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German Pages 314 [318] Year 2015
Klaus Herbers / Larissa Düchting (Hg.)
Sakralität und Devianz Konstruktionen – Normen – Praxis
Geschichte Franz Steiner Verlag
Beiträge zur Hagiographie 16
Klaus Herbers / Larissa Düchting (Hg.) Sakralität und Devianz
Beiträge zur HagiograpHie herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein Band 16
Klaus Herbers / Larissa Düchting (Hg.)
Sakralität und Devianz Konstruktionen – Normen – Praxis
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz & Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10921-5 (Print) ISBN 978-3-515-10930-7 (E-Book)
InhaltsverzeIchnIs
I .
Klaus Herbers, Larissa Düchting vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Nehring ambivalenz des heiligen – religionswissenschaftliche Perspektiven zu sakralität und Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
heIlIgkeIt zwIschen charIsma unD InstItutIonalIsIerung Peter Kritzinger christliche Prozessionen in spätantike und Frühmittelalter . . . . . . . . . . .
21
Stefan Kopp zwischen himmel und erde: raumsakralität und liturgie . . . . . . . . . . .
45
Ute Verstegen trennung, Überlagerung und kollision . Beobachtung zur parallelen nutzung von sakralen räumen in frühchristlicher zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II . DIskurse unD konstruktIonen Martin Bauch Nicht heilig, aber auserwählt: Spezifik und Dynamik eines sakralen herrschaftsstils kaiser karls Iv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Peter Dinzelbacher Persönliche heiligkeit zwischen subjektivem anspruch und kollektiver suggestion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Robert Schick Die Bildzerstörung des 8 . Jahrhunderts in Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
Sebastian Watta Du schreibst mir, ob es sehr angemessen sei . . . – Der aspekt des „geziemenden“ in der Bildausstattung sakraler räume . . . . . . . . . . .
155
6
Inhaltsverzeichnis
Susanne Köbele Im sog des reinen nichts . zur konkurrenz philosophisch-theologischer ursprungskonzepte im spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
Matthias H. Ahlborn Das „unpersönliche absolute“ (brahman) und der „persönliche gott“ (ῑśvara) in der Theologie des Vidyaranya (14. Jahrhundert): eine antwort des advaita-vedanta auf theistische strömungen . . . . . . . .
187
Thomas Kaufmann reformation der heiligenverehrung? zur Frage des umgangs mit den heiligen bei luther und in der frühen reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209
III . heIlIgkeItsÜBerschuss unD ausgrenzung Bernhard Vogel zwischen verehrung und verachtung: Das Beispiel roberts von arbrissel
233
Miriam Czock zwischen heiligkeit und häresie: rhetorik und verwendung von Bildern in Briefen zu tanchelm, heinrich und an robert von arbrissel
253
Christian Saßenscheidt zu den Begriffen der häresie und des falschen Prophetentums: Die konstruktion des Islam bei Petrus venerabilis als Parallele zur häretisierung tanchelms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Roger Thiel was heißt glauben? einige Bemerkungen zur Funktionsweise des glaubens im anschluss an Dorothea welteckes Überlegungen zum nichtglauben im mittelalter . . .
281
Martin Kaufhold ausschluss aus dem heiligtum . Das Interdikt als erziehung zur kirchlichen norm . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
Gordon Blennemann heiligkeit und Devianz in vormodernen kontexten . Perspektiven einer möglichen Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
orts- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
vorwort sakralität und Devianz mit den nachfolgenden Beiträgen werden die ergebnisse einer tagung vorgelegt, die die DFg-Forschergruppe „sakralität und sakralisierung in mittelalter und früher neuzeit . Interkulturelle Perspektiven in europa und asien“ und der „arbeitskreis für hagiographische Fragen“ der akademie der Diözese rottenburg-stuttgart vom 24 .04 . bis 28 .04 .2013 in weingarten veranstaltet hat . Frühere Diskussionen betrafen immer wieder die Frage, wie sakralität zugeschrieben aber auch abgesprochen werden kann . Deshalb stand bei der diesmaligen tagung im vordergrund, wie mit abweichungen und dem verlust von heiligkeit umgegangen werden kann . Die theoretischen ausgangsfragen formulierte andreas nehring im einleitenden Beitrag, die schlussbemerkungen von gordon Blennemann eröffneten anhand theoretischer Überlegungen raum für die weitere Beschäftigung mit diesem thema . Die tagung war gekennzeichnet durch einen starken interdisziplinären zugriff und das Bemühen, immer wieder seitenblicke auf nichtchristliche religionen zu wagen . Die einzelnen Beiträge sind in drei sektionen organisiert: heiligkeit zwischen charisma und Institutionalisierung, Diskurse und konstruktionen sowie schließlich heiligkeitsüberschuss und ausgrenzungen . Die interdisziplinäre Perspektive und das über das christentum hinausgreifende dokumentierte am deutlichsten ein tandemvortrag, den Susanne Köbele und Matthias Ahlborn zur Mystik in Mitteleuropa und in Indien gestalteten . Die interdisziplinären und offenen aspekte des gespräches zeigten auch die dreifachen respondenzen von jüngeren wissenschaftlern zu vorträgen, die in diesem Band aufgenommen wurden . wir danken an dieser stelle allen Beteiligten, dass sie ihre Beiträge so zügig fertiggestellt haben, sowie weiterhin stephanie kamm, Franziska kloeters und kevin klein für die redaktionelle mitarbeit bei der Fertigstellung des gesamtmanuskriptes . wir hoffen, dass der Band eine vielfalt von weiteren Diskussionen anstößt, damit das thema nicht nur in den lateinischen und volkssprachigen schriftquellen der vormoderne untersucht wird, sondern auch in den materialbezogenen wissenschaften, wie der archäologie und kunstgeschichte . Dass die Frage nach abweichung eben nicht nur ein thema christlicher häresiegeschichte ist dürfte der Band überdies deutlich gemacht haben . Dabei bleibt offen, ob der jeweilige grad an Institutionalisierung einer religion auch zu unterschiedlichen verhandlungsebenen in Bezug auf Devianz führt . erlangen im Juni 2014
klaus herbers larissa Düchting
AmbivAlenz des Heiligen – ReligionswissenscHAftlicHe PeRsPektiven zu sAkRAlität und deviAnz Andreas nehring das thema dieses bandes ist auf eine merkwürdige weise aktuell: Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis. der titel dieser sammlung von beiträgen aus mittelaltergeschichte, kunstgeschichte, indologie und christlicher Archäologie suggeriert differenz, suggeriert normativität und will gleichzeitig nicht von einem poststrukturalistisch inspirierten konstruktivismus lassen. vor allem aber fragen die ganz unterschiedlichen beiträge immer auch nach grenzen, nach den orten, an denen sich Heiligkeit und nicht-Heiligkeit unterscheiden, oder an denen das von der Heiligkeit Abweichende sichtbar wird. Aber ist es eigentlich das Abweichende, was hier jeweils untersucht werden soll oder ist es das jeweils Ausgeschlossene? wird devianz erzeugt durch Abgrenzung aus der mitte oder erzeugt sie sich selbst durch Abgrenzung von den Rändern her? es geht dabei aber nicht einfach um eine wiederholung und Ausdeutung der klassischen und vielfach diskutierten1 wie auch inzwischen noch häufiger kritisierten2 unterscheidung von Heiligem und Profanem, die seit Émile durkheim durch religionswissenschaftliche und andere diskurse geistert und die spätestens mit mircea eliade3 zum Allgemeinplatz in den feuilletons geworden ist. wir wissen oder glauben zu wissen, dass es sich hierbei um eine kategorisierung handelt, die allenfalls der wissenschaftlichen selbstvergewisserung dient und die der wirklichkeit und komplexität von Religion kaum gerecht wird4. nein, wir fragen historisch nach grenzen, die gezogen worden sind zwischen dem Heiligen und was immer man als Heiliges / sakrales bezeichnet hat und seinem Anderen, das von ihm ausgeschlossen wurde oder sich von ihm ausgeschlossen hat. kurz: wir fragen nach grenzen, schranken, differenzen, die sich in der geschichte ganz unterschiedlich gezeigt haben. das thema ist deshalb aktuell, weil wir uns damit in einem themenfeld bewegen, das erst jüngst wieder ins blickfeld geraten ist. ende des Jahres 2012 hat der österreichische Philosoph konrad Paul liessmann einen essay veröffentlicht, den er als eine ‚kritik der politischen 1 2 3 4
die diskussion um das „Heilige“ (wege der forschung 305), hg. v. carsten Colpe, darmstadt 1977. timothy Fitzgerald, the ideology of Religious studies, new York / london 2000; carsten Colpe, Über das Heilige. versuch, seiner verkennung kritisch vorzubeugen, frankfurt a. m. 1990. mircea eliade, das Heilige und das Profane. vom wesen des Religiösen, Hamburg 1957. vgl. dazu Jonathan z. Smith, imaginig Religion. from babylon to Jonestown, chicago 1982.
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Andreas nehring
unterscheidungskraft‘ versteht, mit dem titel: lob der grenze5. nach einer Phase, in der Hybridität zu einem der wichtigsten termini jedes kulturwissenschaftlichen diskurses avanciert war und schlagworte wie ‚third space‘, ebenso wie ‚contact zone‘ auch deutschsprachige Publikationen zierten, nun ein lob der grenze. Glaubt man einer in den öffentlichen Diskursen oftmals anzufindenden Rhetorik, dann sind grenzen von Übel. moderne und modernisierung werden charakterisiert als Prozesse expandierender wechselseitiger regionaler wie sozialer, wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit, die individuen und institutionen in gleicher weise in ein netzwerk kultureller, kommunikativer und sozialer Austauschbeziehungen hinein nehmen, indem alte nationalstaatliche Grenzen sich ebenso auflösen wie die Grenzen zwischen Privat und Öffentlich oder die Grenzen zwischen offizieller Religion und populärer Religion, wie der Religionssoziologe Hubert knoblauch gezeigt hat6. wer grenzen verteidigt, sei es politischer Art, sei es die des Privatlebens, sei es die der Religion, gilt als konservativ, als spießer oder gar als fundamentalist. meine Überlegungen zum verhältnis von Heiligkeit und devianz werden daher ihren Ausgangspunkt nehmen von einer bezugnahme auf kulturwissenschaftliche Reflexionen zur Grenze. Daraus wird sich dann zweitens ein Versuch der Positionierung von Religionswissenschaft in diesem diskursfeld ableiten, die ja normative unterscheidungen zwischen Heiligkeit und Abweichung allenfalls beobachten und als konstruktionen analysieren kann. dazu gehören auch Überlegungen zum gebrauch von allgemein mit diesem Phänomen in verbindung gebrachten begriffen wie Aberglaube oder superstitio. und drittens schließlich werde ich nach dem verhältnis von gesellschaftlicher ordnung und individualität fragen, oder anders gesagt, danach wie ordnung überhaupt möglich ist angesichts des Handels, denkens und wollens von individuen und wie andersherum Handlungsmacht (agency), individualität und damit Abweichungen möglich sind angesichts der gegebenen ordnung, die das gesellschaftliche leben prägt oder gar bestimmt. das sind klassische soziologische fragestellungen, an denen aber deutlich wird, dass devianz nur doppelt bestimmt werden kann, nämlich als ein Ausgeschlossen werden und als ein Abweichen wollen. nun aber zunächst zur grenze. ich beginne mit einem berühmten votum von martin Heidegger: „die grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die griechen es erkannten, die grenze ist jenes, von woher etwas sein wesen beginnt.“7 man könnte also fragen: ist eine begrenzung die grenze unserer über ein zentrum definierten Umwelt, oder bietet sie eine Öffnung, die uns ermöglicht das, was jenseits der begrenzung liegt, zu betrachten, bzw. das wir als einen nicht-ort oder noch-nichtort entwerfen, eine Art utopia das unser bisherigen grenzziehungen transzendiert? mit anderen worten, sind begrenzungen ein ende oder ein Anfang? der lateinamerikanische theologe vitor westhelle, auf den ich mich hier im folgenden 5 6 7
konrad Paul lieSSmann, lob der grenze. kritik der politischen unterscheidungskraft, wien 2012. Hubert KnoblauCh, Populäre Religion. Auf dem weg in eine spirituelle gesellschaft, frankfurt / new York 2009. martin heidegger, bauen wohnen denken, in: vorträge und Aufsätze bd. ii, hg. v. demS., Pfullingen, 1967, 19 – 36, hier: 29.
Ambivalenz des Heiligen – Religionswissenschaftliche Perspektiven zu sakralität u. devianz 11
beziehe, hat begrenzungen als ein eigenartiges fenster auf die welt bezeichnet, insofern, als sie uns eine Perspektive auf das Alltagsleben bieten, während sie den blick gleichzeitig auf eine andere welt locken, die sich dem blick entzieht8. marginalität, die sehweise von der grenze her, deutet auf die Ambivalenzen eines zentrums hin, das nicht festgelegt werden kann, das bedeutet, marginalität stellt immer auch den ontologischen status des zentrums in frage. vom Ausgegrenzten oder sich Ausgrenzenden her zeigt sich, was die mitte ist. bedenkenswert ist in diesem zusammenhang die beobachtung, die die Anthropologin mary douglas in ihrem klassiker „Purity and danger“ formuliert hat, indem sie den umgang von gesellschaften mit verunreinigungen untersucht. sie stellt dabei heraus, dass die feststellung, dass eine gesellschaft an ihren Rändern labil ist, weniger darauf hindeutet, dass die Ränder einer gesellschaft labil sind, sondern dass sich in den Rändern die labilität der ganzen gesellschaft zeigt9. dass wir gerade in einer sich zunehmend plural verstehenden weltgesellschaft parallel zu der zunehmenden Pluralisierung ganz massive Profilverschärfungen an den Rändern beobachten können, darauf hat der Philosoph Hermann lübbe schon vor Jahren hingewiesen10. die moderne zivilisation schafft sowohl einheit und vereinheitlichung kultureller muster als auch zugleich eine Pluralisierung der lebensformen, beides, Vereinheitlichung und Pluralisierung, fördert aber gleichzeitig Profilverschärfungen. Wir haben uns angewöhnt diese Profilverschärfungen an den Grenzen Europas anzusiedeln oder besser noch sie ganz außen vor zu halten und immer dann, wenn sie zu nahe kommen und die kulturelle mitte gefährden, kommen leitbilddiskussionen ins spiel. grenzen legen somit die brüchigkeit der gesamten sozialen konstitution offen und stellen dadurch das zentrum in frage. deshalb haben grenzen ein zerstörendes, offenbarendes Potenzial, das Potenzial des verbergens und die macht des Aufdeckens gleichermaßen. wir werden später, wenn es um Abweichler, charismatiker, Revoluzer, Reformatoren geht, darauf zurückkommen. ein zentraler beitrag religionswissenschaftlicher Arbeit zur devianzforschung könnte nun darin liegen, die mechanismen, durch die grenzen repräsentiert werden, offen zu legen. es geht zum einen darum zu fragen, wie sich dieses offenlegen und verbergen in den jeweiligen gesellschaftsformen synchron und diachron niederschlägt und zum anderen, wie sich dieser doppelte Prozess in diskursen ausbilden kann, die oftmals einer politisch aufgeladenen „invention of Religious tradition“11 ähneln oder eine solche tatsächlich abbilden.
8 9 10 11
vgl. dazu vitor WeSthelle, After Heresy. colonial Practices and Post-colonial theologies, eugene 2010, 121 ff. mary douglaS, Reinheit und gefährdung. eine studie zu vorstellungen von verunreinigung und tabu, frankfurt 1988, 151 ff. Hermann lübbe, Religionskulturelle trends in modernisierungsprozessen, in: die neuen inquisitoren, glaubensfreiheit und glaubensneid, hg. v. gerhard geSier / erwin SCheuCh, zürich 1999, 35 – 52. siehe: the invention of sacred tradition, hg. v. James R. leWiS / olav hammer, cambridge 2007; the invention of Religion: Rethinking belief in Politics and History, hg. v. derek R. peterSon / darren WalhoF, new bruswick 2002.
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Andreas nehring
Grenzen sind allerdings, auch wenn wir bemüht sind sie immer wieder zu fixieren, fließend. Grenzen werden fixiert in einem unstabilen Dazwischen-Sein des Raum-zeitkontinuums in der wirtschaft, in Politik, in der gesellschaft, in nationen, Religionen, und auch psychischen bedingungen12. und eben darum sind sie verborgen, sie werden weder benannt, noch benennen sie selbst13. man kann noch nicht mal die kategorie des seins auf die grenzen anwenden, in der Hinsicht, dass sie nicht definiert werden können durch eine Essenz, durch ein Sein. Sie gehen Lim H < 0, und dennoch sind sie real, sie bestehen. Sprache nun versucht, diese Grenze zu erfassen, sie konzeptionell und figurativ zu reduzieren. Das hängt wohl damit zusammen, dass das flüchtige und schwer zu fassende Auftauchen von grenzen immer wieder stabilisiert werden muss. und das ist es genau, was Repräsentationen zu leisten haben. westhelle macht an diesem Punkt auf eine wichtige begriffsdifferenzierung von ‚Repräsentation bei georg wilhelm friedrich Hegel aufmerksam. Hegel hat Repräsentationen, die er entweder als figurative Vorstellung oder als Darstellung verstanden hat, als das stabile bild unstabiler Erscheinungen bezeichnet, die ein Ding aus seiner kontextuellen Verflochtenheit heraussichern, aus einer fließenden und sich verändernden Instabilität seiner erscheinungen14. diese notwendigkeit der stabilität ist gleichzeitig ein offenbaren wie ein verbergen der grenze. Aber noch viel wichtiger ist, es ist gleichzeitig ein darstellen der Grenze und ein Einschreiben der Grenze oder ein Erfinden der Grenze. Es findet hier eine Amalgamierung von zwei voneinander zu unterscheidenden operationen statt15. eine könnte man beschreiben als entdeckung oder Aufdeckung, die andere als Erfindung oder Einschreibung. Diese Unterscheidung wird oftmals verwischt, dass Repräsentationen aber interaktiv sind, ist in den letzten Jahrzehnten von zahlreichen forschern hervorgehoben worden, angefangen von michel foucault16 über edward saids ‚orientalismus‘17 zu eric Hobsbawns ‚invention of tradition‘18 oder benedict Andersons ‚Erfindung der Nation‘19. Repräsentationen sind interaktiv, sie sind ein vergegenwärtigen von einer Abwesenheit, als auch das Anlegen einer Perspektive, die die konturen des gegenstandes färbt und formt. das sollte auch die Religionswissenschaft davor warnen, sich nun als vermeintlich objektive wissenschaft von theologie und anderen normativ subjektiven oder 12
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ernesto laclau spricht daher in Anlehnung an Jacques lacan von knotenpunkten (points de capiton), an denen gleitende Diskurse fixiert werden. Ernesto laClau, the ‚People‘ and the discusive Production of emptiness, in: on Populist Reason, hg. v. demS., london / new York 2007, 105. WeSthelle, After Heresy (wie Anm. 8), 123. WeSthelle, After Heresy (wie Anm. 8), 124. ebd. michel FouCault, die ordnung des diskurses, frankfurt a. m. 1977. edward Said, orientalism, london 1978. the invention of tradition, hg. v. eric hobSbaWm / terence ranger, cambridge 1983. benedict anderSon, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, frankfurt a. m. 1998.
Ambivalenz des Heiligen – Religionswissenschaftliche Perspektiven zu sakralität u. devianz 13
als normativ gestempelten disziplinen abzusetzen20 und für sich zu beanspruchen devianzen und ihr verhältnis zum zentrum bloß darstellen zu müssen, während theologie sich auf dem anderen flügel der Repräsentation nach Hegel bewege, dem der vorstellung und damit auf der ebene der einordnung des Anderen aus der eigenen Perspektive. es war vor allem Émile durkheim, der diese Problematik in einer für die weitere devianzforschung grundlegenden weise diskutiert hat. durkheim fragt, ob die wissenschaft überhaupt über mittel verfügt, eine scheidung zwischen dem vorzunehmen, wie die dinge sein und nicht sein sollen. wissenschaft, und das gilt auch für die Religionswissenschaft, beobachte und erkläre tatsachen, beurteile sie aber nicht21. durkheim hat verbrechen als Abweichungen von gesellschaftlicher norm untersucht und folgende Definition für Normalität aufgestellt: „ein soziales Phänomen ist für einen bestimmten sozialen typus in einer bestimmten Phase seiner entwicklung normal, wenn es im durchschnitt der gesellschaften dieser Art in der entsprechenden Phase ihrer evolution auftritt.“22
normalität ist also sowohl kontextuell als auch zeitlich bedingt. „da es [aber] keine gesellschaft gibt, in der die individuen nicht mehr oder weniger vom kollektiven typus abweichen ist es unvermeidlich, dass sich unter diesen Abweichungen auch solche befinden, die einen verbrecherischen Charakter tragen.“23
verbrechen, so schließt durkheim, ist daher eine notwendige erscheinung, die mit den grundbedingungen des sozialen lebens verbunden und damit zugleich nützlich ist. normalität von Recht, moral und auch sakralität kann sich nur entwickeln in Auseinandersetzung mit Abweichung. Aus den Argumentationslinien durkheims lässt sich schließen, dass devianz nicht nur möglich ist, dass also die von durkheim in der tradition des Positivismus konstatierten ‚faits sociales‘ keineswegs bloße statische größen sind, sondern dass devianz geradezu notwendig ist, da jede ordnungsform Abweichung impliziert und Abweichungen veränderungen unter Umständen derart beeinflussen, dass sie auch als Antizipationen zukünftiger Ordnungsnormen gesehen werden können. wolfgang lipp hat daher zu Recht zwei fragenkomplexe aus der soziologischen forschung zusammengebracht, nämlich die frage, wie gesellschaftliche ordnung überhaupt möglich ist, wo doch individuen sich unterschiedlich verhalten und demgegenüber, wie devianz möglich ist, wo die gesellschaft ordnung doch weitgehend durchsetzt. wie ist also auch sozialer wandel in einer gesellschaft möglich angesichts von identitätspositionierung in einer gesellschaft bzw. an ihren grenzen24. 20 21 22 23 24
dazu grundsätzlich: Hilary putnam, vernunft, wahrheit und geschichte, frankfurt a. m. 1982. Émile durKheim, Regeln der soziologischen methode, darmstadt 1980, 141. durKheim, Regeln der soziologischen methode (wie Anm. 21), 155. durKheim, Regeln der soziologischen methode (wie Anm. 21), 159. wolfgang lipp, Außenseiter, Häretiker, Revolutionäre. gesichtspunkte zur systematischen Analyse, in: Religiöse devianz in christlich geprägten gesellschaften, hg. v. dieter Fauth / daniela müller, Würzburg 1999, 11 – 26, hier: 11 f.
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Andreas nehring
inzwischen muss es wohl schon fast als banal angesehen werden, wenn man hervorhebt, dass sich die Herstellung religiöser identität als ein Resultat eines vielschichtigen Austauschprozesses darstellt, der geprägt ist sowohl von zustimmung als auch von Ablehnung. kollektive identitäten werden durch die teilhabe an gemeinsamen erinnerungen der vergangenheit hergestellt und dabei spielt es keine Rolle ob sich die Gegenstände dieser Erinnerung historisch verifizieren lassen oder nicht. entscheidend ist, welche evidenz solche erinnerungen und die mit ihnen verbundenen erzählungen für ein kollektiv haben. sakralität ergibt sich daher aus gemeinschaftlich geteilten narrativen, rituellen Handlungen und kulturellen manifestationen und für eine religionswissenschaftliche Analyse ist es entscheidend, dass es sich hierbei nicht einfach um empirisch nachweisbare fakten handelt, sondern um konstruktionen, die in kommunikativen Aushandlungsprozessen geschaffen wurden und immer noch geschaffen werden. niklas luhmann hat daher zu Recht betont, dass Religion nur als kommunikation eine gesellschaftliche existenz hat25. und kommunikation funktioniert nur indem sie zugleich eine grenze herstellt zu ihrem Anderen. Auch der britische kulturwissenschaftler stuart Hall hat seine forschungsperspektive insbesondere auf differenzbeziehungen gerichtet, die seiner Auffassung nach notwendig sind, um kulturelle Repräsentationen möglich zu machen, d. h. einen ‚möglichkeitsraum‘ zu eröffnen. solche kulturellen Repräsentationen bleiben aber innerhalb der gesellschaftlichen konstruktionen immer offen für schwankungen und Aufschiebungen und von bedeutung. Hall und mit ihm die weitere cultural studies-forschung betonen, dass identitäten stets als unvollständig, relational und im werden begriffen werden müssen. die betonung liegt nicht auf einheitlichkeit, von identitäten, sondern auf deren multiplizität und differenzen sowie auf den verbindungen und Artikulationen zwischen fragmenten von differenz. der Ansatz der cultural studies zielt darauf, differenzen zu theoretisieren und diese differenzen als permanente neupositionierungen in sich wandelnden kulturellen und politischen feldern zu begreifen26. was ist dann Abweichung vom sakralen? was ist Abweichung im sakralen? bevor wir diese fragen diskutieren, zunächst einige grundlegende Aspekte zu Abweichung oder devianz. Hans Joas hat in seinem lehrbuch der soziologie eine Definition gegeben: „Abweichung ist jede Handlung, von der angenommen wird, dass sie eine allgemein geltende norm einer gesellschaft oder einer bestimmten gruppe dieser gesellschaft verletzt. daher ist Abweichung nicht ein geschehen, das lediglich als untypisch oder ungewöhnlich gilt. [. . .] damit ein verhalten als abweichend betrachtet werden kann, muss es als ein verhalten gewertet werden, dass gegen verbindliche, sozial definierte Standards verstößt.“27
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niklas luhmann, Religion als kommunikation, in: Religion als kommunikation, hg. v. Hartmann tyrell / volkhard KreCh / Hubert KnoblauCh, würzburg 1998, 137. stuart hall, die frage der kulturellen identität, in: Rassismus und kulturelle identität (Ausgewählte schriften 2), hg. v. demS., Hamburg 1994, 180 – 222. Hans JoaS, lehrbuch der soziologie, frankfurt a. m. / new York 2001, 170.
Ambivalenz des Heiligen – Religionswissenschaftliche Perspektiven zu sakralität u. devianz 15
wenn Religion als kommunikation verstanden werden soll, dann stellt sich auch die frage nach den Akteuren, die ein verhalten als normal oder abweichend betrachten. zu fragen ist auch nach den begründungsstrukturen, die ein verhalten als abweichend kennzeichnen und dabei die norm als gegeben hinnehmen. in der Regel beanspruchen religiöse spezialisten hier deutungshoheit. in der tradition des christentums hat sich spätestens mit Augustinus unterscheidung von vera religio und den falsae religiones die unterscheidung von Aberglaube / superstitio und Religion durchgesetzt. im mittelalter wurde diese differenz derart systematisiert, dass sie sich, wie der kirchenhistoriker Hanns christoph brennecke herausgestellt hat, bis zur neuzeit durchsetzen konnte und zwar dergestalt, dass jede form heidnischer Religion nun als superstitio tituliert werden konnte28. dass sich superstitio in den Reformationsstreitigkeiten zu einem kampfbegriff entwickelt hat, der nun gegen die jeweils andere Position eingesetzt werden konnte, hat seine spuren ebenso bis in die gegenwart hinterlassen wie die seit der Aufklärung vorgenommen Identifizierung von superstitio mit volksglauben der ungebildeten gegenüber der religiösen bildung der herrschenden schichten. nicht nur in der theologie wurde die opposition von religio und superstitio manifest, sondern auch in der Religionswissenschaft. das zeigt sich beispielsweise in dem Artikel über Aberglaube in der ‚Pauly-wissowaschen Realenzyklopädie‘ aber auch in den zehn bänden des ‚Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens‘, in denen ohne den jeweiligen kontext mit einzubeziehen, bestimmte formen religiösen verhaltens als deviant klassifiziert und so von rechtmäßiger Religiosität abgegrenzt werden. Es zeigt sich aber auch in normativen studien zu ‚Jugendreligionen‘ in den 1970er Jahren und in religionswissenschaftlichen Alterierungsdiskursen beispielsweise über ‚den islamischen fundamentalismus‘ als Abweichung oder entstellung von vermeintlich echtem islam29. dass solche Alterierungsdiskurse ihre Probleme haben, ist inzwischen in der ethnologie, den cultural studies und postkolonialen kritiken an westlichen Repräsentationsmustern des kulturell Anderen, wie dem des orients u. a. deutlich aufgezeigt worden. die dekonstruktion solcher Alterierungsdiskurse hat aber auch deutlich werden lassen, dass die folie des eigenen nicht mehr als ein neutraler beobachterstandpunkt außerhalb der diskurse um sakralität und devianz behauptet werden kann und dass die wissenschaftssprache, wie sie von Historikern, sozialwissenschaftlern und Religionswissenschaftlern eingesetzt wird, um ihre gegenstände zu beschreiben, in gleicher weise dem Postulat des konstruktivismus unterliegt, wie die von ihnen untersuchten gegenstände selbst. gerade für die religionswissenschaftliche zugangsweise zu sakralem stellt es eine besondere Herausforderung dar, die wirklichkeitskonstruktionen der untersuchten als denkbare,
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Hanns christoph brenneCKe, Art. Aberglaube, in: enzyklopädie der neuzeit, bd. 1, stuttgart 2005, 6 – 11, hier 8. susan harding, Representing Fundamentalism, Social Research 58 (1991), 373 – 393; Werner SChiFFauer, islamischer fundamentalismus – zur konstruktion des Radikal Anderen, neue Politische Literatur 40/1 (1995), 95 – 105.
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Andreas nehring
mögliche oder sogar gleichwertige beschreibungssprachen und Ausdrücke ernst zu nehmen30. wenn ich meinem beitrag dem titel ‚Ambivalenz des Heiligen‘ gegeben habe, so soll damit genau diese multiperspektivische zugangsweise zum sakralen und dem von ihm Abweichenden zur diskussion gestellt werden. Abschließend möchte ich das skizzieren, indem ich mich an einen vorschlag anlehne, den werner schiffauer zur erforschung des islamischen fundamentalismus gemacht hat. in seinem einschlägigen forschungsbeitrag zu türkischen islamisten in deutschland31 kritisiert er bisherige forschungsansätze, die den fundamentalisten ein kulturelles Defizit unterstellen und in erster Linie, angelehnt an ein europäisches Konzept einer aufgeklärten moderne, normative forderungen an einen sich den globalen Herausforderungen entziehenden islam stellen. zum anderen grenzt er sich von einem, in der Religionswissenschaft nach wie vor dominanten verständnis von Religion als symbolsystem ab, wie es beispielsweise von clifford geertz entwickelt worden ist. geertz ist bekanntlich einer der wichtigsten vertreter der sogenannten interpretativen Anthropologie, nach der die ethnologische erschließung fremder kulturen in erster linie als hermeneutisches unterfangen und erst in zweiter linie als empirische Wissenschaft zu fassen ist. Geertz plädiert für eine semiotische Kulturdefinition, die er gegen die in der ethnologie und soziologie dominanten funktionalistisch oder strukturalistisch geprägten Kulturdefinitionen abgesetzt sehen will. Im Anschluss an Max Weber bestimmt er Kultur als „das Geflecht von Bedeutungen, in denen menschen ihre erfahrungen interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten“32. die welt ist insofern nach geertz immer schon eine gedeutete welt, wobei die jeweiligen weltdeutungen von gesellschaften vor allem in ihren zentralen kulturellen darstellungsformen, und das heißt in geformten symbolischen Handlungen, fassbar werden. die symbolischen Ausdrucksformen einer gesellschaft, das heißt die kulturellen Performanzen, sind für geertz mit anderen worten inszenierungen von bedeutungen, öffentliche selbstauslegungen einer kultur, in denen die im Alltagshandeln allenfalls nur latent bewussten tiefenstrukturen der welterschließung einer gesellschaft sichtbar werden33. 30
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33
vgl. dazu Andreas nehring, Präsenz und implizites wissen. Religionswissenschaftliche Perspektiven, in: Präsenz und implizites wissen. zur interdependenz zweier schlüsselbegriffe der kultur- und sozialwissenschaften, hg. v. christoph ernSt / Heike paul, bielefeld 2013, 341 – 372. werner SChiFFauer, die gottesmänner. türkische islamisten in deutschland, frankfurt a. m. 2000, hier besonders 315 – 334. clifford geertz, dichte beschreibung. beiträge zum verstehen kultureller systeme, frankfurt a. M. 1987, 99. Vgl. dazu die berühmte und häufig zitierte Formulierung von Geertz: „Der Kulturbegriff, den ich vertrete [. . .] ist wesentlich ein semiotischer. ich meine mit max weber, daß der mensch ein wesen ist, das in selbstgesponnene bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich kultur als dieses gewebe ansehe.“, ebd., 9. vgl. dazu geertz, dichte beschreibung (wie Anm. 32), 18: „kultur ist deshalb öffentlich, weil bedeutung etwas öffentliches ist.“ geertz kritisiert hier private bedeutungstheorien. kultur besteht für ihn aus sinnentwürfen, die allen zugänglich sind und die dazu verhelfen, sich in der welt orientieren.
Ambivalenz des Heiligen – Religionswissenschaftliche Perspektiven zu sakralität u. devianz 17
dieser kultursemiotische Ansatz führt nun nach Auffassung schiffauers zu einer für die ethnologie problematischen beschränkung im umgang mit symbolischen Handlungen und geformten verhaltensweisen. schiffauer kritisiert an geertz, dass er sich gänzlich auf den bedeutungsgehalt von Handlungen und damit auf bereits vorliegende oder dem forscher sichtbar werdende dominante kulturelle interpretationen konzentriert. kulturelle Performanzen kommen bei geertz primär als manifestationen von bedeutung in den blick bzw. als Praktiken, die die strukturen der als bedeutungsgewebe verstandenen jeweiligen kultur enthüllen34. dabei werden aber soziale dimensionen kultureller Performanzen und kulturelle differenzen innerhalb einer gesellschaft kaum in den blick genommen. indem sich geertz und die von ihm inspirierte ethnologie und Religionswissenschaft ausschließlich auf den Aussagegehalt kultureller bedeutungen konzentriert, blendet sie fragen nach dem entstehen bzw. nach den bedingungen des entstehens dieser Aussagen weitgehend aus. dadurch werden auch die machtstrukturen, die kulturelle muster durchziehen nicht entsprechend angemessen in die beobachtung und Analyse einbezogen35. Schiffauer kritisiert nun an diesem kultursemiotischen Ansatz, dass eine Reflexion über die zumeist ungleiche verteilung der interpretationsmacht in einer kultur und die jeweils mit der herrschenden interpretationsgewalt verbundenen interessen bei geertz weitgehend unterbleiben. Abweichungen im kulturellen system kann er kaum erklären, da er von der Annahme ausgeht, dass das symbolsystem „von den Angehörigen einer Religion internalisiert und deshalb weitgehend geteilt“36 wird. für die devianzforschung ist diese beobachtung und kritik zentral, da hier deutlich wird, dass der kultursemiotische Ansatz es eher verhindert, dass ein wichtiger Aspekt in der bestimmung von Abweichung in den blick genommen werden kann, nämlich wie sich ein subversionspotential gegenüber einer herrschenden sozialstruktur ausbilden kann, wie also gegendiskurse entstehen und wie Hegemonie in der bestimmung von sakralem verschoben und dadurch devianzen bewusst erzeugt werden37. zu wenig beachtet bleibt also in diesem semiotischen und systemtheoretischen Ansatz, dass den kulturellen Performanzen gleichermaßen die kapazität eignet, die kulturelle Ordnung einer Gesellschaft selbstreflexiv darzustellen und sie damit zu verstärken oder sie subversiv zu unterhöhlen. schiffauer schlägt dagegen vor, den symbolsystemischen Ansatz gegen einen diskursanalytischen auszutauschen und in der forschung religiöser devianz von einem diskursfeld auszugehen, das erst einmal als bereich angesehen wird, der umkämpft, umstritten und keineswegs eindeutig fixiert ist, da nur so die Dynamik religiösen denkens herausgearbeitet werden könne.
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nach geertz, dichte beschreibung (wie Anm. 32), 233, besteht „der Hauptzweck und die erste bedingung der menschlichen existenz [. . .] darin [. . .], dem leben bedeutung zu verleihen.“ vgl. dazu auch eberhard berg / martin FuChS, Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation, in: kultur, soziale Praxis, text. die krise der ethnographischen interpretation, hg. v. denS., frankfurt a. m. 1993, 62. SChiFFauer, die gottesmänner (wie Anm. 31), 320. berg / FuChS, Phänomenologie der differenz (wie Anm. 35), 62.
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Andreas nehring „ein diskursfeld ist eine Arena, in der verschiedene Akteure symbolische kämpfe austragen. eine Religionsgemeinschaft wird damit weniger als eine gruppe konzipiert, die ein symbolsystem teilt, sondern als ein offenes netzwerk von sich immer neu gruppierenden gläubigen, in dem über deutungen und bedeutungen gestritten wird.“38
das hat aber, um zum Ausgang zurückzukommen, auch implikationen für die bestimmung religiöser grenzen. während ein system eine grenze nach außen voraussetzt und damit eindeutige grenzziehungen zwischen sakralität und dem von ihr Abweichenden zieht, bezeichnet ein diskursfeld einen nach außen und auch nach innen offenen Prozess. entscheidend ist dabei, darauf hat kocku von stuckrad in seiner Analyse von grenzziehungen zwischen christen und nichtchristen in der Antike hingewiesen, „dass die Religionswissenschaft selber als Akteurin innerhalb eines diskursfeldes auftritt. Dies zu erkennen bedeutet zugleich die Rücknahme von Definitionshoheiten darüber, was ‚Religion‘ oder ‚das Christentum‘ sei, denn jede Definition führt zwangsläufig zur Veränderung des Untersuchungsgegenstandes.“39. das dies in gleicher weise auch für die geschichtswissenschaft, die kunstgeschichte und andere fächer gilt, die sich mit der frage nach Heiligkeit und Abweichung beschäftigen, soll in diesem band deutlich werden.
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SChiFFauer, die gottesmänner (wie Anm. 31), 320. kocku von StuCKrad, ‚christen‘ und ‚nichtchtchristen‘ in der Antike. von religiös konstruierten grenzen zur diskursorientierten Religionswissenschaft, in: Hairesis. festschrift für karl Hoheisel zum 65. geburtstag, hg. v. manfred hutter / wassilos Klein / ulrich Vollmer, Münster 2002, 184 – 202, hier: 197.
I. HeIlIgkeIt zwIscHen cHarIsma und InstItutIonalIsIerung
cHrIstlIcHe ProzessIonen In sPätantIke und FrÜHem mIttelalter* Peter kritzinger die gesellschaft der ausgehenden spätantike und des frühen mittelalters erfuhr in vielen lebensbereichen richtungweisende Veränderungen. Von kaum zu überschätzender Bedeutung für den einzelnen wie auch für das kollektiv war die simple tatsache, dass die über viele Jahrhunderte hinweg alles bestimmende, zentralisierte staatsmacht zerschlagen wurde und sich zusehends auf regionale und überregionale Potentaten verteilte1. diese Verschiebung realer machtverhältnisse erforderte auch eine Überarbeitung der traditionellen zeichensprache. umgekehrt konnte, ja musste, eine veränderte symbolik sich ihrerseits nachhaltig auf das machtgefüge auswirken. In diesem wechselspiel von actio und reactio spielte nun das christentum, das bis in das 4. Jahrhundert hinein seine symbole weitgehend im Verborgenen auszuüben gelernt hatte, plötzlich eine zentrale rolle2. mit der „endgültigen“
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Für Hinweise und anregungen möchte ich mich bei andrea Hauff, susann kritzinger, Hansjoachim andres und Prof. dr. achim Hack recht herzlich bedanken. die lit. zum episkopat im Übergang von antike zu mittelalter ist legion. Für die vorliegende Fragestellung sind folgende darstellungen von besonderer Bedeutung: karl F. Stroheker, der senatorische adel im spätantiken gallien, tübingen 1948; martin heinzelmann, Bischofsherrschaft in gallien. zur kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche aspekte, münchen 1976; DerS., Gallische Prosopographie 260 – 527, Francia 10 (1982), 531 – 718; Friedrich Vittinghoff, zur entwicklung der städtischen selbstverwaltung. einige kritische anmerkungen, in: stadt und Herrschaft. römische kaiserzeit und hohes mittelalter, hg. v. DemS., München 1982, 107 – 146; Friedrich Prinz, Herrschaftsformen der kirche vom ausgang der spätantike bis zum ende der karolingerzeit, in: Herrschaft und kirche. Beiträge zur entstehung und wirkungsweise episkopaler und monastischer organisationsformen, hg. v. DemS., Stuttgart 1988, 1 – 21; Susanne Baumgart, Die Bischofsherrschaft im Gallien des 5. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zu den Gründen und Anfängen weltlicher Herrschaft der Kirche, München 1995; Bernhard JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘, HZ 260 (1995), 673 – 718; Steffen PatzolD, zur sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter, in: Völker, reiche und namen im Frühen mittelalter, hg. v. matthias Becher / stefanie Dick, Paderborn 2011, 121 – 140. allg. zur legalisierung der christlichen religion und zu wichtigen daraus folgenden Implikationen siehe v. a. Hans lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, Bd. 3, Berlin 21953, v. a. 66 ff. carl anDreSen, Die Kirchen der einen Christenheit, Köln u. a. 1971, 325 ff.; Charles Pietri, konstantin und die christianisierung des reiches, in: das entstehen der einen christenheit, Freiburg i. Br. u. a. 1996 (Ü. franz. Orig. Paris 1995), hg. v. DemS. / luce Pietri, 193 – 241;
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Peter kritzinger
Legalisierung der christlichen Religion im Jahr 311 und durch die Erhebung in einen Sonderstatus im Jahr 395 wuchs der Einfluss der Christen in der Gesellschaft so weit an3, dass sich das Fehlen einer der res publica geläufigen Symbolik zunehmend negativ bemerkbar machte4. Peter Brown konstatierte gewohnt pointiert: „the leaders of the Christian community found themselves in a difficult position. They had all the means of social dominance, and none of the means of showing it in an acceptable form.“5. und so fand sich die kirche aufgrund des rechtlichen arrangements und der historischen Ereignisse (wieder einmal) vor die Frage gestellt, in welchem konkreten Verhältnis sie fortan zur weltlichen autorität zu stehen gedachte und wie diesem Verhältnis durch öffentliches auftreten gebührend ausdruck verliehen werden konnte. Grundsätzlich boten sich der Christenheit zwei Optionen an (womit keineswegs gesagt sein soll, dass diese stets bewusst verfolgt wurden): 1. Man bemühte sich um eine Integration in die weltliche Hierarchie, oder 2. man setzte auf eine eigenständige rangfolge, die unabhängig neben der weltlichen bestehen bleiben sollte. In beiden Fällen erforderte der neue rechtliche status einer religio licita eine Definition des Verhältnisses zum weltlichen cursus honorum und seiner zeichensprache. die diskussion, welche option zu verfolgen sei, wurde gerade nach konstantin dem großen einige zeit heftig geführt, wobei am ende das für uns geläufige Ergebnis der Trennung von Kirche und Staat stand. Doch dieses Ergebnis war nicht vorhersehbar und zunächst wohl auch gar nicht zu erwarten. man muss sich vor augen führen, dass den antiken römern eine trennung von religion und staat gänzlich fremd war6. der kaiser war sowohl oberster politischer als auch religiöser Führer und übertrug diese kompetenzen und aufgaben auch an seine subalternen magistrate. als konstantin der große beim konzil von nicaea für sich den Anspruch formulierte, ἐπίσκοπος τῶν ἐκτός zu sein, stand dahinter an erster Stelle das kaiserliche Selbstverständnis, oberster Priester aller Religionen zu sein – nun also auch der christen7. zwar erfolgte zu keiner zeit eine systematische einordnung der klerikalen Hierarchie in den cursus honorum, wie sie etwa von theodor klauser noch postuliert wurde, doch scheint zunächst die mehrheit der christlichen Führungspersönlichkeiten den weg der Integration favorisiert zu haben8. seit den 3
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Lactantius, De mortibus persecutorum 34, 5; Eusebius, Historia Ecclesiastica 8, 17, 3 – 10. Vgl. ebd. 10, 7, 1. allg. Pietri, Konstantin und die Christianisierung des Reiches (wie Anm. 2), 213 – 216; 462 ff.; Alexander DemanDt, die spätantike. römische geschichte von diocletian bis Justinian 284 – 565 n. Chr., München 22007, 82, 100, 527, 590 ff. symbol nicht im sinn von Bildwerk, sondern eines repräsentativen performativen aktes. allg. adolf aDam, grundriß liturgie, Freiburg i. Br. u. a. 61994, v. a. 19 – 31; passim; Marcel metzger, Geschichte der Liturgie, Paderborn u. a. 1998, 37 – 67. Peter Brown, the cult of the saints. Its rise and Function in latin christianity, chicago 1981, 40. DemanDt, Die Spätantike (wie Anm. 3), 393 f. Johannes StrauB, Konstantin als κοινὸς ἐπίσκοπος, in: Regeneratio Imperii, Bd. 1, hg. v. Elke merten / alfons röSger, Darmstadt 1972, 134 – 158; Zit. 152: „Konstantin betrachtete sich [. . .] als von gott eingesetzt über alle Bewohner seines reiches, seien sie christen oder Heiden.“ Vgl. DerS., Kaiser Konstantin als ἐπίσκοπος τῶν ἐκτός, in: Ebd. 119 – 133.
christliche Prozessionen in spätantike und frühem mittelalter
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350er Jahren lassen sich dann zunehmend Kräfte greifen, die nicht (mehr) gewillt waren, den Kaiser in religiösen Belangen als κοινὸς ἐπίσκοπος also als übergeordnete Instanz zu akzeptieren. Über Jahrzehnte dauerte der streit an, der sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche geführt und letztlich erst mit Leo I. († 461) und Gelasius I. († 496) und der Formulierung der „Zweigewaltenlehre“ auch de iure nachhaltig entschieden wurde9. die Bemühungen, ein gleichungssystem zwischen den kompetenzen und symbolen weltlicher und kirchlicher Hierarchie zu entwickeln, spiegeln sich in der entwicklung der Prozessionen wider. Ihrem ursprung und der frühen entwicklung soll im Folgenden nachgespürt werden. I. da das christentum im Imperium romanum für Jahrhunderte religio illicita war und aufgrund daraus resultierender sanktionen durch den staat konnten die in der paganen antike so beliebten Prozessionen zunächst nicht in die christlich-performative semiologie aufgenommen werden10. als dann durch die legalisierung der glaubensgemeinschaft die möglichkeit der adaption dieser zeremonien bestand, verhinderte der bereits verfestigte gegensatz zur heidnischen welt eine direkte Übernahme paganer Symbole. Ja, die antike πομπή / pompa und ihre gesamte semiologie wurde
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theodor klauSer (Der Ursprung bischöflicher Insignien und Ehrenrechte, in: Gesammelte arbeiten zur liturgiegeschichte kirchengeschichte und christlichen archäologie, hg. v. ernst DaSSmann, Münster 1974 [ursp. Krefeld 1948], 195 – 212) hatte die These einer systematischen „nobilitierung“ des klerus im deutschsprachigen raum bekannt gemacht. ähnlich bereits: John wickham, church ornaments and their civil antecedents, cambridge 1917. In der Folge entwickelte sich eine lebhafte diskussion, die dazu führte, dass klauser von seiner Idee abstand nahm. andere Forscher griffen den gedanken jedoch ohne weitere argumente auf. u. a. bspw. christoph markSchieS, Politische Dimension des Bischofsamtes, in: Recht – Macht – Gerechtigkeit, hg. v. Joachim mehlhauSen, gütersloh 1998, 441, v. a. anm. 14; thomas Bogyay, art. thron, in: lcI 22004, 4, 305 f. Dagegen aber die berechtigten Einwände v. a. von Hans-Ulrich inStinSky, Bischofsstuhl und Kaiserthron, München 1955; Santo mazzarino, costantino e l’episcopato, in: Il basso impero. antico, tardoantico ed èra costantiniana, hg. v. DemS., Bari 1974 (ursp. Iura 1, 1956), 171 ff.; Evangelos chrySoS, die angebliche ‚nobilitierung‘ des klerus durch Kaiser Konstantin den Grossen, Historia 18 (1969), 119 – 29; u. v. m. V. a. gelasius, epistula ep. 12. lit. bei sabine felBecker, art. gelasius I. von rom, in: lacl 2002, 280 f. allg. zum Prozessionswesen in der antike siehe bes. martin P. nilSSon, die Prozessionstypen im griechischen kult, in: opuscula selecta, Bd. 1, hg. v. DemS., Lund 1951, 166 – 214 (ursp. Berlin 1916); Kurt latte, römische religionsgeschichte, münchen 1960, 248 f.; 297; Hermann a. J. wegman, ‚Procedere‘ und Prozession: eine Typologie, LJb 27 (1977), 28 – 41, bes. 32 (wichtig v. a. aufgrund der Typologie); Sabine maccormack, art and ceremony in late Antiquity, Berkeley u. a. 1981, 17 – 89; Simon R. F. Price, rituals and Power: the roman Imperial cult in asia minor, cambridge 1984; sabine felBecker, die Prozession: historische und systematische Untersuchungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung, Altenberge 1995, 35 – 150.
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Peter kritzinger
sogar prinzipiell als werk des teufels verworfen11. am ende wurde die zeremonie dennoch adaptiert und verchristlicht. damit stellt sich zunächst die Frage, seit wann öffentliche – im Sinne der gesamten res publica – Prozessionen auch von der christenheit genutzt wurden12. meines erachtens lässt sich hierfür ein historisches schlüsselerlebnis benennen. als Justina im namen ihres minderjährigen sohnes Valentinian II. in mailand regierte, entbrannte zwischen der arianisch gesinnten kaiserin und dem katholischen Bischof Ambrosius im Jahr 385 eine heftige Auseinandersetzung13. die kaisermutter nutzte ihre Position, den arianern in mailand ein kirchengebäude zu verschaffen, obwohl diesen aufgrund der Gesetzgebung seit den 370er Jahren der Besitz von Versammlungsräumen – zumal innerhalb der Stadtmauern – verboten war14. diese rechtliche grundlage dürfte auch der grund gewesen sein, weshalb die Forderung Justinas recht moderat ausfiel. Sie bat lediglich um die Erlaubnis, die Osterfeier mit ihrer Glaubensgemeinschaft in der Basilika Portiana – einer Kirche extra muros – abhalten zu dürfen15. umso mehr überrascht die harsche, ja unfreundlich-kategorische 11
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zur pompa diaboli v. a. Sulpicius Severus, Vita Martini 12; Maximus Taurinensis, Sermones 105, 2; 106, 1. Weitere Belege bei Wolfgang Pax, Art. Bittprozession, RAC 2 (1954), 422 – 429, v. a. 428; John F. BalDoVin, the urban character of christian worship. the origins, development, and Meaning of Stational Liturgy, Rom 1987, 234 ff. die Frage des ursprungs christlicher Prozessionen wird in folgenden studien angeschnitten: donatien De Bruyne, l’origine des processions de la chandeleur et des rogations, revue bénédictine 34 (1922), 14 – 26; Pax (wie Anm. 11), 422 – 429; DerS., Art. Circumambulatio, RAC 3 (1957), 143 – 152; BalDoVin, The Urban Character of Christian Worship (wie Anm. 11), v. a. 234 ff.; felBecker, Die Prozession (wie Anm. 10), 30; Ramsey macmullen, christianity and Paganism in the Fourth to Eighth Centuries, New Haven 1997, 39 – 42, 181 – 183. zum sog. „streit um die Basiliken“ siehe v. a. gérard nauroy, le fouet et le miel: le combat d’Ambroise en 386 contre l’arianisme Milanais, Recherches Augustiniennes 23 (1988), 3 – 86; neil B. mclynn, ambrose of milan: church and court in a christian capital, Berkeley ca 1994, v. a. 94 ff.; marion aDriaanS, omnibus rebus ordo: Vorstellungen über die gesellschaftsstruktur im Werk des Bischofs Ambrosius von Mailand, Egelsbach u. a. 1995, 253 – 258; Jesús San BernarDino, Sub imperio discordiae: l’uomo che voleva essere Eliseo (giugno 386), in: nec timeo mori, hg. v. luigi F. rizzolato / marco rizzi, Mailand 1998, 709 – 737; Timothy d. BarneS, Ambrose and the Basilicas of Milan in 385 and 386: The Primary Documents and their Implications, ZaC 4 (2000), 282 – 299; Peter kritzinger, the cult of the saints and religious Processions in late antiquity and the early middle ages, in: an age of saints? Power, Conflicts and Dissent in Early Medieval Christianity, hg. v. Phil Booth u. a., leiden 2011, 36 – 48. eine reihe von erlassen verbot den „Häretikern“ insbesondere aber den arianern den Besitz von Versammlungsräumen v. a. innerhalb der Stadtmauern. Siehe z. B. Codex Theodosianus (CT) (i. J. 380), 16, 5, 4 und Ebd. (i. J. 381), 16, 5, 6, 3. Ambrosius, Epistula (Ambr., ep.) 75° (21a), 1. 29. Zu den Basiliken in Mailand siehe v. a. David kinney, le chiese paleocristiane di mediolanum, in: Il millennio ambrosiano. milano, una capitale da ambrogio ai carolingi, hg. v. carlo Bertelli, Mailand 1987, 53 – 57; Mario miraBella roBerti, architteture paleocristiane a milano, in: milano capitale dell’impero romano 286 – 402 d. C., hg. v. Gemma Sena chieSa, Mailand 1990, 433 – 439; BarneS, ambrose and the Basilicas of Milan in 385 and 386 (wie Anm. 13), 282 ff.; Beat Brenk, Il culto delle reliquie e la politica urbanistico-architettonica di milano ai tempi del vescovo ambrogio, in: ambrogio e Agostino – le sorgenti dell’Europa, hg. v. Paolo PaSini, Mailand 2003, 56 – 60.
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Verweigerung durch ambrosius16. Der exzellente Jurist ließ es sich auch nicht nehmen, den Hof darauf hinzuweisen, dass auch der kaiser seinen eigenen gesetzen folgen möchte: [. . .] leges enim imperator fert, quas primus ipse custodiat17. die situation spitzte sich zu: der Bischof wurde in das consistorium beordert, ganz offensichtlich um ihn einzuschüchtern18. doch nicht der Bischof sollte sich von den folgenden ereignissen beeindruckt zeigen, denn bereits kurze zeit später wurde der Palast von einer aufgebrachten menge belagert, welche die Freilassung (!) des Bischofs forderte19. tatsächlich sah sich die kaiserin genötigt, vor ambrosius und seinen anhängern ihre niederlage einzugestehen und ihn zu bitten, die plebs zu beruhigen. dieser ging auf die Bitte erst ein, nachdem er der kaiserin das Versprechen abgerungen hatte, dass [. . .] basilicam ecclesiae nullus invaderet20. augenscheinlich hatte der Bischof seinen außerordentlichen erfolg dem gewaltbereiten Pöbel zu verdanken, der in mailand fast schon traditionell auf der seite des Bischofs gestanden zu haben scheint. nach der peinlichen niederlage zog sich das kaiserhaus nach aquileia zurück, gab aber den kampf um mailand noch nicht verloren, wie ein erlass vom 28. Januar des Jahres 386 eindrucksvoll belegt: „sollten diese leute, die glauben, sie alleine besäßen das recht, sich zum gottesdienst zu versammeln, gegen unsere Verordnungen weitere Aufstände [!] anzetteln, so sollen sie wissen, dass sie als aufrührer und als störer des kirchlichen Friedens mit ihrem leben als strafe bezahlen werden.“21
schon den zeitgenossen war durchaus bewusst, dass sich dieses gesetz konkret gegen ambrosius und seine methoden wandte22. das gesetz war denn auch maßgeschneidert für die situation in mailand und ermöglichte fortan den arianern, sich in den Besitz einer beliebigen Basilika zu setzen. Justina musste also nicht mehr
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Ambr., ep. 75a (21a), 7. Ambr., ep. 75a (21a), 7. Ambr., ep. 75a (21a), 29 (wie Anm. 20). Bereits der Vorgänger des Ambrosius – Dionysius – hatte die Bevölkerung Mailands gegen den Kaiser aufgebracht, sodass die Synode im Jahr 355 evakuiert werden musste. Ambrosius war ein großer Verehrer seines Vorgängers und dessen taten, sodass sich die Vermutung geradezu aufdrängt, er habe sich von den ereignissen der jüngeren Vergangenheit „inspirieren“ lassen. V. a. Amb., ep.ex.coll. 14(63), 68. Ausf. mclynn, Ambrose of Milan (wie Anm. 13), 209 ff.; kritzinger, the cult of the saints and religious Processions in late antiquity and the early Middle Ages (wie Anm. 13), 38, Anm. 9 f. Ambr., ep. 75a (21a), 29 [. . .] quasi vero superiore anno quando ad palatium sum petitus, cum praesentibus primatibus ante consistorium tractaretur, cum imperator basilicam [aus dem singular wird ersichtlich, dass nur eine kirche gefordert wurde] vellet eripere [. . .]. C. T. (i. J. 386), 16, 1, 4: [. . .] Conveniendi etiam quibus iussimus patescat arbitrium, scituris his, qui sibi tantum existimant colligendi copiam contributam, quod, si turbulentum quippiam contra nostrae tranquillitatis praeceptum faciendum esse temptaverint, ut seditionis auctores pacisque turbatae ecclesiae, etiam maiestatis capite ac sanguine sint supplicia luituri, manente nihilo minus eos supplicio, qui contra hanc dispositionem nostram obreptive aut clanculo supplicare temptaverint. Sozomenos, Historia ecclesiastica (Soz., hist.eccl.) 7, 13, 5.
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um eine weniger angesehene kirche extra muros bitten, sondern konnte eine beliebige kirche einfordern. und tatsächlich verlangte sie nun die Basilika nova / maior (Abb. 1)23. ambrosius waren damit zwar die juristischen argumente genommen, die er im Jahr zuvor nicht ohne Häme angeführt hatte, doch hinderte ihn dies nicht, sich auch der legitimen Forderung zu verweigern24. am 28. märz unterbreitete die kaiserin dem Bischof einen kompromissvorschlag: sie würde auf die Basilika nova verzichten und forderte stattdessen „nur“ die Portiana – erneut vergeblich25. am 29. März (Palmsonntag) bereitete Ambrosius wahrscheinlich in der Basilika Vetera (?) seine Gemeinde auf die Taufe vor, als er erfuhr, dass decani in der Basilika Portiana die kaiserlichen vela anbrachten26. Wie schon im Jahr zuvor setzte sich – wie Ambrosius betont – ohne sein Zutun eine aufgebrachte Menge in Bewegung27. die plebs vertrieb die emissäre aus der Basilika, zerstörte die kaiserlichen Insignien und bedrohte das leben eines arianischen Presbyters, das nur durch das eingreifen des Bischofs gerettet werden konnte28. ambrosius war bemüht, die ungeheuerlichkeit dieser ereignisse herunterzuspielen: Es war der Streich von Kindern!29 gerade an diesem fadenscheinigen Versuch einer rechtfertigung ist deutlich zu erkennen, dass dem Bischof die tragweite dieses Übergriffs wohl bewusst war. und in der tat spricht er an anderer stelle von seditio – Aufstand30. anders formuliert: In mailand herrschte Bürgerkrieg! die anhänger des ambrosius hielten die Basilika Vetus, die Basilika nova und die Basilika Portiana besetzt (Abb. 1). Am 1. April wurden die Basilika Portiana (?) und die Basilika Nova von kaiserlichen Soldaten belagert31. dabei kam es zu Handgreiflichkeiten und Ambrosius fürchtete, es würden Menschen ums Leben kommen, ja die gesamte stadt könnte in Brand gesetzt werden32. In dieser situation 23 24 25 26
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Ambr., ep. 76 (20), 1: Nec iam Portiana, hoc est extramurana, basilica petebatur sed basilica nova, hoc est intramurana, quae maior est. Ambr., ep. 76 (20), 22; 75 (21), 9 – 12. Ausführlich kritzinger, the cult of the saints and religious Processions in Late Antiquity and the Early Middle Ages (wie Anm. 13), 39 f. Ambr., ep. 76 (20), 1 – 3. Ambr., ep. 76 (20), 4. Es war üblich, den Kaiser durch Vorhänge den direkten Blicken zu entziehen. otto treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Darmstadt 1956, 49 ff.; Andreas alfölDi, die monarchische repräsentation im römischen kaiserreiche, darmstadt 21970, 28, 37, 245. entgegen der Behauptung des Bischofs gibt es gewichtige Indizien, denen zufolge ambrosius mit seinen agitationen gegen das kaiserhaus sich ganz bewusst an seinen amtsvorgänger dionysius anlehnte. sowohl die auseinandersetzung zwischen Bischof und kaiser als auch die mittel hatten in Mailand Tradition. Ambr., ep. ex. coll. 7, 4 f.; 14 (63), 68; 74 (40) 6; Ders., ep. 76 (20), 2. 10 und die Lit. unter Anm. 19. Ambr., ep. 76 (20), 22. Ambr., ep. 76 (20), 24. Ambr., ep. 76 (20), 7. Ambr., ep. 76 (20), 11; Paulinus Mediolanensis, Vita Ambrosii (Paul. Med., v. Ambr.) 13, 2. Auch die Basilika Nova war voller Katholiken (ebd. 13), aber sie scheint nicht von kaiserlichen soldaten eingekreist worden zu sein. Ambr., ep. 76 (20), 9. Vgl. ebd., 11. 13. 21; Paul. Med., v. Ambr. 13, 2.
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exkommunizierte der Bischof die kaiserlichen Soldaten33. Unvermittelt – so jedenfalls stellt es Ambrosius in den Briefen an seine Schwester dar – wechselten die soldaten daraufhin die seiten34. so plötzlich wie die dunklen wolken über mailand heraufgezogen waren, so schnell verzogen sie sich auch wieder, denn mit dem seitenwechsel des militärs war der kampf auf leben und tod de facto entschieden. erneut hieß der sieger ambrosius. nach einer erfolgreichen revolte erwartet man gemeinhin einen Herrscherwechsel; so auch die kaiserin, die durch einen Boten fragen ließ, ob ambrosius ein usurpator, ein tyrann sei35. dieser ging auf die Frage nicht ein, stellte zugleich jedoch triumphierend fest, dass gott ihm den sieg geschenkt habe36. nach diesen ereignissen besaßen ambrosius und seine gemeinde in der tat ein non-plus-ultra an realer macht und dennoch kein adäquates mittel ihr öffentlich ausdruck zu verleihen37. II. Just in dieser situation ereilte ambrosius eine Vision. wie augustinus in seinen confessiones berichtet, habe dem Bischof eine stimme befohlen, die gebeine der Heiligen gervasius und Protasius zu suchen, zu bergen und würdig zu begraben38. kurze zeit später, am 17. Juni, fand der Bischof die sterblichen Überreste unbekannter. ohne zu zaudern deklarierte er die gebeine zu gervasius und Protasius39. Die Begründung der Identifizierung der Heiligen ist äußerst dürftig. Ambrosius führte lediglich ins Feld, die Körper seien auffallend groß (mirae magnitudinis)
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Ambr., ep. 76 (20), 13. Auch diese Maßnahme setzte Ambrosius wiederholt ein. Man denke lediglich an die Exkommunikation und anschließende Demütigung Theodosius’ in den Jahren 390/91. Rufinus, Historia Ecclesiastica (Ruf., hist. eccl.) 2, 18; Theodoret, Historia Ecclesiastica (Theod., hist. eccl.) 5, 18. Allg. DemanDt, Die Spätantike (wie Anm. 3), 164. Ambr., ep. 76 (20), 20 – 22. Sein Biograph Paulinus von Mailand berichtet von ominösen Goldzuwendungen aus dem Privateigentum des Bischofs, wobei unklar bleibt, an wen diese gingen. man hat gemutmaßt, die zuwendungen seien an das Volk gegangen. dies dürfte kaum den sachverhalt treffen. wahrscheinlich dürften diese summen wohl eher an hohe magistrate und Militärs geflossen sein. Die guten Verbindungen des Bischofs zu den höchsten Kreisen am Kaiserhof wird von Ambrosius (ep. 76 [20], 7) selbst angedeutet. Zudem spielte das corpus mercatorum eine zwielichtige Rolle. Ambr., ep. 76 (20), 6. Ausführlich v. a. BarneS, ambrose and the Basilicas of Milan in 385 and 386 (wie Anm. 13), 292 ff. Ambr., ep. 76 (20), 22. Dem Bischof wurde auch vorgeworfen, er suchte mächtiger als der Kaiser zu sein. Ambr., ep. 75a (21a), 30; 76 (20), 18. Ambr., ep. 76 (20), 26. zur Bedeutung des ambrosianischen sieges v. a. San BernarDino, Sub imperio discordiae (wie Anm. 13), 719; nauroy, Le fouet et le miel (wie Anm. 13), 69; BarneS, ambrose and the Basilicas of Milan in 385 and 386 (wie Anm. 13), 295 f.; kritzinger, the cult of the saints and Religious Processions in Late Antiquity and the Early Middle Ages (wie Anm. 13), 42. Vgl. das zitat aus Brown, The Cult of the Saints (wie Anm. 5), 40. Augustinus, Confessiones (Aug., conf.) 9, 7, 16. Vgl. Ambr., ep. 77 (22), 10. Gefunden wurden sie in der Gedächtniskapelle der Heiligen Nabor und Felix. Ambr., 77 (22), 10; Aug., conf. 9, 7, 15 f.; Ders., De civitate Dei 22, 8, 2; Paul. Med., v. Ambr. 32, 2 f.
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und es sei bei der Bergung viel Blut vorhanden gewesen40. auch führte er verschiedene wunder an, die durch die reliquien erfolgt seien41. selbst wenn man geneigt ist, die wunder zu akzeptieren, so fehlt doch die erklärung, weshalb es sich bei den wirkmächtigen reliquien um jene der vorgenannten heiligen märtyrer handeln muss. es scheint eine einleuchtende erklärung auch gar nicht nötig gewesen zu sein. offenbar war der wunsch Vater des gedankens und in der Bevölkerung mailands in jenen Tagen weit verbreitet, sodass die Reliquien bereits am folgenden Tag (!) in einer prächtigen translation zu ihrer neuen ruhestätte gebracht werden konnten42. mit dieser denkwürdigen tat brach der Bischof eine ganze reihe von gesetzen43, deren Aktualität durch einen Erlass vom 26. Februar 386 unterstrichen wird: „Niemand soll einen bereits begrabenen körper an einen anderen ort bringen;“ [. . .].44 die fadenscheinige argumentation und auffällige eile, ja geradezu Hektik, mit der ambrosius die gebeine überführte, wurde von wissenschaftlern mit erstaunen zur kenntnis genommen und unterschiedlich gedeutet45. In der tat stellt sich die Frage, was wohl der grund für ambrosius’ Handlungsweise gewesen sein mag. Für eine antwort muss zunächst der formale ablauf der zeremonie rekonstruiert werden. Zwar existiert keine exakte literarische Beschreibung der Reliquienüberführung, doch lässt sich der ablauf der zeremonie vor allem anhand der berühmten trierer elfenbeinplatte rekonstruieren46. der schnitzer wollte offensichtlich ein konkretes ereignis abbilden, was u. a. die arbeiter an der kirche oder die auffällige
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Ambr., ep. 77 (22), 2. Ausf. zum Reliquienkult Friedrich PfiSter, der reliquienkult im altertum, Gießen, 1909 – 1912; v. a. Bd. 2, 507 f.; Hippolyte Delehaye, les origines du culte des martyrs, Brüssel 21933, 50 ff. Bernhard kötting, der frühchristliche reliquienkult und die Bestattung im kirchengebäude, in: ecclesia peregrinans. das gottesvolk unterwegs, hg. v. DemS., Münster 1988, Bd. 2, 90 – 119; v. a. 98 ff. Ambr., Hymni (hymn.) 13, 15 – 24. ausführlich kritzinger, the cult of the saints and religious Processions in late antiquity and the Early Middle Ages (wie Anm. 13), 43 ff. Z. B.: C. T. (i. J. 357), 9, 17, 4; C. T. (i. J. 363), 9, 17, 5, 1. Weitere Belege bei kötting, der frühchristliche Reliquienkult und die Bestattung im Kirchengebäude (wie Anm. 40), 93 – 95. C. T. (i. J. 386), 9, 17, 7. so hat bspw. kötting, der frühchristliche reliquienkult und die Bestattung im kirchengebäude (wie Anm. 40), 103 die Vermutung geäußert, Ambrosius habe als Beamter das Recht besessen, gräber öffnen zu lassen. dieses habe er sich auch als Bischof nicht nehmen lassen. diese spekulation kann im allgemeinen Kontext römischen Rechts nicht überzeugen. Vgl. C. T. (i. J. 349), 9, 17, 2. tatsache ist, dass andere Bischöfe bei translationen um erlaubnis baten, wie bspw. Exuperius von Toulouse rund zwei Jahrzehnte später. Ausf. Delehaye, les origines du culte des martyrs (wie Anm. 40), 67, 75 – 91; Martin heinzelmann, translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes, Turnhout 1979, v. a. 20 – 42. die literatur zu diesem kunstwerk ist legion. siehe v. a. wolfgang F. VolBach, elfenbeinarbeiten, 31976, 95 f., n.143; Suzanne SPain, the translation of relics Ivory, trier, dumbarton oaks papers (DOP) 31 (1977), 304; Winfried weBer, die reliquienprozession auf der elfenbeintafel des Trierer Domschatzes und das kaiserliche Hofzeremoniell, Trierer Zeitschrift 42 (1979), 135 – 153; Kenneth G. holum / gary Vikan, the trier Ivory, adventus ceremonial, and the Relics of St. Stephen, DOP 33 (1979), 115 – 133. Wenig überzeugend die Erklärung von Hedwig röckelein, Art. Translatio, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 35 (2007), 221.
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Architektur im Hintergrund belegen (Abb. 2)47. Daneben finden sich aber auch eine reihe stereotyper Bildelemente. ganz links sind Bischöfe mit einem reliquienkästchen auf einem plaustrum dargestellt; direkt vor ihnen geht der kaiser zu Fuß einher, wobei er eine kerze trägt; ihm folgen weitere weltliche würdenträger, ebenfalls mit kerzen ausgestattet. empfangen wird die pompa von der kaiserin, die ein kreuz in Händen hält, wobei der zug von einer großen menge von zuschauern gesäumt wird. In der obersten Bogenreihe der auffälligen Architektur – m. E. handelt es sich um einen Circus – sind Kleriker zu erkennen, die in der einen Hand Weihrauchfässer schwingen, während sie die andere an ihr ohr halten. diese auffällige Pose wurde von alfred Hermann überzeugend als sing- bzw. akklamationsgestus erklärt48. offensichtlich hatte der klerus die aufgabe, die gesänge des plebs durch die antiphone zu führen. dem talentierten künstler ist es gelungen, auf wenigen Quadratzentimetern Darstellungsfläche einen klassischen antiken Triumphzug in all seinen Facetten zu charakterisieren49. Freilich: verchristlicht und sakralisiert, doch äußerlich – bis auf einen zentralen Aspekt – unverändert. Der Wagen, die vorausgehenden Honoratioren mit kerzen, die akklamierende menge am straßenrand, die kaiserliche familia, die die Akklamationen lenkt, ja selbst der Tempel als Ziel der Prozession finden sich bei diesem christlichen „triumphzug“ wieder50. allerdings wird der ehrenplatz auf dem wagen nun von den reliquien eingenommen, wohingegen der kaiser zu Fuß als einer von vielen würdenträgern voranschreitet. augenscheinlich wurde die äußere Form des Zeremoniells beibehalten und damit – zumindest bei unbewusster Betrachtung – auch die Aussage, allerdings erfolgte die Prozession eben nicht mehr zu Ehren des militärisch erfolgreichen Kaisers respektive – im Falle eines Advents – aufgrund eines Besuchs. Vielmehr stellten die Gebeine der sieghaften Märtyrer das epizentrum der choreographie dar. Überraschend ist dabei, dass dem kaiser in der Verteilung der hierarchisch klar definierten Positionen nicht – wie man wohl erwarten dürfte – wenigstens der zweite Rang zuerkannt wurde. Diesen nahm als religiöser Führer geradezu selbstverständlich der Bischof ein. Hält man sich zudem vor augen, dass die gesamte res publica zeuge der symbolhaften degradierung des kaisers war, so lässt sich die tragweite dieser Veränderung erahnen. 47
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dessen ungeachtet ist eine überzeugende zuweisung zu einer literarisch belegten reliquienüberführung nicht (!) gelungen. Genauso der jüngste Versuch mit Verweis auf älterer Lit.: Edina Bozoky, la politique des reliques de constantin à saint louis protection collective et légitimation du pouvoir, Paris 2006, 89 ff. alfred hermann, Mit der Hand singen, Jahrbuch für Antike und Christentum 1 (1958), 105 – 108. zur semantik des antiken triumphes sowie seiner späteren entwicklung siehe v. a. alfölDi, die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche (wie Anm. 26), 93, 95, 144, 151; maccormack, Art and Ceremony in Late Antiquity (wie Anm. 10), 17 – 61 (bes. zum Advent); Ernst künzl, Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom, München 1988, v. a. 134 – 140. zu den akklamationen treitinger, die oströmische kaiser- und reichsidee nach ihrer gestaltung im höfischen Zeremoniell (wie Anm. 26), 71 ff.; alfölDi, die monarchische repräsentation im römischen Kaiserreiche (wie Anm. 26), 79 – 84; künzl, Der römische Triumph (wie Anm. 49), 88. Zum Ziel felBecker, Die Prozession (wie Anm. 10), 157 f.
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dass die choreographie einer solchen zeremonie aus sicht des ambrosius bestens geeignet war, den sieg seiner gemeinde in der auseinandersetzung mit dem kaiserhaus in den Jahren 385/86 vor den Augen der gesamten civitas zu feiern, klingt vor dem Hintergrund der eben skizzierten ereignisse äußerst plausibel. da jedoch die datierung des Reliefs umstritten bleibt – es herrscht heute immerhin Einigkeit, dass das Kunstwerk nicht vor dem 5. Jahrhundert entstanden sein kann – muss auch die Frage offen bleiben, ob sich die formale Gestaltung der Reliquienüberführung im Jahr 386 bereits am antiken triumphzug orientiert hat51. Folglich lässt sich über den ablauf der Prozession in Mailand (noch) keine zuverlässige Aussage treffen. Dieser durchaus berechtigte einwand lässt sich jedoch durch einen Hymnus aus der Feder des ambrosius weitgehend entschärfen52. gegenstand des liedes ist die reliquientranslation der Heiligen Victor, Felix und Nabor. Die Zeremonie wird von Ambrosius in der letzten Strophe des Hymnus folgendermaßen charakterisiert (das Versmaß bleibt von der Übersetzung unberücksichtigt): „Die heiligen Opfer wurden auf Viergespannen geraubt, doch im angesicht der kaiser auf einem wagen in triumphaler weise zurückgebracht.“53 genauso prägnant wie der elfenbeinschnitzer stellt ambrosius die Verbindung zwischen reliquientranslation und antikem triumph her, was kaum als zufall abgetan werden kann54. damit ist die formale gestaltung der reliquienüberführung in mailand im Jahr 386 geklärt: sie entsprach aller Wahrscheinlichkeit nach dem antiken Triumph. es ist davon auszugehen, dass dem mailänder Bischof die zweideutige semantik der zeremonie durchaus klar war. mit Hilfe der reliquien war es ihm möglich, den politischen und auch militärischen erfolg durch einen regelrechten triumphzug durch seine (!) Stadt zu krönen. Denn obwohl die Prozession zu Ehren der frisch aufgefundenen märtyrer stattfand, befand sich doch auch seine Person im zentrum des Ereignisses. Man darf wohl annehmen, dass er sich – genau wie die Bischöfe der Trierer Elfenbeinplatte – mit den Reliquien auf dem plaustrum befand und somit realiter im Fokus der aufmerksamkeit stand und jedenfalls den ersten rang unter den zeitzeugen einnahm. die zeremonie ermöglichte ambrosius somit, einen triumphzug zu feiern, zugleich aber soweit im schatten der reliquien zu bleiben, dass er dem gebot christilicher humilitas genügte, um nicht erneut dem Vorwurf der usurpation ausgesetzt zu werden. Vor diesem Hintergrund gewinnen die etwas kryptischen Beschreibungen der ereignisse in den confessiones augustins klare konturen: 51
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Die Datierungsvorschläge schwanken vom späten 4. Jh. (so bspw. Volbach [wie Anm. 46], 95 f.) bis hin zum 6. – 7. Jh. (so bspw. Richard DelBrueck, die consulardiptychen und verwandte denkmäler, Berlin / leipzig 1929, Bd. 1, 269; nr. 67; SPain, the translation of relics Ivory (wie Anm. 46), v. a. 293. ambr., hymn. 12. Ambr., hymn. 12, 29 – 33: Sed reddiderunt hostias / rapti quadrigis, corpora, / revecti in ora principum / plaustri triumphalis modo. ob bzw. inwieweit die Beschreibung des ambrosius als historisch zuverlässiger Bericht betrachtet werden kann, muss offen bleiben. geht man davon aus, dass die Beschreibung keine Projektion eigener erfahrungen auf die Vergangenheit ist, dann wäre bereits die Überführung der Gebeine der hll. Victor, Felix und Nabor einem antiken Triumph entsprechend gestaltet worden. Dazu unten S. 32 und v. a. Anm. 62.
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„damals hast du deinem bereits erwähnten Bischof durch eine Vision gezeigt, wo die leiber deiner heiligen märtyrer gervasius und Protasius lagen; lange Jahre hattest du sie unversehrt in deinem geheimnisvollen schatzhause aufbewahrt, um sie zur rechten zeit hervorzuheben und dadurch die wut eines weibes, mochte es auch eine kaiserin sein, zu bändigen.“55
die andeutungen augustinus’ werden durch die eben rekonstruierten ereignisse bestens verständlich. durch die symbolträchtige Überführung der reliquien wurde die wut der kaiserin öffentlich als leere drohung hingestellt und gebändigt. gerade diese gewünschten (Neben-)Effekte der Translation dürften Ambrosius dazu bewegt haben, die reliquien auch gegen bestehende gesetze in einer prächtigen Prozession zu überführen. III. Dass dieses Ereignis nicht – wie man vielleicht meinen könnte – einem aus der Situation geborenen Impuls geschuldet war, belegen anderweitig von ambrosius überlieferte äußerungen. nach der unerschütterlichen Überzeugung des Bischofs waren alle gläubigen in der kirche unabhängig von stand und würde gleich56. und auch der kaiser befand sich in der kirche und stand nicht etwa über ihr: Imperator enim intra ecclesiam non supra ecclesiam est57. dieses credo stand auch bei den berühmt gewordenen auseinandersetzungen mit kaiser theodosius latent zur diskussion58. das heißt freilich nicht, dass die Kirche nach dem (Selbst-)Verständnis des Ambrosius bar jeglicher Hierarchie gewesen wäre. An ihrer Spitze stand wie selbstverständlich der Bischof! seine auffassung erhob er sinnbildlich durch eine änderung der messordnung zu allgemeiner gültigkeit: „es war üblich, dass die kaiser im altarraum am gottesdienst teilnahmen, durch den herausgehobenen Platz von der gemeinde getrennt. ambrosius aber, der darin einen ausdruck von unterwürfigkeit und Unordnung sah, bestimmte als Platz des Kaisers in den Kirchen den Raum vor den schranken des altarraums, so dass der Herrscher den ersten Platz in der gemeinde einnahm, vor ihm aber die Priester saßen.“59
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Vermutung auf, dass auch die reliquientranslation im Jahr 386 nicht nur aus dem Augenblick heraus entstanden war. 55
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Aug., conf. 9, 7, 15: Tunc memorato antistiti tuo per visum aperuisti, quo loco laterent martyrum corpora Protasii et Gervasii, quae per tot annos incorrupta in thesauro secreti tui reconderas, unde opportune promeres ad coercendam rabiem femineam, sed regiam. Vgl. Paul. med., v. Ambr. 33, 1. Siehe etwa Ambr., Expositio psalmi 118; Ders., serm. 15, 32. Vgl. aDriaanS, (wie Anm. 13), 88 f. Ambr., ep. 75a (21a), 36. Allg. aDriaanS, Omnibus rebus ordo (wie Anm. 13), 257 ff. Als 388 in Kallinikon eine Synagoge niedergebrannt wurde (möglicherweise auf Anstiften des Ambrosius) und Theodosius die Schuldigen bestrafen wollte, erklärte Ambrosius dies als eingriff in kirchliche angelegenheiten und nötigte in bereits bekannter manier den kaiser zur rücknahme der Bestrafungen. Paul. med., v. ambr. 22 f.; ambr., ep. 40, 6 ff. zum sog. „Bußakt“ des Theodosius siehe oben Anm. 33. Allg. zu den Ereignissen DemanDt, Die Spätantike (wie Anm. 3), 163 f. Soz., hist. eccl. 7, 25, 9. Vgl. Theod., hist. eccl. 5, 18, 20 – 24.
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Vielmehr muss man sie wohl als weiteren, bildhaften ausdruck eines prinzipiellen Verständnisses des mailänder Bischofs begreifen: In religiösen Belangen (intra ecclesiam) ist der Kaiser dem Bischof untergeordnet! In den vielen Auseinandersetzungen mit den Kaisern Gratian, Valentinian II., Maximian und Theodosius ging es immer auch um die Frage der obersten autorität in der kirche, die ambrosius für den episkopat systematisch verteidigte. reliquientranslationen als ausdrucksmöglichkeit der emanzipation des episkopats aus der Vormundschaft des kaisers hatten jedoch einen gravierenden nachteil. wie schon antike triumphzüge, so stellten auch die reliquientranslationen kein regelmäßig wiederkehrendes Ritual dar, sondern waren an sporadische Ereignisse – konkret: das Auffinden sakraler Objekte – geknüpft. Ambrosius fand eine geradezu enorme Anzahl von reliquien, was bereits das erstaunen und die Bewunderung der zeitgenossen geweckt hat60. Jedenfalls ergab sich zumindest für ihn immer wieder die möglichkeit, sich den christlichen gemeinden als episcopus triumphans zu präsentieren und somit sein Verständnis der subordination weltlicher autoritäten in religiösen Belangen unter den klerus performativ zu inszenieren. allein schon aufgrund der schieren anzahl neuer reliquienfunde änderte sich mit ambrosius der charakter des reliquienwesens. Betrachtet man die bis zu diesem zeitpunkt erfolgten reliquienüberführungen, so lässt sich darüber hinaus (zumindest) eine weitere prinzipielle Veränderung beobachten. gemeinhin wird angenommen, die ersten reliquientranslationen seien mitte des 4. Jahrhunderts im osten des Imperium romanum erfolgt61. dabei wird jedoch die durch Ambrosius erwähnte Translation der Heiligen Victor, Nabor und Felix übersehen, die wohl in das Jahr 324 (jedenfalls aber in die Zeit des Bischof Maternus: 316 – 328) zu datieren sein dürfte62. die nächste überlieferte Überführung eines Heiligen erfolgte im Jahr 341 (oder 354 [?]) von Antiochia nach Daphne63. wahrscheinlich im Jahr 356 (denkbar auch 336) wurden die sterblichen Überreste des Heiligen 60
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Siehe v. a. Ambr., Exhortatio virginitatis 1, 1 – 2; Gaudentius Brixiensis, Sermones 17; Paul. Med., v. Ambr. 29, 1; Paulinus Nolanus, Carmen 27, 403 – 39; Ders., ep. 32, 17; Pseudo-Hieronymus, Epistula 6, 11; Victricius, De laude sanctorum (Vict., laud. Sanct.) 6, 35; Gregorius Turonensis, Historiae (Greg. Tur., hist.) 10, 31; Sidonius Apollinaris Epistulae (Sid. Ap., ep.) 7, 1, 7. Allg. mit weiteren Belegen: Delehaye, Les origines du culte des martyrs (wie Anm. 40), 75 – 80; Eugen ewig, Die Kathedralpatrozinien im römischen und im fränkischen Gallien, HJb 79 (1960), 55 – 59; mclynn, Ambrose of Milan (wie Anm. 13), 284 f. (spricht a. O. sogar von: „marketing strategy“). z. B. kötting, Der frühchristliche Reliquienkult und die Bestattung im Kirchengebäude (wie Anm. 40), 99: „Die erste Translation, von der uns berichtet wird, wurde im Jahre 354 vorgenommen, [. . .].“ ähnlicher auffassung schon PfiSter, Der Reliquienkult im Altertum (wie Anm. 40), Bd. 2, 429 ff. Heinrich fichtenau (Zum Reliquienwesen im frühen Mittelalter, MIÖG 60 (1952, 88) führt den „Ursprung aller späteren Translationen von Heiligen“ auf Konstantin d. Gr. zurück. Ambr., hymn. 12 (11); Ambr., Expositio evangelii secundum Lucam 7, 178; Paul. Med., v. Ambr. 14, 1; Vgl.: Prudentius, Peristephano bes.: 4, 130 – 135. Mein Datierungsvorschlag resultiert aus der Erwähnung mehrerer Kaiser (ora principum), die zum fraglichen Zeitpunkt in Mailand anwesend sein mussten. Soz., hist. eccl. 5, 19, 12; Chrysostomos, Panegyricus in Babylam martyrem (Chrys., Babyl.) 67 – 69, 75 – 86; Philostorgius, Historia Ecclesiastica 7, 8a; Zonaras 13, 12, 39 – 40. Vgl. Eus., hist. eccl. 6, 29, 4; 39, 4; Julian, Misopogon (Jul., misop.) v. a. 15, 346 B. Dazu kötting, der frühchristliche Reliquienkult und die Bestattung im Kirchengebäude (wie Anm. 40), 99 f.
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timotheus nach constantinopel überführt64. Im folgenden Jahr wurden die Heiligen andreas und lukas wiederum nach constantinopel gebracht65. Im Jahr 362 wurde der Heiligen Babylas von daphne nach antiochia rücküberführt66. an diese translationen schließen sich jene des ambrosius chronologisch an. dabei fällt auf, dass die translationen vor ambrosius nahezu ausnahmslos den gesamten körper des jeweiligen Heiligen überführten67. erst mit ambrosius wurden auch nur Partikel der Heiligen überführt68. damit änderten die translationen in grundlegender weise ihren Charakter, da sie nun augenscheinlich nicht mehr aus Gründen der Pietät – also Rettung sterblicher Überreste vor Beschädigung o. ä. –, sondern wegen der Verteilung der wirkmächtigen Fragmente erfolgten69. auf diese weise war es ambrosius möglich, Partikel seiner reliquien an unzählige befreundete Bischöfe in gallien, Italien, spanien und africa zu verteilen70. gaudentius von Brescia, chromatius von aquileia, Vigilius von trient, Paulinus von nola, sulpicius severus, Victricius von rouen und augustinus sind hiervon nur die bekanntesten namen. mit den reliquien wurde aber auch das ritual in all seiner Pracht verbreitet, was unter anderen Victricius von rouen in seiner schrift de laude sanctorum aus dem Jahr 396 belegt71. Die Überbringer der Reliquien aus Mailand – Theodulus, Eustachius und Catio – erwarteten Victricius eine gute Strecke vor den stadtmauern72, von wo aus sie einen Boten voraussandten, offensichtlich um dem Bischof die organisation des feierlichen advents zu ermöglichen. 64 65 66
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Chronicon Paschale (Chron. Pasch.), a. a. 356; Constitutum Constantini (Cons. Const.), a. a. 357. Paulinus Nolanus (carm. 19, 336 ff.) schreibt die Translation zwar Constantin d. Gr. zu, doch ist die angabe wenig verlässlich und mit Problemen behaftet. Chron. Pasch., a. a. 357; Cons. Const., a. a. 357. Siehe auch: Theod., hist. eccl. 3, 19, 4. Vgl. Hier., c.Vig. 5. Soz. hist. eccl. 5, 19, 17 – 19. v. a. 18; Jul., misop. 361d – 62d; Chrys., Babyl. 73, 80, passim; Soc., hist.eccl. 3, 18, 2; 19, 6 – 9; Soz., hist. eccl.; Ruf., hist. eccl. 10, 35 – 37; Theod., hist. eccl. 3, 10, 3; 19, 1 – 6. Vgl. Libanios, Orationes 110, 5; Ammianus 22, 12, 8; 13, 2; Gregorius Nazianzenus, Contra Julianum 1, 25; or. 5, 32; Evagrius, Historia ecclesiastica 1, 16. reliquienpartikel wurden schon vor der zeit des ambrosius verehrt. Berühmt ist das „kultvergehen“ der Lucilla in Nordafrika um das Jahr 310, die Knochenteile eines Märtyrers bei sich trug. Aber in allen bekannten Fällen werden die Reliquien eben nicht (!) in einer aufwendigen zeremonie überführt. opt., hist. 1, 16. ausführlich Franz J. Dölger, das kultvergehen der Donatistin Lucilla von Karthago, AC 3 (1932), 245 – 252. PfiSter, Der Reliquienkult im Altertum (wie Anm. 40), Bd. 2, 430 – 432 führt die Praxis der Partikelverteilung summarisch und nicht stichhaltig auf den „orient“ zurück. ähnlich bereits david g. hunter, Vigilantius of calagurris and Victricius of rouen: ascetics, Relics, and Clerics in Late Roman Gaul, JECS 7/3 (1999), 401 – 430; hier: 423. ausf. Delehaye, Les origines du culte des martyrs (wie Anm. 40) 260 – 403. Vict., laud. Sanct. v. a. 2 – 3. Ausf. Prinz, Herrschaftsformen der kirche vom ausgang der spätantike bis zum Ende der Karolingerzeit (wie Anm. 1), 13 f.; Nikolaus guSSone, adventus-zeremoniell und Translation von Reliquien, FrMASt 10 (1967), 125 – 133; Gillian clark, Victricius of Rouen: Praising the Saints, Journal of Early, Christian Studies 7/3 (1999), 365 – 399. Die Angabe, Victricius (laud. Sanct. 1, 30) habe die Überbringer am vierzigsten Meilenstein (i. e. rund 90 km [!] vor der Stadt) getroffen, scheint mir gänzlich unplausibel. Vgl. aber maccormack, Art and Ceremony in Late Antiquity (wie Anm. 10), 21; clark, Victricius of Rouen (wie Anm. 71), 377.
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die gesamte gemeinde eilte daraufhin, nach sozialen gruppen geordnet, den reliquien entgegen und holte sie in einem prächtigen zug in die stadt ein, wobei die Parallelen zum antiken advent auf der Hand liegen73. zwar betonte Victricius den unterschied zum weltlichen triumphzug, doch allein schon der Vergleich mit dem triumph ergab sich ja nicht von ungefähr74. zudem verfolgte der Bischof mit der Betonung des unterschieds offenbar ein konkretes argumentatives ziel. auf diese weise konnte er nämlich für sich, seine gemeinde und den introitus der reliquien das Ideal der humilitas Christiana verbuchen75. wenn Victricius aber dennoch das ereignis mit Begriffen „triumph“ und „advent“ belegt, wiegt dies m. e. weit schwerer als die gegenteilige Behauptung76. denn diese Begriffswahl kann nur der Tatsache geschuldet sein, dass sich kein treffenderer Begriff finden ließ. Man kann also mit gutem grund davon ausgehen, dass auch in rouen der advent der mailänder reliquien mit einer Prozession gefeiert wurde, deren Form dem antiken triumph entsprach. die Vermutung, dass auch all die anderen empfänger mailänder reliquienfragmenten den empfang in dieser weise gestalteten, ist wohl nicht allzu weit hergeholt. die Verbreitung des pompösen zeremoniells für die reliquienüberführungen belegen auch die stimmen der kritiker. Hier ist an erster stelle Vigilantius von calagurris zu nennen, ein spanischer kleriker aus dem späten 4. Jahrhundert77, dessen massive kritik an der Pracht der reliquienverehrung leider nur bruchstückhaft in den äußerst polemischen repliken des Hieronymus überliefert ist: „wir sehen, wie unter dem Vorwand der gottesverehrung beinahe heidnische gebräuche in die kirche eingeführt werden. während die sonne noch leuchtet, werden ganze massen von kerzen angezündet. usw. usf.“78 es ist unschwer zu erkennen, dass mit den „heidnischen gebräuchen“ auf eben den triumph oder advent angespielt wird79. offenbar erkannten Vigilantius und Hieronymus gleichermaßen die semantische abhängigkeit der reliquientranslation vom antiken triumph und wahrscheinlich dürfte der zusammenhang allgemein erkannt worden sein. dafür spricht, dass diese ereignisse überregionales Interesse weckten, was von Paulinus nolanus expressis verbis bezeugt wird80. 73
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Vict., laud. Sanct. 2, 11 f.; 3, 29 f.; 5, 9. Wenig überzeugend dagegen JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in gallien zwischen ‚antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 694 – 698. Zur formalen Angleichung von Triumph und Advent in der spätantike siehe alfölDi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche (wie Anm. 26), 93; maccormack, Art and Ceremony in Late Antiquity (wie Anm. 10), 39 – 45. dies betont v. a. JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), v. a. 394 f. Vict., laud. Sanct. 3, 29 ff. Vict., laud. Sanct. 12, 15 – 25. allg. zu Vigilantius v. a. hunter, Vigilantius of Calagurris and Victricius of Rouen (wie Anm. 69), v. a. 404 – 410. Hier., c. Vig. 4, 24. Vgl. alfölDi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche (wie in Anm. 26), 91 – 93. Paul. Nol., ep. 18, 5.
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Vom selben Paulinus werden Victricius aber auch eine große anzahl von Gegnern (multitudine adversantium) attestiert, wobei der Streitpunkt im Dunkeln bleibt81. der wohl wahrscheinlichste casus belli erschließt sich jedoch vor dem Hintergrund der kritik des Vigilantius an der reliquienverehrung und dem ruf des Victricius als großem Verehrer von reliquien geradezu von selbst. wie david Hunter m. e. überzeugend dargelegt hat, dürfte in der tat zunächst eine beträchtliche anzahl vor allem der gallischen Bischöfe Vigilantius’ kritik geteilt haben82. dass sich von all diesen kritikern keine schriften erhalten haben, wird wohl einzig daran liegen, dass die Fraktion in der streitfrage letztlich unterlag. Ihre Position kann heute nur mehr aus dem widerhall in den schriften sowie den Vorwürfen ihrer gegner schemenhaft erkannt werden. Aus den Vorwürfen der siegreichen Partei – als wichtige Vertreter sind unter anderen zu nennen: die Päpste siricius und Innozenz, die Intelektuellen Hieronymus, sulpicius severus, Paulinus von nola und natürlich in besonderer weise Ambrosius – ist zu entnehmen, dass sie dem Kaiser nahegestanden, dass sie edle kleider und schnelle Pferde besessen, dass sie schöne Frauen und Jünglinge geliebt und dass sie prächtige Paläste bewohnt hätten83. anders formuliert: diese gruppe von klerikern verhielt sich wie antike aristokraten84. Ja, sie stand und sah sich wohl auch in der tradition römischer aristokratie. dabei ist unwichtig, ob die einzelnen Vertreter sich realiter auch tatsächlich auf „alten römischen (Reichs-) Adel“ oder lediglich munizipale Führungsschicht zurückführen konnten85. es zählt vielmehr das ideelle und geistige Herkommen. gewissermaßen als schatten einer alles überstrahlenden literarisch erfolgreichen gruppierung zeichnet sich in den erwähnten Polemiken eine opposition ab, die in direkter antithese zum prinzipiellen selbstverständnis des ambrosius gestanden zu haben scheint. diese „konservative Partei“ scheint sich auch als kleriker bewusst in die tradition römischer Lebensweise gestellt zu haben. Der krasse Konflikt zwischen Bischof und kaiser, wie er sich für ambrosius immer wieder ergeben hat, war für diese gruppe offenbar kein ernster streitpunkt. Für die zeitgenossen um den Vordenker ambrosius war dies undenkbar, weshalb sie einen neuen typ Bischof zu etablieren suchten, der sich richtungsweisend in der vita Martini beschrieben
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Paul. Nol., ep. 37, 4. Gemeinhin wird angenommen, dass sich die Auseinandersetzung an Glaubensfragen entzündet habe. etwa ralph w. mathiSen, ecclesiastical Factionalism and religious Controversy in Fifth-Century Gaul, Washington 1989, 44 – 48. hunter, Vigilantius of Calagurris and Victricius of Rouen (wie Anm. 69), v. a. 403 f., 410 ff., 417. ähnlich bereits mathiSen, ecclesiastical Factionalism and religious controversy in FifthCentury Gaul (wie Anm. 81), v. a. 20 – 22. ausführlich hunter, Vigilantius of Calagurris and Victricius of Rouen (wie Anm. 69), v. a. 422 ff. In diesem sinn auch hunter, Vigilantius of Calagurris and Victricius of Rouen (wie Anm. 69), 404: „rather than see Vigilantius as a proto-Protestant maintaining a lonely resistance to catholic superstition, I will suggest that he was a conservative spokesman for more traditional forms of authority and community in late antique gaul.“ Vgl. PatzolD, Zur Sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 1), v. a. 121 – 126.
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findet86. die wahl martins zum Bischof wurde von den gegnern mit Hinweis auf seine armseligen Kleider, sein ungepflegtes Haar, sein unansehnliches Äußeres, kurz: seine unwürdigkeit abgelehnt87. severus antwortet auf diese Vorwürfe, gerade deshalb sei martin der würdigste für das Bischofsamt88. dass die argumente vorgeschoben wirken, wurde bereits wiederholt betont. Hintergründig scheint es dem autor vielmehr darum gegangen zu sein, ein dem traditionellen staatlichen antithetisch entgegengestelltes, klerikales werte- und rangsystem zu präsentieren. Eine bemerkenswerte Bestätigung findet diese Deutung durch die kaiserliche gesetzgebung. aus dem Jahr 416 hat sich ein erlass folgenden Inhalts erhalten: „wir befehlen, dass niemandem erlaubt sei, lange Haare zu tragen, niemandem – auch keinem Sklaven – soll es erlaubt sein, Kleider aus Fellen zu benutzen [. . .].“89 man hat meist angenommen, der erlass habe sich ausnahmslos gegen Barbaren gerichtet. wie jedoch jüngste studien gezeigt haben, lassen sich auch die asketen mit diesen äußeren merkmalen charakterisieren90. Überhaupt scheint der unterschied zwischen Barbar und asket aus der Perspektive römischer wertevorstellung bestenfalls ein marginaler gewesen zu sein. Vor diesem Hintergrund kann der erlass des Honorius aus dem Jahr 416 durchaus als reaktion gegen ein christlich-semiologisches, dem weltlichen cursus honorum zusehends antithetisch entgegengestellten konzept begriffen werden. das ziel der „reaktionären“ christen um ambrosius war die etablierung einer von der weltlichen rangfolge gänzlich autarken kirchlichen Hierarchie. und es liegt auf der Hand, dass man zur Verwirklichung dieses ziels einer neuen, eigenständigen
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man muss sich beständig die diskrepanz zwischen dem asketischen Bischof martin und dem reichen adeligen sulpicius severus vor augen führen, aus der heraus letztlich die vita Martini hervorgegangen ist. die charakterisierung und bis zu einem teil auch Fiktion des hl. martin stammt von einem mann, der seine aristokratische gesinnung zu keinem zeitpunkt aufgegeben hat. dazu zuletzt timothy d. BarneS, early christian Hagiography and roman History, tübingen 2010, 201 ff., 208 ff. (mit ausf. Besprechung und Kritik der wiss. Lit.). Ähnlich verhält es sich bei Paulinus von Nola und „seinem“ hl. Felix. Siehe Sigrid mratSchek, der Briefwechsel des Paulinus von nola. kommunikation und soziale kontakte zwischen christlichen Intellektuellen, Göttingen 2002, v. a. 140 – 182. Sulp. Sev., v. Mart. 9, 3: Pauci tamen, et nonnulli ex episcopis [. . .] repugnabant (i. e. hl. Martin), dicentes [. . .] indignum esse episcopatu hominem vultu despictabilem, veste sordidum, crine deformen. zu der stelle JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 702. Sulp. Sev., v. Mart. 9, 3. C. T. (i. J. 416), 10, 4: Maiores crines, indumenta pellium etiam in servis intra urbem sacratissimam praecipimus inhiberi, nec quisquam posthac impune hunc habitum poterit usurpare. [. . .] Quod innotescere non solum intra urbem protinus, verum etiam in vicinis regionibus non licere sancimus. Vgl. die Vorwürfe gegen den hl. martin unter anm. 87. Vgl. zur kleidergesetzgebund der Jahre 397 – 416: Javier arce, Dress Controll in Late Antiquity: Codex Theodosianus 14.10.1 – 4, in: Kleidung und Repräsentation in Antike und Mittelalter, hg. v. Ansgar köB / Peter rieDel, München 2005, 33 – 44. götz hartmann, ‚ein alter mann aus Fellen.‘ der christliche wundertäter der spätantike und sein kostüm, in: kleidung und repräsentation in antike und mittelalter, hg. v. ansgar köB / Peter rieDel (wie Anm. 89), 63 – 70.
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zeichensprache bedurfte. auch dass diese nahezu zwingend im kontrast zur antiken semiologie entwickelt werden musste, muss nicht weiter betont werden91. Ironischerweise führte gerade die Bemühung, sich von den antiken werten und zeichen abzuheben dazu, dass der christliche werte- und zeichenkanon in nachhaltiger weise selbst bis auf den heutigen tag in der antike verwurzelt blieb. dies hat in der wissenschaft dazu geführt, dass man die Veränderungen im reliquienkult nicht dem spiritus rector ambrosius zuschrieb, sondern dem kaiser92. IV. Der latente Konflikt um Macht und Symbole lässt sich auch in der Folgezeit an der Entwicklung christlicher Prozessionen exemplarisch verfolgen. Dem Episkopat eröffneten sich vielerorts neue Verpflichtungen, zum Teil aber auch einzigartige möglichkeiten. Bischöfe kümmerten sich um den Bau von stadtmauern und wasserleitungen, kauften gefangene frei oder betätigten sich als kriegsherren93. die rolle des Bischofs in einer civitas konnte häufig sehr frei interpretiert werden, sodass Konflikte mit den weltlichen Granden geradezu unausweichlich waren94. dabei muss freilich auch der episkopat dem adel zugerechnet werden, obwohl das amt zu keinem zeitpunkt teil des cursus honorum darstellte95. Vor diesem Hintergrund verliert der gegensatz von nobilität versus asketentum für den episkopat die ihm in der wissenschaft zugewiesene dominierende Bedeutung96. und doch scheint der
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Vgl. lediglich die Bemühungen des Victricius von Rouen (laud. Sanct. 2. 3. 12) sich einerseits vom triumph zu distanzieren und andererseits doch gleichzeitig formal das antike zeremoniell zu adaptieren. heinzelmann, Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (wie Anm. 45), 35. Ihm folgt u. a. sabine maccormack, change and continuity in late antiquity, Historia 21 (1972), 721 – 752. In der Vergangenheit wurde viel über die Herkunft v. a. des gallischen episkopats geschrieben. die ohnehin nur in ausnahmefällen feststellbare Provenienz der Bischöfe ist m. e. von verhältnismäßig geringer Bedeutung. denn mit dem niedergang des Imperium romanum musste der römische „Reichsadel“ zunehmend zu antiquierter Begrifflichkeit verkommen, während die neue adelsschicht sich aus elementen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Provenienz speiste. zuletzt mit ausf. kritik an der bisherigen Forschung: PatzolD, zur sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 1), 121 ff., passim. ähnlich JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 691: „Wer auf dem Bischofsstuhl saß, hatte als beinahe einziger aus der gallischen Reichsaristokratie [sic!] in Zeiten des zerfallenden reiches ein amt in der Hand mit unzweifelhafter legitimität und mit repräsentationsformen, die er selbst kreieren konnte.“ PatzolD, Zur Sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 1), 121 – 126 (mit weiterer Lit.). z. B. JuSSen, liturgie und legitimation, oder: wie die gallo-romanen das römische reich beendeten, in: Institutionen und ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen ordnens, hg. v. DemS. / reinhard Blänkner, Göttingen 1998, 75 – 136, hier: 82 f.
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streit um macht und symbole den zusammenbruch des Imperium romanum unbeschadet überdauert zu haben. Bei der gestaltung und Interpretation des Bischofsamtes konnten zeremonien und rituale eine wichtige rolle spielen, nicht zuletzt deshalb, weil für die formale gestaltung der liturgie bis weit in das mittelalter hinein keine verbindliche norm existierte, sodass es weitgehend dem Episkopat überlassen blieb, wie er die Zeremonien gestaltete97. Noch Papst Gregor († 604) antwortete beispielsweise auf die Frage des missionars augustin, welche messliturgie er in england einführen sollte: „Ich bin dafür, dass du das, was du entweder in der römischen oder in der gallischen oder in irgendeiner anderen Kirche findest [. . .] sorgfältig auswählst und in der Kirche der engländer [. . .] verbreitest.“98 die möglichkeit des episkopats, die semiologie öffentlicher Ereignisse durch die Gestaltung liturgischer Handlungen zu beeinflussen, führte dazu, dass vielerorts der „städtische Raum als liturgischer Raum definiert wurde “99. denn derjenige, der „auf dem Bischofsstuhl saß, hatte als beinahe einziger [. . .] in zeiten des zerfallenden reiches ein amt in der Hand [. . .] mit repräsentationsformen, die er selbst kreieren konnte“100. es ist insofern nicht sonderlich überraschend zu erfahren, dass in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts neue Prozessionen „erfunden“ (concepit) worden seien, die sogenannten rogationes101. sie wurden als Beleg dafür angeführt, dass christliche Prozessionen eben nicht antiken ursprungs seien und formal nicht auf den triumphzug zurückgeführt werden könnten102. die rogationes – auch litaniae genannt – wurden der Überlieferung zufolge von Mamertus, Bischof von Vienne in den Jahren 451 – 473, eingeführt103. dabei handelte es sich, wie einer Homilie des avitus 97 allg. hierzu JuSSen, Zur Sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 96), 87; 105 f., passim. 98 Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis anglorum 1, 27: Mihi placet, ut sive in Romana, sive in Galliarum, seu in qualibet ecclesia, aliquid invenisti [. . .] sollicite eligas, et in Anglorum ecclesia [. . .] infundas. zu dieser stelle auch JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 689 f. 99 Paraphrasiert: JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 708. 100 Paraphrasiert: JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 691. 101 zu den rogationes Sid. Ap., ep. 5, 14; 7, 1. 2. 6; Greg. Tur., hist. 2, 34; Caesarius Arelatensis, Homilies 30. Allg. mit weiteren Quellenangaben: Peter Browe, die eucharistischen Flurprozessionen und Wettersegen, TGl 21 (1929), 742 – 755; Henri leclercq, art. rogations, dictionnaire d’Archéologie Chrétienne et de Liturgie 14 (1952), 2459 – 2461; Pax, art. Bittprozession (wie Anm. 11), 425 – 429; Christoph Daxelmüller, Art. Flurumgang, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 9 (1995), 261 – 263; felBecker, die Prozession: historische und systematische Untersuchungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung (wie Anm. 10), 194 – 196. 102 JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 393 f. 103 der christliche ursprung der rogationes liegt noch im dunkeln. möglicherweise reicht die christliche Tradition der Bittprozessionen bis in das 4. Jh. zurück. Siehe Aug., serm. 173. Zum ursprung der rogationes: Sid. Ap., ep. 5, 14; 7, 1. 2. 6; Greg. Tur., hist. 2, 34. Zur Terminologie: Pax, Art. Bittprozession (wie Anm. 11), 426; felBecker, die Prozession: historische und systematische Untersuchungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung (wie Anm. 10), 194 f.
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– einem Nachfolger des Mamertus (490 – nach 517) – zu entnehmen ist, um Bittprozessionen durch die Stadt, die – zumal in diesem konkreten Fall – in den drei tagen vor christi Himmelfahrt erfolgten104. daneben wurden Bittprozessionen ad hoc nach Anlass (Hungersnot, Krieg, Naturkatastrophen etc.) veranlasst. Mamertus vermochte die rogationes in seiner eigenen Stadt als regelmäßig stattfindendes ritual zu etablieren. allerdings stieß er bei der einführung der Prozessionen beim lokalen adel auf erheblichen widerstand, den er jedoch mit der Hilfe des Volkes zu brechen – vermochte105. unwillkürlich wird man an die ereignisse in mailand erinnert, als sich ambrosius auch des Volkes zur durchsetzung seines willens bediente. wie bereits bei Victricius von rouen, so wird auch in diesem Fall nicht erwähnt, woran konkret sich der streit zwischen Bischof und adel entzündete. es drängt sich aber die Vermutung auf, dass der grund des streits die rolle des Bischofs im kontext der rogationes war. auf den ersten Blick scheint also der streit um die semantik kollektiver Performanzen auch im Kontext neuer Machtverhältnisse unverändert angehalten zu haben. doch bei genauerem Hinsehen lassen sich wichtige Veränderungen ausmachen. an erster stelle ist die simple tatsache anzuführen, dass nun die auseinandersetzung nicht mehr zwischen dem Kaiser und (einigen) Bischöfen stattfand, sondern zwischen der lokalen Führungsschicht und Bischof. damit war dem streit gewissermaßen seine überregionale, allgemeine Bedeutung genommen. sodann unterscheiden sich rogationes konkret zumindest in zwei zentralen Punkten von den translationen, wie sie durch ambrosius verbreitet wurden. erstens handelt es sich um zwei verschiedene „arten“ von Prozessionen. man hat die Prozessionen mit guten gründen in „personage-centered“ und „participatory“ eingeteilt106. die rogationes wollten – sieht man von der herausragenden Position des Bischofs einmal ab – nicht die gesellschaftliche Hierarchie choreographisch thematisieren und inszenieren107. Im gegenteil: Als Sidonius Apollinaris, Bischof von Clermont-Ferrand (469 – nach 480), in den Jahren 471 – 473 von den Westgoten bedroht wurde, bat er seinen Kollegen Mamertus 104 avitus, Homilies 6, 2: Praedecessor namque meus et spiritualis mihi a baptismo pater Mamertus sacerdos [. . .] totas in ea quam supra diximus vigiliarum nocte sancto paschae concepit (sic!) animo rogationes: atque ibi cum deo tacitus definivit, quidquid hodie psalmis ac precibus mundus inclamat. Revoluta ergo sollemnitate paschali non iam quid, sed quamodo aut quando fieri debeat, secreta primum collatione tractatur. Putabatur a quibusdam Viennensis senatus, cuius tunc numerosis illustribus curia florebat, inventis non posse adduci, cum vix adquiesceret legitimis inclinari. Dazu auch Sid. Ap., ep. 5, 14; Greg. Tur., hist. 2, 34. 105 Vgl. dazu die inspirierenden ausführungen von JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 673 f., 708 – 712. 106 so BalDoVin, The Urban Character of Christian Worship (wie Anm. 11), 234 ff. Vgl. wegman, ‚Procedere‘ und Prozession (wie Anm. 10), 32 („Person-zentriert“); 34 („Fest-zentriert“); 37 („Bittprozession“). Allg. zu Kategorisierungsmöglichkeiten von Prozessionen felBecker, die Prozession (wie Anm. 10), 29 – 34; 86 – 89; 106 – 115; 440 – 451; Charalampos tSochoS, Πομπάς πέμπειν. Prozessionen von der minoischen bis zur klassischen Zeit in Griechenland, Thessaloniki 2002, 31 – 35. 107 allg. wegman, ‚Procedere‘ und Prozession (wie Anm. 10) 29; BalDoVin, the urban character of Christian Worship (wie Anm. 11), 234 ff.; felBecker, Die Prozession (wie Anm. 10), 411 ff.
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(„Erfinder“ der rogationes), er möchte ihm einen Priester schicken, der ihm und seiner gemeinde rogationes beibringen könne108. aus dem Brief geht unmissverständlich hervor, dass es dem Bischof vordergründig nicht um die evokation transzendenten Beistands ankam109. Vielmehr scheint sich sidonius apollinaris von den Bittprozessionen eine handfest-pragmatische steigerung der wehrfähigkeit seiner Stadt versprochen zu haben. Ähnliche Überlegungen finden sich bereits bei Ambrosius, der ebenfalls von der Kraft (im Sinne von Wehrfähigkeit) des gemeinsamen singens und Betens berichtet110. Als er nämlich mit seiner Gemeinde im Jahr 386 in den Basiliken mailands belagert wurde, hielt die gemeinde vor allem aufgrund der wirkung der gebete und der antiphone den kaiserlichen truppen stand. während der intensiven gemeinsamen gebete wurden die sozialen standesunterschiede weitgehend aufgehoben. durch den schulterschluss aller gläubigen im gebet wurden die sozialen Unterschiede für den Augenblick symbolisch aufgehoben – einzig der Bischof mit seinem klerus ragte aus der menge heraus111. die sakralen Handlungen evozierten ein gefühl der zusammengehörigkeit und der solidarität, wodurch die moral in einer in not geratenen gemeinschaft gestärkt wurde112. es dürften genau diese eigenschaften gewesen sein, die sich sidonius apollinaris ein Jahrhundert später für die Verteidigung seiner stadt gegen die arianischen goten in Form der rogationes zu eigen machen wollte, um auf diese weise auch die wehrkraft der civitas zu steigern. damit sind die rogationes dem typus „participatory-procession“ zuzuordnen. die translationen des ambrosius dienten demgegenüber nicht zuletzt dazu, seinem Verständnis des Verhältnisses von weltlicher und kirchlicher Hierarchie ausdruck zu verleihen. dabei stand stets der Bischof im zentrum der choreographie, weshalb die translationen als „personage-centered“ zu bezeichnen sind113. es stellt sich die Frage, weshalb sich also der adel gegen die einführung dieses neuen rituals sperrte. der widerstand des adels gegen die einführung der 108 sid. ap., ep. 7, 1, 6: [. . .] Quae omnia sciens populus iste Viennensibus tuis et accidisse prius et non accessisse posterius vestigia tam sacrosanctae informationis amplectitur, sedulo petens, ut conscientiae tuae beatitudo mittat orationum suarum suffragia quibus exempla transmisit. die unwissenheit, die sidonius apollinaris hier u. ö. in liturgischen Belangen offenbart, deckt sich mit seinem diktum, der abt solle für die seelen der Bischof für die leiber eintreten. siehe ders., ep. 7, 9, 9. Vgl. JuSSen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und Prozeduren politisch-sozialer umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘ (wie Anm. 1), 704, 708 f. 109 sid. ap., ep. 7, 1, 2: Sed animositati nostrae tam temerariae tamque periculosae non nos aut ambustam murorum faciem aut putrem sudium cratem aut propugnacula vigilum trita pectoribus confidimus opitulatura; solo tantum invectarum te auctore rogationum palpamur auxilio, quibus inchoandis instituendisque populus Arvernus, etsi non effectu pari, affectu certe non impari coepit initiari, et ob hoc circumfusis necdum dat terga terroribus. 110 Ambr., ep. 75a (21a), 23; Aug. conf. 9, 7, 16; Paul. Med., v. Ambr. 13, 3. 111 Siehe etwa Soz. hist. eccl. 5, 19, 18 f. Vgl. dazu hermann, Mit der Hand singen (wie Anm. 48), 105 ff. 112 ähnlich schon leclercq, Art. Rogations (wie Anm. 101), 2459: „[. . .] pour relever les courages, l’évêque imposa à son peuple un jeûne et des processions chantées [. . .].“ aDriaanS, omnibus rebus ordo (wie Anm. 13), 159 f. 113 Vgl. Sid. Ap., ep. 7, 1, 2 – 6. 114 Belege bei: leclercq, Art. Rogations (wie Anm. 101), 2459 f.; v. a. Anm. 11.
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rogationes in Vienne und wohl auch in anderen städten, bei dem die gleichheit der menschen in geradezu ritualisierter weise zelebriert wurde, ist gut nachvollziehbar. die eigene stellung in der, sowie leistung für die gesellschaft fand in diesem ritual keinen choreographischen ausdruck. dies allein hätte wohl kaum sonderlichen widerstand hervorgerufen. doch die herausragende Position des Bischofs in der Prozession blieb unbestritten. aus diesem Blickwinkel betrachtet müssen wohl auch die rogationes als „personage-centered“ bezeichnet werden. gerade die herausragende rolle im zuge der Bittprozessionen erklärt das augenfällige Interesse des gallischen episkopats am ritual, das dazu führte, dass die rogationes bereits beim Konzil von Orléans im Jahr 511 für alle Städte Galliens verpflichtend (!) eingeführt wurden114. der zweite unterschied der rogationes zu den reliquientranslationen liegt sozusagen in der natur der ereignisse. translationen sind sporadische, rogationes dagegen regelmäßig wiederkehrende zeremonien115. die laufenden wiederholungen konnten die sozialen unterschiede zwar nicht aufheben, doch die einzigartige und herausragende Position des Bischofs konnte sich auf diese weise tief in das kollektive gedächtnis eingraben. es liegt somit auf der Hand, dass weder der formale ablauf der rogationes noch ihr semantischer gehalt vom antiken adventus- bzw. triumphzeremoniell geprägt sein konnten116. schlüsse von den rogationes auf translationen und umgekehrt sind von daher methodisch nicht zulässig. zu recht hat man den ursprung der rogationes in den antiken Bittprozessionen – etwa ambarvalia, lustrationes, circumambulationes etc. – vermutet117. V. Fassen wir die vorausgegangenen gedanken zu einer historischen skizze zusammen: am ausgangspunkt der Überlegungen steht die Feststellung, dass es dem Christentum lange Zeit unmöglich war, Prozessionen in der Öffentlichkeit abzuhalten, „denn festliche Prozessionen in einer gesellschaftlich nicht anerkannten kirche kann man sich schwerlich denken“118. daraus ergibt sich die Frage, wann und unter welchen umständen das Prozessionswesen eingang in die christliche liturgie fand. man hat gemeinhin angenommen, dass die römischen kaiser für die gestaltung und Verbreitung von reliquientranslationen verantwortlich waren. tatsächlich dürfte aber Bischof ambrosius für die Verbreitung des rituals maßgeblich verantwortlich
115 allg. Pax, Art. Bittprozession (wie Anm. 11), 425 – 429. Zur Einteilung von Prozessionen: wegman, ‚Procedere‘ und Prozession (wie Anm. 10), 32 – 41; BalDoVin, the urban character of Christian Worship (wie Anm. 11), 234 ff. 116 Siehe oben S. 38, v. a. mit Anm. 102. 117 leclerq, Art. Rogations (wie Anm. 101), 2459; Pax, Art. Bittprozession (wie Anm. 11), 425 ff.; felBecker, Die Prozession (wie Anm. 10), 194 ff. 118 zit. wegman, ‚Procedere‘ und Prozession (wie Anm. 10), 32.
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gewesen sein. mit den reliquien hat sich auch die zeremonie im gesamten mittelmeerraum ausgebreitet, deren formale gestaltung dem antiken triumph nachempfunden war, wobei der herausragendste Platz dem Bischof vorbehalten blieb. ambrosius hat dies wohl bewusst inszeniert, um so seinem Verständnis szenisch ausdruck zu verleihen, wonach dem kaiser innerhalb der kirche lediglich der rang eines einfachen gläubigen zukommt. Als in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in den civitates um den Vorrang in der gesellschaft gerungen wurde, wurden von Bischöfen erneut Prozessionen „erfunden“ und gegen das sträuben der weltlichen granden eingeführt. zwar unterscheiden sich die Bittprozessionen ihrer äußeren Form nach deutlich von den translationen, doch verbindet sie zwei zentrale aspekte. zum einen wurden in beiden Fällen die Prozessionen vom episkopat zu politischen zwecken instrumentalisiert. mit der Hilfe der semantik der Prozessionen vermochten die Bischöfe im 4. wie im 5. Jahrhundert ihre jeweils keineswegs unumstrittene Rolle in der Gesellschaft zu inszenieren. Zum anderen griff der Episkopat im 5. Jahrhundert offenbar ganz bewusst das Exempel des Ambrosius auf und übertrug es unter den geänderten Vorzeichen neuer Bedürfnisse, Voraussetzungen und ziele auf die eigene lebenswelt119. was lag näher, als bewährte mechanismen und Instrumente auf die eigene zeit zu übertragen? In der rekonstruktion der entwicklung und Instrumentalisierung christlicher Prozessionen spiegelt sich schemenhaft der wandel und Übergang von der antike hin zum mittelalter wider. mit der adaption der von ambrosius entwickelten semantik im kampf um macht und symbole schlugen die gallischen Bischöfe einen weg ein, der von der antike nicht nur in das mittelalter, sondern vielmehr bis in die gegenwart reicht.
119 dass es sich um einen bewussten rückgriff auf ambrosius handelt, belegt: sid. ap., ep. 7, 1, 7. erinnert sei zudem an das zeremoniale aus mailand, nach dem der Bischof am Palmsonntag mit dem antiphon „Ave rex noster“ empfangen wird. Hermann J. gräf, Palmenweihe und Palmenprozession in der lateinischen Liturgie, Kaldenkirchen 1959, 126 f.
