut sich hier ein weites, vor allem durch die verschiedenen Erscheinungsformen des Lichts gekennzeichnetes Panorama auf: in einiger Entfernung erkennt man die stimmungsvoll beleuchtete Fassade der Kirche; der Weg dorthin erscheint als ein kaum überschaubares Lichtermeer; immer wieder sieht man Blitzlichter, aus der Menge heraus oder von den über der Kirche versammelten Zuschauern her; und im vorderen Blickfeld erstrahlt abermals die Marienfigur, diesmal von ihrer Rückseite her. Wenn sich der Prozessionszug schließlich aufgelöst hat und die Teilnehmer vor der Rosenkranzbasilika ihre durch Markierungen am Boden gekennzeichneten Plätze eingenommen haben, wird die Marienfigur unter Mariengesängen durch die Reihen nach vorne getragen, während die Fassade der Kirche in gedämpfte Grün- und Blautöne
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und, wenn die Marienfigur schließlich feierlich niedergelassen wird, in gleißendes Licht getaucht wird. Abb. 13 zeigt die einzelnen Etappen des Prozessionsweges. Das Prozessionsgeschehen folgt damit einer Dramaturgie, die auf einer gezielten Schaffung von Kontrasten zwischen kaltem und warmem, schwachem und starkem Licht beruht, vor allem aber auf einer zunehmenden Weitung des Blickes sowie einer stetigen Vermehrung von Lichtquellen: Dem Beginn in der Dunkelheit stehen der Mittelteil auf dem weiten und von der leuchtenden Marienstatue dominierten Prozessionsplatz und schließlich das feierliche Finale an der Rosenkranzbasilika gegenüber, das durch die Versammlung der Teilnehmer mit ihren brennenden Kerzen, die Abfolge von Farbtönen an der Fassade sowie gleißende Scheinwerfer als Lichtspektakel inszeniert wird. Angesprochen ist damit die Rolle des Lichts bei der Hervorbringung von Stimmungen (Fischer-Lichte 2008: 225) und bei der Strukturierung von Erfahrung (Bille/Sörensen 2007: 272): Sich an der Prozession zu beteiligen bedeutet, durch variierende Konstellationen von Licht und Dunkelheit konfigurierte Räume zu durchschreiten und damit zugleich eine Abfolge von Szenerien, die zunächst als eng, dunkel und möglicherweise auch bedrückend, später als weit, hell und einladend erfahrbar werden. In die Bewegung des Zuges durch eine sich nach und nach wandelnde Lightscape als einer Bewegung durch Räume mit unterschiedlichem »emotive[m] Charakter« (Böhme 2001: 157) ist so gesehen eine Übergangserfahrung eingelassen, die als ein wesentliches Strukturelement der Prozession betrachtet werden kann und an deren Konstitution das Licht wesentlich beteiligt ist.3 Zugleich wird damit ein Heilsversprechen auf die Ebene körperlich-sinnlicher Wahrnehmung überführt.
Kerzenlichter als Glaubensbekenntnisse: Die Inszenierung eines devotionalen Kollektivs Ich hatte erörtert, wie über die Distribution von Licht hierarchische Relationen hervorgehoben werden und wie das Licht so an der Konstitution der Ausdrucksdimension der Praktik beteiligt ist. Dies geschieht aber noch in einer anderen Weise. Eine Teilnehmerin:
3
In den »Prozessionsbestimmungen« der Wallfahrtsstätte, die den genauen Ablauf regeln, heißt es: »Bei jeder Prozession in Lourdes kann man die Erfahrung eines Überganges von einer Wirklichkeit zu einer anderen machen. Der Urtyp dieser Erfahrung bleibt immer die Prozession, bei der das Volk aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit der Kinder Gottes im gelobten Land gelangt (Ps 104/105)« (Wallfahrtsstätte Lourdes 2012: Abschn. 20, Herv. im Orig.).
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[...] wir zeigen nach außen, ähm (-) also Gott Du bist uns wichtig, wir folgen dir, auf der ganzen Welt zeigen wir das [...]. Also wir zeigen, dass wir zu Gott gehörn, dass wir ihm folgen, in dem Fall geht jetzt Maria voran, also die die uns wirk- die wirklich auch uneingeschränkt ›Ja‹ gesagt hat zu Gott, die auf ihn vertraut hat [...]. [...] das is auch=ne Demonstration nach außen [...], n Glaubenszeugnis einfach [...]. Aber fällt in Lourdes auch wieder leichter, weil da bin ich ja schon für diesen Zweck auch in Lourdes. Also=n größeres Glaubenszeugnis isses glaub ich, wenn ich mich hier in meinem Dorf (jetzt) zur Fronleichnamsprozession bemühe und da unter den wenigen Leuten, die sich da noch aufraffen, mich wirklich dahingeselle. [...] in Lourdes is das leichter [...]. Weil da erfährt man Weltkirche [...].
Die Teilnehmerin hebt hier das Verständnis ihrer Partizipation als »Glaubenszeugnis« hervor und rekurriert damit auf den schon angesprochenen Charakter der Prozession als Ausdrucksmittel. Dabei stellt sie allerdings eine Besonderheit heraus, die mit dem Maßstab dieser Prozession zu tun hat: Im Gegensatz zu einer dörflichen Fronleichnamsprozession mit ihrer eher geringen Teilnehmer- und Zuschauerzahl versammeln sich in Lourdes Gläubige aus der ganzen Welt und formieren sich zu einer internationalen marianischen Gemeinschaft. Auf diese Weise ändert sich nicht nur der Ausdruck selbst, der von einem individuellen Glaubenszeugnis im kleinräumigen Kontext in einen Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer nationale Grenzen überwindenden Gemeinschaft transformiert wird, sondern es kommt auch zu einer starken Ausweitung potentieller Adressatenschaft: Gezeigt wird diese Haltung nicht nur den Zuschauern auf den Straßen eines Dorfs oder einer Kleinstadt, sondern »der ganzen Welt«. Tatsächlich lässt sich die Lichterprozession als eine gezielte Inszenierung von »Weltkirche« begreifen. Das von den Teilnehmern mitgeführte Kerzenlicht, das ein drittes Element der Lightscape der Prozession bildet, ist hierbei von zentraler Bedeutung. Spätestens nach Ertönen der Lautsprecherdurchsage, die in mehreren Sprachen auf den bevorstehenden Beginn der Prozession hinweist, begeben sich die Teilnehmer zu einem der auf dem Wallfahrtsgelände aufgestellten Automaten, an denen man gegen Einwurf einer Münze eine weiße Kerze samt papiernem Windschutz erwerben kann. Dieser muss zunächst entfaltet werden, bevor man die längliche, sich nach oben verjüngende Kerze durch ein kleines Loch im Boden führen kann, bis der Aufsatz stabilen Halt auf der Kerze gefunden hat. Der orangefarbene, einem Blütenkelch ähnliche Aufsatz verhindert nicht nur das Herabtropfen des geschmolzenen Kerzenwachses und ermöglicht es so, die Kerze über längere Zeit frei von Unannehmlichkeiten zu tragen, sondern dient auch als Schutz gegen das Erlöschen der Kerze in der Gehbewegung und bei Wind. Zugleich verwandelt er
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das flackernde Licht der Kerze in ein gleichmäßiges, ruhiges und warmes Leuchten. Auf die Seitenflächen des Aufsatzes verteilen sich eine Abbildung der Marienfigur der Erscheinungsnische und mehrere kurze Texte in verschiedenen Sprachen: Fragmente des »Lourdes-Liedes«, Zitate aus der Begegnung zwischen Bernadette und der Heiligen und das Apostolische Glaubensbekenntnis in lateinischer Sprache. Die grüne Schrift ist bei entzündeter Kerze vor dem orangefarbenen Hintergrund des Papiers gut lesbar. Über den Aufdruck von Texten und Bildern wird der Gegenstand in den Kontext der Marienerscheinungen und des Wallfahrtsortes gestellt und auf diese Weise thematisch gerahmt (vgl. Abb. 14).
Abb. 14: Windschutz
Die Teilnehmer entzünden ihre Kerzen entweder auf dem Weg zu ihrer jeweiligen Ausgangsposition oder tun dies, wenn sie dort angekommen sind. Wer selbst weder Feuerzeug noch Streichhölzer dabei hat, wendet sich an jemanden mit bereits brennender Kerze und entzündet die eigene Kerze an der des anderen, so dass die Flamme von einem Teilnehmer zum nächsten weitergegeben wird. Die besondere Rolle der Kerze als zentraler materieller Träger der Prozessionspraktik wird hier bereits deutlich: Die Teilnahme ist mit dem Mitführen der Kerze untrennbar verknüpft, sie ist Voraussetzung, Ressource und zugleich ›Eintrittskarte‹ in das Geschehen. Der Akt des Entzündens der Kerze markiert dabei einen Übergang: Mit der ›Instandsetzung‹ des Objekts zeigen sich die Träger der Kerze ihre Teilnahmeabsicht an, und mit jeder entzündeten Kerze wird der Kreis der Teilnehmer sukzessive erweitert.
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Zugleich fungiert das Licht der Kerze aber auch als Expression religiöser Überzeugungen. Dass sie einen solchen Ausdruck transportieren kann, hängt weniger mit der Gestaltung des Windschutzes zusammen (die hierbei unterstützend wirken mag), sondern resultiert letztlich aus ihrem Gebrauch. Mit Schatzki hatte ich gesagt, dass sich die Bedeutung eines Dings unter anderem aus den praktischen Zusammenhängen ergibt, in die es involviert wird. Über seine Einbindung in die ihrer Teleologie nach devotionale Praktik der Marienprozession, in Gebete und Gesänge, zugleich aber auch durch seine räumliche Einbettung in das materielle Arrangement und durch seine Bezogenheit auf andere Elemente dieses Arrangements – insbesondere auf die Marienfiguren –, erhält das Licht der Kerze zeichenhaften Charakter und wird so zur Manifestation bzw. zum Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses. Erst auf diese Weise erhält das Licht der Kerze seine religiöse Rahmung, und erst so kann die brennende Kerze in der Hand eines Teilnehmers zum Ausdruck einer devotionalen Haltung werden, zu einem Dokument religiöser Identität und zu einem vergemeinschaftenden Element, das seine Träger zu einem temporären marianischen Kollektiv verbindet. Der Ausdruck, den das Kerzenlicht transportiert, verdankt sich so gesehen seiner Einbindung in das Prozessionsgeschehen und seiner Position im Gefüge des praktikenspezifischen Arrangements, die für das Licht der Kerze einen intelligibilisierenden Kontext bilden (vgl. Schatzki 1996: 111f., 2002: 25). Wenn sich der Zug schließlich in Bewegung setzt, ist der Weg an der anderen Uferseite bereits mit Laternen gesäumt, während sich hinter der Figur eine zunächst noch überschaubare, aber zunehmend größer werdende Schleppe aus Kerzenlichtern bewegt. Während die Teilnehmer voranschreiten, die Gebetsformeln des Rosenkranzes murmeln und in die Gesänge einstimmen, tragen sie die Kerze bei sich und halten sie mit zumeist angewinkeltem Arm etwa auf Schulterhöhe. Mit der wachsenden Zahl an Teilnehmern, die sich dem Zug nach und nach anschließen, addiert sich das ruhige, konstante und warme Licht der Kerzen immer stärker auf: Auf der ersten Etappe bewegt sich dem Betrachter ein langsam, aber kontinuierlich dahinfließender Strom aus Licht entgegen; später, auf dem offenen Prozessionsplatz, summieren sich die Lichter der Kerzen zu einem kaum überschaubaren Lichtermeer. Unterstützt durch Ordner, die den Teilnehmerstrom auftrennen, den Zug in Abteilungen gliedern und ihnen feste Plätze zuweisen, wird die Menge hier in eine spezifische Formation gebracht: Wie aus der Vogelperspektive sichtbar wird, werden die Teilnehmer nicht nur so positioniert, dass der Mittelgang für den Transport der Marienfigur zu ihrem Bestimmungsort frei bleibt, sondern zugleich so, dass die freibleibenden Zwischenräume die Konturen eines überdimensionierten Kreuzes erkennen lassen (vgl. Abb. 15).
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Wenn sich der Zug schließlich in Bewegung setzt, ist der Weg an der anderen Uferseite bereits mit Laternen gesäumt, während sich hinter der Figur eine zunächst noch überschaubare, aber zunehmend Abb. 15: Blick von der Plattform der Oberen Basilika. Die ersten Aufnahmen zeigen die Auflösung des Zuges und die allmählich stattfindende Einnahme der Plätze (Bilder 1 bis 6); die hellen Scheinwerfer markieren die finale Zeremonie mit der Positionierung der Marienfigur und dem bischöflichen Segen (Bilder 7 bis 14); die beiden letzten Aufnahmen zeigen die Auflösung dieser Ordnung nach Abschluss der Veranstaltung (Bilder 15 und 16)
Die Rolle des Kerzenlichts für das Prozessionsgeschehen lässt sich erst aus dieser Perspektive vollständig erschließen. Während es als Träger eines Ausdrucks die individuellen Teilnehmer schon nach innen hin verbindet, ist es nach außen hin Bestandteil einer großangelegten und planmäßigen Inszenierung religiöser Gemeinschaft. Das Kerzenlicht entfaltet hier einen uniformierenden Effekt: Indem die einzelnen Teilnehmer in der Dunkelheit verschwinden und hinter dem Licht ihrer Kerzen zurücktreten, werden sie einerseits zu anonymen Elementen eines übergreifenden Kollektivs; andererseits werden sie zu Trägern des sich im Licht ihrer Kerze manifestierenden Ausdrucks einer Haltung.4 Eine Versammlung von Personen wird so transformiert in eine Anhäufung von Lichtern als der sichtbar gemachten Summe individueller Glaubensbekenntnisse.5 Bestärkt wird dieser
4
Damit ist natürlich nichts über die tatsächliche Glaubenshaltung der Besucher gesagt, die auch aus touristischem Interesse oder als Begleiter und nicht zwangsläufig aus religiösen Motiven heraus in der Prozession mitgehen: Der Vollzug dieser Aktivitäten transportiert den fraglichen Ausdruck unabhängig von individuellen Zurechnungen der Teilnehmer.
5
Das aus dem praktischen Vollzug emergierende Lichtermeer ist geradezu ein Wahrzeichen der Wallfahrtsstätte geworden und wird auch in entsprechende Werbezwecke eingebunden. Bilder der Lichterprozession, zumeist aus der Vogelperspektive und bei be-
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Ausdruck noch durch die Einbindung der Kerze in den Vollzug des »Mariengrußes«: Mit dem Einsetzen des Ave Maria, dem Refrain des im Lauf der Prozession mehrfach gesungenen »Lourdes-Liedes«, heben die Teilnehmer ihre Laternen an, halten sie für die Dauer des Refrains in die Höhe und senken sie mit seinem Verklingen wieder auf die bisherige Tragehöhe herab.6 Ein letztes Mal wird der »Mariengruß« beim Magnificat wiederholt, wenn die Teilnehmer ihre Plätze vor der Rosenkranzbasilika eingenommen haben und die Marienfigur, an den Reihen der Teilnehmer vorbei, den Mittelgang entlang zur Bühne getragen wird (vgl. Abb. 16). Der passive Ausdruck von Devotion, wie ihn das bloße Mitführen der Kerzen darstellt, wird durch das gemeinsame Anheben in einen aktiven Ausdruck überführt. Auf diese Weise findet eine symbolische Verdichtung statt: Während sich das Lichtermeer vor Einsetzen und auch noch zu Beginn des Lobgesangs aus miteinander nicht gut koordinierten und auf unterschiedlicher Höhe befindlichen Lichtpunkten zusammensetzt, verschmelzen die gemeinsam emporgehoben Lichter nun zu einer wogenden Oberfläche aus Licht. Zugleich wird damit die Trennung der Teilnehmer in Sprachgemeinschaften, wie sie auf der Ebene des Gebets
sonders starker Beteiligung aufgenommen, tauchen in Reiseführern und anderen Publikationen auf oder werden in Newslettern verschickt. Solche Momentaufnahmen des praktischen Vollzugs unterstreichen den Charakter der Lichterprozession als religiöses Spektakel und Massenevent, heben insbesondere die affektive Dimension dieser Praktik hervor, stellen die Teilhabe an einem devotionalen Kollektiv in Aussicht und fungieren so als Partizipationsofferte. Über die Inszenierung dieser Praktik inszeniert sich die Wallfahrtsstätte als Glaubenszentrum, als vitaler, vielbesuchter und bedeutender Ort marianischer Devotion. 6
Die Prozessionsbestimmungen erläutern diese Geste eingehender: »Die Lichterprozession ist zuerst eine Marienprozession, das heißt eine Prozession zu Ehren der Jungfrau Maria. Deshalb haben sich die Pilger von Lourdes schon früh angewöhnt, ihre Kerzen zu erheben, um die Jungfrau Maria zu ehren. [...] Vom [...] Tag der dritten Erscheinung, bis zum [...] Tag der siebzehnten Erscheinung hielt Bernadette bei den Erscheinungen eine schöne Kerze in ihrer linken Hand« (Sanctuaire Notre-Dame de Lourdes, Abschn. 241f.). Das Anheben der Kerze wird hier in den Kontext der Marienerscheinungen und der frühen Wallfahrt gestellt und als aus den Begegnungen herrührende Tradition markiert. Auch hier ist man wieder bemüht, ein bestimmtes Verständnis sicherzustellen und das Missverständnis eines ›Marienkults‹ auszuschließen: »Da Maria uns zu Jesus und Jesus uns zu seinem und unseren [sic!] Vater führt, wird dieselbe Geste ausgeführt, um den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist zu ehren. Maria lehrt uns, dass zuerst Gott geehrt werden muss« (ebd., Abschn. 251).