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Abb. 1 Stadtplan von Mailand
Abb. 2 Elfenbeinplatte aus Trier
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„zwIscHen HImmel und erde: raumsakralItät und lIturgIe“ stefan kopp das Sacrum und das Profanum – eine religionsgeschichtliche Annäherung die gegenüberstellung von Sacrum und Profanum gehört als „eine religionsgeschichtliche konstante“1 untrennbar zur anthropogenese des menschen. In dieser unterscheidung wird die trennung von konträren und doch wechselseitig aufeinander angewiesenen Bereichen deutlich. das Sacrum bezeichnet das ausgegrenzte, das ganz gott geweiht ist, während das Profanum wörtlich „das vor dem Heiligen liegende“2 meint. seit den schöpfungsmythen haben menschen aller generationen und kulturen versucht, dem Heiligen in raum und zeit rechnung zu tragen. räumlich gesehen ging mit der sakralisierung der lebenswelt die entstehung von ausgegrenzten Bezirken des Heiligen einher. dies äußerte sich im städtischen gefüge der griechischen und römischen antike vor allem durch heilige Bereiche, denen als tempelbezirke besondere Plätze zukamen, etwa auf anhöhen oder im zentrum von Städten (vgl. etwa die Akropolis in Athen oder römische Tempelanlagen). auch im Judentum sind parallel dazu Vorstellungen von heiligen Bezirken festzumachen, die im Jerusalemer tempel kulminieren, jedoch im Vergleich mit antikpaganen Vorstellungen folgenden wichtigen unterschied aufweisen: Hier wurde die Präsenz Gottes nicht exklusiv mit nur einem Ort verbunden, sondern in erster Linie symbolisch verstanden und auf überall hin ausgeweitet, wo gott der lobpreis dargebracht wird (vgl. Ps 22,4). Aus dieser Idee heraus entwickelt auch das Christentum seine Vorstellungen vom Heiligen und überträgt die tempelidee auf christus, die kirche und auch den getauften christen, dessen leib bis heute in paulinischer tradition bei der kirchlichen Begräbnisfeier als „tempel des Heiligen geistes“3 bezeichnet wird. elemente der beschriebenen Vorstellungen vom tempel rezipieren später in teilen und auf unterschiedliche weise synagogen im Judentum und kirchengebäude 1 2 3
albert gerharDS, wo gott und welt sich begegnen. kirchenräume verstehen, kevelaer 2011, 29. ebd. wörtlich heißt es bei der station am grab, wenn der zelebrant den sarg inzensiert: „dein leib war Tempel des Heiligen Geistes. Der Herr nehme dich auf in das himmlische Jerusalem.“ – in: die kirchliche Begräbnisfeier in den Bistümern des deutschen sprachgebietes. zweite authentische ausgabe auf der grundlage der editio typica 1969, hg. im auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der Bischöfe von Luxemburg und Vaduz, Freiburg u. a. 2009.
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im christentum. In diesem zusammenhang avanciert die Frage „der manifestation der göttlichen gegenwart“4 in sakralen räumen zu einem wichtigen und kontrovers diskutierten thema. deutlich wird dies vor allem im ringen um ein Bilderverbot, das im christentum aufgrund der menschwerdung gottes in Jesus christus und aufgrund damit verbundener theologischer klärungen im ersten Jahrtausend relativiert und entschieden wurde. aber nicht nur die Frage der Bilder, sondern auch das Verständnis der Kirchengebäude selbst mussten geklärt werden: In der Zeit nach 313 wurden unter kaiser konstantin die ersten christlichen großbauten errichtet, die sich in ihrer Bauform ganz bewusst vom antiken tempel absetzten. Für die ersten kirchengebäude übernahm man profane Bauformen wie die römische Basilika, in der ursprünglich u. a. märkte und gerichtsverhandlungen abgehalten wurden, deren apsis das kaiserstandbild beherbergte und die als öffentlicher Versammlungsort fungierte5. „Im gegensatz zu paganen kultbauten war der christliche Versammlungsraum nicht durch die Präsenz einer gottheit ‚geheiligt‘. die gläubigen selbst, die Versammlung der Heiligen, sind der wahre Tempel Gottes – infolgedessen wird konsequent zur Bezeichnung des Versammlungsgebäudes (‚basilica‘) und seines in ihm stehenden oder auch jeweils herbeigebrachten Altars (‚mensa‘) nicht die Begrifflichkeit der Religionen der christlichen Umwelt gebraucht (nicht ‚templum‘ und ‚ara‘). Die Heiligkeitsbegriffe werden, wie schon in der Bibel, ethisiert, also auf die gläubigen und ihr Handeln bezogen.“6 entscheidendes kriterium für die Heiligkeit des raumes wurde somit die liturgische Versammlung, in der das wort gottes verkündet und die sakramente gefeiert wurden. dieses Verständnis wurde in allen christlichen konfessionen immer präsent gehalten, wenngleich durch die aufbewahrung der eucharistie in katholischen bzw. orthodoxen Kirchen im Laufe des Mittelalters ein weiteres Kriterium für die Heiligkeit des raumes hinzukam, das später in der evangelischen tradition nicht anerkannt wurde. zudem avancierte die architektur im laufe des mittelalters selbst zum Bedeutungsträger, was sich in der zahlensymbolik und dem vollendeten typologischen Programm mittelalterlicher kirchen manifestiert7. diese skizzenhaften Beobachtungen sollen verdeutlichen: „das ‚Profane‘ steht also nicht kontradiktorisch zum sakralen, sondern ist dessen möglichkeitsbedingung.“8. Von daher kann mit albert gerhards die säkularisation als neuzeitliche entwicklung gesehen werden, die eine abschaffung des sakralen denkerisch erst ermöglichte, „indem sie alles egalisierte“9. und doch konnte sich das sakrale durch die aufklärung hindurch behaupten oder wurde später wieder entdeckt. sogar in
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gerharDS, Wo Gott und Welt sich begegnen (wie Anm. 1), 31. Vgl. stefan koPP, der liturgische raum in der westlichen tradition. Fragen und standpunkte am Beginn des 21. Jahrhunderts (Ästhetik – Theologie – Liturgik 54), Münster 2011, 21 – 25. thomas SternBerg, kirchenbau. Historische Vergewisserungen, in: communio-räume. auf der suche nach der angemessenen raumgestalt katholischer liturgie, hg. v. albert gerharDS / thomas SternBerg / walter zahner, Regensburg 2003, 37 – 69, hier: 39 – 40. Vgl. koPP, Der liturgische Raum in der westlichen Tradition (wie Anm. 5), 55 – 58. gerharDS, Wo Gott und Welt sich begegnen (wie Anm. 1), 29. ebd.
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atheistischen strömungen bildeten sich neue Formen des sakralen heraus, oft auch unter staatlicher Autorität (und damit Willkür), wodurch sich auch viele Missbräuche ergaben (Beispiel: Kommunismus). Nicht von ungefähr schützen daher funktionierende demokratien das Sacrum und stellen es außerhalb der Verfügbarkeit staatlicher Gewalt (Beispiel: Kirchenasyl10). Besondere politische Brisanz kann diese kulturelle errungenschaft erzeugen, wenn asylpolitik und kirchliche caritas in Interessenskonflikte geraten, wie dies ein Wiener Fall aus der jüngsten Vergangenheit belegt (Asylwerber-Zuflucht in der Wiener Votivkirche). zugänge der mittelalterlichen gedankenwelt zum Sacrum „als daher mich einmal aus liebe zum schmuck des gotteshauses die vielfarbige schönheit der steine von äußeren sorgen ablenkte und würdiges nachsinnen mich veranlaßte, im Übertragen ihrer verschiedenen heiligen eigenschaften von materiellen dingen zu immateriellen zu verharren, da glaubte ich mich zu sehen, wie ich in irgendeiner region außerhalb des erdkreises, die nicht ganz im schmutz der erde, nicht ganz in der reinheit des Himmels lag, mich aufhielt, und [glaubte,] daß ich, wenn gott es mir gewährt, auch von dieser unteren [region] zu jener höheren in anagogischer weise hinübergetragen werden könne.“11
dieses berühmte zitat aus der Beschreibung des Hauptaltars im werk De administratione des mittelalterlichen abtes und Bauherrn suger von saint-denis bei Paris (1081 – 1151) zeigt in eindrucksvoller Weise die Berührung von Himmel und Erde, von Sacrum und Profanum in der gedankenwelt mittelalterlicher menschen bezogen auf kunst und liturgie. durch seinen um- und ausbau der abteikirche von saint-denis gilt er als Vater des gotischen kathedralbaugedankens. Im gegensatz zum Armutsideal des heiligen Bernhard von Clairvaux und dessen Vorwurf, dass der äußerliche kirchenschmuck von der inneren Frömmigkeit ablenke, vertritt er die Vorstellung des aufstiegs von der materiellen zur immateriellen welt als „anagogischer zugang“12. nach der auffassung des französischen abtes wäre es eine klare unterlassungssünde, materialien nicht zu verwenden, zu veredeln und künstlerisch zu verarbeiten, welche nach gottes ratschluss die natur hervorbringen und der mensch vervollkommnen sollte. so waren geräte aus gold oder aus kostbarem stein, goldene leuchter und altartafeln, skulpturen, glasmalerei und glänzende gewänder eine logische Folge und zur ehre gottes geschaffen. In seinem ansatz ist
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der ursprung des kirchenasyls ist im „Heiligtumsasyl“ zu sehen, welches wahrscheinlich zu den ersten kulturellen errungenschaften der menschheit gehörte und eingang in nahezu alle kulturen gefunden hat. das Heiligtumsasyl war an tempel, sakrale gegenstände oder tabuisierte Personen gebunden, in deren heiliger sphäre die schutzsuchenden der gottheit unterstanden und deshalb vor den nachstellungen ihrer Verfolger sicher waren. kam es dennoch zur Verletzung eines solchen asyls, so war dies gesetzwidrig und galt als Frevel, der göttliche und oft auch weltliche strafen nach sich zog. zit. nach abt suger von saint-denis, ausgewählte schriften. ordinatio, de consecratione, de administratione, hg. v. andreas SPeer und günther BinDing, darmstadt 22005, 345. erwin PanofSky, sinn und deutung in der bildenden kunst, köln 1978, 147.
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das Bestreben erkennbar, mit dem materiellen „leuchten“ des werkes den geist des Betrachters durch geistliche Illumination zu „erleuchten“. mit Hilfe der materiellen Dinge, der „wahren“, aber nur sinnlich wahrnehmbaren „Lichter“ (lumina vera) der strahlenden reliefs und Bilder, wird die seele des menschen zum „wahren licht“ (verum lumen), nämlich zu Christus, geleitet und erhoben. Daher ließ Abt Suger folgende Verse auf die türen schreiben: „wer du auch bist, der du die Herrlichkeit dieser türen rühmen willst: bewundere das Gold – nicht die Kosten! – [und] die Leistung dieses Werkes! edel erstrahlt das werk, doch das werk, das da edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so daß sie durch wahre lichter zu dem wahren licht gelangen, wo christus die wahre tür ist. welcher art dieses [wahre licht] innen ist, das gibt die goldene tür hiermit an. der schwerfällige geist erhebt sich mit Hilfe des materiellen zum wahren, und obwohl er zuvor niedergesunken war, ersteht er neu, wenn er dieses licht erblickt hat.“13
auf diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum abt suger die materielle schönheit als ein „Vehikel der geistlichen seligkeit“14 begreifen konnte. diese auffassung steht, wie bereits kurz angedeutet, vollkommen dem armutsideal mittelalterlicher Reformbewegungen im Geiste von Cîteaux oder auch anderen Orten entgegen. Daher polemisierte Bernhard von Clairvaux gegen diese Auffassung in seinem werk Apologia ad Willelmum Abbatem Sancti Theodorici, was in Übereinstimmung mit dem Exordium Magnum Ordinis Cisterciensis geschah. darin erwähnt er unter anderem, dass man keine gemälde oder skulpturen, ausgenommen hölzerne kruzifixe, dulde und darüber hinaus die Verwendung von Edelsteinen, Perlen, Gold und seide verurteile. die einzige ausnahme stellten die kelche dar, welche aus silber oder vergoldetem silber sein durften. Vom heiligen Bernhard wird berichtet (und darin stimmen die modernen Biographen mit den zeitgenössischen Lobrednern Bernhards überein), dass er auch sonst kaum empfänglich für die sichtbare welt und ihre schönheiten war. es wird ihm nachgesagt, dass er während seiner ganzen Noviziatszeit in Cîteaux, die immerhin ein Jahr dauerte, nicht bemerkte, ob die Decke des Dormitoriums flach oder gewölbt war, und dass er nicht wahrnahm, ob die kapelle des klosters durch drei oder nur durch ein Fenster erhellt wurde. auch entging ihm manche schönheit, welche die natur hervorzubringen im stande war, sodass er eines tages dem genfer see entlang ritt, ohne einen einzigen Blick auf die landschaft zu werfen. dennoch war Bernhard in vielen wesentlichen Bereichen ein empfänglicher und keineswegs blinder mensch, der beispielsweise im stande war, im zuviel der ausstattung eines liturgischen raumes oder in diesem Falle einer Bibliothek, in der die Brüder damit beschäftigt sind, geistige und geistliche nahrung aufzunehmen, eine gefahr zu sehen, wenn er in seiner Apologia ad Willelmum schreibt: „und was hat ferner in den klöstern, unter den augen der mit lesen beschäftigten Brüder, jene lächerliche ungeheuerlichkeit, jene erstaunliche, missgestaltete wohlgestaltetheit, jene
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Abt Suger von Saint-Denis, Ausgewählte Schriften (wie Anm. 11), 325. PanofSky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (wie Anm. 12), 152.
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wohlgestaltete missgestaltetheit zu schaffen? diese unreinen affen? diese wilden löwen? diese monströsen Kentauren? Diese halbmenschlichen Wesen? Diese gefleckten Tiger? Diese kämpfenden krieger? diese hörnerblasenden Jäger? Hier erkennst du mehrere körper unter einem kopf; dort wieder mehrere köpfe auf einem körper. . . . kurzum, ringsum erscheint eine so reiche und so erstaunliche Vielfalt von Formen, dass es angenehmer ist, den marmor zu betrachten als die manuskripte und den ganzen tag mit der Bewunderung dieser dinge, stück für stück, zuzubringen als mit der meditation über das göttliche gesetz.“15
abgesehen davon, dass diese zeilen eine wertvolle kunsthistorische Beschreibung einer dekorationssaustattung im „geschmack von cluny“ darstellen, enthüllen sie vor allem in anschaulicher weise die Bedenken, die abt Bernhard in der kunst sieht. In seiner bemerkenswerten schlussfolgerung verurteilt er die kunst nicht nur deshalb, weil er für ihre reize nicht empfänglich gewesen wäre, sondern weil er sie als zu stark empfand, um sie nicht für gefährlich zu halten. Bernhard sah in der kunst, die der falschen seite einer welt angehörte, welche er nur als endlosen aufstand des zeitlichen gegen das ewige, der menschlichen Vernunft gegen den glauben und der sinne gegen den geist begreifen konnte, eine große gefahr. dagegen polemisierte er und sah speziell im Hinblick auf die prunkvolle ausstattung von kirchen das mönchische Ideal in gefahr: „Ich übergehe der Kirchen ungeheure Höhe, maßlose Länge, überflüssige Breite, verschwenderische steinmetzarbeit und die neugier reizenden malereien, die den Blick der Betenden auf sich lenken und die andacht verhindern und für mich gewissermaßen den alten ritus der Juden repräsentieren. aber es mag sein, dass dies zur ehre gottes geschieht. Ich aber frage euch, ein mönch euch mönche, was ein Heide an Heiden rügt: ‚sagt, ihr Priester, was macht das gold im Heiligtum?“16
seiner ansicht nach gehört es nicht zu den aufgaben von mönchen, sich mit künstlerischen und architektonischen Fragen zu beschäftigen. In seinem berühmten Brief an abt Peter von cluny schreibt er: “die kunst ist lediglich ein mittel, das den einfältigen und unmündigen hilft, den wissenden und Vollkommenen aber unnütz oder gar schädlich ist. Deshalb sollen die Mönche die Pflege der architektur den Hirten des Volkes überlassen.“17
zu den formulierten zielen des ordens der zisterzienser gehören folgende aspekte der nachfolge christi: „die Befreiung der kirche von zeitlichen, nationalen und lokalen mächten, rückkehr zu den Idealen der urkirche, das heißt religiöser eifer, gebet, Barmherzigkeit, Verzicht auf irdische güter.“18. diese spiritualität der einfachheit bedingte auch einen eigenen Baustil, der unter dem Begriff „klosterfunktionalismus“ bekannt wurde. zisterzienserbauten sollten sich durch Vereinfachung, dauerhaftigkeit und Funktionalismus auszeichnen, wobei schlichtheit
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zit. nach PanofSky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (wie Anm. 12), 152. zit. nach wolfgang BraunfelS, abendländische klosterbaukunst, köln 41980, 297. zit. nach louis charPentier, die geheimnisse der kathedrale von chartres, köln 121992, 43. Jean leclercq, die spiritualität der zisterzienser, in: die zisterzienser. ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit (= Schriften des Rheinischen Museumsamtes 10), hg. v. Kaspar elm, Bonn 1980, 149 – 164, hier: 151.
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und geometrische klarheit zu den wichtigsten kriterien zählten. darum war man bemüht, ausschließlich das Baumaterial stein zu verwenden19. In der Nachfolge des Bernhard von Clairvaux wurden Bau- und Kunstbestimmungen des Generalkapitels der Zisterzienser (1134 und später) formuliert, die für den gesamten orden verbindlich waren. darin wird festgehalten, dass klöster nicht in städten, sondern in entlegenen orten, fern vom Verkehr der menschen erbaut werden sollten. Man verbot Bilder und Skulpturen (mit Ausnahme eines bemalten Kreuzes aus Holz), steinerne Glockentürme und bemalte Fenster20. Die Statuten der Franziskaner gegen den Bauluxus aus dem Jahre 1260 schließen sich in vielen einzelheiten den Bestimmungen und Vorschriften der zisterzienser an. Sie werden zur Zeit des Bonaventura verabschiedet und 1310 auf dem Generalkapitel von Padua in verschärfter Form erneuert. es heißt darin: „Weil aber die Erlesenheit und der Überfluss direkt der Armut entgegenstehen, ordnen wir an, dass die erlesenheit der gebäude an malereien, tabernakeln, Fenstern und säulen und dergleichen, ebenso das Übermäßige an länge, Breite und Höhe möglichst streng vermieden werde, nach der lage des ortes. [. . .] die kirchen aber sollen in keiner weise gewölbt werden, mit ausnahme des Presbyteriums. Im Übrigen soll der campanile der kirche nirgends nach art eines turmes errichtet werden; ferner sollen die glasfenster weder mit Historien noch mit Bildern bemalt werden, nirgends, mit der ausnahme, dass im Hauptfenster hinter dem Hochaltar Abbildungen des Kruzifixus, der hl. Jungfrau, des hl. Johannes, des hl. Franziskus und des hl. antonius gestattet sind; und wenn weitere gemalt worden sind, so sollen sie durch die Visitatoren entfernt werden.“21
Mit diesen Statuten, die sich ausschließlich auf den Kirchenbau beziehen (und nicht auf die Klöster), spricht man sich eindeutig gegen die zu dieser Zeit vorherrschende kathedralgotik mit ihrer aufwändigen Bauplastik und ihrem maßwerkprunk aus22. Im gegensatz zu klosterkirchen traditioneller ordensgemeinschaften bevorzugten die minderen Brüder einen schmalen langchor für das chorgestühl, der durch den lettner vom hallenartigen langhaus getrennt war. Für diesen Baustil wurde später der Begriff der „Bettelordenarchitektur“ bzw. auch „Reduktionsgotik“ (im Gegensatz zur gotischen Kathedralarchitektur) geprägt23. man weiß aber, dass diese strengen Erlässe und Bestimmungen (auch aufgrund der Abhängigkeit der Klöster von einem stiftungsfreudigen Patriziat) kaum umgesetzt wurden24. zusammenfassend muss konstatiert werden, dass sich in der zuspitzung von „Prunk versus Purismus“25 in der gedankenwelt mittelalterlicher menschen letztlich immer der Prunk als ausdruck von macht, aber auch und vor allem zur ehre
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Vgl. nikolaus thiel, was macht das gold im Heiligtum? die zisterzienser und ihre architektur (Diplomarbeit), Graz 2000, 24 – 25. Vgl. BraunfelS, Abendländische Klosterbaukunst (wie Anm. 16), 300 – 301. Zit. nach Ebd., 307 – 308. Vgl. walther Buchowiecki, Die gotischen Kirchen Österreichs, Wien 1952, 10 – 11. Vgl. richard krautheimer, Die Kirchen der Bettelorden in Deutschland, Berlin 2000, 197 – 208. Vgl. BraunfelS, Abendländische Klosterbaukunst (wie Anm. 16), 178 – 182. Vgl. stefan koPP, zum stellenwert der Bildkunst in der liturgie der westlichen tradition. Prunk versus Purismus (Diplomarbeit), Graz 2007 – siehe Untertitel der Diplomarbeit.
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gottes, durchzusetzen vermochte. es war eine Hervorhebung des Sacrum in seiner mittelalterlichen ausprägung gemeint. Im zehnten Jahrhundert zählt cluny zu den reformorden, im zwölften Jahrhundert besitzt das kloster die größte kirche des abendlandes26. Bernhard erlaubte in Clairvaux beispielsweise nur einen einfachen rechteckchor mit schlichter altarmensa in der mitte. drei Jahre nach seinem tod errichtete man jedoch auch hier einen Hochchor wie in saint-denis. darüber hinaus finden sich in Zisterzienserklöstern des 13. Jahrhunderts die prächtigsten klostersäle des ganzen mittelalters. damit siegte die Idee sugers über jene des asketischen Bernhard27. so kann als resümee gelten: „die geschichte des zisterzienserordens erweist, dass sich armut noch schlechter vererben lässt als reichtum.“28 die barocke Vorstellung von liturgie als Theatrum Sacrum der italienische Bildhauer, maler und architekt giovanni lorenzo Bernini (1598 – 1680) steht mit seinem Großauftrag, den Petersdom künstlerisch zu vollenden und durch mächtige kolonnaden zu erweitern, am Beginn des Barock. er gilt als eine der ersten prägenden Gestalten der barocken Architektur in Rom, deren Einfluss auf kunst und architektur des 17. und 18. Jahrhundert in Italien, spanien und den gebieten nördlich der alpen evident ist29. In und außerhalb Italiens sind es neben den reformbischöfen vor allem die Jesuiten, die nach dem Konzil von Trient (1545 – 1563) am Ringen und an der Suche nach neuen Prinzipien für liturgische Feierräume und damit für das sacrum beteiligt sind. die rhetorischen Prinzipien „docere, delectare, movere“30 (unterweisen, unterhalten, rühren) gelten nicht nur als Überschrift für die Predigt der Jesuiten, sondern auch als Intention für die von ihnen propagierte Baukunst und dekoration. einerseits sind durch die zunehmende Bedeutung der Predigt Einflüsse der Reformation auf den jesuitischen Kirchenbautypus erkennbar (vgl. z. B. Sitzbänke im Kirchenraum), andererseits möchte man sich vom Protestantismus absetzen und als gegenbewegung erkennbar sein. dies geschieht beispielsweise durch die prunkvolle ausstattung der kirchen oder durch die Bildkunst, die einen wichtigen stellenwert im nachtridentinischen kirchenraum einnimmt. In der Baukunst dieser zeit, die schwer unter religionskriegen, der Bedrohung durch fremde Völker, der Hungersnöte in Folge von missernten und des allgegenwärtigen todes durch die Pest zu leiden hatte, manifestiert sich gegen alle Vergänglichkeit der wunsch und die sehnsucht nach dem ewigen, wie es beispielsweise ein 26 27 28 29 30
Vgl. gottfried richter, romanisches Burgund. zur geschichte des christlichen abendlandes, stuttgart 31979, 25 – 35. Vgl. BraunfelS, Abendländische Klosterbaukunst (wie Anm. 16), 118 – 123. ebd., 120. Vgl. wolfgang BraunfelS, Kleine italienische Kunstgeschichte, Köln 1984, 413 – 425. gertraud illmeier, der weg zum sieg. „nicht nur lehren und ergötzen, sondern rühren“, in: Spectrum (04.11.2000), 9.
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zitat eines Fürsten aus dem Jahre 1670 wiedergibt: „alles gehet hin und verdierbet, allein das vornehme gebeu nicht.“31 zudem spielt natürlich auch das künstlerische schaffen zur ehre gottes eine entscheidende rolle, was die menschen dieser zeit besonders motiviert. dies bedeutete, „niemals, niemals und zu ewigen zeiten kein gebäude ohne zier der architektur zu errichten“32. auf diesem Hintergrund ist auch die aktive barocke Bautätigkeit der kirche für die neugestaltung von liturgischen räumen zu betrachten. der kirchenraum der Barockzeit wurde als Theatrum Sacrum wahrgenommen, was sich beispielsweise in den gerafften Vorhängen aus stuck im Bereich des Presbyteriums zeigt und sich im figuralen Hochaltar mit Lichtinszenierung fortsetzt. Aus dieser tendenz, den liturgischen Vollzug mehr und mehr als heiliges schauspiel und das Presbyterium als Bühne zu verstehen, entwickelt sich ein gesteigertes Verlangen nach plastischen Gestaltungen, welches durch viele qualifizierte Bildhauer und Künstler auch realisiert werden konnte. Es ist auffallend, dass sich bei figurativen darstellungen der Barockzeit Bewegung und dramatik bis zu ekstatischen Formen des ausdrucks entwickelten. Heilige räume seit Beginn der moderne seit der säkularisation und der damit verbundenen Infragestellung von sakralität bzw. auch der Egalisierung der traditionellen Kategorien von sakral und profan (vgl. auch Abschnitt 1) haben sich die Debatten der Moderne über das Sakrale immer wieder entzündet. Bis heute sind diskussionen über Bauform, material und dekor, aber auch über die gefeierte liturgie nicht abgeschlossen. während einzelne autoren die Sakralarchitektur des 20. Jahrhunderts (nach dem Historismus) pauschal als qualitätslos abwerten33, findet sich in den meisten anderen Publikationen eine differenziertere sicht mit einer kritischen würdigung des neuen Verständnisses für sakralität, das ihren ursprung wohl in der liturgischen Bewegung hat. kirchenbaumeister wie rudolf schwarz erwarben sich in diesem Bereich große Verdienste und schufen schon in den dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts räume, deren Qualität sich „aus anderen architektonischen und künstlerischen Prämissen als die sakralität der räume des Historismus“34 erklärten und vieles von dem vorweg nahmen, was in der liturgiekonstitution des zweiten Vatikanischen konzils für die riten als anspruch und Maßstab formuliert wurde, als vom „Glanz edler Einfachheit“ (SC 34) die Rede war. Problematische tendenzen zeichneten sich in den siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts ab, als multifunktionale kirchenräume die grenze und den unterschied zwischen dem Sacrum und dem Profanum aufheben wollten, aber damit allgemein 31 32 33 34
alois kölBl / wiltraud reSch, wege zu gott. die kirchen und die synagoge von graz, graz / wien 22004, 49. Ebd., 49 – 50. Vgl. z. B. Heidemarie SeBlatnig (Hg.), Profane Sakralarchitektur in Wien ab 1960, Wien 2006. gerharDS, Wo Gott und Welt sich begegnen (wie Anm. 1), 33.
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menschlichen erfahrungen widersprachen. daher gab es naturgemäß eine Pendelbewegung zurück zu kirchenräumen, die von den menschen wieder eindeutig und unverwechselbar als sakralräume wahrgenommen wurden35. eine ganz andere Problematik zeigt sich heute im Blick auf die diskussionen über nutzen und zukunft der kirchengebäude. In den letzten Jahrzehnten haben sich gesellschaft und werte teilweise rasant gewandelt. neben der entvölkerung von Innenstädten und der tendenz, kirchenbauten, die einst ganzer stolz von generationen waren, plötzlich als Belastung zu sehen, kämpfen die christlichen kirchen in den ländern zentral- und westeuropas heute mit einem starken rückgang des kirchenbesuchs und mit kirchenaustritten. Besonders spektakuläre nachrichten werden auch von seiten der medien wahrgenommen und rücken damit in das gesellschaftliche Bewusstsein. ein Beispiel dafür war die Bekanntgabe des Bistums essens im Jahre 2005, beinahe 100 Kirchengebäude aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch aufgrund demographischer entwicklungen aufgeben zu müssen. In diesem zusammenhang erscheint die Frage von sakralität plötzlich in einem ganz anderen licht und verweist auf eine über die binnenkirchliche Funktion hinausgehende Bedeutung der kirchen in den ländern zentral- und westeuropas. schnell wird klar, dass eine umnutzung oder gar ein abbruch eines ortsbildprägenden kirchengebäudes die Gesamtgesellschaft betrifft. Auch denkmalpflegerische, baukünstlerische und finanzielle Aspekte spielen eine wichtige Rolle. Entscheidend ist jedoch die spirituelle dimension der kirchen als orte des gebetes, der stille, des Friedens, der klarheit, der kraft und der stärkung36. rainer Fisch diskutiert und dokumentiert in seiner dissertation über umnutzungen von kirchengebäuden in deutschland ausgewählte lösungen unterschiedlicher Qualität aus den Perspektiven von Architekten, neuen Nutzern, Denkmalpflegern und kirchlichen Gemeinschaften. Er gibt Beispiele von umbauten einzelner kirchen zu wohnungen, Büros, Veranstaltungszentren, Bibliotheken, kindergärten, sport- oder gaststätten. Fisch plädiert im sinne der erhaltung des kulturerbes für einen sorgsamen umgang mit den kirchengebäuden und kommt aus Sicht der Denkmalpflege zu folgendem Ergebnis: „Dort, wo eine wiederverwendung eines kirchengebäudes in seiner genuinen Funktion nicht absolut auszuschließen ist, sollte im sinne des denkmals versucht werden, eine zusätzliche oder neue vorübergehende Nutzung zu finden, die möglichst ohne weitgehenden baulichen eingriff auskommt, um sich nicht zukünftige entwicklungen zu ‚verbauen‘.“37 soziologische studien zu diesem heiklen thema belegen, dass „kirchenräume als besondere orte oder kultstätten für viele menschen eine besondere Bedeutung haben“38. dies zeigt sich innerhalb von heiligen räumen daran, dass sich menschen 35 36 37 38
Diese Anforderung der Gemeinde findet sich bei zahlreichen Kirchenneubauten ab den achtzigerjahren. Vgl. albert gerharDS / martin Struck (Hgg.), Umbruch – Abbruch – Aufbruch? Nutzen und Zukunft unserer Kirchengebäude, Regensburg 2008, 11 – 13. rainer fiSch, Umnutzung von Kirchengebäuden in Deutschland, Bonn 2008, 133. nicole Stockhoff, „wege zur semantik sakraler räume. Pfade zum inszenierten glauben.“ die Grundordnung und Erschließung des Kirchenraumes, BiLi 85 (2012), 201 – 208, hier: 202.
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hier anders verhalten, indem sie beispielsweise langsamer gehen oder leiser reden und damit kirchenräume als räume der stille und des gebetes respektieren. aber auch von außen (z. B. von Nichtchristen eines Ortes) werden Kirchen als fester Bestandteil des ortsbildes positiv erlebt. raum und liturgie wie verhält sich raum zu liturgie? um auf den ausgangspunkt dieses wissenschaftlichen Beitrags zurückzukommen, soll diese Frage mit Bezug auf die biblischen Quellen in den Blick genommen werden. Im ersten summarium der apostelgeschichte (Apg 2,43 – 47) wird davon berichtet, dass sich die Urgemeinde im tempel zum gemeinsamen gebet traf, sich aber auch schon in ihren Häusern zum Brechen des Brotes und zum gemeinsamen mahl in Freude und einfalt des Herzens versammelte. In Apg 4,4 wird die Zahl der Jünger mit etwa 5000 beziffert, wovon bereits in apostolischer zeit eine relativ große zahl an Hauskirchen abgeleitet werden kann. In apg 12,12 wird von einem Haus der maria, der mutter des Johannes markus, berichtet, welches Jesus und seinen Jüngern vermutlich auch als ort für das letzte abendmahl zur Verfügung gestanden war. weitere schriftliche zeugnisse für Hauskirchen finden sich bei Paulus, der im Römerbrief das Haus von Prisca und Aquila (Röm 16,3 – 5) oder das Haus des Gaius (Röm 16,23) erwähnt39. In apg 17,24 betont Paulus in seiner rede auf dem areopag, dass gott, der Herr über Himmel und erde, nicht in tempeln wohnt, die von menschenhand gemacht sind. dieser gedanke der allgegenwart des einen gottes ruft bei vielen Heiden natürlich skepsis und eine ablehnende Haltung hervor. In deren selbstverständnis ist die relativierung der Bedeutung von kultstätten mit gottlosigkeit gleichzusetzen40. Minucius Felix, ein lateinisch-christlicher Autor zu Beginn des dritten Jahrhunderts, präzisiert die Rede des Paulus und profiliert das spezifisch Christliche gegen die kritik der Heiden: Delubra et aras non habemus.41 In seinen weiteren ausführungen betont er die christliche Berufung, selbst Heiligtum gottes zu sein: „welches Bild soll ich für gott ersinnen, da doch im grunde genommen der mensch selbst gottes ebenbild ist? welchen tempel soll ich ihm bauen, da diese ganze welt, das werk seiner Hände, ihn nicht zu fassen vermag? und während ich als mensch geräumiger wohne, soll ich die größe solcher majestät in eine einzige zelle [cella] einschließen? müssen wir nicht besser in unserer seele ihm ein Heiligtum errichten, nicht lieber in unserer Brust eine stätte weihen?“42
Wenn im Johannesevangelium (Joh 2,13 – 22) bei der „Tempelreinigung“ vom Tempel des leibes Jesu christi die rede ist, wird damit auch der Vorrang dieses tempels 39 40 41 42
Vgl. adolf aDam, wo sich gottes Volk versammelt. gestalt und symbolik des kirchenbaus, Freiburg / Basel / Wien 1984, 9 – 18. Vgl. eugen egloff, liturgie und kirchenraum. Prinzipien und anregungen, zürich 1964, 11 – 20. zit. nach Hugo BranDenBurg, art. kirchenbau I, in: tre 18, Berlin / new York 1989, 421 – 442, hier: 421. zit. nach aDam, Wo sich Gottes Volk versammelt (wie Anm. 39), 15.
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gegenüber jeder Art von Gebäude deutlich. Diese Sichtweise findet sich im Neuen testament, speziell bei Paulus, mehrfach begründet, und bringt zum ausdruck, dass kirche zuallererst als tempel des lebendigen gottes ein geistiges Haus aus lebendigen steinen ist, wobei christus selbst bildlich gesprochen als dessen eckstein gesehen wird. Von daher wurde das Verhältnis von liturgie und kirchengebäude oft als spannungsreich empfunden, denn es stellte sich die Frage, ob die liturgie Baumeisterin einer kirche ist oder ob die gestalt eines kirchengebäudes nicht in erster linie von außerliturgischen Faktoren geprägt sei. Besondere Konflikte erzeugten dabei immer Veränderungen im liturgischen selbstverständnis, die unmittelbare Folgen auf die räumlichen Bedingungen nach sich zogen. die geschichte des kirchenbaus lehrt, dass solche einschneidenden Veränderungen nicht erst seit der liturgiereform des Zweiten Vaticanums bekannt sind, sondern zu allen Zeiten (mit teils brachialer Gewalt) durchgeführt wurden. Man denke etwa an die „Bilderstürme“ des ersten Jahrtausends, aber auch an die reformationszeit oder die Veränderungen im gefolge des konzils von trient und die Barockisierung auf kosten mittelalterlicher raumensembles. die Frage, wie sich raum zu liturgie verhält, und damit verbunden die Frage nach dem Vorrang eines der beiden Faktoren, kann im Blick auf die geschichte heute nicht zugunsten einer dimension entschieden werden. ohne zweifel gab es christliche liturgie, bevor räume errichtet wurden. man wird mit albert gerhards jedoch von einer symbiose ausgehen müssen, „bei der das eine ohne das andere nicht zu denken ist“43. Das heißt, sowohl ist die Liturgie „Baumeisterin“ – sie wird das jedoch nie gegen die räumliche Disposition sein können – als auch wird dem kirchenraum ein liturgisches „mitspracherecht“ zukommen, damit die liturgie von den menschen als Berührungspunkt zwischen Himmel und erde wahrgenommen werden kann – ein Gedanke, der in der östlichen Liturgietradition viel stärker als im westen präsent ist. zusammenfassend kann mit albert gerhards gesagt werden: sicher ist sakralität letztlich eine Frage der Begegnung, jedoch nicht allein der zwischenmenschlichen Begegnung einer gemeinde, sondern immer in einer drei-, wenn nicht vierfachen zielrichtung: mit dem transzendenten gott, mit anderen menschen und mit sich selbst (entsprechend dem dreifachen Liebesgebot vgl. Mk 12,29 – 31) bzw. auch mit der Welt im Sinne einer kosmischen Dimension (Weltbegegnung). „Erst in der wechselbeziehung aller größen entsteht jene stimmigkeit, die man als sakral bezeichnen kann. ein raum ist also nicht aus sich selbst sakral, sondern sollte lediglich bestimmte architektonische Qualitäten aufweisen, die solche Begegnung stützen und fördern. erst im Vollzug solcher Begegnung kann der raum sakral genannt werden. darum muss in einem kirchenraum immer wieder gottesdienst gefeiert werden. Die Weihe meint primär seine Indienstnahme, die Übereignung (dedicatio) für gebet und gottesdienst.“44
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gerharDS, Wo Gott und Welt sich begegnen (wie Anm. 1), 35. Ebd., 34.
trennung, ÜBerlagerung und kollIsIon. BeoBacHtungen zur Parallelen nutzung Von sakralen räumen In FrÜHcHrIstlIcHer zeIt ute Verstegen Am 24. Juni 1936 fiel die Trennmauer zwischen Chor und Langhaus der Heidelberger Heiliggeistkirche (Abb. 1 – 2)1. nach langwierigen Verhandlungen war es der evangelischen gemeinde endlich gelungen, in den alleinbesitz der Immobilie zu gelangen. denn über zwei Jahrhunderte, von 1706 an, hatte die mauer nicht nur zwei räume, sondern auch zwei gemeinden voneinander geschieden. Im chor hatten katholiken, im langhaus evangelische ihre gottesdienste abgehalten. „Ohne perturbation“2, wie es in den zeitgenössischen Quellen hieß, d. h. voneinander ungestört. nur den turm und die glocken hatten sich die beiden konfessionen teilen müssen. Die Heiliggeistkirche, eine dreischiffige Hallenkirche mit Langhausemporen und Hallenumgangschor, war zwischen 1398 und der Mitte des 15. Jahrhunderts in völlig anderer Funktion errichtet worden. wohl unter Initiative des pfälzischen kurfürsten ruprecht I. war das Bauwerk als kirche eines kollegiatsstifts entstanden. Im chor hatte der Bau außerdem die kurfürstliche grablege aufgenommen, auf den Langhausemporen beherbergte er die Bibliothek der 1386 gegründeten Heidelberger universität. an der stelle der späteren scheidemauer trennte ein lettner den Chor vom Langhaus ab. Der östlich des Lettners befindliche Chorbereich war dem 1
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zur Heiliggeistkirche: eberhard zahn, Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche Badens 19), Karlsruhe 1960; renate neumüllerS-klauSer / dethard Von winterfelD, Heiliggeistkirche Heidelberg. Ehem. Stiftskirche – evang. Pfarrkirche (Kleine Kunstführer 1184), 2. überarb. Aufl. München 1992; Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg 1398 – 1998. Ein Schau- und Lesebuch, hg. v. werner keller, Heidelberg 1999; matthias Schwara, die Heiliggeistkirche in Heidelberg im wandel der zeiten. ein Beitrag zur rechtsgeschichte südwestdeutschlands, Frankfurt a. M. 2003; Mathias köhler, Heiliggeistkirche Heidelberg (Kleine Kunstführer 1184), 4., neu bearb. Aufl. Regensburg 2006. – Zur Trennmauer außerdem: L. Palatinus, Die Scheidemauer in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg. eine historische erinnerung zum universitäts-Jubiläum 1886, Heidelberg 1885; Berthold SchnaBel, „eine ordentl. separation des kirchenchors und navis“. die errichtung von trennmauern in kurpfälzischen gotteshäusern im 18. Jahrhundert, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 62 (2010), 219 – 311; Matthias SchröDer, gott loben – Wand an Wand. Simultankirchen mit Trennmauern gestern und heute, in: Vestigia II. aufsätze zur kirchen- und landesgeschichte zwischen rhein und mosel, hg. v. mathias gaSchott / Jochen roth, Regensburg 2013, 239 – 272, hier: 248 f. SchnaBel, „Eine ordentl. separation des kirchenchors und navis“ (wie Anm. 1), 251.
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exklusiven Zutritt der Stiftsherren vorbehalten und durfte von Laien nicht begangen werden. In Folge der Einführung der Reformation in der Kurpfalz im Jahr 1546 wurden alle ausstattungselemente aus der kirche entfernt, die mit dem katholischen ritus in Verbindung gestanden hatten, wie beispielsweise altäre, Bildwerke, liturgisches gerät und der lettner3. die Bibliothek wurde im Verlauf des dreißigjährigen krieges in die Biblioteca Vaticana nach rom transferiert4. Im 17. Jahrhundert erlebte die kirche eine wechselvolle geschichte, war im zuge des dreißigjährigen krieges mal in reformierten, mal in katholischen Händen und brannte dann 1693 völlig aus5. Fünf Jahre später, 1698, wurden alle bislang reformierten kirchen der Pfalz der gleichmäßigen Nutzung durch beide Konfessionen übertragen. 1705 erließ der katholische kurfürst Johann wilhelm schließlich eine religionsdeklaration, nach der fortan die Verteilung der vorhandenen Gotteshäuser im Verhältnis 2/7 zu 5/7 unter katholiken und reformierten erfolgen sollte. stand in einer stadt nur eine kirche zur Verfügung, die eine Pfarrfunktion innehatte oder der eine Pfarrfunktion zugewiesen werden konnte, sollte der chor in das eigentum der katholischen gemeinde, das langhaus in das der reformierten übergehen6. entsprechend wurde mit der Heidelberger Heiliggeistkirche verfahren. unter wiedernutzung des Fundaments des abgebrochenen lettners wurde 1706 eine zweischalige Backsteinmauer aufgeführt, die die drei Bögen zwischen langhaus und chor verschloss7. gleichzeitig mussten in die seitenwände des chors zwei neue Portale eingebrochen werden, um der katholischen gemeinde einen zugang zu ihrem gottesdienstraum in der chorpartie zu ermöglichen8. entsprechende kirchenbauten, die durch mehrere christliche konfessionen genutzt werden, werden in anlehnung an ihre kirchenrechtliche denomination als 3
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neumüllerS-klauSer / Von winterfelD, Heiliggeistkirche Heidelberg (wie Anm. 1), 6; Gottfried SeeBaSS, Im spannungsfeld der konfessionen. Von der reformation ottheinrichs bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, in: Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg (wie Anm. 1), 43 – 47. teile der Bestände gelangten im 19. Jahrhundert zurück nach Heidelberg. Vgl. Friedrich wilken, geschichte der Bildung, Beraubung und Vernichtung der alten Heidelbergischen Büchersammlungen. nebst einem Verzeichniß der aus der pfaelzischen Bibliothek im Vatican an die universität Heidelberg zurückgegebenen Handschriften, Heidelberg 1817, urn:nbn:de:bsz:16diglit-13877; Johann Christian Felix Baehr, zur geschichte der wegführung der Heidelberger Bibliothek nach Rom im Jahr 1623, s. l. 1869, urn:nbn:de:bsz:16-diglit-37777. Das Projekt „Bibliotheca Palatina digital“ erarbeitet eine virtuelle zusammenführung der ressourcen, vgl. http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/bpd/ (15.08.2013). werner keller, 300. Jahrestag der Zerstörung Heidelbergs. Zerstörung der Heiliggeistkirche am 22. Mai 1693, in: Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg (wie Anm. 1), 48 – 50. Vgl. alfred hanS, Die kurpfälzische Religionsdeklaration von 1705. Ihre Entstehung und Bedeutung für das Zusammenleben der drei im Reich tolerierten Konfessionen, Mainz 1973; SchnaBel (wie Anm. 1), 222; SchröDer, Gott loben – Wand an Wand (wie Anm. 1). SchnaBel, „Eine ordentl. separation des kirchenchors und navis“ (wie Anm. 1), 252 (zum erhaltenen Maurervertrag); SchröDer, Gott loben – Wand an Wand (wie Anm. 1), 248 f. SchnaBel, „Eine ordentl. separation des kirchenchors und navis“ (wie Anm. 1), 252.
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‚simultankirchen‘ oder ‚paritätische kirchen‘ bezeichnet9. sie waren ein Phänomen der nachreformatorischen zeit und ausdruck der konfessionellen Inhomogenität von gemeinwesen10. Vor allem im ländlichen Raum, aber nicht nur dort, existieren simultankirchen mancherorts bis heute. In deutschland bestanden 2008 z. B. noch 64 Simultankirchen, im Elsass ergab eine Zählung im Jahr 1998 noch 5011. Bei einem teil der Bauten wurde die möglichkeit der gemeinsamen nutzung wie in Heidelberg durch die einrichtung trennender elemente erreicht, deren ausformung von vollständigen abmauerungen über Vorhänge bis hin zu einfachen schrankengittern reichte12. eine solche anordnung hatte im Idealfall zum ziel, eine zeitgleiche raumnutzung beider kirchenteile zu ermöglichen. nichtdestoweniger 9
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christoph Schäfer, das simultaneum. ein staatskirchenrechtliches, politisches und theologisches Problem des Alten Reiches (Europäische Hochschulschriften Reihe 2: Rechtswissenschaft 1787), Frankfurt a. M. / Berlin 1995; Bernard Vogler, simultaneum, in: theologische realenzyklopädie 31, hg. v. Gerhard Müller, Berlin / New York 2000, 280 – 283. – Heinz henke: wohngemeinschaften unter deutschen kirchendächern. die simultanen kirchenverhältnisse in Deutschland – eine Bestandsaufnahme, Leipzig 2008. – Zur Schweiz: Frauke VolklanD, Reformiert sein „unter“ Katholiken. Zur religiösen Praxis reformiert Gläubiger in gemischtkonfessionellen gemeinden der alten eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert, in: ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500 – 1850, hg. v. Norbert haag / sabine holtz / wolfgang zimmermann, Stuttgart 2002, 159 – 177; Christina Maria SchmiD-tSchirren, Von der säkularisation zur separation. der umgang des staates mit den kirchengütern in den evangelisch-reformierten und paritätischen Kantonen der Schweiz im 19. Jahrhundert (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht 26), Zürich / Basel / Genf 2011. Jüngere historische Überblicke der entstehungsbedingungen geben: Paul warmBrunn, toleranz im reich vom augsburger religionsfrieden bis zum westfälischen Frieden. kirchen- und Landesordnungen und gesellschaftliche Praxis, in: Ablehnung, Duldung, Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland – ein historischer und aktueller Vergleich (Veröffentlichungen des Instituts für niederrheinische kulturgeschichte und regionalentwicklung der Universität Duisburg-Essen 9), hg. v. Horst laDemacher / renate looS / simon groenVelD, Münster / München/u. a. 2004, 79 – 116. – Norbert kerSken, konfessionelle Behauptung und Koexistenz. Simultankirchen im 16. Jahrhundert, in: Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, hg. v. Joachim Bahlcke / karen lamBrecht / Hans-christian maner, leipzig 2006, 287 – 304; Frauke VolklanD, konfessionelle abgrenzung zwischen gewalt, stereotypenbildung und symbolik. gemischtkonfessionelle gebiete der ostschweiz und die kurpfalz im Vergleich, in: Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500 – 1800), hg. v. Kaspar Von greyerz / kim SieBenhüner (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 215), Göttingen 2006, 343 – 366; Hans ammerich, die entstehung der simultankirchen in der Pfalz, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 62 (2010), 199 – 218. Vgl. auch henke, Wohngemeinschaften unter deutschen Kirchendächern (wie Anm. 9), 17. henke, Wohngemeinschaften unter deutschen Kirchendächern (wie Anm. 9), 29, v. a. in Rheinland-Pfalz, Baden-württemberg und nordbayern; Vogler, Simultaneum (wie Anm. 9), 283. zur schweiz fehlt ein aktueller gesamtüberblick. Vgl. Jürg SchmiD, Paritätische kirchen im rheintal und im toggenburg, kirchenbote der evangelisch-reformierten kirche des kantons St. Gallen Nr. 10, 15. Oktober 1982, 1 – 6. SchnaBel, „Eine ordentl. separation des kirchenchors und navis“ (wie Anm. 1); SchröDer, Gott loben – Wand an Wand (wie Anm. 1); henke, wohngemeinschaften unter deutschen kirchendächern (wie Anm. 9), 26 f.; VolklanD, Konfessionelle Abgrenzung zwischen Gewalt (wie Anm. 10), 354.
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sind trotz raumhoher trennmauern immer wieder Beschwerden darüber überliefert, dass sie bei gleichzeitigen gottesdiensten nicht ausreichend in der lage waren, den schall zu dämpfen. dies ging so weit, dass sich angeblich zum Beispiel ein katholischer Pfarrer die Predigt sparen konnte, weil seine gemeinde mühelos seinem evangelischen kollegen auf der anderen seite der trennwand folgen konnte13. der großteil der Bauten, für die eine simultane nutzung bezeugt ist, blieb allerdings räumlich ungeteilt, so dass sich die betroffenen gemeinden nach möglichkeit ohnehin auf eine art ‚stundenplan‘ einigen mussten, nach dem die gottesdienste zeitversetzt durchgeführt wurden. In der seit 1548 als Simultankirche dienenden stadtpfarrkirche st. martin und maria in Biberach an der riß wurde daher demonstrativ eine große Uhr im Kirchenraum über dem Chorbogen angebracht (Abb. 3)14. die alternierende nutzung brachte den Vorteil mit sich, dass ausstattungsgegenstände wie das gestühl oder die orgel von beiden gruppen gleichermaßen genutzt werden konnten. Für einzelne Ausstattungselemente (zum Beispiel Glocken oder Taufstein) vereinbarten die beteiligten Parteien mitunter Sondernutzungsrechte15. dieser Beitrag möchte im Folgenden danach fragen, ob sich vergleichbare Parallelnutzungen sakraler räume durch angehörige unterschiedlicher glaubensgruppen auch schon in vorreformatorischer zeit aufzeigen lassen, und welche Hinweise sich hierfür aus archäologischen oder bauarchäologischen untersuchungen gewinnen lassen. es wird danach gefragt, mittels welcher ‚arrangements‘ auf architektonischer und ritueller ebene versucht wurde, eine gemeinsame nutzung der betreffenden orte einzurichten bzw. welche adaptionen im Fall des Hinzukommens einer neuen nutzergemeinschaft umgesetzt wurden. der zeitliche Fokus wird auf Bauten liegen, die in der spätantike, also etwa zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert, entstanden. zonierungen und separierungen im frühchristlichen kirchenbau Vorauszuschicken ist, dass frühchristliche und mittelalterliche kirchenbauten entgegen der heute oftmals vorherrschenden optischen raumwirkung prinzipiell keine ununterteilten ‚einheitsräume‘ waren. Innerhalb der Bauten wurden mal offensichtliche, mal subtilere segmentierungen vorgenommen, die eine aufteilung der versammelten gläubigen nach Personengruppen zum ziel hatten16. den verschiedenen
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Überliefert für das Beispiel st. georg in wachenheim, wo nur eine mauer aus Fachwerk und Backsteinen existierte, vgl. SchnaBel, „eine ordentl. separation des kirchenchors und navis“ (wie Anm. 1), 229. otto Beck, Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß, 5. Aufl. Regensburg 2006. – Historische Einbettung: Paul warmBrunn, zwei konfessionen in einer stadt. das zusammenleben von katholiken und Protestanten in den paritätischen reichsstädten augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 111), Wiesbaden 1983. henke, Wohngemeinschaften unter deutschen Kirchendächern (wie Anm. 9), 26. Überblicksdarstellungen mit weiteren literaturhinweisen: ute VerStegen, gemeinschaftserlebnis in ritual und raum. zur raumdisposition in frühchristlichen Basiliken des 4. und
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Personengruppen waren jeweils unterschiedliche zonen des gebäudes zugänglich bzw. als aufenthaltsorte zugewiesen. so wurden insbesondere kleriker und laien voneinander getrennt, aber auch innerhalb dieser gruppen wiederum untergliederungen vorgenommen. Bereits für die Spätantike finden sich in schriftlichen und archäologischen Quellen Hinweise darauf, dass die aufenthaltsbereiche des klerus in den kirchenbauten nicht nur durch eine podestartige erhöhung, sondern auch durch hüfthohe schrankenanlagen separiert waren. diese schranken markierten zugleich die grenze des sanktuariums um den altar als heiligster zone innerhalb des kirchenraums, aber auch von raumteilen, in denen zum Biespiel reliquien verwahrt wurden17. neben der allgemeinen separierung der gottesdienstbesucher in klerus und laien wurden auch diese beiden untergruppen weiter differenziert, zum Beispiel hoher und niederer klerus voneinander geschieden, oder bei den laien eine geschlechtertrennung nach männern und Frauen vorgenommen18. sonderstellungen besaßen in frühchristlicher Zeit außerdem Katechumenen (Taufanwärter), Büßer und ehemalige Anhänger von Häresien (Abgefallene, lapsi), die in die katholische kirche zurückkehren wollten, da diese Personengruppen teilweise nur
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5. Jahrhunderts, in: Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, ritual und raumordnung, hg. v. ulrike egelhaaf-gaiSer / alfred Schäfer (Studien und Texte zu Antike und Christentum 13), Tübingen 2002, 261 – 297; Giovanni liccarDo, architettura e liturgia nella Chiesa antica, Mailand 2005; Thresholds of the sacred. Architectural, art historical, liturgical, and theological perspectives on religious screens, east and west, hg. v. sharon e. J. gerStel, washington d. c. 2006; sible De Blaauw, Kultgebäude, in: Reallexikon für Antike und Christentum 22, Stuttgart 2007, 227 – 393; Allan Doig, liturgy and architecture. From the early church to the middle ages, aldershot / Burlington 2008; ute VerStegen, die symbolische raumordnung frühchristlicher Basiliken des 4. bis 6. Jahrhunderts. zur Interdependenz von Architektur, Liturgie und Raumausstattung, Rivista di archeologia cristiana 85 (2009 [2010]), 567 – 600. charles DelVoye, Bema, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 1, Stuttgart 1966, 583 – 599; Ders., Cancelli, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 1, Stuttgart 1966, 900 – 931; Joan Branham, sacred space under erasure in ancient synagogues and early churches, the art Bulletin 74 (1992), 375 – 394; Alessandra guiglia guiDoBalDi, la scultura di arredo liturgico nelle chiese di roma. Il momento bizantino, in: ecclesiae urbis. atti del congresso Internazionale di Studi sulle Chiese di Roma (IV-X secolo). Roma, 4 – 10 settembre 2000 (Studi di antichità cristiana 59), hg. v. Federico guiDoBalDi, Città del Vaticano 2002, 1479 – 1524; VerStegen, gemeinschaftserlebnis (wie Anm. 16); gerStel, Thresholds of the sacred (wie Anm. 16); VerStegen, Symbolische Raumordnung (wie Anm. 16); Sible De Blaauw, origins and early developments of the Choir, in: La place du choeur. Architecture et liturgie du Moyen Âge aux temps modernes. actes du colloque de l’ePHe Institut national d’Histoire de l’art les 10 et 11 décembre 2007, hg. v. roberto caterino / sabine frommel / laurent lecomte / raphaël taSSin (Itinéraires percorsi 1), Paris 2012, 25 – 32. Heinrich SelhorSt, die Platzordnung im gläubigenraum der altchristlichen kirche, münster 1931; VerStegen, Gemeinschaftserlebnis (wie Anm. 16), 278 f.; Gabriela Signori, links oder rechts? zum ‘Platz der Frau’ in der mittelalterlichen kirche, in: zwischen gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 21), hg. v. susanne rau / gerd Schwerhoff, Köln 2004, 338 – 382, hier: 345 f.; VerStegen, symbolische Raumordnung (wie Anm. 16), 584 f.
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während des wortgottesdienstes im kirchenraum anwesend bleiben durften und von der anschließenden eucharistiefeier oder anderen gemeinschaftshandlungen ausgeschlossen wurden19. Für verschiedene situationen ist überliefert, dass in frühchristlichen kirchen auch separationen nach sprachgruppen vorgenommen wurden20. so berichtet die Heilig-Land-Pilgerin Egeria in den 380er Jahren, dass in den Jerusalemer Pilgerkirchen simultanübersetzungen für diejenigen Pilger stattfanden, die die in griechischer sprache gehaltene Predigt nicht verstanden21. und aus der regel des 478 gegründeten sabas-klosters in der judäischen wüste geht hervor, dass die dem kloster zugehörigen georgischen, syrischen und lateinischsprachigen mönche sonntags den wortgottesdienst zunächst in eigenen, separaten kirchen feierten, sich aber anschließend zum eucharistischen gottesdienstabschnitt alle gemeinsam in die große kirche der griechischen mönche begaben22. die nutzung frühchristlicher kirchenbauten durch verschiedene Bekenntnisgruppen und die ‚konversion‘ von kirchenräumen Trotz dieser gängigen Praxis der gemeinsamen Nutzung von Kirchenräumen durch verschiedene Personengruppen in gemeinde-, kloster- oder Pilgerkirchen wurde die simultannutzung eines sakralraumes durch konkurrierende Konfessionen in der Spätantike – anders als in der frühen Neuzeit – offenbar nicht als praktikable Lösung erachtet. Das frühe Christentum war im 4. und 5. Jahrhundert wesentlich von ekklesiologischen und christologischen auseinandersetzungen geprägt, die immer wieder 19
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Pietro Borella, la ‚missa‘ o ‚dimissio catechumenorum‘ nelle liturgie occidentali, ephemerides liturgicae 53 (1939), 60 – 110; Josef Schmitz, gottesdienst im altchristlichen mailand. eine liturgiewissenschaftliche untersuchung über Initiation und messfeier während des Jahres zur Zeit des Bischofs Ambrosius (obit. 397) (Theophaneia, Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Altertums 25), Köln 1975, 360 f.; Robert F. taft, the great entrance. a history of the transfer of gifts and other preanaphoral rites of the Liturgy of St. John Chrysostom (Orientalia Christiana analecta 200), Rom 1975, 199 f.; Robert caBié, The Eucharist (The Church at Prayer 2), 69 f.; VerStegen, Gemeinschaftserlebnis (wie Anm. 16), 285 (mit weiteren Literaturhinweisen). – Zum Umgang mit Häretikern speziell: Uta heil, avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (Patristische Texte und Studien 66), Berlin 2011, 87 f. eligius DekkerS, limites sociales et linguistiques de la pastorale liturgique de saint Jean chrysostome, in: ecclesia orans. mélanges patristiques offerts au Père adalbert g. Hamman oFm à l’occasion de ses quarante ans d’enseignement (Augustinianum, Annus 20, Fasc. 1/2), hg. v. Vicor Saxer, Rom 1980, 119 – 129; VerStegen, Gemeinschaftserlebnis (wie Anm. 16), 279. Itinerarium Egeriae 47,3 – 4. Vgl. Egeria, Itinerarium – Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus, De locis sanctis – Die Heiligen Stätten. Übersetzt und eingeleitet von Georg röwekamP unter mitarbeit von dietmar thönneS (Fontes Christiani 20), Freiburg / Basel / Wien 1995, 302 f. gottfried Schramm, anfänge des albanischen christentums. die frühe Bekehrung der Bessen und ihre langen Folgen. 2., überarb. Aufl. Freiburg im Breisgau 1999, 238 – 243. Vgl. Yizhar hirSchfelD, Euthymius and his monastery in the Judean Desert, Liber annuus 43 (1993), 339 – 371.
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zu kirchenabspaltungen und sog. Häresien von der allgemein anerkannten, sog. orthodoxen (‚rechtgläubigen‘) oder katholischen (‚allgemeingültigen‘), theologischen lehrmeinung führten23. dies hatte zur Folge, dass in manchen regionen, auch abhängig von politischen konstellationen, mehrere kirchliche organisationsstrukturen nebeneinander standen. So existierte beispielsweise in Nordafrika zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert die sog. donatistische kirche parallel zur katholischen und besaß wie diese eigene kirchen und taufhäuser24. germanische Volksgruppen wie Burgunder und Goten brachten im 5. und 6. Jahrhundert die sog. arianische oder homöische kirche in regionen des ehemaligen römischen westreichs, in denen bislang das katholische christentum vorgeherrscht hatte25. da sich die jeweiligen
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Hans dieter Betz / alfred SchinDler / wolfgang huBer, Häresie, in: theologische realenzyklopädie 14, Berlin / New York 1985, 313 – 348; Norbert Brox, Häresie, in: Reallexikon für Antike und Christentum 13, Stuttgart 1986, 248 – 297; Winrich Alfried lohr, Schisma, in: Theologische Realenzyklopädie 30, Berlin / New York 1999, 129 – 135; Ewald tekülVe, Von der religionsfreiheit zum kirchenzwang. studien zur geschichte der religionsfreiheit im Jahrhundert nach der Konstantinischen Wende (Schriftenreihe Studien zur Kirchengeschichte 11), Hamburg 2010; david morton gwynn, religious diversity in late antiquity. a Bibliographic Essay, in: Religious diversity in late antiquity (Late antique archaeology 6), hg. v. David Morton gwynn / susanne Bangert gwynn / luke laVan / carlos machaDo, Leiden 2010, 15 – 132, hier: 60 – 71. – Diskussion unter den Aspekten von Identität und Pluralität der christlichen Gruppierungen: christoph markSchieS, kaiserzeitliche christliche theologie und ihre Institutionen, Tübingen 2007, 337 – 382; zum Urchristentum: Martin eBner, religiöser Pluralismus im kontext des frühen Christentums. Uniforme Einheit als Argument oder organisatorische Einheit als ziel?, in: modelle des religiösen Pluralismus. Historische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 5), hg. v. Karl gaBriel / christian SPieSS / katja winkler, Paderborn u. a. 2012, 17 – 50. william H. c. frenD, the donatist church. a movement of Protest in roman north africa, 2. Aufl. Oxford 1971; Maureen A. tilley, sustaining donatist self-Identity. From the church of the Martyrs to the Collecta of the Desert, Journal of Early Christian Studies 5 (1997), 21 – 35, DOI: 10.1353/earl.1997.0030; Brent D. Shaw, sacred Violence. african christians and sectarian Hatred in the age of augustine, cambridge / new York 2011. Hanns christof Brennecke, studien zur geschichte der Homöer. der osten bis zum ende der homöischen Reichskirche (Beiträge zur historischen Theologie 73), Tübingen 1988; Patrick amory, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489 – 554 (Cambridge studies in medieval life and thought, Series 4, 33), Cambridge u. a. 1997; Hanns Christof Brennecke, arius / arianismus, in: religion in geschichte und gegenwart4 1, Tübingen 1998, 738 – 743; Knut SchäferDiek, die anfänge des christentums bei den goten und der sog. gotische arianismus, zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), 295 – 310; Hans Christof Brennecke, ‚lateinischer oder germanischer ‚Arianismus‘? Zur Frage einer Definition am Beispiel der religiösen Konflikte im nordafrikanischen Vandalenreich, in: Collatio Augustini cum Pascentio. Einleitung, Text. Übersetzung, hg. v. Hildegund müller / dorothea weBer / clemens weiDmann, wien 2008, 125 – 144; heil (wie Anm. 19); Roland Steinacher, der vandalische königshof als ort der öffentlichen religiösen auseinandersetzung, in: streit am Hof im frühen mittelalter, hg. v. matthias Becher / alheydis PlaSSmann, Göttingen / Bonn 2011, 45 – 74; Peter DinzelBacher, die ostgotischen könige, die religion und das recht nach cassiodors ‚Variae‘, mittellateinisches Jahrbuch 48 (2013), 1 – 27; Arianism. Roman Heresy and Barbarian Creed, hg. v. Roland Steinacher / guido m. BernDt, aldershot, 2014.
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gotteshäuser der konkurrierenden kirchen jedoch nicht durch bauliche charakteristika voneinander unterschieden, ist es bei fehlender Quellenüberlieferung in der regel nicht möglich, archäologisch nachgewiesene kirchenbauten einer von mehreren möglichen konfessionen zuzuweisen26. Eine Ortslage, für die durch den Ausgräber Franz Glaser die parallele Existenz einer katholischen und einer homöischen gemeinde vorgeschlagen wurde, ist die Höhensiedlung auf dem Hemmaberg bei globasnitz in südkärnten im Bereich der ehemaligen spätantiken Provinz Noricum (Abb. 4)27. nachdem in einer ersten siedlungsphase ab etwa 400 eine einschiffige Saalkirche auf dem Gipfelplateau errichtet worden war, entstanden zu Beginn des 6. Jahrhunderts östlich und westlich davon zur selben zeit zwei doppelkirchenanlagen, die sogar von derselben werkstatt mit mosaikfußböden ausgestattet wurden28. Beide anlagen verfügten nicht nur über eine Feierkirche mit altar und klerusbank, sondern auch über eine zweite kirche mit Taufpiscina, was von Glaser als Hauptargument für die Koexistenz von zwei christlichen gemeinden verschiedener glaubensrichtungen gewertet wird29.
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magherita cecchelli / gioia Bertelli, Edifici di culto ariano in Italia, in: Actes du XIe Congrès International d’Archéologie Chrétienne (Studi di antichità cristiana 41 / Collection de l’Ecole Française de Rome 123), hg. v. Noël DuVal, Paris / Rom 1986, I 233 – 247; David morton gwynn, archaeology and the ‘arian cotroversy’ in the Fourth century, in: religious diversity in late antiquity (Late antique archaeology 6), hg. v. David Morton gwynn / susanne Bangert gwynn / luke laVan / carlos machaDo, Leiden 2010, 229 – 263; Bryan warDPerkinS, where is the archaeology and Iconography of germanic arianism?, in: ebd., 265 – 289. Franz glaSer, die römische siedlung Iuenna und die frühchristlichen kirchen am Hemmaberg. klagenfurt 1982; DerS. Frühes Christentum im Alpenraum. Regensburg 1997, 96, 113 – 120; DerS., Frühchristliche kirchen an Bischofssitzen, in Pilgerheiligtümern und in befestigten Höhensiedlungen, in: Frühe kirchen im östlichen alpengebiet. Von der spätantike bis in ottonische Zeit (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abhandlungen N. F. 123), hg. v. Hans Rudolf SennhauSer, München 2003, II 865 – 880; DerS., kirchen in noricum als spiegel von glaube und Herrschaft, in: glaube, kult und Herrschaft. Phänomene des religiösen im 1. Jahrtausend n. chr. in mittel- und nordeuropa. akten des 59. Internationalen Sachsensymposions und der Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im Mitteldonauraum (Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 12), hg. v. Uta Von freeDen / Herwig frieSinger / egon wamerS, Bonn 2009, 95 – 104. glaSer, Kirchen in Noricum (wie Anm. 27), 95. Eventuell waren sogar dieselben Bautrupps am werk, da die naturwissenschaftlichen analysen der zusammensetzung der mörtel gezeigt haben, dass diese identisch waren. die datierung erfolgte über die Fundauswertung von sabine ladstätter, die das unter dem estrich der westlichen doppelkirche zutage getretene Fundgut in die Zeit um 490 bis 520 n. Chr. datiert. Vgl. Sabine laDStätter, die materielle kultur der spätantike in den ostalpen. eine Fallstudie am Beispiel der westlichen doppelkirchenanlage auf dem Hemmaberg (Mitteilungen der Prähistorischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 35), Wien 2000. glaSer, Frühchristliche Kirchen an Bischofssitzen (wie Anm. 27), 870. – Glasers Begründung, dass die notwendigkeit von zwei Bauten in den differierenden taufformeln begründet liege, ist allerdings nicht nachvollziehbar. die ursache könnte vielmehr in einem gestiegener Bedarf oder in der Existenz paralleler kirchlicher Strukturen zu suchen sein, vgl. heil, avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (wie Anm. 19), 108.
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Da Noricum in der Zeit zwischen 493 und 536 zum Herrschaftsgebiet der Ostgoten zählte und diese dem homöischen glaubensbekenntnis anhingen, geht glaser davon aus, dass eine der doppelkirchenanlagen von den homöischen ostgoten, die andere von der ansässigen romanischen, katholischen Bevölkerung genutzt wurde30. glasers these blieb im Fachdiskurs aber nicht unwidersprochen: so argumentierte der münchner Vor- und Frühgeschichtler Volker Bierbrauer, die doppelung der kirchen lasse sich dadurch erklären, dass sich zwei katholische siedlungsgemeinschaften aus den umliegenden tälern in die Höhenbefestigung zurückgezogen und jeweils ihre eigenen reliquien aus den alten talkirchen in die neuen kirchenanlagen transferiert hätten31. ulrike kersting schlug darüber hinaus vor, die beiden separierten taufräume könnten sich als Handlungsorte für die nach geschlechtern getrennte Frauen- und männertaufe erklären lassen32. Durch die Auffindung eines ostgotischen Bestattungsplatzes am Fuß des Hemmabergs im Jahr 1999 fand glasers these einer anwesenheit von homöischen ostgoten allerdings eine Bestätigung im archäologischen Befund, weshalb seine erklärung der zweifachen doppelkirchenanlage für das spezifische Beispiel des Hemmabergs als die plausibelste anzusehen ist33. als weiteres argument für dieses modell könnte gewertet werden, dass die westliche kirchengruppe bereits in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts außer Funktion geraten zu sein scheint und teilweise zu wohnzwecken umgenutzt wurde34. dies korrespondiert mit der für eine andere region, nämlich das Burgunderreich, überlieferten skepsis der katholischen kirche, homöische gotteshäuser nach abzug oder konversion der homöischen gemeinde neu zu weihen und weiter zu nutzen. eine hervorragende, erst kürzlich durch die kirchenhistorikerin uta Heil ausgewertete Quelle zu dieser Frage bilden die Briefe des Bischofs avitus von Vienne 30 31
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glaSer, Frühchristliche Kirchen an Bischofssitzen (wie Anm. 27), 875. Volker BierBrauer, arianische kirchen in noricum mediterraneum und raetia II, Bayerische Vorgeschichtsblätter 63 (1998), 205 – 226, hier: 224. Vgl. auch DerS., goten im osten und westen. Ethnos und Mobilität am Ende des 5. und in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts aus archäologischer Sicht, Kölner Jahrbuch 43 (2010), 71 – 111. ulrike kerSting, Spätantike und Frühmittelalter in Kärnten, Diss. Phil. Bonn 1993, Bonn 1994, 49. glaSer, Kirchen in Noricum (wie Anm. 27), 100 betont zu Recht, dass man für diesen Fall aber keine zwei Feierkirchen benötigt hätte. Franz glaSer, Die Ausgrabungen im Gräberfeld der Ostgotenzeit (493 – 536), RudolfinumJahrbuch des Landesmuseums für Kärnten 2003 [2004], 69 – 78; DerS., Frühchristliche kirche im Gräberfeld der Ostgotenzeit (493 – 536) am Fuße des Hemmaberges, Rudolfinum-Jahrbuch des Landesmuseums für Kärnten 2004 [2005], 129 – 134; DerS., christentum zur ostgotenzeit in Noricum (493 – 536). Die Kirchen auf dem Hemmaberg und das Gräberfeld im Tal, Mitteilungen zur Christlichen Archäologie 10 (2004), 80 – 101; DerS., l’epoca ostrogota nel norico (493 – 536). Le chiese sull’Hemmaberg e le necropoli nella valle, in: Goti nell’arco alpino orientale (Archeologia di frontiera 5), hg. v. Maurizio Buora / luca Villa, Udine 2006, 83 – 105; glaSer, Kirchen in Noricum (wie Anm. 27), 100 f. – Vgl. zu den grundlegenden methodischen schwierigkeiten bei der ethnischen Interpretation von archäologischen Befunden die Beiträge in: Archaeology of Identity / Archäologie der Identität (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 17), hg. v. Walter Pohl / Mathias Mehofer, Wien 2010. glaSer, Frühes Christentum im Alpenraum (wie Anm. 27), 119; DerS., kirchen in noricum (wie Anm. 27), 97.
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(um 460 – 518), in denen sich der katholische Bischof über den Umgang mit Kirchenbauten und kirchengerät nach konfessionswechseln äußerte35. In einem Brief an Victorius von Grenoble, der in die Jahre 516 bis 517 kurz nach Regierungsantritt des Königs Sigismund (reg. 516 – 524) zu datieren ist, der 497 vom homöischen zum katholischen glauben konvertiert war, setzte sich avitus mit der Frage auseinander, was mit kirchenbauten zu geschehen habe, deren nutzer die konfession von der homöischen zur katholischen kirche gewechselt hatten. unter Bezugnahme auf alttestamentliche Heiligkeits- und reinheitsvorstellungen vertrat avitus die Position, dass sich die durch den Fehlglauben kontaminierten Baulichkeiten weder durch eine segnung noch durch einen kirchweihritus wieder reinigen lassen würden36. einzige mögliche konsequenz sei deshalb, die Bauten nicht weiter zu nutzen, sondern verfallen zu lassen37. Diese extreme Position war innerhalb eines größeren gremiums aber offensichtlich nicht durchsetzbar. zwar wurde auf der burgundischen Synode von Epao 517 schließlich entschieden, dass die kirchen der Häretiker nicht als kirchenräume weiterverwendet werden durften. eine ausnahme bildeten aber jene ursprünglich katholischen kirchenräume, die die Homöer zuvor konfisziert hatten. Diese sollten wieder dem Kult zugeführt werden38. gerade für den Fall, dass es könig sigismund viele seiner gefolgsleute gleich getan haben sollten und zum katholischen glauben konvertiert waren39, hätte sich wahrscheinlich bei der aufgabe aller betreffenden kirchen ein abrupter mangel an kirchlichen Versammlungsräumen ergeben40. dass im umgang mit den homöischen kirchen aber mit regionalen unterschieden zu rechnen ist, belegt das Beispiel Ravenna, das von 493 bis 540 Sitz der ostgotischen Herrscher war. Für ravenna sind sowohl die katholische Bischofskirche mit ihrem Baptisterium (die sog. Basilica Ursiana) als auch die homöische Kirche mit ihrem taufhaus bekannt, außerdem eine große, neben dem Palast der ostgotischen Herrscher gelegene kirche, die christus geweiht war, heute sant’apollinare nuovo 35 36 37 38 39
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heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (wie Anm. 19). heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (wie Anm. 19), 96 f. Anders als Personen ließen sich entweihte sachen nicht wieder heiligen. heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (wie Anm. 19), 100. heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (wie Anm. 19), 104. schon vorher waren vor allem die weiblichen mitglieder des burgundischen Herrscherhauses katholisch. Vgl. martina hartmann, die königin im frühen mittelalter, stuttgart 2009, 149; heil (wie Anm. 19), 47 – 57. Grundlegend: Cordula nolte, conversio und christianitas. Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 41), Stuttgart 1995. en passant wird aus avitus’ ausführungen auch klar, dass das eigenkirchenwesen keine homöische Besonderheit, sondern ein gängiges, konfessionsübergreifendes Phänomen war. Vgl. Heil (wie Anm. 19), 105 f. Grundlegend zum Eigenkirchenwesen im Frühmittelalter: Michael Borgolte, stiftergrab und eigenkirche. ein Begriffspaar der mittelalterarchäologie in historischer Kritik, Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 13 (1985), 27 – 38; Niklot krohn, Von der eigenkirche zur Pfarrgemeinschaft. kirchenbauten und kirchengräber der frühmittelalterlichen alamannia als archäologische zeugnisse für nobilitäre lebensweise und christliche Institutionalisierung, in: Centre – Region – Periphery. Medieval Europe, hg. v. Guido helmig / Barbara Scholkmann / matthias untermann, Hertingen 2003, 166 – 178.
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(Abb. 5)41. nach der rückeroberung ravennas durch den oströmischen Feldherr Belisar im Jahr 540 kam es gegen 560 auf Veranlassung des oströmischen Herrschers Justinian im rahmen einer Überführung alles gotischen kirchenguts in den Besitz der lokalen katholischen gemeinde zu einer umwandlung der ehemaligen homöischen Palastkirche in einen katholischen kultraum42. dieses ravennater Beispiel zeigt zudem eindrücklich, dass sich solche ‚konversionen‘ von kultgebäuden auch im materiellen Befund, hier speziell im Bildprogramm niederschlagen können (Abb. 6). Aus den Obergadenmosaiken wurden nämlich nicht nur die darstellungen von Persönlichkeiten aus der ostgotischen elite getilgt, was man noch als eine politisch motivierte damnatio memoriae hätte werten können43. diese tilgungen lassen sich noch an einigen stellen gut erkennen, an denen nur noch reste der Hände und Figurenumrisse an die darstellungen erinnern, die sich dort im ursprünglichen zustand, z. B. zwischen den säulenreihen des ravennater Palasts, befunden hatten44. zusätzlich wurden auf beiden seiten die gesamten mittleren Partien der mosaikfriese ausgetauscht und zwei Prozessionen von weiblichen und männlichen Heiligen angebracht, die sich nach osten auf die darstellungen der thronenden Gottesmutter mit Kind und des von Engeln flankierten Christus zubewegen. die Prozession der männlichen Heiligen wird angeführt durch den inschriftlich bezeichneten heiligen Martin von Tours, dem im 5. Jahrhundert eine Rolle als Verteidiger des wahren glaubens gegen die ‚arianer‘ zugeschrieben worden war45. 41
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Friedrich wilhelm Deichmann, ravenna. Hauptstadt des spätantiken abendlandes II. kommentar, 1. Teil, Wiesbaden 1974, 1 – 47, 125 – 189, 241 – 258; Deborah Mauskopf DeliyanniS, Ravenna in Late Antiquity, New York u. a. 2010, 84 – 100, 146 – 187; Carola Jäggi, edilizia di culto cristiano a Ravenna, in: Da Costantino a Carlo Magno (Storia dell’architettura italiana 12), hg. v. sible De Blaauw, Mailand 2010, I 146 – 189; Mariëtte VerhoeVen, the early christian Monuments of Ravenna. Transformations and Memory (Architectural Crossroads. Studies in the History of Architecture 1), Turnhout 2011, 27 – 31, 43 – 45, 247 – 256, 266 – 273; Carola Jäggi, Ravenna. Kunst und Kultur einer spätantiken Residenzstadt, Regensburg 2013. laut dem chronisten agnellus soll Justinian die Überführung in einen katholischen kultraum in der Amtszeit des Bischofs Agnellus (559 – 570) angeordnet haben. Vgl. Agnellus von Ravenna, Liber Pontificalis. Bischofsbuch (Fontes Christiani 21), übersetzt u. eingeleitet v. Claudia nauerth, Freiburg u. a. 1996, I 338 – 349. giuseppe BoVini, antichi rifacimenti nei mosaici di s. apollinare nuovo di ravenna, corsi di Cultura sull’arte Ravennate e Bizantina 13 (1966), 51 – 81; Emanuela Penni iacco, gli ariani a ravenna. le scene cristologiche della basilica di s. apollinare nuovo, ocnus. Quaderni della Scuola di specializzazione in archeologia 12 (2004), 199 – 214; Arthur urBano, donation, dedication, and damnatio memoriae. the catholic reconciliation of ravenna and the church of Sant’Apollinare Nuovo, Journal of Early Christian Studies 13 (2005), 71 – 110. – Die Mosaiken wurden schon im 19. Jahrhundert stark restauriert, vgl. zuletzt VerhoeVen, the early christian Monuments of Ravenna (wie Anm. 41), 269 f. diese Form der tilgung scheint bewusst daran erinnert zu haben, dass mosaikpartien eradiert wurden, vgl. urBano, Donation, Dedication, and Damnatio Memoriae (wie Anm. 43), 96 – 98. raymond Van Dam, Saints and their miracles in late antique Gaul, Princeton 1993, 17 f.; VerhoeVen, The Early Christian Monuments of Ravenna (wie Anm. 41), 152 f.; Deborah Mauskopf DeliyanniS, Ravenna, St. Martin and the Battle of Vouillé, in: The Battle of Vouillé, 507 CE. Where France Began (Millenium-Studien 37), hg. v. Danuta Shanzer / ralph w. mathiSen, Boston 2012, 167 – 180.
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welche darstellungen sich zuvor an dieser stelle befanden, ließ sich am Befund nicht mehr klären. ward-Perkins und deliyannis vermuteten, dass sich schon zuvor ein Heiligenzug an diesen stellen bewegte, der durch ‚konforme‘ Persönlichkeiten ausgetauscht wurde46. christlich-muslimische Parallelnutzungen in frühislamischer zeit Im Folgenden soll noch auf die Frage eingegangen werden, wie nach aufkommen einer neuen religion, des Islam, und nach der muslimischen eroberung vormals byzantinischer Herrschaftsgebiete im 7. Jahrhundert mit sakralorten umgegangen wurde, an denen christen und muslime gleichermaßen Interessen besaßen. dass christen und muslime an denselben orten und in denselben gebäuden gebetsstätten einrichteten, mag auf den ersten Blick verblüffen. Bereits 1991 hat suliman Bashear allerdings aufgezeigt, dass gebete von muslimen in kirchen während des ersten und beginnenden zweiten Jahrhunderte nach aufkommen des Islam keine seltenheit darstellten und überregional verbreitet waren47. So findet sich in Übergabeverträgen durch die Muslime eingenommener Siedlungen häufiger ein Passus, nach dem ein Viertel oder die Hälfte eines vorhandenen kirchenraums an die muslimischen eroberer als gebetsstätte abzutreten sei48. dies hatte zur Folge, dass in teilräumen bestehender kirchenbauten moscheen eingerichtet wurden, während die christliche gemeinde ihre kirche weiter nutzte49. mattia guidetti konnte diesen aspekt in seinen jüngsten Forschungen dahingehend konkretisieren, dass diese ältesten muslimischen Betstätten in der regel offenbar nicht im Hauptraum der christlichen gemeindeversammlung, sondern in einem vorgeschalteten oder angrenzenden raum wie einem Hof, einer sakristei oder einem taufhaus installiert wurden50.
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warD-PerkinS, Where is the Archaeology and Iconography of Germanic Arianism? (wie Anm. 26), 281 f.; DeliyanniS, Ravenna in Late Antiquity (wie Anm. 41), 171 f. suliman BaShear, Qibla musharriqa and early muslim Prayer in churches, the muslim world 81 (1991), 267 – 282. DOI: 10.1111/j.1478 – 1913.1991.tb03531.x. – Vgl. auch Arthur S. Tritton, the caliphs and their non-muslim subjects. a critical study of the covenant of ‘umar, london u. a. 1930, 39 f.; Amikam Elad, Medieval Jerusalem and Islamic Worship. Holy Places, Ceremonies, Pilgrimage (Islamic History and Civilization 8), Leiden 1995, 138. Vgl. Heribert Busse, Die ʿUmar-Moschee im östlichen Atrium der Grabeskirche, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 109 (1993), 73 – 82, hier: 80. – Grundlegende Analyse der Abkommen: albrecht noth, die literarisch überlieferten Verträge der eroberungszeit als historische Quelle für die Behandlung der unterworfenen nicht-muslime durch ihre neuen muslimischen Oberherren, in: Studien zum Minderheitenproblem im Islam 1 (Bonner Orientalistische Studien Neue Serie 27/1), Bonn 1973, 282 – 314. BuSSe, Die ‘Umar-Moschee im östlichen Atrium der Grabeskirche (wie Anm. 48), 74. mattia guiDetti, the Byzantine Heritage in the dar al-Islam. churches and mosques in al-ruha between the Sixth and Twelfth Centuries, Muqarnas 26 (2009), 1 – 36; DerS., the contiguity between churches and mosques in early Islamic Bilād al-Shām, Bulletin of the School of Oriental and African Studies 76 (2013), 229 – 258, DOI: http://dx.doi.org/10.1017/S0041977X13000086 [publiziert 22.05.2013].
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wie aber kann man sich eine solche gemeinsame nutzung eines gebäudekomplexes vorstellen? Einer Überlieferung aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts zufolge, soll z. B. der frühislamische Rechtsgelehrte Abū ʿAbd Allāh Ǧaʿfar ibn Muḥammad aṣ-Ṣādiq (699/700 oder 702/703 – 765) Gebete in Kirchen erlaubt haben. Auf die Frage, wie sich ein muslim verhalten solle, wenn nicht-muslime denselben ort nutzten, soll er geantwortet haben, man solle sich in Richtung Qibla (die die Gebetsrichtung anzeigende Wand) wenden und sie ignorieren51. erst nachdem eigene moscheen für die muslimische Bevölkerung errichtet oder bestehende Bauten in muslimische Bethäuser umgewandelt worden waren, dürfte diese Praxis nachgelassen haben. eine Besonderheit bildeten stätten, an denen die christen leben und Passion Jesu und mariens kommemorierten, da auch im koran dem Propheten Isa und seiner jungfräulichen mutter maryam gedacht wird. wie Bashear dargelegt hat, wurden Besuche der entsprechenden stätten in der muslimischen tradition teilweise sogar mohammed selbst, seinem engsten umkreis oder seinen nachfolgern nachgesagt52. aber auch an Verehrungsstätten christlicher lokalheiliger kam es zu kultanbindungen durch muslime53. Im Folgenden sollen zwei Beispiele dafür vorgestellt werden, welche lösungen und arrangements christen und muslime für ihre konkurrierenden Interessen am Besitz und Besuch besonders verehrungswürdiger stätten in der Folgezeit fanden. a. die kathisma-kirche zwischen Jerusalem und Bethlehem die früheste Umwandlung eines christlichen kultbaus in eine primär muslimische Gedenkstätte lässt sich archäologisch für die Kathisma-Kirche (Abb. 7) nachweisen, die auf halber strecke zwischen Jerusalem und Bethlehem lag und die erst in jüngerer zeit bekannt geworden ist. 1992 bei straßenbauarbeiten entdeckt, wurde das areal bis 2000 durch den israelischen antikendienst unter leitung von rina avner vollständig ausgegraben54. die untersuchungen erbrachten einen oktogonalen
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BaShear, Qibla Musharriqa and Early Muslim Prayer in Churches (wie Anm. 47), 280 mit Quellenangabe. BaShear, Qibla Musharriqa and Early Muslim Prayer in Churches (wie Anm. 47), 273 – 277. elizabeth key fowDen, The barbarian plain. Saint Sergius between Rome and Iran (The transformation of the classical heritage 28), Berkeley 1999, 179; DieS., sharing Holy Places, common Knowledge 8 (2002), 124 – 146, DOI: 10.1215/0961754X-8-1-124; Ora limor, sharing sacred space. Holy Places in Jerusalem Between christianity, Judaism and Islam, in: In laudem Hierosolymitani. studies in crusades and medieval culture in Honour of Benjamin z. kedar, hg. v. Iris Shagrir, / ronnie ellenBlum / Jonathan riley-Smith, Aldershot 2007, 219 – 231; dorothea weltecke, multireligiöse loca sancta und die mächtigen Heiligen der christen, der Islam 88 (2012), 73 – 95 (mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen). Vgl. zur modernen Situation: glenn Bowman, nationalizing the sacred. shrines and shifting Identities in the Israeli occupied territories, Man 28 (1993), 431 – 460. Rina Avner, The Kathisma. A Christian and Muslim Pilgrimage Site, ARAM 18 – 19 (2006 – 2007), 541 – 557; Dies., The Recovery of the Kathisma Church and Its Influence on Octagonal Buildings, in: One Land – Many Cultures. Archaeological Studies in Honour of Stanislao Loffreda (Studium Biblicum Franciscanum, Collectio Maior 41), hg. v. Giovanni Claudio Bottini / leah
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Zentralbau, in dessen Zentrum ein flacher Fels aus dem Boden ragt. Ein Stützenkranz trennte den zentralen raum mit dem Fels von einem umgang, von dem sich türen zu einer weiteren raumschale öffneten, in der sich vier größere kapellenartige räume und dazwischen kleinere rechteck- und zwickelräume befanden. die zugänge zur anlage lagen ursprünglich im süden, westen und norden; im osten ragte eine apsis aus dem oktogon. aus der schriftlichen Überlieferung lassen sich relativ viele Hinweise zu diesem Bau entnehmen. So erwähnt die um 520 verfasste Vita des Mönchs Theodosius, dass eine reiche witwe namens Ikelia den Bau der kirchen- und klosteranlage der sog. „Alten Kathisma“ während der Amtszeit des Jerusalemer Bischofs Juvenal (ca. 422 – 458) veranlasst habe. Der Text vermerkt auch, die Kirche sei am Rastplatz mariens auf halbem weg von Jerusalem nach Bethlehem errichtet und der maria theotokos geweiht worden55. ein rastplatz mariens auf dem weg nach Bethlehem wird bereits im apokryphen Protevangelium des Jakobus um die mitte des 2. Jahrhunderts genannt56, so dass die lokale tradition möglicherweise schon vor dem Bau der Kirche den Ort des Felsens mit dieser Ruhestätte identifiziert hatte. Um 570 ist einem Pilgerbericht zu entnehmen, dass um den Felsblock nun ein wasserbecken installiert war, das aus einer Quelle gespeist wurde, aus der maria während der rast auf der Flucht nach ägypten getrunken haben solle57. Vielleicht ist dieses Becken mit den vollständigen neuinstallationen der zentralen oktogonpartie in Verbindung zu bringen, die archäologisch für das 6. Jahrhundert als zweite Bauphase nachgewiesen ist. erst 1107/8 hören wir im Pilgerbericht des russischen abtes daniel wieder von diesem Bauwerk. der reisende erwähnt die ruinen einer großen kirche, die zu dieser zeit offensichtlich nicht mehr in Funktion war58. was in der zwischenzeit mit diesem Bau geschehen war, wird aus der schriftlichen Überlieferung nicht ersichtlich. umso überraschender waren daher die ergebnisse der ausgrabungen, die eine dritte Bauphase belegen, die eine umnutzung des Bauwerks als muslimische Betstätte in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts bezeugt59. aus diesem anlass wurde die südliche tür im umgang vermauert und
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Di Segni / Lesław Daniel ChrupCała, Jerusalem 2003, 173 – 186; DieS., the dome of the rock in light of the development of concentric martyria in Jerusalem. architecture and architectural Iconography, Muqarnas 27 (2010) 31 – 50; DieS., the Initial tradition of the theotokos at the kathisma. earliest celebrations and the calendar, in: the cult of the mother of god in Byzantium. Texts and Images, hg. v. Leslie BruBaker / mary cunningham, Farnham 2011, 9 – 29. rina avner bereitet eine umfassende Publikation zu diesem Bau vor. cyryl von scythopolis, Vita theodosii. Vgl. eduard Schwartz, Kyrillos von Skythopolis (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 49/2), Leipzig 1939, 236 f. Proto-Evangelium des Jakobus 17,3. Vgl. Apokryphen zum Alten und Neuen Testament, hg., eingeleitet u. erläutert von alfred SchinDler, zürich 1998, 427. anon. Placent. 28. Vgl. Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Heilige land. die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4. – 7. Jh.), Stuttgart 2002, 271. Vgl. august leSkien, Die Pilgerfahrt des russischen Abtes Daniel ins heilige Land 1113 – 1115, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 7 (1884) 17 – 64, hier: 39. die datierung erfolgte nach münzfunden unter den mosaikböden, die einen terminus post quem 715 – 730 geben, vgl. aVner, The Recovery of the Kathisma (wie Anm. 53), 180.
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eine mihrabnische an dieser stelle angebracht. die apsis wurde abgetragen und an ihrer statt ein rechteckiger Annexbau hochgeführt, was dafür spricht, dass der Bau nicht weiterhin primär als kirche genutzt wurde. offenbar behielt er dennoch seine frühere Funktion als Verehrungsstätte für maria, verbunden mit der erwähnung maryams in koransure 19, die die geschehnisse im zusammenhang der jungfräulichen empfängnis und der geburt Jesu schildert und von einer dattelpalme und einem erfrischenden wasser spricht60. die Verbindung des orts mit dieser koranstelle schlug sich offenbar auch im Bildprogramm des neuen mosaikbodens nieder: einer der südlichen zwickelräume wurde bildfüllend mit dem motiv einer großen, Früchte tragenden dattelpalme ausgelegt61. ob das gebäude nach dem umbau ausschließlich von muslimen besucht wurde, ist eher zu bezweifeln. schon von der baulichen grundstruktur her ist nicht auszuschließen, dass die weiterhin in Betrieb stehenden kapellen des äußeren umgangs auch von nicht-muslimen als gebetsorte genutzt wurden, also muslime und christen die anlage besuchten. dass in einem der kapellenräume noch im 9. Jahrhundert eine mit einem kreuz versehene Inschrift angebracht wurde, legt die fortdauernde anwesenheit von christen nahe62. Interessant ist darüber hinaus, dass die motive der sich herabneigenden Palme und des erquickenden gewässers in leicht gewandelter Form auch in die christliche schrifttradition eingang fanden, und zwar in das aus dem 8./9. Jahrhundert stammende apokryphe Pseudo-matthäus-evangelium63. es ist davon auszugehen, dass die marienverehrung in der ehemaligen kathisma-kirche spätestens in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts endete und das Gebäude verfiel. Zu dieser Zeit verehrten muslimische Pilger nämlich die reste einer Palme, die maria auf dem weg nach Bethlehem als rastplatz gedient habe, in der nahe gelegenen Bethlehemer geburtskirche64. b. resafa, sergios-Heiligtum eine der wenigen anlagen, in denen sich eine simultane Nutzung durch christen und muslime in spätantik-frühislamischer zeit im archäologischen Befund sicher nachweisen lässt, ist das sergios-Heiligtum in resafa in der nordsyrischen wüstensteppe. die stadt, die in byzantinischer zeit sogar den namen des verehrten märtyrers trug – Sergioupolis (Sergiosstadt) –, war Zentrum des Kults für Sergios, eines römischen Militäroffiziers, der im Zuge der Christenverfolgung 312 im lokalen Limeskastell
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Sure 19, 22 – 25. nächste ikonographische Parallele für dieses motiv in den wandmosaiken des Felsendoms, vgl. aVner, The Recovery of the Kathisma (wie Anm. 53), 182. ähnlich aVner, The Dome of the Rock (wie Anm. 53), 42. PsMt 20,1 – 2. Vgl. Apokryphen zum Alten und Neuen Testament (wie Anm. 55), S. 467 f. Der persische Autor al-Iṣṭaḫrī schildert vor 951, ein Teil der Palme würde noch immer in der Geburtskirche aufbewahrt, eine Aussage der sich auch der Reiseschriftsteller Ibn Baṭṭūṭa noch 1355 anschloss. Vgl. Donato BalDi, enchiridion locorum sanctorum. documenta s. evangelii loca respicientia, Jerusalem 1935, Nr. 120 – 121.
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hingerichtet worden sein soll65. Im Verlauf des 4. Jahrhunderts entwickelte sich eine wallfahrt zum sergiosgrab mit großer, überregional wirksamer anziehungskraft, die dazu führte, dass der Ort im 5. und 6. Jahrhundert ausgebaut und mit einem imposanten Mauerring und neuen Kirchen versehen wurde (Abb. 8)66. das sergiosgrab hatte ursprünglich außerhalb des kleinen kastells am ort gelegen, um 430 waren die Überreste des Heiligen in eine neu im Inneren des Mauerrings errichtete memorialkirche transloziert worden, die unter der sogenannten Basilika B angenommen wird67. Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts begann man in der südostecke der stadt mit dem Bau einer neuen kirche, die in der Folgezeit die Reliquien des Heiligen aufnehmen sollte, der sog. Basilika A (Abb. 9)68. ursprünglich als dreischiffige Weitarkaden-Pfeilerbasilika mit gerade ummantelter Ostapsis konzipiert, mussten nach erdbebenschäden im 6. Jahrhundert nachträglich kleinere doppelarkaden auf säulen unter die großen scheidbögen eingezogen werden69. Im Süden der Kirche schlossen sich ein Baptisterium („Vierstützenbau“) und weitere trakte für klerus und Pilger an70. das eigentliche Heiligengrab befand sich nun in einer turmartig überhöhten und kostbar mit stuck, malerei und mosaiken verzierten reliquienkapelle im nördlichen
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ausgrabungen erbrachten spuren eines kastells aus dem 1. Jahrhundert, kleinfunde deuten auf die Präsenz römischen militärs ab der mitte des 1. Jahrhunderts hin. Vgl. michaela konraD, Flavische und spätantike Bebauung unter der Basilika B von resafa, damaszener mitteilungen 6 (1992), 313 – 402; DieS., der spätrömische limes in syrien. archäologische untersuchungen in den Grenzkastellen von Sura, Tetrapyrgium, Cholle und Resafa (Resafa 5), Mainz 2001, 14. Harry SPanner / samuel guyer, rusafa. die wallfahrtsstadt des Heiligen sergios, Berlin 1926; thilo ulBert, Die Basilika des Heiligen Kreuzes in Resafa-Sergiupolis (Resafa 2), Mainz 1986; thilo ulBert, Beobachtungen im westhofbereich der großen Basilika von resafa, damaszener Mitteilungen 6 (1992), 403 – 416; key fowDen, The barbarian plain (wie Anm. 53), 60 – 100; gunnar BranDS, die Bauornamentik von resafa-sergiupolis. studien zur spätantiken architektur und Bauausstattung in Syrien und Nordmesopotamien (Resafa 6), Mainz 2002; Stephan weStPhalen, resafa. untersuchungen zum straßennetz in byzantinischer zeit, in: akten des 14. Internationalen kongresses für christliche archäologie, wien 1999, città del Vaticano 2006, 783 – 793; Thilo ulBert, Resafa – Pilgerzentrum und Grenzbefestigung, in: Die Kunst der frühen christen in syrien. zeichen, Bilder und symbole vom 4. bis 7. Jahrhundert, hg. v. mamoun fanSa / Beate Bollmann, Mainz 2008, 68 – 77. zur Basilika B: Pierre-louis gatier / thilo ulBert, eine türsturzinschrift aus resafa-sergiupolis, Damaszener Mitteilungen 5 (1991) 169 – 182; konraD, Flavische und spätantike Bebauung unter der Basilika B von Resafa (wie Anm. 65); BranDS, die Bauornamentik von resafaSergiupolis (wie Anm. 66), 93 – 97; ulBert, Resafa – Pilgerzentrum und Grenzbefestigung (wie Anm. 66), 72. zum Bau: ulBert, Die Basilika des Heiligen Kreuzes in Resafa-Sergiupolis (wie Anm. 66); zur datierung: BranDS, Die Bauornamentik von Resafa-Sergiupolis (wie Anm. 66), 48 – 56. Die Kapitelle dieser Sicherungsmaßnahme tragen die Namen der um 520 amtierenden Bischöfe sergios und maronios, die auch in zwei weiteren Bauinschriften genannt werden, die sich in der apsis der kirche und am Bema befanden. Vgl. BranDS, die Bauornamentik von resafaSergiupolis (wie Anm. 66), 49. ulbert schlug vor, bei den Bauten im süden handele es sich um einen Bischofspalast und ein kloster, vgl. ulBert, Die Basilika des Heiligen Kreuzes in Resafa-Sergiupolis (wie Anm. 66), 118 – 127.
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apsisnebenraum. der sarkophag mit den gebeinen des sergios war im zentrum des raumes auf einem sockel aufgestellt und von der kirche aus durch eine säulenstellung zu sehen. reste von abschrankungen verweisen darauf, dass die Pilger jedoch nicht selbst an den sarkophag treten konnten, sondern auf seiner rückseite vorbeigehen und mit den reliquien in Berührung gebrachtes und dadurch geheiligtes Wasser oder Öl abfüllen konnten71. auf der nordseite schloss sich an die kirche ein auf drei seiten von Portiken umgebener, offener Hof an, der im osten durch eine apsis mit seitenräumen abgeschlossen war72. diese in der frühchristlichen architektur ungewöhnliche anlage diente wahrscheinlich bei großen Pilgerfesten wie dem todestag des sergios am 7. oktober dazu, größere menschenmassen aufzunehmen, die in der kirche nicht unterzubringen waren. Die arabische Eroberung Syriens 636 tat dem Sergioskult in Resafa keinen abbruch, im gegenteil. der ort wurde durch einen kalifen der umayyadendynastie, Hisham ibn Abd al-Malik (reg. 724 – 743), sogar als Residenzort ausgebaut73. zu diesem ausbau gehörte zum einen die errichtung mehrere residenz- und Verwaltungsquartiere im süden außerhalb der stadtmauer. unter wiederverwendung einer großen anzahl von spolien aus der sog. Basilika B erfolgte zum anderen der Bau einer Freitagsmoschee in unmittelbarer nachbarschaft der bestehenden Basilika a74. die datierung dieser maßnahme in die zeit des Hisham basiert unter anderem auf Fundmünzen, die im Fundamentbereich der moschee gefunden wurden75. Die Moschee, bestehend aus einem quergelagerten, dreischiffigen Betraum und einem vorgelagerten Hof, wurde von norden in den großen Pilgerhof der kirche eingeschoben (Abb. 9 oben). Wie Dorothee Sack in ihrer Bauuntersuchung der moschee nachweisen konnte, befanden sich in der Qiblawand des Betraumes zwei durchgänge in den Hof: einer lag zwischen den beiden mihrabnischen, ein zweiter in einem gelenkraum im südosten76. auch muslime hatten auf diese weise die möglichkeit, zur sergiosmemoria in der südostecke des Hofs zu gelangen77. auf die räumliche nähe zum sergiosgrab wurde offenbar großer wert gelegt, da man sogar in kauf nahm, dass der Baugrund für die errichtung der moschee eigentlich
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ulBert, Die Basilika des Heiligen Kreuzes in Resafa-Sergiupolis (wie Anm. 66), 43 – 60, bes. 54 f., 137 – 144. ulBert, Die Basilika des Heiligen Kreuzes in Resafa-Sergiupolis (wie Anm. 66), 103 – 115. dorothée Sack, Resafa – Sergiupolis, Rusafat Hišam. Nuevos avances en la investigación, Madrider Mitteilungen 50 (2009), 433 – 448; Dorothee Sack / mohammed Sarhan / martin guSSone, resafa-sergiupolis / rusafat Hisham, syrien. Pilgerstadt und kalifenresidenz. neue Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven, Zeitschrift für Orientarchäologie 3 (2010), 102 – 129. dorothée Sack, Die Grosse Moschee von Resafa – Ruṣāfat Hišām (Resafa 4), Mainz 1996; key fowDen, The barbarian plain (wie Anm. 53), 174 – 185; BranDS, die Bauornamentik von Resafa-Sergiupolis (wie Anm. 66), 91 bezeichnet die Art der Wiederverwendung als „artgerechte spolienverwendung“, d. h. z. B. türen wurden wieder als solche eingesetzt. Sack, Die Grosse Moschee von Resafa (wie Anm. 74), 47 – 49. Sack, Die Grosse Moschee von Resafa (wie Anm. 74), 41 f. Sack, Die Grosse Moschee von Resafa (wie Anm. 74), 69 geht nicht von Funktionen aus, die ähnliche Durchgänge in anderen frühislamischen Moscheen besaßen (Verbindung der Moschee zu einer Kalifenresidenz, Eingang für den Imam).
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ungeeignet war78. Die Koexistenz der christlichen und muslimischen Kultstätten und damit die wichtigkeit des kultplatzes für beide religionen ist bis in die letzte siedlungsphase der stadt belegt, die wahrscheinlich erst im zuge des mongoleneinfalls 1258/9 aufgegeben wurde79. während zur konsolidierung der christlichen Bauten der Basilika A – z. B. durch Anbauten von Strebepfeilern – große Anstrengungen unternommen wurden, bestand zuletzt nur noch eine kleine, wohl am ende des 12. Jahrhunderts errichtete muslimische gedenkstätte im Bereich des ehemaligen Hofs80. die große moschee war bereits dem Verfall preisgegeben worden. zusammenfassung In frühchristlicher zeit wurde eine simultane nutzung von sakralorten durch mehrere christliche konfessionen offenbar in der regel abgelehnt. Bischofs- oder Gemeindekirchen waren der exklusiven Nutzung einer einzigen christlichen Glaubensgemeinschaft vorbehalten. Existierten am Ort mehrere Konfessionen, wurden die Baulichkeiten ‚dupliziert‘, um getrennte gemeindegottesdienste zu ermöglichen. Ausnahmen ergaben sich offenbar nur im Kontext großer Mönchsgemeinschaften im Heiligen land oder bei überregional bedeutenden Pilgerstätten, an denen Pilger aus allen regionen des römischen reichs und darüber hinaus zusammenkamen, wobei in frühchristlicher zeit keine dauerhaft separierten raumbereiche für Pilgergottesdienste verschiedener glaubensgruppen geschaffen wurden. schon in frühislamischer zeit setzen demgegenüber Hinweise für eine parallele nutzung durch muslime und christen an stätten besonders verehrter Personen ein. die kathisma-kirche zwischen Jerusalem und Bethlehem kann als Beispiel für einen memorialbau dienen, der in frühislamischer zeit zu einer muslimischen gebetsstätte umgewidmet wurde, die aber auch von christen weiterhin aufgesucht wurde. In weiter bestehenden christlichen Bauten wurden entweder spezifische Raumbereiche definiert, in denen Muslime eigene Gebetsstätten einrichteten, oder – wie in Resafa – neue Bauten für die muslimische religionsausübung an ältere christliche kultstätten angefügt81. In allen Fällen konnten sich in diesen räumlichkeiten wahrscheinlich
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der untergrund besteht aus anstehendem gips, der von dolinen durchzogen ist. der nordabschnitt des Pilgerhofs war aus diesem grund bereits einmal eingestürzt und nur notdürftig repariert worden. Vgl. Sack, Die Grosse Moschee von Resafa (wie Anm. 74), 68. Basilika a wurde trotz erdbebenschäden und widrigem Baugrund instand gehalten, ein um 1200 entstandener kirchenschatz erst kurz vor Verlassen der stadt im nordhof vergraben. Vgl. thilo ulBert, Der kreuzfahrerzeitliche Silberschatz aus Resafa-Sergiupolis (Resafa 3), Mainz 1990. Sack, Die Grosse Moschee von Resafa (wie Anm. 74), 69. Vgl. auch: ute VerStegen, Multireligiöse Gebetsräume – Historische Szenarien eines aktuellen Phänomens, INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 6 (2014), Heft 1, 5 – 18; DieS., geteiltes gedenken. Parallelnutzungen von sakralorten durch christen und muslime in Jerusalem, in: the challenge of the object / die Herausforderung des objekts. congress Proceedings Internationaler kunsthistorikertag nürnberg 2012, hg. v. g. ulrich groSSmann / Petra krutiSch, Nürnberg 2013, III 1136 – 1140, sowie die Forschungen von Mattia guiDetti (wie Anm. 50).
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mitglieder der lokalen muslimischen Bevölkerung zu den regelmäßigen gebetszeiten versammeln, aber auch muslimische Pilger einen individuellen Betort finden. Vermutlich brachten die jeweils unterschiedlichen räumlichen lösungen für die beiden Glaubensgemeinschaften je nach spezifischer Situation einen intensiveren oder schwächeren kontakt zwischen den jeweiligen Verehrungs- und gebetspraktiken mit sich. als in nachreformatorischer zeit in mitteleuropa regelungen dafür gefunden werden mussten, wie sich nun auch konkurrierende christliche konfessionen ihre Gotteshäuser teilen konnten, hatte die mit den Muslimen geübte Praxis im Osten bereits jahrhundertealte tradition82.
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Vgl. zur mittelalterlichen Praxis im östlichen Mittelmeerraum, die auch gemeinsame Nutzungen von Lateinern und östlichen Kirchen umfasst (Auswahl): Sharing the Sacred. Religious Contacts and Conflicts in the Holy Land. First – Fifteenth Centuries CE, hg. v. Arieh kofSky / guy g. StroumSa, Jerusalem 1998; Benjamin z. keDar, convergences of oriental christian, muslim, and Frankish Worshippers. The Case of Sadnaya, in: De sion exibit lex et verbum domini de Hierusalem. essays on medieval law, liturgy and literature in Honour of amnon linder (Cultural encounters in late antiquity and the middle ages 1), hg. v. Yitzhak hen, turnhout 2001, 59 – 69; Josef W. meri, the cult of saints among muslims and Jews in medieval Syria, Oxford 2002; key fowDen, Sharing Holy Places (wie Anm. 53); Souzana choulia, Holy Places used successively or simultaneaously by different religions, in: egeria. mediterranean medieval places of pilgrimage, hg. v. maria kazaku, Athen 2008, 59 – 64; Christopher H. maceVitt, the crusades and the christian world of the east. rough tolerance, Philadelphia, Pa 2008; Religions traversées. Lieux saints partagés entre chrétiens, musulmans et juifs en méditerranée, hg. v. dionigi alBera / Bojan BaSkar, arles 2009; olga gratziou, Η Κρήτη στην ήστερη μεσαιωνική εποχή. Η μαρτυρία της εκκλησιαστικής αρχιτεκτονικής, Heraklion 2010, 127 – 183; Sharing the Sacra. The Politics and Pragmatics of Inter-communal Relations around Holy Places, hg. v. glenn Bowman, New York / Oxford 2012; Sharing Sacred Spaces in the mediterranean. christians, muslims and Jews at shrines and sanctuaries, hg. v. dionigi alBera / maria couroucli, Bloomington 2012; weltecke, multireligiöse loca sancta und die mächtigen Heiligen der Christen (wie Anm. 53); VerStegen, Multireligiöse Gebetsräume (wie Anm. 81); VerStegen, Geteiltes Gedenken (wie Anm. 81); Margit merSch, churches as ‚shared Spaces‘ of Latin and Orthodox Christians in the Eastern Mediterranean (14th – 15th cent.), in: Union in Separation – Trading Diasporas in the Eastern Mediterranean (1200 – 1700) (Transcultural Research, Heidelberg Studies on Asia and Europe in a Global Context), hg. v. Georg chriSt u. a., Berlin / Heidelberg (im Druck).
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Abb. 1. Heidelberg, Heiliggeistkirche. Inneres des Langhauses nach Osten mit Trennmauer zum Chor. Aufnahme 1934 (Foto: Bildarchiv Foto Marburg, Nr. 67948)
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Abb. 2. Heidelberg, Heiliggeistkirche, Grundriss mit Eintragung der von 1706 bis 1936 bestehenden Trennmauer (Nach: Zahn [wie Anm. 1], Plan 2)
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Abb. 3. Biberach an der Riß, Stadtpfarrkirche St. Martin und Maria. Inneres des Langhauses nach Osten mit Uhr über dem Chorbogen (Abb. 20: Foto: Andreas Praefcke, 2009. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/4/4a / Biberach_Pfarrkirche_Langhaus_Blick_zum_Chor.jpg. Lizenz: Creative Commons CC-BY 3.0 und GFDL)
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Abb. 4. Plan der Kirchenanlagen auf dem Hemmaberg (Südkärnten) (Nach: Glaser, Frühes Christentum im Alpenraum (wie Anm. 27), 113 Abb. 42. Markierungen: Verstegen)
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Abb. 5. Ravenna, Sant’Apollinare Nuovo. Ansicht der südlichen Mittelschiffswand (Nach: Claudio Marabini, Die byzantinischen Mosaiken von Ravenna, Herrsching 1989, 40)
Abb. 6. Ravenna, Sant’Apollinare Nuovo. Umzeichnung der Mosaiken der nördlichen (oben) und südlichen (unten) Obergadenwände mit Angabe der nach der ‚Konversion‘ der Kirche ausgetauschten Mosaikbereiche (Nach: Friedrich Wilhelm DeichMann, Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes I. Geschichte und Monumente, Wiesbaden 1969, Abb. 257 – 260. Markierungen: Verstegen)
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Abb. 7. Kathisma-Kirche zwischen Jerusalem und Bethlehem. Grundriss mit Angabe der Mihrabnische und des Palmenmosaiks (Nach: avner, The Recovery oft he Kathisma (wie Anm. 54), 177)
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Abb. 8. Resafa, Stadtplan mit Hervorhebung der Basiliken A und B. (Nach: branDs (wie Anm. 66), Abb. 2)
II. DIskurse unD konstruktIonen
nICHt HeILIG, ABer AuserwäHLt: sPeZIFIk unD DynAMIk eInes sAkrALen HerrsCHAFtsstILs kAIser kArLs IV. Martin Bauch Die personale Legitimation von Herrschaft im späten Mittelalter ist ob der bekannten und viel diskutierten tendenz zur Ausbildung von residenzen und Institutionen, von Landesherrschaft und territorialstaat lange vernachlässigt worden. Doch wie im frühen und hohen Mittelalter auch bedurfte im spätmittelalter Herrschaft einer Akzeptanz, die in der Person und im persönlichen Handeln des Monarchen begründet lag. Zwei knappe Beispiele aus spätmittelalterlichen Fürstenspiegeln deuten an, wie sehr das Verhalten des Herrschers im Mittelpunkt stand: Die um 1390 entstandene ‚Fürstenregel‘ achtete besonders auf des fursten gepärd. nicht nur das Gewand ist wichtig, der langsame Gang, das Vermeiden lauten Lachens oder sichtbarer trauer, auch um das Verhalten im Gottesdienst geht es1. Die aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überlieferte ‚tugendregel‘ betont in erstaunlicher weise nicht nur die üblichen Herrschertugenden, sondern auch die performative Ausgestaltung von Frömmigkeit und Demut durch den Fürsten im Alltag2, aber auch im Gottesdienst: Mit den worten ann ein furst got und der wellt gevallen will, so sol er sich in der kyrchen und kapellen halltten also beginnen ganz konkrete Vorgaben jeder Geste und Gebetsformel im Messverlauf3. Gerade dieses eher alltägliche Handeln und nicht formalisierte Aspekte der Herrschaftspraxis wurden vor einigen Jahren in einem Beitrag von Christine reinle in den Fokus gestellt4. tatsächlich erschöpfte sich Herrschaft nicht in ritualen sowie administrativem und legislativem Handeln: In die Herrschaftspraxis spielten charakterliche Dispositionen der Monarchen ebenso mit hinein wie situationsgebundenes, kaum stilisiertes Alltagshandeln wie Mimik und Gestik. Darüber hinaus ist zu beachten, dass 1 2 3 4
eine bayerische Fürstenspiegelkompilation des 15. Jahrhunderts (Münchener texte und untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 66), hg. v. Gerd Brinkhus, München 1978, 94 – 96. Ausformulierte Morgen-, nacht-, reise- und tischgebete sowie konkrete Anweisungen für religiöse Gesten wie das kreuzeszeichen (vgl. ebd., 425). Vgl. ebd., 429 f. „Handlungsweisen von Herrschern [. . .], die bewußt vollzogen wurden und in einem gewissen umfang inszeniert waren, die aber nicht primär durch Zeremoniell und ritual geregelt waren, sondern gleichsam ‚unterhalb‘ dieser formalisierten und institutionalisierten ebene lagen.“, Christine reinle, Herrschaft durch Performanz? Zum einsatz und zur Beurteilung performativer Akte im Verhältnis zwischen Fürsten und untertanen im spätmittelalter, Historisches Jahrbuch 126 [2006], 25 – 64, hier 28.
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so umfassend verstandenes Herrscherhandeln immer vor einem breiteren kontext stattfand: Herrschaftszentren und residenzstädte wurden durch sakrale wie profane Architektur oder kunstwerke zu Bühnen nicht nur großer Zeremonien wie krönungen und Begräbnisfeierlichkeiten, Hochzeiten und Hoftagen, sondern auch zu den orten gemacht, an denen die Alltagsformen der Herrschaft und das Image des Herrschers sichtbar wurden. Zentral ist auch die Frage nach der wahrnehmbarkeit performativer Akte sowie durch kunst vermittelter Darstellung des Herrschers, denn dieser war „in der Öffentlichkeit [. . .] immer auf sendung.“5. Öffentlichkeit spielte eine entscheidende rolle bei der konstituierung politischer Legitimation6, gleich ob es sich um große Anlässe handelte, die unter den Augen vieler stattfanden, oder um das Beisammensein im kleinen kreis einer präzise abgegrenzten teilöffentlichkeit. nicht zuletzt konnte ein nicht überzeugender Herrschaftsstil auch die Anerkennung eines Fürsten mindern: obwohl kaiser Friedrich III. seit seiner Jugend versuchte, seinem Antlitz durch langes Üben den Ausdruck majestätischer strenge zu geben7, hat doch Christine reinle seine Probleme auf der ebene adäquater Darstellung von z. B. nähe und Distanz zu seinen untertanen eindrücklich gezeigt8. selbstverständlich sind Herrschaftsstile als historische Produkte zu betrachten, weswegen nach ihrer entwicklungsgeschichte und ihren Voraussetzungen gefragt werden muss: Die unmittelbaren rollenvorbilder des angehenden Herrschers, seien es solche aus der eigenen Familie, am ort seiner erziehung oder aus der Hagiographie und Legende sollten neben normativen Texten Beachtung finden. Überhaupt ist bei aller Orientierung auf die Person des Herrschers hin der Einfluss seines Hofes nicht zu unterschätzen: künstler und Architekten, räte und Beichtväter, Mentoren und Verwandte prägten wie ein moderner ‚think tank‘ Ideen und Praktiken der Herrschaft, deren Verbreitung so von der einzelperson des Herrschers unabhängig sein konnte. Diese ersten skizzen9 lassen in umrissen erkennen, welche Aspekte ein spezifischer Herrschaftsstil im Mittelalter umfassen könnte. Exemplarisch soll versucht werden, für karl IV. zu skizzieren, wie sakrale Aspekte dessen regierung prägten. selbstverständlich ist schon lange bekannt, dass den Zeitgenossen vor allem karls 5 6 7 8 9
karl-Heinz spiess, kommunikationsformen im Hochadel und am königshof, in: Formen und Funktionen öffentlicher kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 51), hg. v. Gerd Althoff, Stuttgart 2001, 261 – 290, hier 289. Vgl. Hermann kAmp, Commynes und der umgang mit der Öffentlichkeit im 15. Jahrhundert, in: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, hg. v. Gert melville / Peter v. moos (norm und Struktur 10), Köln 1998, 687 – 716, hier 687. Fridericus tercius Romanorum imperator [. . .] mox ineunte pueritia virilem animum eamque in vultu constanciam et morbius gravitatem preseferre coepit (Johannes Grünpeck, Historia Friderici IV et Maximiliani I, hg. v. Josef chmel, wien 1838, 67). reinle, Herrschaft durch Performanz? (wie Anm. 4), 35 – 64. sie beruhen auf konzeptionellen Überlegungen zur nachwuchs-Akademiekonferenz „Herrschaftsstile“, die der Autor zusammen mit vier kollegen im oktober 2013 in Heidelberg veranstaltete. entsprechend verdanken diese Grundlinien den kritischen rückmeldungen und ergänzungen durch Paul töbelmann und Julia Burkhardt (beide Heidelberg) sowie tomáš Gaudek und Václav Žůreks (beide Prag) eine Menge. Ihnen gebührt ein großer Anteil an geistiger Urheberschaft zu den ersten Überlegungen zu einer hermeneutischen Figur ‚Herrschaftsstil‘, für die der Autor eine Diskussionsvorlage erarbeitete.