D IE L ICHTERPROZESSION IN L OURDES
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besteht, aufgehoben – im synchronen Anheben der Laterne sind alle Teilnehmer zu einer Gemeinschaft der Gläubigen vereint. Wie die Zeitverzögerungen beim Vollzug des »Mariengrußes« zeigen – das Anheben der Kerzen erfolgt nicht vollständig synchron, sondern erst nach und nach, so dass die meisten Teilnehmer ihre Lichter erst zum Ende des ersten Magnificat emporgehoben haben –, wird diese Aktivität über Beobachtung und spontane Nachahmung von einem Teilnehmer zum nächsten weitergegeben. Das Prozessionsgeschehen erscheint so wiederum als eine Maschinerie, die ihre Teilnehmer einbindet, ihnen qua Teilnahme das praktische Verständnis vermittelt, sich von Träger zu Träger weitergibt und sich auf diese Weise vollzieht und aufrecht erhält. Die Teilnehmer werden involviert in eine sorgfältig inszenierte Choreografie, die sich die Ausdrucksdimension des Lichts zunutze macht, und zu Produzenten eines aus den einzelnen Vollzügen emergierenden Symbols religiöser Identität und Gemeinschaft.
be my
sa-a viour (---)
MA-a
a-ag
ni fi
CA-a-at
MA-a-ag
ni fi
CA-a-at (---)
A-a-ni
ma me-e-a-a
DO-o-o
mi
nu-u
u-u
um-m
Abb. 16: Anheben der Laternen zum »Mariengruß«
Zusammenfassung Am Beispiel der Marianischen Kerzenprozession, die Menschen aus aller Welt versammelt, um singend und betend und mit einer Kerze in der Hand einer hell leuchtenden Marienfigur durch die Dunkelheit zu folgen, wurde exemplarisch die Rolle des Lichts für den Vollzug einer religiösen Praktik untersucht. Basierend
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auf der verhüllenden Leistung der Dunkelheit werden hier verschiedene Formen des Lichts etwa von Scheinwerfern, Straßenleuchten, Kerzen oder Fackeln zu Konstituenten einer Lightscape, die als zentrale Komponente eines praktikenspezifischen materiellen Arrangements begriffen werden kann und in mehrfacher Weise in das praktische Geschehen hineinwirkt. Am Beispiel der Illumination der Marienfiguren wurde deutlich, wie der Einsatz von Licht die Partizipation von Dingen an einer Situation reguliert und sie so zu zentralen Bestandteilen des Arrangements macht, wie es diesen Dingen Bedeutung zuweist und so als Instrument ihrer Intelligibilisierung fungiert, und wie über die Distribution von Licht und Dunkelheit zu Dingen, Menschen und Handlungen Ausdrücke hervorgehoben und in gesteigerter Weise sichtbar gemacht werden, die in den praktischen Vollzügen angelegt sind. Weiter wurde deutlich, wie das Licht als ein Mittel zur Strukturierung des Raums und damit zugleich von Erfahrung eingesetzt wird. Durch die Inszenierung des Prozessionsweges als einer Abfolge von durch variierende Konstellationen von Licht und Dunkelheit konfigurierten Szenerien, die durch eine zunehmende Zahl an Lichtquellen mit immer weiter gesteigerter Intensität gekennzeichnet sind, konstituiert das Licht eine spezifische Dramaturgie des Ereignisses und trägt so zur Organisation einer Übergangserfahrung bei, mit der sich zugleich ein religiöses Heilsversprechen auf die Ebene körperlich-sinnlicher Erfahrung übersetzt. Am Beispiel der Kerzen wurde schließlich herausgearbeitet, wie Licht als Ausdruck religiöser Identität und Zugehörigkeit eingebunden wird. Resultierend aus ihrer Involvierung in devotionale Handlungen und aus ihrer Positionierung im materiellen Arrangement fungieren die Kerzenlichter der Teilnehmer als materialisierte Glaubensbekenntnisse. Integriert in eine Choreografie, die Massen von Menschen und ihre Handlungen koordiniert und sie planvoll aufeinander hin ordnet, summieren sich die Kerzenlichter zu einem Meer aus Licht auf und tragen so zur Konstitution eines starken Symbols marianischer Devotion bei. Licht und Dunkelheit werden so verständlich als zentrale Elemente des materiellen Arrangements der Prozession: Basierend auf einer Logik des Enthüllens und Verbergens und auf einer gezielten Generierung von Kontrasten – zwischen Helligkeit und Dunkelheit, intensiver und schwacher Beleuchtung, konzentriertem und verstreutem Licht – strukturieren sie die Vorgänge im Hinblick auf ihre räumliche, symbolische, affektive und expressive Dimension.
Pilgerpraktiken in Jerusalem
Die Grabeskirche Die in der Altstadt von Jerusalem gelegene Grabeskirche gilt als eines der wichtigsten Heiligtümer des Christentums und als eines der bedeutendsten Ziele christlicher Pilgerreisen. Viele der jährlich über drei Millionen Besucher Jerusalems sind Pilger verschiedener christlicher Konfessionen, die hier der Ereignisse um Jesu Tod und Wiederauferstehung gedenken. Der Tradition nach wurde die Kirche über dem Ort der Kreuzigung und der Grablegung Jesu errichtet und beherbergt damit zwei zentrale christliche Erinnerungsorte.1 Die heutige Kirche, in den engen
1
Die von Kaiser Konstantin im Jahr 326 n. Chr. in Auftrag gegebene und 335 geweihte Grabeskirche ersetzte einen zuvor hier befindlichen römischen Tempel, der über der als Golgatha oder Calvaria (hebr. und lat. für ›Schädelstätte‹) bekannten Hinrichtungsstätte Jesu errichtet worden war. Ein beim Abriss des Tempels entdecktes Felsengrab, das dem in den Evangelien beschriebenen Grabtyp entsprach, wurde aus nicht näher geklärten Gründen zum Grab Jesu erklärt. Die biblischen Orte Golgatha und das Felsengrab Jesu gelten seither als klar definiert, beide sind seither als heilige Stätten ausgezeichnet. Ihre Lokalisierung in der Grabeskirche erscheint aus archäologischer Sicht wahrscheinlich, lässt sich aber nicht zweifelsfrei nachweisen. Auch ob das im 4. Jahrhundert entdeckte Felsengrab mit dem aus dem 1. Jahrhundert identisch ist, ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären. – Die Kirche hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Ihr Schicksal hing von unterschiedlichen politischen Verhältnissen und wechselnden Machthabern ab, sie wurde mehrfach beschädigt, geplündert und einmal nahezu vollständig zerstört, fiel einem Brand zum Opfer und wurde mehrfach wieder aufgebaut, umgebaut oder restauriert. Umfassende Neugestaltung erfuhr die Kirche einmal durch die Kreuzfahrer, die in den Jahren zwischen 1099 und 1149 nach Zerstörung und Wiederaufbau der Kirche tiefgreifende Umbaumaßnahmen durchführten, sowie durch den
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Gassen der Altstadt Jerusalems im christlichen Viertel gelegen, ist ein schmaler, dunkler und verwinkelter Gebäudekomplex mit architektonischen Elementen verschiedener Stile und einer Vielzahl von Gedenkstätten und Kapellen, die bestimmten Ereignissen aus der Passion Christi gewidmet sind. Hat man den Vorhof durchquert und betritt die Kirche durch das Portal auf der Südseite, trifft man zuerst auf den vor allem in der griechischen Orthodoxie stark verehrten Salbungsstein, an dem an die Vorbereitung des Leichnams Jesu auf die Grablegung erinnert wird. Gleich rechts des Eingangs führt eine steile Treppe zur griechisch-orthodoxen Kalvarienkapelle mit dem Kalvarienaltar, der über dem Felsen errichtet wurde, auf dem das Kreuz Jesu aufgestellt worden sein soll, und den man hinter Glasscheiben sehen und durch eine Öffnung unter dem Altar berühren kann. Hat man die Kapelle über eine zweite steile Treppe wieder verlassen und geht am Salbungsstein vorbei zum Westteil der Kirche, türmt sich hinter einer Wegbiegung unvermittelt die Grabesädikula auf, ein schmaler, hoher Bau, der sich in der Rotunde, dem eigentlichen baulichen Zentrum der Kirche, befindet und das Heilige Grab beherbergt (vgl. Biddle 1998). An seiner Rückseite ist eine kleine Kapelle der Kopten, weiter hinten, im westlichsten Teil der Kirche, eine Kapelle der syrischorthodoxen Christen. Die gleich daneben liegende Grabanlage, die man über einen niedrigen Durchgang erreicht, wird Josef von Arimathäa zugeordnet, der den Leichnam Jesu bestattet haben soll. Dem Eingang der Ädikula direkt gegenüber liegt das Katholikon, ein länglicher, heller, durch hohe Seitenwände vom Rest der Kirche abgegrenzter griechisch-orthodoxer Kirchenraum, der das Mittelschiff der Kirche bildet. Geht man ein paar Schritte zwischen Ädikula und Katholikon hindurch in den nördlichen Teil, gelangt man zum Bereich der Franziskaner, einem vergleichsweise hellen und geräumigen Bereich, in dem sich ein der Maria Magdalena geweihter Altar, eine Orgelempore sowie die Zugänge zur Sakristei und zu der im Nordteil der Kirche gelegenen franziskanischen Sakramentskapelle befinden. Verfolgt man den dunklen Chorumgang weiter, stößt man auf eine Reihe kleinerer Kapellen. Am östlichsten Teil der Kirche angekommen, gelangt man über eine lange Treppe hinab zur armenischen, der Mutter Konstantins – der Tradition nach Auffinderin des Kreuzes Jesu – gewidmeten Helenakapelle. Einige Stufen weiter schließlich, am tiefsten Punkt der Kirche, befindet sich die Kapelle der Wiederauffindung des Kreuzes.
Wiederaufbau nach dem Brand im Jahre 1808, bei dem die Kirche noch einmal ein neues Gesicht erhielt (Biddle 2000; Krüger 2000; Küchler 2007).
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Eine Besonderheit der Kirche sind ihre komplizierten Besitzverhältnisse. Die Situation ist gekennzeichnet durch die Koexistenz sechs christlicher Gemeinschaften, die in kleinen Konventen an der Kirche leben, ihre Gottesdienste in ihr vollziehen und verschiedene Besitzrechte an ihr haben, so dass der Kirchenraum in Territorien unterschiedlicher Zugehörigkeit, Verantwortlichkeit und Entscheidungsbefugnis aufgeteilt ist. Die einzelnen Gemeinschaften verfügen über eigene Kapellen oder darüber hinausgehende Bereiche in der Kirche, während die Besitzrechte an den heiligen Stätten geteilt werden. Die drei größten am Heiligen Grab vertretenen Gemeinschaften, die griechisch-orthodoxe Kirche, die durch den Franziskaner-Orden vertretene katholische Kirche und die armenische apostolische Kirche teilen sich die größeren Anteile, die syrisch-orthodoxe Kirche von Antiochien, die koptisch-orthodoxe Kirche und die äthiopisch-orthodoxe Kirche besitzen kleinere Anteile am Kirchenkomplex. Geregelt werden die Besitzverhältnisse durch den Status Quo, einen im Jahr 1852 verhandelten Kompromiss, der die damaligen Gegebenheiten festschrieb und zur Norm erhob. Der Status Quo stellt seitdem die zentrale Grundlage für das Zusammenleben und die gleichzeitige Nutzung der Kirche dar: Er klärt nicht nur die Besitzverhältnisse, sondern beinhaltet auch detaillierte Zeitpläne für die Durchführung der Prozessionen, Messen und Gottesdienste der einzelnen Gemeinschaften und regelt die Verteilung von Rechten und Pflichten (Cohen 2008; Avni 2000).2 Ich wende mich in diesem Kapitel zunächst zwei Aspekten zu, die diese Kirche für die Durchführung von Pilgerpraktiken zu einem besonderen Fall machen: Der erste Punkt ist die interkonfessionelle Besucherschaft. Am Beispiel des Salbungssteins wird erörtert, wie dieses Artefakt Menschen aus verschiedenen religiösen Traditionen um sich versammelt und dabei Möglichkeiten zur Exploration
2
Ausgehend von der Spaltung der Christenheit in einzelne Kirchen, für die das Heiligtum von gleichermaßen zentraler Bedeutung ist, kam es immer wieder zum Streit über die Besitzrechte an der Grabeskirche und den heiligen Stätten. Die Ursprünge der heutigen Aufteilung reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück, Änderungen in den Herrschaftsverhältnissen Jerusalems führten aber immer wieder zu Verschiebungen auch in den Besitzverhältnissen der Kirche. Das Regelwerk des Status Quo, das diese Fragen verbindlich klärte, kam 1852 im Auftrag der osmanischen Regierung zustande. Während der Status Quo einerseits die Diskussionen beendete, schuf er zugleich ein fragiles Gleichgewicht, was immer wieder zu Schwierigkeiten führt und teils kuriose Blüten treibt, insofern etwa die Reinigung bestimmter Bereiche nicht geregelt ist und deshalb unterbleibt oder man sich nicht auf Reparaturen oder Renovierungen einigen kann. Eine Kommission wacht über die Einhaltung des Status Quo und setzt sich mit Streitfragen auseinander (Avni 2000).
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unbekannter praktischer Vollzüge eröffnet, dabei aber auch Irritationen hervorbringt. Im zweiten Kapitel wird herausgearbeitet, wie die komplizierten Besitzverhältnisse in der Grabeskirche zu einer Situation führen, die eine erfolgreiche Annäherung an die heiligen Stätten auch erschweren kann und immer wieder auch gescheiterte Andachtspraktiken hervorbringt. Das dritte Kapitel folgt den Pilgern über die Grabeskirche hinaus und behandelt exemplarisch, wie weitere christliche Stätten Jerusalems erschlossen werden, so etwa im Rahmen geistlicher Pilgerführungen.
Irritation und Exploration: Der Salbungsstein und die Grenzen devotionaler Repertoires Besucher der Grabeskirche sind in einem doppelten Sinne mit Heterogenität konfrontiert. Einerseits führt die Aufteilung der Kirche auf die einzelnen christlichen Gemeinschaften zu einer auch ästhetischen Aufteilung und zu ritueller Vielfalt: Die Gemeinschaften führen ihre je eigenen Riten durch, tragen ihre eigenen Gewänder und haben ihre eigenen Stile in Kunst und Dekoration (Avni 2000). Zugleich spiegelt sich dies auch in der Besucherschaft wider: Die Grabeskirche ist Anziehungspunkt für christliche Pilger verschiedener Konfessionen und aus verschiedenen Kulturkreisen, die wiederum ihren je eigenen Formen ritueller Vollzüge nachgehen. Am von der griechisch-orthodoxen Kirche beaufsichtigten Heiligen Grab, am Kalvarienaltar und am Salbungsstein etwa begegnen Besuchern aus anderen religiösen Traditionen eine Bildersprache und Dekoration sowie praktische Vollzüge, mit denen sie oft nicht vertraut sind. Hat man nach zumeist längerem Anstehen das schmale Tor an der Frontseite der Grabesädikula erreicht und geht hindurch, gelangt man zunächst in einen nur durch Kerzenlicht erleuchteten Zwischenraum. Hier wartet man noch einige Minuten in der Schlange, bevor man in die längliche, mit Marmor ausgekleidete Grabkammer hinabsteigen kann. Eine Marmorplatte verdeckt dort die ursprüngliche Grabbank, auf der Jesu Leichnam gelegen haben soll. Auf einem um sie herum führenden Gesims sind in gleichmäßigen Abständen Kerzenleuchter und Blumenvasen aufgestellt, an der Frontseite befinden sich einige Bilder und Ikonen. Besucher nähern sich dem Ort, indem sie vor der Marmorplatte knien und die Hände, den Kopf oder die Stirn dort ablegen, den Stein küssen oder mit Devotionalien und Souvenirs in Berührung bringen. Zumeist betritt man das Grab mit zwei anderen Pilgern, so dass man zu dritt vor der Platte kniet. Viel Zeit bleibt wegen des
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Andrangs meist nicht: Schon nach wenigen Augenblicken wird man von den aufsichtführenden Mönchen wieder herausgerufen. Der Kalvarienaltar ist direkt über dem Felsen errichtet, den man der Kreuzigungsstätte zuordnet. Der Altartisch ist von einer großen Glasplatte am Boden umgeben, durch die hindurch man den weißen Kalksteinfelsen, der sich bis in die darunter liegende Adamskapelle erstreckt, deutlich sehen kann. Auf dem Altartisch befindet sich ein prächtiger Kandelaber, darüber hängt eine Vielzahl goldener Öllampen. Den Hintergrund des Altars bildet eine prunkvolle goldene Bilderwand mit drei großen Figuren: eine erhöht positionierte Jesusfigur am Kreuz, rechts und links davon die Mutter Jesu und der Apostel Johannes. Wie auch beim Grab muss man sich zumeist in eine Schlange einreihen, die sich oft bis in die benachbarte Kreuzigungskapelle der Franziskaner erstreckt. Um sich dem Ort zu nähern, gehen die Besucher in die Knie und beugen sich unter den Altartisch, küssen die dort angebrachte Jesusikone und fassen durch die in die Bodenplatte eingelassene Öffnung, um für einen Moment den Felsen zu berühren. Auch hier hat man nur einen Augenblick Zeit, bevor man von den aufsichtführenden Mönchen aufgefordert wird, Platz für den nächsten Besucher zu machen. Ein dritter, historisch jüngerer Erinnerungsort ist der am Eingang gelegene Salbungsstein. Er befindet sich etwa in der geografischen Mitte zwischen Grab und Kalvarienaltar und dem Hauptportal direkt gegenüber, so dass man nach Betreten der Kirche direkt auf ihn zugeht. Es handelt sich um eine längliche, rötliche Kalksteinplatte, die, in einen steinernen, mit Inschriften verzierten Rahmen eingefasst, in geringer Höhe über dem Boden angebracht ist. Längs über ihm sind kunstvoll gestaltete Öllampen angebracht, an den Querseiten sind große Kerzenleuchter aufgestellt. Die Oberfläche des Steins ist zerfurcht, fühlt sich abgegriffen an und duftet nach den ätherischen Ölen, die Pilger immer wieder auf der Oberfläche ausschütten, um sie dann mit Tüchern aufzuwischen. Der Salbungsstein wird als der Ort verehrt, an dem der Leichnam Jesu nach seiner Abnahme vom Kreuz mit duftenden Ölen eingerieben, in Leinentücher gewickelt und so für seine Grablegung vorbereitet worden sein soll, und ist insbesondere in der griechischen Orthodoxie von Bedeutung.3 Im Hintergrund befindet sich ein dreiteiliges Mosaik, in dessen
3
Im Gegensatz zu den Stätten der Kreuzigung und Grablegung handelt es sich beim Salbungsstein um eine relativ neue Komponente, die erstmals in Pilgerberichten des 14. Jahrhunderts auftaucht und vermutlich durch die Franziskaner eingeführt wurde. Voraus ging der Neuerung die Verehrung eines als authentisch betrachteten Salbungssteins in Konstantinopel ab dem 12. Jahrhundert. Möglicherweise sollte der Stein dazu beitragen, dem Besuch der Grabeskirche einen ›ritualistischen‹ Charakter zu geben, was seine prominente Platzierung im Eingangsbereich motiviert haben mag (Rachman-Schrire
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Mitte die Salbung Jesu dargestellt ist. Auf dem rechten, in Richtung Kalvarienaltar weisenden Teil des Mosaiks ist die Abnahme des Leichnams vom Kreuz dargestellt, auf dem linken Teil Richtung Ädikula die Grablegung. Das Mosaik fungiert damit als eine Art Legende oder Kommentar zum Salbungsstein und den beiden anderen Stätten. Insbesondere für die griechisch- und russisch-orthodoxen Pilger ist der Salbungsstein einer der zentralen Anlaufpunkte in der Kirche. Immer wieder lassen sich hier dieselben Abläufe beobachten: Teilnehmer gehen auf die Knie, beugen sich nach vorne und berühren die Steinplatte mit den Händen, oft auch mit der Stirn, oder küssen die Oberfläche. Viele bekreuzigen sich, bevor sie sich nach vorne beugen oder bevor sie wieder aufstehen, immer wieder aber auch unmittelbar, nachdem sie die Platte berührt haben. Manche verharren still, wenn sie die Handflächen und den Kopf auf dem Stein abgelegt haben, andere reiben mit ihren Händen hektisch über die Oberfläche. Oft werden unter lautem Gemurmel Gegenstände auf der Steinplatte abgelegt: von zu Hause mitgebrachte oder vor Ort erworbene Devotionalien, Kerzen und Kerzenbündel, Bücher oder Textilien, ganze Tüten mit Souvenirs. Immer wieder werden Tücher über die Oberfläche gerieben, um die Öle aufzufangen, die dort immer wieder ausgegossen werden.4 Viele dieser Aktivitäten zeichnen sich durch eine starke Expressivität aus: Es wird laut gebetet, manchmal geweint, und insbesondere bei hoher Besucherfrequenz ist hier ein hektisches Treiben zu beobachten. Besucher drängen sich dann um den Stein und
2017: 225). Die Zugänglichkeit des Artefakts wurde im Verlauf der Zeit zum Streitpunkt: Ein im 16. Jahrhundert angefertigter bronzener Schutzkasten, der den Stein umgeben und ihn so der direkten Anbetung und Berührung entziehen sollte, stand im direkten Gegensatz zum Verhalten der Gläubigen, die sich ihm berührend nähern wollten, und wurde durch die Vertreter der griechischen Orthodoxie abgelehnt (Krüger 2000: 200f.). – Bei der heutigen Steinplatte handelt es sich um eine Nachbildung des nach dem Kirchenbrand 1808 verschollenen Steins, die erst zwei Jahre später, im Zuge der sich an den Brand anschließenden Renovierungsarbeiten, aufgestellt wurde. In der griechischen Orthodoxie wird hier die 13. Kreuzwegstation verehrt, bei der man der Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz gedenkt. Die Stätte befindet sich im Besitz der drei Hauptgemeinschaften der Kirche. 4
Ein solches Verfahren der Produktion von Eulogien bzw. Kontakt- oder Sekundärreliquien findet sich schon im frühen Pilgerwesen und beruht auf der Vorstellung, das sich an den einer Reliquie immanenten Segens- und Wunderkräften nicht nur durch Berührung partizipieren lässt, sondern dass sich diese Kräfte auch auf andere Gegenstände wie Öl, Wasser oder Stoffe übertragen lassen, die mit ihr in Berührung gebracht und dadurch geheiligt werden (Brands 2003: 17f.).
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warten darauf, selbst heran kommen zu können, wieder andere beobachten das Geschehen oder machen Fotos (Abb. 17).
Abb. 17: Aktivitäten am Salbungsstein
Das sich an diesem Artefakt entfaltende Geschehen lässt sich ganz ähnlich wie schon bei der Erscheinungsgrotte in Lourdes als eine praktische Maschinerie beschreiben. Es haben sich hier bestimmte Verfahren der Kommemoration etabliert, die von immer neuen Teilnehmern vollzogen und aufrechterhalten werden. Der Salbungsstein versammelt Menschen um sich und wird eingebunden in einen mehr oder weniger kontinuierlichen Strom von Aktivitäten, die in verschiedenen Variationen durchgeführt werden. Auch hier lassen sich Formen mimetischer Vermittlung und Weitergabe beobachten, auch hier gibt es ein mit einem hohen Besucherandrang verbundenes, sich mehr oder weniger selbst regulierendes Zeitregime, auch dieses Artefakt präfiguriert bis zu einem gewissen Grade die sich an ihm vollziehenden Aktivitäten, indem es zum Niederknien und Berühren auffordert, und begünstigt durch seine Position und Anlage eine bestimmte Verteilung von Körpern sowie einen bestimmten Verlauf der Besucherströme. Ähnlich wie in Lourdes ist davon auszugehen, dass viele Teilnehmer mit ihnen unbekannten Vollzügen konfrontiert werden, auf die sie sich einen Reim machen und an die sie sich adaptieren müssen, wenn sie in ›angemessener‹ Weise partizipieren wollen. Ein wichtiger Unterschied zur Erscheinungsgrotte liegt allerdings im Grad der Inklusivität der an diesem Artefakt kristallisierenden Praktik: Immer wieder lässt sich beobachten, dass Besucher am Rand des Geschehens stehen bleiben, sich das Treiben eine Zeit lang anschauen, fotografieren oder sich mit ihren Mitreisenden darüber austauschen, bevor sie nach einer Zeit weiter gehen, ohne sich dem Salbungsstein weiter genähert zu haben. Ein Pfarrer, der seit einigen Jahren deutsche Pilgergruppen durch das Heilige Land führt, berichtet von Reaktionen seiner Mitreisenden:
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T:
[...] ich glaub, der deutsche Katholik ist viel nüchterner. Eher nüchterner. Also
wir tun uns mit so Sachen glaub ich viel schwerer. [...] da würd ich wirklich sagen, [...] dieses Berührn, und dieses Küssen, und, das is nich so […] (unser) Thema. TC: Wie verhalten sich denn die Leute am Salbungsstein [...]? T:
Sie gehn dann eher irritiert vorbei und gucken dann mal zu, fragen dann, was ma-
was machen die dann, was is des, ist das überhaupt recht? So.
Der Pfarrer berichtet von verhaltenen Reaktionen der Teilnehmer seiner Reisegruppe. Konfrontiert mit den Vollzügen, wie sie sich hier etabliert haben, unterwerfen sie diese einem prüfenden Blick und machen sie zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung. Folgt man dem Deutungsangebot des Pfarrers, verweisen solche Reaktionen – lassen wir die Frage beiseite, inwiefern ein Reisegruppenleiter möglicherweise daran teil hat – auf Grenzen, die durch konfessionelle Zugehörigkeit gezogen werden und die den Horizont verfügbarer und akzeptabler Handlungen definieren: Devotionale Aktivitäten etwa des Berührens oder Küssens befinden sich demzufolge außerhalb des Repertoires an Glaubensvollzügen, das die eigene religiöse Tradition für ihre Teilnehmer bereithält und vorsieht. Die Überprüfung und normative Bewertung der Angemessenheit der Handlungen am Maßstab einer Haltung der ›Nüchternheit‹ verweist zugleich auf ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher emotionaler Regime: Nicht nur die Aktivitäten selbst, auch die sich in ihnen zum Ausdruck bringenden Emotionen liegen auf der Aussenseite dessen, was für die Besucher selbst zu vollziehen und zum Ausdruck zu bringen denkbar und statthaft erscheint. Anstatt also teilzunehmen, reagieren die Besucher mit Befremden und Irritation und erkundigen sich nach der Akzeptabilität der interobjektiven Aktivitäten. Während sich die Besucher der LourdesGrotte trotz der ihnen oft unbekannten Vollzüge zu großen Teilen in die dortige Praktik des Durchschreitens verwickeln lassen, gibt es hier also offenbar Widerstände im Hinblick auf die Rekrutierung neuer Teilnehmer: Nicht, dass sich diese Praktik nicht kontinuieren könnte – Träger finden sich mehr als genug –, sondern in dem Sinne, dass sich ein Teil der Besucherschaft in die ›autopoietisch‹ arbeitende Maschinerie nicht involvieren kann oder möchte. Das Befremden, das sich in der obigen Beschreibung ausdrückt, verweist damit auf Fragen kultureller Identität und auf das Vermögen sozialer Praktiken, Grenzen der Zugehörigkeit und zwischen innen und außen zu definieren und sichtbar zu machen. Praktiken transportieren Intelligibilität und vermitteln damit zugleich ein unartikuliertes Einvernehmen im Hinblick darauf, dass Dinge ähnlich getan und verstanden werden. Indem Teilnehmer füreinander intelligibel handeln, stiften sie Zugehörigkeit – oder, wie es Schatzki ausdrückt, »we’s« (Schatzki 1996: 117) –, damit aber stiften sie, wie hier deutlich wird, auch »they’s«: Die
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Besucher mögen bis zu einem gewissen Grade ein Verständnis im Hinblick auf das Artefakt und seine Bedeutung teilen, doch die Arten und Weisen der Annäherung daran trennt sie voneinander. Anders gesagt: Welt-Intelligibilität (als was der Stein verstanden wird, worauf er verweist, woran er erinnert) mag für sie bis zu einem gewissen Grade ähnlich artikuliert sein (vgl. aber Bowman 1991), Handlungs-Intelligibilität (was an dem Stein zu tun Sinn macht) ist es nicht (vgl. Schatzki 1996: 110f.). Das Artefakt bringt damit eine Praktik hervor, die sich zwar erfolgreich kontinuiert, dabei aber potentielle Teilnehmer immer wieder auch ausschließt. Was aber geschieht, wenn sich Besucher trotz der ›Fremdartigkeit‹ der Vollzüge auf diese Praktik einlassen und an ihr teilnehmen? Ein Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll: Ich beuge mich [...] hinunter, was mich zunächst etwas Überwindung kostet. Ich gehe auf die Knie, beuge mich nach vorne und lege beide Hände auf dem Stein ab. Für einen Moment denke ich darüber nach, was mein Begleiter wohl denken mag. [...] Das Geschehen um mich herum rückt [...] in den Hintergrund, während (ich) mich den Menschen, die mit mir ›hier unten‹ sind, irgendwie nahe fühle. [...] Es wirkt für einen Moment, als sei die Zeit stehen geblieben. Ich erkunde die warme Oberfläche und die Furchen des Steins mit meinen Händen, höre das Murmeln unmittelbar um mich herum, nehme aus dem Augenwinkel Bewegungen meines unmittelbaren Nachbarn wahr; dann beuge ich mich weiter nach vorne und lege, was mich noch einmal Überwindung kostet, den Kopf auf dem Stein ab und schließe die Augen. Ich nehme einen zitrusartigen Geruch wahr, den der Stein deutlich ausströmt.
Der Auszug gibt einige Hinweise darauf, was es bedeuten kann, sich unter Bedingungen des Unvertrautseins in den Strom der Besucher einzureihen, die Andachtspraktik versuchsweise durchzuführen und ihre sensorischen und affektiven Strukturen zu explorieren. Es wird einerseits deutlich, dass mit dem Eintritt in diese Praktik unter Umständen gewisse Hürden zu überwinden sind: Aktivitäten wie niederknien, berühren oder den Kopf ablegen erscheinen mindestens als ungewohnt, vielleicht sogar als ›unaufrichtig‹: Zwar sind sie als reine Körperbewegungen Teil eines körperlichen Repertoires, das ihre spontane Durchführung erlaubt, aber als Haltungen und Überzeugungen ausdrückende Glaubenshandlungen machen sie zugleich Grenzen der Zugehörigkeit erfahrbar. Auf der anderen Seite wird verständlich, dass eine solche ›experimentelle‹ Partizipation es ermöglicht, zu erkunden, welche Lebenszustände diese Praktik für ihre Teilnehmer bereithält: Die sich mit der Einnahme einer bestimmten Körperhaltung einstellenden Wahrnehmungsverschiebungen, das plötzliche Gefühl einer Verbundenheit mit den an-
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deren Teilnehmern, die haptischen und olfaktorischen Eindrücke an der Steinplatte geben Hinweise auf eine bestimmte Ordnung von Empfindungen und Eindrücken, die diese Praktik konstituieren und Teil ihrer teleo-affektiven Struktur sind. Ein Teilnehmer berichtet: I think it’s a- it’s nice to see how all the other traditions do it, [...]. Yeah. So it’s=it’s beautiful to see all these people serving Christ in their religion. [...] I think ahm, going and seeing people be very, very tactile and laying their faces down on the stone, kind of is a bit shocking to a protestant, but it does kind of give you a permission if you like to be more tactile [...]. You know, I probably was more tactile than if I- if no one else had been ahm, touching or, you know, kissing (-) the stone and that kind of thing, it does give you a sense of it’s okay to being tactile, than you would otherwise [....]. So yes, you are influenced by other people’s behaviour, I think. It’s a combination of doing what comes naturally (-) but getting that kind of permission to do what comes naturally, from other people’s behaviour. [...] I think I would have touched it anyway, but it would have been a more sort of cautious kind of- oh I hope no one’s (impo- n) worried that I’m touching that kind of thing.
Zu seinen Eindrücken bei der Berührung des Steins berichtet er: I think ahm it’s [...] quite an emotional ( ). Well, it’s for (some) emotional feeling and it, it’s, it makes you feel sort of for a moment closer to everything that’s happened, you know, these sort of, all these hundreds and thousands of years of history, and, I ( ) there’s something moving about being close to that. Mh-h.
Ähnlich den Besuchern im obigen Beispiel, so erscheinen auch diesem Teilnehmer die von ihm beobachteten Vollzüge – die Berührungsaktivitäten, das Ablegen der Köpfe auf dem Stein – als fremdartig, doch schreibt er dies seiner eigenen konfessionellen Zugehörigkeit zu und nimmt eine eher zugewandte Perspektive ein. Er begreift die Praktik, die sich an diesem Artefakt etabliert hat, als ein Angebot, das er aufgreifen kann und das es ihm ermöglicht, seinem Impuls, ›taktil zu sein‹, zu folgen. Er nutzt die Gelegenheit, sich in den Strom der Beter einzureihen, in den eigendynamisch prozessierenden Handlungsfluss einzutreten, die ihm bislang unvertrauten Vollzüge aufzugreifen und zu schauen, was dann geschieht. Dabei kann er daran anschließen, dass diese Vollzüge Normativität, also Vorstellungen von Korrektheit und Akzeptabilität im Umgang mit dem Artefakt, transportieren, was ihm die ›Erlaubnis‹ vermittelt, es den anderen Teilnehmern gleichzutun. Auf diese Weise wird es ihm möglich, die sinnlichen Ordnungen der Praktik und die in sie eingelagerten erfahrungsmäßigen Gehalte zu explorieren, und so
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zugleich die sensorischen und emotionalen Regime einer anderen religiösen Tradition zu erkunden. Indem das Artefakt Besucher verschiedener Traditionen unter Bedingungen von Öffentlichkeit bzw. gegenseitiger Sichtbarkeit um sich versammelt, ist es so immer wieder auch daran beteiligt, Grenzen der Handlungs-Intelligibilität zu nivellieren und damit auch kulturelle Schranken – zwischen »we’s« und »they’s« – über den praktischen Vollzug zu überwinden. Zugleich macht der Pilger an dem Stein eine Erfahrung des Verbundenseins mit Geschichte, die anderen Besuchern, die sich nicht in die Praktik verwickeln lassen, verschlossen bleibt. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie es dieses Artefakt schafft, eine solche Verbindung herzustellen, obwohl es sich um eine Nachbildung handelt, die keine Zeitzeugenschaft für sich beanspruchen kann. Ein Mönch aus einem Jerusalemer Konvent: Also, mir is jetzt nicht, dass ich sage, oh, hier war jetzt DAS, hier war jetzt DAS. Weil, auch vieles is auch schwierig, der Abendmahlssaal [...] is von den Kreuzfahrern in der heutigen Form. Da spürt man wenig, da gibts kein Spirit [...]. [...] für mich hat das den Wert, zu sagen, hier hat man sich geeinigt, [...] hier war das leere Grab, und wenn ich dort jetzt bete, verbinde ich mich mit zig Generationen vor mir, die sich darauf geeinigt haben, hier ist jetzt der Ort, wo das kommemoriert wird [...] Und da find ich einfach, das hat diesen Wert, zu wissen, wenn ich dort bete, reih ich mich ein in einen Beterstrom, der über Jahrhunderte geht. Und das is für mich eigentlich wertvoller, also als ich kann wenig damit anfangen, hier war das, oder weil, obs dann zehn Meter oder links war, huch da hab ich falsch gebetet oder so [...].
Authentizität wird in einer solchen Sicht substituiert durch Konvention, genauer gesagt: durch eine Praxis, die an diese Konvention anschließt und sie immer wieder aktualisiert und zur Geltung bringt. Die kontinuierlich hier vollzogenen devotionalen Aktivitäten bekräftigen einen Konsens, sich hier zu erinnern, verschaffen diesem Konsens Ausdruck, transformieren dieses Artefakt in einen Gegenstand der Verehrung und verleihen ihm auf diese Weise erst das Vermögen, seine Besucher ›kurzzuschließen‹ mit all den Gehalten, die sie mit ihm in Verbindung bringen: Die vermittelnde Leistung des Steins erscheint damit als das Resultat der sich immer wieder neu an ihm vollziehenden Aktivitäten. Die Authentizität bzw. unmittelbare Zeugenschaft des Artefakts wird ersetzt durch einen sich über Jahrhunderte erstreckenden »Beterstrom«, der die eigentliche Geschichte des Steins überlagern und in den Hintergrund treten lassen kann.
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»Touch and Go!« Welche Regeln braucht ein Sakrotop? Im Vorhof zur Grabeskirche sprach ich mit einem Pilger, der aufgebracht davon berichtete, die Kirche kurz zuvor verlassen zu haben. Zur Begründung sagte er: I came with very high expectations. Come to the Holy Sepulchre and consolidate my faith. Cause I am a great faithful. [...] I didn’t like at all, about how, there is too much crowd and there’s plenty of people and this is ahm-m unfit for prayer and faith. It’s more touristical. There is not a corner where to pray in silence and peace, and (find) to your own faith and your devotion in that place. And I don’t like this, because I’m praying, and someone [...] comes and said: ›Hurry on!‹ [...] I don’t like all this MESS. The queue for the vault was very long, and I decided to give it up, because two hours of queueing, we prayed and read a gospel at side, but we exited. Like there were hundreds of people. [...] I expected to feel the HOLiest, more inVOLVing. It made me nervous. Instead of finding peace, that I was looking for in this place – because I have been waiting for years [...], I didn’t find this peace. I felt nervous, because of the mess, there was plenty of people. [...] I was looking for a sensation. I was looking for a sensation.5
Der Bericht gibt anschaulich die Bedingungen wieder, die viele Pilger in der Kirche vorfinden. Angesichts eines bisweilen massiven Besucherandrangs ist die Situation oft von Überfüllung, Unübersichtlichkeit, Betriebsamkeit und Stimmengewirr geprägt. Zu den Stoßzeiten um die Mittags- und Nachmittagszeit ist es mitunter schwer, sich einen Weg durch die Besuchermassen zu bahnen. Mehr oder weniger große Gruppen, die im Rahmen einer Busreise oder einer Kreuzfahrt hierher kommen, scharen sich um ihre Reiseführer, andere unterhalten sich, filmen und fotografieren. Pilger verschiedener religiöser Traditionen beten, singen oder sammeln sich in langen Schlangen vor dem Kalvarienaltar oder dem Grab, um die Stätten für einen kurzen Moment besuchen zu können. Hinzu kommen die zu manchen Zeiten parallel stattfindenden Gottesdienste der einzelnen Gemeinschaften, so dass sich bisweilen Gebete und Gesänge in verschiedenen Sprachen überschneiden, teils übertönt durch die mächtige Orgel der Franziskaner. 6 Wenn sich
5
Der Besucher gab seine Beschreibung in italienischer Sprache, während einer seiner beiden Begleiter simultan übersetzte.
6
Einer der vor Ort tätigen Franziskaner berichtete von wahren Kakophonien, die in solchen Fällen entstehen: Es entwickle sich bisweilen ein regelrechter Wettbewerb zwischen Vorsängern, Vorbetern und Predigern um die lautstärkste Durchsetzung, so dass man sich selbst kaum hören könne und Schwierigkeiten habe, den Ton zu treffen.