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Frömmigkeit auffiel. Dass es sich aber keineswegs um ein festgefügtes Konzept handelte, sondern um einen sich dynamisch entwickelnden stil, der seine Ausdrucksformen von Zeit zu Zeit änderte und teilweise gewagte Überschreitungen der Grenze zwischen Laien und Priestern umfasste, ist so noch nicht gesehen worden. Beginnen wir mit einer pointierten Interpretation von karls Leben und Herrschaft durch einen – alles andere als neutralen – Zeitgenossen. Johann von Jenstein, der spätere erzbischof von Prag, hatte mit einem teil seiner Predigt auf den verstorbenen kaiser im Dezember 1378 einen Maximalanspruch formuliert: „und ihr mögt euch nicht wundern, hochverehrte Väter, dass ich diesen selig und heilig genannt habe, weil man ihn in wahrheit doch für selig und heilig halten muss“10. Die stelle ist ein unikum, keine andere Predigt, kein anderer Zeitgenosse oder spätere Autor wollte karl IV. zur ehre der Altäre erheben lassen. es gibt auch keine Indizien, dass der Luxemburger für sich selbst die kanonisierung anstrebte oder meinte, einer beata stirps zu entstammen11. was genau sagte Jenstein über den Verstorbenen? Der kaiser wird als Mensch bezeichnet, der die acht seligkeiten der Bergpredigt in sich trug12, die sieben werke der Barmherzigkeit vollbrachte13, mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes erfüllt war14, und auf seinem Antlitz erstrahlten die vier kardinaltugenden. nach dieser Aufzählung geht Johann v. Jenstein daran, in defensiver rhetorik die gewagte these aufzustellen, man könne karl IV. tatsächlich heilig nennen. 10
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Et non miremini, reverendissimi patres, quod beatum et sanctum ipsum [karl IV.] nominaverim, cum in veritate beatus vel sanctus reputari debeat (Johann von Jenstein, Řeč arcibiskupa Pražského Jana Očka z Vlašimi [Rede des Prager Erzbischofs Johann Očko von Vlaším], in: Prameny Dějin Českých, T. 3 [Fontes Rerum Bohemicarum 3], hg. v. Josef emler, Praha 1882, 423 – 432, hier 429). Karl spricht bezüglich der Luxemburger / Přemysliden nie von einer Heiligkeit der Dynastie, vgl. Gábor klAniczAy, königliche und dynastische Heiligkeit in ungarn, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. Jürgen petersohn (Vorträge und Forschungen 42), sigmaringen 1994, 343 – 361, hier 359 f. Auch in der Leichenpredigt des Adalbert Rankonis heißt es über den nachfolger wenzel nur, er stamme aus einer höchst würdigen Dynastie römischer kaiser und böhmischer könige, vgl. Jaroslav kAdlec, Leben und schriften des Prager Magisters Adalbert Rankonis de Ericino. Aus dem Nachlass von Rudolf Holinka und Jan Vilikovský (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und theologie des Mittelalters. texte und untersuchungen [nF] 4), Münster 1971, 172. Von den seligkeiten der Bergpredigt habe er unter anderem die Armut im Geiste besessen, denn sowohl bei essen und trinken wie bei der kleidung habe er immer Bescheidenheit gezeigt. Außerdem sei er reinen Herzens gewesen, weil er regelmäßig die Beichte und die eucharistie empfangen und die heiligen schriften gehört habe. seine Hoffnung sei fest gewesen, dass er damit die Feinde überwunden und unmögliches erreicht habe. Vgl. Jenstein, totenpredigt (wie Anm. 10), 426. Davon sind zwei besonders bemerkenswert: Er habe den Armen zu trinken gegeben – und zwar nicht im übertragenen sinn, sondern tatsächlich habe er mit Leprakranken aus demselben Becher getrunken ohne zu erkranken. Außerdem habe er den kranken Hospitäler errichtet (vgl. ebd., 426 f.). karl habe zahlreiche sprachen gesprochen, deswegen sei er ein wahrer Apostel Christi, der überall verstanden wurde. er sei sogar salomon überlegen, u. a. weil er den tempel Gottes nicht nur erbaute, sondern auch mit Gold und edelsteinen geschmückt habe. er sei gelehrt in der theologie gewesen, was ihn zur Auslegung des Psalters und sogar der evangelien sowie zur Abfassung von Homilien befähigt habe. Vor allem habe er auf biblischer Grundlage den Geist der Frömmigkeit und Gottesfurcht tief verinnerlicht (vgl. ebd., 427 f.).
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Auch dafür gäbe es sieben Gründe: erstens sei er mit heiligem Öl gesalbt wie David. Zweitens habe er dem Heiligen römischen reich vorgestanden, eine Auszeichnung, die nur die Hervorragendsten erreichten. Drittens habe er sich als zweiter konstantin aller heiligen Dinge angenommen, darunter der vielen reliquien, die er zusammentrug, und der rückführung des Papstes nach rom. Viertens wegen der wunder und Visionen, die ihm in seiner Jugend zugekommen seien. Fünftens wegen seiner außergewöhnlichen rührung bei der eucharistie. sechstens wegen seiner zahlreichen tugenden, die sich etwa darin äußerten, dass er die stundengebete wie ein kleriker verrichtete und oft den Gottesdienst besuchte, und siebtens, weil er alle sakramente empfangen habe. Daher sei eine kanonisierung des Verstorbenen gerechtfertigt15. tatsächlich hätte nur ein einziger Punkt, das schadlose speisen mit den Leprakranken, zur Begründung einer Heiligsprechung getaugt16. Die erwähnten wunder und Visionen waren am Hof immer wieder thematisiert worden17 und dabei nicht als Zeichen individueller Heiligkeit, wohl aber göttlicher Gunst interpretiert worden. Die häufige Beichte und Kommunion belegen nur große Frömmigkeit, wie auch die teilnahme an den Gottesdiensten und das Verrichten der stundengebete. Der empfang aller sieben sakramente war per se kein Charakteristikum des Heiligen. Die Leichenrede kulminierte in dem Ausruf, die heilige Mutter kirche habe in karl IV. Christum dominum [. . .] de hoc seculo verloren18. Den satz als „den Christus dieser weltzeit“19 zu übersetzen ist abwegig, wenn auch eine bewusste Doppeldeutigkeit sicher intendiert war. näher liegt eine Übersetzung als „gesalbter Herr dieses Zeitalters“. Denn gesalbt war der könig wie der kaiser, während eine Gleichsetzung mit Christus schlicht blasphemisch erscheint. wichtig ist auch der noch einmal folgende biographische Bezug in unmittelbarem Anschluss an die Argumente für die Heiligkeit karls: wer von der Hand Gottes berührt werde, erhalte damit als Preis das ewige Leben und die krone der Gnaden zugesagt. Deswegen sei karl von der Hand Gottes erst geprüft und korrigiert, dann großzügig mit der Gnade Gottes und wundern ausgezeichnet worden, um schließlich die ewige krone der seligkeit zu erhalten20. Die Argumentation Jensteins rekurriert
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ebd., 429 f. Im kanonisationsdossier für Ludwig den Heiligen wird ebenfalls ein gemeinsames speisen mit den Leprakranken berichtet, ohne dass sich der französische könig ansteckte. Vgl. ralf lützelschwAB, Prag – das neue Paris? Der französische Einfluß auf die Reliquienpolitik Karls IV., in: wallfahrten in der europäischen kultur, hg. v. Daniel Doležal / Hartmut kühne (europäische Wallfahrtsstudien 1), Frankfurt am Main u. a. 2006, 201 – 219, hier 209 mit weiteren Parallelen; Guillaume de sAint-pAthus, Vie de saint Louis, hg. v. Henri-François delABorde (Collection de textes pour servir a l’ étude et à l’enseignement de l’ histoire 27), Paris 1899, 94 – 96, 107 f. Vgl. Martin BAuch, Divina favente clemencia. Frömmigkeit und Heilsvermittlung in der Herrschaftspraxis kaiser karls IV. (Forschungen zur kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, 35), Köln / Weimar / Wien 2014, 64 – 69. Jenstein, totenpredigt (wie Anm. 10), 429. Hubert herkommer, Kritik und Panegyrik. Zum literarischen Bild Karls IV. (1346 – 1378), Rheinische Vierteljahrsblätter 81 (1980), 68 – 116, hier 88. Vgl. Jenstein, totenpredigt (wie Anm. 10), 432. Die krone der seligkeit kann hier einfach nur das ewige Leben bedeuten, keinen heiligengleichen status.
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hier auf ein vielfach wiederkehrendes Muster von Versuchung, Bekehrung und vermiedener sünde als Beleg für die herausragende Frömmigkeit karls IV.21. Daher, so schließt der Prediger, könne davon ausgegangen werden, dass der Verstorbene an jenen ort vorangegangen sei, der ihm mit den anderen Gerechten von Gott als erbe versprochen worden sei22. er relativiert so die Aussagen zur Heiligkeit karls IV. zu einer allgemeinen Begründung, warum er in Gottes reich eingegangen sein muss. An rhetorisch geschickt gewählter Stelle – nach der Erwähnung der hochfahrenden Inschrift auf dem kaiserlichen epitaph23 – wird die Heiligkeit Karls quasi als letzte denkbare Überhöhung des Verstorbenen postuliert, um gegen ende der Predigt wieder relativiert zu werden. In Jensteins Ansprache wird das Bild eines hervorragend frommen Christen gezeigt; eines Laien, der sich v. a. in der Intensität seiner Frömmigkeit von den anderen Gläubigen unterschied. Als Herrscher wird der Verstorbene als von Gott auserwählt dargestellt; die Erwählung hat aber in Kombination mit der frommen Lebensführung nicht mehr als karls sicheren eingang ins Paradies zur Folge. Auch die realien geben keinen klaren Hinweis auf eine geplante kanonisierung des Verstorbenen24. Da in den 1380er und 1390er Jahren nicht einmal zaghafte Versuche belegt sind, ein kanonisierungsverfahren anzuregen25, darf die Leichenpredigt als ein Höhepunkt höfischer Panegyrik verstanden werden. Sie markiert zugleich die persönliche Heiligkeit als deren nicht zu überschreitende Grenze.
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Vgl. Vita Caroli Quarti. Die Autobiographie karls IV., hg. v. eugen hillenBrAnd, stuttgart 1979, v. a. Kap. 5 – 7; Eva schlotheuBer, Die Autobiographie karls IV. und die mittelalterlichen Vorstellungen vom Menschen am Scheideweg, HZ 281/3 (2005), 561 – 591. Vgl. Jenstein, totenpredigt (wie Anm. 10), 432. Quartus ego Carolus magni quondam tremor orbis, Cesar et invictus, modo victus morte, sub ista fossa tegor, deus alme precor meus astra subintret (ebd., 429). Zum einen wurde der kaiserliche ornat karls IV. nach seinem tod in die liturgische kleiderkammer des Veitsdoms eingereiht: Dalymatica in qua fuit coronatus Imperator et subtile sericis est. De Cappa predicti domini Imperatori et de subtili quod olim fuerant facte sunt manipule, stole et limbi et alia perlas que fuerant in dictis cappa subtili (Praha, Archiv pražské metropolitní kapituly, Inv. 260/1 – 7, 1387A, 14 [moderne Paginierung]). Das kann aber noch unter dem Aspekt imperialer Memoria verbucht werden. Zum anderen wurden am skelett karls IV., so das ergebnis der modernen medizinischen untersuchung, drei Zähne post mortem gezogen. Auch wurde die Leiche karls IV. einbalsamiert, d. h. unter anderem die inneren organe entnommen. Das ist aber nichts Ungewöhnliches und erfolgte z. B. auch bei Přemysl Otakar II. Premysl (Vgl. emanuel Vlček, Aussehen, gesundheitlicher Zustand und todesursache kaiser karls IV., Hémecht. Zeitschrift für Luxemburger Geschichte / Revue d’histoire luxembourgeoise 32/4 (1980), 425 – 447, hier 433 f.). Für die Einbalsamierung spricht auch die Nachricht über den corpus incorruptum des kaisers (Vgl. Bohuslav BAlBín, epitome historica rerum bohemicarum, Prag 1677, 381). Die fehlenden Zähne könnten hingegen tatsächlich als Abnahme von reliquien nach dem tode gedeutet werden. Hinweise auf entsprechende Bemühungen wenzels oder der Prager erzbischöfe fehlen. Auch Johann von Jenstein selbst, der unmittelbar nach karls tod auf den Prager erzstuhl kam und ihn bis 1393 innehatte, engagierte sich nicht dafür. Vgl. siegfried seifert, Zděnka hledíková, Lemma „Johann von Jenstein (1347/50 – 1400)“, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen reichs 1198 bis 1448. ein biographisches Lexikon, hg. v. erwin GAtz, Berlin 2001, 590 – 592.
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Davon ausgehend ist zu zeigen, dass keineswegs Bemühungen um individuelle Heiligkeit im Zentrum des karolinischen Herrschaftsstils standen. Vielmehr zeichnete sich seine Herrschaft dadurch aus, dass er systematisch, wenn auch kontrolliert und vorsichtig in den Bereich vorstieß, der kanonisch klar den Inhabern der höheren weihen vorbehalten war. Hierbei ist natürlich nicht an Heilsvermittlung durch sakramentenspende zu denken. Allerdings sind diverse Graubereiche zu verzeichnen, in denen karl IV. in seinem Handeln semi-sazerdotale rollen übernahm. Die Versuche der älteren Forschung, dem römisch-deutschen Herrscher eine sazerdotale rolle aufgrund eines königskanonikats zuzuschreiben, hat schon Hermann Heimpel widerlegt26. Mit seinem namen verbindet sich auch die erforschung des von ihm so genannten weihnachtsdienstes, der evangelienlesung durch den Herrscher. Der erste weihnachtsdienst ist für Basel am 25. Dezember 1347 belegt27. Heimpel hat herausgearbeitet, wie schwierig die situation karls IV. war, der stadt Basel einerseits die Aufhebung des Interdikts zu bringen und andererseits die päpstliche Verdammung Ludwigs des Bayern nicht zu unterschlagen. Vor allem distanzierte sich der Luxemburger durch seine eigenmächtige, tagesaktuelle entscheidung vom Papst: er oder wahrscheinlicher die liturgischen Fachleute aus seiner Umgebung modifizierten ein Ritual, das es bisher nur in Avignon gegeben hatte und das eigentlich die Präsenz des Papstes erforderte. ein ähnliches, wenn auch nicht identisches liturgisches Handeln, bei der Gabenbereitung der dienenden Funktion eines subdiakons gleichgestellt, wurde dem frisch gekrönten Herrscher im Zug der kaiserkrönung in rom zugestanden28. und doch ist festzuhalten, dass der weihnachtsdienst in gewagter Form über seine möglichen Vorbilder hinausging29: Der Herrscher übernahm eine liturgische Funktion, ohne dass der Papst 26 27
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Vgl. Hermann heimpel, königlicher weihnachtsdienst im späteren Mittelalter, DA 39 (1983), 131 – 206, hier 135 – 138. Vgl. Matthias von neuenburg, Die Chronik des Matthias von neuenburg (MGH scriptores rerum Germanicarum, nova series 4), hg. v. Adolf hofmeister, Berlin 1940, 245, 412; Heinrich truchsess von diessenhofen, Chronik (1316 – 1361) (Fontes rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands 4), Stuttgart 1868, 62; Konrad von Megenberg, Ökonomik (Buch II) (MGH staatsschriften des späteren Mittelalters 3/2), hg. v. sabine krüGer, stuttgart 1977, 83 – 85; ausführliche Darstellung und Interpretation bei heimpel, königlicher weihnachtsdienst im späteren Mittelalter (wie Anm. 26), 148 – 153. Vgl. eduard eichmAnn, Die kaiserkrönung im Abendland. ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen rechts, der Liturgie und der Kirchenpolitik, 2 Bde., Würzburg 1942, Bd. 1, 264, 289; dass der Luxemburger darüber Bescheid wusste, geht aus einem Brief Innozenz VI. an karl IV. kurz vor der kaiserkrönung im Februar 1355 hervor, vgl. Codex diplomaticus dominii temporalis sancti s. sedis. recueil de documents pour servir à l’histoire du gouvernement temporel des états du Saint-Siège. Tome second 1335 – 1389, Extraits des archives du Vatican, hg. v. Augustin theiner, roma 1862, nr. 291, 283 f. Dass das nicht belanglos war zeigt die tatsache, dass für Innozenz VI. 1355 seine Abwesenheit bei der kaiserkrönung genügte, um das liturgische Handeln des kaisers more subdiacono zu streichen: Oblacio vero calicis et ampulle per Imperatorem iam coronatum, decantato evangelio, corona et manto depositis more subdiaconi Romano facienda Pontifici et assistencia eidem facienda per Imperatorem, donec Romanus Pontifex ad sedem propriam revertatur, que soli
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anwesend war. Der kaiser sang auch nicht die päpstlicherseits zugelassene fünfte Lektion der weihnachtsmette, sondern den text des evangeliums, die siebte Lektion. er legte seine Herrschaftszeichen krone und schwert nicht demütig ab, wie es während der kaiserkrönung vorgeschrieben war, und nutzte auch für die evangelienlesung nicht ein vom Papst geschenktes schwert und die einem Fürstenhut ähnliche kopfbedeckung. Vielmehr trug er die krone karls des Großen auf dem kopf und hielt dessen schwert, das reichsschwert, in der Hand30. Der kommentar des konrad von Megenberg zum weihnachtsdienst macht klar, dass karl hier neue Fakten schuf, die keine Diakonsweihe deckte: Legit ergo Karolus ewangelium non de iure, sed pocius de facto31. eine erklärung für den sinn des weihnachtsdienstes ist logischerweise im umfeld der ersten Durchführung 1347 zu suchen und nicht etwa in mutmaßlichen Abgrenzungen vom französischen könig32 oder vom Papst33 während des Metzer
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Romani Pontific competunt, omittantur [Ebd., Nr. 289, S. 282; siehe auch Iohannes Porta de Annoniaco, Liber de Coronatione karoli IV imperatoris (CMGH scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 35), hg. v. richard sAlomon, Hannover / Leipzig 1913, 30, cap. 14.] Die Bedeutung dieses Handelns lässt sich vielleicht daran erahnen, dass die meisten Chronisten das blanke schwert erwähnen, das der kaiser selbst in einer Hand hielt. Basel 1347: habens in manu evaginatum gladium (neuenBurG, Die Chronik des Matthias von neuenburg [wie Anm. 27], 245, 412 f.); Illud enim asseritur in Basilea [. . .] gladio evaginato et ultra caput dextera manu protenso (meGenBerG, Ökonomik, [wie Anm. 27], 83); Mainz 1353: imperator gladio evaginato legit evangelium (heimpel, königlicher weihnachtsdienst im späteren Mittelalter [wie Anm. 26], 157 f.); Nürnberg 1355: Et ipse astantibus principibus et imperatrice coronata legit in matutina septimam lectionem gladio evaginato, ut est moris (diessenhofen, Chronik, [wie Anm. 27], 102); Metz 1356: Et chantait la VIIe lisson de matine, tenant l’espée au poing toucte nue hors de son fourriaulx (Philippe de viGneulles, La Chronique de Philippe de Vigneulles, hg. v. Charles BruneAu, 2 Bde., Metz 1926, Bd. 1, 37 f.). 1377 in Cambrai ließ er das schwert vermutlich alters- und krankheitsbedingt von einem Fürsten halten: Officium diaconi notabiliter peregit, duobus ducibus, uno ad dexteram pomum aureum desuper crucem auream habente elevatam et alio ad levam gladium evaginatum tenentibus (Chronographia regum Francorum [Ouvrages p. p. la Société de l’Histoire de France 292], hg. v. Henri morAnvillé, Paris 1893, Bd. 2, 359). Übrigens beschreibt die Quelle den weihnachtsdienst in Cambrai ausführlicher als alle anderen Aspekte der Frankreichreise 1377/78. Megenberg, Ökonomik, (wie Anm. 27), 85 ein zweiter Adressat könnte 1356 in Metz der französische Dauphin gewesen sein, der aus nächster nähe die evangelienlesung seines onkels verfolgen konnte. tatsächlich legte der spätere Charles V. von Frankreich 1377 größten wert darauf, dass kaiser karl IV. während der Anreise nach Paris das weihnachtsfest in Cambrai feierte und ausdrücklich auch die damit verbundene Zeremonie innerhalb der reichsgrenzen zelebrierte, vgl. Claudia GArnier, Die ordnung des reiches. kaiser und reich zur Zeit der Goldenen Bulle, in: Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption, hg. v. Ulrike hohensee / Matthias lAwo / Michael lindner / Michael menzel / olaf B. rAder (Berichte und Abhandlungen / Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Sonderband 12), Berlin 2009, 169 – 195, hier 212 f. „Augustus regierte schon, als Christus geboren wurde; das Reich war älter als die Kirche. Das reich war nicht nur römisch und christlich, es war auch das weltreich“ (Peter morAw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das reich im späten Mittelalter, Frankfurt am Main / Berlin 1989, 149); ähnlich heimpel, königlicher weihnachtsdienst im späteren
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Hoftages 1356. Allerdings sollte nicht nur auf die unmittelbare situation in Basel eingegangen werden: Über die rechte des elekten, im rahmen der kaiserkrönung in rom more subdiacono tätig zu werden, wusste karl IV. durch den ihm überreichten ordo seit Mitte 1346 Bescheid. Im Herrscherornat hatte der Luxemburger bereits im März 1347 in trient am Palmsonntagsgottesdienst teilgenommen34. Diese erfahrung im repräsentativen einsatz der Insignien35 mochte ein halbes Jahr später den Luxemburger bestärkt haben, während der weihnachtsmesse noch einen entscheidenden schritt weiter zu gehen. Außerdem war Ludwig der Bayer am 11. oktober 1347 überraschend gestorben, wodurch karl IV. sicher unabhängiger von Papst Clemens VI. geworden war. Darüber hinaus scheint es so, als sei im november 1347 auch zum ersten Mal eine königliche Goldbulle an ein Privileg angehängt worden, die den Herrscher mit der gekreuzten priesterlichen stola zeigte36. noch Ludwig der Bayer hatte sich dies erst mit der kaiserkrönung erlaubt37. Dies spricht dafür, dass der Luxemburger im Lauf des Jahres nach einem neuen, ganz eigenen und stark sakral konnotierten Herrschaftsstil suchte. Als ergebnis konnten die Baseler Bürger
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Mittelalter (wie Anm. 26), 140, 159 ff. und Achim thomas hAck, Das empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-kaiser-treffen (Forschungen zur kaiser- und Papstgeschichte. Beihefte zu J. F. Böhmer, regesta Imperii 18), köln / weimar / wien 1999, 567 ff. In eine ähnliche richtung, nämlich für die indirekte Zurückweisung päpstlicher Approbationsansprüche durch ihr Verschweigen in der Goldenen Bulle, interpretierten ernst schubert oder Ferdinand seibt den weihnachtsdienst, vgl. ernst schuBert, könig und reich. studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 63), Göttingen 1979, 37 f.; Ferdinand seiBt, Kaiser Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346 – 1378, München 1978, 252 f. Vgl. Chronicon estense cum additamentis usque ad annum 1498 (Muratori2 15/3), hg. v. Giulio Bertoni / emilio Paolo vicini, Città di Castello 1908, 145; fast wortgenaue Übernahme ins Volgare: Corpus Chronicorum Bononiensium: Cron. A, B, Cron. Villola, Cron. Bolog., hg. v. Albano sorBelli, (Muratori2 18/1), Città di Castello 1914 – 1939, Cron. B, 562. Vgl. Jürgen petersohn, Über monarchische Insignien und ihre Funktion im mittelalterlichen Reich, HZ 266 (1998), 47 – 96, hier 68 – 72. Vgl. wilhelm volkert, Die siegel karls IV., in: kaiser karl IV. staatsmann und Mäzen, hg. v. Ferdinand seiBt, München 1978, 308 – 312, hier 309; Die Siegel der deutschen Könige und Kaiser von 751 bis 1806. II. Band: 1347 – 1493, von Karl IV. bis Friedrich III. Mittelalterliche Fälschungen. Landfriedenssiegel, hg. v. otto posse, Dresden 1910, 3 f. und tafel 2, Abb. 1, sowie tafel 3, Abb. 6. Vgl. ebd., 27, tafel 7. Die Goldbulle Ludwigs IV. datiert auf den 27. März 1328, also nach seiner kaiserkrönung. Allerdings ist es gut möglich, dass die Auswahl Posses königliche Goldbullen Ludwigs des Bayern unterschlägt, die ihn ebenfalls mit gekreuzter stola darstellen. Die siegelbilder Ludwigs wurden auch von den einschlägigen hilfswissenschaftlichen Forschungen bisher nicht behandelt. Vgl. Helmut BAnsA, studien zur kanzlei kaiser Ludwigs des Bayern vom tag der Wahl bis zur Rückkehr aus Italien (1314 – 1329) (Münchener Historische Studien. Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften 5), Kallmünz 1968, 3 – 15. Das frühe Führen der Stola im Siegelbild durch Karl IV. fiel auch Eugen Hillenbrand auf: Eugen hillenBrAnd, ecce sigilli faciem. Das siegelbild als Mittel politischer Öffentlichkeitsarbeit im 14. Jahrhundert, in: Bild und Geschichte. studien zur politischen Ikonographie, Festschrift für Hansmartin schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag (Veröffentlichungen der kommission für geschichtliche Landeskunde Baden-württemberg), hg. v. konrad krimm / Herwig John, sigmaringen 1997, 53 – 78, hier 71.
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1347 die Premiere des weihnachtsdienstes erleben. Die kirche tolerierte diese frommen eigenmächtigkeiten des weit weg von der kurie handelnden römisch-deutschen königs, ohne sie völlig zu akzeptieren38. Anders hingegen scheint das neue ritual in den Augen einer breiteren Öffentlichkeit sehr schnell als normaler Bestandteil königlich-kaiserlichen Handelns in einem liturgischen rahmen verstanden worden zu sein39. Dem römisch-deutschen Herrscher verhalf es als Laien jedenfalls an weihnachten zu einer herausgehobenen, quasi-priesterlichen Position, die ihn auch auf bildlichen Darstellungen auszeichnete. eine ganz ähnliche Beobachtung ergibt sich aus dem eigenhändigen umgang des Luxemburgers mit den Reliquien der Heiligen: Viele Belege finden sich dafür, dass karl IV. die verehrten Überbleibsel berührte, zusammentrug, sie gelegentlich sogar eigenhändig beschriftete und nötigenfalls die säge an heilige schädel anlegte40. nicht in jedem Fall gelang ihm dieser direkte Zugriff, so hielt der französische könig seinen kaiserlichen onkel 1378 in reims auf Abstand, als diesem lokales Heiltum überreicht wurde41. kirchenrechtlich befugt waren zum eigenhändigen umgang mit den heiligen knochen seit dem frühen Mittelalter eindeutig nur subdiakone oder Inhaber der höheren weihen42. warum wurde es toleriert, dass der Laie karl die heiligen Gebeine berührte? es scheint denkbar, dass für den Herrscher ein Dispens existierte, analog zur dienenden rolle des kaisers in der Art eines Subdiakons während seiner Krönung; so jedenfalls argumentierte Konrad von Megenberg43. 38
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Dass von keiner völligen Akzeptanz des weihnachtsdienstes seitens des klerus gesprochen werden kann, deutet das Faktum an, dass karl IV. selbst nach dem harmonischen Zusammentreffen mit Papst urban V. in rom 1368 die stadt auffälligerweise wenige tage vor weihnachten verließ, um dann in siena den weihnachtsdienst zu zelebrieren, vgl. Giugurta tommasi, Dell’ historie di Siena. Deca seconda. Vol. I. Libri I – III (1355 – 1444), hg. v. Mario de GreGorio, Siena 2002, 79; erst an Heiligabend 1368 war Karl IV. wieder in Siena angekommen: Dominus Imperator reddens de urbe, ingressus est civitatem senensis hora vesperari (siena, Archivio di stato: Concistorio, Deliberazioni, nr. 50, f. 32r). Den weihnachtsdienst auf dem Hoftag von nürnberg beschreibt Heinrich von Diessenhofen und endet mit den worten ut est moris (diessenhofen, Chronik [wie Anm. 27], 102). Vgl. hierzu die ausführliche Argumentation bei: BAuch, Divina favente clemencia (wie Anm. 17), 233 – 238; zur eigenhändigen Beschriftung – einem der wenigen Belege für herrscherliche Autographen im 14. Jahrhundert – vgl. Martin BAuch, et hec scripsi manu mea propria – Known and unknown autographs of Emperor Charles IV as testimony of self image and intellectual profile, in: Ruling the script: formal aspects of written communication in the Middle Ages (utrecht studies in Medieval Literacy), hg. v. Dominque stutzmAnn / Georg voGeler, turnhout 2014 [in Vorbereitung]. Vgl. ders., Der kaiser und die stadtpatrone: karl IV. und die schutzheiligen der städte im reich, in: städtische kulte im Mittelalter (Forum Mittelalter-studien 6), hg. v. susanne ehrich / Jörg oBerste, Regensburg 2010, 169 – 188, hier 182 – 184. Vgl. nicole herrmAnn-mAscArd, Les reliques des saints. Formation coutumière d’un droit (Société d’histoire du droit. Collection d’histoire institutionelle et sociale 6), Paris 1975, 203 – 205. Quamvis laicus teneatur sacra vasa revereri, ut ea nuda manu non tangat, sicut facit ad idem officium consecrates. Cum imperatoria tamen dignitate super huiusmodi modico poterit sedes apostolica ex speciali gracia dispensare (Megenberg, Ökonomik [wie Anm. 27], 84).
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Überliefert ist ein solcher Dispens für den umgang mit reliquien allerdings nirgends in expliziter Form, und der Luxemburger berührte reliquien auch schon vor seiner kaiserkrönung mit eigener Hand. wie bedeutsam das eigenhändige Berühren der Heiltümer für karl IV. war, zeigt sich auch an Bildquellen wie dem Fresko aus der karlsteiner Marienkapelle, das ihn beim einsetzen einer Dornreliquie in ein reliquienkreuz zeigte (Abb. 1)44. und der umgang mit den heiligen Überresten war geeignet das Bild des Kaisers auch außerhalb seiner unmittelbaren Einflusssphäre zu prägen: Dies belegt ein Detail des Freskos ‚ecclesia militans‘ aus der Capella spagnola der Dominikanerkirche s. Maria novella in Florenz, das 1367 entstand. es zeigt neben dem Papst die weltlichen schützer der kirche sitzen, an prominentester stelle natürlich der über seine Insignien identifizierbare Kaiser. Ein genauer Blick auf den dunklen reichsapfel in seiner Hand erlaubt es, diesen als schädel ohne unterkiefer zu erkennen (Abb. 2), ein ikonographisches unikum45. eine unmittelbare einbindung des Herrschers und eine eigenhändige weisung zumindest von teilen der reichsinsignien durch karl IV. kann auch für die bekannte ostensio reliquiarum in Prag angenommen werden46. seit 1355 wurden hochrangige reliquien, am bekanntesten dabei die Heilige Lanze, auf dem Viehmarkt der Prager neustadt am Freitag nach der osteroktav einem großen Publikum zugänglich gemacht47. In diesem kontext wurde vielfach die Grenze des Herkömmlichen überschritten, wie es eindrücklich auch ein bisher nicht beachteter Aspekt der stiftungsbulle für das Lanzenfest von 1354 illustriert. Darin wurde neben dem Ablass für die Verehrung der Lanze jedem teilnehmer einer Messe oder von stundengebeten in Gegenwart des königs ein Ablass von 100 tagen zusätzlich
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Zur Datierung und Interpretation siehe jüngst Michael lindner, Eine Kiste voller Knochen – kaiser karl IV. erwirbt reliquien in Byzanz. Zugleich ein Beitrag zur Datierung zweier karlsteiner reliquienszenen, in: kunst als Herrschaftsinstrument. Böhmen und das Heilige römische reich unter den Luxemburgern im europäischen kontext, tagungsort: Prager Burg, Grosses Ballhaus 9. – 13. Mai 2006, hg. v. Jiří fAJt und Andrea lAnGer, Berlin 2009, 289 – 299. Vgl. Maria Grazia chiAppori, I tre Polo nella „ecclesia militans“ di Andrea Bonaiuti in s. Maria Novella a Firenze, Quaderni medievali 8/15 (1983), 27 – 51, hier 38, Anm. 14. Eine ausführliche Diskussion dieses Befundes findet sich in BAuch, Divina favente clemencia (wie Anm. 17), 154 f., 439 f. Eine detaillierte Argumentation findet sich bei BAuch, Divina favente clemencia (wie Anm. 17), 365 – 380. Vgl. Kateřína HorníčkoVá, In Heaven and on earth. Church treasures in Late Medieval Bohemia, Dissertation. Department of Medieval studies. Central european university, Budapest 2009, 118 – 132; Hartmut kühne, ostensio reliquiarum. untersuchungen über entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), Berlin 2000, 106 – 129; Dorota lesniewskA, Das Heiligtümerfest im Böhmen des 14. Jahrhunderts, in: Pielgrzymki w kulturze sredniowiecznej europy. Materialy XIII seminarium Mediewistycznego (Pilgerfahrten in der kultur des mittelalterlichen europa. Materialien des XIII. mediävistischen seminars) (Poznanskie towarzystwo Przyjaciól nauk 110), hg. v. Jacek WiesiołoWski, Poznan 1993, 199 – 204; Franz mAchilek / karlheinz schlAGer / theodor wohnhAAs, o felix lancea. Beiträge zum Fest der Heiligen Lanze und der nägel, Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 92 (1984 – 85), 43 – 107.
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in Aussicht gestellt48. Von der reliquie war die Vergabe des Zusatzablasses ausdrücklich getrennt, wie die Überlieferung des 15. Jahrhunderts belegt49. Allerdings blieben die Gelegenheiten für karl IV., als unmittelbarer Heilsvermittler tätig zu werden, auf die Feier des Lanzenfestes in Prag beschränkt. Am 28. August 1364 änderte sich jedoch die Lage. Papst urban V. gewährte karl IV. auf dessen supplik hin eine noch weitergehende Vergünstigung. Allen teilnehmern feierlicher Messen mit Predigt und evangelienlesung in Präsenz des kaisers wurde ein Ablass von 100 tagen gewährt50. eine solche Praxis ist seit dem 13. Jahrhundert für die französischen und andere südeuropäische könige, aber auch andere Adlige belegt51, im reich allerdings ein novum. Außerdem ähnelt die personengebundene regelung den Ablässen, die kardinal Peter von ostia anlässlich der kaiserkrönung 1355 gewährt bekommen hatte – eine von diversen Maßnahmen, ihn papstähnlicher 48
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Omnibus et singulis Christi fidelibus qui ecclesiam seu capellam, in qua dicti lancea et clavus fuerint, in die dicti festi devote visitaverint, tres annos et tres quadragenas, et illis, qui in dicti festi singulis horis et missa ubicunque in presencia dictis regis et suorum in regno seu imperio Romanorum successorum interfuerint divinis, pro qualibet ipsarum horarum et missa centum dies de iniunctis eis penitenciis dignemini de speciali gracia relaxare (Monumenta Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia. T. 2: Acta Innocentii VI. pontificis Romani 1352 – 1362, hg. v. Jan Bedřich novák, Praha 1907, 89, nr. 209). Der Ablass ist nur als supplik ediert, aber die vom Autor in Augenschein genommene Ausfertigung der stiftungs- und Ablassurkunde (Praha, Archiv pražské metropolitní kapituly, Nr. 227 X 14; als Regest in MBV 2 [s. o.], 90, Nr. 211) unterscheidet sich in dieser regelung nicht von der supplik. Als 1424 die reichskleinodien nach nürnberg verbracht worden waren, gewährte Papst Martin V. in einer Bulle Quemadmodum magis vom 31. Dezember 1424 einen neuen Ablass, der ausdrücklich auch in Abwesenheit des königs oder kaisers gelten solle. Vgl. mAchilek / schlAGer / wohnhAAs, O felix lancea (wie Anm. 47), 62; Julia schnelBöGl, Die reichskleinodien in Nürnberg 1424 – 1523, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 51 (1962), 78 – 159, hier 94 f.; Christoph Gottlieb von murr, Diplomatarium Lipsano-klinodigraphicum s. Imp. rom. Germ. ab A. 1246 ad A. 1764, Journal zur kunstgeschichte und zur allgemeinen Literatur 12 (1784), 35 – 216, hier 108. Eine solche Klausel wäre wohl kaum nötig gewesen, wenn sich nicht seit karl IV. die Praxis eingebürgert hätte, zumindest den 100-tägigen Ablass der Bulle von 1354, vielleicht auch den großen Ablass von drei Jahren und drei Quadragenen ausschließlich an die Präsenz des königs oder kaisers zu binden. tatsächlich bestätigte und erneuerte der Pontifex auch im wortlaut des Dokuments nur die ältere Bulle seiner Vorgänger, die in ihrem Grundgehalt fortwirkte. In missarum solenniis per predicacionis ministerium in tua presencia publice proponi contigerit verbum dei, proponens verbum huiusmodi possit auctoritate apostolica omnibus vere penitentibus et confessis ibidem presentibus centum dies de iniunctis eis penitenciis misericorditer relaxare, celsitudini tue tenore presencium indulgemus (Monumenta Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia. Acta Urbani V. 1362 – 70, hg. v. Bedřich Jenšovský, Praha 1944, 218 f., nr. 372). Der wortlaut wurde am original überprüft: rom, Archivio segreto Vaticano, reg. Vat. 251, f. 306v. Vgl. nikolaus pAulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde., nD Darmstadt 2000 (Erstausgabe Paderborn 1922 – 23), Bd. 2, 177 – 179. Tatsächlich kennt die päpstliche Kanzlei ein eigenes urkundenformular für diese Art von Indulgenzen, vgl. Die päpstlichen kanzleiordnungen 1200 – 1500, hg. v. Michael tAnGl, Innsbruck 1894, 341. Die stupende kategorisierung spätmittelalterlicher Ablässe aus england durch swanson belegt keine ähnlichen konditionen für eine Indulgenz, vgl. robert norman swAnson, Indulgences in Late Medieval england. Passports to Paradise?, Cambridge / New York 2007, 46 – 75.
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zu machen52. Die Verkündigung des wortes Gottes und die Predigt darüber ist zugleich im Messablauf ein so selbstverständlicher teil, dass den teilnehmern sicher die Präsenz des kardinals bzw. des kaisers als offenkundiger Grund für den erlangten Ablass viel eher auffiel als die willkürlich wirkende theologische Begründung der jeweiligen Indulgenzen. In beiden Ablässen trat karl mit einer päpstlich approbierten Begründung als Heilsvermittler für die Gläubigen auf. In dieser sakralen Überhöhung wurde also der kaiser einem hochrangigen kleriker angenähert, ja gleichgestellt. Wenn man diese Denkfigur – der Kaiser als für seine Untertanen heilsvermittelnde Instanz – im Kopf behält, stößt man bei der Lektüre scheinbar panegyrischer Quellen auf interessante Funde. Das in Hexametern verfasste eröffnungsgebet der Goldenen Bulle etwa zeigt in antiken Anklängen die Freude über die Auferstehungshoffnung in Verbindung mit den schrecken des Bösen. Dazwischen steht der kaiser, durch dessen tugend Gott wirken soll53. nun gehören gerade diese Zwischenverse nicht zu den poetischen Anleihen an den antiken Dichter sedulius oder die Versdichtung des Alanus de Insulis aus dem 12. Jahrhundert. Vielmehr handelt es sich um einschübe, die Bernd-ulrich Hergemöller als reichstheologie und Fürstenpreis charakterisiert hat: Der kaiser übernimmt die sorge für das seelenheil der Gläubigen, und das ist mehr als der militärische schutz des kirchenvogts, vielmehr ist er der fromme Anführer (ductor pius)54; ein Anspruch, der durchaus in einem Konflikt mit dem Papst hätte enden können. wird die scheinbar rein literarisch-panegyrische konstruktion im Hinblick auf die genannten Beispiele nicht einfach zu einem Faktum, das jedem teilnehmer etwa an einer Messe in Präsenz des kaisers bewusst war, jedem Zuschauer seiner reliquienerhebungen? 52
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Den teilnehmern der krönungszeremonie in rom 1355 gewährte Innozenz VI. eine großzügige Indulgenz von sieben Jahren und sieben Quadragenen, wobei die Ablassgewährung an die Person des krönungskardinals Peter von ostia gebunden war, vgl. theiner, Codex diplomaticus dominii temporalis sancti s. sedis (wie Anm. 28), 286, nr. 293. Den zweiten vergleichbaren Ablass gewährte Innozenz VI. 1354 demselben kardinal in kombination mit vielen anderen Vorrechten. Alle Teilnehmer feierlicher Pontifikalmessen des Kardinals, bei denen das Wort Gottes verkündigt wurde, kamen in den Genuss eines Ablasses von einem Jahr und einer Quadragene, vgl. Lettres secrètes et curiales. Innocent VI (1352 – 1362). Bd. 4/3, publiées ou analysées d’ après les registres des archives vaticanes, hg. v. Pierre GAsnAult (Bibliothèque des écoles francaises d’ Athènes et de Rome. Lettres secrètes et curiales des papes du XIVe siècle 4/3), Paris 1968, 28, nr. 1331. Sed potius virtute tui, quem diligis, huius / Cesaris insignis Karoli, deus alme, ministra / Ut valeat ductore pio (Monumenta Germaniae Historica. Legum sectio IV. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 11, 43. Dokumente zur Geschichte des Deutschen reichs und seiner Verfassung 1354 – 1356, hg. v. Wolfgang Dietrich fritz [MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 11], Weimar 1978 – 1992, 560); vgl. Martin schuBert, Inszenierung und repräsentation von Herrschaft. karl IV. in der Literatur, in: Die Goldene Bulle, hg. v. hohensee / lAwo / lindner / menzel / rAder (wie Anm. 32), 493 – 516, hier 508; Bernd-Ulrich herGemöller, Cogor adversum te. Drei Studien zum literarisch-theologischen Profil Karls IV. und seiner kanzlei (studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 7), warendorf 1999, 134. Vgl. ebd., 135 f.; wobei die von herGemöller (wie Anm. 53) als Belege herangezogenen Passagen aus einer Arenga von 1347 und aus dem böhmischen krönungsordo eben gerade keine Abweichung von der klassischen rolle des kirchenschützenden Vogtes darstellen.
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Die Aussage dieser ganzen einzelbefunde lässt sich nun zuspitzen: Zeigt sich hier wirklich ein kaum mehr vermutetes sakralkönigtum, wie es für die ottonischsalische Zeit bei ungleich geringerer Befunddichte immer noch recht monolithisch postuliert wird, bis Canossa als große wende eintritt55? Dagegen spricht die ganz andere schwerpunktsetzung der sakral konnotierten Handlungen des Luxemburgers, die es oft in dieser Form im frühen und hohen Mittelalter noch nicht gab. ein dynamisches Verständnis der sakralen elemente im römisch-deutschen königtum des spätmittelalters, mit Christoph Auffahrt56 verstanden als sakralisierung von Herrschaft, führt zu neuen einsichten: Als Prozess betrachtet zeigt sich, dass sich karl IV. bis 1347 ganz im Fahrwasser des französischen Modells bewegte, was sich z. B. in der Gründung des Allerheiligenkapitels in der capella regia der Prager Burg57, einem Gegenstück zur sainte-Chapelle, und der nachfolgenden stiftung der Marienmansionäre58 zeigen lässt. Aber mit dem tod Ludwigs des Bayern, unserem und 55
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Vgl. Franz reiner erkens, Anmerkungen über die sakralität des reiches im späteren Mittelalter, in: wege und spuren. Verbindungen zwischen Bildung, wissenschaft, kultur, Geschichte und Politik, Festschrift für Joachim-Felix Leonhard, hg. v. Helmut knüppel (schriftenreihe des Wilhelm-Fraenger-Instituts Potsdam 10), Berlin 2007, 223 – 240; ders., Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006; ders., Das sakrale Königtum in der Krise, in: Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der romanik, Bd. 1: essays, hg. v. Christoph stieGemAnn / Matthias wemhoff, München 2006, 93 – 98; ders., Der ‚pia Dei ordinatione rex‘ und die krise sakral legitimierter Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, hg. v. Jörg JArnut / Matthias wemhoff (Mittelalter-Studien 13), München 2006, 71 – 101; ders., Vicarius Christi – sacratissimus legislator – sacra majestas. Religiöse Herrschaftslegitimierung im Mittelalter, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 89 (2003), 1 – 55; Kritik am auch noch von erkens vertretenen sakralitätsbegriff bei Jens Ivo enGels, Das „wesen“ der Monarchie? kritische Anmerkungen zum „sakralkönigtum“ in der Geschichtswissenschaft, Majestas 7 (1999), 3 – 41 – zwar an einem frühneuzeitlichen Beispiel erarbeitet, aber doch vielfach auch auf Forschungen zur sakralität des königtums im Mittelalter anwendbar. Fruchtbar für die ideengeschichtliche entwicklung im spätmittelalter ist Andreas kosuch, Abbild und stellvertreter Gottes. Der könig in herrschaftstheoretischen schriften des späten Mittelalters, (Passauer historische Forschungen 17) köln / weimar / wien 2011. Leider blendet kosuch die Handlungspraxis der römisch-deutschen könige vollkommen aus. Vgl. Christoph AuffAhrt / Hubert mohr, religion, in: Metzler Lexikon religion, hg. v. Christoph AuffAhrt / Hubert mohr / Jutta BernArd, Stuttgart / Weimar 2000, 160 – 172, v. a. 164 f. Lapidar berichtet karl in der Vita Caroli Quarti: In eadem reversione creavi collegium ad Omnes Sanctos in capella regia in castro Pragensi (hillenBrAnd, Vita Caroli Quarti [wie Anm. 21], 166). Die Vorgängerinstitution, das von wenzel II. gestiftete Burgkapitel, war quasi nicht mehr existent, vgl. wolf eric wAGner, universitätsstift und kollegium in Prag, wien und Heidelberg. eine vergleichende untersuchung spätmittelalterlicher stiftungen im spannungsfeld von Genossenschaft und Herrschaft (europa im Mittelalter 2), Berlin 1999, 39. Franz von Prag verlegt die Gründung ins Jahr 1343 (Vgl. Franz von Prag, Kronika Františka pražského, in: Prameny Dějin Českých. T. 4/1 [Fontes rerum bohemicarum 4/1], hg. v. Josef emler, Praha 1882, 347 – 456, hier 436) und stiftet durch diese Falschangabe konfusionen, die sich bis heute durch die Forschung im sinn einer zweifachen Gründung des Allerheiligenkapitels 1339/43 ziehen. Vgl. Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae, Bd. 4/1: 1333 – 1343, ND Hildesheim 2007 (Erstausgabe Praha 1892), 532 – 536, Nr. 1322; Franz v. Prag, Chronik (wie Anm. 57), 343; Benesch von weitmühl: Kronika Beneše z Weitmile, in: Prameny Dějin
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des ganzen christlichen Glaubens Feind, den er [Gott] wundersam niederwarf59, wie karl an die Prager Altstadt schrieb, dynamisierte sich der sakrale Herrschaftsstil des Luxemburgers: Im Majestätssiegel führte er seit dem Herbst 1347 die priesterliche stola, schuf den weihnachtsdienst in Basel und löste sich damit auch ein wenig vom Papst. eigenständige reliquienerhebungen waren noch tabu, als er an ostern 1350 von den söhnen Ludwigs des Bayern die reichsinsignien erhielt und diese mit einem feierlichen Adventus nach Prag einholte60. entscheidend war möglicherweise der Besuch karls im Juni 1350 bei der Mystikerin Christina ebner, Priorin des Dominikanerinnenklosters engelthal, berichtet nicht in der bekanntesten schrift ebners, dem Büchlein „Von der Genaden Überlast“, sondern in Mitschriften ihres umfelds, der „Gnadenvita“ und den „offenbarungen“61. Christina ebner selbst hatte sich im streit zwischen Papst und kaiser Ludwig IV. eher auf die seite des Bayern gestellt, so dass ihre anfänglich skeptische einschätzung karls nicht verwundert62. Vermutlich im entscheidenden Jahr 1347 – mutmaßlich nach dem Tod des Bayern – gab sie folgende Vision bekannt: Do antwurt der vater seinem einborn sun vnd sprach: ich will dem küng drei gobe geben: derwelung, genedikeit dez bobstes und signüft [= sieg / triumph] 63. Damit wandte sich ebner dem luxemburgischen thronprätendenten zu. Vermutlich am Fronleichnamstag 1350 zog karl nach engelthal und kniete demütig mit seinem hochrangigen Gefolge vor der Mystikerin nieder und empfing ihren Segen64. Der Inhalt des Gesprächs ist nicht überliefert, aber er lässt sich erschließen. Denn im selben Jahr empfing Christina Ebner eine Vision, die sich ausdrücklich auf den Luxemburger
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Českých. T. 4/1 (Fontes rerum bohemicarum 4/1), hg. v. Josef emler, Praha 1882, 459 – 548, hier 492 f.; vgl. dazu umfassend Jan ryBA, Mansionáři v pražském kostele (Die Mansionäre in der Prager Kirche), Pražský sborník historický 30 (1998), 5 – 89. Inimicum nostrum ac totius Christianae fidei mirabiliter prostravit (František pAlAcký, ueber Formelbücher zunächst in Bezug auf böhmische Geschichte. nebst Beilagen. ein Quellenbeitrag zur Geschichte Böhmens und der nachbarländer im XIII, XIV und XV Jahrhundert, 2 Bde., Prag 1842, Bd. 1, 358, nr. 159) Vgl. Monumenta Germaniae Historica. Legum sectio IV. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 10. Dokumente zur Geschichte des Deutschen reichs und seiner Verfassung 1350 – 1353 (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 10), bearb. v. Margarete kühn, Weimar 1979 – 1991, Nr. 69; Franz v. Prag, Chronik (wie Anm. 57), 453 f. Die genannte Gnadenvita und die offenbarungen sind bisher nicht vollständig ediert. eine kritische Edition befindet sich in Vorbereitung, Binder zitiert aber tw. in neuhochdeutscher Übersetzung aus den mittelhochdeutschen Handschriften. Vgl. Matthias Binder, Christina ebner in ihren Schriften, in: Christina Ebner 1277 – 1356. Beiträge zum 650. Todesjahr der Engelthaler Dominikanerin und Mystikerin, hg. v. Matthias Binder / Peter BAumAnn / robert Giersch (Altnürnberger Landschaft e. V. Mitteilungen. Sonderheft 51), Neuhaus a. d. Pegnitz 2007, 17 – 80, hier 17, Anm. 4. „und [Christus] teilte ihr mit, dass das Land wegen kaiser karl in nöten war“ (ebd., 58). Ebd., 57; zur Bedeutung von signüft vgl. Matthias von lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., stuttgart 1992, Bd. 2, sp. 917. „Am selben tag kam der römische könig karl zu ihr und ein Bischof und drei Herzöge und viele Grafen. Die knieten vor ihr nieder und baten sie begierig, sie möge ihnen zu trinken geben und den segen“ (Binder, Christina ebner in ihren schriften [wie Anm. 61], 59).
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bezog: „An einem Dienstag sagte er [Christus] über könig karl, er sei ein erbe von Gottes ewigem reich. ‚Das sollst Du ihm sagen: Ich will ihn darin wohl behüten, damit er mich umso lieber hat. Ich habe ein feuriges Licht in ihm entzündet und ich habe ihm das Himmelreich aufgeschlossen.‘“65. es ist nur plausibel, dass die Mystikerin ihre Vision dem extra angereisten Herrscher mitteilte und ihn in sicherlich schon länger gehegten Verdacht der eigenen Auserwählung bestärkte, zumal der sieg über Ludwig den Bayern und das gute Verhältnis zum Papst bereits realität war. welche Bedeutung karl der Priorin von engelthal zumaß, könnte sich auch in der sehr hohen Zahl von elf Privilegienbestätigungen und neuen schutzbriefen ausdrücken66. nach den entwicklungen von 1347 bewirkte also vermutlich das Gespräch in engelthal einen zweiten Bewusstseinsschub der Auserwählung (derwelung) bei karl IV. Hinzu kam zwei Jahre später die mysteriöse Lähmung des Luxemburgers67, in deren Genesungsphase die Schaffung der Vita Caroli Quarti fiel, wie Eugen Hillenbrand überzeugend gezeigt hat68. Die sogenannte Autobiographie mit ihrem Anspruch, die besondere rolle, die Gott karl bereits in seiner Jugend angedeutet hat, durch Mirakelerzählungen zu untermauern, wird so zu einer rückprojektion des karolinischen Selbstbildes der Jahre 1347 – 1352. Sie ist eher keine politische Kampfschrift (Eugen Hillenbrand) – warum auch, es waren doch alle Feinde besiegt oder verstorben. Vielmehr dokumentiert sie die Pläne Gottes mit karl IV. seit früher Jugend, und sei es nur für den Herrscher selbst und seine umgebung. Mit der Genesung im Lauf des Jahres 1352 beginnen dann die Vorbereitungen der kaiserkrönung, die reisen durch den südwesten des reichs und die aktive Akquise von reliquien mit eigenhändiger einbindung des laikalen Herschers. seinen Höhepunkt erreichte das Handeln des sich als auserwählt begreifenden Herrschers mit der kaiserkrönung 1355 und dann jährlich mit der aktiven rolle im Zug der ostensio reliquiarum, sei es als weisender, sei es als Vermittler von seelenheil durch an seine Person gebundene Ablässe. Diese etappen des sich entwickelnden sakralen Herrschaftsstil des
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ebd. Vgl. ebd., S. 57; Johanna thAli, Beten – Schreiben – Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal (Bibliotheca Germanica 42), Tübingen / Basel 2003, 327; Gustav voit, engelthal. Geschichte eines Dominikanerinnenklosters im nürnberger raum. Bd. 1 (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 26), Nürnberg 1977, 36 – 39. Das südöstlich von nürnberg gelegene kloster engelthal grenzte geographisch an die territorien des sog. neuböhmen an und besaß auch aus diesem Grund in den 1350er Jahren hohe Bedeutung für die Luxemburger (Vgl. ebd., 36). Vgl. zur krankheit eugen hillenBrAnd, Herrscherliche selbstdarstellung und politische kampfschrift. eine einführung in die Autobiographie karls IV., in: Vita Caroli Quarti, hg. v. dems., Stuttgart 1979, 7 – 62, hier 29 – 32. An Erzbischof Balduin von Trier schrieb Karl IV. nach langer Inaktivität aufgrund der erkrankung, daz wir uns von gots gnaden von tag zu tag an unserm gesunt zunemen und bezzern (Acta imperii inedita seculi XIII. et XIV. urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sizilien in den Jahren 1200 – 1400, 2 Bde., hg. v. eduard winkelmAnn, Innsbruck 1885, 476). Vgl. hillenBrAnd, Herrscherliche selbstdarstellung und politische kampfschrift (wie Anm. 67), 22 – 32; Kritik daran bei herGemöller, Cogor adversum te (wie Anm. 53), 388.
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Luxemburgers lassen sich selbst in der Zahl der nach Prag verbrachten reliquien erkennen. eine quantitative Auswertung des karolinischen Heiltumsschatzes (schaubild 1) zeigt, dass der Zufluss keineswegs stetig war, sondern markante Einschnitte aufweist: reliquien einzufordern und nach Prag zu transferieren war für karl IV. in nennenswertem umfang erst nach dem oben skizzierten Bewusstseinsschub der eigenen Auserwählung von 1350 denkbar, wenn er auch bis ende 1352 durch seine erkrankung an einer aktiven reliquienakquise gehindert wurde69. Ab 1355 tritt die Beteiligung an der ostensio reliquiarum und die damit verbundene Ablassvergabe als neues element des sakralen Herrschaftsstils hinzu. Im resümee deutet sich an, dass die sakralen Aspekte des römisch-deutschen königtums im 14. Jahrhundert verkannt werden, verstünde man sie in erster Linie als Überbleibsel ottonisch-salischen „Sakralkönigtums“ oder staufischer Heiligenverehrung70. In Bezug auf die Herrschaft karls IV. sind sakrale elemente auf verschiedensten ebenen zu entdecken, sie erschöpfen sich nicht im weihnachtsdienst oder stellen nur eine simple kopie des von Ludwig dem Heiligen begründeten französischen Modells sakral legitimierter königsherrschaft dar. Vielmehr entwickelte der Luxemburger eine dynamische und originelle Ausprägung sakralisierter Herrschaft, einen spezifisch karolinischen Herrschaftsstil, der um ein Selbstverständnis und Außenbild kreiste, das die Auserwählung des Luxemburgers in den Mittelpunkt stellte. Diese Auserwählung manifestiert sich in zahlreichen Überschreitungen der Grenze vom Laien zum Kleriker, ohne damit je in offenen Konflikt zum Papsttum zu treten oder gar den Anspruch individueller Heiligkeit zu erheben. Die legitimatorische nutzbarkeit des sakralen Herrschaftsstils ist offenkundig, ohne damit einer
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Die Zuwächse von 1349 führen sich auf reliquiengeschenke aus Aachen (Vgl. regesten der reichsstadt Aachen [einschließlich des Aachener reiches und der reichsabtei Burtscheid] [Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 47/2], Bd. 2: 1301 – 1350, hg. v. Albert huyskens, bearb. v. wilhelm mummenhoff, köln 1937, 385, nr. 848) und ungarn (Carola fey, könig Ludwig I. von ungarn und das tischtuch vom Letzten Abendmahl. reliquiengeschenke als Zeugnisse des höfischen Austauschs im religiösen Bereich, in: Vorbild – Austausch – Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung, 11. Symposium der residenzen-kommission der Akademie der wissenschaften zu Göttingen. Veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Historischen kommission und der kommission für kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Wien, 20. – 24. September 2008, hg. v. Werner pArAvicini / Jörg wettlAufer [Residenzenforschung 23], Ostfildern 2010, 39 – 62) zurück, bei denen karl keine aktive rolle einnahm. 1350 erhielt er die reichsinsignien (Codex Diplomaticus Brandenburgensis. sammlung der urkunden, Chroniken und sonstigen Quellenschriften für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer regenten, hg. v. Adolph Friedrich riedel, 41 Bde., Berlin 1838 – 1869, hier: Bd. II/2, 293 – 295, Nrr. 925 f.), die größtenteils als Heiltümer mit in die Statistik einfließen. Von eigenhändigem Umgang mit dem Heiltum ist in den genannten Fällen noch nichts zu erkennen. Mit ausdrücklichem Bezug auf karl IV. sprach Jürgen Petersohn von „rudimente[n] politischer Heiligenverehrung im spätmittelalterlichen reich, [für die] im wesentlichen die Gegenstände und Formen des Kultwesens verbindlich [blieben], die das staufische Kaisertum in seinen Kultakten geschaffen hatte“ (Jürgen petersohn, kaisertum und kultakt in der stauferzeit, in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. v. dems. [Vorträge und Forschungen 42], Sigmaringen 1994, 101 – 145, hier 145).
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umfassenden Intentionalität der frommen Handlungen und äußerungen karls das wort zu reden, die leicht als kühle Manipulation missverstanden werden könnte. Dass der sakrale Herrschaftsstil auch die alltäglichen und habituellen Handlungen des Luxemburgers umfasste, zeigt sich etwa am eigenhändigen umgang mit den reliquien der Heiligen: Auch ohne Zuschauer bemühte sich karl um das Berühren des Heiltums, der Herrschaftsstil war in Fleisch und Blut übergegangen. Die ältere, zwar griffige, aber im Detail problematische und letztlich nicht durchzuhaltende unterscheidung von Franz Machilek in die „staats- und Privatfrömmigkeit“71 des Luxemburgers wäre im hermeneutischen konstrukt eines sakralen Herrschaftsstils aufgehoben. Die konturen dieses Herrschaftsstils zu umreißen war die Intention dieses Beitrags; wichtige Punkte wie etwa die Frage nach der Rolle der Berater am Hof und der Abgrenzung ihres Einflusses von der individuellen Verantwortlichkeit eines Monarchen für seinen Herrschaftsstil sind noch offen. Für eine abschließende Beurteilung sind weitere studien zur entwicklung und auch rezeption der karolinischen Art zu herrschen unbedingt notwendig.
Abb. 1: Karl IV. setzt eigenhändig eine Dorne in ein Reliquienkreuz, vmtl. das sog. Böhmische Landeskreuz, ein. Fresko in der Marienkapelle der Burg Karlstein. [Foto: Martin Bauch]
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Vgl. Franz mAchilek, Privatfrömmigkeit und staatsfrömmigkeit, in: kaiser karl IV. staatsmann und Mäzen, hg. v. seiBt (wie Anm. 36), 87 – 101.
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Abb. 2: Detail des Freskos ‚Ecclesia militans‘ von Andrea di Bonaiuto (Andrea da Firenze) aus der Capella Spagnola der Dominikanerkirche S. Maria Novella in Florenz, entstanden 1366/67. In der linken Hand des Kaisers, der als Karl IV. zu identifizieren ist, findet sich statt des Reichsapfels ein menschlicher Schädel. Bemerkenswert auch die Aureole um den Kopf des Kaisers [Foto: Martin Bauch]
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Schaubild 1: Rekonstruktion der nachweislich in Prag vorhanden Reliquien (y-Achse) in der Herrschaftszeit Karls IV. (x-Achse) Der Tod Ludwigs des Bayern 1347 und die Inanspruchnahme sazerdotaler Insignien wie der Stola sowie der Weihnachtsdienst als erste Etappe des karolinischen Erwählungsbewusstsein haben noch keine Auswirkungen auf die Akquise von Heiltum. 1350 erhält Karl im Frühjahr die Reichsinsignien und führt an Fronleichnam ein Gespräch mit Christina Ebner, wird dann aber bis 1351/52 von einer ungeklärten Lähmung befallen, von der er sich nur langsam erholt. Erst nach völliger Genesung verlässt er die böhmischen Kronländer und sammelt vor allem 1353 – 55 eine erstaunliche Menge an Heiltum im deutschen und italienischen Reichsteil. Mit der Kaiserkrönung 1355 findet das Erwählungsbewusstsein einen neuen Ausdruck in den Heiltumsweisung, an denen sich der Luxemburger mutmaßlich selbst beteiligt. [Grafik: Martin Bauch]
PersÖnLICHe HeILIGkeIt ZwIsCHen suBJektIVeM AnsPruCH unD koLLektIVer suGGestIon Peter Dinzelbacher Der vorliegende Beitrag bemüht sich, einen Aspekt der Hagiologie zu beleuchten, welcher im Vergleich zu den traditionellen Generalthemen wie kanonisation, kult und Legende wenig bearbeitet wurde, nämlich die Heiligkeit lebender Personen. Dies einerseits aus ihrer eigenen Perspektive, andererseits aus der Perspektive ihrer sozialen umwelt. Beschränkt bleibt diese studie geographisch auf Alteuropa, der zeitliche schwerpunkt liegt im Mittelalter. es geht im Folgenden also um die vom Historiker eruierbaren Muster beim werden von Heiligkeitsvorstellungen, lebende Personen betreffend, d. h. um die Überzeugung besonderer Auserwählung: Also einmal darum, dass sich gläubige Christen selbst schon auf erden durch eine besondere Beziehung zu Gott vor allen anderen hervorgehoben halten. und zum anderen, dass ihnen von ihrer sozialen umwelt eine solche sonderstellung zugeschrieben wird, mit oder ohne ihre Zustimmung. Dokumentiert wird einerseits die Innensicht der Betroffenen auf ihr Charisma – wobei die „Göttlichen“, jene, die sich für einen neuen Messias oder Gott auf erden hielten, eine spezielle Gruppe darstellen – und andererseits die Außensicht, die reaktion der sozialen umwelt auf derartige Ansprüche oder körperliche Phänomene (wie stigmatisation). wie wird man heilig schon zu Lebzeiten? Dem kirchenhistoriker und theologen fällt die Antwort leicht, auch wenn es nicht um die kanonisierten oder ab immemorabili verehrten toten geht, braucht er doch nur auf den Beginn des ersten Petrusbriefes zu verweisen. Der lange Zeit für den Apostel gehaltene Autor schreibt den eklektoîs . . . katà prógnosin theôu patrós en hagiasmô pneúmatos. . . Die Vorsehung Gottes erwählt diese Menschen zur Heiligung durch den Geist. Dass diese Vorsehung für Gläubige ein mysterium inscrutabile ist, also einer erklärung weder zugänglich noch bedürftig, benötigt wohl keine erwähnung. Zahllose Heiligenviten bezeichnen deshalb an ihrem Beginn den jeweiligen Helden als schon im Mutterleib Auserwählten nach dem Vorbild des Propheten Jeremias (1, 5) und des Johannes d. t. (Lc 1, 15). Maria Crocifissa Bernuzzi in Reggio etwa, eine der zahllosen lebenden Heiligen Italiens (2. Hälfte 18. Jh.), beanspruchte santificata nell’utero come fu S. Giovanni Battista und chiamata dal Signore per una strada straordinaria zu sein1. Geradezu ein topos ist der traum 1
Giuseppe orlAndi, Vera e falsa santità in alcuni predicatori popolari e direttori di spirito del Sei e Settecento, in: Finzione e santità tra medioevo ed età moderna, hg. v. Gabriela zArri, torino 1991, 435 – 463, hier: 450.
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der schwangeren Mutter, in dem untrügliche Zeichen die Heiligkeit des ungeborenen kindes anzeigen2 (nur gelegentlich wird ein derartiges prophetisches Gesicht auch dem Vater zuteil3): Bernhard von Clairvaux und Dominicus von Caleruega sind die berühmtesten Beispiele. Die Heiligenlegenden lassen dies auch nach außen demonstrieren: Der hl. Finan verhinderte im Bauch seiner Mutter, dass diese ein regentropfen oder eine Schneeflocke traf4, der spätere Bischof Mocteus von Lughmud hüpfte, „ungeboren schon Mönch“, zu allen stunden des Chorgebets im Mutterleib auf und ab5 usf. selbstverständlich wird Heiligkeit so noch heute dogmatisch (also ahistorisch) auch von der katholischen Hagiologie definiert. Es genüge das Handbuch zum Thema aus der Feder des vatikanischen Staatssekretärs Réginald Grégoire OSB zu zitieren: „la santità è una assimilazione con Cristo, per effetto gratuito di una azione dello spirito santo . . .“6. Der Profanhistoriker dagegen ist gehalten, das Phänomen der Heiligkeit ohne Verweis auf die transzendenz in soziologischen und psychologischen kategorien zu begreifen. Deshalb ist für ihn irrelevant, ob die entsprechende Persönlichkeit nach dem urteil der Institution kirche heute als Heiliger oder als ketzer gilt, relevant ist nur die tatsache, dass von ihr selbst bzw. ihrer sozialen umwelt der Anspruch auf Heiligkeit geäußert wurde. Den sozialgeschichtlichen Zugang wird niemand infrage stellen, anders den psychologischen, den auch heute noch die meisten ‘zünftigen’ Historiker prinzipiell ablehnen7. so lange man jedoch mit Huizinga und anderen altmodischen Gelehrten in der Geschichtsschreibung noch Menschen und nicht strukturen ins Zentrum stellen will, so lange wird man letztendlich unausweichlich auf psychologische Fragen hingeführt werden. sie werden u. e. meist eher unter rekurs auf die Individualpsychologie Alfred Adlers behandelt werden können als mit kategorien Freuds oder Jungs, deren systeme einen deutlich höheren spekulativen Anteil aufweisen. soweit wird das thema hier freilich nicht auszuführen sein, vielmehr soll die folgende studie nur vom Historiker eruierbare Muster beim werden personenbezogener Heiligkeitsvorstellung aufzeigen. Amtsheiligkeit Zunächst wäre hier das thema ‘Amtsheiligkeit’ zu behandeln, denn Heiligkeit schon zu Lebzeiten qua Amt wurde vor allem von den Päpsten, aber auch von kaisern und königen beansprucht und von ihren jeweiligen Anhängern ins superlativische
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Francesco lAnzoni, Il sogno presago della madre incinta nella letteratura medievale e antica, Analecta Bollandiana 45 (1927), 225 – 261. Z. B. dem der katharina Vigri von Bologna: s. Caterina Vigri, Le sette armi spirituali, hg. v. Cecilia foletti, Padova 1985, 37. redmond mullin, Miracles and Magic, London 1978, 48. Heinrich Günter, Psychologie der Legende, Freiburg 1949, 94 f. Manuale di agiologia, Fabriano 1987, 47. Peter dinzelBAcher, Psychohistorie aus der sicht des Historikers, in: körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, hg. v. dems., Paderborn 2007, 335 – 347.
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überhöht. Dies sei nur knapp skizziert: Abgesehen davon, dass sich die meisten römischen Bischöfe wenigstens seit dem achten Jahrhundert als ‘heilige Väter’ titulieren lassen – in krassestem Gegensatz zur Weisung des Religionsstifters: „Ihr sollt niemand auf erden euren Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel“ (Mt 23,9). Dazu hat der hl. Gregor VII. die Anerkennung der automatischen Heiligkeit aller Petrus-nachfolger und damit implizit auch seine eigene gefordert8. Obwohl er persönlich erst 1606 kanonisiert werden sollte, definierte er die prinzipielle Amtsheiligkeit der römischen Bischöfe im unterschied zu allen Amtsbrüdern: Quod Romanus pontifex, si canonice fuerit ordinatus, meritis beati Petri indubitanter efficitur sanctus . . . Das Präsens des Verbs verweist darauf, daß sich Gregor tatsächlich Heiligkeit schon auf erden vorstellte, nicht erst im Himmel. konkret manifestiert sie sich etwa darin, quod solius papae pedes omnes principes deosculentur9. Diesen Anspruch bestätigt der andere große repräsentant der reformpartei, Petrus Damiani, wenn er Gregor einen heiligen satan nennt und ihn so anredet: Tu facis hunc [den Papst] Dominum; te facit iste Deum10. Damiani sah in ihm also einen Heiligen, einen als Gott Verehrten und einen teufel, bei aller rhetorik ein vielsagendes urteil aus kompetentem Munde. schon längst hatten sich freilich die frühmittelalterlichen Päpste zu Lebzeiten mit Heiligenschein darstellen lassen, so wie Gregor I. im Atrium des Andreas-klosters zu rom11, vormals ein Attribut der heidnischen Götter und kaiser. In dieser Hinsicht am bekanntesten ist aber Bonifatius VIII. (siehe Abb. 1), der sich als lebender Christus in terris und deus deorum feiern ließ, etwa durch seinen Leibarzt Arnald von Villanova12, welcher eventuell Widersprechende gleich als Vorläufer des Antichrist qualifizierte. seine selbstverherrlichung durch zahlreiche statuen in stein und edlen Metallen, die formal durchaus Heiligendarstellungen glichen, weist in dieselbe richtung. schon Zeitgenossen erkannten, dass diese Bildwerke zu einer außerordentlichen Verehrung, ja geradezu zur Idolatrie (wie seine Gegner sagten) aufforderten13. Papa non homo simpliciter sed quasi deus in terris est, lehrte der Beichtvater Johannes
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An der Aktualität des themas interessierte Leser seien verwiesen auf eugen Drewermanns offenen Brief vom 19.09.2011 an den damaligen Papst Benedikt XVI., „Gott bedarf keiner Vertreter“, http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/journal/glossen/drewermann-an-ratzinger/-/ id=659262/nid=659262/did=8609950/19od60w/index.html. Dictatus papae [um 1075] sätze 23 und 9, Carl mirBt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen katholizismus, tübingen 4/1924, 146. Gregor beruft sich u. a. auf ennodius von Pavia: Quis enim sanctum esse dubitet, quem apex tantae dignitatis attolit. . .? Dafür sorge die göttliche Vorsehung, ebd. 89. Zum rituellen Fußkuss, der später v. a. nicht-katholischen Diplomaten zum Problem wurde, s. Joannes Fridericus mAyerus, tractatus de osculo pedum pontificis Romani, Lipsiae 1712. Im Internet finden sich „katholische“ Seiten, auf denen allen Ernstes befürwortet wird, „die Zulassung zur Gnade des Fußkusses“ wieder einzuführen. Philippe schAff, History of the Christian Church V. the Middle Ages: from Gregory VII to Boniface VIII 1049 – 1294, Peabody 1996, 16. realenzyklopädie für protestantische theologie und kirche (Pre) 7, 565. mirBt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen katholizismus (wie Anm. 9), 211. Adolf reinle, Das stellvertretende Bildnis, Zürich 1984, 263 ff.
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XXIII., Bischof Alvarus Pelagius14. noch in zahlreichen im 16. und 17. Jahrhundert durch päpstliche kommissionen redigierten Ausgaben des kanonischen rechts15 wurde der Papst als dominus deus gefeiert, also zu einer Zeit, als Andreas karlstadt16 und Martin Luther (siehe Abb. 6)17 schon längst publiziert hatten, was es dazu aus bibeltheologischer sicht zu sagen gibt. wie mit der Verehrung toter Heiliger, so hatte die reformation auch mit der Verehrung lebender Amtsheiliger in kräftigen worten schluss gemacht: bis her haben wir müssen gleuben, der Bapst were das Heubt der Kirchen, der aller heiligst, der heiland aller Christenheit, Nu sehen wir, das er mit seinen Römischen Cardineln nichts anders ist, denn ein verzweivelter Spitzbube, Gottes und Menschen feind, der Christenheit verstörer, und des Satans leibhafftige wonung . . .18. Das findet man natürlich in keiner Papst- oder Kirchengeschichte erwähnt, aber die Heiligkeit des Bischofs von rom zu leugnen, war im spätmittelalter ein religionsdelikt, das mit dem tode bestraft wurde. Das Dokument über die Hinrichtung des Franziskaners Michele de Berti 1389 etwa belegt eindeutig, dass seine weigerung, an den eben genannten Papst zu glauben (credi nel papa) und ihn als santo anzuerkennen, seine Verbrennung als ketzer zur Folge hatte19. ohne dass es eine Linie von der Vergöttlichung mancher römischer kaiser zu Lebzeiten zu ziehen gäbe, erhoben auch mittelalterliche könige einen Anspruch auf besondere Heiligkeit qua Amt. namentlich jene, die sich im Bestreben, ihre im Investiturstreit verlorene Heiligkeit wiederzuerobern, als deus in terris, deus praesens oder deus terrenus ansprechen ließen20 – wenn auch mit ungleich geringerem erfolg als ihr widersacher in rom. Das vielbeschworene mittelalterliche königsheil war ursprünglich mehr ein Zeichen magischer kraft gewesen, erst sekundär durch theologen u. a. in rekurs auf die könige des Alten testaments mit christlichen konzeptionen angereichert, doch bar des wichtigsten geistlichen Machtmittels, nämlich Gegnern durch Bann und Anathem die Pforten des Himmels verschließen zu können21. Immerhin war noch Maximilian I. so fasziniert von der Heiligkeit des päpstlichen Amtes, dass er es selbst in Personalunion mit seinem (ihm offenbar nicht hinreichend sakralen) kaisertum zu gewinnen suchte. Damit, schrieb er 1512 seiner tochter Margarete, werde er sainct und sie habe ihn nach seinem tode anzubeten:
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Michael wilks, the Problem of sovereignty in the Later Middle Ages: the Papal Monarchy, Cambridge 2008, 167. Mit Faksimilia dokumentiert in: http://biblelight.net/extravagantes.htm. Von Bepstlicher heylickeit, 1520. wider das Papsttum zu rom vom teufel gestiftet, 1545. ebd. (ohne Paginierung). Anonimo Fiorentino, storia di fra’ Michele Minorita, hg. v. emanuele trevi, roma 1991, 38, 62. Anton Gerard weiler, Deus in terris. Middeleeuwse wortels van de totalitaire ideologie, Hilversum 1965. Peter dinzelBAcher, Handbuch der religionsgeschichte im deutschsprachigen raum, Paderborn 1999 ff., I, 264 ff.
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vous serés contraint de me adorer22. Diese Amtsheiligkeit, der ja auch Personen wie Alexander VI. Borgia oder Heinrich VIII. teilhaftig wurden, erinnert durchaus an das Heil, das bei primitiven Völkern einfach mit dem faktischen Besitz des thrones bzw. der Insignien verbunden war: Im alten Benegal z. B. wurde jeder, der den könig erschlug und sich des thrones zu bemächtigen wusste, ohne umstände als könig anerkannt usw.23. Charismatische Heiligkeit – die Innensicht Im weiteren soll es jedoch nicht um die mit einem Amt verbundene, sondern nur um die charismatische Heiligkeit gehen: Also einmal darum, dass sich gläubige Christen selbst schon auf erden durch eine besondere Beziehung zu Gott für über alle anderen hervorgehoben halten. und zum anderen, dass ihnen von ihrer sozialen umwelt eine solche sonderstellung zugeschrieben wird, mit oder ohne ihre Zustimmung. Dabei muss in den Quellen nicht unbedingt das wort sanctus oder beatus oder ein volkssprachliches äquivalent fallen, entscheidend sind vielmehr äußerungen und Handlungen, die eine entsprechende einschätzung oder selbst-einschätzung verraten. es geht um gelebte Heiligkeit als religiöses Phänomen, nicht betroffen also von den einschränkungen des kirchenrechts, der Dogmatik oder der Liturgik, für die der tod, die wunder und die reliquien conditiones sine quibus non sind. Die religionswissenschaft kennt das Phänomen des lebenden Heiligen, des thaumaturgen, wunderwirkers, Visionärs in europa wenigstens seit der Antike, wo seine höchste Ausprägung als theios aner (göttlicher Mann)24 gar nicht selten bezeugt ist, vergleichbar in den außereuropäischen kulturen dem schamanen usf.25. es genüge, an Aristeias von Prokonnesos und Abaris zu erinnern, deren Historizität freilich schwierig zu beurteilen ist26. Bleiben wir jedoch im Bereich des westlichen Christentums und fragen wir nochmals: wie wird man ein Heiliger schon in diesem Leben? Zunächst die ‘Innensicht’, die subjektive einschätzung: Der Gläubige27 fühlt sich durch Gott besonders begnadet, oft aufgrund eines Bekehrungs- oder Berufungserlebnisses, einer Vision, einer mystischen unions-erfahrung. Jedenfalls hält er sich für heilig aufgrund eines entsprechend erhöhten selbstwertgefühls. Ganz modern mit sloterdijk formuliert: Im Bereich der Vertikalspannung zwischen Heilig und Profan sieht er sich an der
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Zit. ebd. II, 345. eduard westermArck, ursprung und entwicklung der Moralbegriffe II, Leipzig 1909, 482 f. Ludwig Bieler, theios aner. Das Bild des „göttlichen Menschen“ in spätantike und Frühchristentum, Darmstadt 1967. eugen drewermAnn, Kleriker – Psychogramm eines Ideals, München 1991, 47 nennt den Priester ob seiner Auserwählungsphantasien „schattenbruder des schamanen“. karin luck-huyse, Der traum vom Fliegen in der Antike, stuttgart 1997, 112 ff., 160 f. n. b.: In diesem Beitrag ist das Maskulinum stets als utrum zu verstehen, wo dies der sinn erfordert.
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spitze der religiösen Leitdifferenz28. ob dieses Gefühl auf tatsächlichem erleben beruht, auf der Phantasie, ein solches gehabt zu haben, oder auf gezielter Irreführung, ist meist von außen nicht zu entscheiden. Doch sind die körperlichen Phänomene zumindest der ErlebnismystikerInnen unter den Heiligen oft so deutlich – und wurde die Echtheit von Ekstasen auch oft so brutal geprüft –, dass an der Faktizität entsprechenden erlebens bei den meisten kein Zweifel herrschen kann29. Auch gibt es Menschen, die ‘wunder’ tatsächlich wirken können, etwa durch parapsychische Fähigkeiten, wozu auch eine medizinisch bislang nicht erklärte wirkung als ‘Heiler’ zählt. will man nicht sämtliche Berichte in den Quellen als hagiographische topoi abtun, dann haben viele mittelalterliche Heilige solche Fähigkeiten besessen genauso wie Jesus (égnon dýnamin exelelythyîan ap’emoû: Lc 8, 46). Über die innerpsychische oder außernatürliche Genese solcher Phänomene ist damit selbstverständlich nichts gesagt, für den Historiker steht im Gegensatz zum theologen nur erstere zur Diskussion. Dieser Vorrang vor allen ‘normalen’ Menschen basiert auf einem werturteil, das die betreffende Person über sich selbst fällt und das bei vielen Mitmenschen Anerkennung findet. Dass es durch derartige Erhöhung innerhalb der Gemeinde zu einer die ganze kirchengeschichte durchziehenden konkurrenz zwischen Amt und Charisma kam, hat u. a. ernst Benz einleuchtend gezeigt30 und habe ich selbst für den Bereich der mystischen Begnadung dargestellt31. sie impliziert eine erwartungshaltung sowohl für die Gegenwart (erfahrung weiterer himmlischer Gnaden, wundermächtigkeit) als auch für die Zukunft (ein sicherer Platz im Himmel). Das selbstwertgefühl vieler lebender Heiliger erscheint freilich als inkompatibel mit dem Heiligen-stereotyp der Demut. sie gilt theologisch als das lebendige Fundament aller Heiligkeit. „Heiligkeit hat immer als erste tugend die Demut in ihrem Gefolge“, um einen heutigen katholischen kirchenrechtler zu zitieren32. wenn man dem hl. Jean Vianney, dem Pfarrer von Ars, 1925 kanonisiert, glauben darf, dann wäre die Demut die höchste der tugenden: Ein Heiliger wurde einmal gefragt, welche die erste unter den Tugenden sei. Er antwortete: „Die Demut“. – „Und die zweite?“ – „Die Demut“. „Und welche die dritte?“ – Und er antwortete wieder: „Die Demut“33. nun gibt es tatsächlich bedeutende Heilige, die schon zu Lebzeiten als solche verehrt wurden, selbst aber stets unsicher blieben, ob ihre religiösen Leistungen überhaupt zu ihrer rettung vor der Hölle hinreichten, was drei Beispiele belegen sollen:
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Peter sloterdiJk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt 2009, 28. Peter dinzelBAcher, ekstase, das zentrale körperliche Phänomen der Mystik, in: Zwischen Himmel und erde. körperliche Zeichen der Heiligkeit, hg. v. waltraud pulz, stuttgart 2012, 17 – 33. ernst Benz, Beschreibung des Christentums, München 1967. Peter dinzelBAcher, Heilige oder Hexen. Schicksale auffälliger Frauen, Zürich 1995 u. ö.; mehrfach in andere sprachen übersetzt. Georg mAy, http://www.glaubenswahrheit.org/predigten/reihen/198703/19870426/. http://www.betet.info/Heiliger-Pfarrer-von-Ars_Johannes-Maria-Vianney_Hauptframe2.html.
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Bernhard von Clairvaux ist hier zu nennen, der doch nach eigener Überzeugung viele wunder von Gott erlangt hatte, den die Massen bei seinen Predigten als Heiligen feierten, dessen reittier man die Haare ausriss, um eine Berührungsreliquie zu ergattern. er aber hat sich nie als heiligmäßig präsentiert, da er nachweislich seinen Augustinus gut genug kannte, um zu wissen: Aufgrund der erbsünde wurde die Menschheit insgesamt zu einer massa damnationis oder massa damnata, einer der Hölle verfallenen Menge, von der die göttliche Barmherzigkeit nur wenige begnadigt. Die anderen sind nach Gottes Willen – quia voluit – so geschaffen, dass sie schwer sündigen und deshalb den ewigen Höllenpeinen verfallen werden (im Mittelalter die orthodoxe Lehrmeinung34). Bernhard selbst schreibt: „Beiderseits steht er fest, der spruch der ewigkeit, sowohl über die, die gerettet werden, wie über die, die zugrunde gehen.“35. es gibt evidenz dafür, dass er angesichts dieses wissen um die geringe Chance, zu den Geretteten zu zählen, sich bei seinem tode keineswegs seiner himmlischen Anerkennung als Heiliger, nicht einmal seiner rettung vor der Hölle sicher war: Der Abt ordnete nämlich an, mit einer kapsel voller reliquien des Apostels thaddäus auf der Brust bestattet zu werden, um sich die Auferstehung unter dem schutz dieses mächtigen Heiligen zu garantieren. Dass reliquien apotropäisch gegen die Dämonen wirkten, die etwa die seele beim Verlassen des Leibes überfallen würden, war allgemein anerkannt36. Auch Franz von Assisi hat mehrfach Beweise seiner Demut geliefert, Studebat bona Domini sui arcano pectoris condere, nolens patere gloriae . . .37, wie sein Biograph Bonaventura schrieb. Da die Verehrung vonseiten seiner ordensbrüder und der Bevölkerung sehr intensiv war, erklärte er ab und an, er sei kein Heiliger, sondern ein sünder, und stellte sich zu diesem Zweck auch einmal demonstrativ selbst an den stadtpranger38. In ihrem letzten Brief an ihren seelenführer schreibt katharina von siena, deren Leben doch von himmlischen Visionen und von unerhörten erfolgen bei ihren Volkspredigten getragen war, wie wenig gewiss sie sich, trotz ihrer sie an den Tod führenden Bußleistungen – sie verweigerte schließlich alles Essen und Trinken, woran sie starb – der Errettung blieb. Einerseits meinte sie: „e io credo fare più per loro e per voi doppo la morte mia che ne la vita“, was nur möglich wäre nach der Aufnahme in den Himmel. Andererseits: „Pregate strettamente per me e fate pregare, per l’amore di Cristo crucifisso. Perdonatemi, che io v’ò scritte parole d’amaritudine; non ve le scrivo per darvi amaritudine, ma perché sto in dubio, e non so quello che la bontà di Dio si farà di me: voglio avere fatto el debito
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Peter dinzelBAcher, Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter, Freiburg 1999. Peter dinzelBAcher, Bernhard von Clairvaux, Darmstadt 22012, 79 f. ebd. 361. Leg. mj. 6, 3, zit. n. roberto pAciocco, Una coscienza tra scelta di vita e fama di santità. Francesco d’Assisi frater e sanctus, Hagiographica 1 (1994), 207 – 226, hier: 222; dort weitere stellen. Hester GelBer, A theater of Virtue. the exemplary world of st. Francis of Assisi, in: saints and Virutes, hg. v. John hAwley, Berkeley 1987, 15 – 35.
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mio.“39 es schiene mir verfehlt, in dieser situation bloß von rhetorischen Formeln auszugehen – wenn nicht in der Stunde des Todes, wann ist eine Äußerung dann existentiell? Aus dem faktischen Verhalten solcher einzelpersönlichkeiten und der theologischen Vorgabe entstand das oben zitierte stereotyp, Demut sei eine „immer“ anzutreffende Qualität „aller“ Heiliger (was sich übrigens selbst ad absurdum führt, wenn man an die unschuldigen kinder denkt, eine anerkannte Gruppe katholischer Heiliger). Faktisch ist es jedoch keineswegs so, dass alle jene Gläubigen, die heute in der Catholica als Heilige gefeiert werden, so demütig gewesen wären, dem ruf ihrer Auserwähltheit aufgrund dieser tugend zu widersprechen. Ganz im Gegenteil, wie die folgenden Beispiele zeigen: ein im Mittelalter beliebter hagiologischer ‘topos’ erzählt von einer Vision oder einem traum des Auserwählten. er wird in den Himmel geführt und vergewissert sich, dass dort bereits ein Platz für ihn vorbereitet sei40. Manchmal mag es sich in der tat um einen topos, d. h. eine einfügung des Hagiographen handeln, oft ist mit der erzählung eines wirklichen traumes zu rechnen. ein Beispiel bietet etwa die manifesta revelatio, die erzbischof Anno von köln ein halbes Jahr vor seinem tode erfährt: er wird in ein prachtvolles Gebäude zu einer ehrwürdigen Bischofsversammlung geführt; alle tragen Gewänder weiß wie Schnee – ein Zitat aus der Apokalypse 7, 9, das jedem Leser den geringsten Zweifel nehmen musste, eine Himmelsbeschreibung vor sich zu haben. Anno wird zwar aufmerksam gemacht, er habe noch einen Flecken auf seinem kleid zu reinigen, natürlich die harte unterdrückung der kölner Bürger. Aber da er die Versicherung bekommt, in die Gemeinschaft der heiligen Väter, sanctorum patrum, aufgenommen zu werden41, ist klar, wie sich dieser kirchenfürst selbst eingeschätzt hat, nämlich als sicheres Mitglied der Gemeinschaft der Heiligen. Freilich wurde dies von rom erst über hundert Jahre nach seinem tode bestätigt, nämlich 1183. Die Beispiele solcher schauungen kurz vor dem Lebensende sind in der Hagiographie sehr zahlreich, erwähnt sei nur noch katharina von Bologna, die in dieser situation in den Himmel geführt und von Christus empfangen wurde, wobei andauernd ein wundersamer liturgischer Gesang ertönte: et gloria eius in te videbitur42. Das „in dir“ ist äquivalent zu einer Deklaration als Heilige. Aber auch entsprechende äußerungen im Alltagsleben manifestieren das Bewusstsein der eigenen erhabenheit. obgleich die hl. elisabeth von thüringen ungeachtet ihrer königlichen Herkunft ohne Zweifel eine demütige Frau war, die sich
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s. Caterina de siena, Le lettere, hg. v. umberto meAttini, roma41987, 1194 f. Für sünder ein Platz in der Hölle oder im Fegefeuer, wie in zahllosen warnlegenden beschrieben. Beispiel: Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, 5, 14, bearb. u. übers. v. Günther spitzBArt, Darmstadt 1997, 478. weiteres bei Peter dinzelBAcher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, stuttgart 1981, 213, A. 1049. Lampert von Hersfeld, Annales a. a. 1075, neu übersetzt von Adolf schmidt, erläutert von wolfgang Dietrich fritz, Darmstadt 2000, 338 ff. Gynevera de le clare donne di Joanne sabadino de li Arienti (scelta di curiositá letterarie inedite o rare dal sec. XIII al XIX / 223), hg. v. Corrado ricci / Alberto BAcchi dellA leGA, Bologna 1888, 228 ff.
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bemühte, ihr Leben nach dem einer anderen thüringischen Heiligen, der königstochter radegunde, zu gestalten43, war sie von ihrer so erworbenen Heiligkeit überzeugt. Bemüht, ihre Charismen eher zu verbergen (so wissen wir z. B., dass sie Visionen hatte, aber sie erzählte ihren Inhalt im unterschied zu recht vielen anderen Heiligen aus Bescheidenheit nicht weiter), betonte sie doch ihre sonderstellung vor Gott und ihre künftige Verehrung als Heilige so sehr, dass sie mehr als einmal, auf ihre kleider deutend, ihren Zofen sagte, „Ihr handelt klug, meine Damen, wenn ihr jetzt diese stoffe aufhebt, denn dann, meine ich, ist es nach meinem tod nicht nötig, sie erst zu suchen, wenn ich eine Heilige sein werde und der Herr durch mich wunder wirken wird (quando sancta ero et Dominus per me miracula facturus est)“44. tatsächlich sind wenigstens ihr unterkleid und ihre Bußtunika als sekundäre reliquien erhalten. Mechthild von Hackeborn (1241/42 – 1298/99)45 war, wie so viele andere Mystikerinnen, als kind, nämlich mit sieben Jahren, ins kloster gekommen, wo sie durch ihre Visionen eine bemerkenswerte Gewissheit der Auserwählung erlangte. sie erzählt selbst in ihrem Liber specialis gratiae, wie von ihren Gliedern ein Glanz ausging, der sie ihres Gnadenstandes versicherte (2, 14). Der Gottessohn steht ihr jederzeit zur Verfügung, wann, wo und in welcher sache sie ihn anzusprechen beliebt. täglich kommt er während der Messe zu ihr, um alle ihre wünsche und ihr Verlangen zu erfüllen (3, 5). Ja, er übernimmt sogar die rolle eines ergebenen Hausdieners: Sie bittet ihn, sie zur richtigen Stunde zu wecken (2, 6); er hält die Gießkanne, wenn sie seinen weingarten wässert (2, 2) usw. Ihre Heiligkeit geht so weit, wie sie an ihrem ende von Gott persönlich erfährt, dass ihr alle Fähigkeit zur sünde genommen war (6, 2), was die Aufnahme in den Himmel bedeutet. Immerhin gab es auch Phasen der ‘trockenheit’, wo ihr solche Gewissheit wohl fehlte, und sie starb verwirrt (5, 7). Ganz ähnlich von sich selbst überzeugt war ihre Gefährtin im kloster Helfta, Gertrud gen. die Große46. sie hört, wie in ihrem offenbarungsbuch Legatus divinae pietatis nachzulesen, z. B. Christus sagen, die Vereinigung mit ihr sei von ihm derartig ersehnt, dass er ausschließlich dafür schon alle Leiden seines erdenlebens auf sich genommen hätte47 (man bedenke dies vor dem Hintergrund der erlösungsdogmatik)! er werde jedes beliebige Versprechen, das sie in seinem namen tätigen wolle, unbedingt erfüllen48. wer immer ihr wort hört, kann nicht zugrunde gehen, sondern gelangt „ohne jeden Irrtum sicher“ zu Gott, wie ihr Christus „bei meiner
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Monika rener, the Making of a saint, in: elisabeth von thüringen und die neue Frömmigkeit in europa, hg. v. Christa Bertelsmeier-kierst, Frankfurt 2008, 195 – 210. Der sog. Libellus de dictis quatuor ancillarum s. elisabeth confectus, hg. v. Albert huyskens, Kempten 1911, 80 f.; Caesarius von Heisterbach, Sermo de translatione 2, in: Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach III, hg. v. Alfons hilkA, Bonn 1937, 383. Peter dinzelBAcher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters, Berlin 2012, 124 ff. ebd. 128 ff. Gertrude d’Helfta, Œuvres spirituelles, tome V: Le Héraut. Livre V (Sources Chrétiennes 331), Paris 1986, 304. Gertrude d’Helfta, Œuvres spirituelles, tome II: Le Héraut. Livres I et II., (Sources Chrétiennes 139), Paris 1968, 198.
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Gottheit“ zuschwor49! Laut ihren offenbarungen war Gertruds stellung priesterähnlich: wen sie für schuldlos befand, der war auch bei Gott schuldlos, und wen sie für schuldig erkannte, der war es auch bei Gott, denn dieser sprach durch ihren Mund50. sogar an Mariens stelle, bekleidet mit ihren Verdiensten, trat sie im Himmel vor Gott, und alle engel und Heiligen suchten, ihr ihre ehrerbietung zu erweisen51. Diese Begnadung habe sich auch auf ihr offenbarungsbuch übertragen: wer immer in ihm entsprechend fromm liest, wird, von anderen himmlischen Gaben abgesehen, aller lässlichen sünden entledigt52. Derartige Aussagen waren nach mittelalterlicher katholischer Dogmatik genauso ketzerisch wie nach heutiger, wurden jedoch bei dieser nonne nie beanstandet oder hinderten die Bestätigung ihres kultes53. Man vergleiche etwa, für welche viel weniger eingebildeten Aussagen ihre Zeitgenossin Margarete Porete auf den scheiterhaufen geschickt wurde. Besonders profiliert zeigt sich die religiöse Selbstverherrlichung an der Nonne Magdalena Beutler(in) (1407/12 – 1458), bei der man noch in etwa erkennen kann, wie sie zur Visionärin wurde, nämlich durch phantasierten ersatz der fehlenden mütterlichen Zuwendung und durch Vererbung – ihre Mutter war schon visionär begabt, und ihr Vater meditierte in den ratsversammlungen lieber die Passion, als mitzudiskutieren54. Auf der einen seite Beutlerins heftige Askese: sobald ihr etwas anderes in den sinn kam als Gott, griff sie zur Geißel, sprach sie ein unnützes wort, folgten 1000 sanctus. Mit einem Brief, geschrieben mit dem eigenen Blut, versehen mit der Zeichnung eines blutigen Herzens, übergab sie sich ganz der Gnade Gottes. Zu ihrem von ihr selbst für epiphanie 1431 prophezeiten tod versammelten sich zahlreiche Gläubige, auch die weltliche und geistliche obrigkeit, da sie den Anwesenden Rettung vor der Hölle versprochen hatte, – doch es geschah nichts, nachdem sie im sarg aufgebahrt worden war55. Vielmehr erhob sie sich und verlangte nach essen. ein autobiographisches Gedicht dieser Mystikerin enthält folgende selbsteinschätzung: Mancher sagt, ich si voellig wahnsinning, Mancher sagt, mine seele si rein, do verbrenn ich mit feuer ganz innig: Ich verdiene den heiligenschein. Min dasein ist ‘n einziges wunder,
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Gertrude d’Helfta, Œuvres spirituelles, tome IV : Le Héraut. Livre IV (Sources Chrétiennes 255), 154 (14, 1). Gertrude d’Helfta, Œuvres spirituelles, tome IV: Le Héraut. Livre IV (Sources Chrétiennes 255), 32, 1. Gertrude d’Helfta, Œuvres spirituelles, tome IV : Le Héraut. Livre IV (Sources Chrétiennes 255), 78, 20. Gertrude d’Helfta, Œuvres spirituelles, tome II: Le Héraut. Livres I et II., (Sources Chrétiennes 139), Paris 1968, 112. Zum sendungsbewußtseins Gertruds s. ernst Benz, Die Vision, stuttgart 1969, 254 f. dinzelBAcher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters (wie Anm. 45) 277 ff., 380. Hier handelt es sich eindeutig um eine versuchte reinszenierung eines kindheitserlebnisses: sie war in einer krankheit schon totgeglaubt und in den sarg gelegt worden, erholte sich aber, vgl. ralph frenken, kindheit und Mystik im Mittelalter, Frankfurt 2002, 281 f., 286.
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Gekroenet vom tot soll es sein, Werd ich heiliggesproch ohne schunder56, Rihten mir einen festtag sie ein.57
obwohl eine solche Heilsgewissheit bei Männern seltener zu verzeichnen ist, fehlt sie nicht. Als Beispiel sei der Franziskaner Giovanni della Verna (1259 – 1322) genannt, dessen kult 1880 von rom angeordnet wurde. Als bei ihm, älter werdend, seine tränengabe und entraffungen immer seltener wurden, erklärte er dies mit den worten: Ego gratiam non perdidi . . . quia tunc habeo, quando volo58. Die Behauptung, es sei ihm gemäß dem eigenen willen die sonst als allein von Gott geschenkt verstandene Gnade jederzeit verfügbar, setzt eine Haltung voraus, die dem magischen Gotteszwang nahekommt. es ist bemerkenswert, dass weder der die Vita aufschreibende ordensbruder, ein Vertrauter Giovannis, noch der sie 1965 veröffentlichende die dogmatische unmöglichkeit dieses Anspruchs kommentierte. ein besonders sicheres Zeichen der eigenen selbsteinschätzung als Heiliger ist auch darin zu sehen, dass eine solche Persönlichkeit beginnt, ihr eigenes Leben nach dem Muster einer Heiligenvita zu beschreiben. Derartige Autohagiographien liegen vor im Gnadenleben des Friedrich sunder, der Vita des Heinrich seuse, dem Booke der Margery kempe. nur bedingt, da nicht auf eigenen Antrieb, sondern auf Befehl geschrieben, wäre die Vita der teresa von Avila anzuschließen. In der schönen Literatur sei an raabes stopfkuchen erinnert, wo sich die erzählung des „sankt Heinrich von der Hecke“ in diesem rahmen bewegt. Fingierte Heiligkeit In der kirchen- und ketzergeschichte stößt man immer wieder auf Personen, die in rede und Verhalten das in ihrer Zeit erfolgreiche Heiligkeitsstereotyp erfüllten und von einer Gruppe von Anhängern als Heilige verehrt, von anderen dagegen als schwindler verworfen wurden. es gibt genug Fälle, bei denen es eine kürzere oder längere Zeit über unsicher war, ob sie in die Geschichte als Heilige oder Häretiker eingehen würden, Dorothea von Montau († 1394) z. B. ist für katholiken heute als kanonisierte Heilige zu verehren, obwohl sie zu ihrer Zeit mehrere Priester und kirchenrechtler als Hexe ansahen und sie nur knapp dem scheiterhaufen entkam59. Das Problem bei vielen jener Menschen, die schon von ihren zeitgenössischen widersachern als falsche Heilige60 tituliert wurden, liegt darin, dass wir sie in der regel nur aus den schilderungen ihrer Gegner und damit so verzerrt wie möglich kennen. 56 57 58 59 60
Vgl. Grimmsches wörterbuch s. v. „schünden“, hier wohl im sinne von ‚ohne bösen widersacher‘ (freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Dr. B. Haage). Zit. Peter dinzelBAcher, Christliche Mystik im Abendland, Paderborn 1994, 397. Vita del b. Giovanni della Verna [c. 8], hg. v. Giacomo sABAtelli, Verna 1965, 82. dinzelBAcher, Heilige oder Hexen (wie Anm. 31) 23 ff. u.ö. Peter dinzelBAcher, Falsche Heilige: in: körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, hg. v. dems., Paderborn 2007, 281 – 308.
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es gab in der spätantike, dann wieder im späten Mittelalter und in der Frühneuzeit immerhin einige Personen, bei denen die Quellenlage noch ein sicheres urteil auf selbststilisierung als Heilige und tatsächliche Betrugsabsicht erlaubt (wogegen bei der Mehrzahl der Fälle heute nicht mehr zu entscheiden ist, wie viel Phantasterei, wie viel selbstbetrug, wie viel Betrug im spiel war). Aus dem Imperium romanum am besten bekannt ist Alexander von Abonuteichos, der um 150 n. Chr. mit hochgestellter unterstützung den für kurze Zeit sehr florierenden Mysterien-Kult des Glykon-Orakels gründete61. Der rhetor Lukian von samosata hat ihn im Detail beschrieben62: „In seinen Augen funkelte das ehrfurchtgebietende Feuer eines Menschen, der von einem Gotte besessen ist . . . wenige Menschen in der welt waren an Verstand, schnellem Begriff und scharfsinn mit ihm zu vergleichen . . .“ Von seinem Liebhaber, einem Arzt, in Heilkunde und Magie unterrichtet, konnte er mit erfolgreichen Heilungen aufwarten, spezialisierte sich jedoch auf göttlich eingegebene weissagungen, wobei er ekstasen vortäuschte und eine zahme schlange mit künstlichem Drachen- oder Menschenkopf benützte, die äskulap den Jüngeren darstellte. sich selbst ließ er als den „göttlichen Alexander, den Sprössling von Perseus, Phöbus’ Geliebten“ feiern; die Mondgöttin Selene sei seine Bettgenossin, die ihm eine tochter geboren habe. Jeder Besucher wurde gegen entsprechende Zahlung mit mantischen sprüchen in bekannt vieldeutiger Art versorgt, was Alexander zu einem vermögenden Mann machte. „es kann zu allem rat werden, wenn ich will und Alexander, mein Prophet, für euch bittet“, war die übliche Antwort des schlangengottes. Der bekannt nüchterne Lukian testete verschiedentlich die orakelkünste dieses Hierophanten mit Fragen, spottete über die völlig sinnlosen Antworten und besuchte Alexander persönlich. Besonderen ärger bereitete es ihm, dass sich Alexander für derartig heilig hielt, dass er bei der Begrüßung stets die ehrfurchtsbezeugung des Handkusses verlangte. Der Schriftsteller ergriff die Hand – und biss heftig hinein. Da er mit Vorbedacht eine bewaffnete Leibwache mitgebracht hatte, befahl der Prophet seinen Adepten Zurückhaltung, konnte Lukian aber in einem Gespräch unter vier Augen überzeugen, dass es für ihn heilsamer wäre, als sein Freund das Haus zu verlassen. er täuschte auch seinerseits Freundschaft vor, versuchte aber, den Dichter bei der Heimreise ermorden zu lassen. Alexanders politischer rückhalt war so groß, dass Lukian auf eine gerichtliche Anklage verzichten musste. Auch das ganze Mittelalter kannte ähnliche Gestalten: so trat etwa im sechsten Jahrhundert ein gewisser Desiderius auf, der in Verbindung mit den Aposteln Petrus und Paulus zu stehen behauptete und zahlreiche wunder wirkte. Der (kirchlich anerkannte) heilige Bischof Gregor von tours bezeichnet ihn als Hexer und teufelsdiener, während er in sich selbst und seine Anhänger in ihm offenbar einen echten Heiligen sahen63. Im achten Jahrhundert klagte der nicht minder anerkannte heilige 61 62 63
Vgl. zur sekundärliteratur die Angaben in den dt. und engl. wikipedia-Artikeln. Ἀλέξανδρος ἢ Ψευδόμαντις; die klassische Übersetzung von Wieland „Alexander oder der falsche Prophet“: Lukian, Werke II, Berlin 1974, 76 – 109; danach die Zitate. Gregorii turonensis opera. teil 1: Libri historiarum X, hg. v. Bruno krusch / wilhelm levison, MGH Scriptores rerum Merovingicarum 1,1, Hannover 1937, IX, 6, 417 – 420.
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erzbischof Bonifatius über einen mit ihm konkurrierenden Bischof namens Aldeoder Adelbert, welcher von einem engel überbrachte reliquien sein eigen nannte, desgleichen einen Himmelsbrief, und der von vielen eine Verehrung wie jeder anerkannte Heilige genoss; so wurden z. B. seine abgeschnittenen Haare und Nägel als reliquien verteilt. „er hielt sich für inspiriert, bezeichnete sich als den heiligen und seligen knecht Gottes, den berühmten und herrlichen, nach der erwählung Gottes geborenen, heiligen Bischof Aldebert . . .“64. Auf einem konzil wurde er auf Bonifatius’ Betreiben seiner würde entkleidet und zur kirchenbuße verurteilt. Dieser hatte daraufhin viele Anfeindungen vonseiten der Freunde des wundertäters und apostelgleichen Heiligen zu erdulden. Gemäß der Beurteilung durch ihre Feinde, die obsiegt hat, werden diese beiden Männer und viele andere heute in der ketzergeschichte behandelt; hätten sich dagegen ihre Anhänger durchgesetzt, würden wir sie heute in den Heiligenlexika finden. um nicht zu ausführlich zu werden, beschränke ich mich auf einen einzigen weiteren spätmittelalterlichen Fall: In den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts trat in Augsburg eine Frau mit namen Anna Laminit65 auf, die nicht nur in der stadt von ettlichen leutten für hailig geschetzt wurde, sondern sogar Persönlichkeiten vom rang eines kaisers Maximilian, Martin Luther und Pico della Mirandola anzog. Hans Holbein d. ä. und Hans Burgkmair porträtierten das lamenötly dz nit ist (Laminit, die nicht isst). Der Zeitgenosse sebastian Franck sagt von ihr kurzweg, man trug sie auf den henden. sie demonstrierte in ihrem Leben als Begine eine auffallende und charismatische Frömmigkeit: gekleidet in ein Bußhemd erschien sie nie anders als in schwarz und hatte göttliche offenbarungen, namentlich erscheinungen von engeln und besonders ihrer namenspatronin, der hl. Anna. Als eindeutiges Zeichen von Heiligkeit galt jedoch ihre vollkommene nahrungslosigkeit (wie einige Jahre früher beim heute als Patron der schweiz geehrten nikolaus von Flüe und einer reihe weiterer Heiliger66): sie konnte angeblich überhaupt keine speise genießen und wollte nicht einmal die Hostie unzerkleinert zu sich nehmen. Der berühmte bayerische Humanist Aventin bemerkte bissig: „nicht nur das dumme Volk, der ungebildete Pöbel, glaubte dies, sondern auch unsere heiligmäßigen (sanctuli) Gelehrten, die neuen theologieprofessoren“. So groß war ihr Einfluss, dass die Gemahlin Maximilians, die Königin Maria Bianca, sofort eine großangelegte Bittprozession durch den gesamten Augsburger klerus und sämtliche Mönche und nonnen der stadt veranstalten ließ, der sich unzählige Laien anschlossen, als die Laminit behauptete, die hl. Anna habe ihr geboten, dies zur Besänftigung des göttlichen Zorns zu fordern. Auch könig Maximilian 64 65 66
Albert hAuck, kirchengeschichte Deutschlands, Berlin 71952, I, 516 v. a. nach Bonifatius, ep. 59. dinzelBAcher, Heilige oder Hexen (wie Anm. 31) 79 ff.; dort die genauen Belege der Quellenzitate. Über die Möglichkeit eines Lebens ohne feste nahrung sind die Meinungen auch heute geteilt, extremes Fasten über wochen hin ist jedoch experimentell belegt. Über wirkliche oder angebliche nahrungslose in der Gegenwart siehe wikipedia s. v. „Lichtnahrung“: http://de.wikipedia. org/wiki/Lichtnahrung.
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war von seinen Besuchen bei der „Heiligen“ beeindruckt und und verkündete in einem Manifest, die Begine sei ein zum kreuzzug aufforderndes Zeichen Gottes, eine jungfraw eines hailigen Lebens, die in sechs Jaren kein natürlich Speiß genoßen hat, derselben Jungfraw Wesen auch ihm selbst wol erkannt sei. Dementsprechend suchten alle großen Herren des so häufig in Augsburg weilenden Hofes ebenso wie die ratsherrn der stadt, die Angehörigen des Patriziats, ihre nähe. es spielte dabei offenbar keine rolle, wenn eine solche Heilige eigentlich durch ihre frühere Lebensweise kompromittiert war, da es ja in der Hagiographie schon lange den typus des „sündigen Heiligen“ gab, der sich nach einem gottlosen Leben zu umso größerer Frömmigkeit bekehrte67. Auch der Verehrung der Anna Laminit scheint die tatsache nicht im wege gewesen zu sein, dass sie bereits sehr jung wegen kuppelei „und anderer Bübereien wegen“ am Pranger stehen musste und mit ruten aus der stadt ausgehauen worden war. erst 1512 wies Herzogin kunigunde, eine schwester könig Maximilians, mit Zeugen nach, dass sie sehr wohl aß, schaltete ihren Bruder, den nunmehrigen kaiser, ein, und die falsche Hungerkünstlerin wurde aus der stadt verbannt. es kam auch heraus, dass ein Angehöriger der angesehensten Familie des Augsburger Patriziats, Anton welser, einen unehelichen sohn mit ihr hatte. In Freiburg i. Ü. wurde sie später wegen neuer Betrügereien zum tode verurteilt und ertränkt. statt heilig hieß es nun, sie sei eine venefica, Hexe, und Luther sprach nunmehr von ludibria diaboli, teufelstrug. Als neuzeitliches Beispiel sei noch Marina de Escobar (1554 – 1633) erwähnt, die Gründerin der spanischen Birgittinnen68, von der eine Fülle von offenbarungen erhalten ist. nachdem dieser text mit seinen extremen Ansprüchen von der Societas Jesu eingehend geprüft wurde, ist Marina als Verehrungswürdige zu betrachten; ihre Beichtväter, darunter der berühmte Mystiker Luis da la Puente sJ, waren von der Authentizität ihrer schauungen überzeugt. Ihre eigene Heiligkeit manifestierte sich ihr in einer Fülle von Visionen. so übergibt ihr der Apostel Petrus auf göttliche weisung seinen schlüssel, womit sie jeder seele, für die sie bittet, das Himmelstor aufzusperren vermag. Ihr schutzengel versenkt dieses objekt in ihrem körper. Die göttliche Majestät versichert ihr, alle ihre worte, „wie sie auch sein mögen“, als wahr und als von ihr selbst gesprochen zu erklären, auch dass sie, sobald die nonne den Mund öffne, anwesend sein werde, um sie zu erleuchten. ernst Benz spricht hier treffend von „einem Hochgefühl, wie es von anderen Visionären innerhalb der kirche kaum mehr erreicht wurde . . .“69.
67 68 69
erhard dorn, Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters, München 1964. Zu dieser wenig bekannten Mystikerin s. Dictionnaire de Spiritualité IV, Paris 1960, 1083 – 1086. Benz, Vision (wie Anm. 53), 257 ff.
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Göttliche70 Der höchste Anspruch, den man auf seine eigene superiorität über alle anderen Menschen zu erheben vermag, ist natürlich der auf Göttlichkeit. Man könnte von einer extremform des Anspruchs auf Heiligkeit sprechen. wir behandeln das thema nur kurz und ohne den enthusiasmus einzubeziehen, d. h. die Besessenheit durch einen Heiligen (Beispiel: Isabella Milone, die sich für eine Hypostase des erzengels Michael hielt und so Mitte des 18. Jahrhunderts in neapel als lebende Heilige von sich reden machte71). Die Überzeugung von der eigenen Göttlichkeit ist uns aus dem Altertum vertraut, doch verzeichnet auch die Geschichte des Christentums nicht wenige Gläubige, die sich für den wiederkehrenden Heiland hielten, wie die des Judentums eine reihe nicht anerkannter Messiasgestalten72. Die antike Geschichte kennt zahlreiche Menschen, die sich kraft ihrer phantasierten Herkunft als gottgleich fühlten, am bekanntesten Alexander d. Gr., dessen Mutter olympias ihn von Zeus empfangen zu haben vorgab, oder Demetrios Poliorketes, der sich zusammen mit seiner Gattin als epiphane Gottheiten verehren ließ und der einer seiner Geliebten mehrere Aphrodite-tempel zu weihen befahl73. Der dem Genius eines kaisers zu Lebzeiten zu leistende kult und die rituelle Divinisierung der römischen Imperatoren nach ihrem tod ist bekannt genug, aber manche von ihnen verlangten Anerkennung als Gott schon im Leben – man erinnert sich z. B. an Caligula, der sich u. a. mit Jupiter, Neptun, Apollo, Diana, Venus und Juno identifizierte und sich einen riesigen Tempel in Milet errichten lassen wollte, wobei er den senat im Falle einer Ablehnung seiner Divinität mit Auslöschung bedrohte74. Derartiges war jedoch nicht auf Herrscher unter östlichem Einfluss beschränkt: In Gallien beispielsweise trat 69 n. Chr. ein reicher Boier namens Mariccus als selbsternannter „Befreier und Gott“ (adsertor Galliarum et deus – nam id sibi indiderat)75 auf, der einen Aufstand gegen rom erregte, seine Übernatur dadurch bewies, dass ihn die tiere, denen er vorgeworfen wurde, verschmähten – was ihn aber nicht vor der Hinrichtung rettete. Insofern hatte euhemeros sich durchaus an der realität orientiert, als er religion daraus entstehen ließ, dass sich Herrscher als Götter bezeichneten, um ihren wille desto leichter durchzusetzen. es traten auch nach dem sieg des Christentums immer wieder Fanatiker oder schwindler auf, die beanspruchten, der wiederkehrende Heiland zu sein. Zur Zeit 70
71 72 73 74 75
Eine historische Übersicht scheint zu fehlen; da ich selbst nicht mehr dazu kommen werde, mein diesbezügliches Material zu veröffentlichen, stelle ich es gern seriösen Interessenten zu Verfügung. Vgl. Gustav menschinG, Die söhne Gottes, wiesbaden 1958 (allgemein religionswissenschaftlich). orlAndi, Vera e falsa santità (wie Anm. 1), 451. Albert M. hyAmson, Messiahs (Pseudo-), in: encyclopaedia of religion and ethics VIII, hg. v. James hAstinGs, edinburgh 21930, 581 – 588. Fritz tAeGer, Charisma. studien zur Geschichte des antiken Herrscherkultes I, stuttgart 1960, 270 ff. ebd. II, 281 ff. tacitus, Hist. 2, 61.
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Bernhards von Clairvaux hatte ein wanderprediger namens eon von stella die liturgische Formel per eum qui venturus est auf sich bezogen (das lateinische Pronomen und sein eigennamen klangen in altfranzösischer Aussprache gleich): Durch ihn, eon, würde das endgericht kommen, er selbst sei der sohn Gottes. Als würdezeichen wies er einen y-förmigen stab vor, mit dem er die weltherrschaft zwischen sich und Gott verteilte: Zeigten die beiden enden nach oben, so gehörten zwei Drittel Gott, zeigten sie nach unten, dann ihm. Dieser wohl Geistesgestörte hatte in der Bretagne großen Zulauf gefunden, bei den 1148 in reims versammelten konzilsvätern fand er jedoch nur spott. sie verlachten ihn, und eon wurde im klosterkerker zu saint-Denis inhaftiert, was er nicht lange überlebte76. wenn man sich nicht mit dem thema beschäftigt hat, wird man erstaunt sein, wie viele Phantasten, die sich als Manifestationen einer Gottheit auf erden bekannten, auch noch in den letzten 200 Jahren bis heute bekannt geworden sind, die, offenbar ohne Zwangsinternierung in geschlossenen Anstalten, die Möglichkeit erhielten, eigene Bewegungen bzw. sekten zu begründen77. ebenso ein weltuntergangsprophet wie eon, nunmehr im pietistischen umfeld des 17. Jahrhunderts, war der schöne Quirinus Kuhlmann (1651 – 1689)78, Verfasser des kühlpsalters. Der Frauenheld, Dichter und Visionär zeigte sich fasziniert von Böhmes Mystik. er war leidenschaftlich bemüht um eine weltumfassende Ökumene, aber zweifellos größenwahnsinnig: er hielt sich nicht für einen Heiligen, sondern gleich den „Prinz“ und „sohn“ Gottes. ehe man ihn in Moskau auf vereintes Betreiben der protestantischen, orthodoxen und katholischen Geistlichkeit wochenlang folterte und dann verbrannte, hatte er versucht, Anhänger für eine chiliastische Jesusmonarchie zu sammeln, die er auch, als unter seiner Führung stehend, Kuhlreich nannte. ein besonders Aufsehen erregender Fall um 1700 war der der Buttlarschen rotte79. Ihr Haupt war die wohlhabende Hofmeisterin eva von Buttlar, eine Pietistin mit separatistischen neigungen, die zunächst in Allendorf eine philadelphische Gemeinschaft gründete. Inwieweit die Anklagen übertrieben sind, geheiligte Hurerey80 (exzessive Promiskuität) sei ein konstituierendes Verhalten dieser Chiliasten gewesen – da Buttlar als „lebendige Bibel“ galt, war der Verkehr mit ihr (im 76 77 78 79
80
dinzelBAcher, Bernhard von Clairvaux (wie Anm. 35), 314 f. http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_people_who_have_claimed_to_be_Jesus. Gerhard dünnhAupt, „kuhlmann, Quirinus“, in: neue Deutsche Biographie 13 (1982), 253 – 255. Die Quellen sind größtenteils gedruckt bei Christian thomAsius, Vernünftige und christliche, aber nicht scheinheilige Gedanken über allerhand gemischte philosophische und juristische Händel, Halle 1725, III, 208 – 624. Thomas hoeren, Pietismus vor Gericht – Der Prozeß gegen die Buttlarsche Rotte (1705), Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 89 (1995), 27 – 44 versuchte eine völlige umwertung der bisherigen negativen sicht, was keineswegs überzeugt, u. a. da er sich ausschließlich auf den in der tat unkorrekt geführten Prozess der sayn-wittgensteinschen Justiz beschränkt und andere Quellen, so den Paderborner Prozess, a priori ausschließt. tatsächlich werden jedoch die Anklagepunkte durch Briefe des sektenführers winter selbst weitestgehend bestätigt: willi temme, krise der Leiblichkeit. Die sozietät der Mutter eva (Buttlarsche rotte) und der radikale Pietismus um 1700, Göttingen 1998, 28. ebd. 43.
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Doppelsinn des Wortes) heilbringend und reinigte von der Erbsünde –, bedarf hier keiner Prüfung. nach der Flucht vor gerichtlicher Verfolgung zogen die Pietisten zunächst nach köln, dann in die umgegend von Pyrmont und konvertierten zum katholizismus. nun strengte der Bischof von Paderborn ein Blasphemie-Verfahren gegen die sekte an, das, selbstverständlich mit Hilfe der Folter, die gewünschten Geständnisse erbrachte, die zu einem todesurteil und sonst zu Ausstäupung und Landesverweis führten. Aber aufs neue gelang die rechtzeitige Flucht. Das in unserem Zusammenhang wesentliche Moment der Buttlarschen theologie bestand darin, daß sich ihre Anführer als irdische trinität verehren ließen, nämlich Buttlar als Heiliger Geist, der theologe winter als Vater, der Medizinstudent Appenfeller als sohn81. Die Idee scheint von der trinitätsspekulation des englischen Philadelphisten John Pordage angeregt worden zu sein82. Am 8. Februar 1706 kam es zu einer feierlichen Vergottung Buttlars und der anderen Gemeindeleiter. Durch königlichem krönungszeremoniell nachgebildeter und in urkunden schriftlich festgehaltener konsekration wird Buttlar zur sophia (eine Hypostase des Geistes) erklärt und mit titeln wie Mutter der Drey-Einheit, Mutter und Gespons des Sohns, Herrscherin der Erden, Mutter aller Kreaturen usw. ausgezeichnet. Alle Anwesenden huldigen mit kniebeugung und Handkuss83. Dieses irdische reich Gottes wurde zwar von den Bütteln des Bischofs schnellstens aufgelöst, Buttlar aber führte ihre Heiligungsvorstellungen in kleinerem Maßstab und anscheinend unangefochten auch in Altona weiter, wo sie behauptete, sie werde den Messias gebären. Unter den ,Göttlichen‘ findet sich auch ein so bekannter Name, wie die Frau von krüdener, die den Zaren Alexander zur Heiligen Allianz von 1815 bewog und die sich in Druckschriften als das weib der Apokalypse feiern ließ, die Mariae gleich die neue kirche gebären sollte84. ein Jahr zuvor hatte in england die vierundsechzigjährige Joanna southcott, deren sekte über 100.000 Mitglieder umfasste und bis heute existiert, dasselbe von sich prophezeit (ihren in diesem Jahr erfolgenden tod freilich nicht)85. Doch sei nur noch ein minder bekannter Fall erwähnt: In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts konnte in kent, also durchaus in der nähe der Landeshauptstadt, ein sonst als größenwahnsinniger Betrüger geltender Mann namens John nichols thom86 eine Gruppe von Landarbeitern um sich scharen, die in ihm einen neuen Messias zu erkennen glaubten, ohne zu wissen, dass er aus dem Irrenhaus kam. Der phantastisch gekleidete, bärtige stigmatisierte, der u. a. den namen Graf rothschild benutzte, versprach seinen Anhängern eine soziale revolte, erklärte sich selbst und ebenjene als unverwundbar und ermordete den ersten Beamten, der ihn festnehmen wollte. Die daraufhin anrückenden truppen erschossen nach kurzem 81 82 83 84 85 86
thomAsius, Vernünftige und christliche, aber nicht scheinheilige Gedanken (wie Anm. 79), 314 ff. temme, krise der Leiblichkeit (wie Anm. 79), 443. thomAsius, Vernünftige und christliche, aber nicht scheinheilige Gedanken (wie Anm. 79), 405 ff. Paulys realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft (Pre) 11, 149. http://en.wikipedia.org/wiki/Joanna_southcott. Herbert thurston, Surprising Mystics, London 1955, 195 – 203.