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die Mönche aus den einzelnen Konventen im Rahmen ihrer regelmäßigen Prozessionen durch die Kirche den heiligen Stätten nähern, um dort zu zelebrieren und sie mit Weihrauchfässern zu inzensieren, werden die Pilger aufgefordert, Platz zu machen. Die Mönche, denen die Aufsicht über diese Stätten obliegt, unterwerfen den Besuch einem strengen Reglement, das auf Befindlichkeiten und Wünsche der Besucher wenig Rücksicht nimmt, und rufen etwa den Besuchern im Grab regelmäßig zu: »Come out!«, »Hurry, hurry!«, »Fast, fast!«, »Andiamo!«, während sie auffordernd in die Hände klatschen. Zu den Vorstellungen des Pilgers im obigen Beispiel stehen diese Gegebenheiten in starkem Widerspruch. Er erwartet einen Ort vorzufinden, an dem er nicht nur in Ruhe beten kann, sondern an dem ihm eine Erfahrung zuteil wird, die ihn zu einer Vertiefung und Stärkung seines Glaubens führt. Stattdessen findet er Bedingungen vor, die ihm seiner Aussage zufolge nichts davon ermöglichen: Er beklagt das Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten, Überfüllung und Unordnung, die ›eher touristische‹ Anmutung des Ortes, die langen Wartezeiten beim Zugang zu den heiligen Stätten und die zu kurzen Aufenthaltszeiten. Der Bericht verweist damit auf einen Krisenfall: Die von dem Besucher antizipierten, auf Andacht und Innerlichkeit angelegten Praktiken mit ihrer starken Erfahrungsorientierung sind auf diesen Ort hin ausgerichtet, erfordern aber Bedingungen, die der Ort dann nicht bietet. Schließlich kapituliert er und verlässt aufgebracht die Kirche, ohne die von ihm gesuchte Glaubenserfahrung machen zu können. Pilger, die etwas länger in Jerusalem verweilen und nicht durch die eng getakteten Zeitpläne einer Reisegruppe gebunden sind, haben die Möglichkeit, den Menschenmassen durch einen frühmorgendlichen oder spätabendlichen Besuch auszuweichen oder sich über Nacht in der Kirche einschließen zu lassen, um die heiligen Stätten so mit der gewünschten Ruhe erleben zu können. Wo Pilger im Rahmen einer Gruppe unterwegs sind und sich dem gewöhnlichen Betrieb mit seinen Begleitumständen fügen müssen, unter diesen Bedingungen aber dennoch eine bleibende Erfahrung machen wollen, ist der Einsatz besonderer Strategien nötig. Ein geistlicher Reisegruppenleiter betont die Notwendigkeit einer gründlichen Vor- und Nachbereitung. Gut, mer is natürlich, ich find immer, da spielt ja des Warten ne unglaubliche Rolle. Dieses Warten und dann auch würd ich auch immer sagen, mer muss die Leute konditioniern dadrauf auf den kurzen Moment und so weiter. [...] Und ich glaube, da bedarfs irgendwie ner guten Hinführung [...]. Dass praktisch dieser Moment dann nicht nur erstarrt in diesen zehn Sekunden, sondern dass das so=n bisschen nachwirkt. (--) Also des find ich, also des is oft kurz, aber es gibt ja viele Momente im Leben, die sin ja nur kurz und trotzdem ham=se offensichtlich dann in ihrer Nachwirkung nomma ne Bedeutung,
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wenn mer dem nochma RAUM gibt. [...] dieser Moment, wenn des gut vorbereitet is, wenn man den Leuten sacht, dann glaub ich wird der Moment schnell gefunden. Und dann vielleicht eher dieses wieder sich losreißen müssen nach so kurzer Zeit von dem Ort, des- des is dann vielleicht=n SCHMERZ der aber dann wieder glaub ich öffnet für diese Retroperspektive (nachher). [...] Also wir machen jeden Tag zum Beispiel=n Tagesrückblick. [...] und ich glaub diese Zwischenzeiten, [...] die sind zumindest begleitend wichtig. Und dieses Erlebnis dann irgendwie auch dann einzuordnen.
Die Teilnehmer müssen, so der Geistliche, im Vorfeld darauf eingestellt werden, dass ihnen »an Ort und Stelle« nur ein kurzer Moment zum Verweilen bleiben wird; und ihnen muss die Möglichkeit gegeben werden, im Nachhinein an diese Erfahrung anzuknüpfen, damit sie ihre »Nachwirkungen« später entfalten kann. Die Vorbereitung der Teilnehmer und die anschließende Erörterung ihrer Erfahrungen erscheinen hier als Bestandteile eines Verfahrens, das darauf setzt, sich vor Ort auf ein ›registrierendes‹ Einfangen von Eindrücken zu beschränken, die dann erst im Nachgang einer vertiefenden Auseinandersetzung zugeführt werden. Diese auf die Generierung von Eindrücken ausgerichtete Vorgehensweise erweist sich dann als eine Strategie, mit der unter den hier vorfindlichen Bedingungen das bestmögliche Ergebnis erzielt und ein Scheitern der Andachtspraktiken durch eine Verschiebung ihrer Grenzen bzw. durch eine zeitliche Ausdehnung vermieden werden soll. Geistliche und Ordensleute, die vor Ort für die seelsorgerliche Betreuung von Pilgern verantwortlich sind, kennen die Schwierigkeiten und problematisieren die Situation in der Kirche immer wieder. Now, a lot of pilgrims [...] expect something similar to what they get in their own parish church, which is quiet, ordered, let’s say: western. [...] What do I expect in the church of the Holy Sepulchre? I expect a shrine, lovely and peaceful [...]. [...] So, people kind of have that expectation of silence. I think most people expect silence, you know, and instead, the place like the Holy Sepulchre is the ANTIthesis of what they expect as pilgrims. [...] And they come, and I found that they are very disorientated, and in fact even angry by the experience. [...] manche sind auch geschockt, wenn sie erleben, wies da zugeht. Also wenn man in der Grabeskirche tagsüber ist, dann hat man glaub ich jetzt . [...] Und manche=manche=manche sind wirklich also sind ganz berührt, und manche sind ganz enttäuscht. Des is dieser Spannungsbogen. Also enttäuscht dann nicht so sehr jetzt von den heiligen Stätten als von der Art und Weise [...], wie die heiligen Stätten auch erfahrbar sind. [...] An sich wärs ja=n großer Moment oder, wenn die Leute einmal in ihrem Leben vielleicht nach Kalvaria kommen, und dann nach dem Motto
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›Touch and Go!‹ . [...] der Mönch da oben, Kalvaria, das is für mich so des Charakteristikum für die heiligen Stätten hier, ›Touch and Go!‹, der hat immer gsagt, ›Touch and Go‹, oder? ›Touch and Go!‹ Also schnell, schnell berührn, schnell küssen und dann (rattern) mer weiter, und des is oft hier so die Erfahrung. Some days in Jerusalem it’s impossible to have a religious experience. [...] the Holy Sepulchre is a deSASter. It’s a COUNter-effect. No, if you’re entering the Holy Sepulchre at some days, you go out and , very, very disappointed, me too, as a priest. [...] at some times you are invited to go out, because it’s not a holy place. It’s a market, very noisy, very disturbing.
Die Aussagen machen deutlich, dass es sich bei der von dem Pilger im vorangehenden Beispiel geschilderten Erfahrung offenbar nicht um einen Einzelfall handelt, sondern dass viele Besucher mit Überraschung, Irritation, Enttäuschung und Ärger auf die Verhältnisse in der Kirche reagieren, die hier als ›Antithese‹ zu den Erwartungen ›westlicher‹ Pilger beschrieben wird. Dabei scheint auch in diesen Beschreibungen das Scheitern angestrebter Glaubenserfahrungen das zentrale Problem. Mit der in Anschlag gebrachten Unterscheidung zwischen den heiligen Stätten und ihrer ›Erfahrbarkeit‹ wird dabei betont, dass die hier immer wieder auftauchenden Krisen und gescheiterten Andachtspraktiken nicht durch das materielle Arrangement selbst oder seine Beschaffenheit hervorgebracht werden, sondern durch eine bestimmte Form der Besucherorganisation, die Lärm und Unübersichtlichkeit mit sich bringt und den Besuchern zu wenig Zeit für den Besuch der heiligen Stätten lässt. Beschrieben werden diese Bedingungen als Resultat eines fehlenden Reglements: You have to have ushers along, you have to have people, like in a museum, saying, please, don’t take pictures, don’t talk to, ahm, and so forth. You have to impose, you have to impose the rules, like, one of the things when we’re- we talked and talked about it so much that I don’t wanna talk about it anymore, but, about putting some order in the Holy Sepulchre. I always say that, you can make the rules, we can send out letters to the ministry of tourism, ah-h, but, if you don’t enforce the rules, like just if one day we decided to say, okay, groups, they are not appropriately dressed, don’t go into the courtyard. They’re not given access (-). The following day the message will be out, and everybody will come properly dressed. So you have to enforce the rules. Man macht halt viel kaputt durch diese Dinge. Und wenns eine einheitliche Richtlinie gäbe, wo jeder sich dran halten muss [...]. [...] des muss man sagen und einfordern, weil
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sonst wirds immer schlimmer. [...] das muss einfach die Richtlinien geben, weil sonst zerstört man jede Sakralität. I came [...] back home very angry when I travelled to the old city and the Holy Sepulchre and I find the Costa Crociere, thirty-five or fourty groups of tourists. In one hour all of them they visited the Holy Sepulchre [...]. For me, I forbid those kind of groups to enter the Holy Sepulchre [...].
Die Ordensleute, die hier zu Wort kommen, treten als Advokaten eines vor touristischem Andrang und bestimmten Verhaltensweisen zu schützenden Arrangements und damit zugleich als Fürsprecher bestimmter Varianten von Andachtspraktiken und in sie eingelassener Glaubenserfahrungen auf. Der Weg zur ›Aufrechterhaltung‹ des sakralen Charakters der heiligen Stätten führt für sie über die Aufstellung von Regeln oder ›Richtlinien‹, auf deren Einführung sie teils aktiv hinzuarbeiten versuchen und die von Kleiderordnungen und Verhaltensreglements im Hinblick auf Unterhaltungen und Fotografien bis hin zu Zugangsverboten für große Touristengruppen reichen. Zugleich wird betont, dass solche Regeln nicht nur aufzustellen, sondern durch Ordner oder Aufseher durchzusetzen und zur Geltung zu bringen seien. Mit der Annahme, die ›Zerstörung‹ der Sakralität des Ortes gehe auf das Fehlen von Regeln zurück, werden gleichermaßen ihr Hervorbringungscharakter wie ihre Fragilität markiert: Sakralität erscheint als etwas, das sich im praktischen Vollzug verwirklicht oder nicht verwirklicht bzw. aus ihm emergiert oder nicht emergiert. Woraus aber resultiert das Fehlen solcher Regeln, die Praktiken der Annäherung an diese Orte immer wieder scheitern lassen? Ein franziskanischer Ordensmann, der selbst als Mitglied in der Kommission für die Einhaltung des Status Quo gewirkt hat, berichtet, wie Versuche zur Durchsetzung und Etablierung einer verbindlichen Ordnung an der Notwendigkeit scheitern, Kompromisse zwischen den am Heiligen Grab vertretenen Gemeinschaften zu erzielen. But a regime is impossible to impose [...]. See, if you wanna impose a regime like [...] example like Saint Peter’s, you can do it. But in a place like the Holy Sepulchre, you can’t. [...] It’s impossible, I can’t, we propose to put order. [...] That could be done, but you need the agreement of the Greek-Orthodox and the Armenians. [...]. [...] the Status Quo [...] does not, ahm, we’d have to have a negotiated agreement, but how do you impose [...], it’s between us, the Greeks, and the Armeniens. [...] There’s no way, we’ve already tried to put ushers, we’ve already discussed, putting ushers in the church to, to have some basic kind of dresscode. [...] Some people come in as if they’re coming from the beach. So, but, because the Status Quo, there’s no, ah precedent for the system of
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ushers. [...] Fifty years ago people did not dress that way. [...] It wasn’t a problem. But now it is, cause ah-h, the standards have changed.
Und ein anderer Geistlicher: Weil natürlich, wenn ich in Deutschland in=ner Kirche, oder im Kölner Dom, hab ich die Ostiare, die Türsteher [...], da ist das leichter möglich, weil da natürlich das alles in einer Hand ist. Des is katholische Kirche, und die Regeln gibts, und die dann auch durchzusetzen is nich so=n Problem, oder. Hier is tatsächlich denk ich durch den Status Quo und durch die sechs verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften, noch dazu auch noch durch die andern Religionen, das alles noch schwieriger. [...] Aber wenn die Kirchen sich da auch verständigen könnten, um zu sagen, wir wollen gewisse Regeln aufstellen, die wir alle gemeinsam bejahen können, um zu verhindern, dass das hier nur noch ein Museum für den Massentourismus wird, dann wär das schon MÖGlich. [...] An sich isses ja ein Trauerspiel. [...] Dass man denkt, dass die sechs [...] kirchlichen Gemeinschaften dort es nicht fertigbringen, halt von mir aus zu sagen, wir haben da e bisserl Türsteher, Aufsichtspersonal, die für Ruhe sorgen [...].
Mit dem Vergleich zu Kirchen wie dem Petersdom oder dem Kölner Dom werden die Schwierigkeiten der Schaffung eines ›Regimes‹ auf die aus der interkonfessionellen Verwaltung resultierende Situation der Grabeskirche zurückgeführt. Während andernorts diejenige religiöse Gemeinschaft, der die Verantwortung für eine Kirche oder eine andere heilige Stätte obliegt, ihre jeweiligen Vorstellungen im Hinblick auf die Reglementierung des Verhaltens der Besucher durchsetzen kann, sind solche Regeln aufgrund der besonderen Konstellation in der Grabeskirche das Ergebnis einer mühevollen Suche nach Kompromissen. Letztlich entstehen diese Probleme aus der ambivalenten Natur des Status Quo, der zwar die mehr oder weniger friedliche Koexistenz der christlichen Gemeinschaften in der Kirche garantiert, dies aber über die Zementierung bestimmter Verhältnisse leistet, sich wandelnden Herausforderungen deshalb nur teilweise oder keine Rechnung tragen kann und für bestimmte Probleme keine Antworten bereithält. Weitergehende, an die veränderten Gegebenheiten besser angepasste Vorschriften müssen deshalb erst ausgehandelt werden, und wo eine solche Einigung nicht herbeigeführt werden kann, entsteht im Hinblick auf die Zutrittsbedingungen und das Verhalten der Besucher ein regulatorisches Vakuum. Die – ganz entgegengesetzte – Ausnahme ist die überaus strenge Reglementierung der Besuchszeiten durch die aufsichtführenden Mönche.
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Diese spezifische, historisch bedingte Konstellation macht die Grabeskirche zu einem instruktiven Sonderfall. Unter Gegebenheiten eines – zumal interkonfessionellen und teils areligiösen – Massentourismus führt die aus blinden Flecken im Status Quo herrührende regulatorische Unterbestimmtheit zu einer Situation, mit der die Kirche als ›Antithese‹ nicht nur zu Erwartungen vieler Pilger, sondern auch zu anderen religiösen Erinnerungsorten wie der zuvor behandelten Wallfahrtsstätte Lourdes begriffen werden kann. Einer gezielten Lenkung von Besucherströmen in der Erscheinungsgrotte steht hier ein Gedränge von Menschen gegenüber, der Stille eines von der Außenwelt abgeschirmten Settings eine Kakophonie von Stimmen, Schellen und Gesängen, der Vorherrschaft klar reglementierter Andachtspraktiken ein Nebeneinander religiöser und touristischer Vollzüge. Die diskutierten Hindernisse beim erfolgreichen Vollzug von Andachtspraktiken resultieren damit letztlich aus einem doppelten Spannungsverhältnis zwischen Regeln und Teleo-Affektivität: Während auf der einen Seite die Abwesenheit von Zutrittsbedingungen und expliziten Verhaltensmaßregeln eine durch Überfüllung und geschäftiges Treiben gekennzeichnete Situation zur Folge hat, wodurch sich manche Besucher gestört fühlen, führt auf der anderen Seite die starke Reglementierung der Besuchszeiten zu Einschränkungen im Hinblick darauf, die Andachtspraktiken in einer Weise durchzuführen, die eine Auslotung der in ihnen eingelagerten erfahrungsmäßigen Gehalte erlaubt. Die besonderen Bedingungen in der Kirche legen so die Fragilität der auf Innerlichkeit angelegten Andachtspraktiken offen und verweisen auf Gelingensbedingungen, die sich den Gestaltungsmöglichkeiten der Teilnehmer entziehen. Zugleich wird deutlich, wie Sakralisierung und Desakralisierung eines materiellen Arrangements das Resultat der an ihm vollzogenen Praktiken und der sich mit ihnen artikulierenden Verständnisse ist.
Wandeln auf den Spuren Jesu: Verfahren des Nacherlebens von Glaubensereignissen Für viele christliche Besucher ist die Grabeskirche eine Station einer größer angelegten Rundreise durch das Heilige Land, bei der sich Pilger ›auf die Spuren Jesu‹ begeben und die Stätten des Wirkens Jesu und der Apostel, der Verkündigung des Evangeliums sowie weitere biblische Stätten besuchen können: Die Geburtskirche in Bethlehem, die Stadt Nazareth, die Landschaft um den See Genezareth mit dem Fischerdorf Kapernaum, wo Jesus gewohnt und gelehrt haben soll und das den
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Herkunftsort vieler seiner Jünger darstellt, das nahe gelegene Tabgah mit der Brotvermehrungskirche, die Wüste Negev, und weitere Schauplätze des Alten und Neuen Testaments. Jerusalem, wo sich alles auf die Leidensgeschichte und Auferstehung Jesu verdichtet, ist dabei von besonderer Bedeutung. Die Stadt beherbergt neben der Grabeskirche eine ganze Reihe relevanter Orte, deren Besuch für viele Pilger einen wesentlichen Bestandteil ihres Aufenthalts in der Heiligen Stadt darstellt, so etwa den Ölberg mit dem Garten Gethsemane, dem Ort der Festnahme Jesu, die Via Dolorosa, den durch die Altstadt Jerusalems führenden, an den Kreuzweg Jesu erinnernden und in der Grabeskirche endenden Prozessionsweg, oder den Abendmahlssaal. Viele Pilger besuchen die christlichen Gedenkstätten im Rahmen einer Führung, wie sie hier vielfach angeboten werden. Eine große Zahl von Tour Guides, die vom israelischen Tourismusministerium instruiert und lizenziert werden müssen, bieten Touren verschiedenster Ausrichtung und in unterschiedlichen Sprachen an, führen Pilgergruppen an die heiligen Stätten und machen sie mit dem jeweiligen historischen Kontext vertraut. Daneben gibt es Spiritual Leaders bzw. geistliche Pilgerführer, die teils von den religiösen Gemeinschaften ausgebildet und zugelassen bzw. abgeordnet werden und die die biblische Kontextualisierung und die Glaubenserfahrung in den Mittelpunkt stellen. Manche Pilgergruppen werden von einem weltlichen und einem geistlichen Führer gleichzeitig geleitet, die sich dann gegenseitig ergänzen. An einem Tag während meines Aufenthalts in Jerusalem schloss ich mich einer deutschen Reisegruppe an, die nach einer Reise durch das Heilige Land nun in Jerusalem angekommen war. Sie stand unter der Leitung eines Pfarrers, der seiner Aussage zufolge alljährlich solche Reisen organisiert, zusätzlich hatte man einen vor Ort tätigen Tour Guide dabei. Die Gruppe war am späten Vormittag mit einem Bus zum Ölberg gefahren, wo sie sich zu Fuß auf den letzten Abschnitt des Palmsonntagswegs begab, der den Berg hinab in Richtung Altstadt und an einer Reihe bedeutender Stätten entlang führt.7 Ausgehend von der mit der Erhöhung Jesu in Verbindung gebrachten Himmelfahrtskapelle besuchte sie nacheinander
7
Der sich östlich der Altstadt von Jerusalem erhebende Ölberg ist nach biblischer Tradition Schauplatz einer Reihe bedeutender Ereignisse wie der Verhaftung und der Himmelfahrt Jesu. Er beherbergt eine ganze Reihe von Kirchen und Kapellen, die dem Gedenken an diese Ereignisse gewidmet sind, und ist ein wichtiges Ziel christlicher Pilgergruppen. Den heute als Palmsonntagsweg bekannten Weg soll Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem genommen haben.