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kampf thom und neun seiner Mitverschworenen. seine Anhänger verteilten Fetzen des blutigen Hemdes als reliquien. en passant ist zu bemerken, dass natürlich auch Frauen die gottähnlichste rolle annahmen, die im Christentum zur Verfügung steht, die der Maria. Am bekanntesten, da eine Ursache für den Sturz Robespierres 1794, Catherine Théot, die als neue heilige Jungfrau und Gottesgebärerin in Paris eine kleine Gemeinde um sich geschart hatte. Das büßte sie mit dem tod im berüchtigten Gefängnis der revolution, der Conciergerie87. Verständlicherweise konnte keine der christlichen kirchen dergleichen je zulassen, die Verwirklichung der deutera parousia hätte ja die entbehrlichkeit jedes Priesteramtes impliziert. Derartige Abweichungen wurden später, nicht zuletzt von protestantischen Apologeten und agnostischen religionskritikern, gern unter der rubrik wahnvorstellungen geführt, also als pathologisch erklärt. In der tat wäre eine studie zu selbstheiligung und Größenwahn ausgesprochen interessant, ginge aber über das hier zu thematisierende hinaus. es sei nur bemerkt, dass Personen, an deren Psychopathologie kein Zweifel besteht, wie der notorische Daniel schreber, jener hochrangige Jurist, über den u. a. Freud88 und Canetti studien verfassten, ebenfalls von Heiligkeitsphantasien erfasst war. schreber glaubte, die gesamte sternenwelt löse sich in einer eben im Gange befindlichen Katastrophe auf, die Menschheit sei schon untergegangen, bis auf ihn selber, der durch eine Verwandlung zum weib Gott bestricken und somit die welt erlösen werde. „Mein kopf war infolge eines massenhaften Zuströmens von Strahlen sehr häufig von einem Lichtschimmer umflossen, ähnlich wie der Heiligenschein von Christus auf Bildern dargestellt wird, nur unvergleichlich reicher und glänzender – die sogenannte Strahlenkrone.“89 Die Vorstellung, heilig zu sein, hier sogar heiliger als der religionsstifter, muss aber keineswegs pathologisch im sinne einer die gesamte Persönlichkeit verändernden Störung sein – sowohl Buttlar zeigte sich im sonstigen Leben durchaus gewandt und normal, und andere ,auserwählte‘ Visionäre ebenso. Man denke nur an Hildegard, die mit höchster Energie ihr Kloster leitete, Seuse, der seinen Pflichten als Priester nachkam usw. Abschließend sei noch auf eine berühmte, aber mysteriöse Identifikation mit dem erlöser hingewiesen, Dürers mit 1500 datiertes Münchner selbstbildnis (siehe Abb. 2 und 3)90. es gilt als „die rätselhafteste schöpfung in seinem Gesamtwerk“91. während hinsichtlich der richtigkeit der aufgemalten Datierung keine Übereinstimmung herrscht, ist unbezweifelt, dass der bekannt religiöse, trotz sympathien für die reformation katholisch bleibende nürnberger sich hier in der traditionellen Pose 87 88 89 90 91
Johannes scherr, Menschliche Tragikomödie, Leipzig 1884, VIII, 5 ff.; http://fr.wikipedia.org/ wiki/Catherine_th%C3%A9ot. sigmund freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia: Studienausgabe VII, Frankfurt 2000, 133 – 203. Aus seiner Autobiographie, zit. nach elias cAnetti, Masse und Macht, Frankfurt 1980, 516. Gute Abb.: http://www.tanogabo.it/arte/durer/albrechtdrerautoritrattoconpelliccia1500.html. Franz winzinGer, Dürer, reinbek 1971, 48.
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des Salvator mundi verewigt hat. Der Blick aus dem Bild ist der stärkste Appell, der in der Malerei möglich ist, ein unablässig wiederholtes schema in der Ikonenmalerei, auch bei Giotto oder van Eyck zu finden. Dürer geht hiermit weit über die zu seiner Zeit häufige Darstellung eines Künstlers oder Auftraggebers in Gestalt eines von ihm verehrten Heiligen hinaus, die als kryptoporträt92 wohlbekannt ist (Jean Fouquet malte Agnes sorel als Maria lactans, kaiser Friedrich III. ließ sich als hl. oswald, hl. sebastian, einer der hl. Drei könige darstellen, sein sohn Maximilian I. u. a. als erzengel Gabriel93 usw.). Derartige kryptoportraits, Bildnisse meist des Auftraggebers, scheinen nicht auf kritik gestoßen zu sein. Aber die selbstdarstellung als der Gottmensch und erlöser selbst? und die berühmte tafel ist kein unikum: Auf graphischen Blättern erscheint der Maler als Passionschristus auf der rast mit Geißel und rute oder als schmerzensmann, der auf sein krankes körperteil weist (so wie der erlöser bei diesem Bildtypus auf seine seitenwunde94). erwin Panofsky sah darin eine sehr konkrete Verbildlichung der Imitatio Christi95 – aber es handelt sich um eine conformitas, keine nachahmung! Angela ottino Della Chiesa interpretierte als Anspruch auf Überzeitlichkeit96. winzinger glaubte, der Maler handle hier von „der hohen, unzerstörbaren würde des Menschenantlitzes, in dem sich der Glanz und die Vollendung des Göttlichen spiegeln“97. Derartige schwärmereien sind freilich wissenschaftlich unbrauchbar. eine m. e. besonders unwahrscheinliche Hypothese ist die, hier sei die rhetorik der aristotelischen topik für den kreis der gelehrten Freunde (Pirckheimer!) gestaltet worden98. Auch die Deutung, der künstler habe sich als schöpfer, als deus datus, mit dem richter des Jüngsten tages verglichen99, erscheint kaum nachvollziehbar, zumal wenn man die Leichtigkeit bedenkt, mit der damals ein zu einem todesurteil führender Blasphemievorwurf erhoben werden konnte – einige Schüler Dürers, die drei „gottlosen Maler“, wurden aus diesem Grund mit Verbannung gestraft100. Am wahrscheinlichsten erscheint noch Beierwalters Vermutung101, Dürer habe hier mit dem Cusanischen traktat De visione dei experimentiert, der ja mit der schilderung eines solchen Gemäldes beginnt, dessen Blicke dem Betrachter überallhin zu folgen scheinen. Man erinnert sich daran, dass gerade Cusanus den Menschen 92 Adolf reinle, kryptoporträt, Lexikon des Mittelalters 5 (1991), 1557. 93 eva Bruckner, Formen der Herrschaftsrepräsentation und selbstdarstellung habsburgischer Fürsten im spätmittelalter, Diss., wien 2009. 94 Peter dinzelBAcher, Christus als Schmerzensmann, in: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Mittelalter, hg. v. Inge milfull / Michael neumAnn, Regensburg 2004, 200 – 225. 95 erwin pAnofsky, Das Leben und die kunst Albrecht Dürers, München 1977, 57 f. 96 Angela ottino dellA chiesA, L’opera completa di Dürer, Milano 1968, 96. 97 Dürer (wie Anm. 91), 49. 98 Ioana herBert, Dürers selbstbildnis von 1500. eine Interpretation, ungedruckte Mag. Arb., köln 1998. 99 Philipp zitzlsperGer, Dürers Pelz und das Recht im Bild – Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008, 100 – 117. 100 Die gottlosen Maler von nürnberg, hg. v. Jürgen müller / thomas schAuerte, Berlin 2011. 101 werner BeierwAltes, Visio Facialis – Sehen ins Angesicht. Zur Coincidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusanus, München 1988.
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aufgrund seiner Möglichkeit, neues zu erschaffen, als deus datus bezeichnet hat102. Doch ist dieser Hinweis auf die beiden schmerzensmann-Graphiken nicht anwendbar. Die Darstellungen bleiben rätselhaft, alldieweil es in den schriftlichen Quellen keine Hinweise darauf gibt, der künstler habe sich als ,Göttlicher‘ oder Heiliger gefühlt103. trotzdem hat er sein Bild mit dem der zweiten Person der trinität verschmolzen und zählt somit unter jene, die Anspruch auf Göttlichkeit erhoben. Dies ist der objektive tatbestand, mag der Maler in seinem Bewusstsein vielleicht auch ganz andere, uns unbekannte Gründe für diese Identifizierung gehabt haben. Charismatische Heiligkeit – die Außensicht was bewog nun gläubige Christen, in einer bestimmten Person ihrer umgebung einen Heiligen oder Göttlichen zu erkennen? Verehrte man Gläubige schon zu Lebzeiten, geschah dies in der regel, so wie bei Jesus, vornehmlich aufgrund ihrer spektakulären wunder, worunter neben naturbeherrschung und krankenheilungen etwa auch der ekstatische empfang von Visionen zählte, wie beispielsweise bei Birgitta von schweden (siehe Abb. 4) oder katharina von siena. Denn die soziale Anerkennung einer besonderen Verbindung zum Himmel war notwendigerweise von übernatürlichen Manifestationen abhängig. Die Heiligkeit des guten sünders Gregorius etwa verkündeten die von selbst läutenden Glocken roms: dâ kôs wîp und man sîne heilicheit wohl an.104 Vielfach kam dazu eine besondere persönliche Faszination, wie sie ja auch manche ganz säkulare Persönlichkeiten ausstrahlen. ein Zitat genüge zur Illustration: Von Helena Duglioli (1472 – 1520, Kult 1828 päpstlich bestätigt), einer schon zu Lebzeiten als Heilige verehrten Bologneser Aristokratin, wurde berichtet: wenn man sich mit ihr unterhielt, meinten fromme Leute: come se nel mezzo del paradiso fossero stati degustaron quanto soave et dolce sia el Signore. . . Ne pareva a quelli con mortal donna, ma con un angelico spirito . . . conversare . . .105. Bei den historischen Charismatikern kamen noch demonstrative Pietas und sichtbare Asketik dazu, die in auf das Jenseits bezogenem Heilsegoismus begründet ist, gemäß dem Lukas-evangelium (18,14): „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“. Auch kirchenpolitisches engagement im sinne der Hierarchie war empfehlenswert, wollte man bei der unterscheidung der Geister nicht Gefahr laufen, zu den ketzern gerechnet zu werden106. Gehorsam gegenüber dem Heiligen stuhl war spätestens 102 Jörg splett, Gotteserfahrung im Denken, Freiburg 1978, 137 – 165, 272 – 276. 103 Übrigens war auch die zwanghafte nachahmung der Passion in der ekstase, wie sie von einigen Mystikerinnen überliefert ist (dinzelBAcher, Christliche Mystik [wie Anm. 57], 201 ff.; ders., Deutsche und niederländische Mystik (wie Anm. 45), 122, 336, 388), anscheinend nicht mit dem Anspruch auf Heiligkeit verbunden. 104 Hartmann von Aue, Gregorius 3762 f., hg. v. Friedrich neumAnn, stuttgart 1970, 218. 105 Zit. n. Gabriella zArri, Le sante vive, torino 1990, 175. 106 Über die zahlreichen zunächst lange als ambivalent empfundenen Heiligen und ketzer s. dinzelBAcher, Heilige oder Hexen (wie Anm. 31), pass.
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seit dem Großen Papstschisma unverzichtbar für ein Leben ohne Verfolgung durch die Inquisition und eine kirchenamtliche Bestätigung der Heiligkeit post mortem, weswegen diese tugend in allen kanonisationsbullen lobend erwähnt wird. weiter ist die Chance, ein Heiliger zu werden, mindestens ebenso von der Angleichung an ein epochentypisches Modell religiöser Virtuosität abhängig, bildete doch jede epoche besonders bevorzugte typen von Heiligkeit heraus, wie bereits an anderer stelle dargelegt107. ein untrügliches Zeichen für die Fama der Heiligkeit schon im Leben ist es, wenn ein Zeitgenosse beginnt, eine Biographie im stil einer Heiligenvita über den Verehrten zu verfassen, ehe dieser das Zeitliche gesegnet hat. Überraschenderweise wird diese Gattung auch von spezialisten der Hagiographie i. d. r. nicht besonders thematisiert, obwohl sie die historisch vertrauenswürdigste darstellt. tatsächlich gibt es gar nicht wenige Beispiele: − − −
die Vita des Martin von Tours von Sulpicius Severus, Wilhelm von Saint-Thierry über Bernhard von Clairvaux, Volmar, Guibert und Gottfried über Hildegard von Bingen – unter ihrer eigenen Mitarbeit.
Man muss auch die unmittelbar nach dem Tode der Person – also vor der Stellungnahme Roms – von einem Vertrauten verfassten Viten hierher rechnen, etwa − − − − − −
die des Augustinus von Possidius, die des Ansgar von Rimbert, die des gen. Bernhard über Malachias von Armagh, die der Birgitta von Schweden von ihren Beichtvätern, die der Katharina von Siena von Raymund von Capua, die der Dorothea von Montau von Johannes Marienwerder . . .
nicht bei allen lebenden Heiligen entwickelte sich das Bewusstsein der Auserwählung erst aufgrund entsprechender charismatischer Erlebnisse; manche wurden bereits von ihren eltern auf die rolle hin geprägt. In diesen Fällen wurde also ein Heiliger von seiner sozialen umwelt gezielt, wenn auch vielleicht unbewusst, geschaffen. Die Lebensbeschreibung der Luitgart von wittichen zeigt gut, wie sich gläubige eltern schon von Beginn des Lebens ihres kindes darauf konzentrieren konnten, in ihm den oder die künftige Heilige zu sehen – was zu einer entsprechenden erziehung führte. Ihre Mutter, eine begüterte Bäuerin, erlebte während der schwangerschaft viele geheimnisvolle träume. Die nachbarn meinten, Gott werde etwas Besonderes mit dem kind vorhaben. Von den worten ward die muoter enzündet in gott, also daz sy tag vnd nacht ir hercz zuo gott richt mit ernstlichem gebette 107 Peter dinzelBAcher, Heiligkeit als geschichtliche Variable, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. dems. / Dieter BAuer, Ostfildern 1990, 10 – 17; ders., Heiligkeitsmodelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, in: Confessional Sanctity (c. 1500 – 1800), hg. v. Jürgen Beyer u. a., Mainz 2003 [recte 2004], 1 – 23.
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vnd bat in, daz er . . . ir hilff, das sy ain frucht zuo der welt brechte, da von er vnd alles himelsch her gelopt wurde. Die Geburt fiel ihr so leicht, dass nur die Geburt Jesu noch weniger schmerzlich war – was die hagiognostische Meinung der Nachbarn verstärkte. und dass das Mädchen verkrüppelt, nämlich mit schiefem Hals, zur welt kam, galt sogleich als Zeichen ihrer Abkehr von derselben. natürlich spielte sie nicht, sondern betete stattdessen, schlief nicht einfach, sondern auf einem harten Brett usw., wie sie es wohl von den Beginen, die der Vater im Haus beherbergte, gelernt hatte. wie sehr sich die kleine Luitgart schon mit fünf oder sechs Jahren als künftige Heilige verstand – oder richtiger: Wie sehr sie schon damals angehalten worden war, sich so zu verstehen –, verrät folgende Episode: Als sie einmal im spiegelnden wasser sah, wie krumm ihr der Hals gewachsen war, und von den erwachsenen hörte, „wie gar schön die hailgen wären“, do erschrack es von grund sines herczen vnd gedaucht: ‘sind nun alle hailgen also schön, owe, wie bin ich danne gott so gar vnmäre [zuwider]. . . wie ich so gar vngeschaffen bin, so mag ich numer salig werden noch hailig108. sie fällt über eine woche in grosser vnkrafft, in der sie vom Himmel träumt, ohne essen und trinken zu können – was der Hagiograph als Verzückung interpretiert, worin man aber auch einen heftigen depressiven schub sehen könnte. Im weiteren Leben bestätigt sich dann natürlich ihre Berufung zur Heiligkeit. eine besondere rolle konnte in dieser Hinsicht verständlicherweise der Beichtvater spielen109. Elisabeth Achler, die „gute Beth“ von Reute (1386 – 1420, sel.)110, ein Mädchen einfacher Herkunft, stand deutlich unter dem Einfluss ihres Beichtvaters konrad kügelin, der die Vierzehnjährige Franziskanertertiarin werden ließ. seine Lebensbeschreibung formuliert exemplarisch, wie eine heilige Lebensführung einschließlich mystischer Phänomene aus der entsprechender erziehung zur dauernden Meditation resultiert: Achler musste ihm als sünde beichten, in ihrer kindheit noch nicht das Leiden des Herrn betrachtet zu haben; Kügelin ermahnt sie und ihre Mitschwestern dauernd dazu, dies zu tun. Demgemäß macht das junge Mädchen seinen ganzen tagesablauf christusförmig: „wenn sie spann, so betrachtete sie, wie ihr liebster Gemahl Jesus Christus von den bösen Juden frevelhaft an den Locken und dem Haar seines heiligen Hauptes gerissen wurde. wenn sie Holz in die küche trug, so betrachtete sie, wie Jesus Christus das kreuzesholz zum kalvarienberg trug, verlassen von all seinen Freunden. und alle ihre tätigkeiten kehrte sie in das Leiden Christi.“. In der Folge solcher Meditationen kam es zur stigmatisation, es „war ihr ganzer Leib von dem scheitel bis an die Fersen voll von schweiß und Blut, als ob sie wie Christus mit ruten geschlagen worden wäre“. Diese „minnezeichen Cristi“ bluteten besonders an den Freitagen und in der Fastenzeit. kehrte Achler aus ihren ekstasen zum tagesbewusstsein zurück, begann sie sofort mit neuen 108 Die Vita Luitgarts von wittichen, hg. v. Irmtraud Just, Bern 2000, 59 ff., 69, 16 lese ich „brettlin“ statt „bettlin“. 109 Vgl. Peter dinzelBAcher, wenn Frauen beichten. religiöse erfahrung und repression im spätmittelalter, in: ders., Mentalität und Religiosität des Mittelalters, Klagenfurt 2003, 457 – 488. 110 dinzelBAcher, Deutsche und niederländische Mystik (wie Anm. 45), 275 f.; ders.,Heilige (wie Anm. 31) 94 ff.
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Passionsmeditationen, um nach wenigen tagen wieder verzückt zu werden, usf. Wenn eine leicht zu beeinflussende Person derartig systematischer Indoktrination ausgesetzt wird, dass es sogar zur entstehung krasser körperliche symptome kommt, sollte man von induzierter Autosuggestion sprechen. Dieses besonders zwischen älterem Beichtvater und jüngerer Beichttochter wirksame kommunikationsmuster ließe sich mit sicherheit auch bei anderen Heiligen feststellen, etwa elisabeth von thüringen oder Maria von Mörl. In feministischer Lesart macht der Beichtvater die ihm unterstellte Frau „mundtot“111 und deformiert ihre Botschaften gemäß kirchlichen bzw. phallokratischen Vorgaben. ein Beispiel für die Verstärkung der hier zur Diskussion stehenden selbsteinschätzung durch den Beichtiger liefert etwa der Franziskanerprediger Bruder richard, ein schüler des hl. Vinzenz Ferrer und Freund des hl. Bernhardin von Siena. Er predigte zur Zeit und in der Umgebung der Jungfrau von Orléans über das kommen des Antichrists. Als er zum ersten Mal mit Johanna zusammentraf, knieten beide spontan voreinander nieder. er predigte von ihr, dass sie so viel Macht besitze und Gottes Geheimnisse ebenso kenne wie jeder Heilige im Paradies, womit ihre Anerkennung als lebende Heilige ausgesprochen war. richard wurde Johannas Beichtvater und scheint ihr exzeptioneller weise drei Mal an einem tag die kommunion gereicht zu haben. wenigstens drei andere seherinnen befanden sich noch in seiner Gesellschaft, die teilweise mit Johanna rivalisierten und als deren seelenführer der Minorit wirkte. Dieses Verhalten lässt sich mit dem der zeitgenössischen reliquienjäger vergleichen, die sich, wie etwa kaiser karl IV., mit regelrechten Horten von Heiligengebeinen eindeckten, – nur dass es Bruder Richard eben um „lebende reliquien“ ging112. wenn die reden und das Verhalten einer religiösen Persönlichkeit einmal auf positive resonanz in ihrer sozialen umwelt gestoßen waren, musste diese geradezu nach Art einer suggestion die entsprechende selbsteinschätzung verstärken. Das Zusammenspielen persönlichen Heiligkeitsanspruches und entsprechender stützung durch eine energische Gruppe von Verehrern ist das üblichste schema bei der entstehung des Glaubens an persönliche Heiligkeit, es lässt sich hunderte Male in der Geschichte der Heiligen des Mittelalters nachweisen. Auch in der der nicht kirchlich anerkannten: In Brüssel wurde die aus dem dortigen Patriziat stammende Begine Heylwighe Bloemardinne (ca. 1260 – 1335)113 von Laien und klerikern hoch verehrt. neben frommen stiftungen machten sie v. a. ihre mystischen schriften bekannt, die leider verloren sind. Ihre Adepten sahen sie beim Gottesdienst in Begleitung zweier seraphim zum Altare schreiten. ein silberner stuhl wurde ihr zum Geschenk gemacht, den nach ihrem tode die Herzogin Maria von Brabant als reliquie annahm, wohl, um dadurch von ihrer krankheit geheilt zu werden. Bloemardinnes nicht näher bekannte Lehren von der seraphischen Liebe 111 nicole prieschinG, Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts – ein neuer Typus?, in: pulz, Zwischen (wie Anm. 29), 79 – 97, 84. 112 dinzelBAcher, wenn Frauen beichten (wie Anm. 109), 469 f. 113 dinzelBAcher, Deutsche und niederländische Mystik (wie Anm. 45), 259 f.
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fanden jedoch die Kritik des bekanntesten flämischen Mystikers und Mystagogen, des sel. Jan van ruusbroec, und so wird sie bis heute als ketzerin bezeichnet. Der Anspruch, den diese Frau auf Heiligkeit erhob, ist hier aus dem Vortrag einer keinesfalls katechismusgemäßen Lehre zu erkennen und der Annahme eines so kostbaren Geschenkes, mehr noch seiner Verwendung: sie benutzte es als kathedra, wenn sie ihre quietistischen Ideen verkündete. Dass man ihr derartiges zu Füßen legte, dass andere sie in der Gesellschaft von engeln sahen, kann ihr Gefühl der erwählung nur gesteigert haben. Auch ein kirchlicherseits als ketzer Hingerichteter konnte von seinen Freunden zum Heiligen erklärt werden: Der schon zitierte Bericht von der Verbrennung des Fra Michele endet mit der schilderung der reaktionen der Florentiner: E morto, molti diceano: – E’ pare un santo – . . . Egli è martire – chi: Egli è santo – chi il contrario . . . Die Dominikaner wollten bei seinen Überresten wachen aufstellen, um zu verhindern, imperò ch’eglino il canonizeranno e porranno per santo114. etwa hundert Jahre später waren viele Bürger wiederum der Meinung, ein Heiliger sei in ihrer stadt verbrannt worden, savonarola. Diesmal entwickelte sich ein geheimer, aber lange anhaltender kult, in einigen Dominikanerinnenklöstern wurde sein todestag liturgisch als Heiligenfest begangen115. Häufig erkennen Gläubige aus der Umgebung der bewussten Person seine Heiligkeit durch Visionen, was die bestmögliche Legitimation für eine autohagiologische einschätzung sein musste. Der Dominikaner Heinrich seuse war Beichtvater und Seelenführer mehrerer Nonnen; eine unter ihnen namens Anna berichtete ihm mehrfach von Gesichten, in denen sie seine Heiligkeit bildlich erfahren hatte. In der ekstase schaute sie den diener [Seuse] auf ainem hohen berg mess sprechen. Sie sah ein unzallich mengi in im und an im hangen, . . . Si sah, daz er ernschlich úbr sú ellú bat den ewigen got, den er in sinen priesterlichen handen hate . . . eine himmlische stimme erklärt: daz sind ellú dú menschen, dú in siner biht ald lere sind . . . Dú hat er mir also in getragen, daz ich ir leben uf ein guot ende wil richten, und sú von meinem froelichen antlút niemer gescheiden son werden116. Bei seuse zur Beichte zu gehen und seine Lehre anzunehmen hat also keine geringere Folge bei Gott, als dadurch die Versicherung des ewigen Lebens und die Vermeidung der Hölle garantiert zu bekommen. oder: Daz si eins males heti gesehen in dem geiste . . . daz kindli JESUS mit einem roten rosenschapelin. . . . [Es] brach der rosen vil abe und warf si denne uf den diener, daz er zemal mit roten rosen bezetet ward117. Diese Blumen bedeuten die Leiden, die der Mystiker geduldig ertragen solle. Leiden als Zeichen der religiösen Auserwählung spielte für seuse wie für viele Zeitgenossinnen eine enorme rolle, sie wurden ihm in liebevoller Geste direkt vom Heiland auferlegt. seuse hat derartige offenbarungen über ihn nicht etwa demütig verschwiegen, sondern sie in seine Autobiographie aufgenommen und teilweise auch mit entsprechenden Buchmalereien ins visuelle Medium umgesetzt. obwohl er sicherlich unter 114 115 116 117
ed. cit. (Anm. 19) 71 f. Joachim weinhArdt, savonarola als Apologet, Berlin 2003, 23. Heinrich seuse, Deutsche schriften, hg. v. karl Bihlmeyer, stuttgart 1907, 63 (Leben 22). ebd. 102 (Leben 34).
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den mittelalterlichen Heiligen zu denen zählt, die am meisten um Demut bemüht waren, hat er solche Zeichen seiner erwählung in text und Bild der nachwelt überliefern wollen. ein anderes Beispiel: einmal hatte ein kranker Zisterzienser namens svenung aus der entourage der Birgitta von schweden in Compostela, wohin man zusammen gepilgert war, in der kirche folgendes Gesicht118: In einem Lichtstrahl erschien ihm die adelige Mystikerin, gekrönt mit einer tiara von sieben kronen, die von einer himmlischen stimme erklärt wurden: wie zu erwarten, symbolisierten sie die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Svenung erhob sich geheilt; man kann sich vorstellen, wie die Mitteilung einer solchen unmittelbar von Gott kommenden Auszeichnung auf Birgitta gewirkt hat. so hat man die Heilige dann auch gemalt, etwa auf dem Altarretabel der kirche von Appuna (Abb. 4)119. sehr deutlich wird das Zusammenspiel zwischen religiösem erleben, charismatischem Auftreten und Anerkennung vonseiten der Gläubigen in der Biographie des Johannes von Capistrano (1386 – 1456) (siehe Abb. 5)120, einem der berühmtesten Heiligen, die der Franziskanerorden hervorgebracht hat; verehrt besonders als Patron der Juristenzunft. Von Beruf richter, führte er ein durchaus weltliches Leben und wurde ca. 1416 im Zuge lokaler Auseinandersetzungen, in die seine Familie verwickelt war, eingekerkert. In Eisen geschmiedet und halb im Wasser stehend, fiel er in Ohnmacht; zweimal erschien ihm die Lichtgestalt des Poverello; eine der bis heute so häufig von Gefangenen berichteten Trancezustände, mit denen ein besserer Zustand phantasiert wird. typisch für diesen Mann, brachte Franziskus aber nicht nur trost, sondern auch die schau seiner künftigen erwählung: Capistrano erblickte den ganzen Erdkreis in Finsternis gehüllt, in der ein helles Licht – er selbst – aufleuchtet, dem die Gläubigen von allen seiten zueilen. sein Versprechen, Mönch zu werden, wurde respektiert: noch im kerker besuchten ihn ordensangehörige und brachten ihm (illegaler weise) die kutte dorthin. kaum freigelassen, folgten die Auflösung seines Verlöbnisses und eine völlige Änderung seiner Lebensweise: Zur Demonstration seiner umkehr ritt er wie ein verurteilter schwerverbrecher verkehrt auf einem esel sitzend durch die stadt, die schandmitra (sanbenito) mit seinen Vergehen auf dem kopf, wie sie von verurteilten ketzern zu tragen war. Die Begeisterung, die die frommen scharen bei Capistranos erscheinen zeigten, wenn er predigte, scheint maßlos gewesen zu sein: es kam . . . vil volcks . . . in großem gedrenge disen man zesehen vor frewden vnd andacht waynende. ire hennd gein hymel auffhebende. disen man benedeyende. got lobende. seine klaider anrueerende vnnd kuessende. vnd ine als einen von himel gesandten vnd engel gottes anschawende121. Die ordenspropaganda ging so weit, dass seine Mitbrüder dem frommen Volk Bilder von ihm schon zu Lebzeiten zur Verehrung anboten. 118 Giovanni JoerGensen, santa Brigida di svezia, Brescia 1991, 112 f. nach den kanonisationsakten. 119 kulturhistorisk Leksikon for nordisk middelalder 1, kopenhagen 1956, 573. 120 Peter dinzelBAcher, Heilige und weniger heilige Patrone der Juristenzunft, Hagiographica, im Druck. 121 schedelsche weltchronik, nürnberg 1493, f. ccxlix v.
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Capistranos ganze energie galt Predigt gegen jene Gruppen, die er für die größten Feinde der Heiligen Mutter kirche hielt, die ketzer, speziell die aus dem eigenen orden entsprossenen Fraticelli, und die Zinswucherer, d. h. v. a. die Juden. In Breslau hat er in seiner Funktion als päpstlicher Großinquisitor in einem auf der üblichen ritualmordbeschuldigung begründeten Prozess mehr als 40 Juden hinrichten lassen und für die Vertreibung der anderen auch in den umliegenden städten gesorgt122. sein Charakter erhellt daraus, dass er nicht nur auf die in Häretikerprozessen gebräuchliche Feuerstrafe erkannte, sondern diese zusätzlich durch ausgesprochen sadistische willkürstrafen verschärfte. Dies wissen wir nicht etwa durch feindliche jüdische Berichte, sondern durch begeisterte Beschreibungen dieser Vorgänge aus der Feder christlicher Zeitgenossen, darunter ihn begleitende Brüder seines ordens. es ist in aller Deutlichkeit festzuhalten, dass dieses Vorgehen gegen die Juden katholiken vor 1945 als Zeichen seiner Heiligkeit galt: Im von seinem orden vorgelegten entwurf zur Heiligsprechungsbulle – also dem Dokument, das die Beweise seiner göttlichen Erwählung für die Kanonisation zusammenstellte – liest man: „Auch die Perfidität der Juden unterdrückte er . . . als Inquisitor der häretischen Perversion“123. sein Vorschlag einer endlösung der Judenfrage, Papst nikolaus V. gegenüber gemacht, legt ebenso Zeugnis von seiner Gesinnung ab, auch wenn er nicht zur Ausführung kam: nämlich alle Angehörigen dieses Glaubens auf schiffe zu verladen und in einem fernen Land auszusetzen124. Faktisch hatte bereits 1420/21 Herzog Albrecht V. unter dem Vorwand der Hostienschändung alle mittellosen wiener Juden in ruderlosen schiffen die Donau hinabtreiben lassen (die reichen wurden eingekerkert, gefoltert und verbrannt)125. Davor verschließen Gläubige heute die Ohren – aber es ist ein historisches Faktum, dass im katholizismus vor dem ende des III. reichs (auch im Protestantismus, man denke an Luthers Antijudaismus) Judenfeindschaft eindeutig zu den christlichen tugenden zählte, ja sogar, wie im besprochenen Fall, zu den Zeichen der Heiligkeit. eine reihe Heiliger wie Augustinus, Petrus Venerabilis, ramón Llull hat bekanntlich adversus-Judeos-traktate verfasst, und der kanonisierte könig Ludwig IX. gab seinen rittern die weisung, jedem Juden, der übel vom Christentum rede, statt einer Antwort gleich das schwert in den Bauch zu rennen „so tief es nur eindringen kann“126. Dies berichtet sein Freund Joinville in der Vita des kapetingers, die die Heiligkeit des rex christianissimus dokumentieren sollte. Man möchte denken, dass dann den reformatoren, von denen doch viele wie Calvin, karlstadt und Zwingli den Bildersturm predigten und die Heiligenverehrung 122 Peter dinzelBAcher, Der hl. Johannes von kapistran und die Breslauer Juden 1453, Jahrbuch für Antisemitsimusforschung 22 (2013), 163 – 178. 123 Acta sanctorum (As), oct. 10, 1869, 424 f. Publiziert wurde eine kürzere Bulle, die diese stelle nicht enthält. 124 Die standardbiographie des Heiligen von Johannes hofer / ottokar BonmAnn, Johannes kapistran. Im Kampf um die Reform der Kirche I – II, Heidelberg 1964/65, I, 322 insinuiert, es dürfte sich bloß um einen scherz gehandelt haben! 125 Ferdinand opll, nachrichten aus dem mittelalterlichen wien. Zeitgenossen berichten, wien 1995, 121 f. 126 La vie de s. Louis, hg. v. noël corBett, Québec 1977, 94.
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verdammten, die Veneration Lebender ein Gräuel gewesen wäre. so schnell ließ sich aber die Verehrung der Führerpersönlichkeiten ihrer Bewegung nicht vom dem hagiologischen Muster befreien. schon 1521 schuf der bekannte reformierte Graphiker Hans Baldung Grien einen Luther-Holzschnitt, der den widervffrichter Christlicher leer als Heiligen zeigt (Abb. 6)127: Die taube des Geistes schwebt über ihm, sein Haupt umzieht ein wenn auch noch instabiler nimbus, das Bibel-Buch gehört traditionell zu den Attributen der meisten katholischen Heiligen. wie die Altgläubigen ähnliche Graphik-Blätter mit diesen Heilsbringern, so trugen die Protestanten solche Luther-Bilder als Amulette mit sich herum und küssten sie ab. und dies ist nur ein Beispiel der Verehrung des reformators als Heiliger zu Lebzeiten128, schließlich sahen ihn manche Anhänger so dezidiert in eschatologischem Licht, dass sie von ihm als dritten und letzten elias predigten129 – ein Heiliger im Katholizismus. um die Gültigkeit solcher Muster im ganzen Christentum anzudeuten, sei auch ein Beispiel aus den kolonien genannt, nämlich aus Peru im 16. Jahrhundert. Auch dort traten, wie im ganzen romanischen Bereich, viele Mystikerinnen auf. eine von ihnen, María Pizarro, hatte als Beichtvater und Seelenführer den Franziscus vom kreuze, einen in Lateinamerika damals führenden theologieprofessor, der in ihren ekstasen wahre offenbarungen Gottes zu erkennen meinte. Da sie von seiner Berufung schwärmte, „wurde der Mann so weit verführt, dass er wunder zu wirken versuchte und sich einredete, sie geschähen wirklich“130. Als ihn seine Prophetin auch von einigen dogmatisch abweichenden Glaubenssätzen überzeugte und er selbst von einem engel belehrt zu werden behauptete, zog ihn die Inquisition gefänglich ein und ließ ihn nach fünf Jahren im kerker verbrennen (1578). ein Hauptpunkt seiner ketzerei war es, das er sich für so heilig hielt, nämlich über alle engelschöre und selbst über die Apostel, dass Gott ihm die hypostatische union angeboten habe (was er aus Bescheidenheit nicht annahm). Immerhin, so prophezeite er, würde seinetwegen der Heilige stuhl aus rom nach Peru transferiert werden, damit er ihn besteigen sollte. Den Zölibat wollte er abschaffen, die Polygamie einführen. Gestorben und wiederauferstanden sei er bereits. Allerdings irrte er sich darin, dass er verkündete, Don Juan d’Austria sei von den Türken besiegt worden – bei Lepanto geschah 1571 das Gegenteil. noch am scheiterhaufen erwartete er, der Himmel werde ihm mit Flammen zu Hilfe kommen, aber die Flammen, schreibt zufrieden der Berichterstatter, ein Mitglieder der Untersuchungskommission des Hl. Officiums, kamen stattdessen von unten und verbrannten ihn zu Asche131. In diesem Fall ließ sich also ein gelehrter Priester unter dem eindruck der offenbarungen einer ihm nahestehenden Mystikerin suggerieren, er sei auserwählt, übernahm das das Modell direkter übersinnlicher Verbindung mit dem Himmel und 127 Martin Luther und die reformation in Deutschland (katalog), Frankfurt 1983, 222 f. 128 Helmar JunGhAns, Der junge Luther und die Humanisten, Weimar 1985, 288 – 318. 129 Jean delAumeAu, Sin and Fear. The Emergence of a Western Guilt Culture 13th – 18th Centuries, new york 1990, 527. 130 Joseph v. Görres, Die christliche Mystik I – V, Regensburg 21879, III, 676; http://es.wikipedia. org/wiki/Francisco_de_la_Cruz. 131 Iosephus AcostA sJ, De novissimis temporibus II, 11, romae 1590, 54 ff.
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versuchte, sich als heiliger Lenker der welt zu etablieren. es ist klar, dass das Übermaß der Ansprüche zu seinem Tode führte; hätte er sich auf Wunder und orthodoxe Pastoral beschränkt – er vertrat aber vielmehr eine den Alumbrados nahestehende Apokalyptik –, dürfte die peruanische Kirche heute einen oder zwei zusätzliche Heilige verehren. es wird allerdings der realität entsprechen, wenn man bei den meisten Personen, die sich als Heilige fühlten oder deren soziale umwelt auf sie so reagierte, dass sie sie als Heilige verehrte, eine lange, oft lebenslange Phase der Ambivalenz annimmt. Dieses schwanken zwischen dem Glauben an die Auserwählung und dem Zweifel daran lässt sich in vielen Fällen aus den Quellen nachweisen. Ich beschränke mich auf ein Beispiel: Die Begine Christina Bruso, gen. die kölnische132, deren kult 1908 durch rom approbiert wurde, galt zu Lebzeiten vielen Gläubigen in ihrer nächsten umgebung, dem Dorf stommeln, für eine Besessene. Als sie die stigmatisation mit der Dornenkrone erfährt, glauben die Augenzeugen, sie werde vom teufel verwundet, anstatt dieses Phänomen als Charisma zu erkennen, wie der Dominikaner Petrus von Dacien, der sie bewunderte, und alle späteren katholischen Autoren. Besonders ihre Gefährtinnen, die kölner Beginen, verspotteten alles, was Christina unternahm, und „sagten, dass sie bei allem, was sie zu tun hatte, Heiligkeit vortäusche“. Man nannte sie „Verführerin“ und „Betrügerin“. ob ihrer dauernden dämonischen Umsessenheit war sie bei einigen sogar als Hexe verschrieen; sogar ein Onkel von ihr fragte sich, ob sie nicht eben dies sei. Andererseits reagierten auch viele Beobachter positiv auf die junge Frau, und deren eindrücke sollten in der Zukunft das Bild, das von ihr tradiert wurde, prägen. Besonders von Dominikanermönchen, die die lebende Heilige sehen wollten, wurde sie immer wieder besucht. Ihr Profiliertester, Petrus von Dacien, hat Bruso in seinen werken als gottbegnadete Mystikerin gefeiert. Christina Bruso selbst fühlte jedoch die Ambivalenz der erlebten mystischen und dämonischen Phänomene, wie in folgenden ihrer Mitteilungen deutlich wird: obschon sie ohne unterlass und höchst orthodox die Passion meditiert, wird sie doch misstrauisch, als sie sich von dieser Vorstellung nicht mehr befreien kann und immer wieder weinen muss. Anstatt dies ungefragt als göttliche Gnade, als donum lacrimarum anzunehmen, wie zahllose andere Mystikerinnen, erkundigt sie sich bei einem Priester, ob es sich nicht um eine Anfechtung des Bösen handeln könne. Auf die bejahende Antwort hin interpretiert sie eine Zeit lang selber ihre Gesichte als teuflische Erklügelungen und versucht, sie unbeachtet zu lassen. Inwieweit sie sich je als Heilige gesehen hat, bleibt ungewiss. In ziemlich ähnlicher weise schwankte auch eine viel berühmtere Zeitgenossin Brusos, die sel. Angela von Foligno, in ihrer selbsteinschätzung133.
132 nach Peter dinzelBAcher, Persönliches und Zeittypisches im religiösen erleben der Christina Bruso, in: Gottesschau und Gottesliebe. Die Mystikerin Christina von stommeln, hg. v. Guido von Büren u. a., Regensburg 2012, 135 – 154. Viele weitere Beispiele bei dinzelBAcher, Heilige oder Hexen (wie Anm. 31). 133 ebd. 60 ff.
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Diese ungewissheit in der Beurteilung durch die soziale umgebung endete meist erst nach dem tode, indem die ‘unterscheidung der Geister’ durch die Amtskirche in die eine oder andere Richtung vollzogen wurde. Je nachdem finden wir heute die einen Personen in der kirchen-, die anderen in der ketzergeschichte, obwohl sie sämtliche zu Lebzeiten zugleich von einer Gruppe als Heilige verehrt, von einer anderen als ketzer, Betrüger oder Besessene verurteilt wurden. Bei den akzeptierten Heiligen lässt sich hinsichtlich der päpstlichen kanonisierung fast stets eine dafür eintretende Pressure-Group konstatieren, meist ein orden oder eine kongregation, aber auch nationalstaatliche Interessensvertreter, die einen hinreichenden Einfluss auszuüben vermochten134. Die hier verfolgte Frage: wie wird man heilig bei Lebzeiten? lässt sich also so beantworten: Besonders durch die Konvergenz von zwei Elementen; einerseits durch entsprechende religiöse erlebnisse, unter denen parapsychische (mirakulöse, visionäre und mystische) an erster stelle stehen, unterstützt durch asketisches Verhalten. Andererseits durch eine positive reaktion der sozialen umwelt auf dieses Verhalten und auf die Berichte, die die Person selbst von diesen erlebnissen gab. ob letztere authentisch waren oder erfunden wurden, war für die Zeitgenossen oft nicht zu eruieren und ist es auch für den Historiker oft nicht. Dieses Muster gilt im Prinzip vom zwölften bis ins 19. Jahrhundert und unabhängig von den konfessionen. Gerade quellenmäßig dicht überlieferte Fälle135 aus den letzten Jahrhunderten würden eine einlässlichere untersuchung sowohl der sozialen wie der psychischen ,Mechanismen‘ erlauben, die hierbei wirksam werden, und eine genauere Beobachtung des wechselseitigen Aufschaukelns dieser komponenten. Dazu möchte der vorliegende Beitrag Anregungen bieten.
134 kenneth woodwArd, Die Helfer Gottes. wie die katholische kirche ihre Heiligen macht, Güthersloh 1991. 135 Man denke an berühmte katholiken wie Padre Pio oder theresa von konnersreuth, aber auch an sektenführer usw.
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Abb. 1: Bonifatius VIII. Zeitgenössische Statue Florenz, Opera del Duomo
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Abb. 2: Albrecht Dürer Selbstbildnis im Pelzrock (1500) München, Alte Pinakothek
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Abb. 3: Albrecht Dürer, Selbstbildnis als Melancholiker um 1516 Bremen, Kunsthalle Bremen, Kupferstichkabinett
Abb. 4: Birgitta von Schweden, Altartafel aus der Kirche von Appuna, 15. Jh. Stockholm, Statens museum
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Abb. 5: Der hl. Johannes Kapistran in der Schlacht, von Giovanni di Bartolomeo, 15. Jh. Aquila, Museo
Abb. 6: Martin Luther von Hans Baldung, 1521 Berlin Staatliche Museen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett
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DIe BILDerZerstÖrunG Des 8. JAHrHunDerts In PALästInA* robert schick Im 8. Jahrhundert n. Chr. wurden in über einhundertfünfzig kirchen Palästinas die Abbildungen von Lebewesen auf Mosaikfußböden absichtlich unkenntlich gemacht. Dieser seltsame Fall von Bilderzerstörung wirft Fragen auf, die noch nicht zufriedenstellend beantwortet worden sind: welcher Art sind die Beschädigungen? wo befinden sie sich? Wer hat sie vorgenommen? Wann haben die Bilderzerstörungen stattgefunden? und warum überhaupt? In diesem Artikel sollen diese fünf Fragen näher beleuchtet werden, indem wir uns damit auseinandersetzen, wie dieses Phänomen in der heutigen Forschung verstanden wird. speziell berücksichtigt wird dabei der Fall der kirche von ’Ayn al-kanisah am Fuße des Mount nebo in Jordanien und die jüngsten kirchenmosaikböden der region, deren Datierung bis in die frühabbasidische Zeit hineinreicht. Beispiele von absichtlicher Beschädigung von Mosaikböden in den kirchen Palästinas (dem heutigen staatsgebiet Jordaniens und Israel / Palästinas) sind bereits am Beginn der archäologischen Forschung in der region bemerkt geworden, insbesondere während der im Jahre 1928 begonnenen Ausgrabungen in Jerash1. Die wissenschaft tendierte zunächst dazu, diese Befunde mit einem edikt in Verbindung zu bringen, das der umayyadische Kalif Yazid II. erlassen hatte (reg. 720 – 724) und wonach alle Bildwerke im kalifat zerstört werden mussten2. Als alternativen Auslöser sah man die etwa zeitgleiche ikonoklastische Bewegung im Byzantinischen reich. Im Laufe der Zeit haben fortdauernde Ausgrabungen mehr und mehr Beispiele von Mosaikfußböden quasi ans Licht gebracht, auf denen wir weitere Darstellungen mit absichtlichen Beschädigungen ausmachen können. Im Durchschnitt kommen auf diese weise etwa ein bis zwei neue Befunde pro Jahr hinzu, wodurch die von ognibene zusammengestellte Liste mit 150 dokumentierten Fällen bereits unvollständig und veraltet ist3. Zu den spektakulärsten Befunden zählen u. a. jene, die Michele Piccirillo während der Ausgrabungen in umm al-rasas in Zentraljordanien ab 1986 * 1 2 3
Ich danke Dr. Anja Heidenreich, Bamberg, die den text ins Deutsche übersetzt hat, und sebastian watta, erlangen, der den text gegengelesen hat. Carl krAelinG, Gerasa, City of the Decapolis. American schools of oriental research, 1938. Alexander vAsiliev, The Iconoclastic Edict of the Caliph Yazīd II, A. D. 721, Dumbarton Oaks Papers 9 – 10 (1956), 25 – 47. susanna oGniBene, umm al-rasas: La chiesa di santo stefano ed il „problema iconofobico“, Rome 2002, 467 – 485.
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machen konnte4. Außerdem ist der Mosaikfußboden in der kirche von ya’mun im norden Jordaniens von besonderem Interesse, sind hier doch die biblischen Gestalten Abraham, Isaak und Daniel, Hananiah, Mishael und Azariah dargestellt5, was sonst nur äußerst selten zu finden ist. Der Gesamtthematik war bereits eines der Hauptkapitel meiner 1987 verfassten Dissertation über die christlichen Gemeinden in Palästina gewidmet, die ich in einer überarbeiteten Fassung 1995 publiziert habe6. seit dieser untersuchung sind erneut zwei Jahrzehnte verstrichen, so dass eine erneute Beschäftigung mit der Fragestellung, die auch neue erkenntnisse aus den entdeckungen seit den frühen 1990er Jahren einschließt, sinnvoll erscheint. Andere wissenschaftler haben sich ebenfalls in jüngerer Zeit dem themengebiet gewidmet, darunter susanna ognibene, Glen Bowersock, Basema Hamarneh und karin Hinkkanen, sowie Henry Maguire7. Aber trotz aller Aufmerksamkeit, die die thematik dadurch erfahren hat, sind die Fragen was?, wo?, wer?, wann? und warum? ungelöst. Ja es scheinen nicht einmal grundlegende Probleme geklärt, ob nämlich die absichtliche Beschädigung der figürlichen Darstellungen eine interne Angelegenheit der Christen war oder in gewisser weise durch ihre muslimische Gegenseite erst veranlasst wurde. Dieser Artikel stützt sich eher auf archäologische Belege als auf die historischen schriftquellen. welcher Art sind die Beschädigungen? Abbildungen lebender kreaturen, sowohl von Menschen als auch von tieren aller spezies, sind eines der gängigen Merkmale der Mosaikfußböden aus byzantinischer Zeit, sowohl im sakralen Ambiente der kirchen und synagogen als auch in profanen Gebäuden. es gibt daneben viele Beispiele von Pavimenten, bei denen es nicht zur absichtlichen Zerstörung von Menschen- und tierdarstellungen kam, aber eben auch die einhundertfünfzig Fälle der sakralen Mosaiken, wo diese Praxis stattfand. Jeder Fall von vorsätzlicher Bilderzerstörung hat seine ganz eigene Charakteristik, ihnen allen gemein ist aber der Prozess der Beschädigung: Dazu zählt in der 4 5 6 7
Michele piccirillo, The Mosaics of Jordan, Amman 1992, in: Umm al-Rasas – Mayfa’ah I. Gli scavi del complesso di santo stefano, hg. v. Michele piccirillo / eugenio AlliAtA, Jerusalem 1994. ya’mun. An Archaeological site in northern Jordan, hg. v. Mahmoud el-nAJJAr, yamouk university 2011. robert schick, the Christian Communities in Palestine from Byzantine to Islamic rule, Princeton 1995, 180 – 219, Chapter 9. oGniBene, Umm al-Rasas (wie Anm. 3); Glen Bowersock, Mosaics as History. the near east from Late Antquity to Islam, Cambridge MA 2006; Basema hAmArneh / karin hinkkAnen, „The Mosaic“, 244 – 262, in: Petra – The Mountain of Aaron. The Finnish Archaeological Project in Jordan. Volume I. the Church and the Chapel, hg. v. Zbigniew fiemA / Jaakko frösén, Helsinki 2008; Henry mAGuire, nectar and Illusion. nature in Byzantine Art and Literature, oxford 2012.
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regel die vorsichtige entfernung der Mosaiktesserae aus den Bildfeldern, oft sogar unter wahrung der konturlinien der Darstellungen, gefolgt von der ebenso sorgfältigen Ausflickung der Stelle mit dann zufällig versetzten Tesserae. Manchmal wurde sogar große sorgfalt darauf verwendet, die entstandenen Füllstellen mit kunstvollen geometrischen Mustern oder Blumen zu füllen (Abbildung 1). Die Akropoliskirche in Ma’in (Jordanien) ist eines der herausragendsten Beispiele für diese sorgfältigen Ersetzungen; hier wurde ein Bulle durch einen Baum und durch eine Vase mit Weinranken ersetzt8. Das Mosaik in der kirche des hl. stefan in umm al-rasas liefert außerdem beeindruckende Beispiele für die hohe künstlerische Fertigkeit, mit der die Ausbesserungen vorgenommen wurden9. In einigen Fällen ist die unkenntlichmachung weniger vorsichtig ausgeführt, z. B. folgt die Beschädigung nicht den konturlinien einer Figur, sondern schließt stattdessen auch ganz unregelmäßige Bereiche des Hintergrundes mit ein. einige Beispiele dieser Art können nur schwerlich von zufälligen Mosaikschäden unterschieden werden. oftmals wurden nur bestimmte Bereiche einer Figur entfernt und andere intakt belassen. Ein solcher Fall findet sich im Mosaikboden in der Kirche zu khildah. es fehlen hier kopf und Fuß des dargestellten Pfaues, nicht jedoch der Großteil seines körpers (Abbildung 2)10. Bei vielen Beispielen scheinen die neu versetzten und zufällig angeordneten Mosaiksteine die ursprünglichen zu sein. In manchen Fällen wurden andere steinwürfel hinzugefügt, meist handelt es sich dabei um größere und einfache weiße tesserae, wie bei der kirche des hl. Georg in Jerash (Abbildung 3). Die Verwendung von unterschiedlichem steinmaterial könnte andeuten, dass die Beschädigung und die Ausflickung zwei zeitlich voneinander getrennte Vorgänge waren. In einigen wenigen Fällen wurden Mörtel oder stücke von Marmor oder anderen steinarten anstatt der tesserae zum Ausbessern verwendet. Die absichtliche Bildzerstörung erfolgte typischerweise immer nur mehr oder weniger gründlich, obgleich es ein rätsel bleibt, warum bei einigen Böden nur einige, aber nicht alle Abbildungen zerstört worden sind. es gibt nicht wenige Beispiele, wo absichtlich zerstörte Abbildungen neben völlig unversehrten liegen. Der Altarraum der Löwenkirche in umm al-rasas hat ein schönes Beispiel für diese offensichtlich recht beliebige Zerstörungspraxis bewahrt11. Absichtliche Zerstörung erlitten auch die bildlichen Darstellungen auf den marmornen Altarschranken in einer ganzen Anzahl von kirchen12, sowie in der synagoge von susiya, südlich von Hebron13. Dieses intentionelle unkenntlichmachen ganz alltäglicher Menschen- und tierdarstellungen unterscheidet sich deutlich von dem, was im Byzantinischen reich 8 9 10 11 12 13
piccirillo, the Mosaics of Jordan (wie Anm. 4), 198. piccirillo / AlliAtA, umm al-rasas (wie Anm. 4). Mohammad nAJJAr / Fatema sA’id, „new umayyad Church at khilda / Amman“, Liber Annuus 44 (1994), 547 – 560. piccirillo, the Mosaics of Jordan (wie Anm. 4), 211. schick, Christian Communities (wie Anm. 6), 201. Zu besichtigen im Israel-Museum in Jerusalem.
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während der Zeit des Ikonoklasmus passierte. Dort sind es die Kultbilder – Bilder von Christus, der Jungfrau Maria und den Heiligen – also Bilder der Verehrung, und nicht alltägliche Menschen- und tierdarstellungen, die im Zentrum der Auseinandersetzung standen. In welchem Gebiet findet sich diese Art von Beschädigungen? Die über 150 bekannten Beispiele mit absichtlicher Bilderzerstörung finden sich in einem recht kleinen geografischen Bereich im heutigen Jordanien und Israel / Palästina, mit einem dichteren Vorkommen in nord- und Zentraljordanien. Mit Ausnahme eines Ausreißers im nordsyrischen nabgha14, gibt es bisher keine bekannten Beispiele von absichtlich beschädigten Darstellungen in syrien, im Libanon, in Ägypten oder in Nordafrika – den ehemaligen byzantinischen Gebieten, die im 7. Jahrhundert von Muslimen erobert worden sind – oder im verbliebenen byzantinischen territorium, wo es nur zu Zerstörungen von kultbildern in der Zeit des Ikonoklasmus kam. wenn also diese Praxis der unkenntlichmachung alltäglicher Bildthemen wirklich weiter verbreitet worden wäre, hätten dafür unzählige Mosaiken im Großraum des östlichen Mittelmeergebietes als mögliche kandidaten zur Verfügung gestanden. ein bemerkenswertes Beispiel aus südsyrien ist der bildergeschmückte Mosaikboden von Deir al-’Adas mit seiner weiheinschrift aus dem Jahre 72215. Die Mosaiken und Ikonensammlung im katharinenkloster am Berg sinai sind ein weiterer Fall, in dem Bildwerke in keiner weise beeinträchtigt worden sind16. Es ist durchaus rätselhaft, warum sich das Phänomen nur auf ein kleines geografisches Gebiet beschränkt. Das territorium des heutigen Jordanien und Israel / Palästina entspricht mehr oder weniger den byzantinischen Provinzen von Arabia und den drei Provinzen Palaestinas (Palaestina Prima, Palaestina secunda und Palaestina tertia) sowie den umayyadischen Provinzen (jund) al-urdun, Filastin und Dimashq. Aber die geografische Verbreitung der Beschädigungen folgt nicht exakt den byzantinischen oder umayyadischen Provinzgrenzen; so kennen wir beispielsweise keine Fälle im südlibanon oder syrien, die innerhalb dieser Grenzen liegen. Auch wenn die zivilen Autoritäten in gewisser weise daran beteiligt gewesen wären, so wie es das edikt von yazid II. vorgibt, gibt es keinen zwingenden Grund, warum die politischen Grenzen nur einiger Provinzen dafür den geographischen rahmen hätten vorgeben sollen17. 14 15 16 17
rana sABBAGh u. a., Le martyrion Saint-Jean dans la moyenne vallée de l’Euphrate. Fouilles de la Direction Générale des Antiquities à Nabgha au nord-est de Jarablus, Damascus 2008. Pauline donceel-voûte, Les pavements des églises byzantines de Syrie et du Liban, Louvainela-Neuve 1998, 45 – 54. Helen evAns, saint Catherine’s Monastery, sinai, egypt, new york 2004. Heinrich Gelzer, ungedruckte und wenig bekannte Bistümerverzeichnisse der orientalischen Kirchen, Byzantinische Zeitschrift 1 (1892), 245 – 282.
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Die Provinzen der drei Palaestinas waren dem Patriarchat von Jerusalem unterstellt, die Provinz Arabia aber dem Patriarchat von Antiocha zugehörig. es dürfte also schwierig sein, die Beschädigungen als ein ereignis darzustellen, das nur im Gebiet einer bestimmten kirchlichen Gerichtsbarkeit stattgefunden hat, es sei denn, man ließe die Annahme zu, dass die Praxis ursprünglich vom Patriarchat Jerusalem ausging und ihr nachfolgendes Auftreten in der ehemaligen Provinz Arabia darauf hinweist, dass die kirchliche Verwaltung dieser Provinz nach der muslimischen eroberung von Antiochia nach Jerusalem übertragen wurde. es gibt in den Listen der Bischofssitze allerdings nur schwache Hinweise darauf, dass dies tatsächlich der Fall gewesen sein könnte. wer hat die Beschädigungen vorgenommen? schäden erlitten nahezu ausschließlich Darstellungen in kirchen, so dass ein Zusammenhang mit dem Christentum zwingend anzunehmen ist. An profanen Bauten kommen sie quasi nicht vor, es finden sich vielmehr sogar einige wenige Mosaiken in profanen kontexten, die in der Mitte des 8. Jahrhunderts noch deutlich in Benutzung und die figürlichen Darstellungen damit sichtbar waren. Dem sog. ausgebrannten Palast in Madaba werden wir uns im weiteren Verlauf hier noch explizit widmen. es gibt allerdings auch einen deutlichen nachweis für Bilderzerstörung in der synagoge in susiya18. Aus der frühislamischen Periode kennen wir unzählige Mosaiken aus Gebäuden, die mit muslimischen Bewohnern / nutzern assoziiert werden, sowohl profaner als auch religiöser natur, wovon aber die meisten geometrische oder vegetabile Motive besitzen. Darüberhinaus zeigen einige wenige aber auch Abbildungen von Lebewesen, so im Bad von khirbat al-Mafjar in Jericho, die jedoch in keinem Falle angetastet worden sind. Diejenigen Personen, die die Zerstörung letztendlich ausführten, bewiesen stets große Vorsicht im Herauslösen der Mosaiksteine aus der Bildoberfläche, und ebenso große beim Wiedereinsetzen. Diese Sorgfalt im Entfernen und Ausflicken zeigt, dass die nutzer der Gebäude ihre prächtigen Mosaikfußböden durchaus beibehalten wollten. Dies verweist auf die christlichen Gemeinden selbst als Ausführende der Zerstörungen und der anschließenden reparaturen in den kirchen, die sie als kulträume auch nach den eingriffen weiter nutzen wollten. nur die Christen selbst würden überhaupt ein Interesse daran gehabt haben, eine derartig aufwändige umwandlung ihrer sakralen Bildausstattung durchzuführen, wie wir sie im Mosaikfußboden der Akropoliskirche in Ma’in sehen, oder bei dem eingefügten kreuz, das die Fehlstelle eines Medaillons in Masuh (Jordanien) füllt (Abbildung 4)19. Damit scheint deutlich genug, dass es die Christen waren – oder die Juden im Falle der Synagoge von Susiya –, die für diese Bilderzerstörungen verantwortlich waren. Die konfessionelle Anbindung der Christen (z. B. Chalkedonenser oder Miaphysiten) kann normalerweise kaum aus den architektonischen resten einer kirche
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steven werlin, the Late Ancient synagogues of southern Palestine, Chapel Hill univerisity 2012. piccirillo, the Mosaics of Jordan (wie Anm. 4), 253.
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abgeleitet werden, auch wenn generell festzuhalten ist, dass ein Großteil der Christen in diesem Gebiet durchaus Chalkedonenser waren. Aber es existieren auch zwei kirchen mit beschädigten Mosaikdarstellungen, die mit ghassanidisch / jafnidischarabischen stammesführern in Verbindung gebracht werden, wie es aus den widmungsinschriften ihrer steinböden hervorgeht: es handelt sich um die kirche in nitl und die kirche des hl. sergius am tell al-’umayri east, beide südlich von Amman gelegen20. Die ghassanidisch / jafnidischen stammesführer sind dafür bekannt, dass sie im 6. Jahrhundert überzeugte unterstützer der gegen die Beschlüsse des konzils von Chalkedon gewandten Miaphysiten waren. Man könnte also durchaus annehmen, dass die Christen, die im 8. Jahrhundert die kirche nutzten und auch die Beschädigungen veranlassten, noch Miaphysiten waren, auch wenn dies nicht schlüssig aus den archäologischen resten hervorgeht. Damit scheint es, dass sowohl Chalkedonenser als auch Anti-Chalkedonenser für die absichtliche unkenntlichmachung der bildlichen Darstellungen verantwortlich waren. Die andere Annahme, nämlich dass Muslime die Zerstörungen verursacht haben könnten, als sie die kirchen für ihren eigenen ritus übernahmen, ist deutlich weniger nachvollziehbar. trotz einiger Hinweise in den historischen Quellen21, existieren herzlich wenige Fälle von auch nur möglichen muslimischen Übernahmen, bei denen kirchen direkt in Moschee umgewandelt wurden. Die baulichen Veränderungen die mit einer solchen umnutzung verbunden waren, gingen auch über die Zerstörung von Mosaikböden hinaus. ein Beispiel wäre die numerianos-kirche in umm al-Jimal im norden Jordaniens, wo der gesamte Mosaikboden entfernt und unter den umayyaden durch einen Putzfußboden ersetzt worden ist. Damit wird das ende der kirchlichen nutzung und die mögliche konversion in eine Moschee angezeigt22; die Julianos-Kirche in umm al-Jimal scheint ein zweiter Fall zu sein, wo man in der umayyadenzeit einen ganzen Mosaikfußboden herausbrach23. Allerdings ist die kathisma-kirche an der straße zwischen Jerusalem und Bethlehem das beste Beispiel für eine kirche, die als Moschee genutzt wurde. Dort beließ man das Mosaik – wobei nur geometerische und florale Motive in der Dekoration vorkommen – an Ort und Stelle24. 20
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Michele piccirillo, the Church of saint sergius at nitl. A Centre of the Christian Arabs in the Steppe at the Gates of Madaba, Liber Annuus 51 (2001), 267 – 284; ebd., L’Arabie chrétienne, Paris 2002, 209, 214 – 217; Aḥmad al-sHāmī, Mashrū’ al-Tanqībāt al-Atharīyah fī Tall al-’Umayrī al-Sharqī al-Mawsim al-Awwal 2009, Annual of the Department of Antiquities of Jordan 54 (2010), 35 – 42. suliman BAsheAr, Qibla Musharriqa and early Muslim Prayer in Churches, Muslim World 81 (2001), 267 – 282. schick, Christian Communities (wie Anm. 6), 470 – 471. G. u. s. corBett, Investigations at ‚Julianos Church‘ at umm el-Jimal, Papers of the British School at Rome 25 (1957), 39 – 66; schick, Christian Communities (wie Anm. 6), 471 – 472. rina Avner, The Recovery of the Kathisma Church and Its Influence on Octagonal Buildings, in: One Land – Many Cultures Archaeological Studies in Honour of Stanislao Loffreda OFM, hg. v. G. Claudio Bottini / Leah di seGni / L. Daniel chrupcAlA, Jerusalem 2003, 173 – 186; ebd., The Kathisma: A Christian and Muslim Pilgrimage Site, ARAM 18 – 19 (2006 – 2007), 541 – 557.
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wann erfolgten die Beschädigungen? In einer ganzen reihe von Fällen liefern uns die weiheinschriften der Mosaikböden einen terminus post quem für die absichtlichen Eingriffe. Es findet sich kein Beispiel, das deutlich vor die muslimische eroberung in den 630er Jahren zu setzen ist, aber viele, die zeitlich danach ansetzen. so nennt z. B. die weiheinschrift in der kirche des hl. sergius im nordjordanischen rihab das Jahr 68625, die der kirche im Amman gelegenen khildah 68726, und schließlich lesen wir in der kirche des Lot im jordanischen Deir ’Ain ’Abata das Jahr 69227. Die eingriffe sind also erst in die umayyadische Zeit oder noch später einzuordnen. Das Datum 717 – 719 in der Unterkirche in al-Quwaysmah, die Jahreszahl 718 im schiff der kirche des hl. stephan in umm al-rasas28, und das Datum 719 – 720 in der Akropoliskirche in Ma’in liegen alle drei knapp vor der regierungszeit (720 bis Januar 724) des umayyadenkalifen yazid II., der das besagte edikt erlassen hat. natürlich könnten die Veränderungen in diesen drei kirchen auch lange nach der Regierung Yazids II. erfolgt sein; die Unterkirche von al-Quwaysmah war z. B. mit sicherheit bis in das 9. Jahrhundert in nutzung29. Besonderes Interesse verdient die kirche von tamra in Galiläa.30 Dort finden wir aus einer ersten Phase einen unbeschädigten Mosaikboden mit Vogeldarstellungen. Darüber verlegte man einen zweiten Mosaikboden, der aussschließlich geometrische Motive zeigt. eine Inschrift datiert diese jüngere Phase zwischen den 19. Mai und den Monat August des Jahres 725, und wendet dabei die islamische Zeitrechnung (Hidschra) an. es drängt sich geradezu auf, dieses jüngere, geometrisch gestaltete Mosaik mit dem edikt yazids II., der im Januar 724 starb, in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Die Annahme jedoch, dass eine Datumsnennung nach islamischer Zeitrechnung eine gemeinsame nutzung des Gebäudes durch Christen und Muslime andeutet, ist sehr spekulativ. Darüber hinaus exisitiert noch eine weitere weiheinschrift in der Jabaliyah-kirche in Gaza, die offensichtlich nach 732 datiert und damit anzeigt, dass die Beschädigungen auch nach der regierung yazids II. noch andauerten. Doch auch dies ist letztendlich nicht stichhaltig, da nur sehr wenige Informationen über diese kirche und die Inschrift zugänglich sind31. 25 26 27 28 29 30 31
piccirillo, the Mosaics of Jordan (wie Anm. 4), 253. nAJJAr / sA’id, new umayyad Church (wie Anm. 10). konstantinos politis, Sanctuary of Lot at Deir ’Ain ’Abata in Jordan. Excavations 1988 – 2003, Amman 2012, 176 – 177. schick, Christian Communities (wie Anm. 6), 472 – 73, 12 – 13. robert schick / emsaytif suleimAn, Preliminary report of the excavations of the Lower Church at el-Quweisma, 1989, Annual of the Department of Antiquities of Jordan 35 (1991), 325 – 340. Leah di seGni / yotam tepper, A Greek Inscription Dated by the era of Hegira in an umayyad Church at Tamra in Eastern Galilee, Liber Annuus 54 (2004), 343 – 350. Jean-Baptiste humBert, The Rivers of Paradise in the Byzantine Church Near Jabaliyah – Gaza, in: The Madaba Map Centenary 1897 – 1997. Travelling through the Byzantine Umayyad Period, hg. v. Michele piccirillo / eugenio AlliAtA, Jerusalem 1999, 216 – 218.
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Die kirche des hl. konstantin im nordjordanischen rihab zeigt zwei rätselhafte griechische Buchstaben in ihrem Mosaikboden, die uns einen Hinweis auf die Zeit der reparatur der mutwilligen Beschädigung für das Jahr 832 geben könnten. Aber auch hier bleibt die Interpretation der Buchstaben und die Frage, ob sie überhaupt mit der Beschädigung in Verbindung stehen, rein spekulativ32. neben den Mosaikböden mit datierten weiheinschriften gibt es in diesen kirchen kaum archäologische evidenzen, die etwas dazu beitragen könnten, den Zeitpunkt dieser Bilderzerstörungen genauer zu bestimmen. Meist bleibt es bei einer allgemeinen Datierung in das 8. Jahrhundert, die sich aus den keramikresten ergibt, die in den über den Fußböden liegenden nutzungs- und Zerstörungsschichten aufgefunden werden. eine Ausnahme könnte der sog. Ausgebrannte Palast im Zentrum der stadt Madaba sein, wo ein großes Palastgebäude, vermutlich die residenz des örtlichen Bischofs, in seinem Ost- und Westflügel Mosaikböden besaß. Der Palast wurde durch einen großen Brand zerstört, der die Böden unter eine dicke schuttschicht begrub. Die keramik, die während der Grabungen im Jahre 1985 und in den Jahren 1992 bis 1993 geborgen wurde, setzt die Brandkatastrophe in die Mitte des 8. Jahrhunderts. ein Auslöser dafür könnte das große erdbeben von 749 gewesen sein, ohne dass wir uns darauf jedoch mit letztendlicher sicherheit festlegen dürfen33. Auffällig ist jedoch die tatsache, dass kein einziges der Mosaikbilder im Ausgebrannten Palast absichtlich zerstört wurde, obwohl die Darstellungen in der kirche der Märtyrer, nur wenig entfernt, absichtliche Beschädigung erlitten, ebenso wie die Böden in einer ganzen reihe weiterer kirchen der stadt. Man könnte also meinen, dass diese intentionellen eingriffe nach dem Jahr des erdbebens, also nach 749, erfolgt sein müssten. es können aber auch andere erklärungsversuche herangezogen werden, z. B. dass man die Böden im Ausgebrannten Palast absichtlich unversehrt ließ, weil sie sich in einem profanen Gebäude und nicht in einer kirche befanden. Auf jeden Fall scheint weiterhin die Annahme gültig, das praktisch alle Mosaikböden in den kirchen des Gebietes, die um die Mitte des 8. Jahrhunderts sichtbar waren, diese absichtliche Bilderzerstörung erfuhren. es scheint auch noch weiterhin vertretbar, dass alle unangetastet gebliebenen Mosaikböden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu sehen gewesen waren, mit einigen wenigen Ausnahmen. obwohl die einzelnen Fallbeispiele der absichtlichen Bilderzerstörung alle ihre speziellen eigenheiten zeigen, bin ich dennoch der Meinung, dass sie im Verbreitungsgebiet zu ein und demselben Zeitpunkt geschahen und nicht eher willkürlich über mehrere Jahrzehnte ausgeführt wurden. Diese Behauptung ist dennoch eher ein eindruck als eine klar belegbare tatsache.
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Leah di seGni, Varia Arabica. Greek Inscriptions from Jordan, in: ricerca storico-Archeologica in Giordania – XXVI – 2006, Liber Annuus 56 (2006), 578 – 592, hier: 578 – 79; ebd., The Use of Chronological Systems in Sixth-Eighth Centuries Palestine, Aram 18 – 19 (2006 – 2007), 119. robert schick, The Excavations in the Madaba Archaeological Park 1992 – 1993, Amman (in Vorbereitung).
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Die kirche in ’Ayn al-kanisah Der Mosaikboden in der klosterkirche von ’Ayn al-kanisah rechtfertigt, dass wir uns eingehender mit ihm beschäftigen, ist er doch von grundlegender Bedeutung, um den Zeitpunkt und die Besonderheit der vorsätzlichen Zerstörungen und reparaturen zu verstehen.34 Die 1994 ergrabene klosterkirche besitzt einen Mosaikboden35, dessen Darstellungen intentionelle Zerstörung und reparatur erfahren haben36, und außerdem eine Bauinschrift, die das Jahr 762 als Datum der wiederherstellung der kirche explizit nennt37. Der ursprüngliche klosterbau stammt aus der Mitte des 6. Jahrhunderts. sein Mosaikboden bildet im Altarraum zwei schafe ab, der Boden im kirchenschiff zeigt horizontale reihen von weinranken in fünf registern, mit ihnen eingestellten tierdarstellungen. Zu einem nicht genau festlegbaren Zeitpunkt, aber vermutlich nach den in die Zeit 717 – 720 datierten Beispielen aus al-Quwaysmah, Umm al-Rasas und Ma’in, wurde dieses Mosaik absichtlich zerstört und mit großer sorgfalt und den gleichen Kuben – jedoch in zufälliger Anordnung – wieder verfüllt. später ereignete sich ein Brand, der seine spuren auf dem Mosaikboden hinterlassen hat; das Datum dieses Feuers können wir nicht genau festlegen, auch wenn das erdbeben von 749 dafür gut in Frage käme. Dann, im Jahre 762, kam es schließlich zur wiederherstellung der kirche, wobei man den Mosaikboden mit viel Geschick instandsetzte. sein westliches ende wurde mit geometrischen Motiven neu belegt, die offensichtlich die beiden am westlichsten gelegenen reihen der weinblattranken aus dem 6. Jahrhundert ersetzten. Die weiheinschrift von 762 bekam ihren Platz in diesem neuen westabschluss des Bodens. In seinem restlichen Bereich wurden Partien, die absichtliche Beschädigung erlitten hatten, ebenfalls mit großem Geschick neu gelegt, wobei man sich sogar darum bemühte, einige der Bilder wieder in den originalzustand zu bringen. Dies betrifft am deutlichsten den Phoenix in der Mitte der zweiten reihe und zwei Vögel am westende. Für die Mosaikarbeiten aus dem Jahre 762 verwendete man etwas kleinere weiße tesserae und diese sind damit deutlich von der älteren Flickung mit den originalsteinen zu unterscheiden. eine derartige restaurierung der Darstellungen kennen wir aus keinem anderen Beispiel eines zuvor absichtsvoll beschädigten Bodens, außer vielleicht mit Ausnahme eines grob gelegten Fisches, der in einer Flickung in dem auf 718 datierten Mosaikfußboden im Hauptschiff der kirche des hl. stephan in umm al-rasas wiedergegeben wird (Abbildung 3).38
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susanna oGniBene, the Iconophobic Dossier, in: Mount nebo. new Archaeological excavations 1967 – 1997, hg. v. Michele piccirillo / eugenio AlliAtA, Jerusalem 1998, 372 – 389; mAGuire, Nectar and Illusion (wie Anm. 7), 43 – 44. Michele piccirillo, La chapelle de la Théotokos dans le Wadi ’Ayn al-Kanisah au Mont Nébo en Jordanie, Annual of the Department of Antiquities of Jordan 39 (1995), 409 – 420. piccirillo / AlliAtA, Umm al-Rasas (wie Anm. 4), 359 – 364; oGniBene, Iconophobic Dossier (wie Anm. 34). Leah di seGni, The Greek Inscriptions, in: Mount Nebo (wie Anm. 34), 425 – 467, hier: 449 – 450. piccirillo / AlliAtA, Umm al-Rasas (wie Anm. 4), 160, fig. 58.
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Die letzten kirchenmosaiken ungefähr in der gleichen Zeit, in der die kirche in ’Ayn al-kanisah wiederhergestellt worden ist, also um 762, schuf man auch andere Mosaikböden mit strikt geometrischen oder vegetabilen Dekoren, so in der kirche des hl. stephan in umm al-rasas im Jahre 75639, in ramot bei Jerusalem im Jahre 76240, in der Marienkirche in Madaba im Jahre 76741, und in khirbet es-shubeika in Galiläa in den Jahren 785 – 786 oder 801 – 80242. keiner dieser genannten sakralbauten weist Darstellungen von Lebewesen auf und es zeigt sich damit, dass man sich in den ersten Jahren der Abbasidenherrschaft dazu entschlossen hatte, den künstlerischen stil zu ändern und Abbildungen dieser Art zu vermeiden. Diese letzten Mosaikböden in kirchen aus der frühen Abbasidenzeit offenbaren uns auch einen anderen wechsel, der in den ersten Jahren nach der abbasidischen Machtübernahme stattgefunden hat. Bis zu dem in das Jahr 756 datierten Mosaik in umm al-rasas, wurden die weiheinschriften datiert, indem man die lokale Provinzzeitrechnung der römischen und byzantinischen epoche heranzog, wie die Zeitrechnung der Provinz Arabia, die im Jahre 106 mit dem durch kaiser trajan erwirkten Anschluss des nabatäischen königreichs beginnt. Auch wurden die byzantinischen Inschriften, besonders seit der Herrschaft des kaisers Justinian, gerne nach dem 15-jährigen Zyklus des Besteuerungswesens („Indiktion“) datiert, einer Praxis, die bereits in diokletianischer Zeit eingeführt wurde. Dieser Modus, christliche Inschriften nach der römischen lokalen Provinzzeitrechnung und dem Zyklus der Indiktion zu datieren, dauerte auch in der umayyadenzeit noch an, obgleich das Gebiet seit der islamischen eroberung in den 630er Jahren längst nicht mehr teil des Byzantinischen reiches war, und obgleich islamische Inschriften schon seit ihrem Beginn die islamische Zeitrechnung nach der Hidschra anwandten. Diese Praxis wiederum kam sehr plötzlich kurz nach der Machtergreifung durch die Abbasiden zum erliegen, als die Christen ihre letzten Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Byzantinischen reich aufgaben, indem sie sich von dessen Zeitrechnung lösten und eine neutrale Zeitrechnung nach der erschaffung der welt wählten43. Dieser wechsel in der Art der Zeitbestimmung kann fast als ein Akt weiser Voraussicht auf seiten der Christen interpretiert werden, die sich ja einer ganz bestimmten situation unter der abbasidischen Herrschaft ausgesetzt sahen. Man könnte durchaus vermuten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Abwendung von der byzantinischen Zeitrechnung und dem Phänomen der absichtlich zerstörten
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piccirillo / AlliAtA, umm al-rasas (wie Anm. 4). rami ArAv / Leah di seGni / Amos kloner, An eighth-Century Monastery near Jerusalem, Liber Annuus 40 (1990), 313 – 320. Leah di seGni, the Date of the Church of the Virgin in Madaba, Liber Annuus 42 (1992), 251 – 257. tzAferis, The Greek Inscriptions from the Church at Khirbet al-Shubeika, in: One Land – Many Cultures Archaeological studies in Honour of stanislao Loffreda oFM, hg. v. G. Claudio Bottini / Leah di seGni / L. Daniel chrupcAlA, Jerusalem 2003, 83 – 86. di seGni, use of Chronological systems (wie Anm. 32).
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bildlichen Darstellungen, da beide eine ganz bestimmte Haltung der Christen gegenüber der Anwesenheit der Muslime ausdrücken. Auch dieser Zusammenhang ist aber letztendlich nicht nachweisbar. warum kam es zu einer absichtlichen Zerstörung? Der eigentliche Beweggrund, warum Darstellungen auf diese weise absichtlich unkenntlich gemacht wurden, erschließt sich uns dennoch nicht. Die erklärungsversuche verweisen z. B. auf ein Zugeständnis an die nach außen gewandte muslimische Befindlichkeit oder Politik, vor allem auf das Edikt Yazids II., oder beziehen sich auf eine innerchristliche Haltung, die vielleicht verknüpft war mit den zeitgleichen ikonoklastischen streitigkeiten im Byzantinischen reich. Maguire verbindet das ganze Phänomen mit der einschätzung von Bildern und kultbildern im Christentum und argumentiert, dass bewusste unkenntlichmachungen besonders der Auslöschung von Personifikationen der Naturkräfte gedient hätten, etwa bei den vier personifizierten Paradiesflüssen oder den vier Jahreszeiten. Dies hätte einer deutlicheren unterscheidung zwischen kultbildern, die der Verehrung würdig waren, und anderen Abbildern der natur, die eher eine Verehrung der natur als diejenige des schöpfers angeregt hätten, dienen können. Maguire sieht die bewusste Bildzerstörung als teil eines größeren Phänomens innerhalb der byzantinischen kunst, das eng mit den Auseinandersetzungen des Bilderstreits verbunden war, in dessen Folge naturszenen niemals wieder in ähnlicher Fülle vorkamen wie zuvor44. Maguires Argumentation überzeugt mich dennoch nicht. Die letzten Mosaikböden Palaestinas, verlegt in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, vermeiden generell alle Arten von figürlichen Darstellungen und zeigen damit einen deutlichen Wechsel in der künstlerischen Auffassung. Aber der Fall des Mosaiks in ’Ayn al-kanisah, wo man die Bilder 762 restauriert hat, beweist nachweislich, dass es sich bei der Zerstörungspraxis nur um eine vorübergehende episode handelte, nach deren ende sich zumindest einige Christen wieder gern an Dekoren dieser Art erfreuten. Meiner Ansicht nach ist die Annahme wahrscheinlicher, dass es sich bei dem Phänomen um die christliche reaktion auf Druck von muslimischer seite, wie das edikt yazids II., handelte, auch wenn mich diese erklärung dennoch nicht völlig überzeugt. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Abbildungen von Lebewesen – sowohl von menschlichen Wesen als auch von allen Arten von Tieren – beschädigt wurden, oft, indem man die Mosaiktesserae vorsichtig auslöste und mit sorgfalt wieder ohne Ordnung einflickte. Die absichtliche Beschädigung war, bezogen auf das betreffende Bild, oft unvollständig. Diese Praxis der Bildzerstörung finden wir 44
mAGuire, nectar and Illusion (wie Anm. 7).
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in einem geografisch begrenzten Raum, nämlich innerhalb der Grenzen des heutigen Jordanien und Israel / Palästina, mit nur einem Ausreißer im nördlichen syrien. Die Christen haben dieses sorgfältige Herausbrechen und Einflicken selbst ausgeführt, und taten dies in dem Bewusstsein, dass sie die Böden auch in Zukunft noch weiternutzen wollten. sowohl die Chalkedonenser als auch die Anti-Chalkedonenser scheinen dies so ausgeführt zu haben, ebenso die Juden. Die Maßnahmen dürften nicht vor die frühen 720er Jahre anzusetzen sein, vielleicht um 725, aber auch nicht später als 762. Die Frage nach dem Auslöser bleibt nach wie vor offen. Die umsetzung des Edikts des Umayyadenkalifen Yazid II. zwischen den Jahren 720 – 724 könnte einen durchaus realen Grund für die Beschädigungen darstellen. Damit wäre das ganze Phänomen mehr als eine Antwort auf die von außen einwirkende muslimische Herrschaftspolitik zu sehen anstatt als innerchristliche Angelegenheit. Da wir über keine eindeutigen schriftquellen verfügen, die uns über die Motivation für diese vorübergehenden, absichtlichen Zerstörungsvorgänge in Palästina aufklären, kann die Fragestellung lediglich durch eine untersuchung der greifbaren materiellen reste mit mehr oder weniger großer wahrscheinlichkeit beantwortet werden. So finden sich Antworten auf die Fragen Was?, Wo?, Wer? und Wann?, jedoch bleibt die Frage nach dem warum? offen. wenn wir diese tatsache berücksichtigen, nämlich dass die der Archäologie bisher bekannten Fälle der willentlich beschädigten bildlichen Darstellungen hier keine schlüssige Antwort auf das warum? liefern konnten, so dürfen wir auch von zukünftigen entdeckungen hier kaum mehr klärung erwarten.
Die Bilderzerstörung des 8. Jahrhunderts in Palästina
Abb. 1: Die kunstvolle Ausflickung in der Kirche des hl. Stephan in Umm al-Rasas (Foto Robert Schick)
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Abb. 2: Die Ausflickung in der Kirche in Khildah (Foto Mohammad Najjar)
Abb. 3: Die Ausflickung in der Kirche des hl. Georg in Jerash (Foto Robert Schick).
Die Bilderzerstörung des 8. Jahrhunderts in Palästina
Abb. 4: Die Ausflickung mit einem Kreuz in Masuh (Foto Robert Schick)
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Du schreibst mir, ob es sehr angemessen sei . . .1 – Der AsPekt Des „GeZIeMenDen“ In Den BILDAusstAttunGen sAkrALer räuMe* sebastian watta Vorstellungen von Angemessenheit regulieren unterschiedliche teilbereiche des sozialen Lebens2. Dies gilt auch für den kultkontext, sprich: für den kontakt mit der sphäre des Heiligen. Angemessenheit wird hier in unterschiedlichen kategorien wirksam: einerseits im Hinblick auf angemessenes Verhalten in der unmittelbaren Phase der kultausübung und damit als eine soziale und liturgisch-performative kategorie3, andererseits im Zusammenhang mit der materiellen Ausgestaltung des sakralraums, also hinsichtlich seiner architektonischen Gestalt wie auch in Bezug auf seine Ausstattung4. normative Festsetzungen von Verhaltensregeln und deren einhaltung als Zugangsvoraussetzung zum Heiligen wurden immer wieder als unverzichtbar betrachtet5. regelhafte Vorgaben zur Ausstattung eines kirchenbaus 1
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Γράφεις μοι, εἰ ἄρα πρεπωδέστατον εἴη (. . .): neilos v. Ankyra, Brief an olympiodoros eparchos, zitiert nach Hans Georg thümmel, Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre. texte und untersuchungen zur Zeit vor dem Bilderstreit (texte und untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 139), Berlin 1992, 310 nr. 34. respondenz zum Beitrag von robert schick rüdiger peuckert, norm, soziale, in: Grundbegriffe der soziologie, hg. v. Johannes kopp / Bernhard schäfers, wiesbaden 102010, 215 – 218; Barbara merker / Georg mohr / Ludwig siep, einleitung, in: Angemessenheit. Zur rehabilitierung einer philosophischen Metapher, hg. v. Barbara merker / Georg mohr / Ludwig siep, Würzburg 1998, 9 – 20; Thomas rentsch, wie läßt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von schönheit, Metaphysik und Lebenswelt, in: Angemessenheit. Zur rehabilitierung einer philosophischen Metapher, hg. v. Barbara merker / Georg mohr / Ludwig siep, Würzburg 1998, 161 – 173; Armin müller, Geziemende (das), in: Historisches wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hg. v. Joachim ritter, Darmstadt 1974, 623 – 626. Albrecht dihle, Art. Heilig, in: reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 14, hg. v. ernst dAssmAnn u. a., Stuttgart 1988, 1 – 63, bes. 55 – 58; Emmanuel von severus, Art. Gebet I, in: reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 8, hg. v. theodor klAuser u. a., stuttgart 1972, 1134 – 1258, bes. 1136. Carola JäGGi, Das kontrollierte Bild. Auseinandersetzungen um Bedeutung und Gebrauch von Bildern in der christlichen Frühzeit und im Mittelalter, in: Medien unter kontrolle, hg. v. sven GrAmpp / Daniel meier / sandra rühr, Erlangen 2009, 18 – 31 (http://www.alles-buch.unierlangen.de/Medien-unter-Kontrolle.pdf; abgerufen am 22. August 2013). Vgl. etwa die acht dem schutz der raumheiligkeit der kirche und der unterscheidung von Heiligem und Profanem gewidmeten Kanones des Konzils Quinisextum (692); Concilium Quinisextum. Das konzil Quinisextum, übersetzt und eingeleitet von Heinz ohme (Fontes Christiani 82), turnhout 2006, 101.
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mit einer größeren geographischen Verbreitung entwickelten sich jedoch nicht. Die Ansichten, welche Gestaltung in einem solchen Ambiente statthaft sei, konnten je nach urteilender Persönlichkeit stark variieren6. Auch vor diesem Hintergrund entwickelte sich bereits früh im Christentum eine kontroverse Diskussion zum thema der bildlichen Ausgestaltung des kultraumes und zum allgemeinen Bildgebrauch, kontroversen, die in den unterschiedlichen „Bilderstürmen“ gipfelten7. Das Phänomen der „ikonophoben“ eingriffe in die Mosaikprogramme von kirchen und synagogen Palaestinas zeigt sich als zeitlich und regional begrenzte Maßnahme8. Die allem Anschein nach von den christlichen bzw. jüdischen Gemeinden selbst vorgenommenen Veränderungen bezeugen einen Mentalitätswandel hinsichtlich der Ausstattungskonzeptionen von sakralbauten, der offenbar in gleicher weise von den untergruppierungen des Christentums in der region (Chalkedonenser und Miaphysiten) vollzogen wurde. Als resultat dieses Mentalitätswandels entstehen die rein geometrischen Mosaikdekore des 8. Jh. Anhand der archäologischen Befunde lassen sich als mutmaßlicher zeitlicher rahmen für die eingriffe die Jahrzehnte um die Mitte des 8. Jh. annehmen. robert schick plädiert mit Blick auf das Beispiel der klosterkirche von ’Ayn al-kanisah für den Zeitraum zwischen den frühen 720er Jahren und 762 n. Chr. Die im Jahr 762 erfolgte Wiederherstellung einzelner figürlicher Darstellungen in der Mosaikausstattung von ’Ayn al-kanisah veranlasst schick, das Phänomen als einen vorübergehenden Prozess zu verstehen, der zu diesem Zeitpunkt zu einem ende gelangte9. Als Auslöser des wandels ist expliziter oder impliziter äußerer Druck durch die muslimischen Machthaber in der region angenommen worden. Die eingriffe hätten demnach, wie schick erwägt, in der Phase nach der Machtübernahme der Abbasiden eine „Vorsichtsmaßnahme“ darstellen können, eine Anpassung, wie sie sich auch in einer Veränderung der Zeitrechnung manifestierte. Möglicherweise dienten sie aber auch als Loyalitätsbezeugung der obrigkeit gegenüber oder waren eine reaktion auf direkten Druck, etwa durch die Gesetzgebung10. Andererseits lässt sich das
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JäGGi, Das kontrollierte Bild (wie Anm. 4), 19. Leslie BruBAker, eighth-Century Iconoclasms. Arab, Byzantine, Carolingian, and Palestinian, in: ΑΝΑΘΗΜΑΤΑ ΕΟΡΤΙΚΑ. Studies in Honor of Thomas F. Mathews, hg. v. Joseph D. Alchermes / Helen C. evAns / thelma k. thomAs, Mainz 2009, 73 – 81; JäGGi, Das kontrollierte Bild (wie Anm. 4); Alex stock, Frühchristliche Bildpolemik. Das neue testament und die Polemik des 2. Jahrhunderts, in: Handbuch der Bildtheologie, Bd. I. Bild-Konflikte, hg. v. Reinhard hoeps, Paderborn / München / Wien / Zürich 2007, 120 – 138; Gervais Dumeige, Nizäa II (Geschichte der ökumenischen Konzilien Bd. IV), Mainz 1985, 21 – 26. Zur folgenden Passage siehe jeweils die Ausführungen von robert schick in diesem Band. Zu fragen bleibt, welche mögliche rolle die besonderen umstände einer geschlossenen klostergemeinschaft, zu der der Bau gehörte, gespielt haben können oder ob sich möglicherweise die Faktoren, die ursprünglich zu den ikonophoben Maßnahmen geführt hatten, für die Mönchsgemeinschaft änderten. Da der Bau das bisher einzige Beispiel einer solchen großflächigen Wiederherstellung darstellt, müssen diese Fragen zunächst offen bleiben. Zu den möglichen auslösenden Faktoren der ikonophoben eingriffe siehe neben dem Beitrag von robert schick in diesem Band noch zusammenfassend BruBAker, eighth-Century
Der Aspekt des „Geziemenden“ in den Bildausstattungen sakraler räume
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Phänomen auch als Ausdruck einer innerchristlichen Bildkritik verstehen. Fraglich bleibt, ob sich damals im Christentum selbst – wie Maguire annimmt – eine Bildkritik gegen überbordende Darstellungen der natur im Allgemeinen richtete11 oder in subtilerer Form entstand, d. h. als aus sozialem Druck erwachsender skepsis, die in einer Gemeinschaft gedieh, deren soziale umgebung den Bildern zum teil ablehnend gegenüberstand12. Die Diskussion berührt somit auch ein themengebiet, das die „Ikonophobie“ besonders in den Fokus einer tagung zu „sakralität und Devianz“ rückt: Die Frage nach der angemessenen Ausstattung des sakralraumes als ort des Gebetes und des kontaktes mit Gott. Vorstellungen von Angemessenheit, des „schicklichen“, „Geziemenden“, lateinisch „decorum“, griechisch „πρέπον“13, bezüglich der Ausschmückung des kirchenraums, werden jeweils auch durch die Funktionszuweisungen determiniert, die an die Ausstattungen eines sakralbaus herangetragen werden. Im Falle des frühbyzantinischen kirchenbaus des nahen ostens sind dies verschiedene Aspekte: Den Forschungen Henry Maguires zufolge sollten Abbilder der belebten natur, der schöpfung und des kosmos im kirchenzusammenhang, etwa in den Mosaikböden, auch dem Lobpreis Gottes als schöpfer dienen14. Gerade eine solche Funktion von Bildern kritisieren allerdings die islamischen Hadithe, die Verschriftlichungen mündlicher erzählungen der taten und Aussprüche des Propheten Mohammed,
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Iconoclasms (wie Anm. 7), 80 f.; Ute versteGen, Bildformationen und Bildanpassungen. Genese- und Hybridisierungsprozesse der frühchristlichen Bildkultur im kontakt zu anderen Religionen, in: Wechsel der Religionen – Religionen des Wechsels. Tagungsbeiträge der AG spätantike und Frühmittelalter 5 (stud. spätant. u. Frühmittelalter 4), hg. v. niklot krohn / sebastian ristow, Hamburg 2012, 97 – 101; Peter BAumAnn, spätantike stifter im Heiligen Land. Darstellungen und Inschriften auf Bodenmosaiken in kirchen, synagogen und Privathäusern. (spätantike, frühes Christentum, Byzanz, reihe B, studien und Perspektiven 5) Wiesbaden 1999, 46 – 48. Henry mAGuire, nectar and illusion. nature in Byzantine art and literature (onassis series in Hellenic culture), Oxford u. a. 2012, 11 – 47. Finbarr B. flood, Christian Mosaics in early Islamic Jordan and Palestine. A Case of regional Iconoclasm, in: Byzantium and Islam. Age of Transition, 7th – 9th Century, hg. v. Helen C. evAns, New Haven 2012, 117; versteGen, Bildformationen und Bildanpassungen (wie Anm. 10), 98. müller, Geziemende (das) (wie Anm. 2); JäGGi, Das kontrollierte Bild (wie Anm. 4), 19; Vitruv bezog den in der rhetoriktheorie grundlegenden ästhetischen Begriff des „decorum“ im 1. Jh. v. Chr. in seinen „Zehn Büchern über Architektur“ (I, 2,5) auf tempelbauten, die, sollten sie in ihrer Gestaltung der jeweiligen Gottheit angemessen sein und einen gefälligen Anblick bieten, nach bestimmten überlieferten und anerkannten Regeln gebaut werden sollten; Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Curt fensterBusch, Darmstadt 1987; Vgl. zur Frage der Angemessenheit als ästhetischer Kategorie auch rentsch, Wie läßt sich Angemessenheit ästhetisch denken? (wie Anm. 2), 161 – 164; Zur Ästhetik und den verschiedenen ebenen von πρέπον und decorum siehe auch Mario perniolA, Dal πρεπόν al decorum. Note sulla bellezza effettiva, Rivista di estetica 22, 12 (1982), 44 – 52. Henry mAGuire, earth and ocean. the terrestrial world in early Byzantine art (Monographs on the fine arts 43), Philadelphia 1987, 83 und passim; mAGuire, nectar and illusion (wie Anm. 11), 4.
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zusammengestellt wohl im ausgehenden 8. und im Laufe des 9. Jh.15. sie illustrieren damit den Hintergrund der ablehnenden Haltung des frühen Islam gegenüber den Darstellungen von Lebewesen. Die Hadithe sehen im Bild nur eine unfertige Vorstufe der Schöpfung, das Abbilden damit als ein sträfliches Nachäffen des göttlichen schöpfungsaktes, als ein zu bestrafendes sakrileg16. Auch auf christlicher seite sind diese Dekore auf Ablehnung und unverständnis gestoßen17. so bezeichnete neilos von Ankyra, gest. um 430, in einem Brief an den eparchen olympiodoros Darstellungen dieser Art als „Augenlust“, als „kindisch“, nur dazu geeignet, „das Auge der Gläubigen zu verführen“18. eine weitere Funktion von frühchristlichen kirchenausstattung dieser Zeit ist die bildliche Darstellung der biblischen erzählungen zum Zwecke der Belehrung der Gläubigen, damit als „Armenbibel“ der Illiterati, wobei z. B. auch Märtyrerdarstellungen zum Ansporn und zur unterweisung der Gemeindemitglieder dienen sollten. Frühe Hinweise auf einen solchen Anspruch an malerische Ausstattungen geben Paulinus von nola, Gregor der Große und Johannes von Damaskus19. ein wichtiger Aspekt des Gemeindelebens war allerdings auch die repräsentation der Auftraggeber der Mosaikausstattungen als Mitglieder einer gebildeten elite in der Gemeinschaft der Gläubigen durch stifterbilder und -inschriften innerhalb der Ausstattungskonzepte. Die Forschungen zum stifterwesen im spätantiken nahen osten haben gezeigt, dass kirchliche Mosaikprogramme in frühbyzantinischer Zeit mit ihren
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rudi pAret, Die entstehungszeit des islamischen Bilderverbots, kunst des orients 11, 1/2 (1976/1977), 158 – 181, bes. 160. Die Anfänge einer solchen Diskussion sind sicherlich schon früher anzusetzen; ebd., 177. pAret, Die entstehungszeit des islamischen Bilderverbots (wie Anm. 15), 158, 162. JäGGi, Das kontrollierte Bild (wie Anm. 4), 20 – 22; thümmel, Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre (wie Anm. 1). Giovanni Domenico mAnsi, sacrorum conciliorum nova at amplissima collectio, Bd. 13 Anni 787 – 814, Graz 1960, Nachdruck Ausgabe Paris 1902, 36 A–D; thümmel, Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre (wie Anm. 1), 78 f. (Übersetzung), 310 nr. 43 (text). In der Briefpassage, die eine Bemalung der wände des kircheninnenraums mit szenen des At und nt zur Belehrung der Gläubigen empfiehlt (Thümmel,Verse 18 – 23), ist wohl ein ikonodulischer Zusatz zur stärkung der eigenen Position auf dem 2. konzil von nizäa zu sehen, auf dem der so veränderte Brief des Neilos durch die Bilderbefürworter als Väterzeugnis beigezogen wurde; Hans Georg thümmel, neilos von Ankyra über die Bilder, Byzantinische Zeitschrift 71 (1978), 10 – 21. Paulinus von Nola, Carm. XXVII, 548 u. 580 – 584 (Sancti Pontii Meropii Paulini Nolani Carmina, hg. und komm. v. wilhelm von hArtel, Prag u. a. 1894, 286, 288): sed turba frequentior hic est rusticitas non cassa fide neque docta legendi. (. . .) propterea uisum nobis opus utile totis Felicis domibus pictura ludere sancta, si forte adtonitas haec per spectacula mentes agrestum caperet fucata coloribus umbra, (. . .); Gregor der Große, Ep. lib. 9, 105 (PL 77, 1027 D – 1028 A): Idcirco enim pictura in Ecclesiis adhibetur, ut hi, qui litteras nesciunt, saltem in parietibus videndo legant, quae legere in Codicibus non valent.; Johannes von Damaskus, Orationes de imaginibus tres 1, 17 (P. B. kotter, Die schriften des Johannes von Damaskos, Bd. 3 [Patristische texte und studien 17], Berlin 1975, 93): ὑπόμνημα γάρ ἐστιν ἡ εἰκών. Καὶ ὅπερ τοῖς γράμματα μεμυημένοις ἡ βίβλος, τοῦτο τοῖς ἀγραμμάτοις ἡ εἰκών; thümmel, neilos von Ankyra über die Bilder (wie Anm. 18), 18.
Der Aspekt des „Geziemenden“ in den Bildausstattungen sakraler räume
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Darstellungen aus natur, Landleben und Jagd ein offenbar unverzichtbares Ambiente christlicher stifterlicher repräsentation innerhalb der kirchenbauten bildeten20. Diese jeweiligen Funktionszuweisungen, in diesem Fall schöpferlob, Illustration und stifterrepräsentation, werden in den einzelnen Fällen durch den kulturellen Hintergrund, durch Vorstellungen vom kult und vom sozialen Leben der Gemeinde bestimmt. Ändern sich diese Kontexte, etwa durch den Einfluss einer differierenden Glaubensrichtung, so verändern sich auch die damit verbundenen Vorstellungen von Angemessenheit21. Die ikonophoben Zerstörungen erweisen sich somit als materielle spuren eines Diskursphänomens, einer Auseinandersetzung über eine angemessene Annäherung an das Heilige, wobei sich aus heutiger sicht die Möglichkeit der zumindest teilweisen rekonstruktion eines historischen Heiligkeitsverständnisses ergibt. Die Handlungen zeigen sich als Phänomen einer Interaktion von Christentum und frühem Islam in einer region und in einer Zeit der generellen Bilddiskussion, die verschiedene Formen der Ablehnung wie der Annahme der Bilder zur Folge hatte22. In seiner zum teil nur halbherzigen, vielleicht auch eher symbolischen Ausführung bezeugt das Phänomen keinen kurzfristig eskalierenden Konflikt, der zu einem einzigen Zeitpunkt mit aller Macht auf alle Anteile der Gesellschaft in gleicher Intensität einwirkte23. Vielmehr zeigt sich hier eine Diskursaufladung vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass unangemessenes den Zugang zum Heiligen verunmöglicht bzw. auch eine Bestrafung für die Übertretung nach sich ziehen kann24. Darauf, wie stark ein solches „Ringen um Angemessenheit“ die Gesellschaft der Region beeinflusst hat, verweist die weite Verbreitung des Phänomens im Laufe der Zeit.
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BAumAnn, spätantike stifter im Heiligen Land (wie Anm. 10). Zum jeweiligen (Gebrauchs-)kontext als Determinante der unterschiedlichen „Angemessenheitsmodi“ vgl. rentsch, wie läßt sich Angemessenheit ästhetisch denken? (wie Anm. 1), 162. BruBAker, Eighth-Century Iconoclasms (wie Anm. 7), 73 f., 79 – 81. BruBAker, eighth-Century Iconoclasms (wie Anm. 7), 80 f. „nur das ‚richtige‘ wort und die ‚richtige‘ Handlung rufen die erwünschte reaktion der als Machtträger überlegenen (. . .) Gottheit hervor, während verkehrtes Verhalten nicht nur das Ziel, mit der Gottheit Verbindung aufzunehmen, verfehlt, sondern darüber hinaus den Beter in Gefahr bringen kann.“; severus, Art. Gebet I (wie Anm. 3), 1136.
IM soG Des reInen nICHts. Zur konkurrenZ PHILosoPHIsCH-tHeoLoGIsCHer ursPrunGskonZePte IM sPätMItteLALter. susanne köbele für Alois M. Haas zum 80. Geburtstag
I. nihil ex nihilo? „him hanfang war das wort“ Vom nichts geht eine fundamentale Anziehung aus. Versucht man, ebenso fasziniert wie verunsichert, sich das nichts vorzustellen, stellt man sich freilich alles Mögliche vor, nur nicht nichts. Denn die Phantasie verträgt keinen leeren raum. Das nichts? schon „Leere“ ist nicht nichts, sondern dessen imaginative (räumliche) konkretisierung. und nicht nur intuitive Vorstellungen, sondern auch systematische Diskursivierungen des nichts stoßen rasch an Grenzen. wie verhält sich die metaphysische Konstruktion absoluter Negativität – die Idee des „reinen“ Nichts (purum nihil) – zu relativen Konzepten eines mehr oder weniger großen, vorbehaltlichen quasi nihil? Zielt das „nichts“ auf seine ontologische Abwertung: auf einen seinsschwachen Mangelzustand wie in der platonischen kosmologie, auf qualitative nichtigkeit wie im christlichen Contemptus mundi-Diskurs? oder zielt das „nichts“ im genauen Gegenteil auf die Markierung absoluter Alterität des Göttlichen, wie in der tradition der negativen theologie, die das nichts zum exklusiven Gottesprädikat macht: Gott als nichts von allem? Ist der Gegensatz zum nichts also seiendes (welt, etwas) oder das absolute sein (Gott, Alles)? und was sollte den Vorbehalt eines quasi nihil rechtfertigen, den komparativ eines mehr oder weniger reinen nichts? Anders gefragt: Ist der Gegensatz von nichts und etwas ein symmetrischer oder asymmetrischer, ein relativer oder absoluter Gegensatz? schließlich: wie sollte es das nichts überhaupt geben? Gäbe es das nichts, wäre es doch nicht „nichts“? wenn also das nichts nur als Anschauungsform, als Vorstellungsgröße existierte, ist es dann eine Metapher? oder ein differenzloser Begriff, Grenzbegriff für die „leere 1
kants subtile transzendentale Analytik reformuliert die metaphysische nichtsspekulation als erkenntnisdebatte und unterscheidet vier Begriffe von ‚nichts‘: 1. leerer Begriff ohne Gegenstand, 2. leerer Gegenstand eines Begriffs, 3. leere Anschauung ohne Gegenstand, 4. leerer Gegenstand ohne Begriff. „Man siehet, daß das Gedankending (n. 1.) von dem undinge (n. 4.) dadurch unterschieden werde, daß jenes nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden darf, weil es bloß erdichtung (obzwar nicht widersprechende) ist, dieses aber der Möglichkeit entgegengesetzt ist, indem der Begriff sogar sich selbst aufhebt. Beide sind aber leere Begriffe. Dagegen sind das nihil privativum (n. 2.) und ens imaginarium (n. 3.) leere Data zu Begriffen. wenn das Licht nicht den sinnen gegeben worden, so kann man sich auch keine Finsternis, und, wenn nicht
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Abstraktion“1 eines Zustands undenkbarer reiner negativität? Die vielen Fragezeichen weisen auf Mehrdeutiges und unabgestimmtes. Dem sog unabschließbarer Paradoxien2 erliegen auf ihre weise auch die modernen naturwissenschaften, wenn sie das nichts als „Vakuum“ fassen, als graduelle Abwesenheit von Materie, und für den auch quantenphysikalisch heiklen Übergang vom nichts zum etwas die rede vom kosmogonischen „symmetriebruch“ bemühen oder, in einem wieder anderen Diskurs, die Metapher des „urknalls“. Vor allem letztere ist eine modelltheoretisch recht zuversichtliche Beschreibung für das, wovon wir wenig wissen: absolute Anfänge. „knall“ ist dabei noch ein bisschen weniger Nichts als „Vakuum“; immerhin ein Nichts, das „knallt“. ein absolutes Vakuum, ein „rein energetischer“ Zustand jenseits von raumzeit und Materie, scheint dabei weder technisch herstellbar noch im interstellaren oder intergalaktischen raum überhaupt messbar. es gibt eine immanente Grenze der mathematischen, physikalischen und metaphysischen theoretisierbarkeit des Phänomens, auf die nicht nur das metaphorische Potential der metaphysischen Beschreibungsbegriffe weist (purum nihil, nihil privativum), sondern auch die sich ad infinitum reduplizierende physikalische nomenklatur (‚Feinvakuum‘, ‚Hochvakuum‘, ‚ultrahochvakuum‘, usf.)3. und nicht immer wird in den, sei es gegenwärtigen, sei es historischen Debatten der verschiedenen Disziplinen transparent, ob für das nichts Beobachtungsparadoxien virulent werden, auf formallogischer, erkenntniskritischer bzw. phänomenologischer ebene, oder ob die Argumentation sich auf substanzontologische, axiologische oder existenzielle Paradoxien einlässt, was das nachdenken über das nichts nicht übersichtlicher macht. Feststeht nur: Die postmetaphysischen ursprungsgeschichten lassen für das Verhältnis von etwas und nichts mindestens so viele Fragen offen wie die großen alternativen Geschichten der antiken und christlichen ursprungsmetaphysik. Gewissermaßen als Flucht nach vorn ist das nichts daher von Anfang an immer auch negiert worden, besonders folgenreich in der Physik des Aristoteles, dessen wirkmächtige Horror vacui-Hypothese im rückgriff auf vorsokratische
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ausgedehnte wesen wahrgenommen worden, keinen raum vorstellen. Die negation sowohl, als die bloße Form der Anschauung, sind, ohne ein reales, keine objekte.“ Immanuel kant, kritik der reinen Vernunft, hg. v. wilhelm weischedel, 2 Bde. (=III und IV der v. weischedel herausgegebenen werkausgabe), Frankfurt am Main 1974, hier Bd. 1, 307 (B 348). Das nichts macht eine erstaunliche karriere in der Philosophiegeschichte, und kant ist dabei eine entscheidende Zäsur. Hegel erklärt sowohl reines sein wie reines nichts gleichermaßen als „unbestimmtes unmittelbares“ zur „reinen Abstraktion“. Vgl. dazu Markus wirtz, Geschichten des nichts. Hegel, nietzsche, Heidegger und das Problem der philosophischen Pluralität, Freiburg / München 2006. Zur inhärenten Paradoxie und offenen semantik des nichts auch karen Gloy, Die paradoxale Verfassung des Nichts, Kantstudien 74 (1983) 133 – 160; Bernhard welte, Über die verschiedenen Bedeutungen des nichts, in: Denken im schatten des nihilismus. Festschrift für wilhelm weischedel zu seinem 70. Geburtstag, hg. v. Alexander schwAn, Darmstadt 1975, 26 – 33. Vgl. Frank close, Das nichts verstehen. Die suche nach dem Vakuum und die entwicklung der Quantenphysik. Aus dem englischen v. thomas Filk, Heidelberg 2009 (nothing: a very short introduction, oxford 2009).
Zur konkurrenz philosophisch-theologischer ursprungskonzepte im spätmittelalter
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Positionen nicht nur eine Irrealität des Leeren proklamiert, sondern zugleich dessen formallogische unmöglichkeit4. Das Christentum antwortet auf seine weise auf den Horror vacui: Indem das reine nichts Gott selbst sein soll, nimmt man ihm seinen schrecken. Durchaus noch ambivalent bleibt die Faszination, mit der die pneumatischen experimente der Frühen neuzeit aufgenommen wurden, wie sie etwa otto von Guericke in der Mitte des 17. Jahrhunderts durchführte und als poetische kosmologie bilanzierte, im Grenzbereich von naturerkenntnis, theologie und Literatur. Zwar gehörte „die Vakuumpumpe [. . .] zur ‚Grundlagenforschung‘ des Barock“, doch je theophysikalischer die Argumentation zugunsten der entdeckten unendlichkeit des ‚leeren raums‘ war, umso literarischer, ja hymnischer die Darstellung der experimente5. Die Ursprungsfrage – Kern aller Metaphysik und zugleich Kinderfrage – lautet: warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? weil aus dem nichts Gott alles geschaffen hat? Das Christentum hatte über 2000 Jahre Zeit, sich an diese Vorstellung einer creatio ex nihilo zu gewöhnen, doch als sie aufkam und unter den griechischrömisch Gebildeten der spätantike publik wurde, war der spott groß über die fremde („sehr einfältige“) Vorstellung eines Gottes, der aus Langeweile oder aus Liebesbedürftigkeit, jedenfalls sich selbst nicht genug, aus dem nichts eine welt erschaffen habe, noch dazu eine vergängliche, erlösungsbedürftige. Bereits im 2. nachchristlichen Jahrhundert hat Kelsos, Philosoph unter dem Einfluss platonischer Lehren, gründlich gegen diese Auffassung polemisiert, mit einer frontalen Attacke gegen die Christen, die mit ihrem so unvernünftigen wie verführerischen sonderweg das menschliche Gemeinwesen spalten würden, abweichend von aller logischen rationalität, auch von aller ethischen norm. Die Argumentation des kelsos erschöpft sich nicht in antichristlicher Polemik, sondern zielt als streitschrift und werbeschrift protreptischer Art zugleich auf die „Bekehrung“ der in ihren „barbarischen“ Irrtümern und „vulgären“ ethischen Lehren befangenen Christen6. Besonders hart trifft der spott die Vorstellung einer heilsgeschichtlich gerahmten creatio ex nihilo: wie können die Christen der göttlichen schöpfung tage zuteilen, sieben, noch ehe tage
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Aristoteles, Physikvorlesung, übersetzt v. Hans wAGner, Darmstadt 1967, Buch IV, Kap. 6 – 9 (= S. 95 – 109): Durch Ansaugen von Gas oder Flüssigkeit kompensiere die Natur ihre „Abscheu“ vor leeren räumen. Friedrich vollhArdt, otto von Guerickes Magdeburger Versuche über den leeren raum. untersuchungen zum Verhältnis von naturerkenntnis und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, in: Prolegomena zur kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger raums, hg. v. Michael schillinG / Gunter schAnderA, Magdeburg 1999, 165 – 185, hier 166. Die ‚wahre Lehre‘ des kelsos. Übersetzt und erklärt von Horacio e. lonA, Freiburg 2005 (kfA Ergänzungsband 1), v. a. 363 – 379 (‚Das Mißverständnis hinsichtlich der Entstehung der Welt‘ 6, 49 – 65), hier bereits 1, 2a (= 74) und 1,4 (= 76). Vgl. auch Origenes: Contra Celsum libri VIII, hg. v. Miroslav mArcovich, Leiden 2001; außerdem Michael frede, Celsus philosophus Platonicus, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II. 36.7, Berlin 1994, 5183 – 5213; der text des Alethes Logos ist auch zugänglich in der deutschen Übersetzung von keim von 1872 (Celsus, Gegen die Christen. Aus dem Griechischen v. theodor keim. Mit Beiträgen v. Friedrich W. Korff und Ernst Fuhrmann, München 1991, v. a. 155 – 159, „4. Die Frage der weltschöpfung“).
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(‚Zeit‘) überhaupt vorhanden seien? Zu schweigen von der albernen Bepflanzung des Paradieses: „Ferner ist auch ihre erzählung von der weltschöpfung sehr einfältig, wie auch der Bericht von der Entstehung der Menschen sehr einfältig ist: Das von Gott gepflanzte Paradies und das erste Leben des Menschen darin [. . .]. weit törichter ist es, die erschaffung der welt nur einigen tagen zuzurechnen (und das) bevor es überhaupt tage gab7.“
Den teufel habe der schöpfergott auch übersehen, am ende der welt gebe es dann lauter Auferstehungen und ein Jüngstes Gericht – absurd in den Augen eines Philosophen, der, geschult an antiker kosmologie und theogonie, die welt sich durchaus nach verschiedenen richtungen vorstellen kann, entweder (aristotelisch) „ungeworden und unvergänglich“ oder (mit Platons ‚timaios‘) „geworden, aber unvergänglich“, oder, mit listiger Zusatzdistinktion, „ungeworden im Blick auf das, was in unordnung war, dagegen geworden im Blick auf die aktuelle ordnung durch Gott“8. In keinem Fall jedoch ist kelsos bereit, sich die welt als „geschaffene“ vorzustellen. Das sei „bodenloses Geschwätz“ von Moses und den Propheten (6,50 = s. 363). Man erkennt, welche errungenschaft für das noch junge Christentum Modelle hermeneutischer Differenzierung – die Spaltung in einen buchstäblichen und allegorischen Schriftsinn – werden: Die anstößigen sechs Schöpfungstage bezeichnen denn auch seit der frühen Patristik keine zeitliche sukzession, sondern allegorice göttliche Simultaneität, aufgrund einer signifikanten „Heiligkeit“ der Zahl Sechs9. Bereits jener (rare) frühe Fall einer systematischen antichristlichen „Apologie der griechischen Überlieferung“10 des kelsos zielt also auf einen neuralgischen Punkt des Verhältnisses Gottes zur welt, und das heißt auch auf den christlichen schöpfungsglauben, der das Problem des absoluten Anfangs mit einer widersprüchlichen creatio ex nihilo-Metaphysik beantwortet, die einerseits auf der kategorialen Differenz von
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ebd., 6, 49 f. (= 363). so zerlegt kelsos den christlichen schöpfungsglauben aus griechischer Perspektive in drei Varianten: „die entstehung der welt und ihr Vergehen, ob sie ungeworden und unvergänglich, oder geworden aber unvergänglich, oder umgekehrt“ (6, 52a, lonA, Die ‚wahre Lehre‘ des kelsos, wie Anm. 6, 367); zu den latenten philosophiehistorischen Filiationen und der Uneindeutigkeit dieser textstelle (logische oder zeitliche Priorität kosmischer Anfangslosigkeit?) vgl. den kommentar von lonA, Die ‚Wahre Lehre‘ des Kelsos (wie Anm. 6), 367 – 369. Alois Maria hAAs, Das nichts Gottes und seine sprengmetaphorik, in: Lese-Zeichen. semiotik und Hermeneutik in raum und Zeit. Festschrift für Peter rusterholz zum 65. Geburtstag, hg. v. Henriette herwiG / Irmgard wirtz / stefan Bodo würffel, Tübingen / Basel 1999, 53 – 70. Zur Dissonanz von griechisch-antiker kosmogonie und christlicher schöpfungstheologie vgl. Gershom scholem, schöpfung aus nichts und selbstverschränkung Gottes, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, hg. v. dems., Frankfurt am Main 1970, 53 – 89, hier 54 f. Außerdem im Überblick theo koBusch, Art. ‚nichts, nichtseiendes‘, in: Historisches wörterbuch der Philosophie 6, hg. v. Joachim ritter / karlfried Gründer / Gottfried GABriel, Basel 1984, 805 – 836. Zu antiken Diskursen über das Nichts zusammenfassend auch wirtz, Geschichten des Nichts (wie Anm. 2), 102 – 108; mit Blick auf Bernardus Silvestris zuletzt Christian kieninG, schöpfungszeit, erscheint in: Gleichzeitigkeit. narrative synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen neuzeit, hg. v. susanne köBele / Coralie rippl. lonA, Die ‚wahre Lehre‘ des kelsos (wie Anm. 6), 22.
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schöpfer und schöpfung beharrt, anderseits an der ähnlichkeit (ebenbildlichkeit) des Geschaffenen festhält und Gott aus sich selbst in die Zeit heraustreten lässt, ohne seine konstitutive Selbstidentität, seine Simultaneität und Selbstsuffizienz widerlegt zu finden. Das alles in einer Geschichte vom Anfang der Welt unterzubringen, ist nicht einfach. so gibt es denn auch eine zweite biblische ursprungsgeschichte neben Genesis 1,1, die die Geschichte anders erzählt, anders widersprüchlich, mit auffällig kreisförmiger, als rhetorische kyklos-Figur angelegter subjekt-substitution: Am Anfang war das wort, und das wort war bei Gott, und Gott war das wort, und das wort ist Fleisch geworden (Ioh 1,1). Hören wir diesen biblischen schöpfungsmythos vom wort und seiner Fleischwerdung in der welt einmal anders, nämlich als: fortschreitende räude11 him hanfang war das wort hund das wort war bei gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch geworden hund hat hunter huns gewohnt him hanflang war das wort hund das wort war blei flott hund flott war das wort hund das wort hist fleisch gewlorden hund hat hunter huns gewlohnt schim schanflang war das wort schund das wort war blei flott schund flott war das wort schund das wort schist fleisch gewlorden schund schat schunter schuns gewlohnt schim schanschlang schar das wort schlund schasch wort schar schlei schlott schund flott war das wort schund schasch fort schist schleisch schleschlorden schund schat schlunter schluns scheschlohnt s———————————c——————————h s———————————c——————————h schllls—————————c——————————h flottsch
ernst Jandls ironische transformation der johanneischen Logos-Metaphysik schöpft den Abweichungsspielraum der Literatur maximal aus, einen Abweichungsspielraum, der das Medium Literatur als funktionsentlastete, ontologisch indifferente „kunst des Möglichen“12grundsätzlich auszeichnet. Jandls lyrische rekonstruktion der prominenten ursprungserzählung distanziert den biblischen Ausgangstext im Modus einer verfremdenden sprachklang-ästhetik, die bei allem Anschein assoziativ fortschreitender Improvisation bis ins kleinste Detail auskomponiert ist. Gott war das „wort“ (Str. 1), „flott“ war das Wort (Str. 2) und – als Fleisch – „hund“, aber auch „schund“ (Str. 3), und am Schluss ist es flott, Gott, Schund und Fleisch zugleich: eben „flottsch“. Mehr Präzision kann man für den Übergang vom Nichtsein zum
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ernst JAndl, Der künstliche Baum, neuwied a. rhein / Berlin 1970, 109. Andreas kABlitz, kunst des Möglichen. theorie der Literatur (rombach wissenschaften reihe Litterae 190), Freiburg i. Br. / Berlin / wien 2013.
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sein nicht verlangen. Vorgetragen, gesprochen durch den Autor selbst13, wirkt Jandls subversives klangexperiment einerseits vergnüglich. Zugleich aber lässt gerade der emphatische Vortrag durch den Autor zweifeln an der semantischen unschuld der kernbegriffe und verleiht insbesondere dem schluss des Gedichts eine überraschend ernste Dringlichkeit. Jandls schöpfungsgeschichte kündigt sich schon mit seinem unappetitlichen titel als fortschreitender Verfallsprozess an, als Pathologie: „fortschreitende räude“. räude haben Hunde. Durch Milbenbefall fallen ihnen die Haare aus, wie den wörtern in Jandls Gedicht einzelne Buchstaben. Die erste strophe nimmt die Hauchung durch den heiligen Geist gewissermaßen wörtlich: „him hanfang war das wort“, und macht daher nur konsequent die konjunktion ‚und‘ zum „hund“, mit dem effekt, dass die syntax in die schwebe kommt und zum schluss der strophe der Hund (nicht das wort) „hunter huns gewohnt“ hat, eben als räudiges Fleisch. Die zweite strophe hält an der Hauchung fest und führt zusätzlich ein deplaziertes ‚l‘ ein: „him hanflang“, wodurch wieder die syntax sich neu ordnet. Denn das wort war nicht ‚bei‘ Gott, sondern ‚Blei‘. Doch der Vers hält sich nicht lang auf beim Gewicht der worte, im Gegenteil. Denn der zweite Vers der strophe macht mithilfe desselben überschüssigen ‚l‘ aus dem evangelientext ‚Gott war das wort‘ ein ironisches „flott war das wort“. und spätestens am Anfang der dritten strophe, die die Hauchung /h/ in ein /sch/ erweitert und die konjunktion ‚und‘ entsprechend vom „hund“ („hlund“) zum „schlund“ befördert („schim schanschlang schar das wort schlund [. . .]“), ist klar: Alle drei lautlichen Zusätze (die Phoneme /h/, /l/ und /sch/) sind dem schlüsselwort des Textes: „fleisch“ entnommen, so dass im Textverlauf die geistbehauchte Fleischwerdung des wortes sich gewissermaßen klanglich materialisiert als zwar flotter, aber ausdrücklich degenerativer Vorgang. „schund“ war das Wort, räudiges Fleisch, nicht Geist, sondern im Gegenteil „blei“. Zwischendurch, in der vierten strophe, geht das wort gar verloren: „fort“ war das wort. Ganz zum schluss entzieht es sich jeder semantischen Eindeutigkeit und bedeutet alles oder nichts: „flottsch“ – johanneische Logos-Metaphysik einmal anders. ob Jandls heterodoxes sprechgedicht die christliche Vorstellung einer creatio ex nihilo ironisch konfrontieren will mit der antiken kontrastposition ex nihilo nihil fit („aus nichts kann nichts werden“), diese Frage sollte Jandl erspart bleiben. Für meine folgenden Überlegungen jedoch spielt genau diese konkurrenz von antik-philosophischer und christlich-theologischer ursprungsmetaphysik eine zentrale rolle, und zwar nicht nur als intellektuelle oder ästhetische Herausforderung, sondern – im späten Mittelalter – durchaus als alarmierende Frage auf Leben und Tod. Schon mit der oben zitierten streitschrift jenes berühmten kelsos hatte sich im 2. Jahrhundert das eminente Konfliktpotential zwischen antiker und christlicher Ursprungsmetaphysik angekündigt. Die Vorstellung der ewigkeit einer sich zyklisch reproduzierenden welt schien auch der Folgezeit kategorial unvereinbar mit der christlichen Heilsteleologie, mit der Vorstellung der Geschaffenheit und Vergänglichkeit der
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ernst JAndl, him hanflang war das wort. sprechgedichte, gelesen vom Autor. CD, Berlin 1980/2000.