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die dem gleichnamigen Gebet gewidmete Pater Noster-Kirche8, machte Halt beim jüdischen Gräberfeld am Ölberg, von wo aus sich ein weiter Blick ins Tal und auf die Altstadt Jerusalems bietet, und setzte ihren Weg zur Dominus Flevit-Kirche fort, die daran erinnert, wie Jesus bei seiner Ankunft in Jerusalem das Schicksal der später zerstörten Stadt betrauert haben soll. Am späteren Nachmittag traf die Gruppe schließlich am Garten Gethsemane ein, der als Ort des Verrats und der Verhaftung Jesu von besonderer glaubensgeschichtlicher Bedeutung ist. Am Eingang des Gartens bleibt der Tour Guide stehen. Nachdem er sich vergewissert hat, dass die Gruppe vollzählig ist und sich alle in Hörweite befinden, hebt er an: »So, wir sind hier am Ölberg. Wir wollen dann den Garten Gethsemane besuchen und der Kirche aller Nationen, und äh, wie wir sehen, diese Riesenbäume im Garten Gethsemane, welche von denen sind zur Zeit Jesus, über zweitausend Jahre alt.« Die Gruppe betritt den Garten, eine zu diesem Zeitpunkt mittelstark frequentierte, von Wegen durchzogene und von mächtigen Olivenbäumen geprägte Parkanlage. Zunächst sammelt sie sich an einem der kleineren Bäume, der, wie ein Hinweisschild informiert, erst vor einigen Jahrzehnten durch den damaligen Papst gepflanzt wurde. 9 Vor dem Hintergrund beständiger, vom Tal her kommender Hupgeräusche geht der Guide kurz auf die Pilgerreise des Papstes ein und verweist auf die in der Nähe liegende Grotte, in der die Jünger Jesu geruht haben sollen, während er selbst im Garten betete. Das »aus dem Aramäischen oder Hebräischen« stammende Wort ›Gethsemane‹ bedeute so viel wie ›Ölpresse‹ und gehe zurück auf eine zur Zeit Jesu hier befindliche Ölbaumplantage. Seinerzeit habe es hier viele Olivenbäume gegeben, und vor allem die älteren, wiederholt er, könnten durchaus noch aus der Zeit Jesu stammen. Er führt die Gruppe zu einem Gang am Seitenrand der angrenzenden Kirche, an dessen Kopfende sich eine unebene Steinfläche mit einem Relief in ihrem Zentrum befindet, das den in Todesangst betenden Jesus zeigt, den Oberkörper auf einem Felsblock abgelegt, die Arme über den gesenkten Kopf ausgestreckt, die Hände zum Gebet zusammengeführt. Nachdem sich wieder alle gesammelt haben, erwähnt der Guide die Ankündigung Jesu, wonach er in Jerusalem verraten, festgenommen und sterben werde. In der Mitte des Gangs stehend und ohne eine bestimmte Stelle genauer zu bezeichnen, fährt er fort: »Und äh, hier hat Jesus gebetet [...]. Und hier war dann berühmte Kuss von
8
Die Kirche wurde über einer Höhle erbaut, in der Jesus die Jünger das Gebet gelehrt haben soll. Das Pater Noster ist hier, angebracht auf großen, kunstvoll verzierten Keramikplatten, in hundertvierzig Sprachen zu lesen.
9
Der Baum erinnert an die Pilgerreise Papst Pauls VI. im Jahr 1964, mit der eine Annäherung zwischen Ost- und Westkirche eingeleitet wurde.
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Juda [...].« Der Fels, an dem Jesus das »Todesangstgebet« gebetet habe, sei in der Kirche ausgestellt, die man im Anschluss besuche. Als er geendet hat, spricht er sich kurz mit dem Pfarrer ab, bittet die Teilnehmer dann, auf der Bank an der Seite des Gangs Platz zu nehmen und übergibt an den Pfarrer. Dieser begibt sich zum Kopfende des Gangs, positioniert sich etwas seitlich vor dem Relief, schlägt seine Bibel auf und beginnt zu lesen. Er hebt an: »Aus dem Matthäusevangelium«. Er liest laut, betont dramatisch und schaut immer wieder zu den Teilnehmern auf. »Darauf kam Jesus mit den Jüngern zu einem Grundstück, das man Gethsemane nennt, und sagte zu ihnen: ›Setzt euch und wartet (--) hier=während ich dort BEte.‹ [...] Und er ging ein Stück weiter, warf sich zu Boden und betete: Aber nicht wie ICH will, sondern wie DU willst.‹ Und er ging zu den Jüngern zurück [...]. Dann ging er zum zweiten Mal weg und betete: ›Mein VAter, wenn dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, geschehe dein Wille.‹ [...] Und er ging wieder von ihnen weg und betete zum dritten Mal mit den gleichen Worten. Danach drohte [eigentlich: kehrte, Anm. T. C.] er zu den Jüngern zurück [...]. Während er noch redete, kam Judas, einer der zwölf, mit einer großen Schar von Männern, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet waren. [...] Und er küsste ihn. [...] Da gingen sie auf Jesus zu, ergriffen ihn und nahmen ihn fest.« Obwohl die Lesung des Pfarrers unter schwierigen akustischen Bedingungen stattfand und sich gegen eine laute Unterhaltung vorbeigehender Besucher, ein klingelndes Mobiltelefon und den von einer Moschee in der Nähe herüberdringenden Gebetsruf durchsetzen musste, hatte er bis hierher recht unbeirrt weiter gelesen. Nun beginnt jedoch die Glocke der Kirche so laut zu schlagen, dass eine Fortsetzung unmöglich ist. Der Pfarrer hält kurz inne, versucht fortzufahren, aber als das Geläut kein Ende nehmen will, bespricht er sich kurz mit dem Guide und entscheidet sich angesichts des eng getakteten Zeitplans schließlich dafür, die Lesung zu unterbrechen. Er fordert die Teilnehmer auf, ihm zum Vorplatz der Kirche zu folgen, wo die Gruppe zum Stehen kommt und das Geläut verhallt. Ohne die Unterbrechung weiter zu kommentieren, fährt er vor den teils um ihn herum stehenden, teils auf einer Mauer sitzenden Teilnehmern fort und beendet die Lesung an dieser Stelle. Daraufhin betet die Gruppe gemeinsam, bevor sie sich schließlich in die Kirche begibt.
Der Besuch des Gartens folgt einer Dramaturgie, die wesentlich auf einer Arbeitsteilung zwischen dem Tour Guide und dem Pfarrer basiert und nach der man in ganz ähnlicher Weise auch an den zuvor besuchten Stätten verfahren ist. Er voll-
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zieht sich in drei aufeinander aufbauenden Schritten: Zunächst werden einige einführende Informationen zum Namen und zur Geschichte des Ortes gegeben, die den Besuchern bei der Einordnung helfen sollen und die auf das Erscheinungsbild des Gartens zur Zeit Jesu Bezug nehmen. Im zweiten Schritt begibt sich die Gruppe an eine bestimmte Stelle, an der sich die Ereignisse abgespielt haben sollen, derer im Folgenden gedacht werden soll, und wo eine erste Bezugnahme auf die Evangelienberichte erfolgt: Mit der Ankündigung des bevorstehenden Todes Jesu wird kurz auf die Vorgeschichte der Ereignisse eingegangen, bevor der Ort mithilfe indexikalischer Ausdrücke (»hier hat Jesus gebetet«) unmittelbar mit der Überlieferung in Bezug gesetzt wird. Schließlich findet die Lesung durch den Pfarrer statt.
Abb. 18: Ölberg und Garten Gethsemane: Jüdische Gräber am Ölberg; Reiseführer und Teilnehmer vor einem Ölbaum im Garten Gethsemane; Reisegruppe am Gedenkort des Todesangstgebets; Relief am Kopfende des Gangs
Verständlich machen lässt sich dieses Vorgehen als eine schrittweise erfolgende und vom Allgemeinen zum Konkreten hin verfahrende Intelligibilisierungsarbeit, mit der das Arrangement gezielt mit den Evangelienberichten in Bezug gesetzt und als Schauplatz der glaubensgeschichtlichen Ereignisse eingeführt und aufgebaut wird, und die darauf abzielt, diese Umgebung zur Bühne für eine dramatische Aufführung des Textes zu machen. Die Lesung des Pfarrers kann auf dieser Einführung aufbauen: Nachdem den Teilnehmern – wenn auch mit nur groben Federstrichen – vor Augen geführt worden ist, wofür dieser Garten steht, was sich hier ereignet haben soll und wie in etwa es hier einmal ausgesehen haben mag, kann
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der Text inmitten dieser Umgebung vorgetragen werden, um den Teilnehmern die zuvor nur angedeuteten Ereignisse in ihren Einzelheiten vor Augen zu stellen. Text und Arrangement schaffen hier füreinander einen Kontext: Auf der einen Seite kontextualisiert der Text das Arrangement, indem er es gewissermaßen mit Geschichte ›auflädt‹, auf der anderen Seite kontextualisiert das Arrangement den Text, indem es als Kulisse für seine Aufführung dient. Das Arrangement wird auf diese Weise zu einer Ressource für eine ›Bebilderung‹ des Textes gemacht, der so durch konkrete Anschauung angereichert wird. Den Zuschauern wird dabei einiges an Vorstellungskraft abverlangt, denn nicht nur hindern die Geräuschkulisse und die vielen Besucher, es vermag auch die gepflegte Parkanlage nur eine vage Vorstellung vom früheren Erscheinungsbild des Gartens zu vermitteln, als sich hier noch eine Plantage befand. Hier sind die Bäume wichtig, auf die als zumindest potentielle Zeitzeugen die Aufmerksamkeit gelenkt wird und die so zu hervorgehobenen Bestandteilen des ›Bühnenbilds‹ werden, mit dem sich die Berichte verbinden lassen. Der durch das Geläut erzwungene Ortswechsel zerreißt dieses Verhältnis gegenseitiger Einbettung, in der Umgebung und Text wechselseitig aufeinander verweisen. Die Lesung erfolgt dann an einem Ort, der zur ›Illustration‹ des Textes kaum noch oder nur noch vermittelt beitragen kann. Glaubensgeschichtlich orientierte Führungen gehen regelmäßig in ähnlicher Weise vor. Schauen wir uns an, wie Pilgerführer eine solche Vermittlungstätigkeit beschreiben. Ein Mönch aus einem Franziskanerkonvent, der selbst Pilgergruppen durch das Heilige Land führt, daneben aber auch an der Ausbildung spiritueller Guides beteiligt ist, erörtert, worauf es dabei seiner Ansicht nach vor allem ankommt: First, the biblical text. The biblical text. Knowledge of the biblical text, reading. And reading in the places. Read the story of the places. [...] The first, the most important lesson is, to know the biblical records, the biblical story […] we [the spiritual guides, T. C.] add the story of the site. We prepare – on the historical basis, geography, archaeology, theology, exegesis – an actualization of the gospel or the Bible. [...] If you have something of ancient ruins, archaeological excavations, you can ah connect the biblical memory, the biblical people, the biblical story, to what you see.
Die heiligen Texte an den mit ihnen korrespondierenden Orten vorzutragen, wie dies am Beispiel des Gartens Gethsemane dargestellt wurde, ist diesem Bericht zufolge nicht eine arbiträre Strategie einzelner Gruppenleiter, sondern steht im Zentrum der Ausbildung spiritueller Guides, ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben bei der Leitung von Pilgergruppen und ein etabliertes und verbreitetes Verfahren,
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die heiligen Stätten für die Besucher erfahrbar zu machen. Andere Führungen mögen an der einen oder anderen Stelle deutlich stärker in die Tiefe gehen, als das im obigen Beispiel der Fall war, aber der Kern des Verfahrens ist derselbe. Zweck einer solchen ›Aktualisierung‹ biblischer Überlieferung ist es dann, den Orten ihre Geschichte ›hinzuzufügen‹, wobei Ruinen und andere materielle Überreste eine solche Aktualisierungsarbeit unterstützen können: Es geht dann darum, solche Elemente eines jeweiligen Arrangements mit der biblischen Überlieferung – das, ›was man sieht‹, und das, was man hört – miteinander zu ›verbinden‹. Ein solches Verfahren scheint aber nicht zwingend auf berührbare Elemente materieller Kultur angewiesen: […] when there are [...] places where there is no buildings, [...] nothing, but only landscape, only, what you see, the true life, the sun, the dust, the animals, beduins or so, and you can feel a biblical experience. If there is one reading […], you can have a suggestion about the true, the the=the TRUTH of the place. (-) I mean in the Negev desert, it’s BIBLIC. You have nothing to see, but the place is teaching you, telling you something, […] can be experience, religious experience, and maybe a pray or reading in the bible, can be a very very deep experience for the pilgrims.
Die Lesung der heiligen Texte erscheint in der Sicht dieses Pilgerführers als eine Strategie, die jeweiligen Orte ›zum Sprechen‹ zu bringen. Dabei zeigt das im Bericht gewählte Beispiel, dass in gleicher Weise auch an Orten verfahren wird, an denen weder Ausgrabungen noch andere materielle Zeugnisse vorhanden sind, so etwa in einer kargen Wüstenlandschaft: Elemente eines solchen Arrangements wie Sonne, Hitze oder Sand, und sogar das zeitgenössische Leben der Beduinen, sprechen in dieser Sicht ihre eigene Sprache, die aber erst verständlich wird vor dem Hintergrund der damit zu verbindenden Geschichte. Die Rezitation der Texte – ebenso wie die Einspeisung von Kontextinformationen, wie im obigen Fall durch den Tour Guide – lässt sich damit begreifen als eine Strategie des Framing, als Instruktion zur Einnahme eines spezifischen Blicks, mit dem eine jeweilige Umgebung in eine biblische Landschaft transformiert und damit erst als solche erfahrbar gemacht wird (vgl. Bajc 2006): Die Sinneseindrücke, die ein Ort hervorbringen kann, werden auf diese Weise zu einer Ressource für die Generierung einer ›religiösen Erfahrung‹, die hier wiederum als vorläufiger Zielpunkt und als Kriterium einer erfolgreichen Durchführung dieser Praktik beschrieben wird. Die biblische Lesung bedingt so gesehen die religiöse Erlebnisqualität des Ortes. [...] und, und das ist das ganz Besondere natürlich hier im Heiligen Land, ähm, das ist DAS christliche Pilgerland überhaupt natürlich, denn das isses Land, wo Jesus geLEBT
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hat. (--) Und hier haben wir die Orte, wo er WAR. Und an diesen Orten, die wir dann besuchen, dort hat er das Evangelium verkündet. Alles, was wir zuhause […] lesen oder hören, hm? Das ist HIER gesprochen worden, das hat sich HIER zugetragen, und das an Ort und Stelle dann, aus den Evangelien zum Beispiel vorzulesen, [...], das macht das Erlebnis erst richtig möglich. […] Hier ist Religion eben ERLEBbar […]. Gut, wir erleben Religion auch in unserer Kirche, Religion soll erlebbar sein im Alltag. Aber hier ist man bei den Fundamenten, die man erleben kann [...].
Es wird hier eine Gegenüberstellung zwischen zwei Arten der Schriftlesung vorgenommen: einer räumlich entkoppelten oder dekontextualisierten Lesung an einem beliebigen Ort wie in einer Kirche im Heimatland der Pilger (»was wir zuhause lesen oder hören«), und einer Lesung »an Ort und Stelle«, an den Schauplätzen des Lebens und Wirkens Jesu und der Verkündigung des Evangeliums. Die Texte, die man überall lesen und vortragen kann, zu ihren Ursprüngen zurück zu verfolgen, hat in dieser Sicht einen ›Mehrwert‹ und wird zu einer Strategie der Generierung eines religiösen »Erlebnisses«, das sich nur auf diese Weise erreichen lässt. Deutlich wird dabei, dass von Texten gesprochen wird, die die Teilnehmer in der Regel bereits kennen: Das neue Element, das für die Pilger eingeführt wird, sind nicht die Texte, sondern die Arrangements, inmitten derer sie vorgetragen werden. Das durch den Vortrag vor Ort ermöglichte Erlebnis hat dabei zwei Seiten: Die Lesung ermöglicht die Erfahrung einer jeweiligen Umgebung durch den Text, und sie ermöglicht die Erfahrung des Textes durch eine jeweilige Umgebung. Ein solches Erlebnis soll dabei allerdings nicht Selbstzweck sein. Ein Geistlicher: Der Pater Bargill Pixner […] hat öfters eben davon gesprochen, dass das Heilige Land das fünfte Evangelium ist.10 Und, denk ich, hat er einfach damit gemeint, so wie wir halt durch die vier Evangelien uns ein Bild von Christus machen können und auch einfach ihn kennenlernen können in der Schilderung der Evangelien, so hilft eben auch das Heilige Land, dass wir ein besseres Bild oder einen besseren Zugang zur Person Christi bekommen können, und zu dem, was er gelehrt hat [...]. Und ich denk, das is schon Realität. (-) Also ich mein, viele, die hierher kommen, die die sagen wirklich, wenn sie daheim sind, also, jetz seh ich das ganz anders, oder? Wenn das, wenn ich das Evangelium jetz zum Beispiel in der Messe hör. Da hab ich jetzt ein Bild vor Augen, ich kann mir das viel besser vorstellen.
10 P. Bargill Pixner OSB (1921–2002) war ein Benediktinermönch, der sich in Jerusalem als Archäologe und Pilgerführer betätigte. Gemeinhin wird die Aussage ursprünglich dem Hl. Hieronymus zugeschrieben.
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Mit der Bezeichnung des »Fünften Evangeliums«, auf die Geistliche vor Ort öfter zurückkommen, wenn sie über den Zweck von Pilgerreisen ins Heilige Land sprechen, wird eine klare und normative Zielsetzung einer solchen Annäherung an die heiligen Stätten deutlich, die zugleich eine Annäherung an die Person und die Lehren Jesu ermöglichen soll. Das Heilige Land erscheint hier als eine Landschaft, die grundlegende Einsichten bereithält, und zugleich als Ergänzung zu den Evangelienberichten, die sich erst durch die Erfahrung der fraglichen Schauplätze vollständig erschließen: Man hat dann, so der Geistliche, »ein Bild vor Augen« und kann sich die fraglichen Ereignisse »viel besser vorstellen«. Diesen Aspekt der Veranschaulichung betonen auch andere Pilgerführer: Lots of things in the Bible, [...] all of that is abstract, until you come here. And [...] the pilgrimage experience really helps contextualize [...]. [...] what happens is, when they go home, then, they’ve had a rich experience, and then they integrate that into, all of those things that they saw they integrate now into the way they read the Bible. Like they’re driving in the bus, and they see shepherd boys, with ah, you know, sheep (-) those are all biblical images to stay with them. [...]. And then, when they go home, they, […] there’s a shift in the way they see things.
Und ein anderer Geistlicher: Zum Beispiel viele sagen, okay, wenn ich am See Genezareth stehe, weiß ich, hier WAR Jesus. Ob er jetzt zehn Meter hier stand, zehn Meter da stand, ob er jemals hier stand, wo ich stand, ob eventuell der Uferverlauf sich geändert hat, aber grundsätzlich das Gewässer, See Genezareth gabs schon vor zweitausend Jahren, hat sich auch nicht TOtal verändert seit zweitausend Jahren, und einfach zu wissen, ah hier is=n Ort, so=ne biblische LANDschaft, einfach das Gefühl zu haben, ah-h [...], man kann schon so wahrnehmen, das hat Jesus auch gesehen, da, das westliche Steilufer, das östliche Flachufer und [...] so weiter und so fort. Und ich glaube, ähm, das sind so Punkte wo Leute einfach sagen, ah, irgendwo, jetz bekommt das irgendwie so FARbe [...], jezt irgendwie hab ich jetz=n konkretes, jetz, hab ich des Bild, See Genezareth [...], jetz sozusagen, ähm, haben sie ein bisschen mehr, ähm, Gefühl, ham- können damit Sachen auch verBINDEN [...]. [...] dass viele Leute sagen, wow, also einfach dieses, wenn sie jetzt die Bibel, das Evangelium hörn beim Gottesdienst, kriegt auf einmal ganz andere Bilder, [...] das bekommt Leben, da verbindet man was damit.
Diese Aussagen geben einen Hinweis auf die in solche Praktiken der Annäherung eingelassenen Zielsetzungen. Die Anleitung zur Einnahme eines kontextualisierenden Blicks bzw. dazu, wie Umgebungen, Situationen und Ereignisse betrachtet,
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wahrgenommen und verstanden werden sollen, ist in diesem Verständnis Teil eines Verfahrens zur Produktion von Bildern: Eine Schafherde mit ihrem Hirten, aus einem vorbeifahrenden Bus beobachtet, kann dann als ein ›biblisches Bild‹ betrachtet und die Landschaft um den See Genezareth gewissermaßen ›mit den Augen Jesu‹ gesehen werden. Auf diese Weise werden eigene Vorstellungen um konkrete Eindrücke bereichert, sie bekommen »Leben« oder »Farbe«. Die so generierten Bilder sollen aber wiederum nicht für sich stehen, sondern eine Rolle in der künftigen religiösen Praxis einnehmen: Sie sollen bei ihrem Betrachter bleiben und in die spätere Lektüre der Schrift oder ihren Vortrag im Gottesdienst ›integriert‹ und damit ›verbunden‹ werden. Der Besuch der heiligen Stätten lässt sich damit als ein Verfahren zur Generierung und Akkumulation von Eindrücken und ›inneren Bildern‹ begreifen (vgl. mit Bezug auf Fotografien Urry 1990), die in die künftige religiöse Praxis eingespeist und dort wirksam werden können und sollen. Schauen wir uns eine solche Vorgehensweise am Beispiel eines Pilgers noch einmal aus der Nähe an.
William: Ein Fallbeispiel William, ein aus den Vereinigten Staaten angereister Pilger im Alter von Anfang dreißig, betreibt die Annäherung an die heiligen Stätten mit besonderer Ernsthaftigkeit. Zum Zeitpunkt unseres Interviews hatte er bereits eine Rundreise durch Israel unternommen und hielt sich nun schon seit einigen Tagen in Jerusalem auf, um sich dort weiter ›auf die Spuren Jesu‹ zu begeben und seine Pilgerreise damit abzuschließen. Er stand in Kontakt mit einigen vor Ort tätigen Franziskanermönchen, mit denen er sich über seine Erfahrungen austauschte und die ihn teils auch zu den heiligen Stätten begleiteten. Er berichtet, Orte wie die Grabeskirche oder den Garten Gethsemane mehrfach, teils auch an den entsprechenden Feiertagen, besucht zu haben. Dabei verfolgt er bestimmte Strategien, um seinen Aufenthalt an diesen Orten so eindrücklich wie möglich zu gestalten. Der Kenntnis der Schrift räumt er dabei zentralen Stellenwert ein. I study Scripture, I=I read the, the New Testament, ah, straight through about three times, the Gospels through, about for or five times now, and I really try to, [...] repetitive, repetitive, just ah, you know, to really have it stick in [...]. [...] because I᾿ve read the New Testament [...] about a year ago, and I just remember being engulfed in, in the Scripture, so (-) I mean it’s not as fresh in my mind, as I=I wish it was, now, but, ahm, just, being in the places that all of this happened is really, (I wanna) really STICK with me. [...]. […] and if there’s a Franciscan by me, I’ll ask him all, you know, about this
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site. And then they’ll tell me about the site. A-ahm, and then I really just try to (-) learn more about it [...].
Die möglichst genaue Kenntnis der Evangelien erscheint hier als Voraussetzung einer erfolgreichen Annäherung an die jeweiligen Stätten. Die tendenziell verblassten Erinnerungen aus einer länger zurückliegenden, wenn auch intensiven Leseerfahrung genügen dem Anspruch des Pilgers seinem Bericht zufolge nicht: Stattdessen betreibt er zielgerichtete Memorierungsarbeit, indem er die Texte immer wieder liest und sie sich einzuprägen versucht. Worum es ihm dabei geht, ist, sie in dem Moment ›bei sich‹ zu haben und abrufen zu können, in dem er sich an diesen Orten befindet. Wo es ihm möglich ist, erfragt er darüber hinaus weiteres Expertenwissen, um die Ereignisse noch besser kontextualisieren zu können. Dabei führt er die Lektüre nicht nur zur Vorbereitung, sondern auch während seines Besuchs durch: [...] what I do, when I go to these holy sites [...], I read Scripture. The part where it is in the Bible, and really try to put in my mind and my heart. And I (kinda) go back to when Jesus was there, you know. [...] I [...] try to really engulf in [...]. What’s big for me is, [...], is just (-) imagining (it), and bringing it alive in the heart. [...] just, to realize what’s happening, what’s HAPpening here, you know, what’s going on? And same thing for the, the tomb of Christ. What HAPpened here? That’s the important thing for me. Whaand trying to (-) picture it, and say, wow, THIS is where Christ rose from the dead! [...] I think my main goal is just having it come alive. [...] the feeling of Scrip- Scripture coming alive.
Auch hier geht es also um eine »an Ort und Stelle« erfolgende Lesung der jeweils korrespondierenden Passagen des Neuen Testaments und damit die textbasierte Kontextualisierung eines jeweiligen Arrangements. Anstatt sich aber darauf zu beschränken, einem Vortrag der Texte beizuwohnen, der es den Teilnehmern selbst überlässt, inwieweit es ihnen gelingt, sich den Gang der Ereignisse ›auszumalen‹, setzt William die Lektüre gezielt dafür ein, eine gedankliche Zeitreise zu unternehmen, sich zu ›versenken‹, sich in die Ereignisse hinein zu versetzen und sie für sich ›lebendig‹ werden zu lassen. Die Frage ›Was ist hier passiert?‹ kennzeichnet dabei die Einnahme des schon beschriebenen kontexualisierenden Blickes, der eine jeweilige Umgebung in einen Schauplatz von Glaubensgeschichte transformiert: »[W]ow, THIS is where Christ rose from the dead!« Es wird hier deutlich, warum dem Pilger die genaue Kenntnis der Schrift so wichtig ist: Je besser er sie für sich verfügbar oder abrufbar hat, desto erfolgreicher das ›Eintauchen‹ in die Geschichte und desto lebendiger das gedankliche Enactment der fraglichen
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Ereignisse. Neben der Lektüre der Schrift dient ihm dabei auch das Rosenkranzgebet als Immersionshilfe. TC: [...] how did you approach the sites at the Church of the Holy Sepulchre? [...] S:
Ahm-m (-) mostly, praying the Rosary. Ah, reading the Bible. Always reading
the Bible ( ), [...] pray the Rosary and, and read the Bible. I think this is my biggest approach on these holy sites, as reading Scripture, praying the Rosary, and then, just ahm-m yeah that’s really my approach. [...] what Christ went through [...] that’s the same as Scripture. [...] sometimes it’s just like, wow (-) I’ll be THAT deep into it. That it’s almost like I’m THERE. [...] So I think that the Rosary [...] just engulfs me, and brings me to that different mind set, peace, [...].
Der Einsatz des Rosenkranzgebets erscheint hier als eine komplementäre Strategie zur Lesung. William nutzt die im Rosenkranzgebet angelegten Möglichkeiten zur Herbeiführung einer der ›Versenkung‹ förderlichen ›Geisteshaltung‹, aber auch zur Evokation von Vorstellungen (vgl. Kap. 3) und etwa zur Vergegenwärtigung der Leiden Christi. Interessant ist, dass Rosenkranzgebet und Schriftlesung miteinander gleichgestellt werden: Das macht einerseits die Lesung vor Ort als eine Strategie zur Evokation von Bildern verständlich, die dann mit dem Arrangement in Verbindung gebracht werden können, andererseits verweist es darauf, dass auch für den Rosenkranz ein ›Mehrwert‹ darin besteht, ihn an den jeweiligen Schauplätzen zu beten. Zugleich wird deutlich, dass die Strategie der Bebilderung nicht nur die Lektüre der Schrift, sondern auch das Rosenkranzgebet betrifft, das später unter Anreicherung mit diesen Bildern vollzogen werden kann. Ein anschauliches Beispiel für seinen »approach« gibt William mit dem Bericht eines nächtlichen Besuchs im Garten Gethsemane. W:
[...] and one special night was, ahm, ahm, at Gethsemane, Thursday night, when
Jesus went there after the Last Supper. [...] I walked alone [...], praying the Rosary, and just picture in my mind, (what it, what it’s) been like, you know, like Jesus could have been captured and walked THIS way, [...] and everything was (-) very special. [...] it there was a picture-perfect night [...], so it was almost like, wow, this is w- what the night (--) probably was like, it was like, a full MO=ON, so and looking at the full moon in Gethsemane, (and I was like) trying to block out the horns and stuff in the background but, after that walking, seeing the full moon and everything just (-) CAPturing that, like, wow, this is probably what the night was like there, (you know and) I always want to remember that. [...] Thursday night, Holy Week, had the biggest effect on me so far, you know? TC: Are there things that make it difficult? Ahm, to get into this mood?
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W:
Yeah, oh yeah. Oh, definitely. [...]. I, I’ve never heard so many horns in my life!
Beeping. Beeping, beeping, beeping, beeping, that’s=all. You know, when I’m . [...] yeah, that has a little bit of effect on it, but I think, you have to learn to block it out, you know, and just CAPture it [...].
William betet den Rosenkranz, ruft sich die fraglichen Ereignisse in Erinnerung und erforscht seine Umgebung aus dieser Perspektive heraus. Er sucht den Garten dabei nicht zufällig in der Nacht des Gründonnerstags auf, also in der Nacht, in der sich die Ereignisse rund zweitausend Jahre zuvor zugetragen haben sollen: Seine Strategie ist die Herstellung einer größtmöglichen, nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen Korrespondenz, alles soll möglichst so sein, wie es in der fraglichen Nacht gewesen sein könnte. Es geht in diesem Zugang also darum, den ›Wert‹ der Umgebung für ein imaginatives Enactment soweit wie möglich zu steigern. Jedes Detail dieses Arrangements – Bäume, Wege, die klare Nacht und der Vollmond, Lichtverhältnisse, klimatische Bedingungen etc. – liefert so potentiell Anschauungsmaterial, das dazu herangezogen werden kann, das Narrativ mit konkreten Eindrücken anzureichern und ihm »Farbe« zu geben. Zu Williams Vorgehen gehört dabei auch, unerwünschte oder störende Elemente des Arrangements, wie die von den Straßen herüber dringenden Verkehrsgeräusche, ›auszublenden‹ – eine Fähigkeit, die er offenbar im Zuge seines Vorgehens erworben hat. Bei der Schaffung förderlicher und der Ausblendung hinderlicher Bedingungen verfolgt er schließlich noch eine weitere Strategie: Yeah, I put my head on the on the tomb, and then was quickly kicked up , because I, its fast, a- you know, you can’t be in there for too long, but it was a beautiful feeling, and I, I got a beautiful feeling, too, in the back, where they say, Joseph of Arimathea’s tomb is, (...) ahm, so, I go back there and, and, ahm-m, Easter night, I spend time there, and just, went in the grave to (-) the tomb, kind of (dwelt) there and, and, that more (was) real to me (-) can get more of an idea what Christ was rose from the dead […] that tomb, that doesn’t remind me of (-) the TOMB, I […] like the older, […] pretended almost like THAT was Christ’s grave, raising from the dead and walking out.
William berichtet hier zunächst von einem Besuch des Heiligen Grabes. Gedrängt von den aufsichtführenden Mönchen, die den dortigen Aufenthalt einem strengen Zeitreglement unterwerfen, weicht er aus in die sich unweit der Ädikula im westlichen Teil der Kirche befindliche Grabanlage des als Bestatter des Leichnams
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Jesu bekannten Josef von Arimathäa. Im Gegensatz zum mit Marmor, Gold und Ikonen ausgestatteten Heiligen Grab, das mit einem antiken Felsengrab wenig gemein hat, betrachtet er die kühle und dunkle Gruft als besser geeignet, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie das Grab Jesu ausgesehen und gewirkt haben könnte. Das Kriterium für die ›Eignung‹ eines Ortes für die Generierung von Erfahrung und die Konstruktion religiösen Gedächtnisses ist hier also weniger Übereinkunft als vielmehr der erfahrungsmäßige Gehalt, den ein Ort für seinen Besucher potentiell bereithält. William reiht sich hier gerade nicht ein in einen »Beterstrom«, sondern schert aus, sucht sich seine eigenen Wege, und begibt sich an einen Ort, der ihm für seine Strategie des Nacherlebens geeignetere Bedingungen bietet als die qua Konvention hierfür vorgesehene Stätte.
Abb. 19: Heiliges Grab und Grab des Josef von Arimathäa. Grabesädikula von außen und innen (Bilder 1 und 2), Blick in die Grabanlage des Josef von Arimathäa (Bild 3)
Eine solche Spannung zwischen Authentizität und erfahrungsmäßiger Eignung eines Ortes thematisiert auch ein Pilgerführer: The Christian believer made a pilgrimage for a purpose: to remake, replay the life of Jesus, life of Mary, life of the Disciples, the Apostles, with this intention. [...] The Pilgrim, the pilgrim want to replay, redo the experience, and there is no difference if you say, it’s authentic or it’s not authentic, because they=they forget for a moment. It’s not important […]. [...] the Jbel Moussa is not the true Sinai. (…) It’s impossible to recover the mount Sinai from the biblical records. […] and everyone knows, this is not the true, the real mountain of God. […] the climbing of the=the Jbel Moussa is unique. For that reason, it became true, ah-h not for the history, not for the archaeology, not for that, it became true because it’s a very, very, very hard experience […].
Die Aussage wirft ein Licht auf die hier immer wieder auftauchende Frage nach der Rolle der historischen Authentizität der Heiligen Stätten. Dort, wo ein Ort einen erfahrungsmäßigen Gehalt birgt, der ein ›Nacherleben‹ der Ereignisse ermöglicht, wie hier am Beispiel des von vielen Pilgern besuchten Berges Sinai, eines ca. zweitausend Meter hohen Berges im Süden der gleichnamigen Halbinsel, kann
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die Frage der historischen Authentizität in den Hintergrund rücken: Im Vordergrund steht die Erfahrung der Anstrengung beim Erklimmen des Berges. Wichtig ist hier also weniger historische Entsprechung einer Stätte, als vielmehr ihr Potential zur Hervorbringung von Erfahrungen, die die Heilige Schrift erlebbar machen. Auch Williams Strategie der Annäherung an diese Stätten ist auf die Hervorbringung intensiver Erfahrungen hin angelegt: I walked up the Calvary, that was nice. [...] I gotta (-) be where the cross was and, I put my Rosary beads in there and=and have my Bible there, I just put my head down, I just, I=I got an emotional feeling, I cried, it was nice [...] and (in) some places I’m gettin’ that awesome, beautiful feeling, in some places it’s hard to get, you know, kind of bringing it alive, but, its, yeah, that’s what I want from this all, this whole experience. [...] I don’t take any pictures. [...] I don’t need those pictures, [...] I want it to bring alive in my heart, that will always stick with me. [...] because when it’s in your heart, ahm-m (--) they can’t take that away. [...] Ahm-m, my goal I’d say, one Franciscan said something to me, he said, really (-) in these spots, (kind whatever) been doing (-) just read the Scripture and keep it in your mind! Keep it in your MIND, so when you bring it back home, when you do read the Scriptures, they can come alive. And when you do watch a movie, [...] you can realize, that you WERE there, you know, you could (-) you LIVED it, you know, where it was [...]. I wa- I wanna always keep that in my mind and my heart, you know, yeah, so. Just a lot of these holy sites, that’s what I’m doing, you know, it’s really, capturing the Scripture where it is [...].