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welt, die, aus dem nichts geschaffen, am Jüngsten tag erlöst werden muss aus ihrer unvollkommenheit, bevor erst dann „ewigkeit“ anbrechen darf. tausend Jahre nach Kelsos bricht dieser Konflikt offen auf, und er wird, im Kontext der Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts, auf mehreren schauplätzen mit unvergleichlicher schärfe ausgefochten. II. Das nichts als „sucht nach etwas“. religiöse und literarische Devianz stehen sich die beiden eingangs angedeuteten ursprungsgeschichten, die zyklische und die teleologische, wirklich als systematisch unvereinbare Alternativen gegenüber? oder werden sie inkommensurabel überhaupt erst durch den historisch zunehmenden Außendruck philosophischer rationalisierung, dogmatischer Vereindeutigung und rechtlicher sanktionierung? Ich versuche im Folgenden, den Blick in diesem Sinn umzudrehen, und skizziere die konfliktreiche Gegensätzlichkeit der konzepte nicht als einander ablösende systematische Alternativen, nicht als inkommensurable ursprungsgeschichten, sondern als deren epochenübergreifend anzutreffende, freilich historisch je spezifische symbiotische konkurrenz. Indiz dafür könnten synchrone spannungszustände sein, wie sie vor allem in denjenigen texten anzutreffen sind, die den philosophischen, theologischen und literarischen Diskurs eng verschränken und sich auf je verschiedene weise am Paradox anfangsloser Anfänge abarbeiten, mit Auswirkungen auf die kosmologie, Anthropologie und theologie bis in die neuzeit. Denn die christliche Vorstellung der „schöpfung aus dem nichts“ war von Anfang an konfrontiert mit dem Zweifel an einer missverständlich anthropomorphen Vorstellung des deus artifex, vor allem aber mit dem Zweifel an der logischen und ontologischen Möglichkeit des nichts. „Dieses thema, das eine eigene Faszination nicht nur in der christlichen Mystik ausgeübt hat, sondern auch im islamischen und jüdischen Bereich sich mit der auf Gott bezogenen apophatischen spekulation amalgamierte, ging im 14. Jahrhundert auch in den volkssprachlichen Bereich über.“14. Das spektrum war breit. so konnten die theologisch (v. a. bibelexegetisch), philosophisch, literarisch artikulierten Paradoxien metaphysischer nichts-spekulation ebenso gut in Leerlauf und Denkblockaden führen wie umgekehrt in kreative experimente und verblüffende Innovation. Zu zweifelhafter Berühmtheit kam ein Zeitgenosse Jakob Böhmes: Jean Passerat (1534 – 1602), Rhetorikprofessor am Collège de France, dessen Hymnus auf das Nichts („Nihil“) von kaspar Dornau in das ‚Amphitheatrum sapientiae socraticae Joco-seriae‘ (1619) aufgenommen wurde15. was hier leerzulaufen droht in rhetorischer schulübung „scherz- und ernsthafter“ spielerei und sich mit einer so erwartbaren wie
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hAAs, Das nichts Gottes und seine sprengmetaphorik (wie Anm. 9), 55. Ioannis Passerati, nihil, in: Caspar Dornavius (Dornau). Amphitheatrum sapientiae socraticae Joco-seriae. schauplatz scherz- und ernsthafter weisheiten. nachdruck der Ausgabe Hanau 1619, hg. v. robert seidel (= texte der Frühen neuzeit 9), Goldbach 1995, 734.
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bescheidenen Pointe selbst als nichtigkeit (nugae) qualifiziert: ne [. . .] / De Nihilo nihili pariant fastidia versus16, kann zumindest in der epigrammatik eines Angelus silesius oder Daniel Czepko durchaus zu geistreichen Nihil-Vexierspielen führen. einerseits blieben die Freiräume quer durch die Diskurse und kultursprachen als Abweichungsspielräume dogmatisch begrenzt, denn nicht nur von außen wurde Druck abgefangen und Devianz als „Irrlehre“ (als Heterodoxie) oder poetologische Irregularität verfolgt. Auch nach innen wurden spannungen aufgelöst und potentielle widersprüche, wie in allen religiösen Glaubenssystemen, entweder durch Auslegungsprozeduren kongruent gemacht oder durch eine immer professionellere kunst der unterscheidung (die scholastische Praxis des Distinguo) auf übergeordneter ebene aufgelöst. Im Zuge dieser subtil ineinandergreifenden Verfahren einer sinnzentrierung durch sinnpluralisierung wurde die immanente Paradoxie religiöser Ursprungsgeschichten ihrerseits „der Unbegreiflichkeit Gottes zugeschrieben, wodurch sie als Attribut des Heiligen und dadurch selbst als heilig“ erschien17. Anderseits war gerade die konkurrenz philosophischer und religiöser ursprungskonstruktionen, indem sie innerhalb der christlichen kultur auf einen spannungsausgleich drängten, bis in die kontrovers rezipierte theosophische, magisch-hermetische nichts-spekulation der Frühen neuzeit18 von nicht geringer diskursiver wie ästhetischer Produktivität. Die ambivalenten, nicht selten dissidenten Positionen im umgang mit dem nichts machen, darauf will ich hinaus, nebeneinander eine je eigene evidenz geltend, wie schon innerbiblisch die beiden unterschiedlichen ursprungserzählungen Gen 1,1 und Ioh 1,1 exegetisch (allegorisch) oder diskursiv unterscheidungslogisch miteinander abgeglichen wurden und so nebeneinander wirksam bleiben konnten als schöpfung aus dem nichts durch das wort19, ohne die ‚souveränität‘ des schöpfergottes oder den ‚wahrheitsgehalt‘ der heiligen schrift zu beschädigen; darin dem Mythos vergleichbar, der sich nach Blumenberg „unvereinbare Varianten in Fülle leistet, ohne je den Aggregatzustand des widerspruchs, der Antinomie zu riskieren“20. Diskussionsbedarf entzündete sich vor allem an der Interpretation des dualistisch (konkret: manichäisch) missverständlichen ex nihilo. um die Auffassung abzuwehren, das nichts sei als dem schöpfungsakt zugrundeliegende materiale ursache bzw. selbständige Materie aufgefasst, hat man schon 16 17 18
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Ebd.; dazu vollhArdt, Versuche über den leeren raum (wie Anm. 5), 179 f. Albrecht koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main, 22012, 372. Mit Blick auf den frühneuzeitlichen Hermetismus und dessen kritische (heterogene) resonanz: Friedrich vollhArdt, Ungrund. Der Prozess der theogonie in den schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur wirkung im 17. Jahrhundert, in: Literarische und religiöse kommunikation in Mittelalter und Früher neuzeit. DFG-symposion 2006, hg. v. Peter strohschneider, Berlin / New York 2009, 89 – 123. Zur Kosmologie Jakob Böhmes vgl. 105 – 109. Mit spezifischem Nachdruck in Luthers Schöpfungslehre und Genesis-Auslegung; vgl. Johannes schwAnke, Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von der schöpfung aus dem nichts in der Großen Genesis-Vorlesung (1535 – 1545) (Theologische Bibliothek Töpelmann 126), Berlin / New York 2004. Hans BlumenBerG, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 21996 (1979), 145.
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in der frühchristlichen theologie die Differenz von ex nihilo und a nihilo eingeführt und eine reihe unterschiedlicher logischer relationen diskutiert, die, etwa bei Anselm von Canterbury, erweitert wurden um alternative präpositionale konstellationen (de nihilo, per nihil), um einen klaren kontrast zu gewinnen zu konzepten, die neben Gott eine ungeschaffene Materie annehmen wollten, was in der berühmten Gegen-Formel creare est aliquid ex nihilo facere des thomas von Aquin besonders deutlich dogmatische kontur gewann21. Zugleich hat man, neben Modellen logischer und ontologischer Differenzierung, den widerspruch zu überspringen versucht durch temporalisierung. schon in der augustinischen Lehre vom doppelten, zeitlich gestuften schöpfungsakt, demzufolge Gott aus dem absoluten nichts in einer ersten etappe das nichts der Materie geschaffen habe, das in einer zweiten schöpfungsetappe dann zur welt geformt worden sei, greift eine paradoxe Verzeitlichung des ewigen Anfangs. Zugleich versuchen konzepte einer annihilatio der bereits geschaffenen welt die christliche schöpfungsvorstellung sozusagen nachträglich zu dynamisieren, umgekehrt plädiert man mit der Vorstellung einer creatio continua für ein Modell paradoxer Entzeitlichung der schöpfung, das jeden zeitlichen Index vermeidet. scotus eriugena schließlich hat, statt neue unterschiede einzuziehen, die alten unterscheidungen weit zurückgestellt und nichts und Gott so wirkmächtig identifiziert, dass für die ‚Schöpfung aus dem Nichts‘ eine Doppelsemantik hörbar bleibt (die schöpfung aus dem nichts nichtvorhandener Materie ist zugleich ein selbstbezügliches schaffen aus dem absoluten nichts, das Gott selbst ist), was in der jüdischen kabbala breit rezipiert und, wie wir gleich sehen werden, noch bei Jakob Böhme anzutreffen ist. unter anderen Vorzeichen hatte bereits nicolaus Cusanus die von der Amtskirche als Abweichung (als widerspruch) attackierte eckhart-these, Gott sei alles und zugleich nichts von allem, ‚vereindeutigt‘ durch die unterscheidung, Gott sei „komplikativ“ nichts, aber „explikativ“ alles (complicative omnia et nihil omnium explicative)22. Auch Cusanus unterscheidet also Hinsichten, die einerseits mißverständliche Abweichungen auffangen wollen, anderseits und zugleich neue Differenzierung, fallweise auch neue Devianz produzieren. Zwischen der perspektivisch begrenzten Formulierung „die seele, insofern sie ungeschaffen ist“ (eckhart), und der lapidaren Behauptung, mit der der teufel im lutherischen ‚Faustbuch‘ des 16. Jahrhunderts dem zur Verdammung verurteilten Faust auf seine schwermütige Frage nach dem ursprung der welt „gottlos“, wie 21
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wirtz, Geschichten des Nichts (wie Anm. 2), 108 – 119, zu Thomas 114; Gerhard mAy, schöpfung aus dem nichts. Die entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin 1978. Die Manichäer interpretieren das nichts bei Johannes ‚ohne ihn ist nichts geworden‘ als ein etwas. Dazu koBusch, Art. ‚nichts, nichtseiendes‘ (wie Anm. 9), 811 und 813. Marius Victorinus, der platonische und aristotelische elemente des nichts-Diskurses amalgamiert, hebt vier Modi des nichts voneinander ab: 1. Das ‚erhabene‘ nichts, das jenseits alles seienden das Göttliche selber sei, 2. die totale Negation, 3. Andersheit, 4. potentielles (Noch-nicht)-Sein; dazu koBusch, Art. ‚nichts, nichtseiendes‘ (wie Anm. 9), 809. nicolaus Cusanus, Apologia doctae ignorantiae (opera omnia 2), hg. v. raymundus kliBAnsky, Hamburg 22007, h II, 31, Z. 27. Dazu Markus enders, Zum Begriff der unendlichkeit im abendländischen Denken. unendlichkeit Gottes und unendlichkeit der welt (Boethiana. Forschungsergebnisse zur Philosophie 86), Hamburg 2009, 119 f.
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es heißt, und „falsch“ antwortet: die Welt / mein Fauste, ist vnerboren vnnd vnsterblich23, liegt eine entscheidende Differenz. erst mit wachsendem Diskursivierungsdruck – mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von Wissensansprüchen und parallel steigendem Beobachtungs- und Zensurdruck – ergeben sich glatte Widersprüche in relation zu einem übergeordneten Paradigma: ‚Irregularitäten‘ in statistischer Hinsicht, ‚Heterodoxien‘ in dogmatisch-normativer Hinsicht. Im Ganzen entsteht ein umso höheres Abweichungspotential, je vieldeutiger die Ansprüche artikuliert werden. Die tagungsleitende spezifische Spannung von ‚Heiligkeit und Devianz‘ wäre vor dem Hintergrund dieser Überlegungen daher nicht nur als eine von außen ansetzende schwächung christlicher welt- und wissenskonzepte zu verstehen, sondern im Gegenteil als genuine transformierende kraft, die aus dem innersten kern des Christentums heraus selbst nachhaltig wirksam wird. Was ich im Folgenden nun für den Fall mittelalterlicher Ursprungsreflexion exemplarisch zeigen will, ist, dass eben diese ambivalente „Devianz von innen“24 nicht das propositionale wissen allein betrifft, sondern mindestens so gravierend auch das „figurative Wissen“25. Damit meine ich imaginative Verfahren einer rhetorik des Impliziten, die die oben skizzierten spannungen, indem sie sie mit geradezu definitorischer Präzision zu entschärfen suchen, zugleich zuspitzen. Diese Rhetorik des Impliziten kennt durchaus die hermeneutischen, logischen, zeitlichen unterscheidungen der tradition (absolutes oder relatives nichts, nihil complicative / explicative, usf.), macht sie jedoch unsichtbar mithilfe äquivoker Formulierungen und ellipsen. Der effekt sind neue Paradoxien: Dan Gott hat alle Dinge aus Nichts gemacht / und dasselbe Nichts ist Er selber [. . ..]26. solche emphatische Verknappung der rede wird von den Gegnern dann als erklärungslücke, als widerspruch oder Phantasma („bloße spekulation“) beklagt27. Böhmes Formulierung führt einerseits in die Paradoxie tief hinein, dass Gott „als Materialursache der welt verstanden wird, dessen selbstexplikation spekulativ nachvollzogen werden soll“28, unterscheidet aber anderseits nicht explizit zwischen göttlichem nichts und kreatürlichem
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romane des 15. und 16. Jahrhunderts (Bibliothek deutscher klassiker 54, Bibliothek der Frühen neuzeit 1), hg. v. Jan-Dirk müller, Frankfurt am Main 1990, 886 f., dazu auch vollhArdt, Ungrund (wie Anm. 18), 107 f. Vgl. den Beitrag von Andreas nehring in diesem Band. wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. v. ralf konersmAnn, Darmstadt 2007, hier 7. Jakob Böhme, De signatura rerum, oder Von der Geburt und Bezeichnung aller wesen (1622), in: Jacob Böhme. sämtliche schriften. Faksimile-neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, neu hg. v. will-erich peuckert, Bd. 6, stuttgart 1957, hier VI,8 (49). Mit Bezug auf Böhme: „alles bloß eine speculation“, vollhArdt, Ungrund (wie Anm. 18), 113, Anm. 81. Für die mittelalterliche situation der Mystik susanne köBele, Emphasis, überswanc, underscheit. Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (eckhart und seuse)“, in: Literarische und religiöse kommunikation in Mittelalter und Früher neuzeit. DFGsymposion 2006, hg. v. Peter strohschneider, Berlin / New York 2009, 969 – 1002; außerdem werner williAms, „Dise ding sint dennoch nit ware zeichen der heilikeit. Zur Bewertung mystischer erfahrungen im 15. Jahrhundert“, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 80 (1990), 61 – 71. Vollhardt, Ungrund (wie Anm. 18), 109.
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nichts, im Gegenteil: schließt beides in äußerster Formulierungsknappheit zusammen: „und dasselbe [!] nichts ist er selber“. Die mit dem Zeitindex (prima causa) gegebenen temporalen Paradoxien sind zwar festgehalten (einerseits als einmalige schöpfung: „hat gemacht“, anderseits als kontinuierliches sein: „ist er selber“), aber zugleich übersprungen durch die emphatische Gleichsetzung von nichts und nichts, was auf eine Perspektive göttlicher kontemporalität hinausläuft. wenn das ewige nichts „vor“ der schöpfung Gott selber sein soll, fallen die entzeitlichung und der göttliche selbstbezug (die schöpfung als sich ewig selbst begehrender Gott) zwingend in eins: Der „ungrund“ wird ein ewig Nichts, das aber einen ewigen Anfang [machet] / als eine Sucht; dann das Nichts ist eine Sucht nach Etwas29. Projektive Metaphern, provisorische semantiken und implizite unterscheidungen markieren das spannungsfeld von religiöser und literarischer Devianz. In dessen Mittelpunkt stehen „Vorstellungen“ (imaginationes) von dogmatisch heiklen anfangslosen Anfängen, deren verschiedene Bildlogik die inhärenten Paradoxien der selbstauslegung und kommentierung religiöser ursprungsgeschichten entscheidend tragen. III. Imaginationes primae causae. Zum ‚Liber viginti quattuor philosophorum‘30 stellen wir uns, im 12. Jahrhundert, vierundzwanzig Philosophen vor. sie diskutieren, werden sich über vieles einig, nur eine Frage bleibt offen: was ist Gott (Quid est deus?). sie sind beunruhigt, aber kommen partout nicht überein. nach gemeinsamer Beratung beschließen sie, sich Bedenkzeit zu geben und einen termin festzusetzen 29
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Jakob Böhme, Mysterium pansophicum, oder Gründlicher Bericht von dem Irdischen und Himmlischen Mysterio (1620), in: Jacob Böhme. sämtliche schriften. Faksimile-neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, neu hg. v. will-erich peuckert, Bd. 4, stuttgart 1957, hier 97. Zum Hintergrund christlicher Zeit- und ewigkeitsdiskurse Alois M. hAAs, „Mystische eschatologie. ein Durchblick“, in: Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter, hg. v. Jan A. Aertsen / Martin pickAvé, Berlin / New York 2002, 95 – 114. Zitiert nach: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Lateinisch – Deutsch. Erstmals übersetzt und kommentiert von kurt flAsch, München 2011 (text nach: Liber viginti quattuor philosophorum = Hermes Latinus III,1 im Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis CXLIII A, hg. v. Françoise hudry, Turnhout 1997; hier eine ausführliche Darstellung der Überlieferung und Rezeption des Textes, S. I – CXX). Zu den heterogenen Referenztexten (hypothetischen ‚Quellen‘) der 24 thesen gehören u. a. Plotin, Proklos, Dionysius-Areopagita, Boethius und eriugena, außerdem der ‚Liber de causis‘. Vgl. dazu auch im Überblick werner BeierwAltes, Art. ‚Liber XXIV philosophorum‘, in: 2VL, Bd. 5 (1985), 425 – 426; Kurt ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. III: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 33 – 44. Außerdem enders, Zum Begriff der unendlichkeit im abendländischen Denken (wie Anm. 22); Studi sulle fonti di Meister Eckhart (Dokimion 34), hg. v. Loris sturlese, Fribourg 2008; Paolo lucentini, Il liber viginti quattuor philosophorum nei poemi medievali. Il roman de la rose, il Granum sinapis, la Divina Commedia, in: Poetry and Philosophy in the Middle Ages, Festschrift for Peter Dronke, hg. v. Jean mArenBon, köln / Leiden 2001, 131 – 153; Françoise hudry, Le Liber XXIV Philosophorum et le Liber de Causis dans les manuscrits, Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 59 (1992), 63 – 88.
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für ein weiteres treffen. Dorthin soll jeder seine Antwort mitbringen, und zwar in Form einer thesenhaften Gottesdefinition, pro Kandidat ein Satz, damit „aus den verschiedenen Definitionen etwas Sicheres [certum aliquid] über Gott zu ermitteln“ wäre (s. 24). was dabei herauskommt, nennt kurt Flasch das „Verrückteste, was sich in einer mittelalterlichen Handschriftensammlung finden läßt“31. „Verrückt“ an diesem wie auch immer fiktiven Philosophenkonzil ist dabei weniger die Tatsache, dass nicht theologen, sondern ausdrücklich Philosophen sich über Gott verständigen (das ist zumindest im westlichen Mittelalter riskant, das die disziplinären Zuständigkeiten seit dem 12. Jahrhundert immer argwöhnischer kontrolliert). „Verrückt“, oder richtiger: dunkel, enigmatisch sind vielmehr die vierundzwanzig Gottesdefinitionen selber, so sehr sie sich anderseits den Anschein axiomatischer Prägnanz geben. sie sind deswegen in den meisten Handschriften mit knappen kommentaren versehen; zusammen mit der schon früh greifbaren Zuschreibung an Hermes Trismegistos ein sicheres Indiz ihrer bereits zeitgenössischen hohen dogmatischen (und intellektuellen?) Alterität. Flasch hat beides, thesen und kommentare, vor kurzem erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt und in ihrem philosophiehistorischen Kontext erläutert (Anm. 30). Diese vierundzwanzig satzförmigen Gottesdefinitionen, für die eine komplexe wirkungsgeschichte auf die kosmologie bis in die Frühe Neuzeit nachweisbar ist – sie haben über Meister Eckhart auf Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno, aber auch auf Leibniz und Hegel maßgeblich gewirkt32 –, berufen sich, für diese epoche mehr als unüblich, nirgends ausdrücklich auf auctoritates. sie dürfen aufs Ganze gesehen wohl als kompilation griechisch-arabisch-christlicher Thesen gelten. Sie selbst verstehen sich als „Thesen in Form von Definitionen“ (propositiones sub definitione)33, als axiomatische sätze, die freilich, so wirkt das auf den Leser, ihre eigene Auslegungsbedürftigkeit mitinszenieren. und auch der mittelalterliche kommentar führt ein Denken vor, das seinerseits den gattungstypischen explikativen Gestus übersteigt und neue Verrätselung, neuen Auslegungsbedarf produziert. Die zweite der 24 Definitionen (S. 29) ist die berühmteste: Gott nennt sie eine unendliche kugel, deren Mittelpunkt überall und deren umfang nirgends sei34. Diese „Definition“ ist ein Bild, für das uns die Anschauung im Stich lässt. Zwar evoziert der satz zunächst die durchaus nachvollziehbare Vorstellung von Gott als einer Kugel, eine Vorstellung, deren Signifikanz auf der Hand zu liegen scheint (die Kugel gilt als Inbegriff einer vollkommenen Form), doch die Definition in ihrem Fortgang erweitert die geometrische Figur ins unendliche, so dass sie die Vorstellungskraft sprengt: II: DeVs est sPHAerA InFInItA CVIVs CentrVM est VBIQue, CIrCVMFerentIA nVsQAM. eine unendliche kugel mit ubiquitärem 31 32 33 34
flAsch, Was ist Gott? (wie Anm. 30), 7. Der Text ist „kurz, andeutend und dunkel; er nährt das Denken und beflügelt die Phantasie.“ (ebd.). Zur reichen wirkungs- und Forschungsgeschichte vgl. flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30, hier 8 und 102 – 112), mit weiterer Literatur. ebd., Prolog, 24. nach wie vor grundlegend: Dietrich mAhnke, unendliche sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik (sonderband DVjs 23), Halle 1937.
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Mittelpunkt? wenn jeder Punkt der kugel Mittelpunkt ist und Gott die Gesamtheit unendlich vieler Punkte, dann wird die Vorstellung einer kugel zugleich festgehalten und zerstört. Dieser satz weist wie alle übrigen 24 Axiome des ‚Liber‘ eine auffällige Lücke auf: nirgends ist die rede von einem trinitarisch differenzierten Gott, von einem schöpfergott oder erlösergott. stattdessen erscheint Gott im Modus reiner kosmischer unendlichkeit. Ist das nun ein metaphorischer oder metaphysischer Modus35? An die stelle der erschaffung aus dem nichts tritt jedenfalls bereits mit Satz 1 des ‚Liber‘ ein selbstreflexiver Zeugungsakt: „Gott ist die Monade, die eine Monade erzeugt und sie als einen einzigen Gluthauch auf sich zurückbeugt.“36 wörtlicher wäre die Übersetzung: „[. . .] und in sich die Glut als einheit zurückbeugt“. Die Einheit – darauf läuft die Gottesdefinition des ersten Philosophen hinaus – bezieht sich, wenn sie aus sich heraustritt, auf sich selbst zurück. Nimmt man satz 1 und 2 zusammen, ergibt sich die Vorstellung eines ursprungs, der keiner ist37, sondern ein selbstbezug (satz 1) im zeitlosen raum einer unendlichkeit (satz 2), was uns zwingt, selbstidentität dynamisch und Prozesse nicht nur synchron, sondern atemporal zu denken. Der mitüberlieferte kommentar zu satz 1 nun nennt die zu erläuternde Gottesdefinition ausdrücklich eine „Vorstellung“, die „Vorstellung vom ersten Grund“ (imaginationem primae causae, s. 26), eine Bezeichnung, auf die der ‚Liber‘ mehrfach zurückgreift38. Die definitorischen Sätze gelten also als Ursprungs-Imaginationen, die zwar ohne weiteres die türe offenlassen für die Parallelvorstellung der christlichen trinitätstheologie: ‚Gott zeugt den sohn und bezieht sich über den heiligen Geist als nexus amoris auf sich selbst zurück‘ – doch das steht nicht da. Alle 24 Gottesdefinitionen des ‚Liber‘ sparen die christliche Schöpfungs- und trinitätstheologie konsequent aus, formulieren aber, wie man sagen könnte, eine
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Vgl. susanne köBele, Metapher und Metaphysik. spielräume der Argumentation bei Meister eckhart und sebastian Franck, in: Medialität, unmittelbarkeit, Präsenz. Die nähe des Heils im Verständnis der reformation (spätmittelalter, Humanismus, reformation), hg. v. Johanna hABerer / Berndt hAmm, Tübingen 2012, 285 – 305, in Auseinandersetzung mit der Position von Kurt Flasch. I: DeVs est MonAs MonADeM GIGnens, In se VnVM reFLeCtens ArDoreM, zit. nach flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), 25. Dem Franziskaner Marquard von Lindau (der eine synthese versucht von franziskanischer Armutsidee und eckhartscher Abgeschiedenheits-Lehre; dazu Georg steer, Der Armutsgedanke der deutschen Mystiker bei Marquard von Lindau, Franziskanische Studien 60 [1978], 289 – 300, hier 295 f.) gilt Ende des 14. Jahrhunderts diese Gottesdefinition des ersten Philosophen als Beleg dafür, dass bereits die „Heiden“ die trinität bezeugen: So _prach ?ch ain haiden, als wir lesend: >Monas monadem etc. Ainikait gebirt ainikait vnd wider bFget in _ich die hicz.< Vnd hie bi merke_t du wol, wie gar offenlich i_t vff gerFffet die hailig driualtikait durch die haiden. In: rüdiger Blumrich, Marquard von Lindau. Deutsche Predigten. untersuchungen und edition (texte und textgeschichte 34), tübingen 1994, Predigt 32, 196 – 199 (= 226 f.). Vgl. VII: Gott sei Ursprung ohne Ursprung, Prozess ohne Veränderung, Ziel ohne Ziel; zit. nach flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), 44. Zum Beispiel satz II (definitio [. . .] per modum imaginandi [29]); vgl. aber Satz III (definitio [. . .] secundum considerationem essentiae [34], etc.).
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umso entschlossenere philosophische Kompatibilität mit der theologie. sie betreiben (Flasch) „philosophische theologie“, implizite theologie. Indem sie die christliche Vorstellung von Gottes unerkennbarer (vgl. XVI und XXIV) unendlichkeit und Selbstbezogenheit auf den Kosmos übertragen, entwerfen sie eine spezifische kosmogonie auf der Grenze zur (negativen) theologie. Meister eckhart wird hundert Jahre später in seinen deutschen schriften39 noch einen schritt weiter gehen und diese kosmisch entgrenzte einheitsmetaphysik auf die relation von Gott und seele ausdehnen, Giordano Bruno schließlich wird im Jahr 1600 für die Vorstellung eines unendlichen kosmos verbrannt werden. Die damit verbundenen Verschiebungen einer theozentrischen, anthropozentrischen und kosmozentrischen Perspektive sollten, bei aller offensichtlichen strukturhomologie der auseinander hervorgehenden Argumente, nicht übersehen werden. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, und das sei als Zwischenfazit festgehalten: Die 24 Philosophen des ‚Liber‘ denken ‚ursprung‘ offenbar nicht als Gegenüber von ursprung und entsprungenem (von creator und creatura), sondern als kreisförmig-selbstbezügliche Einheit mit unendlich vielen Mittelpunkten. Zwar definieren die „Vorstellungen“ (imaginationes primae causae) niemanden anders als Gott, aber sowohl die axiomatischen sätze wie ihre kommentare argumentieren so, als käme die Vorstellung von Gott gänzlich ohne die stationen der Heilsgeschichte aus40: sei es als glühende selbstreproduktive Monade (satz 1), sei es als umfanglose kugel mit ubiquitärem Mittelpunkt (satz 2). Auf der Basis rhetorischer Überdeterminationen in Form von Paradoxien, Metaphern und Hyperbeln prozediert der ‚Liber‘ Aussage für Aussage, wobei nicht selten in einem einzigen satz alle drei rhetorischen Figuren aufeinandertreffen. so ist satz XI: DeVs est sVPer ens, neCesse, soLVs sIBI ABVnDAnter, sVFFICIenter (s. 52: „Gott ist jenseits des seins, ist notwendig und genügt als einziger sich im Überfluß selbst.“) nichts anderes als eine hyperbolische paradoxe Metapher: ‚Gott ist überseiend in überfließender selbstgenügsamkeit‘. Dunkelster spruch von allen mit noch dunklerem kommentar ist jedoch derjenige des 14. Philosophen. er bringt ausdrücklich das nichts ins spiel, weswegen er mich hier bevorzugt interessiert: XIV: DeVs est oPPosItIo nIHIL MeDIAtIone entIs. (s. 56: „Gott ist der Gegensatz zum nichts vermittels des seins.“) Der Anfang des satzes ist noch gut verständlich. Man legt ihn sich im Gesamtkontext des ‚Liber‘ so zurecht: Gott ist der Gegensatz zum nichts, weil er über dem Gegensatz von nichtsein und sein steht, ist er doch als überseiender Gott Alles. Die zeitgenössische theologie würde hinzufügen: Zugleich ist er als absolutes sein nichts vom allem, was das geschaffene Sein ist; doch diese Differenzierung ist hier ausgespart. Wie sollen wir den zweiten Teil der Definition verstehen? „Vermittels des
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Die mediale Differenz sei hier nicht thema. schon die bei ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 30), 42 f. versammelten lateinischen eckhartbelege, v. a. zu satz XIV aus seinem sapientia-kommentar und Johannes-kommentar, weisen auf eine eklatante Differenz. so flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), hier 33.
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seins“? Der lapidare Zusatz ist der Formulierung nach kryptisch. Meint „sein“ das geschaffene sein („seiendes“, welt) oder meint es absolutes sein? und inwiefern „vermittels“: was wäre sein Vermittlungsstatus? einige schreiber setzen hier denn auch: meditacione entis41, aber mit dieser textvariante kommt man vom regen in die traufe. was sollte das sein, ein das sein „meditierender“ Gott? Der überlieferte kommentar bezieht sich auf die von den editionen übernommene Lesart mediatione, aber statt hier klarheit zu schaffen, verdunkelt er erst recht alle Vorstellungen, wobei Begriffs- und Metaphernstatus eng ineinandergreifen. Der kommentar kommt auf das Bild der unendlichen kugel des zweiten Philosophen zurück. er hält die „imaginative“ Wirkung (den Bildstatus) der zu kommentierenden Definition erneut ausdrücklich fest, die er dann Zug um Zug erweitert zur noch schwerer vorstellbaren unendlichen kugel, deren ubiquitärer Mittelpunkt ein „kerker“ für das nichts sei: Haec definitio imaginari facit Deum esse sphaeram in cuius centro nihil incarceratur. Et est continue agens sphaera divina opus divinum quo detinet nihil in suo esse aeternaliter, a quo per exuberantiam suae bonitatis vocavit in esse rem quae est quasi circa centrum. Quae si ad esse actum attrahit, stabit semper, si ad esse possibile, redibit ad nihilum. „Diese Definition erzeugt die Vorstellung von Gott als einer Kugel, die in ihrem Mittelpunkt das nichts einkerkert. ständig wirkt die göttliche kugel ihr göttliches werk, das nichts in ihrem sein ewig zu erhalten, um die Sache, die sich gewissermaßen beim Mittelpunkt befindet, von dort in überschwenglicher Gutheit ins sein zu rufen. Hebt sie die sache herauf zum wirklichsein, hat sie für immer Bestand, beläßt sie sie im Möglichsein, fällt sie ins nichts zurück.42“
kann die Vorstellung von Gott als kugel, die in ihrem Zentrum das nichts einkerkere, die XIV. Gottesdefinition von Gott als „Gegensatz zum Nichts“ erläutern? sie hilft uns nicht recht weiter, sondern führt im Gegenteil in widersprüche: wenn Gott der Gegensatz zum nichts sei, wie kann er dann das nichts in seinem Zentrum einkerkern? Der darauf folgende satz vergrößert die Verwirrung. er konfrontiert uns mit einer spektakulären Inversion der christlichen schöpfungsidee. statt des einmaligen Akts der göttlichen schöpfung aus dem nichts wird eine „kontinuierliche“ göttliche Dynamik im umgang mit dem nichts behauptet (continue agens [. . .] opus divinum), ein wirken, durch das („vermittels“?) das nichts im Zentrum der kugel im sein einerseits „ewig“ (aeternaliter) erhalten werden soll. Anderseits soll es eine dem nichts benachbarte „sache“ als „wirkliches“, nicht bloß „mögliches“ sein aktualisieren („attrahieren“), und das heißt: vor dem „Zurückfallen ins nichts“ bewahren. Dieser kommentar ist noch rätselhafter als der satz, den er klären will. Die Vorstellung, das nichts sei „eingekerkert“ im Mittelpunkt der göttlichen kugel, nennt Flasch im kommentar zur stelle „poetisch wunderbar, scholastisch unmöglich“43. 41 42 43
Dazu flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), 57. Auch hudry, Liber viginti quattuor philosophorum (wie Anm. 30), hier 21. flAsch, Was ist Gott? (wie Anm. 30), hier 56 f.; zit. bei Meister Eckhart, In Sap. n. 90, Lateinische werke II, stuttgart 1992, 423 f.: Philosophus unus ex viginti quattuor ait: [. . .]. flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), 57. „sie erinnert an das reich der Mütter [?], der möglichen Dinge, die, um aktuiert zu werden, heraufgerufen werden müssen, um wirklichkeit zu werden, sonst blieben sie für immer beim nichts.“ (ebd.). Für die Auseinandersetzung mit den
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„Poetisch wunderbar“? Flaschs überraschende Klassifikation zielt offenbar auf das imaginative Gesamtverfahren, auf den Metaphernstatus der Aussage. und der Fortgang des kommentars zu satz XIV? er führt den Gedanken des in der unendlichen kugel eingekerkerten nichts für den kontext einer creatio continua weiter aus. offenbar wird dabei die raumvorstellung (sphaera infinita) in die Vorstellung zeitlicher Dauer (continue; semper) überführt. Der kommentar konkretisiert dieses das nichts perpetuierende „göttliche werk“ (opus divinum) wie folgt; ich übersetze wörtlicher als Flasch: „[. . .] aus welchem [dem nichts?] sie [die göttliche kugel] durch den Überschwang ihres Gutseins die sache [das Ding? rem] ins sein gerufen hat, die gleichsam nahe beim kugelmittelpunkt ist“. was ist mit „sache“ gemeint? „Gleichsam nahe beim Mittelpunkt“ ist doch schon das „nichts“ eingekerkert? Der Platz ist besetzt. Der kommentar sucht also einen Ausweg aus dieser räumlichen Vorstellungsnot, und zwar wieder einen doppelten: einerseits durch Distinktion, anderseits durch temporalisierung. Die Distinktion betrifft die Differenzierung von „sein“ in mögliches und wirkliches sein. Das göttliche werk bestehe darin, manches aus diesem eingekerkerten, in seinem sein zu bewahrenden nichts aus dem Zustand der Möglichkeit in den der wirklichkeit zu überführen, aus überschwänglicher Güte. Die temporalisierung betrifft dagegen die spaltung des eingangs gebrauchten zeitlosen ewigkeitstempus Präsens (incarceratur, detinet) ins Präteritum einerseits (vocavit in esse; diesen Zeitsprung unterschlägt die oben s. 175 zitierte Übersetzung von Flasch), und Futur anderseits (stabit semper, redibit ad nihilum). Die zeitliche Differenzierung suggeriert eine Verlaufsdimension, ohne dass freilich Heilsgeschichte – Gottes sukzessives Erlösungshandeln im Zeitraum zwischen einmaligem Schöpfungsakt und künftiger Vollendung – thematisiert würde. „In überschwenglicher Gutheit ins sein gerufen“ klingt zwar von fern nach einer Abbreviatur der christlichen schöpfungsgeschichte, ist aber gerade nicht dogmatisch als creatio ex nihilo markiert, auch nicht, trotz ähnlicher richtungsangabe im zweiten kommentarsatz (a quo), als creatio a nihilo. stattdessen wird die göttliche simultaneitätsperspektive selbst thematisch, war Gott doch bereits in satz IX als reine Gegenwart (DeVs est CVI soLI PrAesens est QVIDQVID CVIVs teMPorIs est) und im dazugehörigen kommentar als successivorum totalitas, als umfassende „totalität“ aller zeitlichen sukzession bezeichnet worden (s. 48 f.). weder die heilsgeschichtliche einmaligkeit noch die Gottähnlichkeit der schöpfung sind also im dunklen XIV. Philosophensatz und seinem noch dunkleren kommentar akzentuiert. Weder finden sich typologische Strukturen (im Spannungsfeld von figuraler Simultaneität und heilsgeschichtlichem Verlauf), noch wird die Vermittlungsfunktion von Christus als mediator Dei et hominum thematisiert, erst recht nicht die Mittelstellung (medietas)44 der welt zwischen Gott und nichts. stattdessen dominiert die metaphysische Alternative sein oder nichts (esse, nihil), die vor
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Übersetzungsvorschlägen von Flasch bekam ich wertvolle Anregungen von Jan-Dirk Müller, München, und Darko senekovic (Forschungsstelle Latein der universität Zürich). Zu diesem Begriff mit Bezug auf eriugena, vgl. Alois M. hAAs, Art. ‚Blitz‘, in: wörterbuch der philosophischen Metaphern (wie Anm. 25), 80 – 92, hier 85 mit Anm. 72.
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dem Hintergrund der unterscheidung wirklichkeit und Möglichkeit (esse actum, esse possibile) entfaltet wird, die nur im göttlichen „wirken“ exklusiv zusammenfallen. Der göttliche umgang mit dem nichts, der als „werk“ und „Aktivität“ Gottes (opus, agens) zugleich räumlich (als kugel mit kerker im Zentrum, als kugel mit zentripetalen und zentrifugalen kräften) vorgestellt wird, kommt in der XIV. Gottesdefinition also nicht als „Schöpfung aus dem Nichts“ zur Sprache. Er steht aber auch nicht in offenem widerspruch zu ihr. Der kommentar zu diesem satz versucht, kontinuität, ewigkeit und einmaligkeit zusammenzudenken, und auch ihm geht es nicht um dissidente Positionierungen. stattdessen reproduziert er eben jene „erklärungsparadoxien“45, die der auszulegende Satz als definitorische und hermeneutische ungreifbarkeit des Göttlichen seinerseits abbildet. Angesichts des ubiquitären Mittelpunkts der unendlichen göttlichen kugel (satz II) ist die doppelt unscharfe, sozusagen gezielt verwackelte ortsangabe des kommentars: quasi circa centrum („gleichsam fast der Mittelpunkt“) nicht sonderlich überraschend, aber verwirrend. Auch die „Sache“, die sich in der unendlichen Kugel – in der Nähe des eingekerkerten Nichts? als Nichts? – aufhalten und ins „wirkliche“ Sein gerufen werden soll, und zwar dauernd, je neu, bleibt in ihren umrissen unscharf. wie verhält sich also insgesamt die mediatio entis des auszulegenden satzes zur kommentar-these einer Aktuierung des seins (ad esse actum attrahit)? Zwar werden in den wenigen kommentarsätzen die konkrete räumliche Vorstellung Gottes als unendliche kugel und die dazu gegenbildliche konkrete räumliche Vorstellung des nichts als im kugelzentrum eingekerkertes imaginativ entfaltet, doch genau dadurch ihrer Vorstellbarkeit beraubt46. Im Fazit: text und kommentar inszenieren im Modus einer Axiomatisierung des wissens von Gott (Quid est deus?) einen gleitenden Übergang zwischen dem metaphorischen Potential von spekulativen Begriffen einerseits, dem kognitiven Potential von Metaphern anderseits; ob sie darüber hinaus „wahre Schmuckstücke der Poesie“ 47 sind, lasse ich dahingestellt. Die philosophischen Gottes-Axiome des ‚Liber‘, gerahmt durch die Eingangangsnarration eines fiktiven Philosophenkonzils, formulieren für das von mir anvisierte Verhältnis von sein und nichts allenfalls eine implizite kompatibilität mit der christlichen schöpfungstheologie. sie suchen dabei nicht die Abweichung von der etablierten Dogmatik, suchen auch kaum „Poetizität“, sondern eine äußerste emphatische Verknappung der rede, die auf bemerkenswerte Weise die analytische Präzision der Definition und die explikative Funktion des kommentars umschlagen lässt in eine Art rätselspruch. Die Aussagen forcieren auf beiden ebenen von text und kommentar ein dunkles, hermetisches Idiom, das höchst widersprüchlich an die imaginatio des Lesers appelliert, ohne damit einen 45 46
47
niklas luhmAnn, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André kieserlinG, Frankfurt am Main 2000, 135. Zur Blumenbergs konzeption der ‚sprengmetapher‘ mit Bezug auf die Mystik vgl. susanne köBele, Bilder der unbegriffenen wahrheit. Zur struktur mystischer rede im spannungsfeld von Latein und Volkssprache (Bibliotheca Germanica 30), Tübingen / Basel 1993; hAAs, Das nichts Gottes und seine sprengmetaphorik (wie Anm. 9). flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), 11.
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philosophischen rationalitäts- und theologischen explikationsanspruch aufzugeben48. Flaschs Formulierung: „Unser Text bewegt sich in einer fiktiv geschlossenen philosophischen Kultur. Er erfindet deren Autonomie.“49 scheint mir vor diesem Hintergrund impliziter kompatibilität mit der christlichen theologie riskant, zumal die Rede von der „Erfindung“ unhaltbare absolute Zäsuren suggeriert und der Begriff „Autonomie“ immer mehr Missverständnisse auslöst, als man ausräumen kann. Ich breche hier meine exemplarische Analyse ab. Die 24 Philosophen waren auf der Suche nach einer konsensfähigen vernünftigen „Gewissheit“ über Gott – aber was sagen sie über die rolle des Menschen? was im ‚Buch der 24 Philosophen‘ für kosmologie und Gotteslehre reserviert bleibt, überführt um 1300 Meister eckhart in eine bemerkenswerte einheitsmetaphysische Anthropologie. eckhart, der ende des 13. Jahrhunderts in einen der spektakulärsten ketzerprozesse des Mittelalters verwickelt war, kennt das ‚Buch der 24 Philosophen‘ sehr genau. er zitiert vierzehn der 24 sätze, elf in seinen lateinischen schriften (darunter die sätze 1 und 2, im exoduskommentar LW II 37,1 – 8 – auch Satz 14), sechs in seinen deutschen Predigten50. Mit dem ‚Liber‘ vertieft er sein eigenes konzept gottmenschlicher einheit so, dass es weit über den theozentrisch-kosmologischen Horizont der 24 thesen hinausreicht und die kölner Zensoren bzw. seine dominikanischen Mitbrüder mehr als nervös macht. „Fürwahr, mit schmerz tun wir kund, dass in dieser Zeit einer aus deutschen Landen, eckehart mit namen, und, wie es heißt, Doktor und Professor der Heiligen schrift, aus dem orden der Predigerbrüder, mehr wissen wollte, als nötig war, und nicht entsprechend der Besonnenheit und nach der richtschnur des Glaubens, weil er sein ohr von der wahrheit abkehrte und sich erdichtungen zuwandte.“ er habe “Dornen“ gesät auf dem Acker der heiligen kirche, statt „die saat der katholischen wahrheit fröhlich“ aufgehen zu lassen51. Mit dieser kurialen rhetorik wird am 13.3.1329 durch die päpstliche Verurteilungsbulle Johannes XXII. In agro dominico
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vollhArdt, Ungrund (wie Anm. 18). flAsch, was ist Gott? (wie Anm. 30), 22. ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 30), 38. Zit. nach Meister eckehart, Deutsche Predigten und traktate. Hg. und übersetzt v. Josef Quint, München 21979 (1955), 449. Vgl. Constitutio „In agro dominico“, in: Meister eckhart, Die lateinischen werke V, hg. v. Albert zimmermAnn / Loris sturlese, Stuttgart 2006, 596 – 600, hier 597: In agro dominico, cuius dispositione superna licet inmeriti sumus custodes et operarii, oportet nos sic vigilanter et prudenter spiritualem exercere culturam, ut, siquando in eo inimicus homo supra semen veritatis zizania seminet, priusquam se in incrementa noxie pullulationis extollant, prefocentur in ortu, ut enecato semine vitiorum et spinis errorum evulsis leta seges veritatis catholice coalescat. // Sane dolenter referimus, quod quidam hiis temporibus de partibus Theutonie, Ekardus nomine, doctorque, ut fertur, sacre pagine ac professor ordinis fratrum Predicatorum, plura voluit sapere quam oportuit et non ad sobrietatem neque secundum mensuram fidei, quia a veritate auditum avertens ad fabulas se convertit. Per illum enim patrem mendacii, qui se frequenter in lucis angelum transfigurat, ut obscuram et tetram caliginem sensuum pro lumine veritatis effundat, homo iste seductus contra lucidissimam veritatem fidei in agro ecclesie spinas et tribulos germinans ac nocivos carduos et venenosos palliuros producere satagens, dogmatizavit multa fidem veram in cordibus multorum obnubilantia, que docuit quam maxime coram vulgo simplici in suis predicationibus, que etiam redegit in scriptis.
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eckhart als Abweichler „aus der Mitte“, als einer „von uns“, inkriminiert. und in der tat sind aus der sicht der Amtskirche diejenigen die gefährlichsten ketzer, die aus dem innersten kern der Institution heraus kommen, so wie die gefährlichsten Irrtümer in den Augen der kirche nicht die offenen Abweichungen sind, evidente errores, sondern diejenigen „Irrtümer“, die man mit der „wahrheit“ verwechseln könnte. Die Artikel 1 – 3 der insgesamt 28 verdammten Sätze der päpstlichen Bulle beziehen sich auf kontextisolierte thesen von der ewigkeit der welt (Art. 1 und 2) bzw. der Gleichewigkeit von Gott, sohn und welt (Art. 3)52. Marquard von Lindau, einer der produktivsten Autoren des Franziskanerordens des 14. Jahrhunderts, schreibt eckharts Johannes-kommentar aus, distanziert sich jedoch ausdrücklich von dessen these der ewigkeit der welt: „Marquard erklärt mit eckhart die Frage, wo Gott fuit ab eterno als vulgaris et ex falsa ymaginatione procedens (f. 166v). [. . .] Anschließend gibt Marquard vollständig den letzten Gedankengang eckharts (n. 216) wieder und kommentiert dieses Zitat mit der Bemerkung: haec autem fidei dissona sunt et erronea (f. 167r)“53. Ich versuche abschließend, eckharts Aussagen in ihrer performativen Dynamik im kontext einzelner Predigten wenigstens ansatzweise verständlich und spezifisch zu machen, mithilfe von drei einschlägigen nichtsspekulativen Zitaten aus eckharts deutschen Predigten. eckharts Argumentation setzt in seiner berühmten Predigt Q 1 so an: Gott ist einer, dessen ‚nichts‘ die ganze welt erfülle. (Das entspricht durchaus dem Bild der unendlichen kugel mit ubiquitärem Zentrum.) sein ‚etwas‘ sei nirgends. Daher müsse auch die seele nichts werden (nihtes niht). Das ist neu und der entscheidende gedankliche Überstieg. Zu Gott müsse man mit nichts kommen, und das heißt: sich von der eigenen Geschaffenheit maximal distanzieren: Swenne diu sêle kumet in daz ungemischte lieht, sô sleht si in ir nihtes niht sô verre von dem geschaffenen ihte in dem nihtes nihte, daz si mit nihte enmac wider komen von ir kraft in ir geschaffen iht. Und got der understât mit sîner ungeschaffenheit ir nihtes niht und entheltet die sêle in sînem ihtes ihte. Diu sêle hât gewâget ze nihte ze werdenne [. . .]. „wenn die seele in das ungemischte [=göttliche] Licht kommt, so schlägt [stürzt oder fällt] sie in ihr nichts, und zwar in diesem nichts so weit weg von ihrem geschaffenen etwas, daß sie aus eigener kraft nicht mehr zurükkehren kann in ihr geschaffenes etwas. und Gott steht mit seiner ungeschaffenheit unter ihrem nichts [d. h. Gott fängt das nichts der seele auf] und erhält die seele in seinem etwas. Die seele hat gewagt, zunichte zu werden [. . .].54“
unter der Bedingung der selbstvernichtung könne, so eckhart weiter, die seele mit Gottes nichts eins werden. Das folgende Zitat aus Predigt Q 4 spitzt die negativität (nihtes niht) alles Geschaffenen noch weiter zu. Alle kreaturen seien ein reines nichts. Ihr ganzes sein hänge an der Gegenwärtigkeit Gottes:
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ebd. Quint, Meister eckehart, Deutsche Predigten und traktate (wie Anm. 51), 450. Außerdem Meister Eckhart, Die lateinischen Werke V (wie Anm. 51), 597 – 598. Blumrich, Marquard von Lindau (wie Anm. 36), 10*, mit Bezug auf Eckhart, In Ioh. n. 214; Die lateinischen werke III, 179 f. Meister eckhart, Deutsche werke I, Predigten, hg. und übersetzt von Josef Quint, stuttgart 2 1986 (1958), Pr. Q 1, S. 14, 2 – 6.
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susanne köbele Alle crêatûren sint ein lûter niht. Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht sîn: sie sint ein lûter niht. [. . .] Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes. Kêrte sich got ab allen crêatûren einen ougenblik, sô würden sie ze nihte. „Alle kreaturen sind ein reines nichts. Ich sage nicht, daß sie geringwertig oder überhaupt etwas seien: sie sind ein reines nichts. [. . .] Alle kreaturen haben kein sein, denn ihr sein hängt an der Gegenwart Gottes. kehrte sich Gott nur einen Augenblick von allen kreaturen ab, so würden sie zunichte.55“
Orthodox wäre eine andere Position: die Qualifikation des Geschaffenen nicht als purum nihil, sondern als quasi nihil. thomas von Aquin etwa erzählt die Genesisursprungsgeschichte so: wo ‚nichts‘ war, soll ‚etwas‘ werden, und das soll besser sein als ‚nichts‘, aber nicht so gut wie Gott: quasi nihil. Auf dieses „ein bisschen nichts“, „gleichsam nichts“, lässt eckhart sich nicht ein. eckhart übersetzt daher auch Ioh 1,1 nicht mit „ohne ihn ist nichts geworden“, sondern mit „ohne ihn ist das Gewordene nichts, reines nichts“56. Das macht die Differenz unmittelbar einsichtig. Das folgende letzte Zitat aus Predigt Q 71 sei noch angefügt, weil es die selbstvernichtung der seele, die sich mit Gottes nichts vereint, als „schwangerwerden vom nichts“ erzählt, mit einer Metapher also, die die Logosmetaphysik von Ioh 1,1 (von der Fleischwerdung und Geburt des wortes) und die Genesis-erzählung der creatio ex nihilo eng koppelt. wieder überträgt eckhart dabei die göttliche ursprungsgeschichte auf die Beziehung von seele und Gott, mit dem paradoxen effekt, dass Gott am schluss selbst als „Frucht“ des nichts erscheint: Swenne diu sêle kumet in ein und si dâ inne tritet in ein lûter verworfenheit ir selber, dâ vindet si got als in einem nihte. Ez dûhte einen menschen als in einem troume [. . .], wie ez swanger würde von nihte als ein vrouwe mit einem kinde, und in dem nihte wart got geborn; dér was diu vruht des nihtes. „wenn die seele in das eine kommt und darin eintritt in eine lautere Verwerfung ihrer selbst, so findet sie dort Gott als in einem Nichts. Es deuchte einen Menschen wie in einem traume, [. . .], er würde schwanger vom nichts wie eine Frau mit einem kinde, und in diesem Nichts ward Gott geboren; der war die Frucht des Nichts.57“
nicht Gott gebiert aus dem nichts seinen sohn in die welt, sondern die seele wird vom nichts (=Gott) schwanger und gebiert im nichts Gott selbst. Josef Quint, der verdienstvolle eckhart-Herausgeber und -kenner kommentiert die Passage etwas ratlos mit einer Bemerkung zur „höchst abstrakten spekulation über das nihil“ (Dw III, 225, Anm. 1); lieber hätte er wohl gesagt: „höchst abstrusen“ Spekulation. 55
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Meister eckhart, Deutsche werke I, Predigten, hg. und übersetzt von Josef Quint, stuttgart 1986 (1958), Pr. Q 4, S. 69,8 – 70,4 (vgl. die Zensur RS, § II 4 art. 15: Item, omnes creature sunt unum purum nichil; non dico quod sint quidem modicum vel aliquid, sed quod sint purum nichil, quia nulla creatura habet esse. = Bulle, Art. 26, vgl. den komm. von Quint zur stelle s. 70). Dazu hAAs, Das nichts Gottes und seine sprengmetaphorik (wie Anm. 9), 56. Meister eckhart, Deutsche werke III, Predigten, hg. und übersetzt von Josef Quint, stuttgart 2 1999 (1976), Pr. Q 71, S. 224,4 – 7, 546. Zu dieser Stelle auch hAAs, Das nichts Gottes und seine Sprengmetaphorik (wie Anm. 9), 56 f. mit Bezug auf Dionysius; außerdem Beverley J. lAnzettA, three Categories of nothingness in eckhart, the Journal of religion 72 (1992), 2, 248 – 268. 2
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In der mittelhochdeutschen sequenz ‚Granum sinapis‘, die, unter dem eindruck dionysischer einheitsspekulation, in das umfeld eckharts zu gehören scheint, formulieren die beiden letzten strophen das Verhältnis von nichts und etwas wie folgt: VII,
1 Wirt als ein kint wirt toup, wirt blint! dîn selbes icht mûz werden nicht, 5 al icht, al nicht trîb uber hôr! lâ stat, lâ zît, ouch bilde mît! genk âne wek den smalen stek, 10 sô kums du an der wûste spôr.
VIII,
1 Ô sêle mîn genk ûz, got în! sink al mîn icht in gotis nicht, 5 sink in dî grundelôze vlût! vlî ich von dir, du kumst zu mir. vorlîs ich mich, sô vind ich dich, 10 ô uberweselîches gût! 58
Die beiden Pole der christlichen Metaphysik, nichts und etwas, sind hier im Paarreim vereint (dîn selbes icht / mûz werden nicht in str. 7, sink al mîn icht / in gotis nicht in str. 8). Aus dem lateinischen kommentar zu dieser sequenz, der auf schritt und tritt bemerkenswerte umdeutungen vornimmt und dabei nicht selten orthodoxe reformulierungen sucht, zitiere ich nur die Bemerkung zum zitierten Paarreimvers aus strophe 8: 75,1 „Sink al min icht.“ hic optat totam quidditatem suam in deum transformari, quod solum in futura vita possibile est. „«sink all mein Ichts». Hier wünscht , daß seine ganze washeit in Gott umgebildet werde, was nur im zukünftigen Leben möglich ist. [. . .]“ 76,2 „in gotis nicht.“ de quo Dionysius: „omnium quidem est, quae sunt, causale, ipsum autem nihil, ut omnibus, quae sunt, superessentialiter exaltatum.“ „«In Gottes nichts.» Darüber sagt Dionysius: «In Bezug auf alles, was ist, ist es ursächlich. es selbst aber ist nichts, da es über alles, was ist, überwesentlich erhaben ist.» [. . .]“ 76,7 si igitur propter ineffabilem excellentiam et incomprehensibilem infinitatem dicitur esse nihil, sequitur omnino nihil esse [. . .]. „wenn also wegen ihrer unaussprechlichen Herrlichkeit und unfassbaren unendlichkeit gesagt wird, sie sei nichts, folgt , dass sie überhaupt nichts sei [. . .].“59
58 59
‚Granum sinapis‘, text zit. nach kurt ruh, Meister eckhart. theologe, Prediger, Mystiker. Zweite, überarb. Auflage, München 1989, 47 – 49, hier Str. 7 und 8. Maria Bindschedler, Der lateinische kommentar zum Granum sinapis (Basler studien zur Deutschen sprache und Literatur 9), Basel 1949, nachdr. Hildesheim / Zürich / new york 1985, 146 ff., Abschn. 75,1, 76,2 und 76,7.
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Man erkennt ohne weiteres, wie rasch im kommentar die sinnvervielfältigung der mittelhochdeutschen strophe unter der Hand zur sinn-Hierarchisierung gerät. Die dogmatisch brisante unio, die einheit der vernichteten seele mit Gottes nichts, von der die letzte Liedstrophe im Präsens erzählt, wird im kommentar ausdrücklich in eine eschatologische Zukunft ausgelagert (quod solum in futura vita possibile est). und auch das „nichts Gottes“ wird vorsichtshalber zurechtgerückt: aus ihm folge keineswegs, dass es „überhaupt nichts“ (omnino nihil) sei. Die Aufklärungsphilosophie der Neuzeit besteht – gut aristotelisch – darauf, aus nichts könne nichts werden, aber sie zieht ihre eigenen schlüsse: „§. 30. Wo etwas vorhanden, woraus man begreiffen kan, warum es ist, das hat einen zureichenden Grund (§. 29). Derowegen wo keiner vorhanden ist, da ist nichts, woraus man begreiffen kan, warum etwas ist, nemlich warum es würcklich werden kan, und also muß es aus nichts entstehen. was demnach nicht aus nichts entstehen kan, muß einen zureichenden Grund haben, warum es ist, als es muß an sich möglich seyn und eine ursache haben, die es zur würcklichkeit bringen kan, wenn wir von Dingen reden, die nicht nothwendig sind. Da nun unmöglich ist, daß aus Nichts etwas werden kann (§. 28.); so muß auch alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist das ist, es muss allezeit etwas seyn, daraus man verstehen kann, warum es würcklich werden kan (§. 29.).“60
Bis zu diesem aufgeklärten Vernunftoptimismus hin war es ein langer weg. strenggenommen sind alle ursprungsgeschichten ursprungskrisengeschichten, weil sie immer auch eine Verlustgeschichte erzählen: den Abfall vom einen, den Verlust der reinheit des urzustands, und weil, anders gesagt, die ‚absoluten‘ ursprünge den Verdacht einer bloßen setzung nie ganz ausräumen können, müssen sie den ‚ersten‘ ursprung verdecken durch je neue, andere Geschichten, andere Begriffe, andere Metaphern. Jede causa prima, so eckhart, übersteige die erzählungen und Begriffe: causa prima superior est omni narratione; [. . .] super omne nomen61. ursprungsgeschichten seien daher der erstursache immer unterlegen, aber, so wiederum eckhart, das mache die ursprünge nicht innominabile (nicht „unbenennbar“), sondern omninominabile62 („schwanger vom nichts“, „schwanger im nichts“, „eingekerkert im nichts“ der unendlichen kugel). Für sich genommen, sei die schöpfung ein reines Nichts. In dieser „Totalitätsfigur des Transzendenten“ geht es um die interreligiös nur bedingt übertragbare63 erkenntnis, „daß sich die Leitdifferenz von Immanenz 60
61 62 63
Christian wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der welt und der seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 1738, hier 16 – 17, § 30, in: Christian Wolff. Gesammelte Werke. Deutsche schriften Bd. 2, mit einer einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. corr, Hildesheim / Zürich / new york 1983. Meister eckhart, Die lateinischen werke II, hg. v. Heribert fischer / Josef koch / konrad weiss, stuttgart 1992, exod. n. 35, 41 f. Vgl. hAAs, Das nichts Gottes und seine sprengmetapher (wie Anm. 9), 63. Vgl. eckhart, Die lateinischen werke II, 41 f. Vgl. den Beitrag von AhlBorn in diesem Band. konzeptionelle Brücke im west-östlichen Vergleich von einheitsmetaphysiken ist in der regel eine Position jenseits des Gegensatzes von sein und nichts. Das ‚reine nichts‘ war in der Forschung immer schon bevorzugter Gegenstand interkultureller und interreligiöser Dialoge. Instruktiv der Überblick bei wirtz, Geschichten des Nichts (wie Anm. 2), 84 – 89 (‚Nirvana‘), mit reicher Literatur 89, Anm. 70. Vgl. u.a.
Zur konkurrenz philosophisch-theologischer ursprungskonzepte im spätmittelalter
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und Transzendenz in einer etablierten religiösen Kultur in den spezifischen Praktiken und konzepten dieser kultur selbst neu eingenistet hat. was diese kultur überwinden wollte, erzeugt sie in sich in noch größerer Brisanz neu. es geht also darum, die Leitdifferenz der religiösen kultur dort aufzusuchen, wo sie sich bis zur unkenntlichkeit minimiert hat, und die Modelle zu beschreiben, die diese Differenz dynamisieren [. . .].“64. Zu dieser Dynamisierung religiöser Imagination und Reflexion gehört unbedingt der Versuch, Gott als nichts und Alles zugleich zu denken. Meine letzte schöpfungs-Geschichte ist noch einmal eine für die ohren, diesmal keine Geschichte von der Fleischwerdung des wortes, sondern von einem Anfang, der die ordnung vom Chaos schied:
64
Marco s. torini, Apophatische theologie und göttliches nichts. Über traditionen negativer Begrifflichkeit in der abendländischen und buddhistischen Mystik, in: Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. Festschrift für Carsten Colpe zum 65. Geburtstag, hg. v. Christoph elsAs, Berlin u. a. 1994, 493 – 520. Hans wAldenfels, Absolutes nichts. Zur Grundlegung des Dialogs zwischen Buddhismus und Christentum, erw. und aktual. Neuauflage, Paderborn 2013; Minoru nAmBArA, Die Idee des absoluten nichts in der deutschen Mystik und seine entsprechungen im Buddhismus, Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960) 143 – 319. Burkhard hAseBrink, mitewürker gotes. Zur Performativität der umdeutung in den deutschen schriften Meister eckharts, in: Literarische und religiöse kommunikation, hg. v. strohschneider (wie Anm. 18), 62 – 88, hier 88 und 66.
184
susanne köbele tohuwabohu65
hu – bo – hu – bo – hhu – bo – otto – bo – ottto – bo – ohoo – bo – o
65
babba babba toobaba toobaba tohuubaba tohuubaba tohuwaababa tohuwaababa tohuwaboobaba tohuwaboobaba ohuwabohuubaba ohuwabohuubaba tohuwaboobaba tohwaababa tohuubaba toobaba babba
ernst JAndl, „tohuwabohu“, in: Ders., Laut und Luise, olten und Freiburg im Breisgau, 1966, 32 – 35.
Zur konkurrenz philosophisch-theologischer ursprungskonzepte im spätmittelalter ooha ooha ooha – uhu – ohoo
185
tut tut – tut tut – tut tut – tut tot – hut ab – hut ab – hut ab
tot tut tat tot tu totuuutatotu totutaaatotu totutatoootu toootutatotu
o oo ooo oooo ooooo a watta a watta a watta
Jandl demonstriert den Übergang vom ungestalten Chaos in die ordnung, indem er das titelgebende binnenreimende Fremdwort ‚tohuwabohu‘ in einzelsilben zerlegt, die – teils semantisch motiviert, teils rhythmisch-klanglich orientiert – rekombiniert werden. er fängt, unordentlich genug, mit der letzten silbe an („hu“!), als herrschte noch der schrecken, geht dann ein kurzes stück rückwärts, aber nicht konsequent („hu / bo“), bis in Strophe 2 – „ohoo“! – das „ganze“ Chaos erreicht ist: „tohuwabohu“, das umgehend erneut fremd wird: „totutatoootu“, angestoßen durch das aus der Reihe tanzende „ooha“; diese Silben kommen in „tohuwabohu“ gar nicht vor. Der weg zum „uhu“ ist da nicht mehr weit. Das letzte wort in Jandls anarchischer ursprungsgeschichte hat eine dem Chaos abgetrotzte, wie auch immer ironisch gemeinte dreifache Anerkennung der schöpfung: „hut ab / hut ab / hut ab“. Ganz zum schluss („a watta / a watta / a watta“) ist das Chaos wieder perfekt.
DAs „unPersÖnLICHe ABsoLute“ (brahman) unD Der „PersÖnLICHe Gott“ (ῑśvara) In Der tHeoLoGIe Des VIDyArAnyA (14. JAHrHunDert): eIne Antwort Des ADVAItA-VeDAntA AuF tHeIstIsCHe strÖMunGen Matthias H. Ahlborn 1 einleitung Zunächst ganz kurz zum historischen kontext und zur religiösen situation in Indien im 14. Jahrhundert: es gibt keine Institution, die eine allgemein verbindliche Lehre durchsetzen könnte; aber konkurrierende, sich bekämpfende Richtungen der Schriftinterpretation; sowie „volksreligiöse“1 strömungen. es gibt keine Vertreter der buddhistischen Lehren mehr, da diese die muslimischen eroberungen nicht überlebten. es entsteht ein muslimisches Großreich im norden Indiens (sultan von Delhi), das durch Plünderungen und Machtausbreitung auch im süden in erscheinung tritt2. Nach Kulke und Rothermund begann Vidyāraṇya (einer der bedeutendsten Vertreter des Advaita-Vedānta dieser Zeit) angesichts des „plötzliche[n] einbruch[s] des Islam in Zentral- und südindien“, „eine bewusste hinduistische religions- und kulturpolitik zu betreiben“3. Diese politischen ereignisse und der Islam als religion (ebenso wie das Christentum) werden aber in den hier thematischen philosophischen texten aus dieser Zeit meines erachtens ignoriert. Auseinandersetzungen in der philosophischen Sanskrit-Literatur des 14. Jahrhunderts finden nicht statt mit Islam oder Christentum, sondern mit anderen sanskritischen traditionen, vor allem solchen, die sich auf den gleichen Kanon geoffenbarter Texte beziehen (Upaniṣaden). Von diesen als „Vedānta“ bezeichneten Schulen gibt es zwei Grundarten: eine, die man „monotheistisch“4 (die Gruppe der Vaiṣṇavas), und eine, die man „mystisch“ (die Anhänger 1
2 3 4
Im indologischen kontext bedeutet dieser Begriff vor allem vormoderne religiöse Phänomene, deren primäres Medium nicht das sanskrit ist, die aber in einer äußerst komplexen Beziehung zur sanskritischen tradition stehen. siehe dazu Axel michAels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, 41 ff.; und Heinrich von stietencron, Der Hinduismus, (C. H. Beck wissen in der Beck’schen reihe 2158), München 2001, 101 ff. Für einen Überblick siehe Hermann kulke / Dietmar rothermund, Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis Heute (Beck’s Historische Bibliothek), 2. verbesserte und aktualisierte Auflage, München 1998, 207 – 249. kulke / rothermund, Geschichte Indiens (wie Anm. 2), 240. Von Heinrich von stietencon stammt der Vorschlag, nicht von „dem Hinduismus“ zu reden sondern von mehreren „großen monotheistischen Religionen“, von denen die Śrı̄ vaiṣṇava zu den bedeutendsten zählen. stietencron, Der Hinduismus (wie Anm. 1).
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Matthias H. Ahlborn
des Advaita-Vedānta) nennen könnte. Aus der Perspektive der „mystischen“ Schule erscheinen die „Monotheisten“ als sektiererische Abweichung von der Orthodoxie; aus der Perspektive der monotheistischen schulen erscheint die einheits-Mystik des Advaita als eine ketzerische Abweichung, da sie Gott alle Attribute und damit auch seine tätigkeit als schöpfer und erlöser abspricht. somit wäre eher Goodding zuzustimmen, der bei seiner Diskussion der these von einer „bewussten hinduistischen religions- und kulturpolitik“ zu dem schluss kommt: „To give some provisional answer [. . .], I think it is more likely that Vidyāraṇya promoted his Advaita Brahmanism in response to the Śrīvaiṣṇava sectarian presence in neighboring Andhra and tamil nadu, rather than in response to some Islamic presence.“5
Dann wäre aus der Perspektive des Vidyāraṇya die ihn am stärksten herausfordernde religiöse „Devianz“ der „sektiererische“, monotheistische Viṣṇuismus6. Das schließt nicht aus, dass der besonderen Förderung, die die Gruppe von gelehrten Mönchen um Vidyāraṇya vom Herrscher erfuhr, politische Motiven zugrunde lag, die sich aus der Gegnerschaft zu den muslimischen reichen ergab, wie z. B. auch stietencron vermutet: „Die Lehre, die es erlaubt, alle Götter, auch die Hochgötter monotheistischer religionen wie Vishnu und shiva, dem attributlosen Brahman unterzuordnen, wurde damals politisch eingesetzt, um die kräfte aller Hindus im kampf gegen die auf expansion bedachten sultane des Dekkhans zu vereinen.“7
Demnach hätten wir es hier mit zwei ebenen von Abweichung zu tun: (1) die Monotheismen gegenüber dem Advaita; (2) die muslimischen Sultanate gegenüber dem hinduistischen Vijayanagara. Aber welche politischen Motive die Menschen des 14. Jahrhunderts bei ihrem Einsatz für den Advaita-Vedānta hatten, werden wir nie wirklich wissen können; in den hier untersuchten philosophischen Texten wird uns darüber nichts mitgeteilt. Diese richten sich nach eigenen Angaben nicht an „die Hindus“, sondern an die Anhänger des Śaṅkarānanda, einem der Lehrer des AdvaitaVedānta 8. Im Folgenden möchte ich mich auf ausgewählte philosophisch-theologische Quellen des Advaita-Vedānta konzentrieren, in denen die aus der Perspektive dieser „einheits-Mystik“ abweichenden Lehren verschiedener theisten behandelt, kritisiert oder hierarchisierend integriert, also dem „attributlosen Brahman untergeordnet“ 5 6
7 8
robert Alan GooddinG, the treatise on Liberation-in-Life: Critical edition and translation, Diss., university of texas at Austin 2002, 17. Eine weitere Konstellation zeigt Walter Slaje auf: Vidyāraṇya übernimmt Ideen einer nicht-asketischen tradition (z. B. die Vorstellung von einer erlösung zu Lebzeiten) und passt sie an einen brahmanisch-mönchischen Kontext an; Walter slAJe, on Changing other’s Ideas. the Case of Vidyāraṇya and the Yogavāsiṣṭha, Indo-Iranian Journal 41 (1998), 103 – 124. stietencron, Der Hinduismus (wie Anm. 1), 29. Pañcadaśı̄ 1,2: „Diese untersuchung der wahrheit wird unternommen, damit die, deren Geist durch den Dienst an den Lotosfüßen [des Śaṅkarānanda] rein ist, leicht zur Erkenntnis gelangen.“ (tat pādāmburuha-dvandva-sevā-nirmala-cetasām/ sukha-bodhāya tattvasya viveko ’yaṃ vidhı̄yate//).
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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werden. Besonders interessant ist hier das 6. Kapitel der Pañcadaśı̄ (PD) des Vidyāraṇya9, in der der Theismus auf eine Weise behandelt wird, die mir spezifisch für Vidyāraṇya zu sein scheint. Eine zweite hier ausgewählte Textstelle behandelt in gewisser weise einen praktischen umgang mit der im 6. PD-kapitel thematisierten Vielheit von sich gegenseitig widersprechenden Gottesvorstellungen, durch den diese in innerem schweigen überschritten wird. Dabei wird sich auch die Frage stellen, ob es sich dabei um eine universale mystische erfahrung handeln könnte, ob diese Form schweigender religiosität ein globaler ort der einheit jenseits der realen religiösen Pluralität sein könnte, in der diese aufgehoben ist. 2 Pañcadaśī Kap. 6: die abweichenden Lehren von Gott In den 290 ślokas (aus 32 silben bestehende Verse) des 6. kapitels der PD, das in gewisser weise eine hierarchisierende Doxographie als Heilsweg entwirft, werden eine Vielzahl von theorien über Gott und die einzelwesen beschrieben, wie sie in der indischen Philosophie vertreten wurden. Die Materialisten10 leugnen die existenz nicht-materieller seelen und eines Gottes. einige schulen gehen zwar von einer nicht-materiellen seele aus, verzichten aber auf die Vorstellung eines Gottes. Die erste schule, die in dieser hierarchischen Doxographie die existenz eines Gottes (ı̄śvara) lehrt, ist der in den Yogasūtras des Patañjali dargestellte yoga: Gott steht über den seelen und ist der Lenker des sich zur welt entfaltenden urstoffs11. Aber selbst unter den schulen, die an einen solchen göttlichen Lenker der welt glauben, herrscht streit darüber, wie dieser Gott zu definieren sei12: die yoga-Anhänger sagen, Gott sei nur eine besondere seele13; andere sagen, Gott habe auch einen aus Feinstoffen bestehenden körper14; oder 9
10 11 12 13
14
PD 6. Die originalgetreueste mir bekannte Übersetzung ist: BHāratit̄ ir ̄ tHa-ViDyāraṇya, Pañcadaśı̄ , hg., übersetzt und erläutert von Jñānānanda Bhāratı̄ sVāminaḥ, Madras 1983; zwei sanskrit-kommentare sind in: BHāratit̄ ir̄ tHa-ViDyāraṇya / rāmakṛṣṇa / Acyutarāya moḍaka, Pañcadaśı̄ . Śrı̄ -Rāmakṛṣṇa-viracitayā Padadı̄ pikākhyayā vyākhyayā, tathā Moḍakopāhva-Śrı̄ madAcyutarāya-paṇḍita-kṛta-Pūrṇānandendukaumudı̄ -saṃjñaka-vyākhyayā ca sametā, hg. von Rāvajı̄ Śarman, Puṇyākhyapattanam 1895. lokāyata; PD 6,60. PD 6,102: „Der yoga lehrt einen Gott, der der Lenker des aufgrund der nähe des Bewusstseins tätigen urstoffes ist. es heißt, dass er höher als die seelen ist.“ (cit-saṃnidhau pravṛttāyāḥ prakṛter hi niyāmakam/ ı̄śvaraṃ bruvate yogāḥ sa jı̄vebhyaḥ paraḥ śrutaḥ//). PD 6,104: „selbst hierüber streiten die Vertreter der verschiedenen Lehren mit jeweils eigenen Argumenten; und sie zitieren ihrer Weisheit entsprechende Sätze zur Bestätigung.“ (atrāpi kalahāyante vādinaḥ sva-sva-yuktibhiḥ/ vākyāny api yathā-prajñaṃ dārḍhyāyodāharanti hi//). PD 6,105 ff.: „Gott ist eine besondere seele, die nicht mit negativen emotionen, Handlungen (karman) und deren ergebnissen und deren träger verbunden ist.“ (kleśa-karma-vipākais tadāśayair apy asaṃyutaḥ / puṃ-viśeṣo bhaved ı̄śo//); vergleiche Yogasūtra 1.24: kleśa-karmavipākāśayair aparāmṛṣṭaḥ puruṣa-viśeṣa ı̄śvaraḥ. PD 6,111 – 112. Diese Form wird hiraṇyagarbha genannt. sie scheint eher das ergebnis der Veda-Interpretation des Advaita-Vedānta zu sein, als die Lehre einer wirklich existierenden religiösen Gruppe.
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Gott habe einen körper, der auch aus den materiellen Dingen besteht, also die welt sei der körper Gottes15. schließlich erwähnt der text die verschiedenen Ansichten, einer der bekannten „hinduistischen“ Götter sei der eine höchste, die Welt lenkende Gott: zunächst die Ansicht, Brahmā sei der höchste Gott16; dann, Viṣṇu stünde über ihm, weil Gott Brahmā in der Lotosblüte sitzt, die aus dem Nabel des Viṣṇu erwächst17. Die Anhänger des Śiva, die sich im Besitz heiliger texte wähnen18 meinen, er sei der Höchste, weil nicht einmal Viṣṇu dessen Füße finden konnte19; andere meinen, Gaṇeśa sei der höchste Gott, denn er wurde von Śiva verehrt, um die drei Städte zerstören zu können. Diese Argumente der Anhänger einer dieser Götter entnimmt Vidyāraṇya der purāṇischen Literatur, in der in der regel einer dieser Götter als der eine mächtigste Gott betrachtet wird, ohne den anderen existenz oder Göttlichkeit abzusprechen. Aber sie werden dem jeweils bevorzugten Gott mit Argumenten wie den hier genannten untergeordnet. Schließlich erwähnt Vidyāraṇya noch, dass in manchen Familien sogar Pflanzen als Gott verehrt werden, nämlich der heilige Feigenbaum, der Arka-Baum und der Bambus20. Für Vidyāraṇya stellt dieser Streit zwischen verschiedenen Sekten oder Schulen, der teilweise eine sich aus der Veda-Interpretation ergebende konstruktion des Advaita-Vedānta ist, teilweise aber auch eine reale Entsprechung im purāṇischen „Hinduismus“ hat, offensichtlich ein Problem dar. es mag sein, dass ihn oder seine unterstützer hierbei die sorge um eine religiös nicht geeinte Gesellschaft angesichts muslimischer Bedrohungen antreibt; – aber der Text selbst liefert dafür keinen Hinweis. sein Ziel ist es, den epistemologisch unbefriedigenden Zustand von widersprüchlichen Aussagen zu überwinden, und nicht das, einen politisch unerwünschten gesellschaftlichen Zustand zu beseitigen. Man hat es hier primär mit abweichenden Aussagen über Gott zu tun, und nicht mit im religiösen abweichenden gesellschaftlichen Gruppen. Wie erklärt Vidyāraṇya das Unvermögen, zu einer allgemeingültigen Definition von „Gott“ zu gelangen? Das liegt daran, dass die Anhänger dieser vielen, widersprüchlichen Lehren sich selbst zwar für gebildet halten, aber in wirklichkeit einfach so dumm sind, sich auf bloßes Argumentieren zu verlassen, und dabei die geoffenbarten texte zu ignorieren21. Dagegen sind die, die sich an den geoffenbarten texten orientieren, und nicht nur an der Vernunft, einer Meinung über Gott. sie untersuchen (vicāra) Argumente und die offenbarung, und sind sich daher einig
15 16 17 18 19 20 21
PD 6,113 – 114. Gott in der Form des Universums heißt virāj; auch hier gilt das in der vorangehenden note gesagte. PD 6,116 f. Die Anhänger des Viṣṇu nennt Vidyāraṇya (PD 6,117) bhāgavata. sie sind āgama-māninaḥ. PD 6,118. PD 6,121: aśvattha, arka, vaṃśa. PD 6,58: „sie bilden sich ein, Gelehrte zu sein [. . .], aber sie irren sich, da sie ohne die geoffenbarten texte (śruti) zu beachten, aus Dummheit sich nur auf Argumente yukti stützen.“ (bhrāmyante paṇḍitaṃmanyāḥ [. . .]/ anādṛtya śrutiṃ maurkhyāt kevalāṃ yuktimāśritāḥ//).
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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darüber, wer Gott ist22: nämlich das reine Bewusstsein (das brahman) in Verbindung mit der Illusionskraft (māyā), die der urstoff der schöpfung ist23. 3 Die welt: eine entfaltung Gottes Nach Vidyāraṇya gibt es also einen höchsten Gott, der die Welt kontrolliert und lenkt. Dieser Gott ist das reine Bewusstsein, das brahman, zusammen mit seiner Illusionskraft, der māyā. Damit heißt es hier noch nicht, wie später oft im neoVedānta, die verschiedenen purāṇischen Götter wie Viṣṇu und Śiva seien verschiedene erscheinungsformen des einen brahman, sondern schlicht: die Lehren, dass Viṣṇu oder Śiva der höchste Gott sei, sind falsch, da sie auf falschen Überlieferungen beruhen, nicht auf den allein autoritativen Veden, das heißt den Upaniṣaden. sie besitzen nur eine relative wahrheit, da sie immerhin die existenz eines über die einzelwesen herrschenden Gottes lehren. Nach dem Advaita-Vedānta des Vidyāraṇya in PD 6 ist das Universum eine Entfaltung Gottes. Die Illusionskraft mit der Gott wirkt ist zugleich der urstoff, der sich selbst zur welt mit den Leibern aller wesen entfaltet. Da diese Illusionskraft zu Gott gehört, ist er selbst gleichsam das Material, aus dem alles besteht24; alles ist von den Formen durchdrungen, die gleichsam seine teile sind25; und das Universum ist der Körper Gottes26. Aus diesem Gottesbild ergibt sich, dass die Lehren der verschiedenen sekten in ihrem Exklusivitätsanspruch zwar falsch sind, nicht aber in ihrem Glauben Viṣṇu etc. sei der eine Gott; denn da alle Wesen ein Teil Gottes sind, können sie alle, sogar ein heiliger Baum, als der eine die welt lenkende Gott verehrt werden27. Denn jeder Baum ist gleichsam eine Manifestation Gottes und ein teil von ihm. Mehr dazu unten. 22 23
24 25 26
27
PD 6,122: „Die, die mit dem wunsch, zu Gewissheit über die wahrheit zu gelangen, Argumente und die Überlieferung untersuchen, kommen zu einer einzigen einsicht.“ (tattva-niścayakāmena nyāyāgama-vicāriṇām/ eka eva pratipattiḥ syāt[. . .]). PD 6,123ab: „Man muß wissen, dass eben die Illusionskraft der urstoff [des universums] ist, und der Besitzer der Illusionskraft eben Gott.“ (māyāṃ tu prakṛtiṃ vidyān māyinaṃ tu maheśvaram/). Das ist ein wörtliches Zitat aus der Śvetśvatara-Upaniṣad, nämlich Vers 4.10; Śvetāśvatara Upaniṣad. With the commentary of Śaṅkarācārya, hg. und übersetzt v. Swami GAmBhirAnAndA, 1. edition, 4. Impression, kolkata 2009, 150. PD 6,165: „Der Faden befindet sich im Stoff als dessen Materialursache; ebenso befindet sich Gott überall, da er die Form der Materialursache von allem hat.“ (tantuḥ paṭe sthito yadvad upādānatayā tathā/ sarvôpādāna-rūpa-tvāt sarvatrâyam avasthitaḥ//). PD 6,123cd (Fortsetzung von Śvetaśvatara-Upaniṣad 4.10): „Diese ganze Welt ist von dem durchdrungen, was eben seine teile sind.“ ([. . .] asyâvayava-bhūtais tu vyāptaṃ sarvam idaṃ jagat.). PD 6,168: „weil [der stoff] die existenz [der Fäden] in Form des stoffes ist, ist der stoff der Leib der Fäden; ebenso ist das Universum, weil es die Existenz [Gottes] in Form des Universums ist, sein Leib.“ (paṭa-rūpeṇa saṃsthānāt, paṭas tantor vapur yathā/ sarva-rūpeṇa saṃsthānāt, sarvam asya vapus tathā//). PD, 124: „Dass das so ist, gibt es keinen Konflikt zwischen [uns und] denen, die lehren, dass [irgend etwas] bis hin zu einer Pflanze Gott sei.“ ([. . .] tathā saty avirodhaḥ syāt sthāvarântêśavādinām.). Der Kommentar dazu von Rāmakṛṣṇa lautet: „Weil wir zugeben, dass alles Gott ist, gibt es mit niemandem einen Konflikt.“ (sarvasyâpîśvara-tvôpagamān na kenâpi virodha iti bhāvaḥ.).
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In dieser besonderen Verwendung des māyā-konzepts dient es nicht in erster Linie dazu die welt als bloße Illusion abzuwerten, und den rückzug der entsager / Mönche, für deren kreis die PD ja geschrieben wurde, zu begründen. Im Gegenteil scheint hier tatsächlich eine Art „sakralisierung der natur“, auf die sich ja moderne Ökologie-Bewegungen oft beziehen, vorzuliegen. so schreibt beispielsweise der iranisch-amerikanischen Islamwissenschaftler seyyed Hossein nasr, der bereits 1968 eine Verbindung zwischen ökologischer und „spiritueller“ krise postulierte, über die „sakralität“ der natur: „the sacred is a very fecund and living religious and spiritual category. For example, I have been trying to talk over the years about the revival of the spiritual understanding of nature, and one of the key terms that I have to use is precisely the sacred. If a western person were to look at a tree as sacred with the same sense of reverence (because the sacred, as otto said, always creates in us a sense of awe and reverence) as would a native American, he would not cut forests so easily.“28
sowie über māyā: „But māyā is not only illusion, [. . .] but also the divine play or art. It veils the Supreme Self, the Absolute reality, but also reveals and displays it.“29
Die Funktion eines solchen natur-Begriffs ist hier im 14. Jahrhundert verständlicherweise nicht, eine besondere Beziehung zwischen Mensch und natur zu schaffen, sondern eine Position gegenüber religiösem Pluralismus zu entwickeln; und die Position der PD ist nicht einfach: alles ist heilig, alle religionen sind gleich wahr. Die Verehrung des Viṣṇu oder eines heiligen Steines führt zwar zur Erfüllung der Wünsche der Verehrer; aber sie kann nicht die endgültige Erlösung von allem Leid bewirken. Die erlösung ist nur durch erkennen des wahren wesens Gottes (brahman) und der seele (ātman), die beide eins sind, möglich. 4 Der allwissende, allmächtige Gott: eine Mischung aus Bewusstsein und Feinstofflichem Der Zweck, den die PD nach eigenen Angaben verfolgt, ist nicht die Bekämpfung der abweichenden, sektiererischen Verehrung der hinduistischen Hochgötter; auch nicht die Konstruktion einer einheitlichen hinduistischen Identität; – sondern die Erkenntnis der Wahrheit (siehe oben Anm. 8). Die für das sechste Kapitel der PD spezifische Lehre von Gott wird nicht (nur) entworfen, um eine theistische Lehre angesichts einer Vielheit von sich gegenseitig widersprechenden theismen zu besitzen, die nicht mythologisch sondern rational argumentiert, und die nicht sektiererische texte (Purāṇas) zitiert, sondern die Upaniṣaden. Die Lehre der PD zielt (nach eigenen Angaben) letztendlich darauf, dem Leser zu einem kognitiven ereignis zu verhelfen, das sie als „erkenntnis“ (u. a. bodha) bezeichnet. Gemeint ist – wie in allen Formen 28 29
seyyed Hossein nAsr, In search of the sacred. A Conversation with seyyed Hossein nasr on His Life and thought, santa Barbara, oxford [u. a.] 2010, 205. seyyed Hossein nAsr, Man and nature. the spiritual Crisis of Modern Man, London [u. a.] 1968, 88.
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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des Advaita-Vedānta – die Erkenntnis der Einheit des Selbstes mit dem brahman, das reines sein, Bewusstsein und Glückseligkeit ist. Vielleicht ist das eine universale mystische erfahrung, die man direkt als Gegenstand von Philosophie, religionswissenschaft, Psychologie, Soziologie etc. untersuchen kann; – womit man sich die Mühe sparen könnte, die komplizierte „scholastik“ des 14. Jahrhunderts zu untersuchen. Aber auch das würde bedeuten, dass wir der Ansicht sind, das, was die PD vermitteln will, alles schon zu kennen, und zwar besser als deren Autoren selbst, da wir im Besitz einer weiter entwickelten wissenschaft sind. Hier wird dagegen die these vertreten, dass das konzept der „wahrheitserkenntnis“ (tattva-jñāna) in der PD nur verstanden werden kann im kontext der dort gelehrten Metaphysik. Das impliziert noch keinen kulturrelativismus (im ethnischen, geographischen oder historischen Sinn); aber ein interkultureller Vergleich von „mystischen Erfahrungen“ müsste die jeweiligen Metaphysiken und deren Diskussionszusamenhänge mitberücksichtigen. Worin besteht die Gotteslehre, von der Vidyāraṇya sagt, sie sei der Konsens aller, die sich an den geoffenbarten texten orientieren? Diese Gotteslehre basiert zunächst auf der Lehre von den drei Bewusstseinszuständen – Tiefschlaf, Traum und Wachbewusstsein –, die er aus der Māṇḍūkya-Upaniṣad übernimmt, und die bereits seit den Anfängen des Advaita-Vedānta (bei Gauḍapāda) für diesen eine wichtige rolle spielt. In der PD werden diese drei Bewusstseinszustände den drei stadien der weltentfaltung parallel gesetzt, durch die sich die welt zyklisch entfaltet und wieder einfaltet, wie auch die drei Bewusstseinszustände alternieren. 1. Der tiefschlaf, in dem es keine Differenzierung von erkenntnissubjekt und -objekt gibt, entspricht dem Zustand vor entstehung der welt. Im tiefschlaf existiert das Ich, sein wissen und seine Gewohnheiten, das heißt tugenden und Laster nur noch in latenter Form, als sogenannte Erinnerungsspuren oder Prägungen. entsprechend existieren diese erinnerungsspuren der Lebewesen auch während sich die welt im Zustand der Auflösung befindet, also nach ihrer Zerstörung und vor ihrer Neu-Entstehung. Die Erinnerungsspuren befinden sich dann in dem māyā genannten urstoff30. 2. wenn eine Phase des tiefschlafs wieder in die eines traumes übergeht, entsteht das träumende subjekt wieder neu aus diesen erinnerungsspuren. Dem entspricht bei Entstehung und Vernichtung der Welt ein feinstofflicher Zwischenzustand zwischen māyā und normaler Materie. Zu Beginn der weltentstehung bildet sich zunächst diese feinstoffliche Welt aus den Erinnerungsspuren; vor allem entfalten sich die Erinnerungsspuren zu den feinstofflich gedachten psychischen Organen der einzelnen Lebewesen31. 3. nach dem erwachen aus tiefschlaf und traum nimmt man wieder die materielle Außenwelt wahr.
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PD 6,151cd, 152ab: „Im tiefschlaf erfährt man nur diesen māyā-samen. Die welt des traums und des Wachzustandes ist darin eingefaltet, wie ein Baum in einem Samen. Daher befinden sich dort die erinnerungsspuren der gesamten welt.“ (māyā-bı̄jaṃ tad evaîkaṃ suṣuptāv anubhūyate// jāgrat-svapna-jagat tatra lı̄naṃ bı̄ja iva drumaḥ/ tasmād aśeṣa-jagato vāsanās tatra saṃsthitāḥ//). PD 6,154ab: „Dieser same [= die erinnerungsspur eines erkenntnisorgans] wächst in Form des erkenntnisorgans.“ ([. . .] tad bı̄jaṃ dhı̄-rūpeṇa prarohati/).
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Matthias H. Ahlborn ebenso entsteht im Prozess der weltentfaltung aus den Feinstoffen die aus fünf elementen (erde, wasser usw.) bestehende materielle welt.
eigentlich kommt diese erklärung der weltentstehung ohne die Vorstellung eines schöpfergottes aus, da die wesen sich jeweils aus ihren erinnerungsspuren im urstoff abwechselnd entfalten und einfalten. Dennoch vertritt die PD keinen atheistischen standpunkt, vielmehr versucht sie Gott als schöpfer der welt auf Grundlage dieses Modells von den erinnerungsspuren im urstoff als ursprung aller wesen und der welt zu erklären. Dabei geht sie gleichsam reduktionistisch vor, da sie „Gott“ als eine kombination unpersönlicher Bestandteile darstellt. Die eigentliche höchste Wirklichkeit im hier betrachteten Advaita-Vedānta ist nicht der sich entfaltende und einfaltende urstoff, sondern das reine, unbewegte, nicht in die welt verstrickte brahman. Dieses reine Bewusstsein ist zwar die höchste bzw. letztendlich einzige wirklichkeit, aber da es völlig unbewegt und frei von jeder tätigkeit ist, ist es als solches nicht ursache oder schöpfer der welt. Dazu wird es erst, indem es sich im urstoff gleichsam spiegelt. Dieses spiegelbild des reinen Bewusstseins ist mit dem Urstoff verbunden, und wird auch „Besitzer der māyā“ genannt32, während das reine Bewusstsein ewig ungebunden bleibt. Der über die wesen herrschende, sie lenkende und allwissende Gott (ı̄śvara) ist eben dieses spiegelbild des reinen Bewusstseins (brahman) im urstoff, das heißt in der Gesamtheit der erinnerungsspuren der einzelwesen33. Hier muss noch einmal betont werden, dass diese Darstellung den AdvaitaVedānta der PD beschreibt. Besonders hinsichtlich der hier behandelten Punkte gibt es eine breite Vielfalt von Meinungen innerhalb des Advaita-Vedānta, und tiefgreifende Veränderungen im Laufe seiner Geschichte. so stellt z. B. schon Paul Hacker fest, dass Śaṅkara und Padmapāda noch nicht zwischen ı̄śvara und brahman unterschieden (siehe unten Anm. 60). In der PD dagegen ist das brahman reines Bewusstsein, und der persönliche Gott nur dessen spiegelbild in der māyā bzw. in den erinnerungsspuren aller wesen. Dennoch kann dieser Gott mit den monotheistisch anmutenden Prädikaten bezeichnet werden, die von den geoffenbarten schriften etabliert wurden, und die auch von den oben erwähnten „abweichenden“ Lehren (der „Sekte“ der Vaiṣṇava) verwendet werden34: er ist Herr über
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Im oben erwähnten in PD 6,23 zitierten Vers aus der Śvetāśvatara-Upaniṣad (4.10): „[Man muß wissen, dass] der Besitzer der Illusionskraft eben Gott [ist].“ (māyinaṃ tu maheśvaram.). PD 6,156: „Die Māyā ist wie eine Wolke; die Erinnerungsspuren der Erkenntnisorgane sind wie die Tröpfchen in dieser Wolke; das Spiegelbild des Bewusstseins in diesen Erinnerungsspuren [= Gott] ist wie der in den tröpfchen gespiegelte raum.“ (megha-vad vartate māyā megha-sthitatuṣāra-vat/ dhı̄-vāsanāḥ; cidābhāsaḥ tuṣāra-stha-kha-vat sthitaḥ//). PD 6,157: „Das Spiegelbild des Bewusstseins ist von der Māyā abhängig; in der Offenbarung [Śvetāśvatara Upaniṣad 4.10] wird es „Besitzer der Māyā“ und „Großer Herr“ genannt; und eben dieses wird auch „Innerer Lenker“, „allwissend“, „Mutterschoß der welt“ genannt [in Māṇḍūkya-Upaniṣad 6].“ (māyâdhı̄naś cidābhāsaḥ śruto māyı̄ maheśvaraḥ/ antaryāmı̄ ca sarvajño jagadyoniḥ sa eva hi//). Mit dieser Übersetzung gebe ich Jnanananda Bharati svaminah recht, der in der Tradition von Sringeri übersetzt: „The reflected consciousness is dependent on Maya and is said to be the owner of Maya and the Great Lord. He Himself is the inner ruler, the
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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alle (ı̄śvara), allwissend (sarvajña), innerer Lenker (antaryāmin), Mutterschoß von allem (jagadyoni) usw. 35. Diese Aufzählung richtet sich nach der MāṇḍūkyaUpaniṣad, aus der auch die Unterscheidung der verschiedenen Bewusstseinszustände stammt: „Dieser [die Form des Bewusstseins im Tiefschlaf] ist Herr über alle; dieser ist allwissend; dieser ist der innere Lenker; dieser ist der Mutterschoß von allem; denn er ist Ursprung und Untergang aller wesen.“36
Bereits in der Upaniṣad wird das inhaltlich eher einer theistischen Sphäre angehörende konzept eines allwissenden und allmächtigen wesens, das alles lenkt, auf ein unpersönliches Prinzip übertragen. Der Kommentar des Śaṅkara ist nicht viel mehr als eine Umschreibung der Upaniṣad-Stelle, aber die PD entwickelt erstaunliche theorien zur erklärung des Auftretens dieser Attribute an einem eigentlich unpersönlichen und zusammengesetzten Phänomen, nämlich dem spiegelbild des reinen Bewusstseins in der Masse der erinnerungsspuren sämtlicher Geschöpfe: „Allwissend“ ist dieses spiegelbild, weil es mit den erinnerungsspuren der erkenntnisorgane aller wesen verbunden ist, die alles in sich (als keim) enthalten. „Innerer Lenker“ ist es, weil diese erinnerungsspuren die entfaltung und entstehung der einzelwesen lenken. Da hier eine besonders interessante Verbindung der konzepte von einem alles lenkenden wesen und den unpersönlich wirkenden erinnerungsspuren oder Prägungen im urstoff vorliegt, soll hier eine längere Passage übersetzt werden: „sich in den Hüllen [des selbstes], von denen „die aus erkennen bestehende“ die wichtigste ist, befindend, und an anderen Orten, lenkt es; – daher wird es zu einem Inneren Lenker37. Der Faden befindet sich im Stoff als dessen Materialursache; ebenso befindet es sich überall, da es die Form der Materialursache von allem hat38. weil [der stoff] die existenz [der Fäden] in Form des stoffes ist, ist der Stoff der Leib der Fäden; ebenso ist das Universum, weil es die Existenz [Gottes] in Form des universums ist, sein Leib39. Der stoff ist abhängig von dem zusammenziehen und
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omniscient and source of the universe.“ BHāratītīrtHa-ViDyāraṇya, Pañcadaśı̄ (wie Anm. 9). Dagegen zeigt sich in der Übersetzung von Swami Swahananda der Versuch des „Neovedānta“ solche stellen dem eigenen Gottesbild anzupassen: „shruti says that this (pure universal) consciousness reflected in Maya is Ishvara which controls Maya as well. The great Ishvara is the inner ruler, omniscient and cause of the universe.“, BHāratit̄ ir̄ tHa-ViDyāraṇya, Pañcadaśı̄ , hg. und übersetzt von swami swAhAnAndA, Chennai 1967. Diese spezielle Lehre der PD 6 über das wesen dieses höchsten Gottes (ı̄śvara) ist einerseits ein faszinierender Versuch eine synthese der (eher in Buddhismus und Jainismus dominanten) karmatheorie und hinduistisch-monotheistischer Vorstellungen, konnte sich aber andererseits in der Geschichte des Advaita nicht durchsetzen. Māṇḍūkya-Upaniṣad 6: eṣa sarveśvara eṣa sarvajña eṣo ’ntaryāmy eṣa yoniḥ sarvasya prabhavāpyayau hi bhūtānām; siehe Andrew O. fort, the self and its states. A states of Consciousness Doctrine in Advaita Vedānta, Delhi 1990, 154. PD 6,163: vijñānamaya-mukhyeṣu kośeṣv anyatra caîva hi/ antas tiṣṭhan yamayati tenântaryāmitāṃ vrajet//. PD 6,165. siehe Anm. 24. PD 6,168. siehe Anm. 26.
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Matthias H. Ahlborn auseinanderziehen der Fäden; der Stoff ist nicht im Geringsten unabhängig40. ebenso ist [die seele] abhängig davon, wo dieser Innere Lenker wie von welcher erinnerungsspur umgewandelt wird41.“
„Quelle der welt“ ist dieser „Gott“, weil er wie gesagt, das spiegelbild des reinen Bewusstseins in der Gesamtheit der erinnerungsspuren aller wesen ist, die sich zu einzelwesen entfaltet42. er erschafft nicht eine welt, die zuvor noch nicht existierte, sondern aus ihm (das heißt aus seiner aus den erinnerungsspuren bestehenden Illusionskraft/-stoff) heraus manifestiert sich die zuvor latente welt, und zwar dem karman der wesen folgend43. Diese entfaltung „Gottes“ zur welt erfolgt in den stufen der oben dargestellten auf die Māṇḍūkya-Upaniṣad zurückgehenden drei Ebenen:44 1. Das Bewusstsein verbunden mit dem kollektiv der erinnerungsspuren ist der „Innere Lenker“ also Gott als „Herrscher“ (ı̄śvara); er entspricht dem Tiefschlaf. Er wurde oben als „allwissend“ und „Innerer Lenker“ dargestellt. 2. Das Bewusstsein verbunden mit dem Kollektiv der feinstofflichen psychischen Organe ist Gott in Form der „Fadenseele“ (sūtrātman); er entspricht dem Traumzustand. 3. Das Bewusstsein verbunden mit dem kollektiv aller materiellen Leiber ist Gott in Form der „Funkelseele“ (virāḍātman) genannten Form.
Da der Kosmos also eine dreistufige Hierarchie ist, an deren Spitze Gott als allwissender Lenker (ı̄śvara, ı̄śa) steht, der sich zuerst zur Gesamtheit alles Psychischen entfaltet, und dann zur materiellen welt, ist alles Gott, und darf als solcher verehrt werden: „Sie wissen, dass alles von Gott Brahmā bis zum Grasbüschel ein Teil von [Gott als Kosmos (virāj)] ist45. Gott (īśa), die Fadenseele, der Kosmos, Brahmā, Viṣṇu, Śiva, Indra, Agni, Gaṇeśa, Bhairava, Mairāla, Mārikā, Yakṣas, und Rākṣasas (Dämonen) 46, Brahmanen, Kṣatriyas, Śūdras, kühe, Pferde, wildtiere, Vögel, der Ficus religiosa, der Ficus indica, der Mangobaum usw. Getreide, reis, Gras usw. 47. Wasser, Steine, Lehm, Holz, eine Axt, ein Spaten, usw. – alles
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PD 6,169: tantoḥ saṃkoca-vistāra-calanâdau paṭo yathā/ a-vaśyam eva bhavati, na svātantryaṃ paṭe manāk//. PD 6,170: tathāntaryāmy ayaṃ, yatra yayā vāsanayā yathā/ vikriyate, tathāvaśyaṃ bhavaty eva na saṃśayaḥ//. PD 6,182 ff. PD 6,183: „er bringt durch die Macht des karman der Lebewesen die gesamte in ihn eingefaltete Welt zum Vorschein; so wie ein Tuch ausgefaltet wird.“ (āvir-bhāvayati svasmin vilı̄naṃ sakalaṃ jagat/ prāṇi-karma-vaśād eṣa paṭo yadvat prasāritaḥ//). Diese werden zu Beginn von PD 6 genannt und sind dessen Hauptthemen PD 6,2 ff. In der Upaniṣad wird noch ein vierter Bewusstseinszustand erwähnt. Man hat in diesen vier stufen eine Parallele zu den vier Hypostasen des Plotinus gesehen: das eine, der nous, die weltseele und die Materie. siehe the Heart of Plotinus. the essential ennads, hg. v. Algis UžDaVinys, Bloomington, Indiana 2009, 38 f. PD 6,205 cd: dhātr-ādi-stamba-paryantān etasyâvayavān viduḥ//. PD 6,206: ı̄śa-sūtra-virāḍ-vedho-viṣṇu-rudrêndra-vahnayaḥ/ vighna-bhairava-mairāla-mārikāyakṣa-rākṣasāḥ//. PD 6,207: vipra-kṣatriya-viṭ-śūdrā gavâśva-mṛga-pakṣiṇaḥ/ aśvattha-vaṭa-cūtâdyāḥ yava-vṛı̄hi-tṛṇâdayaḥ//.
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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das ist Gott (īśvara); wenn man es verehrt, bringt es Gewinn48. sie erlangen einen Gewinn, der jeweils ihrer Verehrungspraxis entspricht. Aber der Grad ihres Gewinns richtet sich nach dem objekt und der Praxis ihrer Verehrung49.“
In diesem konzept verschiedener Formen des einen Gottes, verhält sich der eine Gott zu allem partikularen seienden, also zu jedem wesen und jedem kieselstein, wie das Ganze zu einem teil, und wie das Material zu dem daraus geformten. somit hat – wie oben erwähnt – auch alles, was als ein Gott verehrt wird, Teil an der Göttlichkeit des einen ı̄śvara. 5 erlösende einheitserkenntnis: „Das bist Du“ wie bereits erwähnt ist nach der PD zwar jede religiöse Verehrung von irgendeinem objekt gewinnbringend, aber sie führt nicht zur letztendlichen erlösung oder Befreiung von allem Leid. Die beruht auf der erkenntnis der letztendlichen einheit von „Geschöpf“ und „schöpfer“, nicht auf der Verehrung des „schöpfers“ durch sein „Geschöpf“. Die erlösende einheitserkenntnis ist das zentrale Ziel des Advaita-Vedānta und bedeutet Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten und Befreiung von allem Leidvollen. Diese einheit ist die wahre Bedeutung der „Großen Sätze“ der Upaniṣaden, deren wichtigster das berühmte „Das bist Du“ ist50. Die direkte Bedeutung des „Das bist Du“ ist: „Du, der Erlösungssuchende – das heißt eine individuelle Seele – bist Gott, der Schöpfer der Welt.“ Das kann so aus der rationalen Perspektive, die der Advaita-Vedānta spätestens nach Śaṅkara vertritt, nicht wahr sein. Der „höchste Gott“ (ı̄śvara) ist ein spiegelbild des Bewusstseins in der Gesamtheit der wesen in ihrer latenten Form (als erinnerungsspuren), also eine scheinbare Vermischung von Bewusstsein und Illusionskraft; die Einzelseelen entstehen durch die entfaltung ihrer jeweiligen latenten Form aus dieser Gesamtheit und aus der Latenz zu einem feinstofflich-psychischen Organ. In diesem individuellen Feinstoffleib befindet sich weiterhin das Spiegelbild des reinen Bewusstseins (brahman). Einerseits sind die Einzelseelen so – wie der gesamte Kosmos – eine Entfaltung Gottes, andererseits ein feinstofflicher Leib mit einem Spiegelbild des reinen Bewusstseins, das ihr eigentliches wesen ist. Gott als Schöpfer oder Urstoff mit Bewusstseins-Reflexion und eine Einzelseele als dessen entfaltung können nicht identisch sein. Daher muss das „Das bist Du“ interpretiert werden: Nach der schon von Sureśvara in seiner Naiṣkarmyasiddhi verwendeten Interpretation werden die Wörter „Das“ und „Du“ hier nicht in ihrer vollen Bedeutung gebraucht, sondern unter Aufgabe eines teils
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PD 6,208: jala-pāṣāṇa-mṛt-kāṣṭha-vāsyā-kuddālakâdayaḥ/ ı̄śvarāḥ sarva evaîte pūjitāḥ phala-dāyinaḥ// PD 6,209: yathā yathôpāsate taṃ phalam ı̄yus tathā tathā – phalôtkarṣâpakarṣau tu pūjya-pūjânusārataḥ//. Aus der Chāndogya-Upaniṣad Kap. 6.
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Matthias H. Ahlborn
ihrer Bedeutung51. Die Grundbedeutung des „Das“ in diesem satz ist das reine Bewusstsein (brahman) verbunden mit der māyā, das „allwissend“, „Mutterschoß aller wesen“ etc. ist52. Aber hier bedeutet es nur das brahman, nicht die māyā. entsprechend ist die Grundbedeutung des „Du“ das Bewusstsein vermischt mit einen feinstofflichen Leib; hier bezeichnet es aber das reine Bewusstsein, ohne Feinstoffleib53. und auf dieser ebene sind Gott und einzelwesen identisch: ihr innerer wesenskern ist jeweils das eine undifferenzierte Bewusstsein54. 6 relativierung der Abweichungen: mereologisch, kausal und ontologisch Die theorien über Gott in PD 6 werden hier als ein Beispiel für den umgang der Advaita-tradition mit abweichenden Lehren herangezogen. Mir erscheint es sinnvoller, einzelne texte exemplarisch zu untersuchen, als sich zu schnell in allgemeinen Überlegungen über den Advaita oder gar den Hinduismus und seinen „Inklusivismus“55 zu verlieren. Die Jahrtausende alten indischen traditionen sind so umfangreich und vielfältig, dass sich meines erachtens für jede theorie Belege finden ließen. Daher vertrete ich hier nicht die Auffassung, etwas über allgemeine „indische Denkformen“ zu sagen, und bin so auch nicht in Gefahr, in den strudel der „orientalismus“-Debatte zu geraten. Zurück zu PD 6. Hier wird eine abweichende wahl von objekten religiöser Verehrung nicht dämonisiert oder als Manifestation des Bösen dargestellt. Diese „falschen“ objekte besitzen vielmehr eine Art relativer Sakralität und ihre Verehrung ist daher auch relativ wirksam. Diese relativierung erfolgt mit Hilfe der beiden oben dargestellten Lehrinhalte: 1. Gotteslehre: mereologische und kausale relativierung der sakralität von objekten Da alle objekte, die von ihren Anhängern verehrt werden (Götter, Dämonen, Ficus, steine etc.), und denen daher de facto sakralität zugeschrieben wird (vor allem in dem sinn, dass Ihre 51 52 53 54
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lakṣaṇā. Siehe PD 1,43 ff.; PD 7,71 ff.; Siehe Michael comAns, the Method of early Advaita Vedānta. A Study of Gauḍapāda, Śaṅkara, Sureśvara and Padmapāda, Delhi 2000, 291 – 294; „implied meaning“. PD 7,72. PD 7,71. Interessant ist, dass radikale theisten (Madhva) hier die wörter anders trennen, so dass der satz lautet „Das bist Du nicht“; und nach der modernen Forschung (Upaniṣads. A new translation, hg. und übersetzt v. Patrick olivelle, oxford, new york 1996, 152) der gesamte satz so übersetzt werden muss: „And that’s how you are.“. Zur „indischen Denkform“ des Inklusivismus siehe Paul hAcker, Inklusivismus, in: Inklusivismus. eine indische Denkform, hg. v. Gerhard oBerhAmmer, wien 1983. Auch dieser Artikel hat eine Auseinandersetzung zwischen „mechanistischer“ und theistischer kosmogonie (in älteren als den hier betrachteten texten) zum Ausgangspunkt: „Man polemisiert nicht direkt gegen die gegnerische weltanschauung, sondern man anerkennt ihre wichtigen Begriffe, vielleicht sogar ihren wichtigsten Begriff, wie etwa der Begriff des schöpfergottes in einer sonst mechanistischen kosmogonie anerkannt werden kann, wenn auch als Produkt der urmaterie. Aber man ordnet die Zentralbegriffe gleichzeitig der eigenen weltanschauung unter“ (14).
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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kultische Verehrung die erwartungen eines do-ut-des erfüllt), eine Entfaltung des höchsten Gottes sind, und ein Teil Gottes (ı̄śvara) in seiner entfalteten Form56, sind sie alle göttlich, und sie zu verehren ist nicht ganz falsch. Aber zu lehren, dass eine dieser entfaltungsformen des einen höchsten Gottes dieser selbst sei, zeugt von Dummheit, und ist ursache der streitigkeiten zwischen den verschiedenen Sekten. Hier hilft nur der Rückgang zu den Upaniṣaden, die – so die PD – Gott als Verbindung von brahman und māyā definiert. Hier gilt gerade nicht, was oft behauptet wurde: der „Hinduismus“ kenne keine orthodoxie, nur eine orthopraxie. Ganz im Gegenteil: die PD wendet sich hier nicht gegen die Praxis z. B. den Elefantengott Gaṇeśa zu verehren, – aber sehr wohl gegen den Glauben, Gaṇeśa sei der höchste Gott, und somit allen anderen Göttern überlegen. Auch führt die Verehrung z. B. eines heiligen Baumes (Ficus religiosa) zwar zur erfüllung von wünschen, aber nicht zu erlösung. 2. „Mystische“ einheit von Mensch und Individualseele: ontologische relativierung der sakralität von objekten Letztendlich existiert aber nur das ungeteilte reine Bewusstsein, das sich zeigt, wenn man in Gott und in der seele jeweils den kern erkennt, das reine Bewusstsein, und von diesem alle Beifügungen abzieht. Alles andere hat nur ein relatives, illusionäres Sein; auch der die Welt erschaffende Gott und sein als einzelwesen existierender Verehrer sind nicht wirklich seiend, sondern Illusion. selbst die oben geschilderte Lehre von der entfaltung der welt aus dem einen Gott ist nur ein Vorgang so unwirklich wie ein traum, und Ziel ist das erwachen, in dem sich keinerlei unterschiede mehr zeigen.
Damit zeigt sich hier eine dreistufige Hierarchie (1) Die vielen sakralen (= von ihren Anhängern verehrten) objekte, vor allem Götter mit eigennamen und einer Mythologie (Viṣṇu, Śiva etc.); (2) der eine einfach „Herr“ genannte, ansonsten namenlose schöpfergott als ursprung (Material- und wirkursache) aller objekte und daher auch ihrer Sakralität; (3) das reine Bewusstsein, das nicht Gegenstand einer Verehrung ist, da es als unmittelbarkeit erscheint, nicht als objekt (also ist es auch nicht mehr sakral?); In dieser Hierarchie behalten die Objekte eine relative Sakralität: sie besitzen eine rückbindung an den einen göttlichen ursprung, und sie habe die Macht, ihren Anhängern wünsche zu gewähren. Aber sie haben keine erlösungsrelevanz und kein wahres sein. 7 unterscheidung zwischen persönlichem Gott und unpersönlichem Absoluten: eine universalie? In dieser Lehre von einer wirklichkeit hinter oder über dem allwissenden und allmächtigen Gott hat man vielfach eine Gemeinsamkeit von Advaita und der westlichen tradition vom neuplatonismus über Pseudo-Dionysius bis zu Meister eckhart und anderen Mystikern gesehen. so veröffentlichte beispielsweise der Islamwissenschaftler reza shah-kazemi (Institute of Ismaili studies, London) 2006 eine Monographie über Śaṅkara, Ibn Arabi und Meister Eckhart. Darin kommt er zu folgendem schluss:
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virāṭātman; PD 6,2.
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Matthias H. Ahlborn „the key distinction made by all three on this level of discourse [. . .] is that between the absolute transcendence of the ,one‘ and the relative transcendence of the Personal God [. . .].“57
Die gleiche unterscheidung erwähnt auch der britisch-amerikanische schriftsteller und Anhänger des Neo-Vedānta, Aldous Huxley, in seiner Einleitung zu Swami Prabhavānandas Bhagavadgı̄ tā-Übersetzung als erstes von vier Kennzeichen der „Philosophia Perennis“: „In Hinduism [. . .] the Divine Ground is Brahman [. . .]. A hierarchy of manifestations connects inanimate matter with man, gods, High Gods and the undifferentiated Godhead beyond. [. . .] similar conceptions are perfect compatible with Christianity [. . .] thus for eckhart and ruysbroeck, there is an Abyss of the Godhead underlying the trinity, just as Brahman underlies Brahma, Vishnu and shiva.“58
Und Swami Prabhavānanda, der damalige Vorsitzende der Vedanta Society in Southern California, schreibt zum unterschied zwischen ı̄śvara (dem die welt erschaffenden und lenkenden Gott) und brahman (dessen einheit mit dem selbst die Upaniṣaden lehren): „ [. . .] Brahman cannot be said to have transformed himself into the world, or to have created it, since absolute Reality is, by definition, incapable of temporal action or change. Another word, Īśwara, must therefore be employed to describe the creative principle. Īśvara is Brahman united with māyā [. . .] Īśwara is God personified, God with attributes.“59
Diese Unterscheidung trifft auf den hier untersuchten Text zweifellos zu; ebenso ist sie bereits in der Māṇḍūkya-Upaniṣad zu finden. Aber wie erwähnt stellte bereits Hacker fest, dass eine scharfe unterscheidung zwischen ı̄śvara und brahman bei Śaṅkara noch nicht zu finden ist: „eine besondere theorie über das als persönlicher Gott gedachte Brahman (īśvara) oder gar über den Unterschied der Begriffe ,Gott‘ und ,Brahman‘ findet sich in der Pañc[apādika] ebenso wenig wie in Śaṅkaras [Brahmasūtrabhāṣya]. [. . .] Der Īśvara ist das Wesen der in illusorischer Individualisierung und Weltverstrickung erscheinenden Seele; er ist völlig mit dem Brahman identisch; er ist nur durch die Offenbarung bekannt.“60
Das kann auch nicht erstaunen, da sich Śaṅkara nicht mit den Anhängern theistischer Bhakti-strömungen auseinandersetzt, sondern hauptsächlich mit den ritualisten (Mı̄ māṃsā), die den Standpunkt vertreten, der Veda lehre nur Handlungen; mit dem Sāṃkhya, nach dem die Welt aus dem unbewussten Urstoff entsteht; sowie mit Buddhismus und Jinismus. Aber auch schon Śaṅkara unterscheidet zwischen einem „höheren brahman“, das nur via negationis beschrieben werden kann, und einem 57 58 59 60
reza shAh-kAzemi, Paths to transcendence. According to shankara, Ibn Arabi, and Meister eckhart, Bloomington, Indiana 2006, 193. Bhagavadgita. the song of God, hg. und übersetzt v. swami prABhAvAnAndA / Christopher isherwood, mit einer einleitung von Aldous huxley, 4. edition, Hollywood, CA 1987, 7 f. swami prABhAvAnAndA / Frederick mAnchester, spiritual Heritage of India, 2. Indian edition, Madras 1981, 288. Paul hAcker, Untersuchungen über Texte des Frühen Advaita. 1. Die Schüler Śaṅkaras (Akademie der Wissenschaften und der Literatur; Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse; Jahrgang 1950, Nr. 26.), Wiesbaden 1951, 2056 f.
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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„niederen brahman“, das, da es eigenschaften hat, als objekt von Verehrung oder Meditation dienen kann61. In Śaṅkaras Kommentar zu Brahmasūtra 1.1.11 heißt es zunächst, die Upaniṣaden lehren, dass ein allwissender, allmächtiger (sarvaśakti) Gott (ı̄śvara; hier identisch mit dem brahman) ursache des entstehens, Bestehens und Vergehens der welt ist62. Danach unterscheidet Śaṅkara zwischen zwei Formen des brahman: versehen mit den Beifügungen einzelnen transformationen von Name-und-Gestalt; und ohne diese. Als Beleg für die Form des brahman mit den Beifügungen zitiert er Bhagavadgı̄ tā 10.41, nach der alles was Macht und Schönheit besitzt, als Gott (ı̄śvara) verehrt werden soll63. ein Beispiel dafür ist „der aus Gold bestehende puruṣa in der sonnenscheibe“64. Hier wird also noch nicht, wie später in der PD und im Neo-Vedānta zwischen brahman und ı̄śvara unterschieden, sondern zwischen dem brahman, das auch als ı̄śvara bezeichnet wird, mit „Beifügungen“, und dem ohne diese. Aber diese unterscheidung war ein Anknüpfungspunkt für die spätere Entwicklungen des Advaita-Vedānta, der durch die Begegnung mit Anhängern des Viṣṇu, dem Islam, und schließlich dem Christentum vor neuen Herausforderungen stand, und daher eine besondere Lehre vom ı̄śvara als das brahman in Verbindung mit seiner māyā entwickelte bzw. zu einem zentralen Punkt seiner Lehre machte. Mit einer solchen skizze einer historischen entwicklung soll nicht der wert systematisch vorgehender interkultureller Vergleiche geschmälert werden, sie soll eher als deren ergänzung dienen. eine Differenz zwischen radikaler und relativer transzendenz könnte durchaus sowohl der schon von Śaṅkara vorgenommenen Unterscheidung der zwei Formen des brahman zugrunde liegen, als auch der späteren zwischen „unpersönlichem“ brahman und „persönlichem“ ı̄śvara. Auf Vergleichbares in der traditionslinie von Plotin, Dionysius Areopagita, Meister eckhart etc. möchte ich hier nicht eingehen; da aber eine Hierarchie von Transzendentem im Mittelpunkt der Lehren des neuplatonismus steht, dürfte eine solche Vergleichbarkeit prinzipiell gegeben sein; sie müsste nur auch immer die spezifischen historischen entwicklungen und Funktionen mit beachten. Gerade angesichts der globalen entwicklungen der letzten Jahre sehe ich die Aufgabe der Geistes- oder kulturwissenschaften nicht darin, durch Betonen der unterschiede in allen Bereichen die nemesis eines „Clash of Civilizations“ herauf zu beschwören. ein auf hohem intellektuellen niveau durchgeführter interkulturelle Vergleich von Advaita-Vedānta, Philosophie des Sufismus und der auf den Neuplatonismus zurückgehenden christlicher Mystik könnte meines erachtens durchaus
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comAns, The Method of Early Advaita Vedānta (wie Anm. 51), 215 – 230. Śaṅkara u. a., [Brahmasūtrabhāṣya] Brahmasūtraśāṃkarabhāṣyam. Śrı̄ -Govindānanda-kṛtayā Bhāṣyaratnaprabhayā Śrı̄ -Vācaspatimiśra-viracitayā Bhāmatyā Śrı̄ mad-Ānandagiri-praṇı̄ tena Nyāyanirṇayena samupetaḥ, hg. von Mahādeva Śārmā Bākre / Vāsudeva Śarmā PaṇaŚik ̄ ara, 3. Edition, Bombay 1934, 16, Z. 4 – 5. „[Diese Bhagavadgı̄ tā-Stelle] treibt dazu an, wo immer es einen Überschuss an Herrlichkeit gibt, das als ,Gott‘ zu verehren.“ (yatra yatra vibhūty-ādy-atiśayaḥ sa sa ı̄śvara ity upāsyatayā codyate. ebd., 118, Z. 8, 9.) āditya-maṇḍale hiraṇmayaḥ puruṣaḥ. ebd., 118, Z. 9.