Starke Emotionen, so wird hier deutlich, sind nicht nur eine mögliche Nebenfolge dieser Vollzüge, sondern erscheinen als Maßstab für ihren Erfolg. William scheint geradezu auf der Suche danach, ›ergriffen‹ zu werden (»awesome«, »beautiful«, »I cried, it was nice«), womit diese Andachtsformen auch als Arbeit an der gezielten Hervorbringung von Gefühlen und als Techniken ›emotionaler Mobilisierung‹ (Scheer 2012: 209) aufgefasst werden können. Wie schon in den Darstellungen der Pilgerführer geschieht die Suche nach starken Eindrücken aber auch hier nicht um ihrer selbst, sondern um der Bereicherung künftiger religiöser Praxis willen und ist damit eingebunden in eine übergreifende Teleologie bzw. Teil eines über den Moment hinausweisenden Projekts. William geht es nicht um die Herstellung von Fotografien, sondern um eine Anreicherung seiner Vorstellungen durch konkrete Anschauung und um die Produktion innerer Bilder, die ihn zeitlebens begleiten und in der künftigen religiösen Praxis ›lebendig‹ werden können. In dieser exemplarischen Rekonstruktion der Andachtspraktiken eines Teilnehmers wird das zuvor erörterte Verfahren des Besuchs der heiligen Stätten noch
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einmal genauer verständlich. William mag mit der Ernsthaftigkeit und fast kindlichen Begeisterung, mit der er die Annäherung an diese Stätten betreibt, ein besonderer Fall sein, aber gerade darin offenbaren sich die Mechanismen und Logiken solcher Vorgehensweisen. Sich ›auf die Spuren Jesu‹ zu begeben heißt für William, sich über die Lektüre der Schrift gezielt auf den Besuch der jeweiligen Orte vorzubereiten und seinen Blick so einzustellen oder auszurichten, dass er eine jeweilige Umgebung in ein biblisches Arrangement transformiert; es heißt, bestimmte Elemente eines solchen Arrangements zu einer Ressource für die Belebung biblischer Berichte zu machen und andere auszublenden; es heißt, die eigene Vorstellungskraft in Anschlag zu bringen und sich so gut wie möglich in die fraglichen Ereignisse hinein zu versetzen und sie nachzuerleben; und es heißt, dieses Verfahren mit dem Ziel zu verfolgen, bleibende Eindrücke und starke emotionale Erfahrungen hervorzubringen und zu sammeln, die den eigenen Glauben vertiefen und das künftige religiöse Leben bereichern sollen. Bemerkenswert ist dabei Williams Erwähnung, Anleitung durch einen franziskanischen Pilgerführer erhalten zu haben, der den Aspekt der Schriftlesung, der Bewahrung und der späteren Belebung betonte und ihm damit Vorgehensweisen und Zielsetzungen vermittelte, die er offenbar aufgegriffen hat. Religiöse Experten sorgen auf diese Weise nicht nur dafür, über die Führung von Pilgergruppen bestimmte Umgebungen in biblische Arrangements zu transformieren und sie in einer bestimmten Weise erfahrbar zu machen, sondern sie agieren auch als Instruktoren, die den Pilgern Strategien vermitteln, mit denen sie sich den Stätten in Eigenregie nähern können, die ihnen sagen, ›wie es geht‹ und die auf diese Weise Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der dort vollzogenen Andachtspraktiken nehmen. Verständlich wird, wie die fraglichen Orte immer neue Teilnehmer um sich versammeln, wie auf diese Weise diskontinuierliche Besucherströme durch diese Arrangements ›hindurchfließen‹ und wie sie in Praktiken religiöser Intelligibilisierung verwickelt werden, die durchgeführt, angeleitet und vermittelt werden durch ein Geflecht an Institutionen und religiösen Experten, die auf diese Weise ihrerseits an der andauernden Konstruktion, Bekräftigung und Stabilisierung der Sonderstellung dieser Orte mitwirken und sich so als Ko-Konstrukteure religiösen Gedächtnisses und religiöser Erfahrung betätigen.
Zusammenfassung Die Grabeskirche, so wurde in diesem Kapitel herausgearbeitet, erscheint in mindestens zwei Hinsichten als instruktiver Sonderfall. Am Beispiel des Salbungssteins wurde erörtert, wie sich hier eine praktische Maschinerie etabliert hat, die im Grundsatz ganz ähnlich funktioniert wie an der Erscheinungsgrotte in Lourdes:
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Das Artefakt versammelt und involviert immer neue Teilnehmer, vermittelt ihnen das Verständnis der Praktik im Zuge ihrer Partizipation und hält sich aufrecht in einem endlosen Kreislauf immer neuer Vollzüge. Resultierend aus der heterokonfessionellen Besucherschaft der Kirche produziert diese Praktik allerdings zugleich Exklusionseffekte: Konfrontiert mit für sie fremden, außerhalb der eigenen religiösen Tradition stehenden Vollzügen, lassen sich manche potentielle Teilnehmer nicht in die praktische Maschinerie involvieren, was zugleich darauf verweist, wie Praktiken kulturelle Grenzziehungen definieren und sichtbar machen. Andere Besucher hingegen begreifen die Begegnung mit dieser devotionalen Praktik als Gelegenheit für eine experimentelle Partizipation und Exploration ihrer sinnlichen und affektiven Strukturen und damit einer temporären Transzendierung der praktischen, sensorischen und emotionalen Regime der eigenen religiösen Tradition. Weiter wurde deutlich, wie das Vermögen dieses Artefakts, Besucher der Kirche mit Glaubensgeschichte zu verbinden, auch aus den an ihm vollzogenen kommemorativen Aktivitäten und den durch sie transportierten Verständnissen resultiert, so dass Fragen historischer Authentizität in den Hintergrund treten können. Das von Pilgern und religiösen Experten immer wieder beschriebene Scheitern von Andachtspraktiken in der Grabeskirche wurde verständlich als mittelbare Folge einer besonderen, historisch bedingten Konstellation, die durch eine auf mehrere christliche Gemeinschaften verteilte Zuständigkeit und Entscheidungsgewalt für die Kirche gekennzeichnet ist. Die aus Unterbestimmtheiten im Status Quo herrührende Notwendigkeit der Kompromissfindung zwischen den Gemeinschaften und die sich dabei ergebenden Schwierigkeiten führen zu einer ambivalenten Situation bezüglich der Steuerung des sich an den heiligen Stätten entfaltenden Geschehens: Auf der einen Seite birgt die Abwesenheit von Regeln im Hinblick auf Besucherzahlen, Kleidung oder Verhaltensweisen zumindest für einen Teil der Besucher und Ordensleute gewisse Desakralisierungspotentiale, auf der anderen Seite wird die zur Verfügung stehende Zeit an den heiligen Stätten streng limitiert, so dass erfahrungsmäßige Gehalte, die mit ihrem Besuch möglicherweise gesucht werden, unter Umständen nicht erschlossen werden können. Sowohl die schwache Reglementierung der Umfeldbedingungen als auch die starke Reglementierung der Temporalität der Andachtspraktiken können sich so auf deren erfolgreichen Vollzug auswirken, womit sich letztlich eine Spannung zwischen Regeln und Teleo-Affektivität offenbart. Eine auf diese Bedingungen und Schwierigkeiten reagierende Strategie besteht in einer zeitlichen Ausdehnung der Andachtspraktiken: Über eine gezielte Hinführung werden Pilger dazu angeleitet, die kurze Verweildauer für eine zielgerichtete Aufnahme von Eindrücken zu nutzen, die dann erst im Nachgang erörtert, bearbeitet und so möglicherweise ausgeschöpft werden können.
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Glaubensgeschichtliche Kontextualisierung und Schriftlesung an den jeweiligen Schauplätzen schließlich wurden verständlich als ein verbreitetes, von geistlichen Pilgerführern regelmäßig durchgeführtes Verfahren, das Gegenstand ihrer eigenen Ausbildung ist und das sie teils auch an die Pilger weiter vermitteln, und das darauf abzielt, jeweilige Umgebungen in biblische Arrangements zu transformieren und sie so zu Ressourcen für eine ›Anreicherung‹ der heiligen Texte um konkrete Anschauung zu machen. Während man sich einerseits das Vermögen eines jeweiligen Ortes zur Hervorbringung bestimmter Eindrücke zunutze macht, bringt umgekehrt die vor Ort erfolgende Aktualisierung der Überlieferung die gesuchten Erfahrungen mit hervor. Es geht hier, so wurde weiter deutlich, um eine Hervorbringung und Akkumulation von Eindrücken und inneren Bildern, die das Glaubensverständnis vertiefen, dauerhaft bei den Teilnehmern bleiben und in die spätere Praxis integriert werden und sie bereichern sollen. Die abschließende exemplarische Rekonstruktion arbeitete weitere Aspekte eines solchen Verfahrens heraus und offenbarte zugleich den methodischen Charakter, den ein solches Verfahren annehmen kann. Williams Vorgehensweise wurde verständlich als auf die Hervorbringung starker Emotionen ausgerichtete Methode eines imaginativen Nacherlebens, das auf gezielter Vorbereitung und Rahmungsarbeit aufbaut, das zwischen förderlichen und hinderlichen Elementen eines Arrangements unterscheidet, Fragen nach der Authentizität eines Ortes zugunsten seines erfahrungsmäßigen Potentials zurückstellt und das über den Moment hinaus auf eine dauerhafte persönliche Aneignung und Verfügbarmachung der auf diese Weise generierten Eindrücke und Erinnerungen abzielt. Während so die fraglichen Arrangements im Mittelpunkt andauernder Intelligibilisierungsarbeit stehen, stellen sie umgekehrt ›Anschauungsmaterial‹ bereit, das Eingang in den Vollzug künftiger religiöser Praktiken finden kann.
Schlussbetrachtung
Die Studie hat die praxistheoretische Frage nach der materiellen Dimension sozialer Praktiken aufgegriffen und hat sich hierfür einer exemplarischen Untersuchung religiöser Praktiken zugewandt. Sie konzentrierte sich darauf, welche Rolle den Dingen im Rahmen solcher Praktiken zukommt, wie sie sie ermöglichen, mit hervorbringen und strukturieren, sie tragen und stabilisieren, wie Praktiken umgekehrt aber auch auf die Dinge einwirken und sie etwa in Prozesse der Bedeutungskonstitution verwickeln. Ausgehend von dem Gedanken, dass ein möglichst scharf konturierter Begriff sozialer Praktiken eine genauere Fassung und Untersuchung auch ihrer materiellen Dimension ermöglicht, wurde an Theodore Schatzkis Konzeption angeschlossen, mit der soziale Praktiken als Komplexe körperlicher und mentaler, durch bestimmte organisatorische Logiken und Prinzipien zusammenhängender Aktivitäten gefasst wurden. Die Organisation sozialer Praktiken wurde so zum Ausgangspunkt einer Beforschung ihrer materiellen Dimension. Die beiden von hier aus vorgenommenen Schwerpunktsetzungen zielten darauf ab, Antworten auf Herausforderungen zu finden, die sich im Verlauf des Forschungsprozesses ergaben. Die Aufnahme der von Schatzki vorgeschlagenen konzeptuellen Gleichstellung mentaler und körperlicher Aktivitäten reagierte auf den Befund, dass Teilnehmer von Gebets- oder Andachtspraktiken Vollzüge aufnehmen, die sich in weiten Teilen ›in ihren Köpfen‹ abspielen, und dass diese Vollzüge nicht irgendwie nebenbei stattfinden und zugunsten einer Konzentration auf die körperliche Seite vernachlässigt werden können, sondern konstitutive Bestandteile dieser Praktiken sind, die nach dezidierter Berücksichtigung verlangen. Mentale Vollzüge etwa der Imagination, Kontemplation oder Meditation als Elemente von Praktiken aufzufassen, ermöglichte es, nach ihrer Stellung im organisatorischen Gefüge ebenso zu fragen wie nach dem Zusammenspiel zwischen mentalen und körperlichen sowie nach der Verschränkung mentaler und interobjektiver Aktivitäten.
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Die Aufnahme des Konzepts der life conditions reagierte auf die Einsicht, dass nicht nur mentale Aktivitäten, sondern auch Gefühle, Sinnesempfindungen oder Bewusstseinszustände einen zentralen Stellenwert in diesen Praktiken einnehmen: als Bedingung für den erfolgreichen Eintritt in eine Praktik, als etwas, das im Vollzug entsteht und für die Teilnehmer von Bedeutung ist, als etwas, auf das gezielt hingearbeitet wird, oder als etwas, das der Involvierung in eine Praktik auch hinderlich sein kann. Der Begriff der Lebenszustände machte fassbar, was sich für die Teilnehmer im Zuge ihrer Partizipation an Praktiken ereignet: was sie denken, glauben, empfinden, wollen, sich erhoffen oder versprechen, was sie intendieren, und wie sie das, was sie tun, begreifen oder deuten. Mit Schatzkis Auffassung von teleo-affektiven Strukturen als Ordnungen von Lebenszuständen wurden sie zugleich als überindividuelle Komponenten sozialer Praktiken beschreibbar, so dass in den Blick kommen konnte, wie Praktiken die Gefühle ihrer Teilnehmer organisieren, wie sie ihnen die Erreichung bestimmter emotionaler Zustände ermöglichen oder ihnen die Herstellung bestimmter Bewusstseinszustände abverlangen. Die materielle Dimension sozialer Praktiken ließ sich so systematisch auf die emotionale, sensorische und stimmungsmäßige Dimension sozialer Praktiken beziehen: Deutlich wurde dann, wie über den Gebrauch von Dingen die Gefühle der Teilnehmer reorganisiert werden, wie sie in Techniken der Modifikation kognitiver Zustände involviert und wie mit ihrer Hilfe bestimmte Erfahrungen hervorgebracht werden. Ausgehend von der Beobachtung, dass Teilnehmer die in eine Praktik eingelagerten Handlungsprogramme nicht – oder zumindest nicht zwangsläufig – blind vollziehen, sondern ihre eigenen Wege entwickeln, ihre eigenen Schwerpunkte setzen, ihre eigenen Relevanzen haben, und dass man also mit praktischer Vielfalt rechnen muss, wurde ein Zugriff entwickelt, der eine starke Entitäten-Perspektive mit einer gezielten Teilnehmerorientierung zu vermitteln und so gleichermaßen eine deterministische wie posthumanistische Sicht zu vermeiden sucht. Ein Interesse dafür, wie Praktiken miteinander konkurrieren, wie sie ihre Teilnehmer rekrutieren und wie sie sich aufrecht erhalten, ließ sich so mit einer Aufmerksamkeit für die Herausforderungen und Möglichkeiten verbinden, denen sich Teilnehmer gegenüber sehen, sowie für Reibungen, Schwierigkeiten und Krisen. Der Brückenschlag erfolgte mit Schatzkis Beschreibung von life conditions als mentalen Phänomenen: Betont wurde damit, dass sich gegebene Lebenszustände nicht einfach einer bestimmten Praktik zurechnen lassen, sondern Teil komplexerer Verwicklungen mit der Welt sind. Teilnehmer als Träger von Lebenszuständen zu konzipieren, erlaubte dann, dieser Komplexität Rechnung zu tragen, ohne individualistisch und teilnehmerzentriert zu denken.
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Unter Anschluss an Schatzkis Arrangement-Begriff wurde der Blick daraufhin auf die andere Seite des Verhältnisses zwischen Praktiken und Materialität gelenkt und genauer spezifiziert, wie die materielle Dimension sozialer Praktiken genauer untersucht werden kann. Die Basis dafür bildete ein weiter, über Artefakte hinaus gehender und auch natürliche Dinge und Landschaften, Substanzen und ephemere Phänomene umfassender Materialitätsbegriff, mit dem nicht nur Gebetsketten, Figuren und andere Artefakte, sondern auch Substanzen wie Wasser oder Phänomene wie Licht, Geräusche oder klimatische Bedingungen daraufhin befragt werden konnten, wie sie soziale Praktiken mit strukturieren bzw. in ihre Organisation eingebunden sind. Mithilfe der Unterscheidung zwischen einer materiellen Einbettung des Handelns einerseits und der direkten Involvierung materieller Entitäten und Phänomene andererseits wurde eine relationale Perspektive eingenommen, die untersucht, wie materielle Elemente einer jeweiligen Handlungsumwelt praktisch relevant gemacht werden und wie über den Vollzug von Praktiken Umwelten in praktische – und teils: praktikenspezifische – Arrangements transformiert werden. Für eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Praktiken und materiellen Entitäten und Phänomenen wurden Konzepte aus Schatzkis Arrangement-Theorie, aber auch ›klassische‹ Konzepte wie Affordanzen und Körpertechniken in Anschlag gebracht. Von hier aus wandte sich die Studie religiösen Praktiken und damit ihrem eigentlichen Untersuchungsgegenstand zu. Ausgehend von einer Auffassung von Religion als eines Feldes heterogener Praktiken, deren Gemeinsamkeit in ihrer teleologischen Bezogenheit auf transzendente Bereiche oder Entitäten besteht, stellte sie unter Anschluss an jüngere Ansätze in der Religionsforschung einige weitere beobachtungsleitende Gesichtspunkte und Charakteristika religiöser Praktiken heraus. Mit der Lived Religion-Forschung wurden zunächst die Berichte und Deutungen von Teilnehmern als ein wichtiger Ansatzpunkt für eine Annäherung an religiöse Praktiken hervorgehoben. Mit emotionstheoretischen Ansätzen wurde die Rolle religiöser Praktiken bei der Reorganisation der Emotionen ihrer Teilnehmer, bei der Vermittlung der emotionalen Programme und Regime einer religiösen Tradition sowie beim Aufbau, der Stabilisierung und Aufrechterhaltung von Beziehungen zu transzendenten Bezugspartnern erörtert. Unter Anschluss an die Material Religion-Forschung wurden schließlich die engen Verflechtungen zwischen religiösen Praktiken und materiellen Entitäten thematisiert, die in ganz unterschiedlicher Form daran beteiligt sind, religiöse Vorstellungswelten greifbar und erfahrbar zu machen und Teilnehmer mit ihnen zu verbinden. Für die methodische Umsetzung dieses Zugriffs, der die Organisation sozialer Praktiken zum Ausgangspunkt einer Untersuchung ihrer materiellen Dimension macht, sich dabei für mentale Aktivitäten und Lebenszustände interessiert, eine
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starke Entitäten-Perspektive mit einer Teilnehmerorientierung vermittelt und eine grundlegende Materialität allen Handelns voraussetzt, wurde ein ethnografischer Zugriff gewählt, der die Rekonstruktion der Organisation einer jeweiligen Praktik über die Beforschung je konkreter Performanzen vornimmt. Dies erfolgte zum einen über die teilnehmende Beobachtung interobjektiver Vollzüge, die nicht zuletzt auch die Lebenszustände des Ethnografen als Quelle potentieller Hinweise auf die Organisation einer Praktik nutzbar zu machen sucht, sowie über die Durchführung einer Videografie, die sich auf die performativen Details dieser Vollzüge konzentriert, zum anderen über eine Interviewforschung, die Teilnehmer als Experten für Praktiken betrachtet und die unter Anschluss an Schatzkis Konzeption davon ausgeht, dass soziale Praktiken über implizites Wissen hinaus durch Komponenten organisiert sind, über die man sprechen kann. Mit einer solchen Sicht näherte sich die Studie dann einer Reihe katholischer Glaubensvollzüge, die sich in besonderer Weise durch die Involvierung materieller Entitäten und Phänomene auszeichnen. Ich fasse im Folgenden die Einsichten aus der empirischen Analyse zusammen.
Rekapitulation der empirischen Befunde Mit der exemplarischen Rekonstruktion eines Gebets in einer Kirche wurde in einem ersten Zugriff aufgezeigt, was es bedeutet, eine teilnehmerorientierte, an mentalen Aktivitäten und life conditions interessierte Entitäten-Perspektive an die Untersuchung der materiellen Dimension religiöser Praktiken heranzutragen. Als Teil der teleologischen Struktur dieser Praktik erschienen eine Reihe routiniert hintereinander geschalteter, interobjektiver Aktivitäten, die auf Wirkungen ›im Inneren‹ der Beterin hin orientiert sind und die den Eintritt in das Gebet vorbereiten und ermöglichen sollen. Verständlich wurde, wie die auf ein ›mentales Aufwärmen‹ abzielenden Berührungsaktivitäten sowie die gezielte Hervorbringung einer Schmerzempfindung durch das Knien in einer Kniebank auf Herausforderungen reagieren, die diese Gebetspraktik als eine sich über ein Sprechen in Gedanken und über die Beobachtung der eigenen Gefühle vollziehende Form der Interaktion an ihre Teilnehmerin stellt. Die Artefakte des Kirchenraums erwiesen sich so als Bestandteile einer Technik des condition management, die einen Übergang von unerwünschten zu erwünschten Zuständen organisieren helfen, den erfolgreichen Eintritt in das Gebet ermöglichen oder erleichtern, und die damit indirekt auch daran beteiligt sind, in das Gebet eingelagerte affektive Gratifikationen verfügbar zu machen. Die materielle Infrastruktur, so wurde hier deutlich, ist eng mit den Gelingensbedingungen dieser Praktik und mit ihrer affektiven Struktur verknüpft.
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Mit dem Rosenkranzgebet verschob sich der Fokus von der Interaktion zur Kontemplation und zugleich von einem materiellen Arrangement hin zu einem einzelnen Artefakt. Die Gebetskette erwies sich in mehrfacher Hinsicht als Träger dieser Andachtspraktik: Sie wurde verständlich als Orientierungshilfe, die die Beterin durch die komplizierte Struktur des Gebets führt, sowie als Zählhilfe und Registratur, die es ermöglicht, die absolvierten Gebete verlässlich mitzuzählen und dauerhaft festzuhalten. Indem sie es auf diese Weise erlaubt, die mentale Aktivität des Zählens in eine körperliche Operation zu transformieren, schafft sie einerseits den für die zielgerichtete Kontemplation erforderlichen kognitiven Freiraum. Über die Zuordnung von Gebetsformeln zu den einzelnen Perlen ist sie andererseits an der Evokation der mit diesen Formeln verbundenen Vorstellungen und affektiven Gehalte beteiligt. Auch hier erwies sich also die Involvierung des Artefakts als eng mit den für diese Praktik konstitutiven mentalen Aktivitäten und mit ihrer affektiven Struktur verknüpft: Die Durchführung der Rosenkranzandacht als eines Verfahrens zur planvollen Hervorbringung von Vorstellungen und zur Erschließung damit verbundener affektiver Gehalte wird so durch den Gebrauch der Gebetskette maßgeblich unterstützt und vereinfacht. Zugleich wurde der normative Charakter der Affektivität als eines wesentlichen Elements der teleologischen Struktur herausgestellt: Für den ›korrekten‹ Vollzug dieser Praktik ist die Evokation innerer Bilder und der Nachvollzug der mit ihnen verbundenen affektiven Gehalte obligatorisch. Mit der Wallfahrtsstätte Lourdes wurde die Aufmerksamkeit von privaten, solitär vollzogenen Praktiken, die die Teilnehmer in ihren Alltag integriert haben und über deren Aufnahme sie mehr oder weniger eigenständig entscheiden, hin zu einer stationär gebundenen Praktik und ihrem eigendynamischen Charakter bzw. ihrer Selbstorganisation gelenkt: Das Durchschreiten der Grotte von Massabielle wurde beschrieben als eine Maschinerie, die immer wieder neue Teilnehmer rekrutiert, sich auf diese Weise am Laufen hält und an deren Hervorbringung das materielle Arrangement in verschiedener Weise beteiligt ist: Es versammelt die Teilnehmer, präfiguriert bestimmte körperliche Vollzüge, begünstigt eine bestimmte Organisation von Besucherströmen, bringt damit eine bestimmte Temporalität hervor und ermöglicht durch seine Anlage einen Transfer der praktischen Vollzüge von einem Teilnehmer zum nächsten. Weitergehende Einsichten in die Abläufe und zur Rolle des materiellen Settings ergaben sich auch hier erst unter Berücksichtigung von Teilnehmerperspektiven: Es zeigte sich, wie Teilnehmer den Eintritt in diese Praktik vollziehen, wie sie sich Dinge vor Augen führen und sich auf die bevorstehenden Vollzüge einstellen, aber auch, wie über verschiedene Kanäle gezielt verbreitete Bedeutungszuschreibungen im individuellen Vollzug aktualisiert werden, sich in die Berührungsaktivitäten übersetzen und sich so der
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Oberfläche des Felsens einschreiben. Zugleich wurde deutlich, wie das Arrangement und die sich an ihm entfaltende Praktik unterschiedlich verstanden werden und wie religiöse Experten kontinuierliche Arbeit leisten, um die mehr oder weniger eigendynamisch prozessierende Praktik deutend einzuholen bzw. sie immer wieder mit den aus ihrer Sicht ›korrekten‹ Deutungen zu informieren. Konzentrierte sich die Studie zunächst auf Artefakte wie das Interieur eines Kirchenraums oder Gebetsketten und weitete den Blick mit den Felswänden der Massabielle-Grotte auf eine natürliche materielle Entität aus, wandte sie sich mit der abendlichen Marienprozession in Lourdes ephemeren materiellen Phänomenen und ihrem Einfluss auf die Strukturierung einer Praktik zu. Am Beispiel der illuminierten Marienfiguren zeigte sich, wie das Licht einzelne materielle Entitäten in tragende Elemente eines praktikenspezifischen Arrangements transformiert, ihnen Bedeutung zuweist und sie so erst in die Lage versetzt, bestimmte Wirkungen im Rahmen dieser Praktik zu entfalten, und wie es so als Instrument der Inklusion und Intelligibilisierung von Dingen einbezogen wird. Erörtert wurde weiter, wie das Durchschreiten des Prozessionsweges mithilfe einer gezielten Anordnung und Verteilung von Lichtquellen als eine Übergangserfahrung gestaltet und wie das Licht so für die Konstitution einer affektiven Dramaturgie eingesetzt wird. Das von den Teilnehmern mitgeführte Kerzenlicht wurde schließlich als eine sichtbare Manifestation von Glaubensbekenntnissen verständlich, die für die Inszenierung eines devotionalen Kollektivs nutzbar gemacht wird. Licht und Dunkelheit erwiesen sich hier als Elemente eines praktikenspezifischen Arrangements, die auf verschiedene Weise in das praktische Geschehen hineinwirken und es entlang seiner symbolischen, expressiven und affektiven Dimension strukturieren. Am Beispiel von Praktiken, wie sie sich in der Grabeskirche und an anderen glaubensgeschichtlich relevanten Orten in Jerusalem etabliert haben, wurden ergänzend zum Besuch der Erscheinungsgrotte in Lourdes weitere Varianten der Annäherung an heilige Stätten untersucht. Die Grabeskirche erwies sich aufgrund ihrer heterokonfessionellen Besucherschaft und Verwaltung als ein instruktiver Kontrastfall zur zuvor behandelten Marienwallfahrtsstätte. Am Beispiel des im Eingangsbereich der Kirche lokalisierten Salbungssteins wurde herausgearbeitet, wie die an diesem Artefakt kristallisierende Andachtspraktik Besucher mit ihnen unbekannten Vollzügen konfrontiert und somit potentielle Partizipationshürden in sich trägt, wie sie auf der anderen Seite aber auch Möglichkeiten bereithält, die Grenzen eigener praktischer Repertoires zu überschreiten und die sensorischen und affektiven Regime einer anderen religiösen Tradition zu erkunden. Am Beispiel gescheiterter Andachtspraktiken wurde erörtert, wie die Abwesenheit von Verhaltensmaßregeln einerseits Desakralisierungspotentiale hervorbringt, während die Vollzüge andererseits einem strikten Zeitreglement unterworfen werden.
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Das hier immer wieder beobachtbare Scheitern der Annäherung an die heiligen Stätten wurde so verständlich als Resultat von Spannungen zwischen Regeln und Teleo-Affektivität. Am Beispiel geistlicher Führungen von Pilgergruppen wurde erörtert, wie Umgebungen und Landschaften über Verfahren der Schriftlesung in biblische Arrangements transformiert werden, die den Besuchern ein Nacherleben von Glaubensereignissen ermöglichen sollen, und wie diese Verfahren von religiösen Experten durchgeführt, aber auch an Pilger weiter vermittelt werden. Am Fallbeispiel eines Pilgers wurde abschließend der methodische Charakter einer Annäherung an die heiligen Stätten herausgearbeitet.
Ausblick Die vorliegende Studie hat damit eine Reihe konzeptueller Vorschläge für die systematische Analyse sozialer Praktiken und ihrer materiellen Dimension aufgegriffen, sie in Auseinandersetzung mit ihrem Untersuchungsgegenstand weiter ausgearbeitet und modifiziert, wandte sich ausgewählten religiösen Praktiken zu und erkundete, was mit einer solchen Perspektive sichtbar wird. Es ging ihr dabei nicht um die ethnografische Erschließung eines jeweiligen Feldes mit dem Ziel etwa einer Ethnographie des Pilgerns oder einer Soziologie des Gebets, sondern darum, einzelne Praktiken, ihre Organisation und ihre materiellen Verflechtungen im Detail zu rekonstruieren. Mit der Aufschlüsselung der Organisation religiöser Praktiken, der Ausweitung des Materialitätsbegriffs, der Einnahme einer teilnehmerorientierten Entitäten-Perspektive und der gezielten Berücksichtigung mentaler Aktivitäten und Lebenszustände sollten, so das Ziel dieses Buches, die Verflechtungen zwischen sozialen bzw. religiösen Praktiken und Materialität in einer neuen Weise verständlich werden, womit sich die Studie gleichermaßen als Beitrag zur praxistheoretischen Forschung wie zur Material Religion-Forschung versteht. Über die Verflechtungen zwischen Praktiken und Materialität hinaus ergeben sich sowohl für die Religionsforschung als auch für die Praxistheorie eine Reihe weiterer Schlussfolgerungen, von denen ich abschließend nur einige wenige aufgreife. Zunächst einmal erlaubt es die mit Schatzkis Konzeption einhergehende analytische ›Öffnung‹ nicht nur, einzelne Komponenten einer Praktik in ihren Verflechtungen mit bestimmten anderen Faktoren zu betrachten – wie dies hier mit der Materialität unternommen wurde –, sondern sie ermöglicht es auch, diese Komponenten selbst in den Mittelpunkt zu rücken und sie zum Ansatzpunkt einer Untersuchung sozialer Praktiken zu machen. Während etwa die hier erörterten religiösen Praktiken in besonderer Weise durch den Vollzug mentaler Aktivitäten
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gekennzeichnet sind, ließe sich diese Komponente auch für solche Praktiken herausarbeiten, bei denen ihre Bedeutung vielleicht erst auf den zweiten Blick zutage tritt. Wie werden zum Beispiel Praktiken des Sports, der Ökonomie, der Wissenschaft oder der Kunst durch mentale Aktivitäten des Entwerfens, Antizipierens, Kalkulierens etc. konstituiert? Wie verbindet die gezielte Hervorbringung von Imaginationen, die Durchführung von Introspektion oder der Einsatz von Konzentrationstechniken eine Reihe möglicherweise ganz heterogener Praktiken? Mit Blick auf die hier betonten Lebenszustände ließe sich fragen, wie die affektiven Strukturen einer Praktik ›gebaut‹ sind, welche Ordnungen von Gefühlen oder Sinneswahrnehmungen Praktiken für ihre Teilnehmer bereithalten und was das für ihren ›Erfolg‹ bedeutet, ob und wie auf die Erreichung bestimmter Zustände hingearbeitet wird, welche Rolle bestimmten inneren Phänomenen wie Schmerzempfindungen oder inneren Bildern zukommt, und inwiefern Praktiken als Vermittler emotionaler Regime fungieren. Praktiken lassen sich so entlang einzelner Komponenten, aber auch entlang der Verhältnisse ihrer Komponenten zueinander untersuchen, etwa, wie gezeigt, im Hinblick auf die jeweilige Relation zwischen Regeln und Teleo-Affektivität. Auch aus der hier vorgenommenen Vermittlung zwischen Entitäten- und Teilnehmerorientierung ergeben sich weitere Forschungsperspektiven. Nahe liegt etwa ein Zugriff, der nicht von einzelnen Praktiken, sondern von Teilnehmern und ihren Praktiken ausgeht, der Teilnehmer als den Sammlungs- oder Kreuzungspunkt sozialer Praktiken betrachtet und die jeweiligen Konstellationen oder ›Mischungsverhältnisse‹ von Praktiken ›in‹ einer Person als eine Ressource für die Untersuchung dieser Praktiken betrachtet. Eine solche biografische Praktikenforschung versucht etwa – um beim Thema dieser Studie zu bleiben –, ein religiöses Leben über die Praktiken eines Teilnehmers aufzuschlüsseln, um so Einsichten in diese Praktiken zu gewinnen, aber auch um dieses religiöse Leben besser verstehen zu können. Welche Gründe führen etwa dazu, dass sich Teilnehmer von bestimmten religiösen Praktiken ab- und anderen zuwenden? Was bieten Praktiken an, das andere nicht bereithalten, etwa im Hinblick auf ihre affektiven oder sensorischen Ordnungen, aber auch auf übergreifende teleologische Orientierungen? Welche Arbeit muss geleistet werden und welche Schwierigkeiten sind zu überwinden, um religiöse Praktiken in einen weitgehend säkularisierten Alltag integrieren zu können? Wie werden auch ›weltliche‹ Praktiken durch religiöse Teleologien informiert? Über eine solche Variante der Lived Religion-Forschung hinaus lässt sich eine solche Forschung für integrative Praktiken aus jedem denkbaren Bereich der Gesellschaft durchführen – Ökonomie, Sport, Wissenschaft etc. –, sie kann aber auch Verhältnisse von Praktiken zwischen diesen Bereichen fokussieren und danach fragen, wie sie sich zueinander verhalten, ob sie einander ähnliche
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Logiken aufweisen, inwieweit sie sich ergänzen, ausschließen, wie genau sie das tun, und was sich daraus für diese Praktiken lernen lässt. Ein weiterer Aspekt betrifft das Spannungsverhältnis zwischen Determination und Autonomie. Begünstigt durch eine an den Beschreibungen der Teilnehmer ansetzende Forschung haben viele der hier diskutierten Beispiele Kontingenz offen gelegt und gezeigt, wie Teilnehmer ihre eigenen Wege finden, Praktiken für sich auszugestalten, wie sie Praktiken als Formen für sich nutzen, die ihnen etwas Bestimmtes ermöglichen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und Relevanzen an diese Praktiken herantragen und sie für sich unterschiedlich bedeutungsvoll machen. Die damit verbundene Frage nach den Freiheitsgraden und Gestaltungsräumen, die Praktiken ihren Teilnehmern bieten, verweist nicht nur auf Entwicklungs- und Transformationspotentiale von Praktiken, sondern sie legt umgekehrt auch die Frage nahe, wie Teilnehmer mit streng reglementierten Praktiken umgehen, deren Organisation durch starke Normativität gekennzeichnet ist und die vordergründig nicht viele Spielräume lassen. Während sich die Forschung zur Lived Religion oft auf den außerinstitutionellen Alltag konzentriert, den die Teilnehmer mehr oder weniger frei gestalten können, ließe sich der Blick damit auch in die Institutionen hinein lenken und aufzeigen, wie auch Praktiken in solchen Kontexten unterschiedlich angeeignet, vollzogen, gedeutet und erfahren werden. Ein letzter Punkt schließlich betrifft die zeitlichen Grenzen sozialer Praktiken und das Verhältnis von Situativität und Übersituativität. Während Praktiken hier einerseits ausgehend von der Beobachtung konkreter Handlungssituationen untersucht wurden, zeigte sich insbesondere bei den interviewbasierten Rekonstruktionen, dass viele Praktiken über ihren je aktuellen Vollzug hinausweisen und dass die Grenzen dieser Praktiken nicht immer leicht zu ziehen sind: sei es, dass ihre Verständnisse durch die Vermittlungsarbeit religiöser Experten beeinflusst werden, dass Teilnehmer um einer erfolgreichen Durchführung willen gezielte Vorbereitungsarbeit leisten, dass ein jeweiliger Vollzug als Investition in die künftige religiöse Praxis betrachtet wird oder auf längerfristige Beziehungsarbeit ausgerichtet ist. Solche Befunde verweisen auf die Einbindung je aktueller Vollzüge in übergreifende Teleologien, die für ein umfassenderes Verständnis dieser Praktiken berücksichtigt werden müssen. Von einem aktuellen Vollzug aus wäre dann zu erörtern, wie sich zeitlich vorgelagerte Ereignisse und Aktivitäten darauf auswirken und welche Konsequenzen sich umgekehrt aus diesem Vollzug ergeben.
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Abbildungen
Abb. 1
Anleitung zum Rosenkranzgebet
S. 100
Abb. 2
Blick auf die Grotte mit Erscheinungsnische und Gebetsbereich
S. 124
Abb. 3
Das Innere der Grotte
S. 125
Abb. 4
Schlange im Inneren der Grotte
S. 127
Abb. 5
Berührungsbewegung am Felsen
S. 128
Abb. 6
Wartesituation an der Grotte
S. 130
Abb. 7
Mimetische Vermittlung von Berührungsaktivitäten
S. 133
Abb. 8
Teilnehmer an der Felsspalte
S. 144
Abb. 9
Ausschnitt aus dem Grundriss des Wallfahrtsgeländes mit Verlauf der Prozessionsroute
S. 154
Abb. 10
Marienfigur (Notre-Dame de Lourdes) an der Spitze des Zuges
S. 156
Abb. 11
Gekrönte Madonna und der östliche Abschnitt des Prozessionswegs
S. 157
Abb. 12
Gekrönte Madonna bei Tageslicht und in der Dunkelheit
S. 158
Abb. 13
Die Etappen des Prozessionswegs
S. 162
Abb. 14
Windschutz
S. 165
Abb. 15
Blick von der Plattform der Oberen Basilika
S. 167
Abb. 16
Anheben der Laternen zum »Mariengruß«
S. 169
Abb. 17
Aktivitäten am Salbungsstein
S. 177
Abb. 18
Ölberg und Garten Gethsemane
S. 192
Abb. 19
Heiliges Grab und Grab des Josef von Arimathäa
S. 201
Sofern nicht anders gekennzeichnet, entstammen sämtliche Abbildungen dem Archiv des Autors. Sie wurden während der Forschungsaufenthalte aufgenommen und zur Wahrung der Anonymität der abgebildeten Personen nachbearbeitet.
Darstellungskonventionen
Die Orthografie der zitierten Interviewpassagen gibt den Duktus der gesprochenen Sprache mit Tilgungen, Reduktionen, Assimilationen (alle ohne Apostroph) und Verzögerungssignalen wieder. Die Regeln der Schriftsprache (Großschreibung der Nomina, Satzinterpunktion) wurden aus Gründen der Lesbarkeit und der besseren Sinnerschließung beibehalten. Wörtliche Wiedergaben von Zitaten im Haupttext werden durch doppelte, indirekte Wiedergaben durch einfache Anführungszeichen markiert. […]
Auslassung
[]
Ergänzung durch den Autor
›du wirst schon wissen‹
direkte Rede oder Zitat im Bericht
für MICH
Akzent
so=ne
schneller Anschluss
(-)
kurze Pause (bis 1 s Dauer)
(--)
mittlere Pause (bis 3 s Dauer)
(---)
lange Pause (mehr als 3 s Dauer)
(aber)
vermuteter Wortlaut
(
unverständlicher Ausdruck
)
nonverbale Handlungen und Ereignisse
Ka-
Abbruch
un-n
langgezogener Laut
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Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
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