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aufzeigen, dass es in den jeweiligen Geschichten dieser drei „kulturkreise“ nicht nur die Differenzen gibt, die uns eine „orientalistische“ wissenschaft suggerieren wollte (und will), sondern auch eng verwandte philosophische Positionen. Die Frage, ob diese Verwandtschaften daraus resultieren, dass sich dem philosophierenden Mensch auch in unterschiedlichen kontexten eine universale wirklichkeit zeigt, oder ob sie ergebnis des Austauschs nicht nur von waren, sondern auch von philosophischen Lehren sind, ist davon noch nicht berührt. ebenso wenig, wie die Frage, ob eine eventuelle universale wirklichkeit aufgrund allgemeinmenschlicher Verfasstheiten des philosophierenden subjekts, seines Gehirns, seiner sprache, seiner Psyche, seiner sozialen und politischen strukturen usw. erscheint, oder aufgrund einer objektiven existenz. All diese Fragen würden hier zu weit führen, ihre Problematik muss aber bewusst sein. 8 negative theologie und kontemplative nihilierung des Ich Der in den hier relevanten philosophisch-theologischen texten des AdvaitaVedānta im Mittelpunkt stehende Weg zur letztendlichen Wirklichkeit ist nicht die dargestellte diskursive reduktion des handelnden schöpfergottes auf seinen kern, das reine Bewusstsein, sondern die auf die eigene Person gerichtete philosophisch-kontemplative Praxis. Hier wird der innere kern im eigenen Ich gesucht, der das ungeteilte, reine Bewusstsein ist, und somit mit dem wesenskern Gottes identisch. Die wohl bedeutendste Methode dieser Selbst-Untersuchungen (ātma-vicāra) in der PD ist eher eine Form des nachdenkens, also vielleicht eine Form intellektueller Mystik, als das, was man sich unter „mystische erfahrung“ vorstellt. Hierbei werden nacheinander verschiedene „Hüllen“ um das wahre selbst untersucht. Dabei liegt eine innerliche hierarchische struktur vor, die in der PD auf die oben dargestellte Hierarchie (Materie / Wachzustand; Feinstoffe / Traum; Illusionskraft / Tiefschlaf) bezogen wird. Ziel ist es, jede der fünf inneren schichten vom wahren selbst zu unterscheiden, das allein übrig bleibt, wenn alle schichten als selbst negiert wurden65. Daneben gibt es aber gerade ab dem hier betrachteten 14. Jahrhundert eine zunehmende Integration yogischer, das heißt meditativer Techniken in den Advaita; eine dieser Techniken, die im dritten Buch des ebenfalls Vidyāraṇya zugeschriebenen Jı̄ vanmuktiviveka (JV)66 beschrieben wird, soll hier abschließend skizziert werden. Die zentrale Lehre des JV besagt, dass das bloße wissen, dass selbst und Absolutes eins sind, also das richtige Verständnis des satzes „Das bist Du“, noch nicht die erlösung in diesem Leben bedeutet. Die wird erst erlangt, indem man
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Siehe z. B. PD 1,32 – 42. ViDyāraṇya, Jı̄ vanmuktiviveka. the treatise on Liberation-in-Life: Critical edition and translation, hrsg. und übersetzt v. robert Alan GooddinG, 2002; ViDyāraṇya, Jı̄ vanmuktiviveka, hg. und übers. von Swāmı̄ mokṣaDānanDa, kolkata 1996.
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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anschließend durch meditative und kontemplative Praktiken67 eine umformung des eigenen Charakters bewirkt. Darin liegt auch die Hauptaufgabe von Meditation: die zeitweilige einstellung aller geistigen Aktivitäten soll vor allem verhindern, dass die Laster wieder entstehen, die einem erlösten Zustand im Diesseits entgegenstehen würden68. Zusätzlich besitzt diese Form völliger innerer stille69 auch einen epistemischen wert. Aber wie soll man in einem Zustand absoluter innerer ruhe das wahre selbst wahrnehmen können, wenn es dann doch keine geistige tätigkeit mehr gibt70? Das ist möglich, weil man das selbst, das aus sich selbst heraus existiert und sich selbst manifestiert gar nicht beseitigen könnte71. wenn man alle Bewegungen und Inhalte aus dem eigenen Geist entfernt hat, bleibt immer noch das selbst übrig, das ja das eine ungeteilte allen wahrnehmungen zugrunde liegende Bewusstsein ist72. „wenn der Geist durch die meditative Versenkung, in der [alle geistigen Bewegungen] zurückgehalten werden, bewegungslos geworden ist; und dadurch, dass in ihm nur noch die Tendenzen übrig sind, fein geworden ist; und dadurch, dass er nur dem Bewusstsein zugewandt ist, konzentriert geworden ist; – dann erfährt er das Selbst ohne Hindernisse.“73
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„Beseitigung der erinnerungsspuren / Laster“ (vāsanākṣaya) und „Vernichtung des Denkorgans“ (manonāśa); siehe nil Andrew O. fort, On Destroying the Mind. The Yogasūtras in Vidyāraṇya’s Jı̄ vanmuktiviveka, Journal of Indian Phisolophy 27 (1999), 377 – 395. JV 3,1.1 (Die stellenangaben beziehen sich auf die nummerierung der Absätze in der Ausgabe von Goodding). Vidyāraṇya verwendet für den Zustand völliger innerer geistiger Stille synonym „Vernichtung des Denkorgans“ (manonāśa) aus dem Yogavāsiṣṭha; „Zurückhaltung [der mentalen und psychischen Aktivitäten]“ (nirodha) aus den Yogasūtras; „meditative Versenkung ohne Gegenstandsbewusstein“ (asaṃprajñāta-samādhi), ebenfalls aus den Yogasūtras. JV 3,9.8 „[einwand:] Der im stillen selbst zurückgehaltene Geist, der den Zustand der meditativen Versenkung ohne Gegenstand erlangt hat, ist frei von tätigkeit, und daher wie im tiefschlaf nicht ursache einer wahrnehmung.“ (śāntātmany avaruddhasyâsaṃprajñāta-samādhim āpannasya cittasya vṛtti-rahita-tvena suṣupti-van na darśana-hetu-tvam.). JV 3,9.9 „[Antwort: Man kann im Zustand der gegenstandslosen Versenkung das selbst sehen,] weil man das aus sich selbst existierende sehen gar nicht vermeiden kann.“ (svataḥ-siddhasya darśanasya nivārayitum aśakyatvāt.). Dass es sich aus den Prämissen des Advaita-Vedānta ergibt, dass das reine Bewusstsein sich selbst manifestiert wenn alle Geistestätigkeit zur ruhe gekommen ist, scheint sprockhoff zu übersehen. er interpretiert diese stelle als den Versuch einer synthese zwischen „unterdrückungs-yoga“ (= nirodha; „Zurückhaltung“), und nach Erkenntnis strebendem Yoga, die er Frauwallner folgend für ursprünglich getrennte yoga-Formen hält: „Dem widerspruch, den E. Frauwallner aufdeckt, sucht Vidyāraṇya in der Weise zu entgehen, indem er [. . .] überdies darauf hinweist, daß die durch sich selbst vollendete (svataḥ siddha) Schau des Ātman auch im Zustand der unterdrückung andauert, weil zum wesen des selbstes die reine Bewußtheit (cid) oder die erkenntnis gehört.“ Joachim Friedrich sprockhoff, Der weg zur erlösung bei Lebzeiten, ihr Wesen und ihr Wert, nach dem Jı̄ vanmuktiviveka des Vidyāraṇya, Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ost-Asiens 8 (1964), 224 – 262, hier: 255. JV 3,9.12: nirodha-samādhinâvṛttikena, saṃskāra-mātra-śeṣa-tayā sūkṣmeṇa, cid-ātmamātrâbhimukha-tvād ekāgreṇa cittena nir-vighnam ātmā ’nubhūyate.
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Im dritten Buch des JV, das diese gegenstandslose Versenkung thematisiert, wird eine Praxis zur Verwirklichung dieses Bewusstseinszustandes in vier Stufen beschrieben, die nicht aus den Yogasūtras stammen, sondern aus der Kaṭha-Upaniṣad74: (1) Die Beruhigung des Geistes beginnt hier auf der ebene der sprache: Man soll weltliches sprechen zu allen Zeiten aufgeben, und religiöses (japa usw.) während der Meditation. Diese schweigepraxis wird auch „Zurückhalten des sprechens im Denken“ genannt75. (2) wenn einem dieses schweigen so natürlich geworden ist, wie z. B. einer kuh, dann soll man das Denken im Ich zurückhalten; also neben der Selbstwahrnehmung keine weiteren Gedankentätigkeiten besitzen76. (3) wenn man die zweite ebene gemeistert hat, und einem die Freiheit von Denken so natürlich ist wie einem kleinen Kind, dann soll man die spezifische Selbstwahrnehmung (also „Ich bin der und der“) zurückhalten in einer allgemeinen selbstwahrnehmung (nur noch „Ich bin.“). Das ist einem Zustand großer trägheit vergleichbar77. (4) schließlich soll man auch die allgemeine selbstwahrnehmung im Bewusstsein zurückhalten, sodass nur das reine Bewusstsein übrigbleibt78, das eben die eine absolute wirklichkeit ist, die es zu erkennen gilt. Der „mystische“ weg in PD und JV (im sinne einer angestrebten einheit mit Gott) ist also einerseits die oben dargestellte diskursive Bewegung einer negativen theologie über Gott als schöpfer und Herrscher hinaus, hin zum in ihm verborgenen undifferenzierten Bewusstsein79, und andererseits die hier dargestellte meditativkontemplative Versenkung des erlösungssuchers ins eigene Innere, wo er eben dieses eine Undifferenzierte findet. Während die Negation alles Spezifischen am ursprung der welt als ein diskursiv transzendierender und relativierende umgang mit abweichenden religiösen strömungen erscheint, ist der in der PD als gleichwertig bezeichnete mystisch / yogische weg der nihilierung des Ich quasi dessen innere Durchführung als auf das selbst bezogene Praxis. Vielleicht repräsentiert der Lebend-erlöste im Zustand der Versenkung des samādhi dann diese negation agonaler Pluralität.
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Kaṭha-Upaniṣad 1.3.13. Eight Upanishads. With the Commentary of Śaṅkarācārya, hg. und übers. von Swāmı̄ GamBHīrānanDa, Bd. 1, 2. revised edition, 2. reprint, kolkata 1995. JV 3,7.2 ff. JV 3,8.1. JV 3,9.1. JV 3,9.2: „Man soll nur das Bewusstsein übrig lassen.“ (cinmātraṃ pariśeṣayet.). Das reine Bewusstsein (Brahman) ohne ursubstanz ist nicht ursache. es erscheint nur als ursache, indem Gott auf das Brahman übertragen wird; ebenso erscheint Gott fälschlich als wahr; PD 6,188 ff.
Das „unpersönliche Absolute“ (brahman) und der „persönliche Gott“ (īśvara)
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9 „Vereinigung mit dem unpersönlichen Absoluten“: noch eine universalie? ebenso, wie man in der unterscheidung von unpersönlichem Absoluten und persönlichem Gott eine Gemeinsamkeit zwischen christlicher Mystik und hinduistischem Advaita-Vedānta gesehen hat, so hat man auch in der „mystischen Erfahrung“ oder dem „Mystikus intuitus“ ein diese traditionen verbindendes element gesehen. In Huxleys oben zitierter Einleitung zur Bhagavadgı̄ tā lautet die zweite der vier grundlegenden Lehren der „Philosophia Perennis“: „[. . .] human beings are capable not merely of knowing about the Divine Ground by inference; they can also realize its existence by a direct intuition. this immediate knowledge unites the knower with that which is known.“80
Dieses Zitat soll hier als Beispiel für die sichtweise des neo-Hinduismus stehen81; dass es sich dabei um die Kombination verschiedener Konzepte des Advaita-Vedānta handelt, könnte man zeigen, ist aber nicht thema dieses Artikels82. näher an der hier untersuchten Tradition des Advaita-Vedānta, in der man schlecht von einer „Vereinigung“ von subjekt und objekt in der erkenntnis sprechen kann, ist shah-kazemi, wenn er schreibt: „To say ,transcendence‘ is to say ,union‘; a union in which consciousness persists, but in a mode which nullifies the individual condition. [. . .] According to Eckhart: if there is to be a true union, one of the two agents so unified must lose its ,whole identity and being‘ [. . .].“83
Bereits 1926 versuchte der Marburger religionswissenschaftler rudolf otto „durch wechselseitigen Vergleich der großen klassischen Haupttypen der Mystik des ostens und des westens [. . .] in das wesen der seltsamen geistigen erscheinung, die wir Mystik nennen, einzudringen“84, und wählt dazu Śaṅkara 85 und Meister eckhart86. er wendet sich in seiner einleitung einerseits gegen die Aussage, „westen“ und „osten“ können sich gegenseitig unmöglich verstehen („east is east, and west is west, and never the twain will meet“87). Andererseits ist er sich auch der 80 81
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Bhagavadgita (wie Anm. 58), 7. Im Neo-Vedānta z. B. des Prabhavananda, dem „Guru“ von Aldous Huxley und Christopher Isherwood, besteht die Funktion des „direkten Wissens“ darin, die Wahrheit des Vedānta zu beweisen. siehe Michael comAns, The question of the importance of samādhi in modern and classical Advaita Vedānta, Philosophy East and West 43.1 (1993), 19 – 38. (1) Der unterschied zwischen direktem und indirektem wissen (aparokṣa- / parokṣa- jñana); (2) die stufe meditative Versenkung, in der nur noch das Meditationsobjekt erscheint (samādhi); (3) die nicht-Dualität (advaita) des Brahman. shAh-kAzemi, Paths to transcendence (wie Anm. 57), 205. rudolf otto, west-Östliche Mystik. Vergleich und unterscheidung zur wesensdeutung, 1926, v. Als Quellen für Śaṅkaras „Mystik“ verwendet Otto (neben der Brahmasutrabhasya-Übersetzung des schopenhauer-schülers Paul Deußen) vor allem den sanskrittext von sankaras Bhagavadgita-kommentar. Interessanterweise aufgrund einer Aufforderung, am oberlin-College in oberlin, ohio Vorträge über dieses thema zu halten otto, west-Östliche Mystik (wie Anm. 84), vi. rudyart kiplinG, zitiert in ebd., 1.
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unterschiede zwischen verschiedenen erscheinungsformen von Mystik bewusst, und betont, Mystik sei nicht zeit- und geschichtslos immer die gleiche88. Allerdings begnügt sich otto nicht mit einer systematischen Gegenüberstellung der beiden untersuchten Lehren, sondern versucht den einen ursprung der verschiedenen erscheinungsformen von Mystik aufzuzeigen, den er in der „seele“ des Menschen vermutet: „[. . .] wir wollen unser ergebnis gleich vorwegnehmen und voranstellen. wir behaupten, daß in der Mystik sich in der tat gewaltige Urmotive der menschlichen Seele erregen, die als solche ganz gleichgültig sind gegen die unterschiede des klimas, der weltgegend oder der rasse, und die in ihrer Übereinstimmung eine innerliche Verwandtschaft der menschlichen Geistes- und erlebensart aufweisen, die wahrhaft erstaunlich ist.“89
Damit behauptet Otto, der Lehre des Śaṅkara und des Meister Eckhart lägen seelische Erregung und Erleben zugrunde; dass es in den Texten des Śaṅkara (und Eckharts) aber nicht um seelische Aufregung und rührung geht, zumindest nicht explizit, ist sich auch otto bewusst. Dennoch bleibt er bei seiner these, die mystische einheitserfahrung (Intuitus mystikus) sei der eigentliche Inhalt der Lehre beider Gelehrter: „Den Inhalt dieses intuitus [. . .] könnte man bei beiden wohl ablösen von ihren zeitbedingten, für unser Gefühl abstrusen spekulationen [. . .].“90
Dazu ist allerdings nur ein „einigermaßen der einfühlung Fähiger“ imstande. In dieser Perspektive ist der text nicht (immer) der träger einer Bedeutung, sondern der schleier, der die Bedeutung verhüllt: „Aber seine [eckharts] Mystik ist nicht das ergebnis einer zufällig mehr platonisch sich färbenden, obendrein mißverstandenen scholastik. sondern umgekehrt: ein eigentümlicher mysticus intuitus liegt bei ihm zugrunde, der dann naturgemäß in seiner umwelt platonische Gedankengänge und Begriffe, platonische Logik und realistik, erkenntnislehre und seelenlehre aufraffte und als dialektische Mittel verwandte, die doch oft genug mehr Verhüllungen und Abblendungen und schnell platzende Hülsen wurden für die sache selbst.“91
wenn aber „das Heilige“ und „die Mystik“ reduziert würden auf vorrationale und private seelische Vorgänge, dann wäre nicht einzusehen, wieso sie nicht zum Gegenstand von neurologie und von experimenten mit chemisch induzierten Bewusstseinsveränderungen werden sollten, und somit zumindest in ihrem „wesen“ aufhörten Gegenstand einer Geistes- oder kulturwissenschaft zu sein.
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ebd., 2. ebd., 2. ebd., 47. ebd., 48 f.
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10 wesen, Begriffe, konzepte und namen Meinte rudolf otto noch das Wesen von Mystik und religion bestimmen zu können, so wird in einer poststrukturalistisch beeinflussten Religionswissenschaft inzwischen auch die Ansicht vertreten, es gebe nicht nur kein „wesen“ der Phänomene, sondern auch keine „Begriffe“, deren Geschichte man schreiben könnte, sondern nur „namen“92, 93. Dann wäre aber ein interkultureller Vergleich schwer vorstellbar: Namen kann man im Grunde nicht übersetzen; übersetzbar sind Wörter meines erachtens nur durch einen außersprachlichen Inhalt, sei es ein „einzelding“ (vyakti; z. B. „sonne“) oder eine „Gattung“ (jāti, sāmānya; z. B. gotva, „kuhheit“). während sich im europäischen universalienstreit vielleicht die nominalisten durchgesetzt haben, findet sich in den späten Darstellung des hier betrachteten Advaita eine extrem realistische Position. Diese konnte sich gegenüber der Herausforderung der an postmodernes Differenzdenken erinnernden buddhistischen Position behaupten94: „ [Von einem wort] wird das bezeichnet, was das objekt der erkannten Fähigkeit [des wortes, etwas zu bezeichnen] ist; also wird die Gattung [vom Wort] bezeichnet. Beziehungsweise: man erkennt das einzelding durch Implikation. wie in dem Ausdruck „der blaue topf“ das wort „blau“ [direkt die blaue Farbe bezeichnet, aber] indirekt den topf bezeichnet, der durch die Eigenschaft „blau“ qualifiziert ist; – so bezeichnet [ein Wort direkt] die Gattung, und indirekt [ein Einzelding,] das durch diese qualifiziert ist.“95
Hier bezeichnen die wörter zunächst nur die Gattungen, also allgemeines, wie die „Kuhheit“; da die Gattungen ihren Individuen inhärieren, kann das Wort „Kuh“ auch indirekt eine bestimmte einzelne kuh bezeichnen. In dieser ontologie gibt es nicht nur (1) wörter, sondern auch (2) objektiv existierende Gattungen / universalien / Begriffe sowie (3) die objektiv existierende konkreten einzeldinge. Bezeichnet samādhi also eine universale „mystische erfahrung“, deren sprachlicher Ausdruck die Texte des Advaita-Vedānta und der christlichen Mystiker sind?
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Michael BerGunder, was ist religion? kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19 (2011), 3 – 55. In dem universalen Geltungsanspruch, den der Poststrukturalismus paradoxerweise besitzt, gilt das logischerweise nicht nur für die Begriffe einer „westlichen“ wissenschaft („Mystik“ als Begriff der religionswissenschaft), sondern auch für die Begriffe der „östlichen“ Philosophien, also dem Gegenstand dieser wissenschaft (z. B. nirodha-samādhi oder brahman); all das wären nicht nur keine metaphysischen realitäten mehr, sondern auch keine Begriffe, Ideen oder konzepte – nur noch Namen. Letztendlich wäre das nicht nur die Behauptung, dass die Ideen des Advaita-Vedānta falsch sind, sondern auch, dass auch diese Ideen gar nicht existieren; nur empirisch beobachtbarer sprachgebrauch. siehe z. B. k. kunJunni rAJA, Indian theory of Meaning (the Adyar Library series 91), 2. Edition, 1969, 69 – 94; und Bimal Krishna mAtilAl, Perception. An essay on Classical Indian Theories of Knowledge, Oxford 1986, 398 – 403. jñāyamāna-śakti-viṣaya-tvam eva vācya-tvam iti jātir eva vācyā. athavā vyakter lakṣaṇayāvagamaḥ. yathā „nı̄lo ghaṭaḥ“ ity atra ’nı̄la’-śabdasya nı̄la-guṇa-viśiṣṭe lakṣaṇā tathā jāti-vācakasya tad-viśiṣṭe lakṣaṇā. Dharmarāja aDHVarin ̄ Dra, Vedāntaparibhāṣā, hg., übersetzt und erläutert v. Swāmı̄ māDHaVānanDa, Belur Math, Dt. Howrath 1942, 98.
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– Obwohl sich der traditionelle Advaita-Vedānta auf den Kanon geoffenbarter Texte und dessen „scholastische“ Interpretationen beruft, und nicht auf eine besondere Erfahrung? Oder gibt es vielleicht in beiden Traditionen – wie Reza Shah-Kazemi schreibt – das Konzept einer absoluten Transzendenz (nirguṇa-brahman; „Gottheit“) über der relativen transzendenz eines persönlichen Gottes (ı̄śvara; saguṇabrahman; „Trinität“)? Oder sind samādhi, ı̄śvara, „trinität“ etc. wie alle wörter nur namen die auf nichts Außersprachliches verweisen, weder auf metaphysische realitäten, noch auf Ideen, noch auf konzepte und Begriffe? Die Beantwortung dieser Fragen hängt vor allem von der eigenen ontologischen Position ab, und eine solche kann meines erachtens nicht in einer im modernen sinn wissenschaftlichen Denkbewegung gefunden werden96.
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Auch nicht, wenn man aus postmodernen theorien eine „große erzählung“ (Lyotard) macht.
reForMAtIon Der HeILIGenVereHrunG? Zur FrAGe Des uMGAnGs MIt Den HeILIGen BeI LutHer unD In Der FrÜHen reForMAtIon thomas kaufmann I. Landläufige Vorstellungen vom reformatorischen ‚Traditionsbruch‘ in Bezug auf die Heiligenverehrung mögen sich in einer kleinen szene verdichten, die der Lutherbiograph Johannes Mathesius in der letzten seiner berühmten Predigten über das Leben1 des wittenberger reformators schildert: Im Jahre 1541 habe der reformator mit einigen Gesandten der stadt Joachimsthal2 in geselliger runde beisammengesessen; man habe gesungen und sei guter Ding miteinander gewesen. Auf dem Höhepunkt des treffens holet [Luther] auch über Tisch ein krystallnes Glas, das St. Elisabeth sollte gewesen sein; darein schenkt er selber und ließ einen Rundtrunk umgehen3. Die kostbare Glasreliquie aus dem Besitz der großen Heiligen, die 1
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Grundlegend noch immer: Hans volz, Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius. kritische untersuchungen zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der reformation (QFrG 12), Leipzig 1930, Neudruck New York, London 1971, hier bes. 204 f.; zur wirkungsgeschichtlichen Bedeutung des Mathesius im kontext der historiographischen stilisierung Luthers zum Heiligen etc. s. Matthias pohliG, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung (sur n. r. 37), tübingen 2007, 100 ff. Zur Verbindung der wittenberger reformation mit Joachimsthal vgl. die Hinweise in: thomas kAufmAnn, Luthers „Judenschriften“. ein Beitrag zu ihrer historischen kontextualisierung, tübingen 22013, 170 ff. Johannes Mathesius, Historien Von des Ehrwirdigen . . . Manns Gottes / D. Martin Luthers / Anfang / Lehre / Leben . . . Jetzund mit einem nützlichen Register gemehrt, nürnberg, katharina Gerlach, 1588; VD16 M 1499, 197r/v; Johannes Mathesius, Ausgewählte Werke, hg. v. Georg loesche, Bd. 3, Prag 1898, 434; zum Elisabethglas und seinen Kontexten vgl.: Robert koch, Der Glasbecher der heiligen Elisabeth in Coburg, in: Sankt Elisabeth. Fürstin – Dienerin – Heilige, Sigmaringen 1981, 272 – 284; Bernd moeller, eine reliquie Luthers, in: ders., Die reformation und das Mittelalter, hg. v. Johannes schillinG, Göttingen 1991, 249 – 262, 335 – 341; zum breiteren kulturhistorischen kontext jetzt grundlegend: stefan lAuBe, Von der reliquie zum Ding, Berlin 2012; als wichtigste Pionierarbeit zur materiellen Kultur der Reformationszeit vgl. Archäologie der reformation. studien zu den Auswirkungen des konfessionswechsels auf die materielle kultur (AkG 104), hg. v. Carola JäGGi / Jörn stAecker, Berlin / New York 2007; instruktiv auch: Fundsache Luther. Archäologen auf den spuren des reformators, hg. v. Harald meller, Stuttgart 2009; instruktive objektbezogene Beiträge zur Kultur der Heiligenverehrung in der reformationszeit bietet: „Ich armer sundiger mensch“. Heiligen- und reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter (schriftenreihe der stiftung Moritzburg 2), hg. v. Andreas tAcke, Göttingen 2006; zu der bei Mathesius geschilderten Praxis des Rundtrunks und
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den wettinischen Fürstinnen vor der reformation in bangen stunden des Gebärens hilfreich gewesen war, die man sodann bei den großen, ablassträchtigen Heiltumsschauen in der wittenberger schlosskirche gezeigt hatte, und die man schließlich, da die Abgötterei abgeschafft 4 worden, Luther zum Geschenk gemacht hatte, war zu einem profanisierten Gebrauchsgegenstand geworden. ein heiliges, auratisches objekt, ein sinnlicher träger überirdischer Gnaden5, war zu einem zwar geschätzten, aber doch ganz weltlichen ‚Ding‘ mutiert, dem keinerlei Heiligkeit anhaftete. In Bezug auf die vielfältigen sinnlichen träger des Heiligen, so scheint es, ging mit der reformation ein rationalisierungs- und Profanisierungsschub einher. Dass dieser Vorgang im kern damit zusammenhing, dass die personellen träger von ‚Heiligkeit‘, eben die ‚Heiligen‘, vom sockel ihrer liturgischen Verehrung gestoßen und das römische Pantheon des Heiligenhimmels gestürmt worden war, versteht sich, so scheint es, von selbst. Die Abschaffung der ‚Abgötterei‘, die Aufhebung der liturgischen ‚Heiligenverehrung‘, von der Mathesius im Zusammenhang der profanen nutzung des elisabethglases spricht, machte aus den reliquien, die an die Heiligen erinnerten, alltägliche Gegenstände oder sodann: museale objekte. Auch wenn die überkommenen reliquienschätze der mittelalterlichen kirche im Zuge der reformation mit Ausnahme der wenigen ikonoklastischen Übergriffe der Frühzeit6 im lutherischen Bereich in der regel nicht vernichtet, freilich aus den liturgischen Verwendungszusammenhängen entfernt, in die sphäre des öffentlich nicht mehr sichtbaren überführt und ‚archiviert‘ wurden7, wird man den religionskulturellen ‚umbruch‘8, den der ‚entauratisierende‘, dramatisch versachlichte umgang der reformatoren mit den heiligen objekten bedeutete, kaum überschätzen können. Der umstand, dass es bereits vorher
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allen weiteren mit dem ‚trinken‘ verbundenen kulturellen Praktiken vgl. B. Ann tlusty, Bacchus und die bürgerliche ordnung. Die kultur des trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg. Aus dem engl. übertr. von Helmut Graser, Augsburg 2005. Ausgewählte werke, Bd. 4, hg. v. Johannes mAthesius / Georg loesche, Prag 1904, 233; vgl. volz, Lutherpredigten (wie Anm. 1), 204 Anm. 4. Vgl. Arnold AnGenendt, Heilige und reliquien. Die Geschichte ihres kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 21997, 149 ff.; zur reformatorischen Veränderung s. 236 ff. einige Beispiele in: thomas kAufmAnn, Geschichte der reformation, Berlin 22010, 356 ff.; Gudrun litz, Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen reichsstädten (sur n. r. 35), Tübingen 2007; Sergiusz michAlski, The Reformation and the Visual Art, London 1993; Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille?, hg. v. Cécile dupeux / Peter Jezler / Jean wirth, Zürich 2000; Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte (HZ Beih. 33), hg. v. Peter Blickle / André holenstein / Heinrichrichard schmidt / Franz slAdenczek, München 2002. Birgit heimAnn, Das Heiltum wird Geschichte. Der Gandersheimer kirchenschatz in nachreformatorischer Zeit (studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen eigenklöstern 1), regensburg 2009, 89 ff. Vgl. nur: Die frühe reformation in Deutschland als umbruch (sVrG 199), hg. v. Bernd moeller, Gütersloh 1998; Thomas kAufmAnn, Der Anfang der reformation. studien zur kontextualität der theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (sMHr 67), tübingen 2012.
reformation der Heiligenverehrung?
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distanzierende äußerungen etwa der Humanisten zu bestimmten erscheinungen des Heiligenkults gegeben hatte9, ändert an diesem urteil im Prinzip nichts. Auch die Parodie einer Heiligentranslation, die im Zuge des frühreformatorischen kampfes gegen die albertinisch-sächsische erhebung des Heiligen Benno im Juni 1524 im ernestinischen nachbarort Buchholz inszeniert wurde, illustriert den reformatorischen ‚traditionsbruch‘ in Bezug auf die Heiligenverehrung auf ihre weise. Junge Leute, die sich mit grotesken kostümen als kleriker verkleidet hatten, trugen angebliche reliquien des nach zähen und langwierigen religionsdiplomatischen Anstrengungen der wettiner 1524 endlich heiliggesprochenen Benno von Meißen in einer schauprozession umher. Aber das, was aufgefunden und den schaulustigen gezeigt wurde, waren keine Menschen-, sondern tierknochen – ein Pferdekopf, der Kinnbacken einer Kuh, zwei Läufe eines Pferdes. Unter großem Gejohle trug man die objekte durch die stadt, verballhornte die Geistlichkeit mit antiklerikalen Gesten und Handlungen und proklamierte schließlich: O, lieben andechtigen, Sehet, das ist der heylig arsbacken des lieben korschülers zu Myssen, S. Benno10. Durch Aktionen wie diese wurde der religiöse Paradigmenwechsel, den die reformation in Bezug auf die Heiligenverehrung bedeutete, wirkungsreich inszeniert; auch wenn Luther und die anderen Reformatoren spektakuläre Demonstrationen dieser Art nicht direkt förderten, trugen sie doch zur Verbreitung von Überzeugungen bei, die sich in solchen Vorgängen verdichteten und entluden. An der publizistischen Verbreitung der Berichte über solche Aktionen, die als ‚volkstümlich‘ zu bezeichnen an der sache vorbei geht, waren ‚Gelehrte‘ selbstverständlich beteiligt. In der Frühzeit der reformation gerieten die Heiligen als repräsentanten des kirchlichen Ancien régime, als Zielpunkte bestimmter, zumeist mit Ablass verbundener Frömmigkeitspraktiken wie wallfahrten, reliquienanbetungen, Heiltumsschauen oder stiftungen in eine fundamentale krise. In den evangelisch werdenden kirchentümern sollten sie sich davon nie mehr erholen.
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Vgl. dazu: thomas kAufmAnn, Die gottlosen und die frommen Humanisten im spiegel der Forschung – zur Konstruktion ihrer Religion, in: Die Religion der Humanisten, hg. v. dems. / Berndt hAmm (voraussichtlich 2014); exemplarisch: Isabel von Bredow-klAus, Heilsrahmen. spirituelle Wallfahrt und Augentrug in der flämischen Buchmalerei des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, 3. durchges. Aufl., München 2009, 201 f. Zit. nach kAufmAnn, Geschichte der reformation (wie Anm. 6), 354 f. Die maßgebliche Quelle zu den Vorgängen trägt den Titel „Von der Erhebung Bennonis ein Sendbrief“ (1524); sie ist veröffentlicht in: Flugschriften aus den ersten Jahren der reformation, Bd. 1, hg. v. otto clemen, Halle 1907, Neudruck Nieuwkoop 1967, 185 – 209; zu den Vorgängen zuletzt ausführlich: Christoph volkmAr, Die Heiligenerhebung Bennos von Meißen 1523/24 (reformationsgeschichtliche Studien und Texte 146), Münster 2002; ders., Ansätze eines vorreformatorischen Landesbewusstseins? Die these vom sächsischen Landesheiligen Benno von Meißen, in: kirche und regionalbewusstsein in der Frühen neuzeit (Leucorea-studien zur Geschichte der reformation und der Lutherischen orthodoxie 10), hg. v. Irene dinGel, Leipzig 2009, 23 – 40.
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II. Doch ist mit diesem negativen Befund bereits alles gesagt? Gerät man in der angezeigten Perspektive nicht erneut in die Gefahr, verbleibende religionskulturelle Verbindungen der reformation mit dem Mittelalter abzuschneiden? Verkennt eine auf abrupte ‚umbrüche‘ fokussierte reformationskonzeption nicht doch, dass die tradition kaum einfach nur abgeschafft, sondern ‚transformiert‘ wurde11 und dass sich in der reformatorischen Infragestellung der Heiligenverehrung auch distanzierende vorreformatorische Voten gegenüber einem veräußerlichten, auf Dingliches gerichteten kult fortsetzten12? Lebte nicht in, mit und unter dem ‚bewahrenden‘13 umgang, den die Lutheraner mit den überkommenen Kirchenausstattungen pflegten, die bunt-schillernde welt spätmittelalterlicher Heiliger subkutan fort? Blieben nicht im Luthertum zahlreiche Heiligenfeste – vornehmlich solche, die mit den Aposteln und der Gottesmutter in Zusammenhang standen, in Geltung14, so dass die Vorstellung eines radikalen Bruches zwischen geläutertem protestantischen kult hier, katholischer Idolatrie dort, eher den seit der Aufklärungszeit ins kraut schießenden frömmigkeitskulturellen Gegensatzkonstruktionen entspricht, also in eine Zeit gehört, in der man den Protestantismus als notorisch ‚fortschrittlich‘ zu entwerfen begann und einem hoffnungslos ‚altmodischen‘ katholizismus entgegensetzte15? wirkten nicht gar in der Verehrung der reformatoren Momente des Heiligenkultes16 fort? Immerhin – dass das Martinsfest als Geburtstagsfest Luthers und als 11 12
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Vgl. Volker leppin, Die wittenberger reformation und der Prozess der transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten (sHAw PH 140/4), stuttgart / Leipzig 2008. Distanzierende äußerungen zu äußerlichen religiösen Praktiken sind bei den Humanisten breit zu belegen; vgl. etwa bei Erasmus, Enchiridion militis Christiani (Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte schriften 1), hg. v. werner welziG, Darmstadt 1968, 85 ff.; hinsichtlich der Annenverehrung bei wimpfeling vgl. die Hinweise bei Angelika dörfler-dierken, Die Verehrung der heiligen Anna in spätmittelalter und früher neuzeit (FkDG 50), Göttingen, 1992, 24 Anm. 29, 86 f. Anm. 43, 317 (zu 1511a). Vgl. Die bewahrende kraft des Luthertums: mittelalterliche kunstwerke in evangelischen kirchen, hg. v. Johann Michael fritz, regensburg 1997. Vgl. etwa ernst walter zeeden, katholische Überlieferungen in den lutherischen kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: konfessionsbildung. studien zur reformation, Gegenreformation und katholischen reform (spätmittelalter und Frühe neuzeit 15), hg. v. dems., stuttgart 1985, 113 – 191, hier: 148 ff.; Paul GrAff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen kirche Deutschlands, Bd. 1, Göttingen 21937, neudruck waltrop 1994, 126 ff. Diese auf die ‚Fortschrittlichkeit‘ des Protestantismus gegenüber dem modernitätsabständigen katholizismus abonnierte sicht ist insbesondere durch ernst troeltsch propagiert worden, vgl. v.a. die im 8. Band der Gesamtausgabe von trutz rendtorff in Zusammenarbeit mit stefan pAutler hg. Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906 – 1913), Berlin, New York 2001; Traditionsspuren des Fortschrittsparadigmas in der Historiographie der Aufklärungszeit ist nachgegangen: Michael printy, Protestantism and Progress in the year XII: Charles Villers’s Essay on the Spirit and Influence of Luther’s Reformation (1804), Modern Intellectual History 9 (2012), 303 – 329. In diese richtung hat einst scribner argumentiert, vgl. robert w. scriBner, For the sake of simple Folk, oxford 21994, 14 ff.; zum Hintergrund instruktiv: ders., Die wahrnehmung des
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reformationsgedenktag avant la lettre begangen wurde, geht auf Anregungen seiner intimen Freunde Amsdorf und Bugenhagen zurück17. Bugenhagen verwendet den Begriff des ‚Heiligen‘ in Bezug auf Luther auch explizit im Zusammenhang der konzeptionellen Überlegungen zur Gestaltung seiner Grablege in der wittenberger Schlosskirche; sie solle so gestaltet werden, dass die Anhänger der Reformation eine ursache hätten, ihren Heiligen daselbst nach dem tod zu besuchen18. Auch die tatsache, dass Luthers name in lutherischen Versionen des Heiligenkalenders begegnet19, legt es kaum nahe, den religionskulturellen Bruch zwischen der reformation und dem ‚katholizismus‘ allzu stark zu betonen. Auch in Bezug auf die reformatoren- und Pastorenbildnisse20 im lutherischen kirchenraum, die an die ikonographischen Inszenierungen des Cranach’schen Luther
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Heiligen am Ende des Mittelalters, in: Religion und Kultur in Deutschland 1400 – 1800 (VMPIG 175), hg. v. Lyndal roper., Göttingen 2002, 101 – 119; vgl. dagegen u. a. Lyndal roper, Der feiste Doktor: Luther, sein körper und seine Biographen, Göttingen 2012. nachweise in: thomas kAufmAnn, reformationsgedenken in der Frühen neuzeit, Zeitschrift für Theologie und Kirche 107 (2010), 285 – 324, 293 f. Christof schuBArt, Die Berichte über Luthers Tod und Begräbnis, Weimar 1917, Nr. 25, 27; zu den Planungen der Grablege Luthers s. die unter Anm. 21 genannten Arbeiten von Arnulf und slenczka. ein Magdeburger Beispiel in: thomas kAufmAnn, Das ende der reformation. Magdeburgs „Herrgott’s Kanzlei“ 1548 – 1551/2 (Beiträge zur historischen Theologie 123), Tübingen 2003, 63 Anm. 99. Vgl. etwa: kurt löcher, Humanistenbildnisse – Reformatorenbildnisse. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, in: Musik und kunst im Übergang vom Mittelalter zur neuzeit (AAwG. PH 3/208), hg. v. Hartmut BoockmAnn / Ludger GrenzmAnn / Bernd moeller / Martin stAehelin, Göttingen 1995, 352 – 390; vgl. Thomas kAufmAnn, konfession und kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des reformationsjahrhunderts (sur n. r. 29), tübingen 2006, 199 f. Anm. 160 [Lit.]; Hans-Peter hAsse, Luther und seine wittenberger Freunde. Zum erscheinungsbild einer Gruppe in der kunst und Publizistik des 16. Jahrhunderts, in: wartburg-Jahrbuch Sonderband 1996, hg. v. Wartburg-Stiftung Eisenach, Eisenach 1996, 84 – 119; vgl. Reimar zeller, Prediger des evangeliums: erben der reformation im spiegel der kunst (Adiaphora 1), Regensburg 1998; zu den Porträtzyklen lutherischer Geistlicher vgl. Daniela roBerts, Protestantische kunst im Zeitalter der konfessionalisierung. Die Bildnisse der superintendenten im Chorraum der thomaskirche zu Leipzig, in: konfessionen im kirchenraum. Dimensionen des sakralraums in der Frühen neuzeit (studien zur kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen neuzeit 3), hg. v. susanne weGmAnn / Gabriele wimBöck, Korb 2007, 325 – 344; Franz JäGer, entstehung und Bedeutung der ältesten Bildnisse der superintendenten von Halle (saale), Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte 2011, 177 – 196; Ruth slenczkA, Predigerbildnis und Herrschaftsanspruch. städtische konfessionskultur in emden, in: Calvin und Calvinismus. europäische Perspektiven (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 84), hg. v. Irene dinGel / Herman J. selderhuis, Göttingen 2011, 463 – 506; als Quelle dieser Bildtradition hat slenczka das Luthergrab wahrscheinlich gemacht: ruth slenczkA, Lebensgroß und unverwechselbar: Lutherbildnisse in Kirchen 1546 – 1617, Luther 82 (2011), 99 – 116; zu dem Braunschweiger Zyklus auf dem Chorgestühl in der Brüdernkirche vgl. dies., städtische repräsentation und Bekenntnisinszenierung. Die Braunschweiger kirchenordnung von 1528 und die reformatorische Ausstattung der Brüdernkirche, in: kommunikation und transfer im Christentum der Frühen neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Beiheft 74), hg. v. Irene dinGel / wolf-Friedrich schäufele, Mainz 2007, 229 – 273.
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anknüpften21, ist zu fragen, ob sie nicht als kultureller Ausdruck eines ‚reformatorischen Heiligenkultes‘ zu deuten sind. Dass der wittenberger reformator in seiner Person die durch Christus, die Apostel und den zum ‚Vorreformator‘ stilisierten Jan Hus22 repräsentierte ‚wahre kirche‘ darstellt, hat auch in entsprechenden ikonographischen Bildprogrammen im kirchenraum einen niederschlag gefunden23. Auch in der reformierten tradition lassen sich einige ‚spurenelemente‘ vorreformatorischen Heiligenkults in der Verehrung der reformatoren nachweisen. Im Falle des Zürcher reformators Huldrych Zwingli, der im Zweiten kappeler krieg zu Tode kam – sein Leichnam wurde von den Gegnern nach der Schlacht gefunden, gevierteilt und verbrannt – ist bezeugt, dass ein Anhänger ein Stück von dessen wunderhaft-unversehrt gebliebenem Herzen in einer kapsel bei sich trug24. spiegelt sich vielleicht auch in Calvins wunsch, in größter schlichtheit beerdigt zu werden und in dem umstand, dass man schon wenige Monate nach seinem tod seine Grablege nicht mehr zu zeigen vermochte25, die Vitalität einer subkutanen religionskulturellen Praxis auch im reformiertentum, die der Genfer reformator mit entschiedenheit bekämpft hatte und deren posthume wirkungen er fürchtete? Dass mit objekten aus Luthers Lebenswelt Praktiken nach Art des reliquienkultes verbunden wurden, ist für diverse Wände mit Tintenflecken und die Balken in seinem studierzimmer bezeugt26. Die rede von reliquiae Lutheri27 war schon in der 21
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Vgl. nur: Martin wArnke, Cranachs Luther, Frankfurt am Main 1984; kAufmAnn, Anfang der Reformation (wie Anm. 8); zur Rolle der Inszenierung von Luthers Begräbnis: Ruth slenczkA, Bemalte Bronze hinter Glas? Luthers Grabplatte in Jena 1571 als „protestantische reliquie“, Kunsttexte 4, 2010, 1 – 20; Arwed Arnulf, Luthers epitaphien. Die Luther-Memoria, ihre konfessionspolitische Inanspruchnahme, Veränderung und rezeption: epitaphgestaltung im umfeld der wittenberger universität, Marburger Jahrbuch für kunstwissenschaft 38 (2011), 75 – 112. Vgl. zuletzt: kAufmAnn, Anfang der reformation (wie Anm. 8), 57 ff. Vgl. otto Böcher, Johann Hus und Martin Luther in wörsdorf. ein Beitrag zur „Heiligenverehrung“ der südwestdeutschen Lutheraner, Blätter für pfälzische kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 72 (2005), 285 – 290; zum in Bezug auf die Luther-Hus-Verehrung einschlägigen Motivkomplex „Luther mit dem schwan“ vgl. den wittenberger Ausstellungskatalog „Luther mit dem Schwan – Tod und Verklärung eines großen Mannes“ (Lutherhalle Wittenberg 21.2. – 10.11.1996), Berlin 1996 (darin besonders den Beitrag von Volkmar Joestel, Die Gans und der Schwan. Eine Allegorie auf Jan Hus und Martin Luther, 9 – 12); zu Luther und Hus s. auch: kAufmAnn, Anfang der Reformation (wie Anm. 8), 61 – 64. Die Nachricht findet sich in der ältesten Zwingli-Biographie des Oswald Myconius, vgl. Oswald Myconius. Vom Leben und sterben Huldrych Zwinglis, hg. v. ernst Gerhard rüsch, st. Gallen 1979, 73. Die Aufbewahrung von knochenresten Zwinglis durch seinen Verehrer thomas Platter ist gleichfalls gesichert, vgl. Gottfried wilhelm locher, Die Zwinglische reformation im rahmen der europäischen kirchengeschichte, Göttingen 1979, 533 f. Anm. 252. Vgl. nur: wilhelm neuser, Calvin (sammlung Göschen 3005), Berlin, new york 1971, 115. Vgl. Johannes luther, Legenden um Luther (Greifswalder studien zur Lutherforschung und neuzeitlichen Geistesgeschichte 9), Berlin, Leipzig 1933, 35 ff.; vgl. zum Beispiel des Verlobungsringes katharina von Boras etwa den katalogbeitrag in: Fundsache Luther, hg. v. Harald meller (wie Anm. 3), E 9, 238; vgl. dazu Ernst kroker, reliquien Luthers und seiner Frau in Leipzig, Leipziger Kalender. Illustriertes Jahrbuch und Chronik 4, 1907, 197 – 218; Ulrike durA, Trauring der Katharina von Bora (1499 – 1552), in: Leipziger Original: Stadtgeschichte
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Frühen neuzeit verbreitet. Ist es vor diesem konfessionskulturellen Hintergrund28 nicht vielleicht sogar angemessen, im Personenkult der großen ‚Dichter und Denker‘ des 19. Jahrhunderts, der vornehmlich auf dem Boden protestantischer konfessionskultur auftritt, eine transformationsgestalt des reformatorischen reformatoren- und des vorreformatorischen Heiligenkultes zu sehen29? Im Zusammenhang seiner rekonstruktion der Inszenierung von schillers schädel als „Paradebeispiel für die ‚kunstreligion‘ des 19. Jahrhunderts“30 hat Albrecht
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vom Mittelalter bis zur Völkerschlacht, teil I, hg. v. Volker rodekAmp, Altenburg 2006, 108 f. Der ring war 1743 zuerst erfolglos für 1000 Gulden auf der Michaelismesse in Leipzig angeboten worden. Der Anonymus einer Chemnitzer Überlieferung (s. dazu kAufmAnn, wurzeln, wie Anm. 29) führt Argumente zugunsten der echtheit des objektes an und bietet in der bisherigen Forschung m. w. unbekannte Hinweise auf die Besitzgeschichte des ringes. Möglicherweise handelt es sich um eine Art ‚expertise‘ zur Vorbereitung einer kaufentscheidung. eine nachbildung des traurings katharinas ist abgebildet in: Martin treu, „Lieber Herr käthe“ – Katharina von Bora, die Lutherin, Ausstellungskatalog Lutherhalle Wittenberg 1999, Wittenberg 1999, 32 Abb. 33. Das Interesse an ‚Lutherreliquien‘ ist vom 16. bis ins 18. Jahrhundert bezeugt. Vgl. zum Beispiel: Georg lehmAnn, Programma de grata Lutheri apud posteros in reliquiis quibusdam memoria, Leipzig 1717; VD 18 14996928 – 001; Ex. BSB Münchwen Diss. 876; Christian Friedrich Börner, Academiae Lipsiensis Pietas in sacrosanctam reformationis divi Lutheri memoriam, exhibita 50 dissertationibus . . . publico nomine conscriptis et nunc iunctim ed. cura Christiani Frid. Boerneri, Lipsiae / Gleditsch 1717; Ex. SUB Göttingen 8 ThBib 1204/5 (2), 259 – 272 (Zusammenstellung des zeitgenössischen Wissens um ‚Lutherreliquien‘ in Auseinandersetzung mit altgläubiger Reliquienverehrung); zu Börner als Akteur des Leipziger Reformationsjubiläums von 1717 vgl. Harm cordes, Hilaria evangelica academica. Das reformationsjubiläum an den deutschen lutherischen Universitäten (FKDG 90), Göttingen 2006, 65 f.; Georg Heinrich Götze, De reliquis Lutheri, diversis in locis asservatis, singularia, Christian emmerich, Leipzig 1703. Vgl. zu dem Interpretationskonzept der ‚lutherischen konfessionskultur‘: thomas kAufmAnn, Dreißigjähriger krieg und westfälischer Friede. kirchengeschichtliche studien zur lutherischen Konfessionskultur (Beiträge zur historischen Theologie 104), Tübingen 1998; ders., konfession und kultur (wie Anm. 20). Vgl. dazu meinen Beitrag: Protestantisch-theologische wurzeln des Personenkultes des 19. Jahrhunderts?, in: Paul kAhl, weltliche Personengedenkstätten des neunzehnten Jahrhunderts, Göttingen (im Druck). Albrecht schöne, schillers schädel (bsr 1668), München 32005, 20; vgl. 41; 24 – 27. Zum seit einiger Zeit besonders intensiv thematisierten konzept der ‚kunstreligion‘ vgl. aus theologiegeschichtlicher Perspektive nur: Jan rohls, „sinn und Geschmack fürs unendliche“. Aspekte romantischer Kunstreligion, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 27 (1985), 1 – 24; kurt nowAk, schleiermacher und die Frühromantik (Arbeiten zur kirchengeschichte 9), weimar 1986, 123 ff.; am Beispiel Richard Wagners: Claus-Dieter osthövener, erlösung (Beiträge zur historischen Theologie 128), Tübingen 2004, 79 ff.; aus kunst- und literaturwissenschaftlicher Perspektive umfassend: ernst müller, ästhetische religiosität und kunstreligion, Berlin 2004, 183 ff. (zur Romantik und den Folgen); Kunstreligion: ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen entfaltung, Bd. 1: Der ursprung des konzepts um 1800, Berlin 2012; Bd. 2: Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850, hg. v. Albert meier / Alessandro costAzzA / Gerard lAudin, Berlin 2012; für den Hintergrund wichtig: Jochen schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedanken in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, Heidelberg 32004.
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schöne „handfeste Anleihen bei der Heiligenverehrung und dem reliquienkult der kirche“ wahrgenommen. Diese seien freilich „ins weltliche“31 gekehrt worden. „In seinen entscheidenden Zügen“ folgte der umgang mit den sterblichen Überresten des Dichters schiller „dem strukturmodell des christlichen Heiligen- und reliquienkultes. Der Lage weimars gemäß und der konfessionellen Prägung des agierenden Personals entsprechend spielen die Vorgänge [. . .] auf eben dem Feld, von dem die reformation solche ‚katholischen‘ rituale einer Verehrung der Heiligen und ihrer reliquien verbannt hatte. Aber deren wurzeln reichten offenbar so tief, dass sie gerade auf dem umgepflügten Boden des Protestantismus (und fast ausschließlich hier) weltliche Mutanten der Heiligen- und reliquienverehrung hervorgetrieben haben, die man durchaus als kompensations- und konkurrenzphänomene wird verstehen können.“32 Die Weitläufigkeit des skizzierten Problemhorizontes verdeutlicht, dass man sich beim thema ‚reformation und Heiligenverehrung‘ mit einfachen Antworten nicht zufrieden geben sollte. Zugleich nötigt die Aufgabenstellung zur konzentration. Ich werde mich deshalb vornehmlich dem frühreformatorischen Diskurs über die ‚Heiligen‘ zuwenden. III. Zunächst einige ausführlichere Hinweise zu Luther: seine ältesten Aussagen über die Heiligen waren „gut katholisch“33: er würdigte ihre erhabenheit, sah sie als engelsgleiche wesen in der nähe des himmlischen Vaters, verstand sie als Ansporn der Gläubigen, ihrer Vollkommenheit nachzueifern34. Allerdings schließt Luthers nachdenken über die Heiligen schon frühzeitig die erkenntnis ein, dass auch sie sünder sind. Die umformung seines Verständnisses der Heiligen erfolgte von der ‚rechtfertigungslehre‘35 her: während Luther anfänglich noch voraussetzte, dass die Demut der Heiligen als ihr Verdienst vor Gott anzusehen sei, drang allmählich die Einsicht durch, dass die Heiligen – wie alle Christen auch – zugleich Sünder und Gerechte, simul justi et peccatores, seien. Luther nahm die Heiligen primär als Leidende, als Märtyrer, wahr. Das Leiden sei ihnen von Gott auferlegt36. In kreuzestheologischer Deutungsperspektive erkannte er im schicksal der leidenden Heiligen Gottes stärke. Zusehends wird in seinen äußerungen auch die tendenz erkennbar, dass aufgrund der teilhabe der Christen an kreuz und Auferstehung die Christus und den Heiligen geltenden 31 32 33 34 35 36
schöne, schillers schädel (wie Anm. 30), 20. A. a. O., 21; vgl. dazu kAufmAnn, wurzeln (wie Anm. 29). Lennart pinomAA, Die Heiligen bei Luther (sLAG A 16), Helsinki 1977, 12. Vgl. für das Folgende: pinomAA, Die Heiligen bei Luther (wie Anm. 33), 12 ff. Zu meinem Verständnis der rolle der ‚rechtfertigungslehre‘ in der frühen reformation vgl. in Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte: kAufmAnn, Anfang der reformation (wie Anm. 8), 5 ff. Vgl. WA 3, 330, 7 ff. 37; WA 56, 384, 20 ff.
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Aussagen auch von allen Christen gelten37: Bezogen auf sich selbst sind alle Heiligen Sünder; ihre ‚Heiligkeit‘ entspricht Gottes Urteil über sie. Die Heiligen sind keine entrückten Wesen; sie stehen mitten in der hier und heute existierenden christlichen Gemeinde. Analog der lebensweltlichen ‚Domestikation‘ der Heiligen in der zeitgenössischen kunst betrieb Luther ihre ‚Verdiesseitigung‘ und ‚Demokratisierung‘. In der für die innerwittenbergische Meinungsbildung wichtigen Disputation ‚Über die kräfte und den willen des Menschen ohne Gnade‘ aus dem Herbst 151638, in der sich die von seinem schüler Bartholomäus Bernhardi formulierte theologie der Lutherschen römerbriefvorlesung niederschlug, wurde die Vorstellung, die Heiligen könnten ohne Christus, aufgrund eigener willensleistungen, Hilfsdienste (auxilia) verrichten, als ‚superstitiös‘ (superstitiosum)39 zurückgewiesen. Für die Heiligen sollte grundsätzlich nichts anderes gelten als für die Christenheit im Ganzen: was immer ihr möglich ist, verdankt sich der wirkenden Gnade Christi. Luthers radikaler Augustinismus40, der bereits vor dem Ausbruch des Ablassstreites ausgebildet war, behandelte die ‚Heiligen‘ mithin als ‚exempla‘ des Gottesverhältnisses der Christen schlechthin; eine das menschliche Maß übersteigende charismatische Begabung kam nicht ihnen selbst, sondern nur dem in und durch sie wirkenden Christus zu. In diese richtung gingen auch Formulierungen in den ‚95 thesen‘: Indem Luther feststellte, dass der ‚wahre schatz der kirche‘ das heilige evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes sei41 und dass die Vorstellung eines aus den ‚Verdiensten Christi und der Heiligen‘ gebildeten thesaurus ecclesiae, aus dem der Papst je und je austeilen könne, aufzugeben sei, da deren Heilswirkungen immer (semper)42 einträten, verdichtete er die soteriologische kernaussage, dass Christus der Dreh- und Angelpunkt des Heils ist und dass eine auf die Heiligen bezogene Frömmigkeit nur von Christus her begründet werden könne. Auf dieser Linie liegen auch weitere Aussagen zu den Heiligen, die sich 1518 häufen: Von den Heiligen Abhilfe in zeitlichen nöten oder bei körperlichen Gebrechen zu suchen, sei abergläubisch; Hilfen dieser Art könne man nur bei Gott
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Vgl. pinomAA, Die Heiligen bei Luther (wie Anm. 33), 38 f. Ed. in: WA 1, 143 – 151; vgl. zur Interpretation in Bezug auf Luthers Theologie: Leif GrAne, Modus loquendi theologicus. Luthers kampf um die erneuerung der theologie (Acta theologica Danica 12), Leiden 1975, 104 – 110; zur Wirkung im Kontext der Wittenberger Universität s. Hermann BArGe, Andreas Bodenstein von karlstadt, Bd. 1: karlstadt und die Anfänge der reformation, nieuwkoop 21968, 70 ff.; Martin Brecht, Martin Luther. sein weg zur reformation 1483 – 1521, Stuttgart 21983, 165 ff.; WABr 1, 65, 18 ff.; Ronald sider, Andreas Bodenstein von Karlstadt (Studies in Late Medieval and Reformation Thought 9), Leiden 1974, 17 – 44. Cum credenti omnia sint autore Christo possibilia, superstitiosum est humano arbitrio aliis sanctis alia deputari auxilia. wA 1, 150, 4 f. Das Material hat zusammengestellt und analysiert: Hans-ulrich delius, Augustin als Quelle Luthers, Berlin 1984. [62.] Verus thesaurus ecclesiae est sacrosanctum evangelium glorie et gratie dei. wA 1, 236, 22 f. [58.] Nec sunt merita Christi et sanctorum [sc. der thesaurus ecclesiae], quia hec semper sine Papa operantur gratiam hominis interioris et crucem, mortem infernumque exterioris. wA 1, 236, 14 f. (Hervorhebung von mir, th. k.)
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finden43. es sei die Gottes Gottheit bestreitende Haltung des natürlichen Menschen außerhalb der Gnade44, die zur traditionellen Heiligenanrufung in weltlichen nöten geführt habe. Faktisch verehre der sündige, Gottes Gottheit bestreitende Mensch in den um Hilfe angerufenen Heiligen niemanden anderes als sich selbst45. Die ‚Macht‘ der Heiligen beruhe auf dem Glauben, nicht anders als bei allen Christen auch46. Darin, dass Luther in der Heiligenverehrung eine selbstidolisierung des auf seine eigenen willenskräfte vertrauenden Menschen wahrnahm, ging er 1518 über die Äußerungen seines Fakultätskollegen Karlstadt hinaus, der – wohl noch in den Bahnen scholastischer Lehre verbleibend – im Mai 1518 betont hatte, dass die Heiligen uns nicht von selbst Gnade und seligkeit erwirken könnten, sondern lediglich bei Gott für uns einträten; die Heiligen könnten unmittelbar weder die Gesundheit des körpers noch des Geistes schenken47. Luthers Urteil fiel hier also bereits schärfer aus; in der Vorstellung einer Fürbitte der Heiligen sah er nichts anderes, als die Projektion eines meritorischen Frömmigkeitskonzepts, das auf menschliche Verdienste bei Gott setzte. In einigen seiner wirkungsreichen sermone des Jahres 1519, die Luthers theologie in einer frühreformatorischen Übergangs- und performativen Adaptionsgestalt spiegeln, maß er den ‚Heiligen‘ eine besondere religiöse Bedeutung bei. Freilich ist das Interesse an den Heiligen durchweg mit dem Bezug auf Christus verbunden. so fordert der wittenberger theologe etwa in dem ‚sermon von der 43
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Duobus modis coluntur a nobis et invocantur sancti. Primo propter temporalia et corporaliter duntaxat, Et hii false colunt sanctos, immo magis seipsos in illis, quia sua quaerunt, non ea quae dei sunt, Ac ideo sanctos prope in idola sibi transformant. WA 1, 411, 11 – 14; vgl. 416, 37; s. auch WA 4, 640, 29 ff. (speziell zu Vincentius und Christophorus); zu Luthers Interpretation der Christophorusgestalt umfassend: Johann Anselm steiGer, Christophorus – ein Bild des Christen. Heiligengedenken bei Martin Luther, neuendettelsau 2012. Vgl. die th. 17 der ‚Disputatio contra scholasticam theologiam‘ aus dem september 1517: Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum. wA 1, 225, 1 f. Non egent sancti nostra superbia et discordia: immo non ipsi, sed nos idola ex nobis facimus et sub nomine sanctorum nosipsos colimus. WA 1, 422, 24 – 26; vgl. WA 5, 169, 9 ff. = AWA 2, 309, 10 ff. Id ego video, quod Ecclesia non dicit ‚Sancte Paule, cura mea vulnera‘, sed ‚ora pro me‘. Ideo sciendum est, quod omnes sancti omnia possunt, et tantum per eos tibi a deo dari quantum credis te accepturum. WA 1, 418, 22 – 24. th. 298 f.: Non ut/ vel gratiam vel beatitudinem/ nobis conferant [sc. die sancti], sed quatinus deus largiatur/ intercedant. Quam sancti nec salutem corporis/ nec mentis conferre: dare: concedere vel tribuere possunt [. . .]. (folgt Augustinbeleg). CCCLXX: et Apologeticae Conclusiones . . ., Johann Rhau – Grunenberg 1518; VD 16 B 6203; Ex. MF 987 Nr. 2504, D 3r. Die Frage nach der rolle karlstadts und Luthers im kontext der frühreformatorischen Heiligenverehrung wurde in der kontroverse zwischen Barge und Müller (dazu umfassend: Martin kessler, Das karlstadtbild in der Forschung, Beiträge zur historischen theologie, vorraussichtlich tübingen 2014 Kap. II; vgl. Karl müller, Luther und Karlstadt, Tübingen 1907, IXf.; vgl. Ernst kähler, karlstadt und Augustin (HM 19), Halle 1952, 43*f) eher am rande behandelt. Müller wies darauf hin, dass auch scholastiker wie Bonaventura (sent. IV, dist. 45 a 3, ed. Quaraggi 4, 947 ff.) und Petrus Lombardus (Sent. IV, dist. 45, 6 f.; MPL 217a, 440) der von Karlstadt damals vertretenen Lehre, dass die Heiligen unmittelbar nichts zu bewirken vermögen, entsprochen hätten.
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Bereitung zum sterben‘ dazu auf, den tod nicht Yn yhm selbs, noch in dir odder deyner natur48 oder in denen zu betrachten, die durch Gottes Zorn gestorben sind, sondern ihn mit allen sinnen in denen zu erfassen, die yn gottis gnaden gestorben [sind] und den todt ubir wunden haben49, aber furnemlich yn Christo, darnach yn allen seynen heyligen50. An dem hierarchischen Vorrang des auf Christus bezogenen religiösen Vollzugs kann kein Zweifel bestehen: Die Betrachtung der Heiligen erfährt von ihm her ihren sinn und ihren Gehalt. Gleichwohl schließt die frühreformatorische Christusverehrung, der eine doktrinale ‚Christozentrik‘ entspricht – das ‚solus Christus‘ – die Heiligen nicht aus, sondern ein. Der todesüberwindende trost, der sich dem Blick auf den leidenden Christus erschließt, wurzelt in Christi Auferstehung. In Bezug auf die Heiligen geht aus dem kontext des sterbesermons unzweifelhaft hervor, dass die Märtyrer gemeint sind. Im Hintergrund steht die traditionelle Überzeugung, dass diejenigen, die ihr Leben um des Glaubens willen einbüßten, die Herrlichkeit Gottes schauen. Insofern vermittelt der Blick auf ihr todesleiden trost. Luther trieb die soteriologische Analogisierung zwischen Christus und den Heiligen sogar noch weiter: Der gekreuzigte Christus und der gepeinigte Märtyrer bilden die Gnade ab; sie sind ein gnaden bild51 des stellvertretenden Strafleidens: Wie Christus am Creutz deyne sund von dir nimmt und sie fur dich [trägt] und erwurget sie52, so tragen die heyligen ynn yhrem leyden und sterben [. . .] deyne sund, leyden und erbeyten53 sie ‚für uns‘. In der in Christus und seinen Heiligen geschauten erwählung wird der Christ seiner eigenen erwählung inne: Alßo wan du Christum und all seyne heyligen ansihest, und dir woll gefellet die gnad gottis, der sie alßo erwelet hatt, und bleybst nur fest yn dem selben wolgefallen, ßo bistu schon auch erwelet [. . .]54. sich im Glauben das leuchtende Bildnis Christi und seiner Heiligen zu vergegenwärtigen, bedeutet den tod, die sünde, die Hölle und alle ihre kräfte zu verscheuchen. Das sakrament vermittelt dem Christen die Gemeinschaft mit Christus und den Heiligen, die in wort und element mitgeteilte erfahrung der communio sanctorum, der gemeynschafft aller Engel der heyligen55. Die sakramental vermittelte Gemeinschaft mit Christus und den Heiligen verbürgt Gewissheit des Heils und der unterstützung des noch im kampf stehenden Christianus mit dem himmlischen Heer der seligen, die für ihn eintreten56. Im kontext seiner ekklesiologischen
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wA 2, 689, 3 f. wA 2, 689, 8 f. wA 2, 689, 9 f. wA 2, 689, 28. wA 2, 689, 30 f. wA 2, 689, 34 f. WA 2, 690, 26 – 28. wA 2, 694, 24. Darzu wirstu durch die selben sacrament eyngeleybet und voreyniget mit allen heyligenn und kumist yn die rechte gemeynschafft der heyligen, alßo das sie mit dyr in Christo sterben, sunde tragen, hell ubirwinden. Darauß folget, das die sacrament, das ist die eußerliche wort gottis, durch eynen priester gesprochen, gar eyn großer trost seynt [. . .]. WA 2, 692, 33 – 37. Vgl. wA 2, 695, 2.18 ff. 31 ff.
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Deutung der Heiligen erschien es Luther im sommer 1519 selbstverständlich und unanstößig, die Heiligen anzurufen57. Auch in den sakramentssermonen vom Herbst 151958 kam den Heiligen eine besondere religiöse Bedeutung zu: Am Jüngsten tag werde die kämpfende Christenheit mit allen außerwelten59, auch den Heiligen, vereint. Die Bedeutung des in der taufe begründeten Bundes werde in den Heiligen und Märtyrern offenbar: Gott lässt seyne lieben heyligen [. . .] marteren und vill leyden, das sie nur bald getodtet dem sacrament der Tauff gnug theten, sturben und new wurden60. Im heilsamen Märtyrertod wird also die in der taufe symbolisierte lebensspendende Vergebung der sünden zur Anschauung gebracht. Luther rückt das wirken der Heiligen konsequent in die Perspektive der taufnachfolge. Deshalb kritisiert er diejenigen Prediger, die Heiligenlegenden in der Absicht erzählen, aus ihnen exempel für die Vollbringung guter Werke zu machen; dies setze die irrige Lehre voraus, dass der Mensch nach der taufe sündlos sei und durch gute werke überschüssige Verdienste erwerbe61. Da alle Christen in der taufe gleichermaßen geloben, die sund zu tödten und heylig zu werden62, kommt eine ethische exemplarität der Heiligen, die auf der Vorstellung verdienstlicher guter werke basiert, für Luther nicht mehr in Betracht. nicht die Heiligen ‚an sich‘, sondern ihre exponierte Positionierung gegenüber den ‚normalen Christen‘ innerhalb des überkommenen ‚gradualistischen systems‘63 der Heilsökonomie bildet den Anlass des reformatorischen widerspruchs. Für Luther leben die Christen in unterschiedlichen, aber prinzipiell gleichwertigen ‚ständen‘64. Die egalitären und kommunitären Momente der gemeynschafft der heyligen65, die das Altarsakrament in kraft setzt, vergleicht Luther mit dem Haftungs- und
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Soll aber niemant sich vormessen solch dingk auß seynen crefften zu uben, sondern gott demutiglich bitten [. . .]. Darzu soll er alle heyligen Engell, bßonder seynen Engell, die Mutter gottis, Alle Aposteln unnd lieben heyligen anruffen [. . .]. WA 2, 696, 20 – 25. Vgl. WA 2, 697, 5 f. Vgl. ursula stock, Die Bedeutung der sakramente in Luthers sermonen von 1519 (sHCt 27), Leiden 1982; speziell zum Abendmahlssermon vgl. Wolfgang simon, Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und rezeption (sur n. r. 22), tübingen 2003, 227 ff. wA 2, 729, 4. wA 2, 730, 36 f. Das seyn alles frucht der lere, die unß besessen hatt, das wir meynen noch der rew odder tauff an [d. i. ‚ohne‘] sund seyn unnd die guten werck nit zu sund vortilgen, sundern frey fur sich selbs der menige samlen, odder den gethanen sunden gnug thun. Da helffen zu die prediger, die der lieben heyligen legend und werck nit weyßlich predigen und gemeyn exempel darauß machen, ßo fallen dan drauff die unvorstendigen und wircken yhr vorterben auß der heyligen exempell. WA 2, 735, 12 – 18. wA 2, 735, 35 f. Vgl. hierzu Berndt hAmm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur reformation machte, in: reformationstheorien, hg. v. dems. / Bernd moeller / Dorothea wendeBourG, Göttingen 1995, 57 – 127, hier: 73 ff.; vgl. auch verschiedene Beiträge in dem sammelband dess.: religiosität im späten Mittelalter (sMHr 54), tübingen 2011. wA 2, 735, 18 ff. wA 2, 743, 1.
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Verpflichtungscharakter eines städtischen Gemeinwesens66. Die im sakrament symbolisierte eyn leybung mit Christo und allen heyligen67 impliziert die teilhabe jedes Christen an den geystlich guter[n] Christi unnd seyner heyligen68, also die Partizipation an allen ihren Heilsgütern69. Die Heiligen sind ein integraler Bestandteil des einen corpus Christi mysticum; sie bilden für Luther kein exemplarisches Gegenüber zur Gemeinde, sondern sie sind die Gemeinde. Das ‚Füreinander‘ der Glieder des Leibes Christi schließt die himmlische Interzession ein: Christus und seyne heyligen treten fur unß [. . .] fur Gott, das unß die sund nit werde gerechnet nach dem gestrengen urteyll gottis70. Als Glieder am einen Leibe Christi, der communio sanctorum71, der wechselseitig an allen Heilsgütern partizipiert, werden alle Christen ‚Heilige‘. Das Abendmahl enthält die Zusage dieser solidarität der Glieder des Leibes Christi: ‚Sihe da, dich fichtet manicherley sund an, nym hyn diß tzeychen, damit ich dir zusage, das die sund nit dich alleyn, sondern meynen sun Christum und alle seyne heyligen yn hymell und erden anficht. Drumb sey frisch und getrost, du streytist nit alleyn, groß hulff und beystand umb dich ist‘72. Das Abendmahl ist der ort der immer neuen Zusage und Bestätigung der sterck, beystand und hulff Christi und seyner heyligen73; nützlich ist es allein den Angefochtenen74; es verpflichtet zur Hingabe an den Nächsten; ein eigensüchtiger Mensch verfehlt das Sakrament75. ‚Heiligkeit‘ ist für Luther im Zuge der reformatorischen umformung seiner ekklesiologie also ein Attribut der christlichen Gemeinde als solcher geworden; es ist kein Distinktionsmerkmal besonders exponierter ‚Frommer‘. Die praktischen konsequenzen aus der reformatorischen umbildung des Heilsverständnisses und der ekklesiologie zog Luther erstmals in seiner schrift ‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘, der einflussreichen Programmschrift der reformation aus dem sommer 152076. entscheidende reformvorschläge betrafen das wallfahrtswesen und die Heiligenfeste. In einem eigenen Artikel trat Luther für eine Umfunktionierung der Heiligenfeste ein; sie sollten zum einen aus religiösen Gründen, d. h. im Horizont der Gott gebührenden ehre, umgestaltet77, zum anderen wegen ihrer sozialen und ökonomischen Folgen reformiert werden. Die Marien- und
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Vgl. wA 2, 743, 7 ff.31 ff. wA 2, 743, 21 f. wA 2, 743, 27 f. Alßo yn dißem sacrament wirt dem menschen eyn gewiß tzeychen von gott selber geben durch den priester, das er mit Christo und seynen heyligen soll alßo voreynigt und alle ding gemeyn seyn, das Christus leyden unnd leben soll seyn eygen seyn, dartzu aller heyligen leben und leyden. WA 2, 744, 8 – 11. WA 2, 744, 23 – 25. Vgl. wA 2, 748, 8 ff. WA 2, 744, 26 – 30. wA 2, 746, 12. WA 2, 746, 30 ff.; vgl. vgl. WA 1, 329 – 334. wA 2, 746, 34 ff. Vgl. dazu jetzt meinen kommentar: thomas kAufmAnn, An den christlichen Adel deutscher nation von des christlichen standes Besserung (ksLuth 3), tübingen 2014. WA 6, 445,3 – 446,8.
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sonstigen Feste ‚großer‘ Heiliger sollten die exklusivität des sonntags nicht gefährden. Außerdem sei der zeitliche Aufwand an den beibehaltenen Heiligenfesten auf die Morgenmesse zu begrenzen; der übrige Tag solle als werckel tag78 begangen werden. Damit fokussierte Luther seine Ausführungen letztlich auf die lebensweltlich-kulturellen konsequenzen, die auf eine Durchbrechung der lähmenden ökonomischen Folgen der lateineuropäischen christlichen Festkultur hinausliefen. er brach mit der seit der spätantike sukzessive etablierten tradition der an den sterbetagen der Heiligen gefeierten ‚dies natales‘, der Heiligenfeste, die üblicherweise mit Gebeten, der Lesung der Passion, einer Messe und Fürbittgebeten um Interzession des an ‚seinem‘ tag als besonders wirkmächtig geglaubten Heiligen verbunden waren. Luthers Vorschlag, die Heiligenfeste abzuschaffen, griff tief in das gesellschaftliche Leben der Zeit ein, tiefer und umfassender als viele andere der reformforderungen der Adelsschrift. Luthers Zuspitzung auf die Fehlentwicklungen der Gegenwart ließ die Möglichkeit anklingen, dass es früher einmal ‚besser‘ gewesen sei; auch blieb insbesondere Maria von weitergehender kritik unberührt. Frühere wie spätere äußerungen des reformators79 zeugen von einer weithin ungebrochenen wertschätzung für einzelne Heilige; allerdings wurde ihre Anerkennung außerhalb der interzessorischen Verdienstlogik spätmittelalterlicher ‚Leistungsfrömmigkeit‘ situiert. Die Fürbitte der Heiligen i. s. eines von ihnen erbrachten ‚guten werkes‘ galt Luther fortan und durchweg als Abgötterei, wie sie für die römische kirche charakteristisch gewesen sei80. Der wittenberger reformator wollte Fehlentwicklungen korrigieren und in diesem sinne re-formieren. Als an Arbeitsaskese gewöhnter Bettelmönch leitete er aus der ‚Freizeit‘ der Heiligenfeste verheerende sittliche konsequenzen ab: sund, sauffenn, spielenn, mussig gang81 – all dies folge aus der übergroßen Freizeit der zahlreichen Heiligenfeste! Ihre Aufhebung sollte der sittlichen erziehung der Gesellschaft und der steigerung ihres Arbeitsethos dienen. Die umwidmung eines Heiligenfestes zu einem werckel tag82 sollte nach Luther freilich zu erenn83 der Heiligen erfolgen. 78 79
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wA 6, 435, 35. Zum Magnificat vgl. Christoph BurGer, Marias Lied in Luthers Deutung (sur n. r. 34), tübingen 2007; vgl. WA 6, 445,34; s. auch WA 15, 194,36 ff. (zu verschiedenen Heiligen); vgl. WA 2, 743,7 ff.; zu Luthers und Zwinglis Mariendeutung im Vergleich s. Hans schneider, Zwinglis Marienpredigt und Luthers Magnifikat-Auslegung, Zwingliana 23 (1996), 105 – 141; zur ‚Mariologie‘ Luthers vgl. Hans düfel, Luthers stellung zur Marienverehrung (kikonf 13), Göttingen 1968. Vgl. die kompakte Liste der stucke, so inn der gleissenden kirchen jnn ubung und brauch sind gewest (wA 30 / II, 347, 25 f.) am schluss seiner Vermahnung an die Geistlichen von 1530: 12 Heiligen dienst, der etliche nie geborn. 13 Heiligen feyr on masse. 14 Maria eine gemeine Abgottin gemacht mit unzelichem dienst, feyr, fasten, gesenge, Antiphen. [. . .] 16 Heiligthum unzelich, mit lügen. WA 30 / II, 348, 22 – 29. Vgl. auch WA 34 II, 268, 25; WA 10 I/2, 83, 7 84, 30; WA 11, 452, 4; WA 17 II, 77, 36; 424, 8; WA 30 / I, 135, 14; WA 32, 430, 38; WA 34 / II, 225, 29; WA 45, 480, 33; WA 51, 55, 29; 156, 40; WA 52, 414, 18; 632, 30; WADB 7, 415, 13; wADB 8, 273. WA 6, 445, 37 – 446, 1. WA 6, 446,8; vgl. 446,2. wA 6, 446,7.
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Die ehrung der Heiligen sollte in dem und durch den Alltag der Arbeit geschehen. Luther meinte die Heiligen mittels dieses arbeitsasketischen ethos angemessener zu ehren als durch eine meritorische kultpraxis. Man wird wohl in dieser Hinsicht von einem durch die monastischen Prägungen Luthers begünstigten und vorbereiteten tiefgreifenden religiösen Paradigmenwechsel zu sprechen berechtigt sein. ein von Luther in der Adelsschrift gebrandmarkter Missbrauch bezieht sich auf die Instrumentalisierung der Heiligen als gelt kutzen84, d. h. als Lockmittel, um größere summen Geldes zusammenzubringen. Dabei dachte er vornehmlich an die wallfahrten, die zu mirakulösen offenbarungsorten der Heiligen führten. Der wittenberger theologe kritisierte sie auch von seiner besonderen wertschätzung der Pfarrkirche als dem maßgeblichen religiösen Bezugs- und Lebensort des Christenmenschen her85. Mittels der kanonisationsverfahren und der Ablässe habe das Papsttum entscheidend zum missbräuchlichen Aufschwung des wallfahrtswesens beigetragen86. In der wichtigsten Programmschrift der reformation, der Adelsschrift, sind die wesentlichen Aspekte des veränderten kultpraktischen umgangs mit den Heiligen also kodifiziert worden. Da, wo die Reformation siegreich wurde, schaffte man das wallfahrts-, das Ablass-, das auf die Heiligenverehrung bezogene stiftungswesen ab und diskriminierte das diesen Praktiken zugrundeliegende system der religiösen Leistungsfrömmigkeit. IV. neben den kritisch-destruktiven tendenzen der reformation in Bezug auf die überkommenen Formen des Heiligenkults, die nicht zuletzt infolge des seit 1522 um sich greifenden reformatorischen Ikonoklasmus87 in allen Formen des Protestantismus eine fundamentale krise der Heiligendarstellungen zur Folge hatten, lassen sich seit den frühen 1520er Jahren Momente einer genuin evangelischen Heiligenverehrung rekonstruieren. Ikonographische stilisierungen, die Luther in der tradition von Heiligendarstellungen präsentierten, sind seit 1520 nachweisbar88; die christusanaloge Behandlung des wittenbergers im Zusammenhang mit seinem Auftreten auf dem wormser reichstag in der Flugschrift ,Passio Doctoris Martini Lutheri‘89 von 1521 rückte ihn und seine Parteigänger Hutten und karlstadt in eine 84 85 86 87 88
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wA 6, 448,25. wA 6, 447, 17 ff. WA 6, 448, 11 ff.; vgl. zur Kanonisation auch WA 2, 651, 34; WA 7, 149, 35; WA 15, 546, 10; 557, 33; WA 18, 764, 22; WA 29, 689, 31; WA 50, 123, 7. Vgl. die Hinweise oben Anm. 6. Vgl. zur ‚Heroisierung‘ Luthers in wort und Bild zuletzt: kAufmAnn, Anfang der reformation (wie Anm. 8), 266 ff.; zur zeitgenössischen Heroisierung im kulturellen Kontext des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts: Heroen und Heroisierungen in der renaissance (wolfenbütteler Abhandlungen zur renaissanceforschung 28), hg. v. Achim AurnhAmmer / Manfred pfister, wiesbaden 2013. Vgl. Johannes schillinG, Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, texte und untersuchungen (QFrG 57), Gütersloh 1989.
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martyriologische Deutungsperspektive. Auch auf dem Holzschnitt ,triumphus veritatis‘ [1524]90 wurden Luther und karlstadt gleichfalls mit Palmenzweigen, den Insignien der Märtyrer, dargestellt. Das entsetzen des nuntius Girolamo Aleander, der registrierte, dass Bildnisse Luthers in worms wie Heiligenbildchen verehrt, also angebet und geküsst würden91, bestätigt diesen sachverhalt auch in Bezug auf die religiöse Praxis. Die skizzierten literarischen und visuellen Adaptionen der frühen 1520er Jahre lassen erkennen, wie intensiv die hagiographischen Motive in der zeitgenössischen kultur verwurzelt waren, wie nahe es lag, sie auf den wittenberger Bettelmönch und einige seiner Mitstreiter anzuwenden und wie stark das Bedürfnis innerhalb der reformatorischen Bewegung war, die eigene Gegenwart als ‚heilsnahe‘, von Gott mit Glaubenszeugen gewürdigte endzeit zu interpretieren.
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Zur historischen einordnung des Blattes und der Flugschrift (in: satiren und Pasquille aus der reformationszeit, Bd. II, hg. v. oskar schAde, Hannover 21863, neudruck Hildesheim 1966, 195 – 251; Abdruck und Kommentierung des Holzschnittes in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Frankfurt 1983, nr. 279, 221 f.) vgl. kAufmAnn, Anfang der reformation (wie Anm. 8), 320 ff.; zu Heiligkeitsmotiven im Text selbst vgl. etwa schAde, ebd., 242, 1694 ff. Vgl. etwa den auf den 18.12.1520 datierten Bericht aus worms: „und so gross ist die Verehrung [. . .] für Luther, dass einige in öffentlicher Disputation mit einem spanier vor einer grossen Volksmenge mitten auf dem Markte zu sagen wagten, dass Luther ohne jede sünde sei und daher nie geirrt habe, dass er deshalb unzweifelhaft über Augustin zu stellen sei, der ein sünder war, der irren konnte und geirrt hat. so hat man ihn denn auch neuerdings mit der taube über dem Haupte und mit dem kreuze des Herrn, oder auf einem andern Blatte mit der strahlenkrone dargestellt: und das kaufen sie, küssen es und tragen es selbst in den Palast.“ (Paul kAlkoff, Die Depeschen des nuntius Aleander vom wormser reichstage 1521, Halle 21897, 58 f.). Am [8.2.] 1521 berichtete der nuntius: „In Augsburg verkaufte man vor einiger Zeit das Bild Luthers mit dem Heiligenscheine, hier wurde es ohne denselben feilgeboten, und zwar unter so großem Zudrang, dass im nu alle exemplare verkauft waren, ehe ich mir eines verschaffen konnte. Gestern sah ich auf ein und demselben Blatte Luther mit einem Buche in der Hand und Hutten mit der Hand am schwerte [vgl. die Abb. in: kAufmAnn, Geschichte (wie Anm. 6) 7, Abb. 10, 263] [. . .]. so weit ist es mit der welt gekommen, dass diese Deutschen sich in blinder Verehrung um diese beiden schurken drängen und sie bei Lebzeiten anbeten [. . .].“ ebd. 79 f. Vgl. auch 107. ebd. 208 wird von Aleander [am 5.5.1521] davon berichtet, dass Bildnisse Luthers „öffentlich ausgestellt“ werden. nach einer von Aleander überlieferten Aussage karls V. zielte das wormser edikt auch darauf ab, den Besitz und die Verbreitung des Bildnisses Luthers zu verhindern (ebd. 209); im Text des Wormser Edikts werden summarisch reformatorische schriften, bücher, zedl und malerei, so bisher gemacht sein und hinfür geschriben, gedrückt und gemalet werden verboten bzw. deren Besitz unter strafe gestellt, vgl. nach der Ausgabe von ulrich köpf, Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 3: Reformationszeit 1495 – 1555 (ub 17003), Stuttgart 2001, 177 – 184, zit. 182.
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V. Im umgang mit den ersten Märtyrern der reformation, den beiden in Brüssel hingerichteten Augustinermönchen Johann van esch und Heinrich Voes92, verdichteten sich einige der genannten Motive. In der mit 16 Ausgaben93 sehr verbreiteten Flugschrift, die von den Vorgängen im umkreis der Hinrichtung des 1. Juli 1523 berichtete, werden die exekutierten ordensbrüder des wittenberger reformators als christliche [. . .] Riter94 und Märterer bezeichnet, die umb der Evangelischen warheyt willen95 gelitten haben, aber beständig geblieben sind. An mehreren stellen des kurzen textchens wird der sache nach betont, dass sie sich der Aufforderung zum widerruf verweigerten. Bei dem Verhör war dies der Fall: [. . .] nayn/ sy wöllen Gotes wort nit verlaugnen/ sonder wollen vil lieber umb christliches glawbens willen sterben. Do hat man jnen gesagt. Sy müssen verprennen. Des seind sy ganz willig gewest/ und gesagt. Sy sein froe/ dass/ jnen Got die gnad geben hab das sy umm Christliches glawbens willen sterben sollen96. ein weiterer niederländischer ordensbruder erbat sich einige tage Bedenkzeit, blieb aber am ende doch glaubenstreu, nutzte allerdings die Hinrichtung noch zu einer Predigt biß dz fewr und flamen über in geschlagen hat und ist auch also seligklich in Got verschiden97. Auch im Verhältnis zu den Beichtvätern, die sie auf dem weg zur Hinrichtungsstätte begleiteten, werden Züge des ‚Heiligmäßigen‘ sichtbar: Alß sy nun zum fewr kommen sein/ haben die vier Beichtväter gewaynet/ da haben dyse zwen gesagt sy dürffen nit um sy wainen/ sonder über jre sünd/ Sagten weiter/ waynent über das groß unrecht so ir die Göttliche gerechtigkyt also vervolgt. Und seind damit gantz frölich mit lachendem mund ins fewr gangen98. Im Feuertod bekannten sie Christi namen und 92
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An Literatur zu den Vorgängen sei verwiesen auf: Julius Boehmer, Die Beschaffenheit der Quellenschriften zu Heinrich Voes und Johann van den eschen, Archiv für reformationsgeschichte 28 (1931), 112 – 133; Marcel Gielis, Érasme, Latomus et le Martyre de deux Augustins Luthériens à Bruxelles en 1523, in: Erasmus of Rotterdam. The Man and the Scholar, hg. v. Jan sperna weilAnd / Willem Th. M. friJhoff, Leiden u. a. 1988, 61 – 68; zu den Quellen: Hildegard heBenstreit-wilfert, Märtyrerflugschriften der Reformationszeit, in: Flugschriften als Massenmedium der reformationszeit (spätmittelalter und Frühe neuzeit 13), hg. v. Hans-Joachim köhler, Stuttgart 1981, 397 – 446; Samuel crAmer / Fredrik piJper, Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Bd. 8, 1911, 13 – 19, 33 – 54, 65 – 114; Bernd moeller, Inquisition und Martyrium in Flugschriften der frühen reformation, in: Luther-rezeption, hg. v. Johannes schillinG, Göttingen 2001, 219 – 244; aus der Perspektive der Lutherbiographie: Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Angrenzung der Reformation 1521 – 1535, Stuttgart 1986, 105 ff. heBenstreit-wilfert, Märtyrerflugschriften (wie Anm. 92), 432 – 436. Ich benutze einen [Augsburger] Druck aus dem Jahr 1523: Der Actus unnd hendlung der Degradation und verprennung der Christlichen dreyen ritter und Merterer Augustiner ordens geschehen zu Brussel. Anno M. D. xxiij. Prima Julij; VD 16 A 170; Ex. BSB München Rar. 1513 {digit.}. Actus, A2r. ebd. ebd. A2v. ebd. B 3v. ebd. A 3r.
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ihre Bereitschaft, umb der Evangelischen warheyt willen [zu] sterbenn als fromme Christen99. Mit dem Gebetsruf Herre Jesu ein Sun David erbarme dich unser100 verstarben sie. Die schilderung der fröhlichen Märtyrertode in einer entsprechenden Gruppe von reformatorischen Flugschriften der 1520er Jahre101 nahm ohne Zweifel altkirchliche Vorbilder auf. Auch die tendenz der Gattung, sich zu dokumentarischen „Märtyrerakten“102 auszuwachsen, lässt neben motivischen einzelzügen deutlich erkennen, dass die Heiligen der vorkonstantinischen ära der kirchengeschichte, die Märtyrer, das maßgebliche Heiligkeitsideal der reformatorischen Bewegung bildeten. Luther selbst bestätigt diese einschätzung. In einem Brief an die Christen im Niederland103, in dem er die Vorgänge in Brüssel kommentierte, bezeichnete er seine hingerichteten ordensbrüder explizit als heylige104. Die großen Zeichen und wunder105, die Gott unter den niederländern habe geschehen lassen, bezeugen für ihn, dass jetzt die zeyt106 sei, das das reych gotts nicht ynn wortten sondern ynn der krafft stehe107. ähnlich anderen von Luther im sommer 1523 als euphorisierende endzeitzeichen gewerteten Ereignissen – der Mönchshochzeit Lincks108 etwa oder der taufe des kindes des konvertierten Juden Bernhard109 – verstand er den Märtyrertod der beiden Augustinereremiten als einen sichtbaren Gnadenerweis Gottes: Denn euch ists fur aller wellt geben, das Evangeli nicht alleyne zu hören und Christum zurkennen, sondern auch die ersten zu seyn, die umb Christus willen itzt schand und schaden, angst und nott, gefengnis und ferlichkeyt leyden, und nu so voller frücht und sterck worden, das yhrs auch mit eygenem blutt begossen und bekrefftigt habt [. . .]110. Dass Gott die niederländer des Martyriums würdige, sei Ausdruck ihrer besonderen Erwählung; deshalb sollten sie sich mit freuden dem herrn [. . .] schlachten111 lassen. 99 ebd. A 3v. 100 ebd. 101 Vgl. die bibliographischen Zusammenstellungen bei heBenstreit-wilfert, Märtyrerflugschriften (wie Anm. 92), 432 ff. und moeller, Inquisition (wie Anm. 92), 242 – 244. 102 Vgl. moeller, Inquisition (wie Anm. 92), 230. 103 WA 12, 73 – 80. 104 wA 12, 79, 4 (kasus von mir geändert, th.k.). 105 wA 12, 78, 23. 106 wA 12, 78, 25. 107 wA 12, 78, 25 f. 108 Vgl. dazu Bernd moeller, wenzel Lincks Hochzeit. Über sexualität, keuschheit und ehe im umbruch der reformation, in: Luther-rezeption, hg. v. Johannes schillinG (wie Anm. 92), 194 – 218. 109 Vgl. thomas kAufmAnn, Luther „Judenschriften“. ein Beitrag zu ihrer historischen kontextualisierung, tübingen 22013, bes. 37 ff. 110 WA 12, 78, 2 – 6. Apokalyptische Naherwartung spiegelt sich auch in den Versen des älteren Liedschlusses: Die lass man liegen ymer hyn, sie habes kleinen fromen. Wir sollen dancken Got daryn; seyn wort yst widderkommen. Der Sommer yst hart fur der thur, der winter yst vergangen; die zarten blumen gehen erfur. Der das hat angefangen, der wirt es wol volenden. Markus Jenny, Luthers Geistliche Lieder und kirchengesänge (AwA 4), köln / wien 1985, 220. 111 wA 12, 79, 2 f.
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Luther hat es angefochten, dass nicht er selbst bzw. die reformatorische Bewegung hieroben sind noch bißher [. . .] wirdig geweßen, Christo eyn solchs theures werdes opffer zu werden112. Indem er die Grundgedanken dieser Martyriologie auch in seinem Lied von den zween Merteren Christi zu Brussel von den Sophisten . . . verbrant113, dem ersten reformatorischen kirchenlied überhaupt, zum Ausdruck brachte, trug er entscheidend zu ihrer weit über den kreis der literati hinaus wirksamen Popularisierung bei: Im tod der marterer, der heylgen Gots, bekennt der himmlische Herr seine wunder macht, die vor allem darin besteht, dass die Delinquenten die peyn verachten und sich mit freuden und mit Gottes lob und singen in ihr schicksal ergeben. Das martyriologische Heiligkeitsmodell der frühen reformation im skizzierten sinne hat mannigfache Ausformungen erfahren. Dies gilt etwa in historiographischer Hinsicht, wo, anknüpfend an einschlägige äußerungen Luthers, Gestalten wie savonarola oder Hus als Heilige und Märtyrer der evangelischen wahrheit konstruiert wurden. In der Vorrede zur Ausgabe einer Psalmenmeditation des italienischen Dominikaners bediente sich Luther einer traditionelle und subversive Momente eigenwillig verbindenden Formulierung: der Antichrist habe zwar zu hoffen gewagt, das Andenken des großen Mannes zu vertilgen; dieser lebe aber und sei im Gedächtnis ein Segen; durch uns – also die christliche Gemeinde und ihren berufenen Propheten Luther – kanonisiere Christus ihn als Heiligen114. Das wirkkräftige Fortleben des Heiligen und Blutzeugen verbindet sich mit dem erinnerungsakt der Gemeinde, die dem kanonistischen Approbationsprozess ihr eigenes kanonisationsverfahren durch memoria115 entgegensetzt. ähnliche äußerungen Luthers zum ‚Heiligen‘ Hus116 kanonisierten auch dieses opfer der tyrannischen Papstkirche als ‚evangelischen Märtyrer‘. sie bildeten die Grundlage der in der zweiten Hälfte 112 WA 12, 78, 19 – 21; vgl. Brief an die niederländischen Ordensbrüder WABr 3, 115; 117; WA Br. 3, 237 – 239. Johannes Keßler, der sich damals in Wittenberg aufhielt, berichtet Folgendes: Wie ich zu der zit zu Wittenberg war in Saxen, sagt man mir, das Martinus Luther, als er die histori von disen zwaien obgemelten marterer gschriftlich vernommen, hat er angefangen innerlich zu wainen und gesagt: Ich vermaint, ich sollte ja der erste sin, der umb diß hailig evangelion wegen sollte gemarteret werden; aber ich bin des nit wirdig gewesen. Dann dise zwen (wie man bericht) sind die ersten, so umb des evangelions willen, durch M. Luther zu unser ziten widerumb geboren, gemarteret sind und der ufgenden warheit mit irem blut zügnus geben haben. Johannes kesslers sabbata mit kleineren schriften und Briefen, unter Mitwirkung von emil eGli und rudolf schoch hg. vom Historischen Verein des kantons st. Gallen, st. Gallen 1902, 131, 27 – 33. 113 In neuer edition in: Jenny, Luthers Geistliche Lieder (wie Anm. 110), Nr. 18, 75 f.; 217 – 222 (die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Edition); vgl. WA 35, 411 ff.; s. auch Patrice veit, Das kirchenlied in der reformation Martin Luthers (VIeG 120), stuttgart 1986, bes. 132 ff. 114 Et ausus quidem tum fuit Antichristus ille sperare memoriam tanti viri [sc. savonarola] extinctam iri, etiam sub maledictione, sed ecce vivit et memoria eius in benedictione est. Canonisat eum (quod aiunt) Christus per nos, rumpantur etiam Papae et Papistae simul. wA 12, 248, 9 – 13. 115 Vgl. Memoria als kultur (VMPIG 121), hg. v. otto Gerhard oexle, Göttingen 1995. 116 Vgl. WA 50, 39, 8; WA 14, 326, 8; WA 25, 263, 38; 369, 24; WA 40/ III, 667, 31; 730, 2; WA 42, 276, 39, wA 53, 167.
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des 16. Jahrhunderts ins kraut schießenden Husmemoria im lutherischen Protestantismus. Auf weitere Märtyrer der kirchengeschichte kam Luther seltener zu sprechen117. Auch wenn sein urteil über die ,Legenda aurea‘ des Jacobus von Voragine seit frühesten Äußerungen zumeist sehr negativ ausfiel118 – den Märtyrern der Kirchengeschichte brachten Luther und andere reformatoren großen respekt entgegen. Zum Zweck der historischen Memoria an Märtyrer und heilige Väter der älteren Christenheit verfassten schließlich protestantische Autoren wie Hermannus Bonnus, Paul eber, kaspar Goltwurm, Andreas Hondorff, Georg Major oder Georg spalatin119 entsprechende sammelwerke, die die Gattung der Heiligenkataloge fortführten und transformierten. In den großen Martyriologien der sich konfessionell formierenden richtungen des Protestantismus, bei Ludwig rabus, John Foxe oder Jean Crespin120, setzte sich diese tendenz in Bezug auf die jüngere Vergangenheit der eigenen kirchlichen tradition fort. Auch unter den ‚wahrheitszeugen‘ der protestantischen Geschichtswerke aus dem umkreis des Matthias Flacius121 stößt man auf ‚Heilige‘: Die Vertreter der ‚wahren, evangelischen Lehre‘, die für ihre Überzeugung eintraten und den Verführungen der römischen Papstkirche widerstanden. selbst in
117 Vgl. die Auflistung in WA 66, 391; der bei Luther am häufigsten erwähnte altkirchliche Märtyrer scheint Cyprian gewesen zu sein, vgl. WA 1, 186, 13; 230, 35; WA 6, 506, 22; WA 7, 106, 13; WA 29, 174, 19; WA 37, 278, 28; WA 59, 715, 16. 118 Vgl. bereits die äußerung gegenüber spalatin vom 24.8. 1516: Nugis illis mendaciis Catalogi [gemeint ist der Catalogus sanctorum des Petrus de natalibus, vgl. Gw M 25856/8] legende auree miro modo offensus sum. WABr 1, Nr. 19, 50, 8 f.; vgl. zu weiteren Äußerungen Luthers über die ,Legenda aurea‘: ernst schäfer, Luther als kirchenhistoriker, Gütersloh 1897, 151 ff. 119 Vgl. summarisch: Peter GemeinhArdt, Die Heiligen (bsr 2498), München 2010, 98; die Quellen im einzelnen analysiert pohliG, Gelehrsamkeit (wie Anm. 1), 440 ff.; zu den historiographischen sammelwerken vgl. auch: thomas fuchs, Protestantische Heiligenmemoria im 16. Jahrhundert, HZ 267 (1998), 587 – 614; zu protestantischen Martyrien s. auch Peter Burschel, sterben und Unsterblichkeit. Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 35), München 2004, 51 ff.; zur Weiterwirkung des martyriologischen Materials in der lutherischen orthodoxie vgl. wolfgang Grössel, Die Mission und die evangelische kirche im 17. Jahrhundert, Gotha 1897, 43. Zu den memorialkulturellen Langzeitwirkungen eines protestantisch transformierten ‚Heiligen‘-Gedenkens am Hauptort der mitteldeutschen reformation vgl. jetzt: Doreen zerBe, reformation der Memoria: Denkmale in der stadtkirche wittenberg als Zeugnisse lutherischer Memorialkultur im 16. Jahrhundert (schriften der stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 14), Leipzig 2013; in Bezug auf die Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert zuletzt: silvio reichelt, Der erlebnisraum Lutherstadt wittenberg. Genese, entwicklung und Bestand eines protestantischen erinnerungsortes, Göttingen 2013. 120 Jean Francois Gilmont, Les martyrologes du XVIIe siècle, in: Ketzerverfolgung im 16. und frühen 17. Jahrhundert (wolfenbütteler Forschungen 51), hg. v. silvana seidel-menchi, wiesbaden 1992, 175 – 192; Martin ohst, Das Martyrium in der deutschen und in der englischen reformation. Martyrdom in the German and English Reformations, in: Sister Reformations – Schwesterreformationen. The Reformation in Germany and in England – Die Reformation in Deutschland und in england. symposium on the occasion of the 450th Anniversary of the elizabethan settlement September 23rd – 26th, 2009, hg. v. Dorothea wendeBourG, Tübingen 2010, 235 – 270. 121 Vgl. Catalogus und Centurien (sur n. r. 45), hg. v. Monika hArtmAnn / Arno mentzel-reuters, Tübingen 2008; Harald BollBuck, wahrheitszeugnis, Gottes Auftrag und Zeitkritik. Die kirchengeschichte der Magdeburger Zenturien und ihre Arbeitstechniken, wiesbaden 2014.
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den radikalreformatorischen Milieus war es üblich, die opfer von Verfolgung aus den eigenen reihen in Analogie zu den Blutzeugen der vorkonstantinischen kirchengeschichte zu beurteilen und sie als menschliche Beweise des urgemeindlichen Heiligkeitsanspruchs der eigenen Gruppe zu bewerten. Insofern kann nicht ernsthaft zweifelhaft sein, dass die reformation die traditionelle Verehrung von ‚Heiligen‘ nicht nur abschaffte bzw. soteriologisch grundlegend problematisierte, sondern auch neue Formen personaler Heiligkeit und ihres Gedächtnisses hervorbrachte. Im unterschied allerdings zur üppigen legendarischen Heiligenüberlieferung vor der reformation treten die mirakelhaften Züge in den Hintergrund. nicht die spektakuläre Durchbrechung natürlicher ordnung stellt für die Protestanten ein wunder dar, sondern Glaubenstreue und mutiges Bekennen der ‚wahren Lehre‘ im Angesicht ihrer Feinde begründen die erinnerungswürdigkeit der ‚heiligen Zeugen‘. Gerade darin, dass es in der eigenen Gegenwart wieder Märtyrer des wahren Glaubens gab, zeigte sich ein letztes Aufbäumen satans, erwies sich, dass Gott in der Geschichte handelt und dass das Heil nahe war. VI. Ich komme zum schluss und fasse knapp zusammen: 1. wie in vielen Bereichen so stellt sich die wirkung der reformation auch in Bezug auf den umgang mit den Heiligen als komplex dar. Zum einen brach die reformation mit elementaren Praktiken der Heiligenverehrung, die in der lateineuropäischen tradition Fuß gefasst hatten: Mirakulöse Beglaubigungen supranaturalen Helfertums verfielen der Kritik; Wallfahrten zu Offenbarungsstätten der Heiligen kamen in Verruf; eine interzessorische Fürbittfunktion der Heiligen zog man nicht mehr in Betracht; Stiftungen zum Zweck der Sicherung heiliger unterstützer gerieten mit der Verdienstlogik sogen. ‚guter werke‘ in Misskredit und fanden in keiner der richtungen des Protestantismus eine Fortsetzung. In dieser Hinsicht bedeutet die reformation einen Bruch mit wesentlichen Aspekten des traditionellen Heiligenkultes. 2. In Anknüpfung an biblische Denkformen und altkirchliche traditionen brachten die reformatoren den Märtyrern als Glaubenszeugen größten respekt entgegen. Die Inanspruchnahme der altkirchlichen Märtyrer entsprach einem selbstverständnis, das an die heilige urzeit der kirche anknüpfte und sich selbst in deren tradition hineinstellte. 3. Im Bruch mit dem kanonisationsverfahren der römischen kirche hielten sich Luther und andere für berechtigt, ihres erachtens zu unrecht verurteilte ketzer zu Märtyrern der wahren kirche zu erklären und sie entsprechend zu ehren. Die protestantische Historiographie hat deshalb den Märtyrern besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 4. In den Martyrien der reformationszeit sahen die Anhänger der evangelischen Lehre einen erweis des Geschichtshandelns Gottes. Indem Gott die evangelischen des Martyriums ‚würdigte‘, bekräftigte er die wahrheit ihrer Lehre und die Gewißheit ihres Heils.
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5. Die Verehrung herausragender evangelischer Lehrer, allen voran Luthers, nimmt bestimmte kulturelle Momente der traditionellen Heiligenverehrung auf. Allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, dass man Luther oder anderen reformatoren interzessorische Qualitäten zuschrieb. Insofern setzt die Adaption bestimmter Motive der vorreformatorischen Heiligenverehrung für den Reformatorenkult – Bildnisse im Kirchenraum; Besuche der Wirkungsstätten; Inszenierungen der Grablegen – den religionskulturellen Traditionsbruch, den die reformation in der Heiligenverehrung vollzog, voraus. 6. Im kern geht es bei evangelischen Heiligen um das Glaubenszeugnis einer authentischen Christusnachfolge. Die ekklesiologische ‚Demokratisierung‘ des Heiligkeitskonzepts, das darauf basiert, dass der Heilige allein aus Gottes in wort und sakrament vermittelter Gnade lebt, eröffnet jeder Christin und jedem Christen die Verheißung, eine Heilige, ein Heiliger zu sein.
III. HeIlIgkeItsüberscHuss und Ausgrenzungen
ZwISCHEN VEREHRUNG UND VERACHTUNG: DAS BEISPIEL ROBERTS VON ARBRISSEL bernhard Vogel I. eines sonntags sei der kleine robert auf eine Frau getroffen, die Farnkräuter sammelte, und habe sie deswegen zurechtgewiesen. Der Farn sei daraufhin augenblicklich verschwunden, und angesichts dessen habe die Frau dem Jungen vorausgesagt, er werde einmal ein Heiliger sein. An einem anderen tag sei es roberts Aufgabe gewesen, zum Schutz der Ernte Vögel von einem Kornfeld fernzuhalten; um aber die Heilige Messe nicht zu versäumen, habe er die gefiederten Räuber in eine Scheune befohlen, in der sie bis zu seiner Rückkehr ausharren mußten. Mit diesen beiden wundererzählungen erinnert das Dörfchen Arbrissel in der Bretagne heute an seinen bekanntesten sohn1. Als wanderprediger und Ordensgründer gehört Robert von Arbrissel († 1116) zu den markantesten Gestalten der Kirchengeschichte an der wende vom 11. zum 12. Jahrhundert, machten ihn seine charismatische Erscheinung und seine wortgewaltige Gelehrsamkeit doch weit über die Grenzen seiner bretonischen Heimat hinaus bekannt, und besonders auf seinen Einfluss war es zurückzuführen, dass der westen und Norden Frankreichs mit seinen vielen neuen religiösen Gemeinschaften und Einsiedeleien schon manchem Zeitgenossen als altera Aegyptus erschien2. 1
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Arbrissel liegt im Arrondissement Fougères-Vitré, department Ille-et-Villaine, und hat knapp 300 Einwohner. Die beiden Mirakel finden sich ohne Quellenangabe in: Circuit Robert d’Arbrissel. Sur les traces de Robert, Internetpublikation [2012], URL: http://www.cc-rocheaux fees.fr/upload/gedit/1/ladecovrir/rando/3_arbrissel(1).pdf In seiner um 1147 entstandenen Vita des heiligen Bernhard von Tiron († 1114) schreibt Geoffroy le Gros: Erant autem in confinio Cenomanicae Britannicaeque regionis vastae solitudines, quae tunc temporis, quasi altera Aegyptus, florebant multitudine eremitarum per diversas cellulas habitantium, virorum sanctorum ac propter excellentiam religionis famosorum (. . .) [qui] postea fundatores extiterunt multarum atque magnarum congregationum. geoffroy, Vita Bernhardi c. 20, ediert bei Bernard Beck, saint bernard de tiron. l’ermit, le moine et le monde, Cormeilles-le-Royal 1998, hier: 336. – Vgl. besonders für den Loire-Kreis JeanHervé Foulon, Solitude et pauvreté chez les ermits du Val de Loire, in: Liber Largitorius. Études d’histoire médievale offertes à Pierre Toubert par ses élèves (Hautes études médiévales et modernes 84), hg. v. Dominique Barthelemy / Jean-Marie martin, Genève 2003, 393 – 416; Franz J. Felten, Zwischen Berufung und Amt. Norbert von Xanten und seinesgleichen im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts, in: Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des „Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte“ in Verbindung mit Projekt C „Institutionelle Strukturen religiöser Orden im
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Das große Aufsehen, das Robert bei seinen Zeitgenossen erregte, fand dementsprechend reichhaltigen Niederschlag in den Quellen, zu denen insbesondere die französische Forschung der letzten Jahre neue Zugänge eröffnet hat, zuvorderst durch einen fachübergreifenden zweisprachigen Editionsband3 und eine begleitende Fachtagung4, aber auch in Form biographischer Studien5. An den mit der Feder geführten zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Robert waren herausragende Gelehrte der sogenannten „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts6 beteiligt, so dass man für die Leitfragen nach Konstruktionen und Normen mittelalterlicher Sakralität und Sakralisierung in den Quellen zu Robert mit geschärften Terminologien im Kontext einer Umbruchszeit rechnen darf. Gleichzeitig stellt Robert von Arbrissel auch eine Art „Sonderfall“ dar, ist er doch einer der ganz wenigen bedeutenden mittelalterlichen Ordensgründer, der offiziell nie als Heiliger anerkannt
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Mittelalter“ und Projekt „Stadtkultur und Klosterkultur in der mittelalterlichen Lombardei. Institutionelle wechselwirkung zweier politischer und sozialer Felder“ des Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (Dresden, 10. – 12. Juni 2004), hg. v. Giancarlo andenna / Mirko Breitenstein / Gert melville, Münster 2005, 103 – 149, hier: 109. Jacques dalarun u. a., Les deux vies de Robert d’Arbrissel, fondateur de Fontevraud: Légendes, écrits et témoignages. The two lives of Robert of Arbrissel, Founder of Fontevraud: Legends, writings, and Testimonies. Editions des sources avec introductions et traductions françaises. with English Summaries of Introductions and Complete Translations of the Sources (Discplina Monastica 4), Turnhout 2006 (künftig abgekürzt zitiert als: Edition Robert). Der Band bietet neben den kritischen Editionen auch englische und französische Übersetzungen der behandelten Texte. Robert d’Arbrissel, entre philologie et histoire. Journée d’étude organisée par l’École nationale des chartes, l’Institut de recherche et d’histoire des textes et les éditions Brepols le 20 juin 2007 à l’IRHT, zusammengestellt von Pascale Bourgain / Dominique Poirel, Internetpublikation [Paris 2007], URL: http://elec.enc.sorbonne.fr/arbrissel). Bis heute anregend und lesenswert bleibt als Ausgangspunkt der modernen Forschungen Johannes von Walter, Die ersten wanderprediger Frankreichs. Studien zur Geschichte des Mönchtums, 1: Robert von Arbrissel, 2: Bernhard von Thiron, Vitalis von Savigny, Girald von Salles, Bemerkungen zur Norbert von Xanten und Heinrich von Lausanne (Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche IX. 3, 1 – 2), Berlin 1903/1906; Nachdruck (in einem Band) Aalen 1972. – Für die jüngere Forschung vgl. neben dem in Anm. 2 genannten Sammelband (dort 704 – 734 eine umfassende Bibliographie zum Thema) auch Jean-Marc Bienvenu, l’étonnant fondateur de Fontevraud, Robert d’Arbrissel, Paris 1981; Jacques dalarun, robert d’Arbrissel, fondateur de Fontrevraud, Paris 1986 (deutsche Neuauflage: ders., erotik und enthaltsamkeit. Das Kloster des Robert von Arbrissel, Frankfurt am Main 1987; erweiterte englische Ausgabe: ders., Sex, Sin and Salvation in the Middle Ages, washington 2006); Robert d’Arbrissel et la vie religieuse dans l’Ouest de la France. Actes du colloque de Fontevraud, 13 – 16 décembre 2001, hg. v. Jacques dalarun (Disciplina Monastica 1), Turnhout 2004; zuletzt Hervé oudart, Robert d’Arbrissel ermite et prédicateur (Istituzione e società 14), Spoleto 2010. den begriff prägte charles Homer haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge 1927. Zu Charakterisierungen der Epoche vgl. Aufbruch – wandel – Erneuerung. Beiträge zur „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts (9. Blaubeurer Symposion vom 9. – 11. Oktober 1992), hg. v. Georg Wieland, Stuttgart 1995; grundlegend dann Giles constaBle, the reformation of the Twelfth Century (Trevelyan Lectures Given at the University of Cambridge), Cambridge 1996.
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worden ist7. Dabei ziehen sich die Versuche, seine Kanonisierung zu erreichen, vom 12. bis ins 19. Jahrhundert, so dass eine Betrachtung der „Sakralisierungsgeschichte“ Roberts im chronologischen Längsschnitt auch exemplarische Anhaltspunkte für sich wandelnde Auffassungen von Sakralität vor dem Hintergrund veränderter politischer und kirchengeschichtlicher Gegebenheiten im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit liefern kann. Dabei wirft die umfangreiche hagiographische „ré-écriture“ und Retextualisierung seines Dossiers im 16. und 17. Jahrhundert ein Schlaglicht auf die generelle quellenkundliche Problematik mittelalterlicher Hagiographie und damit auch die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten in diesem Fall8. II. Mit Blick auf die hier behandelte Thematik war schon Roberts Geburt um das Jahr 1045 gewissermaßen ein „Politikum“; denn sein Vater war erblicher Pfarrer in Arbrissel und verheiratet, und auch Robert wird zunächst für diese Laufbahn vorgesehen gewesen sein9. Zum Studium ging er nach Paris, von wo er spätestens 1084/85 in seine bretonische Heimat zurückkehrte. Um 1089 machte Bischof Sylvester von Rennes (1076 – 1093), der zuvor zeitweise wegen Simonievorwürfen abgesetzt worden war, den talentierten Redner zum archipresbyter; nach Sylvesters Tod nahm Robert an der Domschule zu Angers ein zweites Studium auf. Bald aber zog es ihn auf asketische wanderschaft in die wälder der näheren Umgebung. 1095 gründete er in La Roë (20 km von Abrissel) ein Kanonikerstift, das er der Augustinerregel unterstellte10. Papst Urban II., den er 1096 in Angers traf, erteilte ihm offiziell die Erlaubnis zum Predigen. In La Roë aber hielt es Robert nicht lange. Ab 1098 versammelte er als wanderprediger rasch mehrere tausend Anhänger beiderlei Geschlechts um sich, bis ihm seitens der amtskirchlichen Autoritäten schließlich auf dem Konzil von Poitiers im November 1100 geboten wurde, sich mit seiner Gruppe fest niederzulassen.
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dies betont Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 4: Ottonische Biographie. Das Hohe Mittelalter 920 – 1220 n. Chr., 2: 1070 – 1120 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 12.2), Stuttgart 2001, 288. Zum „hagiographischen Diskurs“ vgl. den einführenden Forschungsüberblick in: Mirakelberichte des Frühen und Hohen Mittelalters (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 43), hg. v. Klaus herBers / Lenka Jirousková / Bernhard vogel, Darmstadt 2005, 1 – 22 (weitere Literatur ebd. 9 f. mit Anm. 26); Uta kleine, Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis (Beiträge zur Hagiographie 7), Stuttgart 2007, 10 – 13 (mit weiterer Literatur). Zur „Arbeit am Heiligen“ durch Retextualisierung vgl. die vor allem am Beispiel Roberts von Arbrissel entwickelte Studie von Frank Bezner, Zwischen ‚Sinnlosigkeit‘ und ‚Sinnhaftigkeit‘. Figurationen der Retextualisierung in der mittellateinischen Literatur, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (Zeitschrift für deutsche Philologie 124, Sonderband), 2005, 205 – 237. Für den folgenden kurzen Abriss seines Lebens vgl. Karte und Zeittafel bei Edition Robert (wie Anm. 3) 694 – 697; im Übrigen die oben Anm. 5 genannten Arbeiten. Zu La Roë vgl. oudart, Robert (wie Anm. 5), 100 – 127.
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In der bewaldeten Grenzzone der Diözesen Poitiers, Angers und Tours gründete er daraufhin 1101 das Kloster Fontevraud11; dort fanden sich alsbald Frauen und Männer jedweden Standes ein, deren coenobium Robert mit entsprechenden Statuten in einer Art doppelkloster12 organisierte, an dessen Spitze eine Frau stand, zunächst eine adlige Priorin13, ab 1115 dann die Äbtissin Petronilla von Chemillé14. Robert ging unterdessen weiter auf wanderschaft und gründete insgesamt weitere 19 Priorate, bevor er am 25. Februar 1116 im Priorat Orsan starb. Sein Herz wurde dort beigesetzt, sein Leichnam ins Mutterkloster Fontevraud überführt. Der Orden von Fontevraud erhielt auch nach dem Tod seines Gründers weiterhin enormen Zulauf; um 1150 sollen allein im Mutterkloster etwa 5.000 weibliche Religiosen gelebt haben15. Ende des 12. Jahrhunderts gab es 123 Priorate von Aquitanien bis England, im 13. Jahrhundert wuchs ihre Zahl bis auf 143 an. Reiche Stiftungen von Adligen, zuvorderst des Hauses Anjou, sorgten für die entsprechende Ausstattung; Fontevraud wurde zur Herrschergrablege der Plantagenets16. Erst im Hundertjährigen Krieg begann der prominente Status der auch mit den in Frankreich regierenden Kapetingern verbundenen Abtei zu bröckeln; nach umfangreichen Reformen in der Frühen Neuzeit wurde das Kloster 1793 in der Französischen Revolution aufgelöst. III. Die frühesten erhaltenen Quellen zu Robert von Arbrissel sind Stellungnahmen seiner prominenten Kritiker, beginnend mit Marbod (1035 – 1123), seit 1096 Bischof von Rennes und besonders durch sein poetisches Oeuvre einer der herausragenden literaten seiner zeit17. Marbod war zuvor von 1069 an Domscholaster in Angers 11 12 13 14 15 16
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Bis 1968 amtlich (und daher auch in älterer Literatur noch oft) „Fontevrault“ (von lateinisch fons Ebraldi); vgl. Berschin, Biographie (wie Anm. 7), 285. Zur Problematik des Begriffs „Doppelkloster“ vgl. die Hinweise bei Felten, Norbert (wie Anm. 2), 112 Anm. 34. Zu den Ordensstatuten, die Gegenstand umfangreicher Forschungen geworden sind, vgl. jetzt ausführlich Edition Robert (wie Anm. 3), 329 – 431. Nämlich Hersende de Montsoreau, vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 81. Vgl. zu Petronilla jetzt Bruce L. venarde, Making History at Fontevraud. Abbess Petronilla de Chemillé and Practical Literacy, in: Nuns’ Literacies in Medieval Europe. The Hull Dialogue (Medieval women 26), hg. v. Virginia Blanton, Turnhout 2013, 19 – 32. Vgl. Jean-Marc Bienvenu, Art. Fontevrault, Lexikon des Mittelalters 4 (1989), 627 – 629. Zu den dort bestatteten gehören etwa der englische König Heinrich II. (1189), sein Sohn Richard Löwenherz (1199) und Heinrichs Gemahlin Eleonore von Aquitanien (1204). Vgl. Jean-Marie Bienveu, Henri II Plantagenet et Fontevraud, Cahiers de civilisation Xe-XIIe siècles 37 (1994), 25 – 32; Stephanie casPari, Eleonore von Aquitanien und Fontevraud. Ein Beispiel weiblicher Religiosität im 12. Jahrhundert, in: Blicke auf das Mittelalter. Aspekte von Lebenswelt, Herrschaft, Religion und Rezeption. Festschrift Hanna Vollrath zum 65ten Geburtstag (Studien zur Geschichte des Mittelalters 2) , hg. v. Bodo gundelach / Ralf molkenthin, Herne 2004, 97 – 112. Zu Marbod vgl. Berschin, Biographie und Epochenstil (wie Anm. 7), 280 – 284; ferner Melissa lurio, An Educated Bishop in an Age of Reform. Marbod, Bishop of Rennes, 1096 – 1123, Phil. Diss. Boston 2003. Marbod verfasste auch zahlreiche Prosawerke unterschiedlichster Gattungen, darunter einige Heiligenviten.
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gewesen und vielleicht bereits dort Robert begegnet; jedenfalls darf man davon ausgehen, dass beide sich persönlich kannten. Um 1098/1100 schrieb er einen Brief an robert18, der sich wie die strenge Ermahnung eines geistlichen Vaters an seinen sohn19 liest. robert in seiner sanctitas möge sich hüten, für infirmiora membra zu einem scandalum zu werden20, was, wie Marbods nachfolgenden Beispiele zeigen sollen, auch dann bereits geschieht, wenn man – ob unabsichtlich oder nicht – mit worten oder Taten andere zu eigenem Fehlverhalten verleitet, ohne dabei selbst zu sündigen21. seine cohabitatio von Männern und Frauen begreife er, Robert, offenbar als exemplum novae religionis22, doch stoße dies – so Marbod – zurecht geistliche wie weltliche Kreise ab; der „Menschenfischer“ möge daher achtgeben, nicht eines Tages von einer mitgefangenen Schlange erbeutet zu werden23. Besonders rügt Marbod die unangemessene Kleidung und das ungepflegte Äußere Roberts: Ohne angemessenes Priesterkleid, sondern mit durchlöcherten Gewändern, halbnackten Beinen, langem Bart, nur an der Stirn geschnittenen Haaren laufe er barfuß herum und errege damit ein novum spectaculum; es fehle ihm bloß noch die clava, um ihn als einen lunaticus erscheinen zu lassen. Damit setze er sich dem Verdacht des furor aus; daher möge er
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Marbod von Rennes, Epistola ad Robertum, in: Edition Robert (wie Anm. 3), 526 – 557; zur Datierung und Überlieferung des Briefes ebd. 503 – 525. Vgl. auch oudart, Robert (wie Anm. 5), 409 – 428. Vgl. Bruce L. venarde, Power, Personality – and Perversity? Robert of Arbrissel (c.1045 – 1116) and His Critics, in: The Experience of Power in Medieval Europe 950 – 1350, hg. v. Robert F. BerghoFer / Alan cooPer / Alan J. kosto, Aldershot 2005, 213 – 225, hier: 216. Marbod, Epistola 5 – 6, Edition Robert (wie Anm. 3) 528 Z. 23 – 529 Z. 29: Vide ergo, fili dilectissime, ne, dum nimium de tua sanctitate confidis, infirmioribus membris offendiculum fias aut scandalum [. . .] Quae circa te plurimos scandalizant specialiter designabo, ut si culpam cognoveris, emendare non negligas. Vgl. zu diesem mittelalterlichen Verständnis von „Skandal“ Peter von moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), hg. v. dems. / Gert melville, Köln / weimar / wien 1998, 3 – 83, hier: 42 f.; Achim WesJohann, ut . . . stultus vel fatuus putaretur – „Fehltritte“ früher Franziskaner? in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne (Norm und Struktur 15), hg. v. Peter von moos, Köln / weimar / wien 2001, 203 – 234, hier: 230 f. Marbod, Epistola 7, Edition Robert (wie Anm. 3) 530 Z. 31 – 532 Z. 36: Mulierum cohabitationem, in quo genere quondam peccasti, diceris plus amare, ut quasi antiquae iniquitatis contagium novae religionis exemplo circa eamdem materiam studeas expiare. Has ergo non solum communi accubitu per noctem dignaris, ut referunt, accubante simul et discipulorum grege, ut inter utrosque medios iacens utrique sexui vigiliarum et somni leges praefigas. Vgl. zu den Traditionen dieser asketischen Praxis auch constaBle, Reformation (wie Anm. 6), 31 und 68 (mit weiteren Literaturhinweisen). Marbod, Epistola 9 – 10, Edition Robert (wie Anm. 3), 532 Z. 41 – 534 Z. 54: In hoc igitur capitulo conversationem tuam plurimi reprehendunt, nec solum ecclesiasticae, sed et vulgares personae, quippe cum et divinae et humanae legis huic societati manifeste reclament. [. . .] Et tu quidem, laxans retia tua in capturam, concludis piscium multitudinem copiosam, sed inter pisces trahere diceris et serpentes, quae naturam mortiferam facile mutare non possunt. [. . .] Cavendum ergo, ne te captura tua captivet.
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doch bitte ad sensum communem zurückkehren24, denn derzeit – so betont Marbod an anderer Stelle – strömten die Scharen nicht wegen amor religionis, sondern aus bloßer menschlicher Neugier zu Robert25. Kern von Marbods Vorwürfen ist, dass Robert die mater virtutum fehle26, nämlich die discretio, also Maß und Balance. Robert repräsentiert nach Marbod vielmehr eine indiscreta sanctitas27, denn Heiligkeit erweise sich gerade nicht in radikaler Askese, sondern in deren maßvoller Begrenzung, um die eigenen Anhänger nicht zu überfordern. Heiligkeit entsteht durch soziale Geltung und das positive Zeugnis anderer, nicht durch gleichsam „überheilige“ Übertreibung28. Schon oexle fand, in diesen Passagen Marbods spiegele sich entscheidendes „Konfliktpotential“ der Kirchengeschichte des 12. Jahrhunderts: „Einebnung der Ständegrenzen und der ständischen Unterschiede, in der Kleidung, im Verhalten, im Denken, – das ist das Programm der Armutsbewegung, Predigtbewegung und Laienbewegung, wie sie Robert von Arbrissel um 1100 vertrat. Einhaltung der ständischen Unterscheidung, von Klerus und Laien, von Männern und Frauen, und im Blick auf die Altersstufen, – das ist die Gegenforderung des Bischofs.“29 Davon, ob religiöse Bewegungen wie diejenige Roberts von Arbrissel ihren Platz innerhalb oder außerhalb der bestehenden Ordnung fanden, hing letztlich auch die Beantwortung der Frage nach Heiligkeit oder Häresie ihrer wanderpredigenden Begründer
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Marbod, Epistola 19 – 20, Edition Robert (wie Anm. 3), 544 Z. 123 – 131: Quo igitur tibi, abiecto habitu regulari, oportuit, ad carnem cilicio, cum attrito pertusoque birro, seminudo crure, barba prolixa, capillis ad frontem circumcisis, nudipedem per vulgus incedere et novum quasi spectaculum praebere videntibus, ut ad ornatum lunatici solam tibi iam clavam deesse loquantur? Hoc tibi non tam apud simplices, ut dicere soles, auctoritatem, quam apud sapientes furoris suspicionem comparat. Nam, si quibus improvisus appares, ‚Quid hoc hominis?‘ quam ‚Quis hic homo?‘ magis querere compelluntur. Redi igitur, quaeso te, ad sensum communem [. . .] – Vgl. zur Einschätzung dieser Passage die Hinweise bei Peter von moos, Beschämendes und schamloses Schweigen im Mittelalter. Facetten einer Provokation, in: Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne (Trends in Medieval Philology 21), hg. v. Katka gvodzeva / Rudolf velten, Berlin 2011, 264 – 299, hier: 279 (mit Anm. 42), auf Marbods gelehrte Anspielung im Sinne des „discours du fou“. Marbod, Epistola 24, Edition Robert (wie Anm. 3), 548 Z. 158 – 161: Videmus ad te turbas undique confluentes, tibi tuisque honores quos propriis debebant sacerdotibus impendentes; quos tamen, ut manifestum est, non religionis amor, sed ea quae semper vulgo familiaris est curiositas et novorum cupiditas ducit. Marbod, Epistola 31, Edition Robert (wie Anm. 3), 556 Z. 206 f.: Ergo et super hoc exitu tuo culpatur religio, quia in introitu non est habita mater virtutum discretio. Zur Herkunft des Begriffs vgl. Paolo golinelli, Indiscreta sanctitas. Sull’uso polemico della santità nel contesto del movimento riformatore, in: ders., Indiscreta sanctitas. studi sui rapporti tra culti, poteri e società nel pieno medioevo (Studi storici fasc. 197 – 198), Roma 1988, 157 – 206. Vgl. zu dieser Argumentation Bezner, Retextualisierung (wie Anm. 8), 225 – 228. Vgl. Otto gerhard oexle, Formen des Friedens in den religiösen Bewegungen des Hochmittelalters (1000 – 1300), in: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit (Schriftenreihe der Universität Regensburg, Neue Folge 19), hg. v. wilfried hartmann, Regensburg 1993, 87 – 109, hier: 94 ff., Zitat ebd. 95.
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ab30. Marbods Brief ist auch vor diesem Hintergrund als deutliche warnung an Robert zu verstehen31. Ebenfalls in Angers ausgebildet worden war Gottfried (um 1070 – 1132), Abt von La Trinité in Vendôme, in seinen Briefen und Streitschriften ein einflußreicher Verfechter des gregorianischen Reformpapsttums32. seine kritik an robert, die er um 1106 brieflich niederlegte33, ist ähnlich gelagert wie diejenige Marbods, doch durchweg schärfer formuliert. wenn es wahr sei, was man sich über Robert erzähle, so solle er sich gar nicht erst zu verteidigen versuchen, sondern sich lieber eilig um Besserung bemühen34. Roberts selbstgewählte Hürde, in der cohabitatio ständig die Fleischeslust im Zaum halten zu müssen, bezeichnet Gottfried trocken als novum et inauditum, sed infructuosum genus martyrii, das jede discretio vermissen lasse und einen Verstoß gegen die ratio darstelle35. Robert, der Gipfelstürmer, müsse aufpassen, nicht abzustürzen und ein den etablierten Heiligen gänzlich unbekanntes martyrium erleiden36.
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Vgl. Werner Bomm, Anselm von Havelberg, Epistola apologetica. Über den Platz der ‚Prämonstratenser‘ in der Kirche des 12. Jahrhunderts. Vom Selbstverständnis eines frühen Anhängers Norberts von Xanten, in: Studien zum Prämonstratenserorden (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 185 = Studien zur Germania Sacra 25), hg. v. Irene crusius / Helmut Flachenecker, Göttingen 2003, 107 – 183, hier bes.: 122 – 125 mit weiteren Hinweisen; vgl. auch Felten, Norbert (wie Anm. 2), 110 – 112. Vgl. Jessee w. scott, Robert d’Arbrissel. Aristocratic Patronage and the Question of Heresy, Journal of Medieval History 20 (1994), 221 – 235. Zur vergleichenden Einordnung etwa Gert melville, In privatis locis proprio jure vivere. Zu Diskursen des frühen 12. Jahrhunderts um religiöse Eigenbestimmung oder institutionelle Einbindung, in: Kulturarbeit und Kirche. Festschrift Paul Mai zum 70. Geburtstag (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 39), hg. v. werner chroBak / Karl hausBerger, Regensburg 2005, 25 – 38, bes. 35. Vgl. Geoffroy de Vendôme, Oeuvres, hg. u. übersetzt v. Geneviève giondarnengo, turnhout 1996. Gottfried von Vendôme, Epistola ad Robertum, in: Edition Robert (wie Anm. 3), 568 – 577; zur Datierung und Überlieferung des Briefes ebd. 559 – 567. Vgl. auch oudart, Robert (wie Anm. 5), 429 ff. Gottfried, Epistola 2, Edition Robert (wie Anm. 3), 568 Z. 8 – 12: Haec idcirco, venerabilis frater, proposuimus, quia te talia egisse et adhuc agere, fama discurrente sinistra, audivimus, quae si vera sunt, ut nulla excusatione illa defendas, sed cum omni festinatione corrigas, tuam simplicitatem germanae caritatis visceribus ammonemus. Gottfried, Epistola 3 – 4, Edition Robert (wie Anm. 3), 568 Z. 13 – 570 Z. 22: Audivimus enim quoniam circa sexum femineum, quem regendum coepisti, duobus modis altero alteri prorsus contrario te ita sollicitum reddis, quod modo in utroque modum discretionis penitus excedis. Feminarum quasdam, ut dicitur, nimis familiariter tecum habitare permittis, quibus privata verba saepius loqueris, etcum ipsis etiam inter ipsas noctu frequenter cubare non erubescis. Hinc tibi videris, ut asseris, Domini Salvatoris digne baiulare crucem, cum extinguere cognaris male accensum carnis ardorem. Hoc si modo agis, vel aliquando egisti, novum et inauditum sed infructuosum genus martyrii invenisti. Certe nec utile fieri potest, nec aliquo modo fructuosum, quod contra rationem cognoscitur esse praesumptum. Gottfried, Epistola 7, Edition Robert (wie Anm. 3), 572 Z. 30 – 34: Tu quidem in mundo quasi montem excelsum ascendisti, ac per hoc in te linguas et oculos hominum convertisti. Ergo stans in monte, vide ne corruas nec per martyrium martyribus sanctis penitus ignotum religiosae vitae principio notam infamiae derelinquas.
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Noch bevor man sich in Fontevraud mit einer hagiographischen Replik gegen die Vorwürfe Marbods und Gottfrieds zur wehr zu setzten begann, verfasste Robert von Arbrissel selbst um 1110 einen sermo in Form eines briefes an seine Anhängerin Ermengard († 1147), Gräfin der Bretagne37. Es ist der einzige von Robert selbst verfasste Text, der sich erhalten hat38, und lässt in seinem mit gelehrten Anspielungen gespickten Predigtstil sowohl die rhetorisch-literarische Begabung seines Verfassers wie auch die Art seiner Kritik an amtskirchlichen Strukturen erkennen, über die sich „die Etablierten“ so sehr aufregten39. Ausdrücklich schließt er kirchliche würdenträger wie Bischöfe, Äbte und Priester in seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen mit ein40 – was nicht nur Marbod ungehörig fand – und schreibt, unter den Klerikern seien viele hypocritae, die bloß den Menschen zu gefallen trachteten41. Auch zeigt sich, dass Robert über den Kern der Anwürfe Marbods und Gottfrieds im Bilde ist, wenn er Ermengard ausdrücklich empfiehlt, in allem discretio walten zu lassen42. Zudem implizieren Roberts Zeilen eine direkte Kritik an Marbod, der sich lieber darum kümmern solle, in seinem Bistum für Ordnung zu sorgen43. IV. Um der Diskreditierung Roberts und seiner Bewegung nach dem Tod des Ordensgründers systematisch entgegenzutreten, bedurfte es mit Blick auf Marbod und Gottfried freilich eines gleichwertigen literarischen „Schwergewichts“ – die wahl in Fontevraud fiel auf Baudri (1046 – 1130), den langjährigen Abt des nahegelegenen
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Zu Ermengrad, einer Tochter Fulcos IV. von Anjou, und den Hintergründen ihrer Hinwendung zu Robert von Arbrissel vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 433 – 442. Sermo domni Roberti de Arbrussello ad comitissam Britanniae, in: Edition Robert (wie Anm. 3), 460 – 479; zur Datierung und Überlieferung ebd. 442 – 459. Noch vor 1120 wurde Roberts Brief in St-Amand in eine hauptsächlich aus Augustinus-Texten bestehende Sammelhandschrift integriert – ein Zeichen dafür, dass schon die Zeitgenossen das Stück für ein bedeutendes Dokument der „nova religio“ hielten. Zum Brief insgesamt vgl. jetzt auch oudart, Robert (wie Anm. 5), 432 – 442. Vgl. therese latzke, Robert von Arbrissel, Ermengard und Eva, Mittellateinisches Jahrbuch 19 (1984), 116 – 154, hier: 122 – 125. Sermo Roberti 8, Edition Robert (wie Anm. 3), 466 Z. 48 – 51: Inter barbaros homines et incultos moraris et, ut tibi videtur, nullum bonum potes ibi facere. Simoniachi sund doctores, episcopi et abbates et sacerdotes, principes iniqui et raptores, adulteri et incestuosi, populi ignorantes legem Dei. Nullus agit bonum, nullus dicit bonum, omnes contradicunt veritati. Sermo Roberti 17, Edition Robert (wie Anm. 3), 474 Z. 118 – 123: Tu vero, occupata multis negotiis, breves orationes fac. [. . .] Clerici sunt multi hipocritae; monachi et heremitae, ut placeant hominibus, longas orationes simulant, ut videantur ab hominibus. Tu vero, remota omni vanitate et simulatione, veritatem tene discrete. Sermo Roberti 23, Edition Robert (wie Anm. 3), 478 Z. 148 – 155: Discretionem tene in omnibus, in abstinentia, in ieiuniis, in vigiliis, in orationibus. Utere cibo et potu et somno, tantum ut possis sufferre laborem propter utilitatem aliorum, ne propter te. [. . .] Esca et potus non est regnum Dei, sed gratia et pax. Amen. Vgl. venarde, Robert and his Critics (wie Anm. 19), 223 f.
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Benediktinerklosters St-Pierre-de-Bourgueil, seit 1107 Erzbischof von Dol-en-Bretagne44. Ähnlich wie Marbod, mit dem er eine enge literarische Freundschaft pflegte, gehört auch Baudri zu den bedeutenden lateinischen Dichtern seiner Zeit. Mit Robert war er persönlich bekannt gewesen, in Adelskreisen genoß der „Lebemann“ (Berschin) hohes Ansehen, und als Erzbischof hatte er sich in einer Streitfrage, die Michaelsreliquien auf dem Mont St-Michel betraf, als Entscheidungsinstanz dafür aufgeschwungen, deren Authentizität (und damit auch die des zugehörigen Kultes) zu beurteilen45. Ihm, einem Vertreter der von Robert angefeindeten „Amtsträger“, traute man also zu, das im Sinne Fontevrauds heilige Leben Roberts in eine entsprechende literarische Form zu gießen, ihm also einen „sprachlichen Reliquienschrein“46 zu zimmern. Baudris daraufhin im Auftrag Petronillas verfasste, wohl kurz vor 1119 fertiggestellte „Historia Magistri Roberti“47 umfasst 25 Kapitel, die in filigraner und damit auch liturgisch verwendbarer Reimprosa gehalten sind, wie sie in der Vitenliteratur schon des 10. und 11. Jahrhunderts besonders häufig anzutreffen ist48, und lässt sich durchweg als zurückhaltend aber präzise formulierte Antwort auf Roberts Kritiker lesen, auch wenn das sicher nur eine von mehreren „causae scribendi“ darstellt. Kapitel 7 bis 14 behandeln die Zeit bis zur Gründung Fontevrauds, Kapitel 15 bis 25 (die mehr als die Hälfte des Textes ausmachen) die verbleibenden elf Jahre. Zwar gewinnt man insgesamt den Eindruck, dass der Vita eine ganze Reihe typischer zeitgenössischer hagiographischer Muster fehlen, doch läßt Baudri schon in seinem widmungsbrief an Petronilla und dem anschließenden Prolog (zusammen die Kapitel 1 – 6) erkennen, dass er an der Heiligkeit Roberts nicht zweifelt49. Für seine schriftstellerische Aufgabe erbittet Baudri in topischer Manier um die Unterstützung des Heiligen Geistes; die sanctitudo Roberts könne ihm ebenfalls helfen50. denn gott selbst habe robert gesandt, der Welt einen spiegel
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Zu Baudri vgl. Berschin, Biographie und Epochenstil (wie Anm. 7), 285 – 288. Zu Baudris poetischem werk zuletzt Christine ratkoWitsch, Von der Manipulierbarkeit des Mythos. der Paris / Helena-Mythos bei Ovid (her. 16/17) und Baudri von Bourgueil (carm. 7/8) (Collection Latomus 334), Bruxelles 2012; daneben Eckhard Conrad lutz, Schreiben, Bildung und Gespräch. Mediale Absichten bei Baudri de Bourgeuil, Gervasius von Tilbury und Ulrich von Liechtenstein (Scrinium Friburgense 31), Berlin 2013, hier: 49 – 137. Vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 80 f. mit Anm. 173. Zitat: Paul kloPsch, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, 80; vgl. Bezner, Retextualisierung (wie Anm. 8), 218 f. mit Anm. 62. Baudri von Bourgeuil, Historia magistri Roberti fundatoris Fontis Ebraudi, in: Edition Robert (wie Anm. 3), 130 – 187; BHL 7259. Vgl. karl Polheim, Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925, hier: 373 – 377; Bauduin de gaiFFier, Etudes critiques d’hagiographie et d’iconoloogie (Subsidia hagiographica 43), Bruxelles 1967, hier: 437 – 443. Vgl. Baudri, Historia Roberti § 1.2, Edition Robert (wie Anm. 3), 130 Z. 9 – 15, wo es über Robert heißt: dominum videlicet Robertum, nostris temporibus singularem seminiverbium, doctorem illustrem et eximium, verbis et operibus admirandum, virum extollendum et imitandum. Vgl. Baudri, Historia Roberti § 5.2, Edition Robert (wie Anm. 3), 140 Z. 85 – 87: Sanctus igitur spiritus obeditioni meae adminiculetur, et domni Roberti mihi sanctitudo suffragetur.
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vorzuhalten51. Die von Marbod und Gottfried eingeforderte discretio besitzt Robert nach Baudri durchaus52, und die Frage nach dem „outfit“53 roberts beantwortet Baudri mit dem Versuch einer kurzen „Psychologie des Heiligen“, dessen innere Zerissenheit zwischen Selbstdisziplin und Sorge um seine Mitmenschen sich in der nachlässigen Kleidung manifestiere54. Ausführlich hebt Baudri hervor, dass Papst Urban II., beeindruckt von Roberts Redegewalt, dem Prediger Robert 1096 in Angers seine Approbation als Dei seminiverbius gewährt habe55. Diese Passage weist implizit auf einen weiteren möglichen 51
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Vgl. Baudri, Historia Roberti § 4.2 – 3, Edition Robert (wie Anm. 3), 140, Z. 70 – 76: Et quoniam nunquam et nusquam Deus esse potest otiosus, diebus tamen nostris coram nobis operatus est manifestius, dum venerabilem Robertum de Abrincello mundo dedit speculum, suffocatorem vitiorum, propagatorem et educatorem virtutum, omnium desolatarum et erronearum personarum solamen et praeambulum. Iste siquidem Robertus, solis orientalis radius, lucifer irreverberatus, praedicator potestativus, occidentalem orbem plagam irradiavit, et ignorantiae tenebras ore potestativo defuscavit. – Vgl. auch § 17.6, ebd. 168 Z. 267 f.: Hunc [sc. Robertum] profecto dixerim habitaculum Iesu Christi, templum et organum spiritus sancti, responsalem et vicarium Altissimi. Vgl. Baudri, Historia Roberti § 16.2, Edition Robert (wie Anm. 3), 162 Z. 239 – 244, mit Blick auf die cohabitatio Roberts: Mulieres tamen ab hominibus segregavit, et inter claustrum eas velut damnavit, quas orationi deputavit; homines vero laboribus mancipavit. Non sine discretione id agere videbatur, quia sexum teneriorem et imbecilliorem commendabat psalmodiae et theoriae, fortiorem autem applicabat exercitiis vitae actualis. so gert melville, Die Zisterzienser und der Umbruch des Mönchtums im 11. und 12. Jahrhundert, in: Norm und Realität. Kontinuität und wandel der Zisterzienser im Mittelalter (Vita Regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter, Abhandlungen 42), hg. v. Franz J. Felten / werner rösener, Berlin 2009, 23 – 43, Zitat: 37. Vgl. Baudri, Historia Roberti § 11.2 – 3, Edition Robert (wie Anm. 3), 152 Z. 163 – 174: Nam praeter ea, quae extrinseca videbantur – uti pilis porcorum cilicium induere, barbam sine aqua radere, lectisternium praeter humum vix nosse, vinum omnino cibosque lautos et saginatos nescire, somnum permodicum naturali fragilitate compellente raro capere – quidam intrinsecus in eo erat conflictus, quidam mentis rugitus, quidam penetralium singultus [. . .] Litigabat enim eiulatu incomparabili cum Deo, et totum se vovebat pro sacrificio. Omnibus mitis et modestus, sibi soli tantum inimicabatur obstinatus et iniquus. – Vgl. Giles constaBle, nudus nudum Christum sequi and Parallel Formulas in the Twelfth Century. A Supplementary Dossier, in: Continuity and Discontinuity in Church History. Essays presented to George Huntston williams on the Occasion of his 65th Birthday (Studies in the History of Christian Thought 19), hg. v. Frank Forrester church, Leiden 1979, 83 – 91; in größerem kulturgeschichtlichen Zusammenhang Peter von moos, Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur 23), hg. v. dems., Köln / weimar / wien 2004, 123 – 146. – Vgl. auch Berschin, Biographie und Epochenstil (wie Anm. 7), 286. Baudri, Historia Roberti § 13, Edition Robert (wie Anm. 3), 156 Z. 192 – 203: Contigit in illius diebus, ut Romanus pontifex Urbanus secundus, urgente temporis necessitate, in Gallias devenerit et ad Andegavos declinaverit. Audivit de Roberto: non enim abscondi debebat tanta lucerna sub modio. Accersiri eum mandavit eiusque colloquium eleganter cupivit. Celebrare ibi habuit solemnem cuiusdam ecclesia dedicationem, ad quam confluxisse putares totam orbis amplitudinem. In tanto conventu Robertum loqui praecipit et non insolitis mandat sermonibus uti. Locutus est ergo luculenter ad populum, cuius verba valde domino papae placuerunt. Intellexit enim quod spiritus sanctus os eius aperuerit. Imperat denique et iniungit ei praedicationis officium, et
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Entstehungshintergrund der „Historia Roberti“ Baudris hin – denn im Sommer 1119 kam Papst Calixt II. zur weihe der Klosterkirche nach Fontevraud, und aus Anlass dieses Besuchs, so die plausible Annahme neuerer Forschungen, habe eine Vita des Klostergründers vorgetragen werden sollen56. Das Fehlen bestimmter konstitutiver Elemente einer hagiographischen Vita macht sich vor allem gegen Ende der Historia Roberti bemerkbar. So wird im kurzen und recht schmucklosen Kapitel über Roberts Sterben sein Todestag nicht genannt, und man vermisst eine „Migravit“-Passage mit entsprechendem Formelgut, wie sie Baudri in seinen übrigen hagiographischen werken auch stets verwendete57. zudem hatte baudri, in den Worten Berschins, „Geschmack genug, auf wunder zu verzichten“58, was freilich im hagiographischen Kontext durchaus zum Nachteil gereichen konnte, sollte es um die Etablierung eines Heiligen gehen59. Für den Zweck, Robert von Arbrissel selbst wenn nicht als heilige, so doch zumindest als zweifellos nichthäretische Gestalt zu erweisen und damit den Abbatiat der von ihm ernannten Petronilla sowie die von ihm maßgeblich bestimmten Statuten des Klosters und des aufblühenden Ordens zu legitimieren, reichte Baudris Text wohl aus. Freilich entschloss man sich noch vor 1120 dazu60, Baudris Vita durch einen frater des Klosters namens Andreas ergänzen zu lassen. Das Ergebnis war ein 75 Kapitel umfassender Text, der heute als „Supplementum historiae vitae Roberti“ firmiert und sich ausschließlich mit den letzten sechs Lebensmonaten Roberts ab September 1115 bis zu seinem Begräbnis in Fontevraud beschäftigt; mit Berschin ließe er sich auch als „Transitus Roberti“ bezeichnen61. Ausführlich und oft mit längeren Abschnitten direkter Rede kommen dabei Roberts Verfügungen vor seinem Tod zur Sprache, darunter sein wunsch nach einem einfachen Begräbnis im „Schlamm“ (also im Gelände vor dem Klosterbau und nicht in der Kirche) von Fontevraud, in Abgrenzung zu berühmten heiligen Orten wie Bethlehem und Jerusalem, Rom mit seinen Märtyrergräbern oder Cluny mit seinen „schönen Prozessionen“62.
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aliquantulum renitenti ei talis obedientiae commendat ministerium. Secundum a se eum statuit Dei seminiverbium, atque, ubique discurrat, adhortatur ad huiusmodi studium. – Für ähnliche Beispiele aus anderen Viten der Zeit vgl. die Hinweise bei Felten, Norbert (wie Anm. 2), 110 f. mit Anm. 26. Vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 103 – 110. Zur Frankreichreise des Papstes vgl. auch Beate schilling, Guido von Vienne – Papst Calixt II. (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 45), Hannover 1998, 687 – 705. Vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 93 f. so Berschin, Biographie und Epochenstil (wie Anm. 7), 287. Vgl. zur kultetablierenden Rolle von Mirakeln die Einleitung zu: Mirakelberichte (wie Anm. 8), hier: 20 – 22. Vgl. zum Terminus ante quem Edition Robert (wie Anm. 8), 103. [Andreas von Fontevraud], Supplementum historiae vitae Roberti, in: Edition Robert (wie Anm. 3), 190 – 300. BHL 7260. Vgl. Berschin, Biographie und Epochenstil (wie Anm. 7), 287. Vgl. Supplementum historiae Roberti § 32.3, Edition Robert (wie Anm. 3), 250 Z. 495 ff. (Rede gerichtet an Erzbischof Leodegar von Bourges): Notum igitur, charissime pater, tibi facio, quod nolo iacere in Bethleem, ubi deus de virgine nasci dignatus est, nec etiam Ierosolymis in Sancto Sepulchro; nolo etiam in Roma sepeliri inter sanctissimos martyres, nec in Cluniaco monasterio, ubi fiunt pulchrae processiones. – Zu Cluny vgl. Kristina krüger, Monastic Customs and
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Dass Robert auf dem Sterbebett noch reuig eingesteht, einst in Rennes in Simonie verwickelt gewesen zu sein und überdies von Ruhm zu zehren, der eigentlich mehr den leitenden Klosterfrauen zustünde63, erweist ihn zum einen als „nicht radikalen“ Heiligen (gegen das, was Marbod behauptet hatte)64, sollte zum anderen aber Jahrhunderte später noch Konsequenzen für seinen Kult haben; darauf wird zurückzukommen sein. Stilistisch fällt auf, dass die Passagen über sein Sterben sich besonders stark aus der Martinsvita des Sulpicius Severus bedienen65, mithin also eine Tradition „hergebrachter“ Klosterkultur mit Fontevraud in Verbindung bringen, wo man im übrigen die praecepta seiner Heiligkeit (also Gründungsdokumente und Statuten) jederzeit in Augenschein nehmen könne66: Hier passt Cristina Ardennas wort von der Heiligenvita als „stabilisierendem Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen wandels“67, stellt doch das Supplementum sozusagen „la version narrative des statuts de Robert d’Arbrissel“ dar68. Sollte man Baudris Vita und die Ergänzungen des Andreas zusammen als „libellus“ beim Besuch Calixts II. in Fontevraud am 31. August und 1. September 1119 mit der Absicht präsentiert haben, eine päpstliche Anerkennung der Heiligkeit Roberts zu erreichen, so ist dieser Plan nicht aufgegangen: Zwar bestätigte der Papst zwei wochen später die weihe der Kirche und die Ordensregeln, doch in die Reihen der „sancti“ wurde Robert nicht erhoben. Allerdings weist ein nach 1119 entstandenes, separat überliefertes und inhaltlich sowohl auf Baudris „Historia“ wie das „Supplementum“ bezugnehmendes „Migravit“, in dem Robert bereits als himmlischer Interzedent an die Seite der Heiligen tritt, auf das faktische Vorhandensein eines solchen lokalen Kultes um Robert schon im frühen 12. Jahrhundert
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Liturgy in the Light of Architectural Evidence. A Case Study on Processions, in: From Dead of Night to End of Day: the Medieval Customs of Cluny. Du coeur de la nuit à la fin du jour: les coutumes clunisiennes au moyen âge (Disciplina Monastica 3), hg. v. Susan Boynton / Isabelle cochelin, Turnhout 2005, 191 – 220. Vgl. Supplementum historiae Roberti § 41.3 – 5, Edition Robert (wie Anm. 3), 266 Z. 646 – 653: Referebat [sc. Robertus] se etiam arguendo quod, dum adhuc esset saecularis, in ordinatione cuiusdam Redonensis episcopi in venenum simoniae semel inciderit (. . .) Tunc dicebat quod ipse religionem mulierum coadunaverat, quae laborem sanctae religionis pro Deo excellenter sustinebam, sed ipse solus carum laudem habuerunt. – Vgl. zu den Vorfällen in Rennes auch Baudri, Historia Roberti § 9.2, Edition Robert 148 Z. 143: Quattuor igitur annis apud episcopum ita demoratus archipresbyter pacem inter discordes reformando, ecclesias ab infami laicorum ancillatu liberando, incestas sacerdotum et laicorum copulationes dirimendo, simoniam penitus abhorrebat omnibusque vitiis viriliter resistebat. Vgl. Bezner, Retextualisierung (wie Anm. 8), 232 ff. Vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 109. Vgl. Supplementum historiae Roberti § 10.1, Edition Robert (wie Anm. 3), 206 Z. 134 ff.: Dedit namque eremitarum lucerna, memoratus scilicet Robertus, genti suae religiosae quaedam praecepta, ut videlicet tam viri quam mulieres unanimiter custodirent religionis suae sanctitatem in locutione, in actu, in victu atque vestitu. Vgl. cristina andenna, Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen wandels, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Peter strohschneider, Berlin 2009, 526 – 573. Zitat: Edition Robert (wie Anm. 8), 110.
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hin69. Freilich kann man hinter die Annahme, die Historia Roberti und ihr Supplementum seien in dieser Form dem Papst zur Kenntnis oder zu Gehör gebracht worden, auch ein Fragezeichen setzen, wenn man den Abschnitt Baudris über Roberts Jugendzeit betrachtet, in dem er den Priestersohn ausdrücklich als sacerdos ex sacerdotibus progenitus bezeichnet70 – das gegenüber einem Papst wie Calixt II., der nur wenige wochen später deutlich Position gegen die Priesterehe bezog71. Auch die zunächst spärliche handschriftliche Überlieferung der Viten, die jedenfalls offenbar keinerlei Eingang in legendarische Sammelhandschriften gefunden haben, spricht dagegen, dass ihre Texte hauptsächlich der päpstlichen Anerkennung einer Robertsverehrung dienen sollten. Allerdings stößt man auf dieser Argumentationsebene im vorliegenden Fall rasch an eine Grenze: Denn die Texte Baudris und des Supplemetum, so wie man sie jetzt für das frühe 12. Jahrhundert rekonstruiert hat, sind ausschließlich über Textzeugen und Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts greifbar, einer Zeit also, in der man in Fontevraud eine generalstabsmäßig organisierte „ré-écriture“ des gesamten Dossiers in Angriff nahm. Ein „hagiographisches Puzzle“72, dessen fehlende Teile zur Vorsicht vor allzu weitreichenden Schlüssen warnen73. V. Eine Reihe von Quellenzeugnissen aus der Zeit zwischen der Gründungsphase Fontevrauds und den umfangreichen Reformen des 16. Jahrhunderts illustrieren einen wandel im Bild Roberts als Heiliger. Noch aus dem frühen 12. Jahrhundert stammt 69
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Migravit, Edition Robert (wie Anm. 3), 635 – 638. Vgl. besonders 637 Z. 18 – 21: [. . .] omnes, devotissima intencione cordisque compunctione, Deum suppliciter exoremus ut, quicquid rubiginis vir iste aureus propter carnis fragilitatem contraxit, solita pietate indulgens, cum sanctis et electis suis requiescere faciat; nosque ipsius [sc. Roberti] et omnium sanctorum suorum intercedentibus meritis in celeste palacium introducat. Vgl. Baudri, Historia Roberti § 7.1, Edition Robert (wie Anm. 3), 142 Z. 95 – 98: Fuit igitur beatus de quo loqui disposuimus Robertus, christianae professionis cohaeres et filius, Britanniae minoris alumnus, quam provinciam decoravit sacerdos ex sacerdotibus progenitus, ex pago Redonensi oriundus, villae quae vulgo Arbriscellum nuncupatur indigena et colonus. (Hervorhebung des Verfassers). Bezeichnenderweise fehlen die drei worte in einer Reihe von Textzeugen, wenngleich sie für die reimprosaische Struktur des Satzes notwendig sind. Vgl. schilling, Calixt II. (wie Anm. 56), 416 – 418. So der programmatische Titel des Beitrags von Monique goullet, De Baudri à Boudet. Un puzzle hagiographique, in: Robert entre philologie et histoire (wie Anm. 4). Das gilt im übrigen auch für die Beurteilung des mancherorts als ältester Text eines RobertMirakels bezeichnete sogenannte „wunder von Rouen“, demzufolge Robert dort barfuß in ein Bordell gegangen sei und Prostituierte bekehrt habe. Ob die Erzählung aus dem 12., dem 13. oder aber späteren Jahrhunderten stammt, bedarf noch genauerer Untersuchung. Vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 301 – 323, der Text des Mirakels ebd. 322 f. – Vgl. auch J. M. B. Porter, Prostitution and Monastic Reform, Nottingham Medieval Studies 41 (1997), 71 – 79; für weitere Literaturhinweise ferner Edition Robert, (wie Anm. 3), 312 Anm. 36; Bezner, Retextualisierung (wie Anm. 8), 228 f.
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das Gedicht „De morte Roberti“ eines ungenannten Verfassers, dessen 13 elegische Distichen eine poetische Zusammenfassung der Robertvita Baudris darstellen und sicher im literarischen Zirkel um die Loire-Klöster entstanden sind74. Als Dichter des zuvor lange mit Hildebert von Lavardin75 in Verbindung gebrachten Stücks hat man jüngst Galo von St-Florent-les-Saumur († 1129) erwogen, ein enger Freund Baudris, mit dem er in regem Kontakt stand und für den er gelegentlich Korrektur las. Ob es sich bei den Versen zunächst nur um ein literarisches Epitaph, also eine gelehrte Stilübung, oder von vornherein um eine tatsächliche Grabinschrift handelte, muss offenbleiben76. wegweisend im vorliegenden Zusammenhang sind die beiden letzten Distichen, die Robert mit seinem Gönner Bischof Peter von Poitiers († 1115) zusammenbringen77. Denn wie ein Eintrag im „Chronicon“ des Richard von Poitiers aus der Mitte des 12. Jahrhunderts zeigt, wirkten beide „Lokalheiligen“ nun zusammen78. Robert von Auxerre († 1212) nennt Robert von Arbrissel einen in Aquitanien bekannten vir magnarum virtutum, tam fervore sanctitatis quam profusione doctrinae mirabilis79. In der Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Vita des Girald von Salles († 1120), der ein Schüler Roberts gewesen sein soll, steht zu lesen, dass ihm Peter und Robert zusammen mit Jesus in einer Vision erschienen seien; eine Begebenheit, die natürlich eine Heiligkeit Roberts voraussetzt80. Aus der 979 74
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De morte Roberti de Arbriscel, in: Edition Robert (wie Anm. 3), 604 – 607; Incipit: Astrorum cultorque Die metit astra Deumque . . .; Vgl. Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen, unter Benutzung der Vorarbeiten Alfons Hilkas bearb. von Hans Walther, 2., durchgesehene Aufl. mit Ergänzungen u. Berichtigungen, Göttingen 1969, hier: Nr. 1654. Zu Hildebert als typischem Vertreter des gelehrten Loire-Zirkels vgl. die immer noch lesenswerte Studie von wolfram von den steinen, Humanismus um 1100, Archiv für Kulturgeschichte 46 (1964), 1 – 20; auch in: ders., Menschen im Mittelalter. Gesammelte Forschungen, Betrachtungen, Bilder, hg. v. Peter von moos, Bern / München 1967, 196 – 214. Vgl. zur Überlieferung und zur Verfasserfrage Edition Robert (wie Anm. 3), 579 – 603; zustimmend Pascale Bourgain, Philologie et histoire. À propos de Robert d’Arbrissel, in: Robert entre philologie et histoire (wie Anm. 4). 1622 wurden die Verse auf dem neugestalteten Doppelgrab in Fontevraud als Epitaph angebracht. De morte Roberti 23 – 26, Edition Robert (wie Anm. 3), 606: Huic Pictavensi Petrum qui preerat ovili / vita parem fecit pectore, mors meritis. / Par meritum datur emeritis, quod dat recepitque / gratus utrisque Deus, gratus uterque Deo. Chronicon Richardi Pictavensis monachi Cluniacensis, in: Veterum scriptorum (. . .) amplissima collectio (. . .), hg. v. Edmundus martène / Ursinus durand, 5, Paris 1729, 1171C; vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 645 Nr. 27: In illo tempore illud famosissimum coenobium foeminarum, quod dictitur Fons-Ebraldi, construitur in pago Pictavensi a Roberto de Bruxello, juvante eum Petro Pictavorum episcopo, cuius sanctitatem crebra miracula tumuli eius loquuntur et praedicant. Ob sich cuius auf Peter beziehen muss oder auch auf Robert bezogen werden kann? In jedem Fall steht Robert mindestens bereits einem wundertätigen Heiligen zur Seite. Vgl. Roberti canonici S. Mariani Autissiodorensis chronicon, hg. v. Oswald holder-egger, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores (in folio) 5, 220 – 276, hier: ad annum 1104, ebd. 229 Z. 3 ff.; vgl. Edition Robert (wie Anm 3), 648 f. Nr. 33. Vgl. Vita beati Geraldi de Salis, Edition Robert (wie Anm. 3), 650 – 652 Nr. 35, hier 652: Factusque ad horam in excessu mentis, et evanescens Domino, circumstantibus ait in latino:
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gegründeten, seit 1177 als Priorat zum Orden von Fontevraud gehörenden englischen Abtei St Mary-St Melor in Amesbury hat sich ein Stundengebet auf Robert aus dem frühen 14. Jahrhundert erhalten81, das auch den räumlichen Bezug der Verehrung Roberts zu den Plantagenets illustriert82. Die bedeutende Rolle Roberts als Patron verdeutlicht der Überlieferungskontext, in dem sich sonst hauptsächlich Texte über Maria finden, die Klosterpatronin von Amesbury. VI. Geschwächt durch die Folgen des Hundertjährigen Krieges und eine Reihe strittiger Äbtissinnenwahlen erlebte Fontrevaud im späten 15. Jahrhundert unter Äbtissin Marie de Bretagne (1438 – 1478) eine erste Reform83; Papst Sixtus IV. erklärte sie 1470 für den ganzen Orden als verbindlich. Renée de Bourbon (1491 – 1534), die erste einer Reihe von sechs Äbtissinnen aus königlich-französischem Hause, gab im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts eine französische Übersetzung von Baudris Historia roberti und ihres supplementum in Auftrag, die ein frater boudet aus Fontaines-en-France vor 1521 fertigstellte84. Die entscheidenden Impulse für eine Belebung des Kults um Robert von Arbrissel aber gingen ein Jahrhundert später von Jeanne-Baptiste de Bourbon aus, einer unehelichen Tochter König Heinrichs IV. Unter ihrem Abbatiat (1637 – 1670) wurde gezielt die Einleitung eines Kanonisierungsverfahrens betrieben85. Dazu gehörte zuvorderst natürlich die Sammlung,
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„Volucres video.“ Illis non intelligentibus et sciscitantibus quaenam essent volucres visae, bonae an malaem subiunxit, verus Israelita: „Visitare me venit Dominus Jesus Christus, et cum eo Petrus Pictaviensis episcopus, et dominus Robertus eruditor meus.“ – Zur Bedeutung von Visionen in hagiographischen Texten vgl. Bernhard vogel, Visionen und Mirakel. Literarische Tradition und hagiographischer Kontext am Beispiel Lantberts von Deutz, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, hg. v. Klaus herBers / Martin heinzelmann / Dieter R. Bauer (Beiträge zur Hagiographie 3), Stuttgart 2002, 227 – 251. Vgl. Edition Robert (wie Anm. 3), 652 – 654 Nr. 36: Ave noster sanctissime Roberte, sacerdos Dei electe, fundator et constitutor totius ordinis Fontis Ebraldi. Sis pro nobis intercessor apud Christum tuum dilectum et esto noster bellator fortis contra inimicum in hora mortis. Ne dimittas nos perire, sed fac nos in terram viventium introire. Sancte Roberte, Christi dilector, hic et ante Deum esto nostrum adiutorium [. . .] So liegen etwa Eleonore von Bretagne († 1241), eine Nichte König Johann Ohnelands, und Eleonore von der Provence († 1291), die Gemahlin König Heinrichs III., im Kloster Amesbury begraben. Vgl. auch Berenice M. kerr, Religious Life for women, c. 1100 – c. 1350. Fontevraud in England (Oxford Historical Monographs), Oxford 1999, 64 – 100. Vgl. Jean de viguerie, La réforme de Fontevraud de la fin du XVe siècle à la fin des guerres de religion, Revue d’histoire de l’Église de France 65 (1979), 107 – 117. die grundlegende bedeutung Boudets für die Rekonstruktion der Originalfassungen beider Robertsviten wird ausführlich erörtert in der Edition Robert (wie Anm. 3), 38 – 72. Vgl. auch für das folgende den Überblick von J. M. B. Porter, Fontevrault Looks Back to Her Founder. Reform and the Attempts to Canonize Robert of Arbrissel, in: The Church Retrospective. Papers Read at the 1995 Summer Meeting and the 1996 winter Meeting of the Ecclesiastical History Society (Studies in Church History 33), hg. v. Robert N. sWanson, Woodbridge 1997, 361 – 377.
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Sichtung und Überarbeitung der erhaltenen Texte über Robert, der nun innerhalb weniger Jahrzehnte zum Gegenstand gleich mehrerer gedruckter Darstellungen wurde, einer „ré-écriture“ größeren Ausmaßes also. Federführend dabei war der Jesuit Honoré Nicquet (1585 – 1667), der 1642 selbst einen umfangreichen Band zur Geschichte Roberts und Fontevrauds vorlegte86 und dem 1645 in Rom mit Unterstützung des Bischofs von Bourges eröffneten Kanonisationsverfahren beiwohnte. In Fontevraud hatte man unterdessen Roberts Reliquien baulich in den Mittelpunkt gerückt; 1622 wurden seine Gebeine zusammen mit denen Peters von Poitiers in ein neu errichtetes Doppelgrab gebettet87. Es zeigte sich jedoch, dass einige der ein halbes Jahrtausend zuvor gegen Robert vorgebrachten Kritikpunkte immer noch als sozusagen beatifikationsgefährdend betrachtet wurden, und hier ganz besonders jener Brief Gottfrieds von Vendôme88, von dem in Fontevraud bekannt war, dass er sich in einer in Gottfrieds Abtei aufbewahrten Sammelhandschrift des 12. Jahrhunderts befand89. Die Äbtissin entsandte daraufhin um 1645 zwei fratres dorthin, die sich unter dem Vorwand der Recherche den Codex aushändigen ließen und in einem unbeachteten Moment säuberlich genau jenes Blatt heraustrennten und entsorgten90, auf dem sie die ihrer Meinung nach besonders inkriminierende Formulierung91 entdeckten. 1652 dann schickte JeanneBaptiste eine offizielle Delegation nach Vendôme mit der Bitte, man möge ihr offiziell bestätigen, dass es den Brief Gottfrieds in der Handschrift gar nicht gebe! Die Finte gelang jedoch nicht, denn der zweite Teil des Briefes (den zudem sirmond schon 1610 zur Gänze gedruckt hatte) war auf dem Folgeblatt noch vorhanden, so dass die Bibliothekare in Vendôme die Lücke sofort bemerkten und entsprechende Randbemerkungen in die Handschrift einfügten. Auch schaute man sich den Text nun erst recht genauer an, was letztlich im 19. Jahrhundert zum Nachweis seiner zuvor bestrittenen Authentizität führte. Über den negativen Ausgang des Verfahrens bei der Ritenkongegration in Rom ist ein aufschlußreicher Bericht erhalten, den Nicquet im Frühjahr 1657 an Jean Bolland schickte, den Herausgeber der „Acta Sanctorum“, der sich gerade mit den Dossiers über Robert auseinandersetzte, da die Drucklegung des dritten Februarbandes nahte92. Nicquets Bericht kommt besonderer Quellenwert zu, da er detailliert 86 87 88 89 90
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Honoré nicquet, Histoire de l’Ordre de Font-Evraud contenant la vie et les merveilles de la saintété de Robert d’Arbrissel (. . .), Paris 1642. Vgl. Bruce L. venarde, Robert of Arbrissel: A Medieval Religious Life (Medieval Texts in Translation), washington 2003, 116. Vgl. zu Gottfrieds Brief an Robert ausführlich oben S. 539 f. Vgl. zur Handschrift Edition Robert (wie Anm. 3), 564 f. Die Aufklärung dieses „Kriminalfalls“ gelang Jules de Pétigny, robert d’Arbrissel et geoffroy de Vendôme, Bibliothèque de l’École des chartes 15 (1854), 1 – 30. Vgl. zu den Hintergründen und Abbildungen der Handschrift auch die virtuelle Präsentation des Institut de recherches et d’histoire des textes (IRHT): La lettre volée. Le manuscrit 193 de la Bibliothèque municipale de Vendôme, [Paris 2003], URL: http://lettrevolee.irht.cnrs.fr. Nämlich Epistola 3 – 4, vgl. 233 mit Anm. 35. Der Bericht Nicquets ist überliefert in der Handschrift Bruxelles, Bibliothèque Royale, Coll. Boll. 3459 (inv. 8228), dort fol. 64r – 71v (das Begleitschreiben an Bolland ebd. fol. 60r – 61v).
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die Argumentation des promotor fidei im Kanonisationsverfahren wiedergibt, die zur Ablehnung geführt hatte93. In Rom, so schreibt Nicquet, habe man insbesondere die Unzulänglichkeit der vorgelegten wunderberichte kritisiert: denn miracula post mortem seien kein Zeichen einer Heiligkeit Roberts, weil Gott den Bittenden wegen dessen eigenen Glaubens und Verdienstes erhöre und nicht aufgrund der Verdienste desjenigen, der angerufen werde; und miracula venerabilis Roberti facta in vita gebe es ja offenbar leider keine94. Die ablehnende Entscheidung Roms habe, so berichtet Nicquet weiter, auf zwei Punkten gefußt: Zum einen habe sich Robert als archipresbyter in Rennes der Simonie schuldig gemacht, sei also ein haereticus; deswegen habe es ja auch all die Jahrhunderte bislang noch niemand „gewagt“, Roberts Heiligsprechung zu fordern. Zum anderen habe Robert sich Lorbeeren zu eigen gemacht, die eigentlich den Frauen seines Konvents zugestanden hätten95. Sozusagen zum Verhängnis werden der „causa“ Roberts jetzt also seine Geständnisse auf dem Sterbebett, wie sie im „Supplementum“ des Andreas berichtet sind96, und der damalige Verzicht Baudris und Andreas’ auf die Aufzeichnung von miracula in vita. Bolland ließ sich jedoch von Nicquets Bericht nicht beeindrucken und veröffentlichte Roberts Dossier wie geplant ein Jahr später, 1658, im neuesten Band der „Acta Sanctorum“97. In seiner Vorrede bemerkte er dazu lapidar, zwar sei Robert
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Vgl. zum folgenden Jan Marco saWilla, Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17. Jahrhundert. Zum werk der Bollandisten. Ein wissenschaftshistorischer Versuch, Tübingen 2009, 450 – 453. zur rolle des promotor fidei im Kanonisationsverfahren vgl. Thomas Wetzstein, Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 28), Köln 2004, bes. 208 – 210. Bericht Nicquets, fol. 70r: De miraculis multa disputat (. . .) promotor, atque inter caetera ait miraculis, quae fiunt post mortem, non esse signa sanctitatis, quia scilicet deus saepe audit supplicantem propter fidem et meritum supplicantis, et non propter meritum eius, qui invocatur. Agit autem consulto de miraculis post mortem, quia non habemus ulla miracula venerabilis Roberti facta in vita. – Ebd. fol. 71r: Caeterum in miraculis, quae de venerabili Roberto narrantur, multa – ait [scil. promotot] – desiderari: Primo, quod in genere narrantur; secundo, quod non excedant vires naturae; tertio, quod deus potest facere miracula etiam post mortem alicuius, quando invocatur, non quidem propter ipsius meritum, sed propter fidem eius, qui invocat. Quare miracula etiam post mortem non esse certa indicia sanctitatis. – Vgl. zu beiden Passagen saWilla, 450 mit Anm. 350. Bericht Nicquets, fol. 71r: Ab illustrissimo domino promotore opponuntur duo ad impendiam canonizationem patris Roberti: Unum est, quod, dum esset archipresbyter Rhedonensis, incidit in peccatum simoniae. Alterum est, quod ipse sibi appropriaverit laudem laboris, quem mulieres excellenter sustinebant in religione ab ipso instituta. Praeterea, dum tractatur prima oppositio (dicitur ad canonizationem requiri fidem, vitae excellentiam et miracula), illustrissimus dominus promotor fidem fuisse negat in servo dei Roberto, quia fuit Simoniacus. Simoniacus autem haereticus est, et simonia haeresis. Excellentiam vero vitae oppugnat ex eodem capite simoniae, quae gravissimum peccatum est, atque inter cetera ait: Simoniacum plane indignum qui canonizetur, multisque invehitur in peccatum simoniae, causamque, cur tot saeculis nullus propemodum ausus fuerit postulare patris Roberti canonizationem – ait – esse, quod Simoniacus fuerit. Vgl. saWilla 450 f. Vgl. oben. De beato Roberto de Arbrisselo [25. Febr.], ed. Jean Bolland, Acta Sanctorum Febr. III, 1658, 593 – 616.
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„bislang noch nicht“ päpstlicherseits dergestalt in die Reihen der Heiligen aufgenommen, dass man für ihn offiziell die Heilige Messe lesen dürfe, doch verfolge Jeanne-Baptiste, die Äbtissin von Fontevraud, dieses Ziel „mit allen Fasern ihres Körpers“98. In der Tat gab die Äbtissin die Sache noch nicht verloren und übersandte Papst Clemens IX. im Frühjahr 1668, zwei Jahre vor ihrem Tod, eine erweiterte neue Zusammenstellung des Dossiers über Robert, zu dem nun auch eine Mirakelsammlung aus Orsan gehörte, wo Roberts Herz aufbewahrt worden war99; doch führte auch diese erneute Intervention nicht zum gewünschten Ergebnis. Nur ein sehr kurzer Ausblick sei am Schluß noch dem 19. und 20. Jahrhundert gewidmet100. 1793 war Fontevraud im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst worden; die Bauten standen zunächst leer und wurden dann ab 1804 bis 1963 gut anderthalb Jahrhunderte lang als Gefängnis genutzt (heute steht die gewaltige Anlage als Monument Historique wieder der Besichtigung offen). Als man 1842 im Zuge von Erweiterungsarbeiten in der ehemaligen Klosterkirche entdeckte, dass sich im Grabmal Roberts von Arbrissel noch Knochen befanden, gab man diese Überreste nach Chemillé, in die Heimat der einst von Robert eingesetzten ersten Äbtissin Petronilla. Vom dortigen Konvent ausgehend kam es daraufhin zu einer letzten Revitalisierung des alten Ordens von Fontevraud zu zwei weiteren Versuchen (1853 und 1863), von Papst Pius IX. († 1878) eine Kanonisierung Roberts zu erreichen101. Diesmal begründete Rom seine Ablehnung damit, dass ja seit der Neuerrichtung des Grabmals unter Jeanne-Baptiste im 17. Jahrhundert Peter von Poitiers und Robert von Arbrissel gemeinsam dort bestattet gewesen seien und sich dementsprechend alle wunder, die sich seither am Grab ereignet haben sollten, gar nicht zweifelsfrei alleine dem wirken Roberts zuordnen ließen. Als die Abtei Chemillé dann im 20. Jahrhundert erlosch, gelangten die Reliquien 98 Ebd., Commentarius praevius 17, 596a – 596b: Non est adhuc quidem Robertus in caelitum tabulas ita pontificis maximi sententia adscriptus, ut de eo ecclesiasticum officium recitari missaeque offerri sacrificum possit, verum id impetrare eadem Ioanna Baptista antistita omnibus nervis contendit. Ursit quoque iam a pluribus annis, ut his publicus in ecclesia cultus Beato Roberto haberetur, serenissima magnae Britanniae regina, quae saepius super hac re ad pontificem scripsit et per oratorem suum anno MDCXLV supplicem libellum obtulit, e quo ista referuntur in citatam gloriam Beati Roberti, unde intelligere quisque possit, quam tandem ratione mota caelitibus debitum honorem Roberto procurare aggressa sit [. . .]. 99 Das werk erschien unter dem Titel: Beati Roberti Arbressellensis ordinis Font-Ebraldensis conditoris vita, transitus, epitome vitae, elogia, miracula, Rouen 1668 und enthält neben einem widmungsbrief der Äbtissin an Papst Clemens IX. (ebd. V – XL) eine Fassung der Historia Roberti Baudris (1 – 44) und des Supplementum (45 – 115), ferner Roberti de Arbrissello ordinis FontisEbraldi fundatoris vitae epitome (117 – 129), sodann Summorum pontificum, sanctae Romanae ecclesiae cardinalium, antistitum, principum, clarorumque scriptorum de Roberti Arbressellensis sanctitate testimonia (131 – 211) und schließlich Miracula a Dei beati Roberti Arbressellensis intercessione impetrata. Zu den Mirakelberichten aus Orsan vgl. Bienvenu, l’étonnant fondateur (wie Anm. 5), 171 – 176. 100 Vgl. Bienvenu, L’étonnant fondateur (wie Anm. 5), 177 – 181; venarde, Robert (wie Anm. 87), 116 f. 101 In diesem Zusammenhang entstand die Monographie von Xavier BarBier de montault, Étude hagiographique sur Robert d’Arbrissel, fondateur de l’ordre de Fontevraud, Angers 1863.
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roberts in das benediktinerinnenkloster Martigné-briand, wo sie bis heute aufbewahrt werden102. Im Dorf Arbrissel wirkt Roberts Vermächtnis als Ordensgründer, glaubt man der kleinen webseite des Ortes, fernab jeden akademischen Diskurses unterdessen auf eine ganz eigene weise fort: Roberts Gründung Fontevraud habe ja aus einem Frauen- und einem Männerkonvent bestanden, wobei die Führung bei den Frauen gelegen habe – und das spiegele sich darin wider, dass man im Dorf bis heute jeden Mann, der nicht Herr in seinem Hause sei, einen „Robert“ nenne103.
102 Vgl. karl suso Frank, Fontevrault, Lexikon für Theologie und Kirche 3 (3. Aufl. 1995), 1347 f. 103 Circuit Robert d’Arbrissel (wie Anm. 1, dort auch die URL) über Roberts Klostergründung Fontevraud: „Le souvenir de cette fondation est encore conservé à Arbrissel par l’usage d’appeler ‚Robert‘ les hommes qui ne sont pas maîtres dans leur ménage.“.
ZwISCHEN HEILIGKEIT UND HÄRESIE: rHetOrIk und VerWendung VOn bIldern In brIeFen zu tAncHelM, HeInrIcH und An rObert VOn ArbrIssel Miriam Czock In den letzten Jahren hat die Frage nach der Definition von Häresie im Zuge des aktuellen öffentlichen wie wissenschaftlichen Interesses an Religion wieder vermehrt Aufmerksamkeit erfahren1. Dennoch müssen gerade für die Zeit des beginnenden 12. Jahrhunderts und des erneuten Aufblühens der Häresien die Muster, nach denen Häresievorwürfe gemacht und genutzt wurden, immer noch als ungeklärt gelten. Umso wichtiger erscheint es, die Konzepte, mit denen wir Häresie zu begreifen suchen, und die historisch fassbaren Deutungsmuster zu beleuchten. Die wanderprediger sind in dieser Hinsicht aus mehreren Gründen ein geeignetes Untersuchungsobjekt: So waren sie zwar problematisch in die kirchlichen Hierarchien einzuordnen, galten aber nicht alle per se als Häretiker2. Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, die Motive und Modelle nachzuzeichnen, die sich im Schreiben über einzelne wanderprediger finden lassen und so den Denkrahmen abzustecken, innerhalb dessen über Devianz im Spannungsfeld von Häresie und Heiligkeit verhandelt wurde. Die Auseinandersetzung mit Abweichungen vom Glauben ist im Christentum tief verwurzelt, sie ist schon Thema der Bibel. Von der Orthodoxie als divergent und damit als Häresien gekennzeichnete Glaubensentwürfe treten bereits im spätantiken
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Für ihre Bereitschaft zur Diskussion und für fruchtbare Hinweise zu diesem Aufsatz bin ich Anja Rathmann-Lutz und Alexander Berner zu Dank verpflichtet. Beispielhaft für das neuerwachte Interesse seien hier einige Aufsätze genannt: Thomas ertl, „Erschlag sie alle . . .“ Das Ketzer-Feindbild und seine Instrumentalisierung im lateinischen Mittelalter 1000 – 1500, in: Krieg im mittelalterlichen Abendland, hg. v. Andreas oBenaus / Christoph kaindel, wien 2010, 370 – 391; Sita steckel, Häresie – Kirchliche Normenbegründung im Mittelalter zwischen Recht und Religion, in: Gewohnheit. Gebot. Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart: eine Einführung, hg. v. Nils Jansen / Peter oestmann, Tübingen 2011, 73 – 97; Sita steckel, Falsche Heilige. Feindbilder des ‚Ketzers‘ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters, in: Von Ketzern und Terroristen. Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern, hg. v. Alfons Fürst v. a., Münster 2012, 17 – 44; Robert I. moore, The war on Heresy: Faith and Power in Medieval Europe, London 2012. Zur allgemeinen Frage der wanderprediger ist länger nicht mehr publiziert worden, als grundlegend hat deshalb immer noch zu gelten: Johannes von Walter, die ersten Wanderprediger Frankreichs, 2 Bde., Berlin 1906. Zur Predigttätigkeit der wanderprediger siehe: Patrick henriet, Verbum dei disseminando. La parole des ermites prédicateurs d’après les sources hagiographiques (XIe–XIIe siècles), in: La parole du prédicateur (Ve–XVe siècle), hg. v. Rosa Maria dessì / Michel lauWers, Nizza 1997, 153 – 185.
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Christentum auf. Die Beschäftigung mit Abweichungen von der als Orthodoxie verstandenen Lehre verstummte nie ganz3, jedoch gewann der Häresiediskurs im 11. Jahrhundert, aber vor allem seit dem 12. Jahrhundert, an Virulenz4. Das scheint kaum verwunderlich, gilt doch gerade das 12. Jahrhundert als Zeit höchst komplexer kirchlicher, sozialer und ökonomischer wandlungsprozesse, die durch Differenzierung, Abgrenzung und Entwicklung neuer Ordnungsprinzipien zu Herausbildung neuer gesellschaftlicher und kultureller Strukturen beitrugen5. Dazu gehören auch die unter dem Schlagwort der Reform zu fassenden verstärkten Bemühungen um die ‚richtige‘ christliche Lehre und neue Pluralität der religiösen Lebensformen. Die Transformationen bewirkten innerkirchliche Präzisierungen des eigenen Standpunktes und der religiöse Praxis, die sich unter anderem aus der Ausgrenzung Andersgläubiger ergab, welche letztlich zu einer Abschließung des Christentums beitrug6. 3
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Janet L. nelson, Society, Theodicy and the Origins of Heresy: towards a Reassessment of the Medieval Evidence, in: Schism, Heresy and Religious Protest, hg. v. Derek Baker, cambridge 1972, 65 – 77; Gillian R. evans, A Brief History of Heresy, Malden 2003; Claire taylor: Elite Reform and Popular Heresy in c. 1000: ‚Revitalization Movements‘ as a model for understanding Religious Dissidence Historically, in: Elite and Popular Religion, hg. v. Kate cooPer / Jeremy gregory, Woodbridge 2006, 41 – 53; Hans-werner goetz, was wird im früheren Mittelalter unter „Häresie“ verstanden? Zur Häresiewahrnehmung des Hrabanus Maurus, in: Die wahrnehmung anderer Religionen im früheren Mittelalter: terminologische Probleme und methodische Ansätze, hg. v. Anna aurast / Hans-wener goetz, Berlin u. a. 2012, 47 – 89. Allgemein zu Häresien und ihren Konjunkturen: Herbert grundmann, Ketzergeschichte des Mittelalters, Göttingen 1963; Robert I. moore, The Origins of European Dissent, London 1977; ernst Werner / Martin erBstösser, Ketzer und Heilige: Das religiöse Leben im Hochmittelalter, Berlin 1986; Monique zerner, Hérésie, in: Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, hg. v. Jacques le goFF / Jean-Claude schmitt, Paris 1999, 464 – 482; Malcolm lamBert, Medieval Heresy: Popular Movement from the Gregorian Reform to the Reformation, Oxford u. a. 2002; evans, A Brief History (wie Anm. 3); Jörg oBerste, Ketzerei und Inquisition im Mittelalter, Darmstadt 2007; moore, The war (wie Anm. 1). Aus der Flut der Literatur zu diesem Thema hier nur eine knappe Auswahl, dort jeweils auch die weiterführende Literatur: Herbert grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Hildesheim 2. Aufl. 1961; Gert melville, Die cluniazensische ‚Reformatio tam in capite quam in membris‘. Institutioneller wandel zwischen Anpassung und Bewahrung, in: Sozialer wandel im Mittelalter: wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen miethke / Klaus schreiner, Sigmaringen 1994, 249 – 297; Michael Borgolte, einheit, reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der Modernen, Göttingische Gelehrte Anzeigen 248 (1996), 225 – 258; Giles constaBle, The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge 1996 (ND 2000); Robert I. moore, Die erste europäische Revolution, München 2001; Michael Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050 – 1250, Stuttgart 2002; European Transformations: The Long Twelfth Century, hg. v. Thomas F. X. noBle / John H. van engen, notre dame, Ind. 2012. Zur Reform und den religiösen Bewegungen siehe: grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 5); constaBle, The Reformation (wie Anm. 5). Grundsätzliche Überlegungen zu den reformerischen Umbrüchen und Häresie vgl. z. B.: nelson, Society, Theodicy (wie Anm. 3); Werner / erBstösser, Ketzer und Heilige (wie Anm. 4). Zur Ausgrenzung Anderer – wie u. a. Häretikern – und der Abschließung des Christentums siehe: Dominique iogna-Prat, Ordonner et exclure. Cluny et la société chrétienne face à l’hérésie, au judaïsme et à l’islam (1000 – 1150), 2. Aufl., Paris 2000; zur Diskussion des Buches siehe: A Panel Discussion of Dominique
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Die wanderprediger waren Teil des religiösen Aufbruchs; sie nahmen für sich in Anspruch, das Ideal der vita apostolica in besonderer weise zu vertreten, indem sie die christliche Lehre predigend durch die Lande zogen. Schon alleine auf Grund ihres wandernden Lebensstils waren sie also nicht leicht in die hierarchisierte und ortsfeste Amtskirche zu integrieren7. Gleichzeitig gerieten sie in den reformerischen Auseinandersetzungen um Frömmigkeitspraktiken und dogmatische Themen wie den asketischen Lebenswandel, das Verhältnis der Laien zur Kirche sowie die Geltung und Bedeutung von Sakramenten und Riten in Konflikt mit den jeweiligen Ortskirchen8. Die Kritik, die jene an den neuen Lebensentwürfen äußerten, schlug zuweilen in Häresieanschuldigung um. Der Vorwurf der Häresie hat seine wurzel also nicht alleine in den dogmatischen Abweichungen, sondern ergibt sich ebenso aus der Bewertung der Handlungen und Absichten der wanderprediger. Trotz vergleichbarer Ambitionen wurden einige wanderprediger als häretisch verurteilt, während einige von ihnen als Heilige verehrt wurden. Gerade deshalb bietet es sich im Rahmen der Frage nach Devianz und Sakralität an, nach Modellbildungen, mit denen die Devianz als Häresie und die Heiligkeit diskursiv begründet wurden, wie auch der Funktion der Zuschreibungen von Häresie und Heiligkeit zu suchen. Als Beispiele werden hier Tanchelm von Antwerpen9, Heinrich von Lausanne und
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Iogna-Prat, Order and Exclusion, Early Medival Europe 13 (2005), 385 – 418. Spezifisch zu Ausgrenzungsphänomenen und Häresie: steckel, Häresie – Kirchliche Normenbegründung (wie Anm. 1); ertl, „Erschlag sie alle . . .“ (wie Anm. 1). Eine überblicksartige Diskussion verschiedener Forschungsmodelle, die den Aufschwung der Häresien in diesem Zeitraum thematisieren und dabei jeweils unterschiedliche wurzeln sehen, wie unter anderem in den sozialen Rahmenbedingungen, dem mentalen wandel und der Veränderung religiös-geistiger Hintergründe, bietet: Sascha ragg, Ketzer und Recht. Die weltliche Ketzergesetzgebung des Hochmittelalters unter dem Einfluß des römischen und kanonischen Rechts, Hannover 2006, 57 – 58. grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 5), 14 – 18. Hauptsächlich mit Tanchelm beschäftigen sich: Henri Pirenne, Tanchelin et le projet de démembrement du diocèse d’Utrecht vers 1100, Académie Royale de Belgique. Bulletin de la Classe des Lettres, 5e série 13 (1927), 112 – 119; walter mohr, Tanchelm von Antwerpen. Eine nochmalige Überprüfung der Quellenlage, Annales Universitatis Saraviensis 3 (1954), 234 – 247; Jozef M. de smet, De Monnik Tanchelm en de Utrechtse bischopszetel in 1112 – 1114, in: Scrinium Lovaniense. Mélanges historiques Étienne van Cauwenbergh (Recueil de travaux d’histoire et de philologie 4e série 24), Gembloux 1961, 207 – 234; Jaap van moolenBroeck, Conflict en demonisering. De volksprediker Tanchelm in Zeelanden Antwerpen, Jaarboek voor middeleeuwse geschiedenis 7 (2004), 84 – 141; Miriam czock, Tanchelm als Antichrist: Die Konstruktion eines Häretikers zwischen Religion und Politik, Archiv für Kulturgeschichte 95 (2013), 69 – 88. Daneben finden sich auch in vielen Arbeiten zur Häresie einige Überlegungen zu Tanchelm, hier sei nur eine Auswahl genannt: Albert hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 4, Leipzig 1903, 88 – 91; Arno Borst, Die Katharer, Stuttgart 1963, 84 – 85; moore, the Origins (wie Anm. 4), 63 – 66; Norman cohn, Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa, Hamburg 1988, 45 – 51; lamBert, Medieval Heresy (wie Anm. 4), 50 – 52; Heinrich Fichtenau, Ketzer und Professoren. Häresie und Vernunftglaube im Hochmittelalter, München 1992, 54 – 57. raoul manselli, Il monaco Enrico e la sua eresia, Bullettino dell’Istituto storico italiano per il medio evo 65 (1953), 1 – 63; Adriaan H. Bredero, Henri de Lausanne: un réformateur devenu hérétique, in: Pascua mediaevalia. Studies voor J. M. de Smet, hg. v. Robrecht lievens / Erik
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Robert von Arbrissel10 beleuchtet. Diese bieten sich an, da ihnen strukturell ähnliche Handlungen vorgeworfen werden, die Deutung ihrer Taten sich allerdings unterscheidet. Da Darstellungsmodi häufig Gattungskonventionen unterliegen, soll hier nur ein beschränktes Quellenkorpus beleuchtet werden, nämlich Briefe, welche uns zu allen dreien vorliegen. Die Analyse von Briefen erscheint im Rahmen der Frage nach der Konzeption von Devianz und Heiligkeit als besonders fruchtbar, da sie häufig moralisch-didaktischen Inhalt haben, eine unmittelbare Gegenwartsdarstellung behaupten sowie eine persönliche Kommunikationsebene beanspruchen, ohne im modernen Sinn „privat“ zu sein, und damit die Verfasserabsichten und konzeptionellen Techniken besonders hervortreten11. Die Häresie-Forschung der letzten Jahrzehnte hat vermehrt auf die diskursiven Dimensionen der wahrnehmung und Konstruktion von Häresie verwiesen, sich
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van mingroot / werner verBeke, Löwen 1983, 108 – 123. Zur Polemik in den Quellen zu Heinrich: moore, European dissent (wie Anm. 4), 82 – 101; Monique zerner, Au temps de l’appel aux armes contre les héretiques: du „contra Henricum“ du moine Guillaume aux „contra hereticos“, in: Inventer l’hérésie? Discours polémiques et pouvoirs avant l’inquisition, hg. v. Monique zerner, Nizza 1998; John S. ott, Authority, Heresy and Popular Devotion: Le Mans (1116) Reconsiderd, in: Varieties of Devotion in the Middle Ages and Renaissance, hg. v. susan karant-nunn, Turnhout 2003, 99 – 124; Monique zerner, Introduction, in: Guillaume Monachi: Contre Henri Schismatique et hérétique, suivi de Contre les hérétiques et schimatiques (anonyme), hg. v. dems., Paris 2011, 11 – 147 ; dort auch eine ausfühliche Bibiographie, 139 – 147. Hier nur die einschlägigsten Titel und die nach 2006 erschienen Arbeiten in Auswahl: JeanMarc Bienvenu, L’étonnant fondateur de Fontevraud, Robert d’Arbrissel, Paris 1981; Jacques dalarun, Erotik und Enthaltsamkeit. Das Kloster des Robert von Arbrissel, Frankfurt a. Main 1987; Guy devailly, Un évêque et un predicateur errant au XIIe siècle: Marbod de Rennes et Robert d’Arbrissel, Mémoires de la société d’histoire et de Archéologie de Bretagne 57 (1980), 163 – 170; w. Scott Jessee, Robert d’Arbrissel: Aristocratic Patronage and the Question of Heresy, Journal of Medieval History 20 (1994), 221 – 235; Bruce venarde, Power, Personality – and Perversity? Robert of Arbrissel and His Critics, in: The Experience of Power in Medieval Europe, 950 – 1350, hg. v. Robert F. BerkhoFer / Alan cooPer / Adam J. kosto, Aldershot 2005, 213 – 225; Fiona J. griFFiths, The Cross and the Cura monialium: Robert of Arbrissel, John the Evangelist and the Pastoral Care of women in the Age of Reform, Speculum 83 (2008), 303 – 330. Eine ausführliche Bibliographie findet sich in: Les deux vies de Robert d’ Arbrissel fondateur de Fontevraud. Légendes, écrits et témoinages / The two lives of Robert of Arbrissel founder of Fontevraud. Legends, writings, and testimonies, hg. v. Jacques dalarun / Geneviéve giordanengo / Armelle le huërou / Jean longère / Dominique Poirel / Bruce L. venarde, Turnhout 2006, 704 – 734. Das Genre des Briefs hat sehr fluide Gattungsgrenzen und folgt formal wie rhetorisch den jeweiligen Kontexten. Für einen Überblick siehe: Giles constaBle, Letters and letter-collections, Turnhout 1976; Rolf köhn, Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelalterlichen Korrespondenz, in: Das Öffentliche und das Private, hg. v. Gerd melville / Peter von moos, Köln 1998, 309 – 358; Jürgen herold, empfangsorientierung als strukturprinzip: Zum Verhältnis von Zweck, Form und Funktion mittelalterlicher Briefe, in: Medien der Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Karl-Heinz sPiess, Stuttgart 2003, 265 – 287; Christian kuhn, Letters, in: Handbook of Medieval Studies: Terms – Methods – Trends (Vol. 1 – 3), hg. v. Albrecht classen, Berlin u. a. 2010, 1881 – 1897; walter yseBaert, Letter Collections (Latin west and Byzantium), in: ebd., 1898 – 1904.
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jedoch kaum mit den wanderpredigern beschäftigt12. Allenfalls die französische Forschung hat verstärkt auf die rhetorischen Muster der Auseinandersetzung mit den Häretikern wie Peter von Bruis und Heinrich dem Mönch in der Reformzeit aufmerksam gemacht. Dabei standen bislang jedoch die theologisch-dogmatischen Schriften über ihre Lehren im Mittelpunkt der Analysen, womit die theoretischen Bewertungen der jeweiligen Lehre und die dafür verwendete Rhetorik ausgewertet wurde, jedoch nicht die Rhetorik, mit der ihre Devianz bzw. Heiligkeit charakterisiert wurde13. Grundlegend für die Erforschung der wahrnehmung von Häresie sind immer noch die Studien Herbert Grundmanns zum Typus des Ketzers14. Er hat sich zum einen mit der von der biblischen Exegese ausgehenden Problematisierung der Häresie und zum anderen mit den im Ketzerdiskurs zur Stigmatisierung genutzten Stereotypen auseinandergesetzt15. Gerade auch für die Frühzeit des wiedererblühens der Häresie am Beginn des Hochmittelalters hat die Forschung wiederholt auf die Verwendung der stereotype hingewiesen. sie hat damit die bilder, mit denen Häretiker beschrieben wurden, benannt, doch hat sie nicht untersucht, wie die im intellektuellen Diskurs verbreiteten Motive zu Modellen zusammengeführt im jeweiligen Kontext Verwendung fanden. Letztlich ist hierdurch bisher unbeleuchtet geblieben, inwiefern der Kontext die rhetorische Praxis zur Beschreibung von Häresien bestimmte16. daher sollen die denkmuster, typologisierungen sowie die strategien, mit denen stereotype und Motive durch die Zeitgenossen eingesetzt wurden, genauer beleuchtet werden, damit die spezifischen Konstruktionsmuster von Häresie wie Heiligkeit in jedem individuellen Fall nachgezeichnet werden können. Erst so sind die Topoi, mit denen Devianz als Häresie gekennzeichnet wird, in ihrer Geschichtlichkeit wie ihrer Zweck- und Kontextbindung zu erfassen, und das Spannungsfeld von Konventionen und gesellschaftlich-religiösen wandel, in dem sie entstehen, kann deutlicher hervortreten. Am Beispiel eines Briefes über Tanchelm von Antwerpen lässt sich veranschaulichen, wie vor dem Hintergrund reformerischer Kontroversen Konfliktpotential rhetorisch als Häresie beschrieben wird17. Über Tanchelm und seine Lehre ist wenig
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ertl, „Erschlag sie alle . . .“ (wie Anm. 1); goetz, was wird im früheren Mittelalter (wie Anm. 3); steckel, Falsche Heilige (wie Anm. 1). iogna-Prat, Ordonner et exclure (wie Anm. 6), 125 – 126. Zur Polemik vor der Inquisition auch: Inventer l’hérésie?, hg. v. zerner (wie Anm. 9). Herbert grundmann, Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher Anschauung, in: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 1. Religiöse Bewegungen, hg. v. Herbert grundmann, Stuttgart 1976, 312 – 327 [ED in: Kultur- und Universalgeschichte. walter Goetz zu seinem 60. Geburtstage, Leipzig 1927, 91 – 107]. Herbert grundmann, Oportet et haereses esse. Das Problem der Ketzerei im Spiegel der mittelalterlichen Bibelexegese, Archiv für Kulturgeschichte 45 (1963), 129 – 164; ders., der typus des Ketzers (wie Anm. 14). Hierzu: ertl, „Erschlag sie alle . . .“ (wie Anm. 1). Eine u. a. Kontext abhängige Ausdifferenzierung fordert auch Hans-werner Goetz in einer Untersuchung zum karolingischen Häresieverständnis: goetz, was wird im frühen Mittelalter (wie Anm. 3). Hierzu vor allem: walter mohr, Tanchelm von Antwerpen (wie Anm. 8), 234 – 247; de smet, Monnik Tanchelm (wie Anm. 8), 207 – 234; van moolenBroeck, Conflict (wie Anm. 8), 84 – 141.
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bekannt. Er predigte in der Diözese Utrecht, wobei er nach Aussagen der Quellen so viele Anhänger um sich sammelte, dass Norbert von Xanten sogar noch nach Tanchelms Tod im Jahre 1115 in der Diözese Utrecht gegen die dortigen Tanchelmiten predigen musste18. Das ausführlichste Zeugnis ist der hier zu besprechende Brief der Utrechter Kanoniker, der zwischen 1112 und 1114 verfasst wurde19. In ihm wandten sich die Utrechter Kanoniker an den Erzbischof Friedrich I. von Köln, um ihn dazu zu bewegen, den sich in seiner Gefangenschaft befindlichen Tanchelm und zwei seiner Anhänger in Haft zu halten20. Rhetorisch ist er ganz darauf ausgerichtet, Tanchelm und seine Lehre zu diskreditieren, um den Erzbischof von seiner Gefährlichkeit für die Kirche zu überzeugen. Der programmatische Rahmen wird bereits zu Beginn von den Kanonikern abgesteckt: so danken sie dem Erzbischof, dass er den Antichristen, der die Kirche Christi verwirrt und lästert, aufgehalten hat21. Mit der Bezeichnung Tanchelms als Antichrist greifen die Kanoniker auf den wohl klassischsten Häretikertypos zurück. Der Antichrist ist zwar in der Bibel begrifflich nur in den Briefen des Johannes als Verleugner Jesu Christi zu fassen, jedoch verbindet sich die Idee des Antichristen mit weiteren Bibelstellen über die falschen Propheten und Verleugner des Glaubens, die sich in der Endzeit erheben und die Christen zum Abfall vom Glauben bewegen werden22. Allein mit der Bezeichnung ‚Antichrist‘ charakterisieren die Kanoniker Tanchelm also als Gegenbild des wahren Gläubigen und zeichnen ihn gleichzeitig als Verführer der Rechtgläubigen23. Die rhetorische 18 19
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Vita Norberti archiepiscopi Magdeburgensis, hg. v. Heinrich Pertz (= MGH SS XII), Hannover 1896, 690 – 691. Der Brief ist nur noch in einer Briefsammlung, dem sogenannten Codex Udalrici erhalten. Die Motivation mit der der Codex Udalrici verfasst wurde ist unklar. Zur Entstehung des Codex Udalrici: Carl erdmann, Zu den Quellen des Codex Udalrici, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere Deutsche Geschichtskunde zur Beförderung einer Gesamtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichte des Mittelalters 50 (1935), 445 – 453. Carl Erdmann betont, dass der Codex Udalrici eine Mustersammlung ist, die aus literarischen Bedürfnissen entstanden ist (S. 452 – 453). Außerdem zu seiner Funktion als Vorbild für den Kanzleigebrauch: HansUlrich ziegler, Der Kompilator des Codex Udalrici – ein Notar der Bamberger Bischofskanzlei, Archiv für Diplomatik 30 (1984), 258 – 281, hier: 281. Für Überlegungen zur Überlieferungssituation des Briefes der Kanoniker siehe: van moolenBroeck, Conflict (wie Anm. 8), 86 – 88. Der Brief wird geläufigerweise nach der Edition von Jaffé zitiert: Philipp JaFFé, Codex Udalrici, Nr. 168, in: Monumenta Bambergensia (= Bibliotheca rerum Germanicarum 5), Berlin 1869, ND Aalen 1964, 296 – 300 (im weiteren Codex Udalrici, Nr. 168). Eine weitere Edition findet sich bei: Paul Frédériq, Corpus documentorum haereticae pravitatis Neerlandicae I, Nr. 11, Gent 1889, 15 – 18. Eine allein in den Formalia überarbeitete Version mit niederländischer Übersetzung bietet: van moolenBroeck, Conflict (wie Anm. 8), 134 – 141. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 299: Quia igitur, sancte pater, divina misericordia, ecclesiam suam diutius periclitari non sustinens, illos in manus vestras tradidit, rogamus et obsecramus in Domino: ne qua ratione de manibus vestris elabantur. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 296: Gratias, reverende pater, sanctitati vestrae agimus, quia paterna miseratione vicem nostram doluistis et antichristi nostri, perturbatoris et blasphematoris ecclesiae Christi, cursum et impetum retardastis; [. . .]. I Joh 4,2 – 4; II Joh 7. Die Forschung hat auf Grund der Antichrist-Thematik des Briefes darüber spekuliert, ob es den Kanonikern darum ging Endzeitängste zu schüren, siehe: Finger, Häresie und Endzeiterwartung
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Ausrichtung auf den Antichristen prägt alle weiteren Ausführungen der Kanoniker und bietet den Argumentationsrahmen. Nachdem die Kanoniker Tanchelm als Antichristen eingeführt haben, legen sie seine Vergehen dar: Tanchelm habe seinen Mund gegen den Himmel und die Sakramente gerichtet sowie eine Häresie wiederbelebt, die schon durch die Sprüche der Heiligen Väter vernichtet gewesen sei24. Hiermit verweisen die Kanoniker auf eine auf das engste mit dem Antichriststereotyp verbundene Thematik, die sie erst nach und nach im Brief entfalten: Sein Handeln ist dem der bereits durch Augustinus beschriebenen Häretikern gleichzusetzen. Er habe nämlich wie die Donatisten versucht, die Kirche, welche Christus von seinem Vater bekommen habe, zu beschränken und eine eigene aufzubauen, die nur aus Tanchelmiten bestehe25. die Anklage, Tanchelm belebe die alten Häresien, respektive den Donatismus wieder, nimmt ihren Ausgangspunkt von der Vorstellung, dass er die Kirche spalte. An dieser Stelle des Briefes bleibt jedoch noch unausgesprochen, dass die Spaltung nicht nur auf geistlich-theologischen Eingriffen Tanchelms beruht, sondern vielmehr eine ökonomisch-politische Dimension hat. Mehr erfährt man erst am Ende des Briefes, wenn die Kanoniker ausführen, dass Tanchelm mit einem seiner Anhänger nach Rom gezogen sei, um dort die Erlaubnis zur Abtrennung eines Drittels der Diözese
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(wie Anm. 13), 254 geht davon aus, dass Tanchelms Auftreten als ein apokalyptisches Zeichen gesehen wurde, 257. Hingegen sieht Peter Classen die apokalyptische Bedeutung nicht in Tanchelms Auftreten: Für ihn ist Tanchelm endzeitlich inspiriert und damit ein Vertreter einer nicht weiter erhellbaren eschatologischen Ausprägung des Christentums, siehe hierzu: Peter classen, Eschatologische Ideen und Armutsbewegung im 11. und 12. Jh., in: Ausgewählte Aufsätze von Peter Classen, hg. v. dems. / Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1983, 307 – 326, hier: 314 [ED in: Povertà e ricchezza nella spiritualità dei secoli XI e XII: (Todi), 15 – 18 ottobre 1967, Todi 1969, 129 – 162]. Überlegungen zum Zusammenhang von eschatologischem Gedankengut und Häresie finden sich bei: iogna-Prat, Ordonner et exclure (wie Anm. 6), 108 – 113. Nicht nur Tanchelm, sondern auch die Verbreitung der Häresie seit dem Millennium wird in der Forschung teils mit Endzeitängsten verbunden, siehe hierzu: Richard landes, the birth of Heresy, a Millennial Phenomenon, Journal of Religious History 24 (2000), 26 – 43. Ein enger Zusammenhang mit akuten Endzeitängsten ist jedoch höchst spekulativ. Zwar gehört der Antichrist in das biblische Repertoire der Endzeitbilder, doch gewinnt die Antichrist-Motivik im Laufe der Kirchengeschichte eine eigene Dynamik und verweist nicht in jedem Fall auf den Antichristen der letzten Tage. Den Kanonikern ist diese Unterscheidung durchaus bewusst, denn sie bezeichnen Tanchelm als unseren Antichrist (antichristus noster) und als denjenigen, der dem Antichristen auf dem weg vorgeht. Damit ist er als einer der vielen Antichristen charakterisiert, die vor der zweiten Parusie die Christen verführen werden. Siehe hierzu auch: czock, Tanchelm (wie Anm. 8), 75 – 77. Codex Udalrici, Nr. 168, (wie Anm. 19), 296: [. . .]; qui aperuit in caelum os suum et contra sacramenta ecclesiae heresim suscitare ausus est, iam olim sanctorum patrum sententiis iugulatam. Codex Udalrici, Nr. 168, (wie Anm. 19), 296: Columpnasque ecclesiae Dei concutiens, etiam fidei nostrae petram id est Christum dividere ausus est; penes se et suos tantum ecclesiam constituens; et iuxta Donatistarum heresim, qui in Affrica tantum ecclesiam esse contendebant, ecclesiam – quam Christus postulans a Patre, accepit gentes in hereditatem suam et possessionem suam terminos terrae – hic ad solos Tanchelmistas contrahere conatus est.
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zu erlangen26. In den einleitenden Sätzen bleiben diese Motive ausgespart. Hier steht die Antichristmotivik noch unverbunden mit konkreten Handlungsvorwürfen. Letztlich ist auch die Aussage, Tanchelm wolle eine eigene Kirche aufbauen, mit dem biblischen Modell des Antichristen verbunden, denn der Antichrist wird, der biblischen Tradition folgend, eine eigene Kirche errichten. Die Einleitung etabliert rhetorisch geschickt einen Argumentationshorizont, der sich an dem Stereotyp des Antichristen aufspannt und vor welchem dann Tanchelms Taten dargestellt werden. Auch die darauf folgende Schilderung von Tanchelms Predigttätigkeit ist von der Antichristmotivik durchdrungen. So berichten die Kanoniker, Tanchelm habe seine Lehren zuerst unter den einfachen Menschen mit schwachem Glauben, nämlich den Frauen jeden Alters (matronas et mulierculas), in ihren Schlafgemächern, gepredigt27. wiederum bedienen sich die Kanoniker bei der Bibel, um dem übergeordneten Darstellungsziel näher zu kommen, denn die Textstelle basiert auf II Timotheus 3,1 – 6: „Du sollst auch wissen, in den letzten Tagen drohen gefährliche Zeiten. Die Menschen werden selbstverliebt sein, . . . sie werden den Schein der Frömmigkeit haben, doch wird von ihnen die Tugend verleugnet. . . . von denselben sind, die in Häuser eindringen und dort mit Sünden beladene junge Frauen (mulierculas) gefangen nehmen . . . .“28 Dem gelehrten Leser wird der Rückgriff auf die Bibel und die damit erfolgende implizite Beschreibung Tanchelms als demjenigen, der nur scheinbar fromm ist, nicht verborgen geblieben sein. Auch in der weiteren Schilderung der Predigt Tanchelms und ihrer wirkung lassen die Kanoniker biblische Vorbilder einfließen. So habe Tanchelm zwar erst im Heimlichen gepredigt, alsbald aber auch von den Dächern und auf Plätzen umgeben von der Menge29. Mit seinen Reden – so berichten die Kanoniker – habe es Tanchelm geschafft, die Leute 26
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Codex Udalrici, Nr. 168, (wie Anm. 19), 299: Presbyter etiam quidam, Everwacherus nomine, a sacerdotali dignitate apostatans, nefandi hominis magisterio adhesit. Qui etiam illum Romam prosecutus, maritima loca – quartam scilicet partem episcopatus nostri – Teruwanensi episcopio regni Franciae auctoritate domni papae atterminare conatus est [. . .]. Michael Oberweis hat zu Recht darauf verwiesen, dass die Kanoniker Tanchelms Kirche als Regionalkirche, die dem kirchlichen Universalismus entgegenstand, betrachteten und der Antichrist-Vorwurf von dort seine theologische Begründung fand, siehe: Michael oBerWeis, Grenzverschiebung und Häresievorwurf. Überlegungen zu Tanchelm von Antwerpen und Eon von Stella, zwei wanderpredigern des 12. Jahrhunderts, in: „Grenzen“ ohne Fächergrenzen. Interdisziplinäre Annäherungen, hg. v. Bärbel kuhn / Martina Pitz / Andreas schorr, St. Ingbert 2007, 303 – 313, bes. 307 – 308. Zu den historischen Hintergründen der Abspaltung, nach der Utrecht wahrscheinlich einem der Reform zugeneigteren Bistum eingliedert werden sollte, siehe: Pirenne, Tanchelin et le projet de démembrement (wie Anm. 8), 112 – 119; de smet, Monnik Tanchelm (wie Anm. 8), 207 – 234. Zur Diskussion ihrer unterschiedlichen Positionen siehe: Michael oBerWeis, Grenzverschiebung und Häresievorwurf (wie oben), 306 – 307. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 297: In maritimis primum locis rudi populo et infirmioris fidei venenum perfidiae suae miscuit. Et per matronas et mulierculas, quarum familiaritatibus et secreta collocutione et privato accubitu libentissime utebatur, errores suos paulatim spargere cepit; dein per coniuges ipsos etiam maritos perfidiae suae laqueis irretivit. II Tim 3,1 – 6. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 297: Nec iam in tenebris vel cubiculis sed super tecta praedicare incipiens, in patentibus campis late circumfusae multitudini sermocinabatur [. . .].
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glauben zu machen, er sei ein Engel Gottes, obwohl er eigentlich ein Engel Satans sei30. Damit koppeln sie die Inhalte seiner Predigt an einen biblischen Referenztext aus den Korinther-Briefen, der Tanchelm als hinterlistig erscheinen lässt: „denn auf diese weise sind Pseudoapostel hinterlistige Arbeiter; sie verwandeln sich in Apostel Christi. Kein wunder, denn auch der Satan verwandelt sich in einen Engel des Lichts.“31. Den Predigtauftrag, der zum apostolischen Ideal gehört, erfüllt Tanchelm nach der Anspielung der Kanoniker nicht. Seine Predigt erweist ihn nicht als Apostel, sondern alleine als einen Pseudo-Apostel. Tanchelm war den Kanonikern nicht nur auf Grund seiner Predigttätigkeit verdammungswürdig, sondern auch weil er dogmatisch problematische Fragen aufwarf. so behaupten sie, er habe den Mund gegen die sakramente erhoben32. er habe gepredigt, die Kirchen seien besser als Hurenhäuser zu bezeichnen und die Sakramente als Verunreinigungen, womit er implizit an der sexuellen Enthaltsamkeit der Priester zweifelte. Aus den Ausführungen der Kanoniker geht hervor, dass Tanchelm nicht die wirkung der Sakramente samt und sonders ablehnte, sondern davon ausging, dass die Sakramente auf der würde und der Heiligkeit des Priesters beruhen, der sie spendet33. Die Forschung hat in diesem Zusammenhang schon häufiger darauf verwiesen, dass Tanchelm damit kaum eine deviante Meinung vertrat, sondern den reformerischen Diskurs über die Gültigkeit der Sakramente aufnahm34. die kanoniker verorten seine Skepsis jedoch nicht in der allgemein geführten Diskussion um die Gültigkeit der Sakramente, vielmehr werten sie jene als Zeichen seiner Häresie, indem sie an der Thematik erneut seinen Unglauben nachweisen. So unterstreichen sie anhand einiger zitate Augustinus’, dass es der glauben an die sakramente sei, der für ihre wirkung notwendig ist, und nicht wie Tanchelm es predige, die Reinheit des spenders35. Die Infragestellung der sakramentalen wirkung ist zudem mit den 30
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Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 297: Audiebat illum populus seductus sicut angelum Dei. Immo vere ipse angelus sathanae declamabat [. . .]. Das Motiv taucht am Ende des Briefes noch einmal auf: Codex Udalrici, Nr. 168, 299: [. . .] antichristus nostra [. . .], in angelum lucis se transfiguravit, [. . .]. II Cor 11, 13 – 14. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 296 – 97: qui aperuit in caelum os suum et contra sacramenta ecclesiae heresim suscitare ausus est, iam olim sanctorum patrum sententiis iugulatam. [. . .] Immo vere ipse angelus sathanae declamabat: ecclesias Dei lupanaria esse reputanda; nichil esse, quod sacerdotum officio in mensa dominica conficeretur, pollutiones non sacramenta nominanda; [. . .]. Siehe zu diesem Topos der Häretikerbeschreibung auch die weiteren Beispiele bei: grundmann, Der Typus (wie Anm. 14), 322. Vgl. grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 5), 513 – 519 Zur Diskussion siehe auch: daniel nuss, Die hagiographischen werke Hildeberts von Lavardin, Baudris von Bougueil und Marbod von Rennes Heiligkeit im Zeichen der Kirchenreform und der Réécriture (Beiträge zur Hagiographie 12), Stuttgart 2013, 183. hauck, Kirchengeschichte (wie Anm. 8), 89. Mit Berufung auf Hauck: mohr, Tanchelm von Antwerpen (wie Anm. 8), 241 – 242; van moolenBroeck, Conflict (wie Anm. 8), 100 – 101. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 297: declamabat [. . .] ex meritis et sanctitate ministrorum virtutem sacramentis accedere; [. . .] ex verbis sancti Augustini – dominus Christus traditorem suum, quem diabolum nominavit, qui ante traditionem Domini nec loculis dominicis fidem potuit exhibere, cum ceteris apostolis [. . .] miserit, ut demonstraret: dona Dei pervenire ad eos,
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ökonomischen Interessen der Kirche verbunden, denn aus dem gleichem Grund, aus dem Tanchelm von der Annahme der Sakramente abgeraten habe, habe er seinen Anhängern verboten, den Zehnt zu zahlen. Er vertrat diese Standpunkte den Kanonikern zufolge nur, weil er wusste, dass das Volk zu Neuheiten neigt36 oder grundsätzlich empfänglich für diese Ideen ist. Die Argumentation der Kanoniker entzieht sich jeder Diskussion der Vorwürfe Tanchelms, die Kirchen seien besser Hurenhäuser zu nennen, da sie jene gar nicht berücksichtigt und weder eine Rechtfertigung noch eine Zurückweisung formuliert. Tanchelms Devianz manifestiert sich für die Kanoniker aber nicht zuletzt darin, dass er sich selber als Gott ausgerufen habe. Die Beweisführung für seine Göttlichkeit habe er wie folgt geführt: Christus sei wie Gott, da Christus den heiligen Geist empfangen habe, da er – Tanchelm – wie Christus den Heiligen Geist empfangen habe, sei auch er Gott37. Die Forschung hat unterschiedliche Erklärungsansätze für die Behauptung vorgebracht und hat darin entweder einen Reflex des Selbstbilds Tanchelms oder einen besonderen Ausdruck seiner Spiritualität erkennen wollen38. Sie lässt sich aber wohl am besten verstehen, bindet man sie an das Motiv des Antichristen und an die biblischen Vorbilder zurück. So heißt es im zweiten Brief an die Thessalonicher: „Denn zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzeswidrigkeit erscheinen, der Sohn des Verderbens, der widersacher, der sich über alles erhebt, was Gott genannt oder heilig gehalten wird, derart, dass er sich in den Tempel Gottes setzt, weil er Gott sei.“39 Der Rückgriff auf die Bibelstelle
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qui cum fide accipiunt, etiam talis sit, per quem accipiunt, qualis Judas fuit. Item Augustinus: Si in percipiendis sacramentis dantis et accipientis conscientiae meae. Hec enim duo non mihi incerta sunt, bonitas illius et fides mea. Quid te interponis, de quo certum nichil scire possum? Sine me dicere: „In Domino confido“; nam si in te confido, unde confido, si nichil mali hac nocte fecisti?“. Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos X 6, 24 – 29; Joh 12,6. In einem Brief Marbod von Rennes an einen Anhänger Roberts von Arbrissels wird die Ablehnung der Sakramente von Simonisten und Nikolaiten als ein novus error bezeichnet, siehe: Marbod, Epistulae 2, PL 171, col. 1472B–C: Inter multa bona quae de vestra sanctitate praedicantur, audivimus quod zelum Dei habetis contra indignos sacerdotes, sed non secundum scientiam. [. . .] Quid habet aliud novus eorum error, qui Patarini vocantur, quam ut per ministrorum indignitatem Ecclesiae Catholicae sacramenta vilescunt? Quod quam contrarium sit veritati, subjectae auctoritates ostendunt. Siehe zu diesem Brief und den weiteren Zusammenhängen: nuss, Die hagiographischen werke (wie Anm. 33), 183 – 184. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 298: Talibus nequitiae successibus misero homini tanta sceleris audatia accessit, ut etiam se Deum diceret; asserens, quia si Christus ideo Deus est, quia Spiritum sanctum habuisset se non inferius nec dissimilius Deum, quia plenitudinem Spiritus sancti accepisset. In qua praesumptione adeo illusit, ut quidam in eo divinitatem venerarentur [. . .]. mohr, Tanchelm von Antwerpen (wie Anm. 8), 244; lamBert, Medieval Heresy (wie Anm. 4), 52; van moolenBroeck, Conflict (wie Anm. 8), 104. II Th 2. Der Brief geht nicht darauf ein, ob Tanchelm sich in einem Tempel hat verehren lassen, bei Abaelard heißt es jedoch dann, dass sich Tanchelm als Sohn Gottes ausgegeben hätte und seine Anhänger ihm zu Ehren einen Tempel gebaut hätten: aBaelard: Theologia Scholarium II 62, in: Opera theologica, hg. v. Éloi M. Buytaert / Constant J. meWs, Bd. III, (= CCLCM 13), Turnhout 1987, 439: [. . .] Tanquelinus scilicet, in tantam se erexit blasphemiam, ut se dei filium uocitari atque decantari et a seducto populo, ut dicitur, templum sibi ędificari faceret [. . .].
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erklärt allerdings nicht die Begründung Tanchelms er sei Gott, da er wie Christus den Heiligen Geist empfangen habe. Möglichweise lässt sich hier wenigstens schemenhaft eine Selbstaussage seinerseits wiederfinden, so spricht die Erwähnung des Heiligen Geistes doch für eine Betonung der Apostelnachfolge, in der sich die wanderprediger sahen40. Seine Versicherung, er hätte Anteil am Göttlichen, wurde den Kanonikern zu Folge von seinen Anhängern geglaubt, was sich darin äußerte, dass sie sein Badewasser als Sakrament tranken, weil sie an dessen erlösende wirkung auf Körper und Seele glaubten. Abermalig lassen sich die Anschuldigungen mit einer Bibelstelle zu den falschen Propheten verknüpfen, die möglichweise ebenfalls Anknüpfungspunkt für die angeblichen Selbstaussagen Tanchelms sind. So heißt es bei Matthäus: „So als dann jemand zu euch wird sagen: Siehe, hier ist Christus! oder: da! so sollt ihr’s nicht glauben. Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und wunder tun, dass verführt werden in dem Irrtum (wo es möglich wäre) auch die Auserwählten.“41 Selbst Tanchelms Sakralität ist damit ein Zeichen seiner Häresie. Ausdruck findet die vermeintliche Heiligkeit nicht in einem heiligenmäßigen und frommen Lebenswandel, sondern allein einer falschen Praxis, nämlich dem Glauben an die Erlösung durch einen falschen Christus. Eine Interpretation, welche die auf der Antichristmotivik beruhende rhetorische Strategie analysiert, scheitert jedoch an den Schilderungen der weiteren Praktiken Tanchelms, die sich nicht in das rhetorische Referenzmotiv einfügen lassen. Bedenkt man, dass der Brief wohl keine reine rhetorische Fiktion ist, sondern eine gewisse Plausibilität gehabt haben muss, um den Erzbischof zu überzeugen, kann man wohl davon ausgehen, dass er das Dargestellte als real annehmen musste. Fragen nach dem vermeintlichen historischen Kern und der faktischen Verifizierbarkeit des Berichteten, wie den Motiven aus denen sie entstand, schließen sich auf Grund der Quellenlage aus, dennoch sind auch die Textpassagen zu Tanchelms rituellen Handlungen – wie die bisherige Forschung einleuchtend zeigen konnte – ein entstellender Reflex auf sie. So berichten die Kanoniker, Tanchelm hätte eine Statue Mariens mit sich geführt, von der er behauptete sich mit ihr vermählt zu haben, um dann von seinen Anhängern Opfer zu verlangen42. Außerdem habe einer seiner Anhänger mit namen Menasses in Abbildung der zwölf Apostel und der Jungfrau Mariens einen Kreis aus zwölf Männern und einer Frau gebildet, die regelmäßig
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Zur Bedeutung der Apostelnachfolge, siehe: grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 5), 503 – 513. Matt 24, 23 – 24. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 298: Quodam etiam tempore, dum novum genus questus nova adinventione machinaretur, quandam imaginem sanctae Mariae – stupet animus dicere – in medium multitudinis iussit afferri. Et accedens manumque imaginis manu contingens, sub tipo illius sanctam Mariam sibi desponsavit; sacramentum et sollempnia illa desponsationis verba, ut vulgo fieri solet, universa sacrilego ore proferens. En, inquit, dilectissimi, virginem Mariam mihi desponsavi; vos sponsalia et sumptus ad nuptias exhibete. Et ponens duos loculos, unum a dextris alterum a sinistris imaginis: Huc inquit offerant viri; illuc offerant mulieres. Viderim nunc, utrius sexus maior circa me et sponsam meam ferveat caritas.
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sexuell miteinander verkehrten43. Der Vorwurf der sexuellen Verderbtheit gehört zum in der Reform üblichen Repertoire der Beschuldigungen des Gegners, um diesen zu diskreditieren44. Hinter den Anschuldigungen stehen möglicherweise zwei in der Reformzeit gängige Themen, zum einen besondere Marienfrömmigkeit und zum anderen das Anliegen, gerade Frauen in die religiösen Lebensformen einzubinden. Am Ende des Briefes fordern die Kanoniker den Bischof von Köln noch einmal dazu auf, Tanchelm nicht entkommen zu lassen, damit er keine Chance mehr habe, die Kirche zu zerstreuen. Der letzte Absatz des Briefes ist dann auch ein längeres Zitat Augustinus’, in dem er ein Vorgehen gegen die Schismatiker und Häretiker rechtfertigt, das die Appellation an den Bischof und seine Verpflichtung zu Hilfe unterstreicht45. Die konzeptionelle Fokussierung auf den Antichristen als Rahmenmotiv des Briefes ist vor allem der Motivation der Kanoniker geschuldet, die Gefahr der Spaltung der Kirche unterstreichen zu wollen, die von Tanchelm herrührt. Ausgehend vom Antichriststereotyp vermischen sie theologische Dimension und ihren politischinstitutionellen Anspruch, den sie durch Tanchelm gefährdet sehen. Deutlich ist hier, dass es sich bei der Verwendung der Antichristmotivik um ein rhetorisches Mittel handelt, das der Etablierung eines Denkrahmens diente, durch den Tanchelm eindeutig als Häretiker gekennzeichnet wurde. In einem Brief Bernhards von Clairvaux über Heinrich entfaltet sich die rhetorische Funktion eines Motivs zur Darstellung von Devianz in vergleichbarer weise, wenn auch auf einer inhaltlich ganz anderen Ebene46. Aus dem Brief geht über 43
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Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 298 – 299: Sed et faber ferrarius quidam nomine Manasses – quem cum scelerato homine etiam a vobis detentum audivimus – exemplo nequissimi magistri fraternitatem quandam, quam gilda vulgo appellant, instituerat, in qua duodecim viros in figura duodecim apostolorum et unam tantum feminam in figura beatae Mariae constituit; que, ut ferunt, per singulos illorum duodecim circumducebatur et ad iniuriam sacrosanctae virginis nefaria turpitudine, quasi ad confirmationem fraternitatis, singulis miscebatur. Zu Vorwürfen der sexuellen Verderbtheit in den Streitschriften der Reformer siehe: Steffen Patzold, Die Lust des Herrschers. Zur Bedeutung und Verbreitung eines politischen Vorwurfs zur Zeit Heinrich IV., in: Heinrich IV., hg. v. Gerd althoFF (Vorträge und Forschungen, 69), Ostfildern 2009, 219 – 253. Nicht nur diese Vorhaltung gehört zum Arsenal der weitverbreiteten Mittel der Diskreditierung des Gegners; auch die Behauptung, Tanchelm sei ein falscher Mönch, reiht sich hier ein, siehe hierzu: de smet, Monnik Tanchelm (wie Anm. 8), 227 – 233. Codex Udalrici, Nr. 168 (wie Anm. 19), 299: Quia igitur, sancte pater, divina misericordia, ecclesiam suam diutius periclitari non sustinens, illos in manus vestras tradidit, rogamus et obsecramus in Domino: ne qua ratione de manibus vestris elabantur. Qui, si elapsi fuerint, denunciamus vobis sine omni ambiguitate attestamur, futuram et inrecuperabilem ecclesiae nostrae iacturam et infinitarum perniciem animarum. [. . .] Augustinus: Quando vult Deus concitare potestates adversus scismaticos, adversus hereticos, adversus dissipatores ecclesiae, adversus exsufflatores Christi, non mirentur, quia Deus concitat, ut a Sara verberetur Agar. [. . .]; siehe auch: Augustinus, In Johannis Evangelium tractatus CXXIV, XI 13 – 14. Bernhard von Clairvaux, ep. 241, in: Bernhard von Clairvaux: Epistolae, hg. v. Jean leclercq / Henri rochais (S. Bernardi Opera Bd. 8), Rom 1977, 125 – 127. Zum Brief und seinen historischen Hintergründen, siehe: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche werke lat.-dt., hg. v. Gerhard winkler, Bd. 3, Innsbruck 1992, 291 – 295, 1113 – 1114; Beverly Mayne kienzle, Cistercians, Heresy, and Crusade in Occitania, 1145 – 1229, York 2001, 93 – 97. Allgemein zu den Briefen Bernhards, siehe: Jean leclerq: Recueil d’études sur Saint Bernard et ses écrits,
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Heinrichs werdegang nichts hervor, über ihn werden wir durch die Actus pontificum Cenomannis und die Vita Bernhards von Clairvaux unterrichtet47. Heinrich wird das erste Mal in Le Mans 1116 greifbar, dort hatte er von Hildebert von Lavardin die Erlaubnis erhalten, während dessen Abwesenheit zu predigen. Heinrich nutzte die Predigt anscheinend, um die seiner Meinung nach im Klerus bestehenden Missstände anzuprangern und konnte erst nachdem es auch zur Gewalt gegen die Priester gekommen war, durch die Männer des Grafen aus Le Mans vertrieben werden. Das Konzil von Pisa 1135/37 verurteilte ihn als Häretiker, der die Bibel falsch ausgelegt und eine verdrehte Doktrin gelehrt habe. Daraufhin zog er seine Lehre zurück und wurde in Clairvaux in Haft genommen. Allerdings blieb er dort nicht, sondern zog nach Südfrankreich, um dort erneut seine Häresie zu verbreiten48. wenigstens bis zu einem gewissen Grade scheint sich auch Heinrich zu Beginn seines Predigertums im Rahmen der Kirchenreform bewegt zu haben, trieb allerdings eine Radikalisierung voran, die nicht mehr mit der Amtskirche vereinbar war49. über seine späten Jahre existiert ein Brief Bernhards von Clairvaux, der sich an Ildefons, den Grafen von Toulouse, richtet. Bernhard kündigt darin eine für das Jahr 1145 geplante Predigtreise gegen Heinrich in das Gebiet des Grafen an und bittet um Unterstützung dafür. Das Motiv für die Abfassung des Briefes ist vergleichbar mit dem der Utrechter Kanoniker. Auch er versucht durch den Brief eine lokale Autorität von seinem Standpunkt zu überzeugen und zur Hilfe zu bewegen. Anders als der Brief der Kanoniker hat Bernhard seinem Brief jedoch nicht das Antichrist-Thema als übergreifenden Denkrahmen zugrunde gelegt. Er beginnt seinen Brief vielmehr mit einer Klage über das Unheil, das der Häretiker Heinrich anrichte. Im Land ginge ein wolf im Schafspelz umher, der aber an seinen Früchten erkannt werden könne50. Damit bezieht Bernhard sich auf ein gängiges biblisches Häretikermotiv51, nämlich
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Rom 1987, bes. 125 – 573; zu den Inhalten seiner Briefe siehe: Jean leclerq: Introduction to the letters of Saint Bernard, Cistercian studies quaterly. Bulletin of monastic spiruality 41 (2006), 127 – 139, 291 – 310. Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium, hg. v. Georges Busson / Ambroise ledru, le Mans 1901, 407 – 415; Geoffroy von Auxerre: Vita prima, Migue PL 185, col. 312 – 314. Zu den Actus in Bezug auf Heinrich siehe: ott: Authority, Heresy (wie Anm. 9); zerner: Introduction (wie Anm. 9), 24 – 34. Zur Vita Bernhards siehe: ebd., 40 – 48. Zu allen Quellen über Heinrich siehe: ebd., 22 – 48. Zu Heinrich vgl. Anm. 9. manselli, Il monaco Enrico (wie Anm. 9), 3; zerner, Introduction (wie Anm. 9). Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 125: Quanta audivimus et cognovimus mala, quae in ecclesiis Dei fecit, et facit quotidie Henricus haereticus? Versatur in terra sub vestimentis ovium lupus rapax; sed ad Domini designationem, a fructibus euis cognoscimus illum. Siehe hierzu: grundmann, Der Typus (wie Anm. 14), 318 – 319. Dort mit dem Verweis auf die allgemeine Beliebtheit der Tiersymbolik im Mittelalter (S. 318). Es ist allerdings zu vermuten, dass sich die Tiermetapher auf noch ganz anderen Ebenen bewegt, als das auf die Bibel verweisende Motiv. Siehe nun zum wolf als Symbol: Christoph Friedrich WeBer, Gerechtigkeit unter den wölfen. Der wolf als Krisenzeichen und sein Vorkommen in der Symbolik des Popolo in den italienischen Kommunen des Mittelalters, in: Symbolik in Zeiten von Krise und gesellschaftlichem Umbruch. Darstellung und wahrnehmung vormoderner Ordnung im wandel, hg. v. Elisabeth harding / Natalie krentz, Münster 2011, 31 – 55.
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auf Matthäus 7,15 – 16, dort heißt es: „Sehet Euch vor, vor falschen Propheten, die in Schafskleidern zu Euch kommen, inwendig sind sie reißende wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Der wolf steht nach Jesus Sirach für die Unvereinbarkeit mit den gläubigen Gemeindemitgliedern, damit wählt Bernhard ein Motiv, das gleichzeitig die Gläubigen ermahnt, am Glauben festzuhalten52 – ein Thema das der Brief an verschiedenen Stellen aufnimmt. Daneben hat der wolf im Schafspelz eine weitere biblische Referenzebene, welche die Aufseher der Gemeinde mahnt, auf die wölfe Acht zu geben, die in der Mitte der Gemeinde auftauchen und mit verkehrten Lehren die Gläubigen an sich ziehen werden53. Das wolfsmotiv verweist somit nicht nur auf die Haltung des Häretikers und die Auswirkungen seiner Lehren, sondern gleichzeitig auf die Aufgabe, das Volk vor häretischen Lehren zu schützen. Die wahl der Motivik verbindet damit geschickt beide Anliegen des Briefes, nämlich zum einen Heinrich als eine Gefahr für die Gemeinde darzustellen, der wiederstanden werden muss, und die Aufforderung an Ildefons, gegen den Häretiker vorzugehen. Die Charakterisierung als wolf im Schafspelz ist dabei nicht nur auf die Auseinandersetzung Bernhards mit Heinrich beschränkt, sondern findet sich auch in der Historiographie wieder. So beschreibt ihn die Actus pontificum Cenomannis schon bei seinem ersten Auftreten als wolf im Schafspelz54. Als Antichrist tritt uns Heinrich hingegen nur in einem Brief Hildeberts von Lavardin entgegen. Jener setzt sich allerdings gerade nicht mit Heinrichs Lehre auseinander, sondern mit zwei Priestern, die sich aus seiner Gefolgschaft losgesagt haben und zur Kirche zurückgekehrt sind55. Hildebert betont damit das Motiv der Verführung und weniger die Täuschung, die für die anderen Quellen über Heinrich so ausschlaggebend ist. Diese
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Sir 13,17: „Geht etwa der wolf mit dem Lamm zusammen? Ebensowenig der Frevler mit dem Gerechten.“ Apg 20, 28 – 30: „So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, unter welche euch der heilige Geist gesetzt hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde Gottes, welche er durch sein eigen Blut erworben hat. Denn das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen greuliche wölfe, die die Herde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen Männer, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen.“ Actus pontificum Cenomannis (wie Anm. 47), 407: Per item fere tempus, in adjacentium finibus regionum, surexit quidam ypocrita, quem propria actio, mores perversi, dogma detestabile, scorpionibus et parricidalibus dignum protestantur suppliciis. Is enim ovium spoliis lupi rapacis rabiem occultans, [. . .]. Hildebert von Lavardin, Episolae II, 24, PL 171, col. 242C – 242D: [. . .] Praesentium latores, Cyprianus scilicet et Petrus, dum disponerent ascensiones in corde suo, descenderunt in lacum mortis, secuti quemdam pseudoprophetam, quem qui secuti sunt, persecuti sunt semetipsos. Henricus is erat, magnus diaboli laqueus et celebris armiger Antichristi. Huic et habitu religionem et verbis litteraturam simulanti tandiu praescripti fratres adhaeserunt, donec eis et turpitudo in vita et error innotuit in doctrina. Ubi enim cognoverunt vias ejus, vias esse non rectas, prius ad se reversi sunt, dehinc ad nos transierunt, cujus dioecesim pestis ea sic infecerat, ut renitens ei clerus vix intra parietes ecclesiae suam tueretur libertatem. Post multas autem tribulationes, Deo auxiliante, serpens ille crepuit apud nos, patefacta pariter et ignominia vitae et veneno doctrinae. Ex tunc iidem fratres nostro parentes consilio, ad quod proposuerunt studium redierunt, vestimento seductionis, et angelo tenebrarum derelicto. [. . .] Siehe zum Brief: Zerner, Introduction (wie Anm. 9), 23.
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Tatsache spiegelt deutlich, dass die Verwendung der Stereotype von den Kontexten abhängig ist, in denen sie Verwendung finden. Auf den ersten Blick erscheinen Heinrichs Vergehen denen Tanchelms und seiner Anhänger zu ähneln. So leugne Heinrich die Sakramente, verführe und täusche das „dumme“ Volk, verkehre auf sexuelle weise mit Frauen und gefährde so die Erlösung seiner Gefolgschaft56. Es ergeben sich aber signifikante Unterschiede in den Inhalten der Predigten. Heinrich lasse Sakramente nicht als sakral gelten und die Menschen dadurch in Sünde sterben, er verwerfe die Kindertaufe, lasse das Kirchengebäude nicht mehr als heilig gelten und entkleide die Festtage ihrer Festlichkeit57. während die Kanoniker von Utrecht Tanchelms Häresie, wenn sie über das Antichristmotiv hinausgingen, noch am deutlichsten an den – angeblich – von ihm durchgeführten falschen Ritualen festmachten, bewegt sich Bernhards Argumentation auf einer dogmatischen Ebene und ist mit biblischen Verweisen gespickt. So behauptet er, Heinrich habe den kleinen Kindern die Taufgnade verweigert und sie damit des Heils beraubt, obwohl der Erlöser gerufen hat „Laßt die Kleinkinder zu mir kommen.“58 Das Bibelzitat wird dabei zu einem Teil der Beweisführung, wohingegen der reißende wolf in Schafskleidern nur als Motiv auftaucht und nicht im Gesamtkontext eines Zitates. Der wolf ist damit sehr viel mehr ein impliziter Verweis, als ein offener Beleg durch die Bibel. Hierfür mag entscheidend sein, dass sich die kirchliche Dogmatik in diesen Fragen seit dem Brief der Utrechter Kanoniker verfestigt hatte. So verurteilte das II. Laterankonzil 1139 unter anderem die Verdammung der Sakramente und der Taufe als häretisch59. wenn Bernhard die Gründe schildert, durch die Heinrich das Volk verführen konnte, greift er auf die üblichen Täuschungsmotive zurück. Er schreibt, dass Heinrich, obwohl er nicht von Gott sei, das törichte Volk überzeugen könne, da er es mit diabolischer Kunst überzeugte. So mache er es glauben, dass Gnade nur denjenigen zuteilwerde, die ihm folgen. Damit verwendet Bernhard zwar ein Versatzstück der Antichrist-Motivik, die sich aber rhetorisch nicht explizit in einem Stereotyp niederschlägt. Gleichzeitig lässt sich der Verweis auf seine diabolische Kunst in das übergreifende Motiv des Briefes einreihen, gehört die Täuschung als diabolische Kunst doch zu den Eigenschaften der falschen Propheten, die sich als wolf im Schafspelz 56 57
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Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 125 – 127. Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 125: Basilicae sine plebibus, plebes sine sacerdotibus, sacerdotes sine debita reverentia sunt, et sine Christo denique christiani. Ecclesiae synagogae reputantur, sanctuarium Dei sanctum esse negatur, sacramenta non sacra censentur, dies festi frustrantur sollemniis. Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 125: Parvulis christianorum Christi intercluditur vita, dum baptismi negatur gratia, nec saluti propinquare sinuntur, Salvatore licet pie clamitante pro eis: Sinite, inquit, parvulos venire ad me.; zu Bernhards Verwendung biblischer Motive in diesem Brief siehe: kienzle, Cistercians, Heresy (wie Anm. 46), 93 – 97. Zur Kennzeichnung von Anderen in Bernhards werk siehe: Johannes rauch, Die anderen im Menschenbild Bernhards: Juden, Heiden, Ketzer, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, hg. v. dieter Bauer / Gotthard Fuchs, Innsbruck / wien 1996, 235 – 261. Lateran II (1139), c. 23, in: Conciles oecuméniques, Bd. 2/1, hg. v. Giuseppe alBerigo, Paris 1994, 444 – 445.
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erweisen. Grundsätzlich ist es die Täuschung, die im Zentrum der Überlegungen steht. Auch das Motiv des wolfs wird von Bernhard mit anderen Bildern verbunden, die letztlich auf das wolfsmotiv verweisen, ohne selber den übergreifenden rhetorischen Rahmen zu setzen: So nutzt er, um den Grafen zu überzeugen, für Heinrich das Bild der verschlagenen Schlange, die den Schein der Frömmigkeit wahrt und damit zu täuschen weiß60, womit der Grundgedanke des Motivs vom wolf im Schafspelz wieder aufgenommen wird. Er knüpft aber auch immer wieder an das wolfsmotiv selber an: So wolle er seine Reise gerade in die Landesteile unternehmen, die das Untier ganz besonders abweide, damit sich ihm jemand widersetze und Heil bringe. Der Graf könne es nicht zulassen, dass Heinrich gegen die Herde Christi mit entfesselter Raserei wüte61. Auch das mit dem wolf in Zusammenhang stehende Motiv des Baumes, der schlechte Früchte trägt, wiederholt er: Der Graf solle sich von so einem Baum keine guten Früchte versprechen62. Zwar spielt Heiligkeit in Bernhards Brief keinerlei Rolle, aber die Beschreibung der Actus pontificium Cenomannis über Heinrichs erstes Auftreten in Le Mans spricht von seinem Ruf als besonders heiliger Mann, betont allerdings gleichzeitig, dass dieses Ansehen nicht auf seinem Charakter, nicht auf seiner Moral noch auf seiner Religiösität, sondern auf Falschheit basierte63. Im Gegensatz zu Tanchelm, der gemäß den Utrechter Kanonikern nur seinen Anhängern als so heilig erschien, dass sie sein Badewasser tranken, wurde Heinrichs Heiligkeit wohl erst einmal allgemein anerkannt. Das wolfsmotiv impliziert nicht nur Heinrichs Täuschung, sondern auch die Notwendigkeit, die Herde gegen jenen zu verteidigen. Hier mag es eine Rolle spielen, was im Bericht über sein erstes Auftreten von großer Bedeutung ist: Heinrich nutzte seine Predigterlaubnis in der Abwesenheit Hildeberts dazu, Le Mans gegen die lokalen Kleriker aufzubringen und es gelang Hildebert nur mit größter Mühe, seine Autorität in der Stadt wiederzuerlangen64. Das übergreifende Motiv, in welches Heinrichs Vergehen eingebettet wird, ist nicht das des Antichristen, der eine Spaltung der Kirche hervorrufen wird, sondern das des wolfes im Schafspelz. Obwohl es funktional mit dem Einsatz des Antichristmotives zu vergleichen ist, sind die konzeptionellen Grundlagen ganz andere. Das Grundstereotyp ist zweigeteilt, indem Bernhard zum einen den wolf und zum 60 61
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Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 126: Nec mirum tamen si serpens ille callidus decepit te, quippe speciem pietatis habens, cuius virtutem penitus abnegavit. Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 126: Et nunc huius rei gratia, licet in multa corporis infirmitate, iter arripui ad has partes, quas potissimum singularis ferus depascitur, dum non est qui resistat neque qui salvum faciat. Quippe de tota Francia pro simili effugatus malitia, has solas sibi invenit expositas, in quibus fiducialiter sub tuo dominatu in gregem Christi toto furore bacchatur. Bernhard von Clairvaux, ep. 241 (wie Anm. 46), 127: Tu de tali arbore tandem bonos sperabas fructus? Terrae profecto in qua est, fecit foetere odorem in universa terra, quia non potest, iuxta sermonem Domini, arbor mala fructus bonos facere. Actus pontificum Cenomannis (wie Anm. 47), 408: [. . .] idem namque mire sanctitatis et scientie circumquare rumore, non merito, falsitate, non vero, habitu erat celebrior, non moribus, non religione, sed opinione. ott, Authority, Heresy (wie Anm. 9), 99 – 124.
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anderen den Baum mit den schlechten Früchten als Rahmen einsetzt. Die wahl der Motivik spiegelt damit zum einen das grundsätzliche Vergehen Heinrichs, er gab sich als guter Hirte aus, um dann gegen diejenigen zu predigen, die ihm die Erlaubnis dazu gaben. Leitgedanke ist dabei die Täuschung. Zum anderen bewertet es dieses Verhalten, denn daraus können nur schlechte Früchte hervorgehen, wovor die Gläubigen geschützt werden müssen. Die letzten zwei Briefe an Robert von Arbrissel, die nun besprochen werden sollen, können in gewisser weise als Gegenfolie zu den bereits erwähnten verstanden werden, da sie strukturell ähnliche Kritikpunkte aufnehmen, diese jedoch nicht in ein häresiologisches Erklärungsmodell einordnen. Zudem unterscheiden sie sich insofern von den bisher besprochenen, dass sie sich an Robert richten und nicht über ihn berichten. Damit liegt ihnen auch eine andere Motivation zu Grunde: Sie wollen nicht von Roberts Verderblichkeit überzeugen, sondern Robert ermahnen, den von ihm verfolgten Lebensentwurf zu mäßigen. Indem sie Roberts Lebensentwurf als verfehlten Versuch der Heiligkeit schildern, erhellen sie die im 12. Jahrhundert aktuelle Debatte um christliche Lebensentwürfe und die unterschiedliche Einschätzung der wege zur ethischen Vervollkommnung. Vor dem Hintergrund, dass das Robert zugeschriebene Verhalten und seine Anschauungen Parallelen zu Tanchelms und Heinrichs aufweisen, verdeutlichen die Briefe an Robert das Spannungsfeld innerhalb dessen sich Devianz, Häresie und Heiligkeit bewegen und stecken deutlich den Erwartungshorizont an ein vorbildliches christliches Leben ab. Über Roberts Leben wissen wir sehr viel mehr als über Tanchelm und Heinrich, haben sich zu ihm doch nicht nur einige Briefe, sondern ebenfalls zwei Viten erhalten65. Roberts Biographie ist geprägt von den Konflikten zwischen Amtskirche und reformerischem Ideal. Steht die Amtskirche im Mittelpunkt seiner ersten Lebensjahre – er war Sohn eines Klerikers und seit 1088 dem Bischofsstuhl in Rennes verbunden –, so wandte er sich seit 1095 merklich den reformerischen Idealen zu und gründete 1095 als Eremit das Kloster La Roë im wald von Craon. Seiner Vita zufolge erhielt er 1096 durch Urban II. in Angers die Predigterlaubnis und zog danach als wanderprediger umher. 1101 gründete er das Kloster Fontevrault, blieb aber seiner Wandertätigkeit treu66. Es haben sich zwei Briefe erhalten, die seinen Lebenswandel tadeln. Der weitaus ausführlichere Brief stammt vom Bischof Marbod von Rennes und wurde wohl zwischen 1098 – 1100, also vor der Gründung Fontevraults, verfasst67. Der Brief Marbods ist in der Forschung schon häufiger besprochen worden, allerdings primär unter der Frage der kritik analysiert worden68. einen weiteren zur Verhaltensänderung anhaltenden Brief hat Geoffroy von Vendôme verfasst. Er 65 66 67
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Zu den Quellen über Robert siehe: Les deux vies de Robert d’Arbrissel (wie Anm. 10). Zu Roberts Leben vgl. Anm. 10. Zu Marbods Brief siehe: La lettre de Marbode de Rennes, in: Les deux vies de Robert d’ Arbrissel (wie Anm. 10), 503 – 557 (im weiteren: Marbod: Ep.). Einen Überblick über die Inhalte bieten in der neueren Literatur: nuss, Die hagiographischen werke (wie Anm. 33), 31 – 33, dort auch ein Vergleich mit Heinrich; venarde, Power, Personality (wie Anm. 10). devailly, Un évêque (wie Anm. 10); griFFiths, The Cross (wie Anm. 10); venarde, Power, Personality (wie Anm. 10); nuss, Die hagiographischen werke (wie Anm. 33), 31 – 33.
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entstand wohl nach der Klostergründung, um 1106, und macht deutlich, dass Roberts Lebenswandel weiterhin auf Missbilligung stieß. Im Zusammenhang mit der Frage nach Devianz und Sakralität ist er ebenfalls von Bedeutung, greift er doch einige zentrale Gedanken Marbods zum Thema der Heiligkeit auf. Die Kritik, die sich in Marbods Brief widerspiegelt, bezieht sich vornehmlich auf Roberts unangemessene Kleidung, seinen zu nahen Umgang mit Frauen, die Inhalte seiner Predigten, die sich gegen die Pfarrpriester wandten, und die durch sein Verhalten immer mögliche Gefahr der Verführung zur Sünde. Schon relativ zu Beginn des Briefes wirft Marbod Robert vor, dass er mit seiner neuartigen, zerlumpten Kleidung ungebührend Aufsehen errege69, um dann auf das Thema seines Umgangs mit Frauen einzugehen. Er kommt an späterer Stelle auf Roberts Gewandung zurück, wenn er davon spricht, dass Roberts zerlumpter Habit nicht für seinen Stand als Kanoniker angemessen sei, sondern ihn fast schon als einen Verrückten erscheinen ließe70. Schon hier lässt sich zeigen, dass Marbods Argumentation Konformität zum Mittelpunkt hat. Großen Anstoß erregt auch Roberts Zusammenleben mit Frauen, durch das er im Namen einer neuen religiösen Praxis hoffe, die Erbsünde zu besiegen71. Marbod wirft ihm jedoch vor, dass weder er selbst noch seine Anhänger bzw. Anhängerinnen wie gehofft von der Erbsünde befreit, sondern vielmehr zu Sünde verführt würden. Robert selbst würde zwar vielleicht nicht der Versuchung erliegen, aber wenigstens unkeusche Gedanken hegen, und damit seinem Ziel der Erlösung nicht näher kommen. Zum anderen könne er mit dieser Lehre auch Schlangen anziehen, die seine Lebensweise als Deckmantel für ihre Verführungskünste nutzen könnten72. Letztlich verführe er auch die weniger Starken durch dieses Lebensmodell, was sich an der Zahl der Kinder zeigen würde, die in seiner Anhängerschaft geboren würden73. 69
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Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 528: 3. Decet autem professionem tuam, karissime, qui ipsa insoliti habitus novitate omnium in te oculos convertisti et ultra pallium et crepidas fortissimae philosophiae in te ipso proposuisti exemplum, nichil in verbis aut factis ostendere quod sacris auctoritatibus possit inveniri contrarium, vel unde qui aedificari potuerant offendantur. [. . .] 7. Mulierum cohabitationem, in quo genere quondam peccasti, diceris plus amare, ut quasi antiquae iniquitatis contagium novae religionis exemplo circa eadem materiam studeas expiare. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 540 – 544: 16. Ceterum de pannosi habitus insolentia plurimi te non immerito redarguendum putant, quoniam nec canonicae professioni, sub qua militare cepisti, nec ordini sacerdotali, in quem promotus es, convenire videtur. [. . .] 19. Quod igitur tibi, abjecto habitu regulari, oportuit, ad carnem cilicio, cum attrito pertusoque birro, seminudo crure, barba prolixa, capillis ad frontem circumcisis, nudipedem per vulgus incedere et novum quasi spectaculum praebere videntibus, ut ad orantum lunatici solam tibi jam clavam deesse loquantur? Zur Bedeutung der pastoralen Verpflichtungen gegenüber Frauen bei Robert siehe: griFFiths, The Cross (wie Anm. 10) dort auch die weiterführende Literatur. Zu Marbods Vorstellung von weiblicher Religiösität und Frauen im Allgemeinen siehe: nuss, Die hagiographischen werke (wie Anm. 33), 116 – 127, in Bezug auf Robert bes. 126. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 532 – 534: 10. Et tu quidem, laxans retia tua in capturam, concludis piscium multitudinem copiosam sed inter pisces trahere diceris et serpentes, quae naturam mortiferam facile mutare non possunt, quas impune tractare non possis, [. . .]. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 528 – 530: 5. Vide ergo, fili dilectissime, ne, dum nimium de tua sanctitate confidis, informioribus membris offendiculum fias aut scandalum [. . .]. 8. Has
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Marbods dahingehende Vorwürfe lassen sich wenigstens tentativ mit dem in den Briefen über Tanchelm und Heinrich vorkommenden Motiv der überbordenden Sexualität verbinden. wobei Marbod und Geoffroy gegenüber Robert die Gefahr der Verführung erwähnen und nur andeuten, er habe auch schon bei Frauen gelegen74, während sich Tanchelms Anhänger sexuell abnorm verhalten und Heinrich regelmäßig Dirnen aufgesucht haben soll. Ähnlich wie Tanchelm und Heinrich wandte sich Robert von Arbrissel Fragen der Reform zu und richtete sich in seinen Predigten gegen sündige Priester. Marbod zufolge zog er mit dieser Meinung eine große Volksmenge an sich, die ihre Kirchen und Priester verließen und keinen Zehnt mehr zahlten, keine Opfer mehr gaben und auch nicht mehr die Buße durch die Priester empfangen wollten und ihnen ihre Gebete nicht anvertrauen. Hierauf beschwerten sich die Priester, er hätte sie vorverurteilt75. An dieser Stelle wird deutlich, was auch die anderen Briefe betonen: Die wanderprediger werden als Bedrohung für die etablierte Ortskirche empfunden, da sie ihr die ökonomischen Grundlagen entziehen. Die Briefe an Robert enthalten keinen Häresievorwurf, sondern mahnen ihn nur, seine Lebensweise zu ändern, denn es würden schon Gerüchte über ihn kursieren, die glauben machen würden, dass seine Lebensweise andere auf einen falschen weg führen könnte. Dieses Thema behandelt Marbod auf mehreren Ebenen. So verweist er in dem Brief wiederholt und unter verschiedenen Voraussetzungen auf die Verantwortung Roberts für seine Anhänger. In diesem Zusammenhang warnt Marbod ihn, dass er als Prediger nicht nur wissen müsse, welche worte er wählen solle, sondern auch, zu wem er rede76. An anderer Stelle spricht er davon, dass sich Robert an die „gemeine Menge und unkundige Menschen“ wende77. wie in den Briefen über Tanchelm und Heinrich klingt hier ebenfalls an, dass das Volk eine leicht lenkbare Masse sei und daher leicht einem falschen Dogma folge. Dabei liegt der implizierte
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peregrinationis tuae loquuntur esse pedissequas et disputanti tibi jugiter assidere. Sed et diversis in locis et diversis regionibus non parvum te asserunt habere numerum feminarum per xenodochia et diversoria diversarum, quas, maribus non impune permixtas, quasi ad pauperum et peregrinorum obsequia deputasti. Quod quam periculose sit factum, ut compendiose dicam, vagitus infantium prodiderunt; Auf das Thema der Geburten geht Marbot später noch einmal ein, ebd. 552, c. 29. Zu Robert siehe in diesem Zusammenhang: Marbod, Ep. (wie Anm. 67), bes. c.7 – 15, S. 530 – 540, der den Verführungsaspekt betont. Zu Geoffroys Brief, der andeutet Robert habe mit Frauen geschlafen, siehe: La lettre de Geoffroy de Vendôme, in: Les deux vies de Robert d’ Arbrissel (wie Anm. 10), 559 – 577 (im weiteren: Geoffroy, Ep.). Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 548: 24. Videmus egentes presbyteros, a suis desertos gregibus, velut indignos quibus offerant, quorum se commendent orationibus, a quibus accipiant injunctionem penitentiae, quibus decimas solvant vel primitas; qui omnes tuo se quaeruntur praejudicio condemnatos. Belegt werden diese Vorwürfe durch einen Brief Roberts an Ermengaude siehe: Robert von Arbrissel: Sermo Domini Roberti ad comissam Britannię, in: Les deux vies de Robert d’ Arbrissel (wie Anm. 10), 460 – 479, hier 466: Simon‹i›achi sunt doctores, episcopi et abbates et sacerdotes, principes iniqui et raptores, adulteri et incestuosi, populi ignorantes legem Dei. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 528: Sic et in verbis non tantum qualia proferantur, sed qualiter et quando vel apud quos orator peritus attendit. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 546: Porro quod in sermonibus quibus vulgares turbas et imperitos homines docere soles, [. . .].
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Vorwurf gegenüber Robert darin, er würde seine Anhänger überfordern. Dies reflektiert auch die Aussage, dass er zwar viele Anhänger an sich ziehe, die seinem religiösen Ideal folgen wollten, es aber nicht erfüllen könnten und damit letztlich einer doppelten Verdammung anheimfallen würden78. Marbod mahnt ihn ebenfalls, zu viel Vertrauen in seine eigene Heiligkeit zu setzen, denn zum einen sei er fehlbar und zum anderen werde er zum Stolperstein für andere79. Auch solle er nicht nach Heiligkeit streben, die keinem beispiel folgt und keine neuheiten erdenken, sondern sich heiligen Vorgängern anschließen. Außerdem beklagt Marbod von Rennes ganz explizit, dass er bestimmte Dinge getan habe, die gegen die vernünftige Doktrin (doctrinae) seien und gegen ein ehrenhaftes Leben (honestae vita) verstießen80. Heiligkeit ist in Marbods Brief nicht genauer definiert; sie scheint sich aus einem guten christlichen Leben und Konvention zu ergeben und nur in Konformität mit einem durch die Kirche bestimmten Lebensideal einherzugehen81. Letztlich bleiben die rhetorischen Bilder auf einer anderen Ebene als in den Briefen zu Tanchelm und Heinrich, auch wenn sich in den Lebensweisen und ideellen Entwürfen Tanchelms, Heinrichs und Roberts wohl Anknüpfungspunkte finden lassen. Es gibt in Marbods Brief kein übergreifendes rhetorisches Bild, das die Argumentation zusammenhält. Das Konzept ist eher von der Mahnung getragen, sich nicht außerhalb der Gepflogenheiten zu bewegen, damit Robert nicht zu einem schlechten Vorbild für die ungebildeten Massen wird. Geoffroys Brief nimmt nicht die ganze Bandbreite der Vorwürfe Marbods wieder auf, sondern bezieht sich in erster Linie auf Roberts Verhältnis zu Frauen82. In Bezug auf seine Heiligkeit warnt er Robert, ähnlich wie Marbod vor ihm, einem Martyrium zu folgen, das den Märtyrern völlig unbekannt war. Er erleide es nämlich, indem er sich zu den Frauen ins Bett lege83. Sei er diesen Frauen zu nah, gehe er mit anderen Frauen hingegen viel zu hart um, hier müsse er Gerechtigkeit und Milde walten lassen, damit die Getadelten nicht dem Satan verfallen. Er erinnert Robert daran, dass er für das Seelenheil der Frauen, die sich ihm anvertraut haben,
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Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 548: 25. Jam vero et illud: qua ratione defendi potest quod cuislibet conditionis aut aetatis mares et feminas qui, te predicante, sicut fit, ad horam compunguntur, passim admittis et statim ad religionem profitendam adigis improbatos, cum dicat Apostolus: Probate spiritus si ex Deo sunt. [. . .] 26. Inde ergo contigit ut plerique, ad pristinos actus relapsi, duplicem incurrant dampnationem, [. . .]. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 528: Vide ergo, fili dilectisssime, ne, dum nimium de tua sanctitate confidis, infirmioribus membris offendiculum fias [. . .]. Marbod, Ep. (wie Anm. 67), 526: 2. At vero, cum quaedam a te et dici et fieri referuntur quae nec sanae doctrinae nec honestae vitae conveniant, [. . .]. Siehe zur Hagiographie in Roberts Umfeld, die – wenn auch mit Gewichtsverschiebung – traditionelle Heiligkeitsideale betont: nuss, Die hagiographischen werke (wie Anm. 33), 221 – 222. Zu Geoffroys Brief siehe: La lettre de Geoffroy de Vendôme, in: Les deux vies de Robert d’ Arbrissel (wie Anm. 10), 559 – 577 (im weiteren: Geoffroy: Ep.). Geoffroy, Ep. (wie Anm. 74), 572: [. . .] vide ne corruas nec per martyrium martyribus sanctis penitus ignotum religiosae vitae principio notam infamiae derelinquas. [. . .] 9. Mulierum quibusdam, sicut fama sparsit et nos ante diximus, saepe privatim loqueris, et earum accubitu novo quodam martyris genere cruciaris.
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verantwortlich sei und deshalb Mäßigung üben solle84. Zentrale Punkte aus dem Brief Marbods tauchen damit wieder auf, dennoch geht Geoffroy über Marbods Anklage hinaus, wenn er Robert tadelt, er würde mit zweierlei Maß messen, wenn er einige Frauen in sein bett hole und andere dagegen hart strafe. Obwohl viele der Robert vorgeworfenen Handlungen und Ideen denen Tanchelms und Heinrichs ähneln, galt er nicht als Häretiker, stand aber eben auch in der Gefahr, auf den Abweg der Häresie zu geraten und wie jene seine Anhänger mitzureißen. Es lässt sich nur spekulieren, warum Robert im Gegensatz zu Tanchelm und Heinrich nicht als Häretiker charakterisiert wurde; hierbei können unterschiedliche Faktoren eine Rolle gespielt haben. So scheint er weder politisch so kontrovers wie Tanchelm gehandelt zu haben, noch scheinen seine Lehren die Radikalität Heinrichs angenommen zu haben. Auch seine Verbindungen zum Klerus und Adel mögen insgesamt besser gewesen sein als die Tanchelms und Heinrichs, so war er vor seinem Dasein als Eremit als Berater des Vorgängers Marbod von Rennes tätig, er erhielt seine Predigterlaubnis vom Papst und bekam Unterstützung des Adels der Region, die in der Gründung Fontevraults mündete und damit seine Lehre legitimierte85. Auch wenn sich eine wie auch immer geartete historische Faktizität aus den Briefen nur schwerlich herausschälen lässt, so wird doch deutlich, wie sehr das Abgleiten in die Häresie bei den wanderpredigern an einer Handlungsbalance zwischen Neuerung und Anpassung lag sowie von den Zuschreibungen der Zeitgenossen abhängig war. Durch die neuen christlichen Gesellschaftsentwürfe, denen sie folgten, gerieten sie in Spannung mit der etablierten Kirche. Die Konflikte ergaben sich neben den politisch-institutionellen Reibungen wohl nicht zuletzt aus einem unterschiedlichen geistlichen Anliegen, die Reform wollte keine völligen Neuerungen umzusetzen, sondern in Verfall geratene alte Ideale wieder aufleben lassen86. die lebensentwürfe der wanderprdiger, auch wenn sie sie selber als Teil der Reform verstanden haben sollten, gerieten in spannung mit dieser Vorstellung. gerade aus den briefen an Robert wird deutlich, dass die in ihrer Radikalität als neu und ebenso als unmäßig verstandenen Lebensentwürfe die wanderprediger der Gefahr aussetzten, der Häresie verdächtigt zu werden. Allerdings lässt sich über die Interdependenz zwischen Handlung und zeitgenössischer Bewertung nur wenig aussagen. Evident ist nur, dass Häresie immer auch eine Konstruktionsleistung der Ankläger war. Ihnen ging es nicht darum, ein objektives Bild der Häretiker und ihrer Lehren zu zeichnen, sondern sie in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. Die Hintergründe dafür waren komplex und lagen auf theologisch-dogmatischer, politischer und ökonomischer Ebene.
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Geoffroy, Ep. (wie Anm. 74), 572 – 4: 10. Aliis vero, si quando cum ipsis loqueris, semper locutione nimis durus appares, nimis districtus correctione, illas etiam fame et siti ac nuditate crucias, omni relicta pietate. 11. Quod si iat est, in utroque vehementer offendis, et modum totius discretionis transgrederis. Nam et erga illas nimium remissibiliter et contra istas nimium poenaliter agis. [. . .] 15. Fragilis est multum et delicatus sexus femineus, et idcirco necesse est ut pietatis dulcedine potius quam nimia severitate reagtur, ne forte abundantiori tristitia absorbeatur, et qui eum regere debet sic a Satana circumveniatur. Jessee, Robert d’Arbrissel (wie Anm. 10). nuss, Die hagiographischen werke (wie Anm. 33), 212 – 213.
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Dass das Verhalten der wanderprediger ganz andere Interpretationen zuließ, lässt sich daraus erkennen, dass sie für ihre Anhänger als heilig galten. Die Vorstellungen von Heiligkeit schlugen sich freilich nicht so deutlich nieder, wie die über Häresie. Gleichzeitig folgt Heiligkeit anderen Konstruktionsmechanismen als Häresie: Sie bewegt sich nicht im Rahmen eines rhetorischen Bildmodells, sondern entspringt alleine der Praxis – auf der einen Seite aus der Verehrung der Anhänger und auf der anderen seite aus der lebensweise. Aus Marbods brief ist dabei deutlich geworden, dass sich die Lebensweise, um als heilig zu gelten durch Konformität mit kirchlichen Idealen auszeichnet und auf Neuerungen verzichtet. Inwieweit sich die wanderprediger selber als heilig stilisierten, indem sie apostolische Leitbilder evozierten, ist kaum mehr fassbar, letztlich konnte alleine die Imitation der Apostel Sakralität hervorrufen. während die ‚richtige‘ Heiligkeit nicht zuletzt aufgrund der fehlenden biblischen Bilder phänomenologisch als Praxis beschrieben wird, beruhen die Beschreibungen der Häresie nicht nur auf der Feststellung der falschen Praxis, sondern gleichzeitig auf längst etablierten typologischen Denkmodellen. Doch ist auch zur Beschreibung von Devianz das Ineinander von Handlung und Diskurs prägend für die in den Briefen verwendeten Bildern. So ist Tanchelm, von dem eine Gefahr der Verkleinerung der Diözese ausging, ein Antichrist, der die Kirche spalten werde, und Heinrich, der erst als begabter Prediger erschien, um dann gegen die Kirche zu predigen, der wolf im Schafspelz. Obwohl die Quellen also mit dem aus den theologischen Häresiediskursen hinlänglich bekannten Material argumentieren und ähnliche rhetorische Versatzstücke verwenden, sind die Argumentationsstränge, die sich aus einem Rahmenmotiv ergeben, differenziert und verweisen letztlich auf die spezifische Situation, in der sie entstanden sind.
ZU DEN BEGRIFFEN DER HÄRESIE UND DES FALSCHEN PROPHETENTUMS: DIE KONSTRUKTION DES ISLAM BEI PETRUS VENERABILIS ALS PARALLELE ZUR HÄRETISIERUNG TANCHELMS* Christian Saßenscheidt Die Bemühungen um einen textanalytischen Zugriff auf die hochmittelalterlichen Strategien der Häretisierung von – aus der Sicht des Konstruierenden – devianten religiösen Gruppen, im von Miriam czock behandelten Fall also von wanderpredigern, sind sowohl lobens- als auch unterstützenswert. Gerade der Zugriff und die Analyse auf textuelle Kompositionsstrategien und der Vergleich genutzter Topik wird hier nicht nur helfen, die Besonderheiten der Einzelfälle herauszuarbeiten, sondern insgesamt einen Einblick in das hochmittelalterliche Denken in Bezug auf religiöse Andersartigkeit abseits von Einzelfallbefunden zu gewinnen. Tatsächlich sind trotz umfangreicher Bemühungen um eine nähere Ermittlung des mittelalterlichen Häresie-Begriffes die genauen Konturen eben jenes bis heute kaum fassbar. Die zu erwartende starke Varianz von Begriffsbedeutungen im Laufe der Zeit und regionale wie ideologische Besonderheiten lassen es daher sinnvoll erscheinen, Vergleichstexte in die Betrachtung mit einzubeziehen, die zeitlich nahe liegen und vergleichbare Topiken aufweisen. Auf einen solchen Fall möglichen Vergleichsmaterials soll hier mit einigen skizzenhaften Überlegungen hingewiesen werden: die häresiologischen Vorstellungen des Petrus Venerabilis, vor allem im zusammenhang mit dem Islam1. Nicht nur vergleichbare Argumentationsstrukturen lassen dies angeraten erscheinen; während im Falle der wanderprediger keinerlei Selbstzeugnisse erhalten sind und sämtliche Informationen nur durch den Filter der Zeitgenossen vorliegen, ist im Falle der Islamrezeption ein Vergleich mit den Vorlagen möglich2, wodurch evtl. auch mögliche Quellen von Missverständnissen und Fehldeutungen bzw. gängige Umdeutungsmuster identifiziert werden können. Dies tut umso mehr Not, als auch andere Häretikerschriften meist unter dem Manko leiden, dass sich originäre Schriften der in ihnen verdammten Gruppen bis zur Reformation nur selten oder in Fragmenten erhalten haben. * 1 2
Respondenz zum Beitrag von Miriam Czock. Die Schriften des Petrus Venerabilis zum Islam werden im Folgenden zitiert nach der Edition von Reinhold glei, Petrus Venerabilis: Schriften zum Islam (Corpus Islamo-Christianum Series Latina 1), Altenberge 1985. Eine moderne Ausgabe des Textes der von Petrus initiierten Koranübersetzung liegt derzeit nicht vor. Daher ist man nach wie vor auf die Ausgabe von Theodor BiBliander, Machumetis Saracenorum principis eiusque successorum vitae ac doctrina ipseque Alcoran, Basel 21550 angewiesen.
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Zwischen den Bemühungen des Petrus Venerabilis um eine Auseinandersetzung mit dem Islam und den Härestisierungen Tanchelms und anderer wanderprediger, die die Grundlage der Untersuchung von Frau Czock bilden, liegen zwar mehrere Jahrzehnte, gleichwohl aber ein vergleichbares historisches Umfeld: Beide finden im Kontext von Kreuzzugs- und kirchenreformatorischen Bemühungen statt, und beide greifen auf vergleichbare Vorbilder, vor allem die Patristik, zurück. Das Verhältnis Petrus’ zum Islam wurde im Laufe der Zeit von der Forschung sehr unterschiedlich bewertet. während man in der älteren Forschung geneigt war, ein relativ positives Islambild zu unterstellen und dies gerade von dem sehr negativen Juden- und Häretikerbild zu trennen, zeigen jüngere Analysen, dass sich auch das Islambild organisch in die Feindschaft des Petrus gegenüber Andersgläubigen einfügt3. Petrus’ Bemühungen sind definitiv im Zusammenhang mit dem zweiten Kreuzzug zu sehen und stellen eher einen „Krieg der Ideen“ gegen den Islam dar als eine Anerkennung desselben4, wie sich auch in seinem oftmals kämpferischen und dem wortfeld der Kriegsführung entlehnten Vokabular zeigt5. Im Zuge seines islamkritischen Schaffens, das mit seiner Reise nach Spanien 1142 begann, ließ Petrus Venerabilis ein umfangreiches Schriftcorpus übersetzen und durch seinen Sekretär Petrus von Poitiers eine Struktur für eine Refutatio des Islam anlegen. Sodann verfasste er selbst auf Grundlage des ihm vorliegenden Schrifttums zunächst eine Summe der Lehre des Islams, die zwar stark polemisiert, aber insgesamt ein gut informiertes bild bietet6. Sein Hauptwerk schließlich stellt die Schrift Contra sectam Saracenorum dar, eine sich zumindest formal an die Muslime richtende polemisch und rhetorisch aufgeladene widerlegung des Islam, die allerdings in zentralen Punkten auf grundlegenden Missverständnissen beruht7. Der erhaltene Teil der Schrift Contra sectam Saracenorum, auf die sich die folgenden Ausführungen stützen, besteht aus zwei Büchern sowie einem umfangreichen Prolog, ist in ihrer Struktur unabgeschlossen und wohl unvollendet geblieben, wie gerade der gegen Ende der Schrift zunehmend weniger ausgefeilte Stil sowie fehlende Stoffe, deren Behandlung innerhalb der Schrift angekündigt wurde, vermuten lassen. 3
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Eine umfangreiche Diskussion der Forschungspositionen mit Verweisen auf die entsprechende Literatur findet sich bei Tobias georges, Petrus Venerabilis – der antijüdische Polemiker als Botschafter des Friedens gegenüber dem Islam? Eine Untersuchung seiner Schrift ‚Contra sectam Saracenorum‘, Zeitschrift für Kirchengeschichte 122 (2011), 1 – 19. zu diesem themenfeld grundlegend Maria teresa Brolis, La Crociata per Pietro il Venerabile: Guerra di armi o guerra di idee?, Aevum 61 (1987), 327 – 354 sowie Benjamin kedar, crusade and Mission. European Approaches towards the Muslims, Princeton 1984 und Mechthild dreyer, Die wirkkraft des wortes: Zur Auseinandersetzung mit dem Islam am Beispiel von Petrus Venerabilis und Bernhard von Clairvaux, Revista Portugesa de Filosofia 60 (2004), 621 – 632. Zu diesem Themenfeld siehe auch Jean-Pierre torrel / Denise Bouthillier, une spiritualité de combat. Pierre le Vénérable et la lutte contre Satan, Revue thomiste 84 (1984), 47 – 81, hier v. a. 76 – 78. Siehe hierzu Christian sassenscheidt, die konstruktion des Anderen am beispiel des Islam in der ,Summa totius haeresis Saracenorum‘ des Petrus Venerabilis, in: Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter (Europa im Mittelalter 7), hg. v. Michael Borgolte u. a., Berlin 2011, 228 – 238. Siehe hierzu glei (wie Anm. 1), XXVI – XXVIII.
Zu den Begriffen der Häresie und des falschen Prophetentums
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Die Bezeichnung haeresis sowie abgeleitete Formen finden sich innerhalb Contra sectam Saracenorum vor allem im Prolog8. Ihnen ist vor allem eines gemeinsam: Sie stehen im Kontext legitimatorischer Äußerungen, die die Schrift überhaupt begründen sollen, oder sind Teil des zu eben diesem Zwecke eingefügten Häretikerkataloges (auf Basis von Hieronymus). Entsprechend findet sich dieses wortfeld im eigentlichen Hauptteil nur an einer Stelle9. Petrus nutzt den Vergleich des Islams mit einer Häresie (genauer: setzt den Islam mit einer Häresie gleich), als er seine Causa scribendi erläutert: Non potuerunt illi [gemeint sind die Kirchenväter] pati quamlibet vel parvam iacturam fidei Christianae nec adversus sanam doctrinam insanientem multiformium hereticorum vesaniam tolerarunt. Dabei erweist sich Petrus bereits zu Beginn seiner Schrift als hervorragender Rhetoriker, der die Verdammung der Häretiker auch durch den Einsatz des wortfeldes Krankheit – Gesundheit in Gegensatz zur eben heilsamen christlichen Lehre stellt. Die Gleichsetzung des Islams mit einer geistigen Krankheit ist ein durchgängiges Motiv der Schrift gegen den Islam. Im weiteren zählt Petrus daher zunächst die bisherigen Häresien auf (3, 4), um anschließend einen Katalog der widerlegungen anzuführen (5 – 7). Aus diesen Katalogen zieht er die Begründung für sein Vorhaben, das aus dem Bereich der Heilung entlehnte Vokabular der Einleitung wird hier durch ein weit kriegerischeres ersetzt, der Glaube wird zum Schild (. . . scuto fidei . . .), die widerlegungen vergangener Tage mit Speerwürfen verglichen: . . . in eorum perniciem fulminantia spicula vehementi nisu intorsit. Besonders interessant im Zusammenhang mit Tanchelm, Heinrich dem Mönch und anderen härestisierten Formen christlicher Reformbewegungen ist die von Petrus mehrfach genutzte vorgeblich Verzweiflung an der Häresiedefinition, da er zumindest rhetorisch mehrfach zwischen einer Einschätzung des Islam als Häresie und als Heidentum schwankt. So führt Petrus Venerabilis für beide Positionen Argumente an und hat somit die Möglichkeit, aus mehreren Ansätzen heraus auf vorhandene Feindbilder zurückzugreifen. Für eine Bewertung als Häresie gibt es nach Petrus mehrere Argumente10: 1) Die Muslime nehmen die Jungfrauengeburt Jesu an, 2) Jesus habe auch nach den Muslimen ohne Sünde gelebt, habe wahres vorausgesagt und wunder gewirkt, 3) sie meinen, er sei „Geist“ und „wort“ Gottes gewesen. Hingegen würden sie aber den Kreuzestod ablehnen, sodass sich neben vielen Gemeinsamkeiten ein deutlicher christologischer Unterschied ergäbe. Das wesentliche Argument gegen die Einstufung als Häresie, aber für das Heidentum sei die Ablehnung der Sakramente, das auch gegen Heinrich den Mönch verwendet wurde11. 8 9 10 11
Und zwar im Prolog in allen Abschnitten außer 1, 11, 15 f. und 18 – 20 jeweils mindestens einmal. Contra sectam Saracenorum 93, 7. Contra sectam Saracenorum 13, 9 ff. Contra sectam Saracenorum 14. Diese Argumentation dient Petrus als rhetorischer Aufhänger, um einen Katalog der widerlegungen des Heidentums folgen zu lassen, der strukturell sehr ähnlich dem Häretikerkatalog aufgebaut ist. Daher ist die Unterscheidung wohl mehr künstlich zu verstehen, aus ihr heraus lassen sich zusätzliche Gewährsleute für die Legitimität des Vorhabens des Petrus gewinnen und die argumentative Zielrichtung wäre genauso gegen Häretiker einsetzbar gewesen, wie der Beitrag von Miriam czock in diesem Band zeigt.
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Eine weitere Parallele zu den Vorwürfen gegen Heinrich den Mönch, nämlich der des falschen Propheten, findet sich ebenfalls bei Petrus. Dieses äußerst gängige und im Neuen Testament mehrfach belegte Motiv, das im spanischen Kontext schon Jahrhunderte zuvor von Seiten der sogenannten ,freiwilligen Märtyrer von Córdoba‘ gegen den Islam genutzt wurde, wird in der Zeit der Auseinandersetzung mit dem Islam durch Petrus zum zentralen Bestandteil seiner Verurteilung des Islam. Natürlich liegt es nahe, den Islam über seinen Religionsstifter anzugreifen; in der vorangehenden Schrift Summa totius haeresis Saracenorum hatte Petrus das Leben und die politische Karriere Muḥammads bereits wiederholt stark angegriffen. Das Muster wurde auch von Petrus von Poitiers, dem Sekretär Petrus’ Venerabilis, der in einem Brief eine Kapiteleinteilung für die Schrift gegen die Sarazenen vorformulierte, der Petrus aber nicht folgte, bereits vorgeschlagen. Konkret sollte sich das komplette zweite Buch der Frage widmen, warum man Muḥammad nicht für einen wahren Propheten halten dürfe. Hierfür schlug Petrus von Poitiers insgesamt sieben Hauptargumente vor: 1) Dass Muḥammad ein Räuber gewesen sei, 2) dass er ein (Verwandten-)Mörder gewesen sei, 3) Verrat begangen habe, 4) ein Ehebrecher sei und er vorgäbe, dass sein Ehebruch durch Gott legitimiert sei, 5) er widernatürlichen Geschlechtsverkehr erlaubt habe12, 6) er sich selbst widerspreche und 7) keine wunder seine Sendung bestätigen würden. Petrus Venerabilis greift nicht alle diese Punkte in Contra sectam Saracenorum auf. Aber das Prophetentum Muḥammads ist ein wesentlicher und an tektonisch wichtiger Stelle eingesetzter Punkt. Nachdem Petrus seine Schrift mit einer allgemeinen Einladung zum Heil an die Muslime (23 f.) und der Begründung seines Vorhabens aus dem Geist der Nächstenliebe (25 f.) beginnt, ist dies sein erster Ansatz zur widerlegung des Islam. In Contra sectam Saracenorum 28 spricht er damit erstmals die Sendung Muḥammads an, indem er den Muslimen betreffend ihres Bekenntnisses folgende worte in den Mund legt: Sentimus de ipso, fatemur de ipso non iuxta figmenta cordis nostri, sed iuxta quod tradidit nobis missus ab ipso propheta noster. Dieses wird zum Ausgangspunkt der widerlegung: verschiedene angebliche Aussagen Muḥammads werden so einzeln auf ihre Übereinstimmung mit den bisherigen Propheten des Alten Testamentes sowie ihrer Plausibilität geprüft. Leider unterlaufen Petrus hier mehrere Fehler in der Interpretation der ihm vorliegenden Übersetzung, sodass er etwa einen Koranvers so interpretiert, dass es besser sei, zu töten als zu diskutieren (Contra sectam Saracenorum 35, 11 f.), was der Aussage der entsprechenden Koranstelle völlig widerspricht13. Im zweiten Buch nimmt Petrus die oben erwähnte Stelle noch einmal wörtlich auf (Contra sectam Saracenorum 95), um anschließend eben mit dem Bild der 12
13
Diese Behauptung bezieht sich vor allem auf eine Stelle des lateinischen Korans, die Petrus von Poitiers als Legitimation des Analverkehrs interpretierte. Auch eine Interlinearglosse (siehe dazu glei, Schriften (wie Anm. 1), Fußnote 617, 301 f., der die Glosse transkribiert: Id est, in vulva vel ano, quod sequitur maxima pars Sarracenorum abutens ano) deutet die Schrift in diesem Sinne. Petrus Venerabilis griff diesen Topos jedoch nicht auf, wenn auch unklar ist, ob dies dem fragmentarischen Charakter der Schrift geschuldet ist. Siehe hierzu glei, Schriften (wie Anm. 1), 79 mit den Anmerkungen 276 – 278.
Zu den Begriffen der Häresie und des falschen Prophetentums
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falschen Prophetie nicht mehr Einzelstellen, sondern Muḥammads Prophetentum grundsätzlich anzugreifen. Um diesen Punkt auszuführen, stellt Petrus eine Prophetendefinition auf, die teilweise auf Gregor den Großen, teilweise auf den ersten Petrusbrief14 zurückgeht (Contra sectam Saracenorum 97): Propheta est, qui res ignotas aut praeteriti temporis aut praesentis vel futuri non humana cognitione edoctus, sed spiritu dei inspiratus mortalibus manifestat. dies wird weiterhin auf basis des Alten Testamentes, vor allem mittels direkter Vergleiche Muḥammads mit Moses (98 – 103), Jesaja (104 – 106), Jeremias (107 f.), Ezechiel (109), Daniel (110 – 112) und weiterer umfangreich rhetorisch ausgeführt. Vergleichsmaterial für einen textanalytischen Zugriff auf die Berichte über wanderprediger gibt es also für die diesen entgegengebrachte Rhetorik in umfangreichem Maße. Die oben genannten Stellen sind nur ein kleiner Ausblick in die Nutzung der speziellen Häretikerrhetorik im Rahmen der Verurteilung und theologischen wie praktischen Ausgrenzung religiös devianter Gruppen. Interessant wären hier sicher Vergleiche der Desakralisierungsstrategien gegenüber prophetischen Ansprüchen, auch wenn hier diese Option nur angerissen werden konnte. Nebst den werken zum Islam bieten sich hier auch Petrus’ Schriften Adversus Iudaeorum inveteratam duritiem15 und Contra Petrobrusianos hereticos16 an, um ein umfangreicheres und detaillierteres Bild der rhetorischen Strategien im Zusammenhang mit Andersgläubigkeit zu erhalten und so die Ergebnisse der Analyse der Schriften zu den wanderpredigern zu flankieren.
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Siehe zur Stelle glei, Schriften (wie Anm. 1), 161 mit den Anmerkungen 418 – 423. Yvonne Friedman, Petrus Venerabilis: Adversus Iudaeorum inveteratam duritiem (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 58), Turnhout 1985. James Fearns, Petrus Venerabilis: Contra Petrobrusianos hereticos (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 10), Turnhout 1968.
wAS HEISST GLAUBEN? eInIge beMerkungen zur FunktIOnsWeIse des glAubens IM AnscHluss An dOrOtHeA Welteckes überlegungen zuM nIcHtglAuben IM MIttelAlter* roger thiel In ihrem beitrag Nicht an Gott glauben? – Mittelalterliche Konzeptionen und gegenwärtige Forschungsfragen trifft Dorothea weltecke ins Zentrum des Themas dieses Bandes: Sakralität und Devianz. Ihr war aufgefallen, dass die Gegenwart immer noch eine Vorstellung vom „gläubigen Mittelalter“1 zu brauchen scheint – und dass die bereits im 19. Jahrhundert von Hermann Reuter angestellte Beobachtung des Fehlens einer geschichtswissenschaftlichen Überprüfung dieser Vorstellung als einer „vernachlässigte[n] Partie der mittelalterlichen Culturgeschichte“2 noch immer virulent sei. Und so zeigt sie in innovativer weise, wo und wie – „in dem, was man Mittelalter nennt“ – mit dem Antipoden des Glaubens, dem Unglauben oder Nichtglauben, verfahren wurde. Dabei fällt auf: Nicht an der Peripherie wird die Devianz des Nichtglaubens verhandelt, sondern im Zentrum der Rechtgläubigkeit. Und Dorothea weltecke zeigt, in welchen Erscheinungsweisen dieser Nichtglaube statthat: als dubitatio, infidelitas, acedia, impietas, Zweifel, Skepsis etc. Der erste Satz ihres Buches „ ,Der Narr spricht: Es ist kein Gott‘. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit“ ist ein Satz aus den Noten und Abhandlungen zu Besserem Verständniß des West-östlichen Divans von Johann wolfgang Goethe: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Conflict des Unglaubens und Glaubens.“3 Und der zweite Satz lautet: „was meinte er mit diesem Satz?“4 Der einen Seite des „Konflikts“ ist Dorothea weltecke in ihrem Buch und ihrem Vortrag in mannigfaltige Provinzen gefolgt, und sie betont, *
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dorothea Welteckes Vortrag selbst erscheint nicht im vorliegenden Band; er stellte aber im Prinzip ein Kondensat ihres Buches „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt am Main 2010, dar. Hierauf bezieht sich die folgende Respondenz. dorothea Weltecke, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt am Main 2010, 16. Hermann reuter, Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des 8. Jahrhunderts bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1875 – 77, 1: viii. Johann wolfgang goethe, west-östlicher Divan, hg. v. Karl richter in zusammenarbeit mit katharina mommsen und Peter ludWig, in: Sämtliche werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe Bd. 11.1.2), hg. v. Karl richter, München 1998, 216. dorothea Weltecke, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“, (wie Anm. 1), 9.
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dass „semantische Untersuchungen des zentralen wortes ‚Unglauben‘ überraschenderweise kaum erfolgt [sind].“5 Kurioserweise gilt das auch für die andere Seite des „Konflikts“: das wort Glauben. Und so sieht denn Michel de Certeau „[a]n odd paradox: all the polemics and reflections on ideological content and the institutional framework to be provided for it [i. e. the motive energy of belief] have not (except in English philosophy, from Hume to wittgenstein, H. H. Price, Hintikka or Quine) been accompanied by any elucidation of the nature of the act of believing.“6 genau aus diesem Grund beginnt de Certeau in einem Aufsatz, der ganz den Erscheinungsund Funktionsweisen des Glaubens gewidmet ist, beim wort: „In its Vedic (’sraddha) and Latin (credo) origins, the term to believe presents a constellation of usages. Already it furnishes a field of hypotheses. ‚A true morphological fossil‘, sometimes it signifies having confidence in someone or something, sometimes believing in reality or in what one sees, sometimes trusting in what is said.“7 Im Gegensatz zu dieser „Konstellation“ der Gebrauchs- und Bedeutungsweisen dieses „wahren morphologischen Fossils“ ‚glauben‘ sieht Max Müller – einer der Erfinder der Religionswissenschaft – im 19. Jahrhundert noch einen eminenten Unterschied am werk, und zwar „that the idea of believing, as different from seeing, knowing, denying, or doubting, was not so easily elaborated, is best shown by the fact that we look for it in vain in the dictionaries of any uncivilized races.“8 In den Critical Terms for Religious Studies, einem Standardwerk der Religionswissenschaft, heißt es im Artikel ‚Belief‘, dass „‚Belief‘ is, or has become, perhaps the most common term we use to describe religion to one another“9, um unmittelbar danach ebenfalls eine etymologische Herleitung dieser „universal category“10 zu geben. Es benennt ein ganzes Bündel an Bedeutungen, das vom althochdeutschen gilouben über das germanische laub (verbunden mit dem indogermanischen leubh-) bis zum Italienischen libito reicht und stets um alle Formen des Lobens, Liebens und Glaubens im Lateinischen, Deutschen und Englischen kreist. Und er kommt, ähnlich wie de Certeau, zu dem Schluss: „The multivalence of the root is perhaps exceeded only by the multivalence of the term derived from it, belief.“11 Ludwig wittgenstein hat abundant über das Phänomen, genauer: die Funktionsweise des Glaubens nachgedacht. In den Philosophischen Untersuchungen – und auch in den Vorlesungen über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben – gibt es ganze Strecken, die Glauben und insbesondere religiösen Glauben beobachten. Direkt im Anschluss an Müller lässt sich also mit wittgenstein fragen: „wie ist man 5 6 7 8 9 10 11
Ebd., 20. Michel de certeau, „The Jabbering of Social Life“, in: On Signs, hg. v. Marshall Blonsky, Oxford 1985, 146 – 154, hier: 148. Michel de certeau, „what we Do when we Believe“, in: On Signs, hg. v. Marshall Blonsky, Oxford 1985, 192 – 202, hier: 192. Der Begriff ‚morphologisches Fossil‘ stammt aus Georges dumézils Idées romaines, Paris 1969, 47 – 59 (‚Credo et fides‘). Max müller, Contributions to the Science of Mythology, 2 Bde., London 1897, Bd. 2, 448. donald s. loPez, Jr., „Belief“, in: Critical Terms for Religious Studies, hg. v. Mark C. taylor, Chicago and London 1998, 21 – 35, hier: 21. ebd., 33. Ebd., 22.
was heißt Glauben?
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je dazu gekommen, einen Ausdruck wie ‚Ich glaube . . .‘ zu gebrauchen? Ist man einmal auf ein Phänomen (des Glaubens) aufmerksam geworden? Hatte man sich selbst und die Anderen beobachtet und so das Glauben gefunden?“12 Eine entscheidende Frage, die sich auch Donald Lopez für seinen Artikel in den Critical Terms notiert hatte13. weiter präzisiert wittgenstein: „Im Grunde beschreibe ich mit den worten ‚Ich glaube‘ den eigenen Geisteszustand – aber diese Beschreibung ist hier indirekt eine Behauptung des geglaubten Tatbestands selbst [. . .]. Dann wäre mein Glaube eine Art Sinneseindruck.“14 wenn also der Ausdruck ‚Ich glaube‘ den „eigenen Geisteszustand“, eine „Art Sinneseindruck“ wiedergibt, aus dem sich „Schlüsse auf mein Verhalten ziehen“15 lassen; wenn also „hier eine Ähnlichkeit mit den Äußerungen der Gemütsbewegung, der Stimmung etc.“16 zu konstatieren ist –: was bedeutet das dann für den christlichen Glauben? Auch darüber hat sich wittgenstein Gedanken gemacht, und er notiert – ganz im Sinne der oben angeführten Etymologien – am 17. April 1937 in sein Tagebuch: „Es ist durch das wort ‚glauben‘ in der Religion furchtbar viel Unheil angerichtet worden. Alle die verzwickten Gedanken über das ‚Paradox‘, die ewige Bedeutung einer historischen Tatsache u. dergl. Sagst Du aber statt ‚Glaube an Christus‘: ‚Liebe zu Christus‘, so verschwindet das Paradox, d. i., die Reizung des Verstandes.“17 Dass Glauben mithin ein ‚Phänomen‘ ist, in das stets auch der Andere – de Certeau wird 50 Jahre nach wittgenstein präzisieren, dass es gerade die supponierten unendlich vielen Anderen („A myriad of others must guarantee the other.“18) sind, die das Prinzip des Glaubens am Leben halten – hatte wittgenstein schon tastend so umschrieben: „Ich denke so: Glauben ist ein Zustand der Seele. [. . .] Die offenbart mir, im Andern, sein Benehmen; seine worte. Und zwar ebenso wohl eine Äußerung ‚Ich glaube. . .‘, wie seine einfache Behauptung. – wie ist es nun mit mir: wie erkenne ich die eigne Disposition? – Da müsste ich ja wie der Andre auf mich achtgeben, auf meine worte hören, aus ihnen Schlüsse ziehen können!“19 weil „[t]here is no certainty in belief [. . .] [t]he process of belief works starting not from the believer himself but from the indefinite plural (other / others), presumed to be the debtor and the guarantor of the believing relationship.“20 Anhand dieser wenigen Belege lässt sich ermessen, dass Glauben nicht nur eine „universal category“ ist, wie Donald Lopez schrieb, sondern auch eine überaus komplizierte, oder auch „keine klare Kategorie“, wie es dem erläuternden Glossar zu Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) unter dem Lemma ‚Glauben‘ zu 12 13 14 15 16 17 18 19 20
ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 21980, 301. Vgl. donald s. loPez, Jr., „Belief“, (wie Anm. 9), 23 – 24. Entscheidend ist die Frage, weil, anders als bei anderen Formen des Glaubens, der religiöse Glauben nicht von anderen Formen der Evidenz gestützt wird. ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, (wie Anm. 12), 301 – 302. ebd., 303. ebd. Zitiert in: Alexander grau, „Das Ende des Sagbaren. wittgenstein über das Paradox des christlichen Glaubens“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 182 (8.8.2007), N 3. Michel de certeau, „what we Do when we Believe“, (wie Anm. 7), 200. ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, (wie Anm. 12), 304. Michel de certeau, „what we Do when we Believe“, (wie Anm. 7), 201.
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entnehmen ist: „wie wissen ist Glauben keine klare Kategorie und bezieht sich auf einen psychischen Zustand. Glauben ist ein Artefakt der Aufspaltung zwischen Konstruktion und Realität. So ist er mit dem Begriff des Fetischismus verknüpft und ist immer eine gegen andere gerichtete Anklage.“21 Latours Thesen sind Revitalisierungen von wittgenstein und de Certeau, und wenn es z. B. heißt: „Jedesmal ist der Irrtum der gleiche und beruht auf dem naiven Glauben an den naiven Glauben der anderen“22, dann liest sich das beinahe wie eine Übersetzung des knapp 30 Jahre zuvor erschienenen Textes von de Certeau: „It is a belief in the belief of the other or in what he/one makes believe that he believes, etc. A belief of the other is the postulate of a belief in the other.“23 Während aber die theorie latours dahin geht, den „Begriff des Glaubens überflüssig werden“24 zu lassen, gibt de Certeau eine möglichst genaue Beschreibung der ‚Mechanik‘ und Funktionsweise des Glaubens, die der Komplexität dieser ‚Kategorie‘ auf jeder Ebene gerecht zu werden versucht. Er sieht dem Glauben eine kontraktartige Verfassung an: Dabei befindet sich der Glaubende in einer Position der Unterlegenheit mit Blick auf das Objekt des Glaubens: Der Glaubende gibt jetzt etwas, in der Hoffnung in Zukunft etwas zurückzubekommen. Der Aspekt der Zeit, die Vertagung in die Zukunft charakterisiert die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt des Glaubens, was Glauben eben – siehe Müller – von der Simultanität des Sehens oder wissens weg in ein Gebiet der „expectational practice“25 überführt. De Certeau bemerkt, dass der Einstieg in den Glauben seitens des Glaubenden nicht so frei ist, wie es zunächst scheinen mag; ökonomische Tauschinteressen sind ebenfalls am werk, denn Glauben ist weder natürlich (natural) noch universell; er kann vielmehr beschrieben werden als Ideologie nicht des falschen Bewusstseins, sondern als Idee, die einem bestimmten Satz materieller Interessen entspringt26. Das heißt, dass Glauben auch seine wirkkraft verlieren und „historisch“ werden kann. Das passiert, wenn der Glaubende seinen ‚Vertrag‘ mit dem geglaubten Objekt aufkündigt, Glauben nicht länger ein innerer Zustand ist, sondern das Objekt des Glaubens verlassen, zum Objekt eines anderen (oder jemandes Religion) wird, entweder einer anderen Zeit oder eines anderen Ortes, sprich: Vergangenheit geworden ist. 20 Jahre vor dem oben zitierten Tagebuch-Eintrag wittgensteins notiert sich am 1.12.1917 Franz Kafka in das seine eine nicht nur formal bemerkenswerte Überlegung, sondern zudem eine, die Aspekte des Glaubens konturiert, die bisher noch nicht genannt wurden. In der Form der correctio lautet sein credo: „Glauben heißt: das Unzerstörbare in sich befreien oder richtiger: sich befreien oder richtiger:
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bruno latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur wirklichkeit der wissenschaft, Frankfurt am Main 2002, 375. Ebd., 356. Michel de certeau, „what we Do when we Believe“, (wie Anm. 7), 200. bruno latour, Die Hoffnung der Pandora, (wie Anm. 21), 374. Michel de certeau, „what we Do when we Believe“, (wie Anm. 7), 195. Vgl. zur Verflechtung von Ökonomie und Religion im Horizont einer Schuldgeschichte werner hamacher, „Schuldgeschichte. Benjamins Skizze ‚Kapitalismus als Religion‘“, in: Kapitalismus als Religion, hg. v. Dirk Baecker, Berlin 2003, 77 – 119.
was heißt Glauben?
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unzerstörbar sein oder richtiger: sein.“27 So erstaunlich dieses Apophthegma auch sein mag, so wenig Resonanz hat es bisher in der Kafka-Philologie gefunden. Einen ersten Hinweis könnte der Vortrag von Susanne Köbele über mystische Implikationen im spätmittelalter enthalten28. Dort heißt es in einem Zitat aus was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen: XIV: Deus est oppositio nihil meditatione entis („Gott ist der Gegensatz zum Nichts vermittels des Seins“).29 Die Allusion des Kafka-Satzes auf diese Stelle ergäbe sich, wenn man ‚Gott‘ durch ‚Glauben‘ ersetzte. Und wäre Kafkas Gnome so nicht e silentio eine quasi-mystische Engführung von Gott, Glauben und Sein?
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Franz kaFka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Born et al., Frankfurt am Main 1982 ff., 55. Vgl. susanne köBele, „Im Sog des reinen Nichts. Zur Konkurrenz philosophisch-theologischer Ursprungskonzepte im Spätmittelalter“, in diesem Band. was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Lateinisch-deutsch. Erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch, München 2011, 56.
AusscHluss Aus deM HeIlIgtuM. dAs InterdIkt Als erzIeHung zur kIrcHlIcHen nOrM Martin kaufhold Das Interdikt war ein ernsthaftes Verbot und ein Verstoß gegen dieses Verbot konnte ernsthafte Folgen haben. Das lehrt zumindest die Erzählung aus der Chronica Sancti Petri Erfordensis, die von einem Interdikt im Jahre 1275 berichtet. Das Interdikt lag auf der Diözese Speyer, warum erfahren wir nicht. So waren die Gottesdienste in den Kirchen der kleinen Diözese weitgehend untersagt. Auch die Stadt Heidelberg war davon betroffen. Viele Bürger der Stadt Heidelberg fügten sich nur schwer in die Einschränkungen. Als sie hörten, dass auf der anderen Seite des Neckars Geistliche in einer Kapelle Gottesdienst feierten, überquerten sie den Fluss, um die Messe zu hören. Auf der Rückfahrt kenterte ihr Schiff „mit der Erlaubnis Gottes . . . und aus der großen Menge der Menschen und Pferde ertranken mehr als hundert gute Menschen beiderlei Geschlechts“1. Diese Geschichte eines spätmittelalterlichen Fährunglücks hätte sich durchaus als didaktische Ermahnung späterer Verkünder des Interdikts angeboten, allerdings grenzten die Juristen die Reichweite und wirkung des Interdikts in den Jahrzehnten nach diesem Unglück genauer ein. Das war auch nötig, da das Interdikt in vielen, und nicht nur kirchlichen Konflikten des späten Mittelalters Anwendung fand. Dabei sollte es die Menschen allerdings nicht in den Untergang treiben. Tatsächlich wurde das Interdikt, das wohl in der Zeit der stärker einsetzenden Kirchenreform um die Mitte des 11. Jahrhunderts in die Geschichte eintrat, von den kirchlichen Juristen als eine medizinische Strafe, eine poena medicinalis gesehen, die man in heilender Absicht verabreichte2. Das Interdikt war eine Strafe, die zunächst gegen mächtige Herren verhängt wurde, die sich gegen die Kirche gestellt hatten, bevor es im späteren Mittelalter auch immer häufiger gegen Städte oder Gemeinden eingesetzt wurde, deren einzelne Angehörige ihre Schulden nicht bezahlten – worauf die Gläubiger beim bischöflichen Gericht ein Interdikt über den Heimatort der säumigen Schuldner erwirkten. Im 13. und 14. Jahrhundert kam es häufiger in kirchenpolitischen Konflikten zum Einsatz, wenn mächtige Herren kurialen Forderungen nach der Rolle der Kirche in ihrem Königreich oder Fürstentum nicht 1 2
Monumenta Erphesfurtensia Saec. XII. XIII. XIV., hg. v. Oswald holder-egger, (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores in Usum Scholarum 42), Hannover / Leipzig, 1899, 274. Vgl. dazu Martin kauFhold, Gladius spiritualis. Das päpstliche Interdikt über Deutschland in der Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1324 – 1347), 6 – 10 (Anfänge des Interdikts) und den Liber Sextus: VI.5,11,1.
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nachkamen. So verhängte Papst Johannes XXII. Interdikte gegen den schottischen König, gegen Florenz und gegen Ludwig den Bayern3. Das war das typische Muster: Der mächtige Kontrahent wurde exkommuniziert und über sein Herrschaftsgebiet wurde das Interdikt verhängt. Die seelische Not der Untertanen sollte den verantwortlichen Herrscher schneller zur Einsicht bewegen4. die dekretale Alma mater Bonifaz’ VIII. hatte nach einer Zeit wechselnder Erfahrungen mit dem Interdikt im 13. Jahrhundert am Ende des Jahrhunderts versucht, die künftige kirchliche Praxis im Umgang mit dem Interdikt zu regeln. Der Auftakt der Dekretale ist dabei ein ganz eindrucksvolles Eingeständnis kurialer Lernfähigkeit. Der ansonsten eher autoritär agierende Bonifaz räumt hier ein, dass die Kirche nach der Maßgabe der Vernunft Vieles regele und anordne, dass sie mit Blick auf den Nutzen der ihr Unterstellten später besser beraten und vernünftiger widerrufe5. die erlasse seiner Vorgänger hätten festgelegt, dass zu Zeiten des Interdikts, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, keinerlei Gottesdienst gefeiert werden dürfe – nulla divina celebrentur officia –, und keine Sakramente gespendet werden dürften. Aus dieser Vorschrift sei der Unglaube der Bevölkerung gewachsen, Häresien hervorgegangen und zahllose Gefahren für die Seelen entstanden. Daher gestatte man nun, dass den Lebenden das Bußsakrament gespendet würde. In Kirchen und Klöstern seien tägliche Messen und andere Gottesdienste erlaubt – bei gedämpfter Stimme und geschlossenen Türen. Exkommunizierte seien ausgeschlossen, und die Glocken dürften nicht läuten. An den Hochfesten weihnachten, Ostern, Pfingsten und Mariae Himmelfahrt seien feierliche Gottesdienste in vollem Umfang erlaubt6. Tatsächlich war das eine Vorschrift, die einigen Spielraum zu geben schien, allerdings muss man sich in Erinnerung rufen, dass weiterhin all das, was nicht ausdrücklich erlaubt war, verboten blieb. Das bedeutete, dass die letzte Ölung ebenso wie das kirchliche Begräbnis während des Interdikts untersagt blieben. Das war eine schwere Prüfung für die Familien, die einen Toten angemessen beisetzen wollten, und wo diese Beisetzung auch von der Gemeinde erwartet wurde. Insbesondere dann, wenn der Tote in der Stadt eine gewisse Rolle gespielt hatte. Häufiger erfuhren die Gläubigen die Einschränkung des Interdikts durch ihren Ausschluss von der wandlung und der Verehrung der Eucharistie. Sie wurde im späteren Mittelalter besonders verehrt, und diese Verehrung durch die Gläubigen drückte sich auch darin aus, dass Urban VI. 1389 den Fronleichnamstag in Hinblick auf das Interdikt auf eine Ebene mit den
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Zum Interdikt vgl. grundsätzlich: Franz koBer, Das Interdikt, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 21 NF 15 (1869), 3 – 45, 291 – 345 und ebd. 22 NF 16 (1869), 3 – 53; kauFhold, gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 6 – 27; Peter D. clarke, The Interdict in the Thirteenth Century. A Question of Collective Guilt, Oxford 2007; zu Johannes XXII. vgl. zuletzt Martin kauFhold, Die Kurie und die Herausforderungen der europäischen Politik: Standardverfahren oder abgestimmte Handlungsstrategien?, in: Papst Johannes XXII. Konzepte und Verfahren seines Pontifikats. Freiburger Colloquium 2012 (Scrinium Friburgense 32), hg. v. Hans-Joachim schmidt / Martin rohde, Berlin 2014, 263 – 279. kauFhold, Gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 15 f. Alma mater: VI, 5, 11,24. ebd.
Ausschluss aus dem Heiligtum. Das Interdikt als Erziehung zur kirchlichen Norm
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vier genannten Hochfesten stellte7. Als in Basel im Jahre 1345 das Interdikt nach 14 Jahren aufgehoben wurde, da – so schrieb der zeitgenössische Beobachter Heinrich von Nördlingen koment die hungrigen selen mit groszem Jamer zu gotz leichnam, des si in christlichem gehorsam wol xiiii jar gemangelt hand8. es war dabei weniger die Kommunion, zu der die Menschen vornehmlich an den – ohnehin vom Interdikt freigestellten – Hochfesten gingen, die den Menschen fehlte, es war die Anbetung des göttlichen Leibes in der gewandelten Hostie, die ihnen durch die geschlossenen Kirchentüren verwehrt war9. Die Zeit des Interdikts war eine Zeit im geistlichen Ausnahmezustand, und der große Kanonist Johannes Andreae, der 1348 starb, hielt in einer Glosse zur Interdikt-Dekretale Alma mater fest, dass er von Gelegenheiten gehört habe, bei denen ein Ort 30 oder 40 Jahre unter dem Interdikt gelegen habe. Als die Pfarrer die Messen dann wieder aufnahmen, lachten die Menschen über die Zelebranten. Sie hatten noch nie im Leben einen Gottesdienst erlebt. So eine Situation hatte der Dominikaner Johannes von Dambach 1348 vor Augen, als er sich an Karl IV. wandte, um dem römischen König die Folgen des langen Interdikts in Erinnerung zu rufen, welches seit 1324 auf Deutschland lag, aber nur unregelmäßig beachtet wurde. Die Menschen leben, schrieb er, „wie Häretiker und Schismatiker . . . sie sterben wie Häretiker . . .“ . Johannes verlangte klare Regelungen, wann und wie ein Interdikt in Kraft treten sollte. „Hätte es solche Regeln vor 40 Jahren gegeben, dann wären vielleicht hunderttausend Seelen im Himmelreich, die nun in der Hölle sind“10. Johannes nahm die Rechtsvorschriften des Interdikts ernst, und er nahm ihre Folgen ernst – anders als manche Zeitgenossen, wie er mit großer Sorge feststellte. wenn er sich umsah, sah er überall Menschen, die gegen die Regeln des Interdikts verstießen. Und was ihm besondere Sorge bereitete – wenn diese Menschen ihre Sünden bereuten und Buße tun wollten, dann fanden sie keine regulären Priester mehr, die ihnen das Sakrament der Buße spenden konnten. Denn es gab keine geeigneten Priester mehr, „weil sie nicht nur in solchen Orten unter dem Interdikt das Göttliche entweiht hatten, indem sie zu den Gottesdiensten Exkommunizierte zuließen, sondern weil sie auch die Körper der Gestorbenen auf den Friedhöfen bestatteten11. und seht, wie und wie schrecklich in dieser Gefahr für die Seelen die Ruhe des geistlichen Friedens für sie zerstört und ausgelöscht ist.“12 Johannes von Dambach meinte es ernst. wer gegen
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Vgl. kauFhold, Gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 254 f.; vgl. allgemeiner Peter BroWe, die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München 1933 (verschiedene Nachdrucke), besonders 83 f. Philipp strauch, Margarethe Ebner und Heinrich von Nördlingen, Freiburg-Tübingen 1882, 238 f. Vgl. BroWe, Die Verehrung der Eucharistie (wie Anm 7), 22 f., 28 und 50; kauFhold, gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 253 – 255. Albert auer, Eine verschollene Denkschrift über das große Interdikt des 14. Jahrhunderts, Historisches Jahrbuch 46 (1926), 532 – 549, hier: 548: Qualis declaracio si ante xl annos facta esset, forte centum milia animarum essent in celo, que nunc sunt in inferno. Ebd., 543. Ebd., 544.
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die Vorschriften des päpstlichen Interdikts verstieß, schloss sich selber vom Heil aus. Das Interdikt schloss die Menschen von der Teilhabe am Gottesdienst und an den Sakramenten aus. Das war eigentlich weniger schwerwiegend. Aber wenn ein solches Interdikt eine lange Zeit dauerte, war der Ausschluss vom Gottesdienst dann nicht auch ein Ausschluss vom Heil? Manche Medizin war bitter und manche Therapie konnte den Tod des Patienten zur Folge haben. Gerade, weil es die Zeitgenossen vor eine Entscheidung stellte, gibt das Interdikt uns wertvolle Hinweise auf die Bedingungen religiösen Verhaltens im späten Mittelalter, und es zeigt bei näherem Hinsehen auch die verschiedenen Vorstellungen von Sakralität. Dazu müssen wir einen kleinen Bogen schlagen, aber wir sollten das Problem vielleicht noch etwas deutlicher konturieren. Johannes von Dambach war ein konsequenter Mann. Seine Haltung zum Interdikt gegen Ludwig den Bayern führte dazu, dass er Straßburg verlassen musste. Gemeinsam mit seinen Mitbrüdern stellte Johannes von Dambach den öffentlichen Gottesdienst ein, als Ludwig 1330 von seinem Italienzug zurückkehrte – bei dem er sich ohne päpstliches Zutun zum Kaiser hatte krönen lassen und ein kurzlebiges Schisma heraufbeschwor. Daraufhin wurden die Dominikaner aus der Stadt vertrieben, die jeden Konflikt mit dem Herrscher vermeiden wollte, der den Straßburger Handelsinteressen schaden konnte13. Ganz anders entschieden sich die Regensburger Geistlichen, wobei wir hier auf vor allem einen Mann blicken wollen, dessen Verhalten gegenüber dem exkommunizierten Ludwig dem Bayern in einer interessanten Kasseler Handschrift überliefert ist. Es ist eine Sammelhandschrift des Trierer Offizials Rudolf Losse, die einen Regensburger Streit um eine Domherrenpfründe überliefert. Beide Seiten richteten ihre Schreiben an die päpstliche Kurie in Avignon14. Dabei ging es auch um das Verhalten angesichts des päpstlichen Interdikts gegen Ludwig den Bayern. Beide Seiten führten zu ihrer Entlastung konkrete Beispiele für den freieren Umgang mit dem Interdikt in Regensburg an. Die hier in Rede stehende Passage entstammt einer Randbemerkung des Chronisten Heinrich Taube von Selbach, der das Regensburger Domkapitel in dem Streit vertrat. „Beachte auch, dass Bruder Albertus, Abt des Klosters St. Emmeram . . . vor dem besagten Bayern und der Ehefrau des Genannten mit dem Konvent und den Mönchen feierlichen Gottesdienst feierte (und ihn zuließ).“ Tatsächlich war die Feier des Gottesdienstes an einem Ort unter dem Interdikt in der Gegenwart desjenigen, der die Ursache des Verbotes war, ein besonders schwerer Verstoß, der den Verantwortlichen seines Amtes enthob. Das wusste der Abt von St. Emmeram auch. Albert von Schneidmühlen war ein gebildeter Mann, dessen
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Vgl. zu Straßburgs Haltung zum Interdikt kauFhold, Gladius spiritualis (wie Anm. 2), 129 – 150. edmund ernst stengel / Klaus schäFer, Nova Alamanniae. Urkunden, Briefe und andere Quellen besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts, Hannover 1976, Nr. 1344, 779. Zur Bibliothek unter Abt Albert St. Emmeram vgl. Berhard BischoFF, Studien zur Geschichte des Klosters St. Emmeram im Spätmittelalter, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 65 (1953/54), 152 – 198, hier: 152 – 155.
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Interesse für kirchliches Recht sich im Kauf einschlägiger Handschriften niederschlug15. Zudem verdankte Abt Albert Papst Johannes XXII. persönlich sein Amt. Der Papst hatte ihn eingesetzt, als der alte Abt von St. Emmeram während eines Avignon-Aufenthaltes verstarb. Albert hatte seinen Abt begleitet und folgte nun in seinen Fußstapfen. Er war nicht unerfahren im kirchlichen Recht und er wusste, was er tat, wenn er in Gegenwart Ludwigs gegen das Interdikt verstieß. Er war ein Mann mit ernsthaften geistlichen Zielen, seine über 30-jährige Amtszeit wird zu den „glänzendsten Perioden“ des Klosters gerechnet16. wir können weitgehend ausschließen, dass er leichtfertig handelte. Die sehr unterschiedliche Reaktion zweier Ordensleute auf das Interdikt gegen Ludwig den Bayern zeigt die Spannung, vor die das Verbot die Zeitgenossen stellte – und sie zeigt auch die Grenzen der Maßnahme. Diese Grenzen lassen uns einige Eigenheiten spätmittelalterlicher Sakralität vielleicht noch etwas klarer fassen. Dazu müssen wir einen etwas genaueren Blick auf das Interdikt werfen. Es gab einige Unwägbarkeiten. Der Abt von St. Emmeram, der in der Gegenwart Ludwigs des Bayern die Messe zelebrierte, riskierte damit offenbar noch nicht, sein Amt zu verlieren. „Der, der wissentlich in der Gegenwart [einer Person] zelebriert, die der Exkommunikation unterliegt, verfängt sich nicht in der Schlinge der Irregularität, obgleich er unbesonnen handelt.“17 So formulierte es das einschlägige Kirchenrecht, der Liber Sextus Bonifaz’ VIII. Man könnte darin ein Entgegenkommen mit Blick auf drohende Gewalt sehen, die von einem Exkommunizierten ausgehen konnte (und in vielen Fällen auch ausging), würde das einschlägige Kapitel nicht mit der Feststellung fortfahren, dass das nicht gelte, wenn der Zelebrant wissentlich an einem Ort den Gottesdienst feiere, der unter einem Interdikt liege18. Vielleicht fragte sich der Abt von St. Emmeram, ob sein Kloster, oder ob die Stadt Regensburg unter dem Interdikt lag. Denn Papst Johannes hatte das Interdikt über jene Gebiete verhängt, die die Herrschaftsgewalt Ludwigs des Bayern anerkannten. Das galt zwar für den größeren Teil der Bürgerschaft, aber der Bischof von Regensburg, Nikolaus von Ybbs, hatte im Januar 1325 einen Eid ablegte, dass er Ludwig nicht als König unterstützen wolle, solange dessen Zerwürfnis mit dem Papst andauere19. Der Bischof erkannte Ludwig also nicht an. Lag die Stadt tatsächlich unter dem Interdikt? Das Kirchenrecht lenkte das Augenmerk auf die Örtlichkeit. Das Problem bestand darin, dass die Verhängung des Interdikts in vielen Fällen nicht ausdrücklich mitgeteilt wurde. Die päpstliche Bekanntmachung des Interdikts über Deutschland vom März 1324, die von den Bischöfen im Reich verbreitet werden sollte, war ein langes und umständliches Dokument20. Es referierte den Konflikt mit König Ludwig dem Bayern über die deutsche Königswahl, der zur Verhängung 16 17 18 19 20
Ebd., 152; vgl. ebenso Franz Fuchs, Das Reichsstift St. Emmeram, in: Geschichte der Stadt Regensburg, Bd. 2, hg. v. Peter schmid, Regensburg 2000, 730 – 744, hier: 736. VI,V,XI,18. ebd., Is vero, qui scienter in loco celebrat supposito interdicto, (. . .) irregularitatem incurrit. Monumenta Germaniae Historica Constitutiones et Acta Publica Imperatorum et Regum, Bd. VI.1, hg. v. Jakob schWalm, Hannover 1914 – 1927, Nr. 2. Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et Acta Publica Imperatorum et Regum, Bd. V, hg. v. Jakob schWalm, Hannover-Leipzig 1909 – 1913, Nr. 881.
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der Strafe geführt hatte. Aber es benannte die vom Interdikt betroffenen Gebiete nicht mit Namen, vielmehr drohte es den Amtsträgern, die Ludwig dem Bayern als König Gefolgschaft leisteten, die Exkommunikation und den Verlust kirchlicher Ämter an, ihre Gebiete fielen unter das Interdikt. Tatsächlich sollte das Interdikt dann durch die Tat selbst eintreten – also durch die Gefolgschaft gegenüber dem gebannten König: ipso facto, wie die Juristen sagten. Und die jeweiligen Amtsträger wurden mit apostolischer Autorität gemahnt, sich so durch die päpstlichen Prozesse gebunden zu sehen, als ob sie „ausdrücklich und im Besonderen mit eigenem Namen genannt worden seien“21. Auf diese weise behalfen sich die kirchlichen Juristen in unübersichtlichen Situationen, sie verhängten ein Urteil latae sententiae, einen schwebenden Urteilsspruch, der mit dem Fehlverhalten sogleich eintrat. Die Voraussetzung dafür war, dass der Prozess und seine Folgen bekannt waren. Das war nicht leicht, angesichts der Entfernungen, der primitiven Kommunikationsmittel und auch der Gefahren, die für päpstliche Boten auf dem Weg lauerten22. Als etwa der Bote des Salzburger Erzbischofs mit dem päpstlichen Prozesse und dem Auftrag der Verkündung von Exkommunikation und Interdikt gegen Ludwig den Bayern nach Regensburg gelangte, fand er den Bischof nicht vor. Der Bischof hatte sich auf seine Burg Donaustauf zurückgezogen. Am Burgtor traf der Bote auf vier bewaffnete Männer, die ihm nur unklare Auskünfte über den Aufenthaltsort des Bischofs gaben. Als sie aber erfuhren, was der Bote überbringen wollte, hielten sie ihn fest und sperrten ihn über Nacht ein. Am nächsten Morgen gaben sie ihm zu verstehen, dass er verschwinden solle, und sie bedeuteten ihm, dass er sein Leben riskiere, wenn er die Briefe öffentlich bekanntmache. Erschreckt warf der Bote die Verkündigung des Interdikts in die Donau23. Der Propst Nikolaus von Bernau bezahlte seinen Versuch, das päpstliche Interdikt in Berlin-Cölln zu verkünden, mit dem Leben24. Der Gültigkeit des Interdikts schadete das nicht unbedingt, denn die Kurie hatte in den Kämpfen mit den mächtigen Königen Europas die Position entwickelt, dass ein Interdikt, das durch einen Anschlag am Portal der Hauptkirche des Ortes bekannt gemacht worden sei, in dem sich der Papst aufhalte, volle Geltung besitze25. das war die Haltung päpstlicher Juristen. Dem Rechtsverständnis der Zeitgenossen in der ausgedehnten Christenheit entsprach das nicht unbedingt. Und wenn die Schotten sich in derselben Zeit wie Ludwig der Bayer mit einem päpstlichen Interdikt belegt sahen, das auf diese formale weise in Avignon öffentlich gemacht wurde, dann musste sie das nicht unbedingt beeindrucken. Sie wehrten sich ja schon nach Kräften gegen die Rechtsauffassungen des englischen Königs, die ihnen eigentlich näher waren26.
21 22 23 24 25 26
Ebd., 697: ac si propriis eorum nominibus nominati essent specialiter et expresse. Vgl. grundsätzlicher: Martin kauFhold, Öffentlichkeit im politischen Konflikt: Die Publikation der Kurialen Prozesse gegen Ludwig den Bayern in Salzburg, Zeitschrift für Historische Forschung 22 (1995), 435 – 454. Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones V (wie Anm. 20), Nr. 973, 811. siegmund riezler (Hg.), Vatikanische Akten zur deutschen Geschichte in der Zeit Ludwigs des Bayern, Innsbruck 1891, Nr. 557; vgl. kauFhold, Gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 86. Vgl. dazu kauFhold, Öffentlichkeit im politischen Konflikt (wie Anm. 22), 436 – 438; vgl. auch ders., Die Kurie und die Herausforderungen der europäischen Politik (wie Anm. 3). kauFhold, Die Kurie und die Herausforderungen der europäischen Politik (wie Anm. 3).
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Tatsächlich war die Lage ziemlich unklar, wie der Franziskaner Johann von winterthur über die Situation in Deutschland berichtete. Über die Situation nach der Rückkehr von Ludwig dem Bayern aus Italien, als Johannes von Dambach aus Straßburg vertrieben wurde, weil er das Interdikt einhielt und als der Abt von St. Emmeram in Regensburg in der Gegenwart Ludwigs die Messe trotz des Interdikts feierte, schrieb Johannes: „Und in der Zwischenzeit wurde der Klerus schwer gedrängt und gezwungen, den Gottesdienst wieder aufzunehmen, und viele willigten ein, weder das verhängte Urteil [lata sententia] noch die göttliche Rache fürchtend.“27 Viele aber weigerten sich, den Gottesdienst wieder aufzunehmen, et sic tandem facta fuit lamentabilis difformitas ecclesiarum28. Tatsächlich beförderte die unterschiedliche Haltung zum Interdikt gegenseitiges Misstrauen und Ablehnung. Singende und Nicht-Singende (d. h. das Interdikt Beachtende) beurteilten sich gegenseitig übel. Nicht einmal die gleiche Haltung zum Interdikt hätte untereinander für Solidarität gesorgt, sowohl die Singenden als auch die Schweigenden hätten sich untereinander gegen die anderen abgeschottet. „Dieser beklagenswerte Gegensatz aber wurde nicht nur durch die Unterschiede im Bewusstsein hervorgerufen, . . . sondern rührte auch daher, dass die Rechtsgelehrten, die man darüber befragte, die Vorschriften des kirchlichen Rechts unterschiedlich auslegten.“29 Dass Juristen einen Sachverhalt unterschiedlich beurteilen, wunderte den einfachen Franziskaner, den historischen Beobachter überrascht es nicht. Der widerstreit der Auslegungen ist ein Lebensgesetz der Juristen. Die Frage war, wie ging man als Betroffener damit um? Für den Dominikaner Johannes von Dambach war die Situation dramatisch. Denn der vielfache Verstoß gegen das Interdikt hätte dazu geführt, „dass unter tausend Priestern kaum einer, vielleicht [eher] keiner ist, wenn er sich nicht in die Abgeschiedenheit zurückgezogen hat, der nicht irregulär ist oder suspendiert oder exkommuniziert“30. Johannes entwarf für Karl IV. das Szenario persönlicher Gefahr. Konnte der Herrscher sicher sein, seine Sakramente nicht von einem solchen Priester zu empfangen? Dazu kam die Zahl der vielen ehemaligen Anhänger Ludwigs des Bayern, die an seinen Hof kamen und noch immer unter dem päpstlichen Bann standen. wenn der König durch Gebiete reiste, die ehemals unter dem Interdikt gestanden hatten, waren dann bei der Feier des gottesdienstes nicht Geistliche anwesend, die das Interdikt gebrochen hatten und eine Strafe auf sich gezogen hatten – vor der sie die Unkenntnis des Rechts nicht schützte, – und von der sie nur der Papst lossprechen konnte31? Denn vom päpstlichen Interdikt konnte ein Betroffener nur durch die päpstliche Absolution befreit werden32. 27 28 29 30 31 32
Die Chronik Johanns von winterthur, hg. v. Friedrich Baethgen, Berlin 1924 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores Rerum Germanicarum, Nova Series 3), 91. ebd., 91. ebd. auer, Eine verschollene Denkschrift (wie Anm. 10), 544. Ebd., 544 f. Vgl. Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones V (wie Anm. 20), Nr. 881 und kauFhold, Gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 27 und 264 – 298.
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Johannes von Dambach führt uns hier in gewisser weise in die dramatische wirklichkeit seiner Zeit, denn Johannes beschreibt das Fortwirken eines Interdikts, das nicht durch eine allgemeine päpstliche Absolution aufgehoben worden war, im Grunde als eine geistliche Pandemie. Es ist wahrscheinlich, dass die Erfahrung der realen Pest 1348 auf dieses Bild eingewirkt hat33. Der Traktat des Johannes zu den wirkungen des Interdikts in Deutschlands fiel in die Jahre der Pest oder direkt nach der Pest. Die Pandemie klingt an, wenn er die Gefahren beschreibt, denen die Zeitgenossen ausgesetzt waren: magna contagione pestifera peribit mundus cum inmundo. In der großen pestgleichen Ansteckung geht der Reine mit dem Unreinen unter, wobei bei mundus zumindest die Lesart als Welt gelesen werden könnte. Dann war die Gefahr noch größer. Die zum Teil unerkannte Verbreitung der Folgen des Interdikts (nicht nur in Deutschland) gefährdete für Johannes von Dambach das Seelenheil einer großen Zahl von Gläubigen. Allerdings war die Diagnose eine Aufgabe des letzten Gerichts, denn der Papst mochte ein Interdikt ipso facto verhängen, die Urteilsfolgen für das Seelenheil waren nicht sofort erkennbar. Damit stehen wir letztlich vor der Frage nach den Bedingungen der Sakralität, den Erwartungen, die die zeitgenossen an die Wirkungsbedingungen des Heils stellten. konnte die Wirkung eines allgemeinen päpstlichen Interdikts, das nicht die Folge des individuellen Fehlverhaltens der einzelnen Untertanen war, die Menschen dennoch vom Heil ausschließen? Es war deutlich einfacher, sie aus dem Kirchenbau auszuschließen, weswegen Bonifaz VIII., der die Regeln des Interdikts am eindeutigsten fasste, auch die räumliche Erstreckung des Interdikts möglichst klar regelte. wenn eine Kirche unter das Interdikt fiel, dann galt dieses Interdikt auch für die angeschlossenen Kapellen und den Friedhof, auf dem keine toten bestattet werden durften. Wenn eine stadt unter dem Interdikt lag, dann waren auch die Vorstädte interdiziert34. So waren Grenzen gezogen, die die Menschen überschreiten konnten, um in die Umgebung zu gelangen, wo man weiter Gottesdienste feiern durfte. Auf diese weise ließen sich für die Dauer eines Interdikts und eines Konfliktes sakrale Räume von entheiligten Räumen trennen. Und auch die Klagen über die Übertretungen des Interdikts lassen erkennen, welche Bedeutung die Menschen den Räumen zumaßen, in denen die Gottesdienste gefeiert wurden: „Den häufigen Klagen der Prälaten entnehmen wir . . .“, so stellte Papst Clemens V. 1311/12 auf dem Konzil von Vienne fest, „dass die Mönche häufig versuchen, allgemeine Interdikte über Städte, Länder und andere Orte in verdammungswürdiger Anmaßung zu brechen, nicht ohne durch Schaden für die Kathedralkirche und die Pfarrkirchen und durch viele Ärgernisse die Stärke der kirchlichen Disziplin zu beschädigen, bald indem sie sich offen auf aufgeputzte und bedeutungslose
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Vgl. zur Pest um 1348 zuletzt: Ole Jørgen BenedictoW, The Black Death 1346 – 1353: The Complete History, woodbridge 2004; Klaus Bergdolt, Der schwarze Tod in Europa. Die große Pest und das Ende des Mittelalters, 5. Aufl., München 2003; Manfred vasold, Die Pest. Das Ende eines Mythos, Darmstadt 2003. VI,5,11,17.
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Entschuldigungen stützen, bald indem sie im verborgenen ihre Türen durchlöcherten oder mit Fenstern versehen oder andere erfindungsreiche wege finden.“35 Die Mönche öffneten zwar nicht ihre Türen, um die Menschen in den sakralen Raum einzulassen – von dem sie das Interdikt aussperrte –, aber sie öffneten immerhin ihre Fenster, um den Blick in den sakralen Raum und die dortige heilige Handlung zu erlauben. Die konkrete Beziehung der Gläubigen zu den Riten des Glaubens und ihren Orten war wichtig. Sie konnte sich auch in den Reaktionen der Menschen auf die Aussperrung aus der Kirche niederschlagen. Die Straßburger Augustinereremiten etwa befolgten das Interdikt gegen Ludwig den Bayern im 14. Jahrhundert 17 Jahre lang. Do ging das volk von in und anderswo hin, das in nütschet wart geben noch geopfert. Und würdent si arm, daz sü bi verdurbent, wie der Chronist Jakob Twinger von Königshofen vermerkte36. Erst die Rückkehr zum öffentlichen Gottesdienst brachte die Bürger zurück. Die religiöse Haltung der Zeitgenossen äußerte sich durchaus in solchen Szenarien des do ut des. Sie waren nur begrenzt abstrakt und damit auch an konkrete Orte gebunden. Es gab aber auch die anderen Stimmen, Stimmen wie Johannes von Dambach. Eindringlich sprach er zu König Karl von der Kirche, die aus lebendigen Steinen gebaut war37. Er stellte sie den vielen Kirchenbauten gegenüber, die Karl IV. wieder errichtet habe. Der König, der die Gebeine des heiligen wenzels in ein würdigeres Gefäß überführt habe – müsse er nicht dafür sorgen, dass der Leib des Herrn selbst nicht mehr in den verunreinigten Gefäßen der Sünder aufgenommen werde38? Der unsichere Status vieler Kleriker infolge des Interdikts, gegen das sie verstoßen hatten, beschmutze das Sakrament der Eucharistie, „nicht ohne die schwerste Beleidigung Gottes wird [der Leib unseres Herrn Jesus Christus] beschmutzt in den schmutzigen Händen der Sünder und in ihren Mündern“39. Hier standen unterschiedliche Kirchenbilder im Hintergrund. Für Johannes von Dambach war die Kirche erst in zweiter Linie ein Ort. Sie war vor allem die sakrale Gemeinschaft der Gläubigen, die nach den göttlichen Regeln lebten. wobei diese Regeln die Regeln des kanonischen Rechts waren. Sie erschienen ihm dabei klarer als manchem Juristen, die sich ja keineswegs einig waren. Für Johannes hing die sakrale würde des Geschehens von der Haltung und dem Verhalten der Zelebrierenden ab. Die wirkung des jeweiligen Interdikts war indessen von konkreteren Faktoren abhängig. In den Anfangszeiten des Interdikts hatten die kurialen und kirchlichen Juristen noch gezögert, ob das Interdikt die Personen oder den Ort binden sollte. Es gab tatsächlich ein Personalinterdikt, das einzelne Handlungen verbot, aber die Person
35 36 37 38 39
clem. V,10,1. Die Chronik des Jacob Twinger von Königshofen, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg, Bd. 1 – 2 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in das 16. Jahrhundert, Bd. 8 – 9), hg. v. Carl hegel, Leipzig 1870 – 71, Bd. 2, 737. auer, Eine verschollene Denkschrift (wie Anm. 10), 542. Ebd., 543. ebd.
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nicht aus der Kirche ausschloss40. Das waren Subtilitäten, die kaum breiter vermittelbar waren. Entscheidend für das Interdikt war in den Augen der meisten Menschen der sakrale Raum, aus dem sie ausgeschlossen wurden, und dessen Grenzen zu Orientierungslinien wurden (die man auch überschreiten konnte). Entsprechend versicherte sich der Rat von Städten wie Straßburg für den von ihm gestifteten Altar im Straßburger Münster eines Privilegs, das den Gottesdienst auch in Zeiten des allgemeinen Interdikts erlaubte41. Die Verantwortung für den konkreten Altar gehörte zum Selbstverständnis des Straßburger Rates, sie war Teil seiner Identität. Das sakrale Geschehen war für die meisten Zeitgenossen an einen Ort gebunden (und das ist es ja noch heute). Daher entschied sich das Schicksal des jeweiligen Interdikts, sein Erfolg oder Misserfolg auch vor Ort. Es ist zum Beispiel in Hinblick auf ein solch breit ausgerufenes Interdikt wie im Falle der Kurie gegen Ludwig den Bayern zu beobachten, dass die örtlichen Kirchen mit ihrem regional und lokal gebundenen Klerus nach einiger Zeit kompromissbereiter waren, als etwa die Dominikaner, die nicht standortgebunden waren. Das hatte natürlich mit dem Druck zu tun, der auf familiär und sozial in die Stadt oder das Umland eingebundene Geistliche stärker ausgeübt werden konnte – und auch ausgeübt wurde. Es ging hier durchaus nicht nur um geistliche Konflikte. Aber es hatte doch vor allem mit der Rechtfertigung einer so weitgehenden Maßnahme zu tun. Sie schloss die Gläubigen von den Sakramenten aus, von der Verehrung der Eucharistie, in quo maxime dependet devocio modernorum, wie der Franziskaner Johann von winterthur in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts schrieb42. Für einen solchen Schritt brauchte es eine Begründung, die man dort verstand, wo man betroffen war. Im Fall der kurie gegen ludwig den bayern ging es um die Frage der päpstlichen Anteile an der deutschen Königswahl. Das war eine Frage, zu deren beantwortung die meisten der betroffenen zeitgenossen keinen beitrag leisten konnten. Zudem erschienen Vielen die päpstlichen Ansprüche überzogen. Natürlich gab es Zeitgenossen, wie auch Johannes von Dambach, die päpstliche Entscheidungen nicht infrage stellten, aber für die Meisten war der Papst weit weg, die Herausforderung durch das Interdikt aber lag vor Ort. Hier wurde der Verlust erfahren, hier musste sich die Erklärung für den Ausschluss aus dem sakralen Raum, den das Dorf mit eigenen Händen errichtet hatte, oder den die Bürger mit ihren Mitteln finanziert hatten, bewähren. Bei allgemeinen Interdikten, die nicht nur im Falle Deutschlands ein ganzes Königreich betrafen – vergleichbare Situationen gab es zur selben Zeit in Schottland oder zu Beginn des 13. Jahrhunderts in England – beeinträchtige die notwendige Bewährung vor Ort die wirkung in vielen Fällen43. und diese
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Vgl. zu dieser Entwicklung kauFhold, Gladius Spiritualis (wie Anm. 2), 11 – 13. Urkundenbuch Straßburg, Bd. 2, Politische Urkunden von 1266 bis 1332, hg. v. wilhelm Wiegand, Straßburg 1886, Nr. 500. Die Chronik Johanns von winterthur (wie Anm. 27), 64. Zu Schottland im 14. Jahrhundert vgl. kauFhold, die kurie und die Herausforderungen der europäischen Politik (wie Anm. 3); zu England Christopher Robert cheney, King John and the papal interdict, Bulletin of the Rylands Library Manchester 31 (1948), 295 – 317.
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Notwendigkeit einer lokalen Begründung mag auch eine Erklärung für das eigenwillige Phänomen sein, dass lokale Interdikte, die etwa wegen säumiger Zahlungsmoral über die Gemeinde des Schuldners verhängt wurden, sich bis in das späte Mittelalter einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Auch hier war die Begründung in fast anstößiger weise materiell für eine so weitreichende geistliche Sanktion. Aber sie lag im Erfahrungshorizont der betroffenen Menschen, so wie der Ausschluss aus dem Heiligtum. Man mag das für zu konkret halten, aber diese Verankerung im erfahrbaren Alltag war auch eine Stärke des mittelalterlichen Christentums.
HeIlIgkeIt und deVIAnz IN VORMODERNEN KONTEXTEN PERSPEKTIVEN EINER MÖGLICHEN SYSTEMATISIERUNG gordon blennemann dieser essay1 am Ende eines sehr facettenreichen und thematisch breit angelegten Tagungsbandes ist keine Zusammenfassung im klassischen Sinne, insofern als er eine separate inhaltliche würdigung der einzelnen Aufsätze bewusst ausklammert. In Form einer durchaus von persönlichen Leitfragen bestimmten Auseinandersetzung mit den einzelnen Beiträgen möchte ich vielmehr übergreifende Beobachtungen zur Diskussion stellen, die auf mir zentral erscheinende Spezifika von Devianzphänomenen im Bereich des Sakralen in vormodernen Kontexten verweisen, und mit denen ich zugleich (im Hinblick auf weitergehende Untersuchungen) für Grundfragen der methodischen Erschließung solcher Phänomene sensibilisieren möchte. Ich verstehe meine Überlegungen dabei auch als Klammer zum einleitenden Beitrag von Andreas Nehring. Somit führt der Band gleichsam von der religionswissenschaftlichen Theoriebildung zur Empirie von Devianzphänomenen im Bereich des Sakralen wieder zurück zu einer systematisierenden Abstraktion aus mediävistischgeschichtswissenschaftlicher Perspektive. Als einen in methodischer wie diskursiver Hinsicht zentralen Ausgangpunkt möchte ich die von Andreas Nehring aufgegriffene Kritik an einer potentiellen Fehlstelle in Clifford Geertz’2 kultursemiotischem Ansatz aufgreifen, die insbesondere von seinen anthropologischen Fachkollegen intensiv diskutiert wurde. Geertz legt in der Tat einen deutlichen Schwerpunkt auf den Aussage- bzw. Bedeutungsgehalt symbolischer Handlungen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Produktion und Konstruktion und damit diachron betrachtet auch die Prozesshaftigkeit in der bewussten oder unbewussten Ausbildung von Bedeutungen Gefahr laufen, aus dem Blickfeld der Analyse kultureller Handlungen zu geraten oder erst gar nicht berücksichtigt zu werden, auch wenn Geertz einen dezidiert offenen Kulturbegriff vertritt. Es liegt auf der Hand, dass allen voran ein historisch motivierter Interpretationsansatz ohne die kontextbezogene analytische Durchdringung kultureller Dynamik und Varianz von Bedeutungen nicht auskommt. 1 2
Auf Anmerkungen wird daher weitgehend verzichtet. Ich danke Claudia Alraum, Matthias Maser wie auch den Referenten und Tagungsteilnehmern für anregende Diskussionen. Alle eventuellen Fehler gehen selbstverständlich zu meinen Lasten. Siehe vor allem die programmatische Schrift geertz, Clifford, Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture, in: The Interpretation of Cultures: Selected Essays, hg. v. dems., New York 1973, 3 – 30.
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Vielleicht verweist diese Kritik aber nicht einmal auf das eigentliche Problem des Geertz’schen Ansatzes. Geertz hat sich bei der Entwicklung seines Kulturmodells und den damit verbundenen analytischen Praktiken von Strukturalismus und Formalismus bewusst abgesetzt. Es ist allerdings evident, dass das konsequente Lesen von Kulturen im methodischen Rahmen der Textmetapher dennoch zu dem Anspruch führt, den textinterpretatorischen Modellen der russischen Formalisten (insbesondere Vladimir Propps3) entsprechend von einer Zeichenebene von Kulturen zu ihrer Tiefenstruktur vorzudringen. Nun ist insbesondere von der neueren narratologischen Forschung4 die Existenz einer Tiefenstruktur des Textes mit Nachdruck bezweifelt worden. Dies erzwingt aus meiner Sicht eine analoge Feststellung im Hinblick auf das Geertz’sche Kulturmodell: wenn sich die Zeichenebene von Kulturen selbst als von Menschen konstruiert und als in fortwährenden Aushandlungsprozessen modifiziert erweist, dann können auch kulturelle Systeme, zu denen Religionen zweifellos gehören, keine Tiefenstruktur besitzen. Dies ist (zumindest aus meiner Sicht) eine überaus entlastende Erkenntnis, die in der Tat den weg zur Diskursanalyse in der Tradition Michel Foucaults ebnet, insofern als dort gerade das Prozesshafte in der Produktion von Bedeutungen eine gleichsam ontologische Prämisse darstellt. Nach wie vor tun sich jedoch gerade Historikerinnen und Historiker sogenannter quellenarmer Zeiten mitunter schwer, Zugang zu diskursanalytischen Überlegungen zu finden. Der Verweis auf mangelndes empirisches Material ist dabei (aus meiner Sicht) weniger als Ausdruck genereller Skepsis denn als Ausweis methodischer Aufrichtigkeit im Umgang mit einem analytischen Ansatz zu verstehen, der (was Michel Foucaults Ordre du discours anbelangt) seinen Ursprung in einem spezifischen ideologischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext genommen hat. Unter der methodischen Prämisse der Vollständigkeit kann in der Tat die Frage gestellt werden, ob die textuelle, bildliche und materielle Überlieferung etwa des Frankenreichs des 9. Jahrhunderts die Rekonstruktion der Diskurszusammenhänge der karolingischen Gesellschaft des 9. Jahrhundert ermöglicht. Abgesehen aber von der Frage, ob Kategorien wie „die karolingische Gesellschaft“ oder allgemeiner „die mittelalterliche Gesellschaft“ als analytische Referenzen tragfähig sind, ist solchen Befürchtungen eher beruhigend als ermahnend zuzusprechen, dass Michel Foucaults Diskursanalyse nie als holistisches Konzept gedacht war. Eine Ausrichtung an den Anforderungen eines naturwissenschaftlichen Versuchsaufbaus verkennt vielmehr ihre ziele. Im thematischen Kontext dieses Bandes wäre eine Hinwendung zu diskursanalytischen Ansätzen dann vor allem im Sinne einer analytische Schärfung zu sehen, die es ermöglicht, Diskussionen und Positionierungen hinsichtlich der Frage der Abweichung von Heiligkeit in breitere machtbezogene Diskurszusammenhänge 3 4
Wladimir ProPP, Morfologija skazki, Leningrad 1928 zur Morphologie des russischen Zaubermärchens. Französische Übersetzung: Morphologie du conte, hg. v. Evgenij meletinskiJ u. a., Paris 1973. Aus dem mediävistischen Kontext etwa Armin schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin u. Boston 2012, 16 – 17.
Heiligkeit und Devianz in vormodernen Kontexten
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einzubetten und dahingehend zu beschreiben. Ich möchte hierzu auf eine knappe Beispielsituation eingehen: Im Zusammenhang der christologischen Auseinandersetzungen in der Gallia des 5. und frühen 6. Jahrhunderts werden jenseits der rein dogmatischen Ebene verschiedene Strategien zur Durchsetzung politischer Interessen und Stabilisierung von Machtpositionen der Herrschaftsträger, etwa der burgundischen oder ostgotischen Könige sichtbar, die sich auf die Rahmenbedingungen der Glaubenspraxis im Alltag auswirkten. Die Alltagsrealität lag damit jenseits einer eher politisch-polemisch einzuschätzenden Polarisierung in katholisch und arianisch oder homöisch. wie das komplexe Gefüge dogmatischer Positionen innerhalb der burgundischen Königsfamilie verdeutlicht, war nicht einmal das Argument der Masse entscheidend, um eine klare Trennlinie zwischen Orthodoxie und Devianz festzulegen. Entscheidend war allenfalls, wie weit etwa die dogmatische Position eines Königs einer andersgläubigen Öffenlichkeit, d. h. im konkreten Fall wohl ab einem gewissen Punkt der katholische Mehrheit bekannt war. Im Hinblick auf die Frage der methodischen Realisierbarkeit diskursanalytischer Ansätze spricht auch die weitgehende Karenz von Selbstzeugnissen nicht zwingend dafür, dass hinsichtlich der Frage der „richtigen“ oder „falschen“ Positionierung des Menschen gegenüber dem Heiligen nur der Standpunkt derjenigen greifbar sei, welche die Deutungshoheit besaßen. Dies zeigen in aller Deutlichkeit die zahlreichen aus dem Mittelalter überlieferten Heiligenpredigten: In der Entfaltung eines Heiligen als Modellcharakter tritt uns – trotz aller hagiographischer Präzision der Topoi – das Bewusstsein des Predigers entgegen, dass er mit seiner Predigt das Modell dem ethisch-moralischen Urteil des Gläubigen aussetzte. So wie der Autor im hermeneutischen Konzept Paul Ricœurs5 dazu gezwungen war, das wagnis einzugehen, seinen Text der Interpretation durch den Leser anzuvertrauen, so übergaben Prediger und Hagiographen Heiligenmodelle dem Gläubigen, mit der Aufgabe, diese in seinen je spezifischen Alltag einzubetten. Die Kontrolle über den rechten Umgang mit diesem Modell blieb dabei naturgemäß begrenzt. Methodisch hieße dies für uns, dass für die Erschließung und Deutung unterschiedlicher Positionierungen gegenüber dem Heiligen diskursanalytische Zugänge hermeneutische Ansätze in ihrer wertigkeit nicht aufheben. In dieser Erkenntnis liegt eine zentrale methodische Leistung der Arbeiten Ricœurs. Diskursanalyse und Hermeneutik fließen gleichsam ineinander, indem der hermeneutische Zugang im Sinne einer ethisch-moralischen Alltagpragmatik im Angesicht des Heiligen selbst in zeitbezogene diskursive Kontexte eingebettet wird. Und dies gilt mit Nachdruck nicht allein für Texte, sondern auch für Bilder und Objekte, deren formale Spezifik sich nicht einfach in diskursiven Zusammenhängen auflöst. Hier liegt die Chance zum Greifen nahe, deutlicher als bisher vielleicht geschehen, unterschiedliche hermeneutische Traditionen geisteswissenschaftlicher Teildisziplinen miteinander zu verknüpfen. Im Nebeneinander der einzelnen Beiträge reicht dies mitunter bis hinunter
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Paul ricœur, The Model of the Text: Meaningful Action Considered as a Text, Social Research: An International Quarterly of the Social Sciences, 38 (1971), 529 – 562.
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auf die Ebene der sprachlichen Vermittlung, wenn wir etwa an die zwingend interpretatorischen Konsequenzen der sprachlichen Übersetzung von Sanskrittexten in westliche Sinnkontexte denken. In ihrer Bedeutung für den analytischen Zugang zu Devianzphänomenen scheint mir schließlich eine letzte methodische Beobachtung bedeutsam, die ich zumindest knapp erläutern möchte, bevor ich zu eher inhaltlichen Systematisierungen übergehe: Alle untersuchten Beispiele zeigen, dass Diskussionen um Abweichung und Konformität im Zusammenhang des Sakralen vor allem auch als Diskussionen um Formen, näherhin um die wahl der richtigen Repräsentationsformen in Bezug auf einen gesellschaftlich akzeptierten Referenzrahmen geführt wurden. Im Kontext christlicher Traditionsbildung des Heiligen ist dies vor allem der Referenzrahmen der Heilsgeschichte. Dies scheint mir der Tatsache geschuldet, dass die in den einzelnen Beiträgen untersuchten Erscheinungsformen des Devianten als kulturelle Phänomene dem Idealtypus einer Präsenzkultur nahe stehen. Ich will damit sagen, dass kulturelle Formen der weltaneignung in vormoderner Zeit nicht zwingend im Kontext einer allgemeinen Sinnstiftung stehen, wie wir sie aus post-cartesianischen Zusammenhängen kennen. Im Idealtypus einer Präsenzkultur liegen die Dinge gleichsam, wie Hans Ulrich Gumbrecht6 auf den Punkt gebracht hat, diesseits der Hermeneutik. Damit rücken ihre sinnlichen, vor-sinnhaften Eigenschaften in den Vordergrund. Diese Beobachtung erscheint mir von grundlegender Bedeutung für die historische Analyse von Formen der Positionierung und der Erschließung des Heiligen, d. h. einem Teil des Transzendenten, dessen Manifestationen in der welt vor allem sinnlichen Charakter haben und dessen Sinn sich im Kontext vormoderner Vorstellungswelten den Menschen weitgehend entzieht. Denn das hieße auch, dass etwa neu gewählte Formen der Darstellung des Heiligen erst im Nachhinein traditionsbildend mit Sinn gefüllt werden konnten, wenn wir etwa an die spätantiken Innovationen im Bereich der Prozessionen und Rogationen denken. *** Vor dem Hintergrund einer Theoretisierung individueller und kollektiver Identitätsstiftung als Ergebnis von Differenzbeziehungen, bei der Differenzen als permanente Neupositionierungen in sich wandelnden kulturellen, insbesondere politischen Feldern definiert werden können, hat Andreas Nehring zwei Fragen mit einer unscheinbaren semantischen Verschiebung gestellt: was ist Abweichung vom Sakralen? was ist Abweichung im Sakralen? Zumindest die hier untersuchten Beispiele von Devianz bzw. Abweichung erfolgen offenbar immer in einem gesetzten Rahmen und werden von den jeweiligen Trägern der Deutungshoheit auf diesen gesetzten Rahmen hin definiert. Man könnte
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Hans Ulrich gumBrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (Edition Suhrkamp 2364), Frankfurt am Main 2004.
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also alle hier untersuchten Devianzphänomene als Abweichung im Paradigma bzw. im paradigmatischen Rahmen bezeichnen. Geht es um die Devianz vom Heiligen im christlichen Kontext, so sind damit (wie bereits angedeutet) Abweichungen im Rahmen der Heilsgeschichte gemeint. Dies scheint zunächst den im Band angestrebten kulturübergreifenden Blick zu verstellen. Es scheint aber, dass in den verschiedenen Richtungen der philosophischen Tradition des Vedanta (heils-)geschichtliche Dimensionen eine Rolle spielten, die mit christlichen Vorstellungswelten verglichen werden können. Auch wenn betont werden sollte, dass dem heilsgeschichtlichen Paradigma eine erstaunliche Stabilität und Kontinuität beschieden war, so soll damit keineswegs verdeckt werden, dass sich die damit verbundenen Diskurszusammenhänge ständig veränderten. Hier machen nun alle untersuchten Beispiele deutlich, dass Devianzen und ihre Träger nach Kräften und mitunter in einem Akt bewusster Subversion in die Umgestaltung dieser Diskurszusammenhänge über die Grenzen eines gesetzten werte- und Handlungsrahmens eingriffen. Die empirischen Befunde stützen dabei die theoretisierende Annahme, dass Abweichungen an den Rändern eines Rahmens immer auch die Krise des Zentrums spiegeln, eine Krise, bei der Abweichung ein kreatives Potential mit großer historischer wirkmächtigkeit entfalten kann. In den Debatten im Tagungskontext wurde aber auch betont, dass in den zeitgenössischen Diskussionen um Formen der Devianz durchweg hohe ideologische Flexibilität und der wille zur Konsensbildung vorherrschend waren. Auf die Ausgrenzung von Personen und Objekten, die als Urheber der Devianz empfunden wurden, griff man in der regel erst als ultima ratio zurück. Generell stellt sich die Frage, auf welches Kernmodell der Heiligkeit in den verschiedenen Konstellationen der Devianzkritik rekurriert wurde. In Kongruenz zur Beobachtung, dass der allgemeine Rahmen der Beurteilung von Abweichungsphänomenen maßgeblich durch den Bezug zu eschatologisch-heilsgeschichtlichen Vorstellungen bestimmt war, stand im Kern zumeist das Ideal eines Heiligkeitsmodells augustinischer Prägung, bei dem Heiligkeit als allen Christen verfügbare, ja aufgetragene Eigenschaft bestimmt wurde. Der Verweis auf die Imitation des Heiligen sollte die innere einstellung des christen bestimmen und damit dessen normenkonformes Handeln nach außen sicherstellen. Dieses Ideal bezog sich dabei nicht nur auf den Verhaltenscodex des Gläubigen als heilsbedürftige Einzelperson, sondern ebenso als teil der ecclesia, der Kirche Christi und der Heiligen, deren Heiligkeit er sich verpflichtet fühlen sollte. Insofern ging jede Devianzkritik von einem Heiligkeitsmodell aus, dass sich in hohem Maße mit dem Verhältnis eines Individuums bzw. einer Gruppe von Individuen zur Gemeinschaft (der Gläubigen) auseinandersetzte und zwar vor allem im Hinblick auf die Frage, wie durch das Verhalten der einzelnen Glieder dieser Gemeinschaft in der Gegenwart eine zeitliche Verbindung zur heilsgeschichtlichen Vergangenheit und eschatologischen Zukunft hergestellt wurde. Die räumliche Dimension konnte dabei insofern eine Rolle spielen, als sakrale Räume nicht zuletzt zur Inszenierung und kollektiven Vergegenwärtigung solcher heilsgeschichtlichen Verbindungslinien in Bildern und Ritualen genutzt werden konnten. Für den methodischen Zugriff auf Devianzphänomene heißt dies, dass wir sehr genau darauf achten müssen, wann und vor allem in welchen Sinnkontexten
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Verhaltensweisen und Aussagen, aber auch rituelle Handlungen und Imaginationen als diesem Ideal nicht oder nicht mehr konform gehend betrachtet wurden und damit aus der Sicht einer zeitgenössischen Mehrheit das Gleichgewicht des heilsgeschichtlichen Gesamtrahmens gestört wurde. Denn bei aller Bedeutung von Diskursdynamiken sollten wir nicht unterschätzen, dass für den Grad der Einschätzung einer Personengruppe als Störung einer heilsgeschichtlich begründeten Ordnung schlichtweg auch demographische Faktoren eine Rolle spielten, auch wenn uns dafür in der Regel die empirischen Grundlagen fehlen. Die potentielle Störung durch eine konkurrierende Glaubensgemeinschaft (innerhalb des Christentums etwa) und ihre spezifischen Praktiken verlor oftmals durch das allmähliche Aussterben ihrer Anhänger ganz einfach an Virulenz. *** Diese Beobachtungen führen mich zu zwei synthetisierenden Fragestellungen, die den Blick zurück auf die vorhergehenden methodischen Beobachtungen richten und die ich als Ausgangspunkte für weitergehende Überlegungen zu Devianzphänomenen im Kontext des Heiligen vorschlagen möchte: 1. Nach welchen Verfahren wird Abweichung gegenüber dem als Konvention Gedachten, d. h. hier gegenüber möglichen Modellen von Heiligkeit oder des Sakralen eingeordnet? 2. Mit welchen argumentativen Mitteln wird diese Einordnung realisiert? Im Sinne der bereits geforderten methodischen Verknüpfung hermeneutischer und diskursanalytischer Ansätze können diese beiden Fragen freilich nicht getrennt voneinander erläutert werden, da sie den Blick gleichzeitig auf hermeneutische und definitorische Zugänge zu modellhafter Heiligkeit und ihrer diskursiven Vermittlung richten. wenn es um die Frage geht, wie Abweichung im Zeitkontext jeweils definiert wird, so scheinen die untersuchten Beispiele aus meiner Sicht ein recht einheitliches Bild zu zeichnen: Abweichung kann offenbar in den vorgeführten Kontexten im Regelfall nicht außerhalb des paradigmatischen Rahmens gedacht werden – oder vorsichtiger formuliert: Sie kann nicht außerhalb des gesetzten Sinnzusammenhangs definiert werden. Dies erklärt, warum bei der Beschreibung von Devianzen auf sprachlicher Ebene immer Rückbezüge zu etablierten Modellen hergestellt werden. Hierzu gehören gerade auch die verschiedenen Formen des topischen Erzählens über die Konventionen des Heiligen und dessen Infragestellung. Dabei verwundert es nicht, dass immer wieder das Verhältnis zu Ursprungserzählungen austariert wird. Die fehlende Bereitschaft, bei der Definition der Abweichung über gesetzte paradigmatische Grenzen hinauszugehen, hat vielleicht auch etwas mit einer Angst davor zu tun, dass sich Devianzphänomene in einer semantischen Leere verlieren und damit unkontrollierbar werden könnten. Verteidiger einer Konvention des Heiligen wären somit gleichsam von einem semantischen horror vacui getrieben. dies dürfte letztlich auch damit zusammenhängen, dass etwa mittelalterliche Heiligkeitsmodelle immer im Gesamtzusammenhang von Vorstellungswelten stehen, die ihre Stabilität aus der Kohärenz typologischer Referenzen beziehen. In diesem Gefüge verweist nicht allein der Heilige als Typus auf Christus, dem Urtypus des Heiligen,
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sondern auch sein potentiell devianter Gegenpart muss mit dem Verweis auf das Diabolische und Böse in dieser typologischen Ordnung seinen festen Platz finden. Die Frage nach den unterschiedlichen Ansätzen der Positionierung und Definition von Konformität und Abweichung im Verhältnis zu Modellen des Heiligen richtet den Blick nicht allein auf die Entfaltung reicher semantischer Felder, sondern berücksichtigt ebenso die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten. Denn Definitionen bestimmen zugleich Möglichkeitsräume, deren Auslotung im Falle des Heiligen, wie Andreas Nehring explizit betont, vor allem von einem grundsätzlich konsensualen Anspruch bestimmt ist. Dies veranschaulicht die Koexistenz von Kirchenbauten potentiell konkurrierender Glaubensgemeinschaften ebenso wie die Gleichzeitigkeit verschiedener Richtungen der Beschreibung und Definition des Göttlichen. Dahinter steht, wenn wir etwa auf die kulturübergreifend anzutreffenden Erzählungen zu Schöpfungsmythen denken, nicht zuletzt die Frage, welche Bild-AbbildVerhältnisse möglich sind, das heißt, welche von Menschen geschaffenen Repräsentationsformen des Sakralen akzeptiert werden und welche nicht. Dies ordnet sich ein in das weite Feld der Mimesis, ohne das hier allerdings näher darauf eingegangen werden könnte. Trotz allen willens zum Konsens mangelt es gerade in diesem Punkt nicht an Beispielen für Spannungen, wenn wir etwa an die immer wieder auftretenden Formen von Ikonoklasmus denken, deren Anhänger eine drastische aber deutliche Antwort darauf geben, wieviel Identität des menschlich Geschaffenen mit dem göttlich Geschaffenen ertragbar ist. Im selben Sinne macht sich der mittelalterliche Künstler, der Phantasiegeschöpfe in Bild und Skulptur kreiert, verdächtig, sich nicht mehr damit zu begnügen, unvollkommene Typen als Verweise auf einen mythischen Schöpfungsakt Gottes zu formen, sondern wie Gott selbst als tatsächlicher Schöpfer aufzutreten. Dahinter steht die grundlegende Frage nach der Gewichtung und Tragbarkeit von Distanz und Nähe zu einem als göttlich verstanden Urbild mit sehr feinen, kontextuell wandelbaren graduellen Verschiebungen. Insofern könnte man aber auch sagen, dass Abweichung vom Urbild im Sinne einer klassischen Ästhetik ohnehin den Normalfall darstellt. Zu große Nähe zum Ideal führt quasi unweigerlich zu Misstrauen. Auch dies bestimmt die große Flexibilität der paradigmatischen Rahmenbedingungen des Heiligen: Das Inkriminierende zu großer Distanz aber auch zu großer Nähe zum Vorbild kann durch die Rückkehr zum rechten Maß der Konformität rasch wieder aufgehoben werden. Erst wenn diese Rückkehrbereitschaft abweichender Individuen und Gruppen ausbleibt oder Praktiken und Objekt sich nicht mehr einfangen lassen oder aus dem paradigmatischen Rahmen fallen, dann müssen solche störenden Elemente beseitigt werden, und zwar vollständig beseitigt werden. Dann werden Menschen von Flammen aufgezehrt und Bilder zerschlagen, wobei die Sichtbarkeit des Aktes der Tilgung als wichtiger Bestandteil solcher Damnatio memoriae gilt. So bleiben etwa Fragmente getilgter Mosaike für alle sichtbar erhalten. Ausgehend von diesen Beobachtungen zu den Definitionen und diskursiven Kontexten der verschiedenen Ausformungen einer Abweichung im Paradigma stellt sich zusammenfassend die Frage, ob in den hier behandelten Zusammenhängen eine
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Abweichung jenseits der Grenze überhaupt möglich erscheint oder gedacht werden kann. Die unterschiedlichen Beobachtungen etwa zum Ausschluss vom Sakralen als kollektiver therapeutischer Akt, der ja von einer grundsätzlichen wertigkeit des gesetzten Rahmens und seiner Grenzen ausgeht, scheinen aus meiner Sicht eher für ein Nein zu sprechen.
VERZEICHNIS dER ORTS- UNd PERSONENNAMEN das Register listet Orts- und Personennamen in alphabetischer Reihenfolge auf, die im Haupttext oder in den Anmerkungen erscheinen, sofern sie nicht Teil bibliographischer Angaben oder von Quellenzitaten sind. Es orientiert sich bei der Gestaltung der Abkürzungen am Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, S. XVII – XXI mit Ausnahme von Kl. = Kloster, Stift, O. = Ort, Terr. = Region, Landschaft, Herrschaftsgebiet, Provinz, Territorium. In der Regel ist bei Personen das Sterbedatum angegeben, bei Amtsträgern werden nach Möglichkeit die Regierungszeiten aufgeführt. Personen, die nach 1500 gestorben sind, werden unter ihrem Nachnamen gelistet. Moderne Wissenschaftler wurden nicht aufgenommen. Mit „f.“ ist stets die folgende Seite gemeint. Erscheint eine Seitenangabe mit „u. Anm.“ ist der Begriff sowohl im Haupttext als auch in der Anmerkung zu finden. Folgt auf die Seitenangabe hingegen direkt „Anm.“, ist der Begriff nur in der Anmerkung vorhanden. ’Ayn al-Kanisah, Ki. 139, 147 – 149, 156 Abaris, Kleriker 109 Abraham, bibl. Person 140 Abū ʿAbd Allāh Ǧaʿfar ibn Muḥammad aṣ-Ṣādiq, islamischer Rechtsgelehrter († 765) 69 Adalbert Rankonis, Theologe und Philosoph († 1388) 87 Anm. 11 Adelbert/Aldebert, Häretiker (8. Jh.) 117 Afrika/Africa/Nordafrika 33 u. Anm. 67, 63, 142 Agni, hinduistische Gottheit 196 Ägypten 70, 142 Alanus de Insulis, Schriftsteller († 1202) 96 Albertus/Albert, Abt v. St. Emmeram (1324 – 1358) 290 f., 293 Albrecht V., Hg. v. Österreich (1404 – 1439), röm-dt. Ks. Albrecht I. (1438 – 1439) 130 Aldebert, siehe Adelbert Aleander, Girolamo, Nuntius († 1542) 224 u. Anm. 91 Alexander VI., Papst (1492 – 1503) 109 Alexander der Große, Makedonenkönig (336 – 323 v. Chr.) 119 Alexander I., Zar von Russland (1801 – 1825) 121 Alexander von Abonuteichos, Kleriker (2. Jh.) 116
Allendorf, O. 120 al-Quwaysmah, O. 145, 147 Altona, O. 121 al-Urdun, Terr. 142 Alvarus Pelagius, Bf. v. Silves (1333 – 1350) 108 Ambrosius, Bf. v. Mailand (374 – 397) 24, 25 u. Anm. 19, 26 u. Anm. 27, 27 u. Anm. 33 u. 34, 28 u. Anm. 45, 30 u. Anm. 54, 31 u. Anm. 58, 32 f., 35 – 37, 39 – 41, 42 u. Anm. 119 Amesbury, O. 247 u. Anm. 82 – St. Mary-St. Melor, Amesbury, Ki. 247 Amman, O. 144 f. Amsdorf, Nicolaus von, Theologe († 1565) 213 Andreas, Hl. († ca. 60) 33 Andreas, Mönch (12. Jh.) 243 f., 249 Angela von Foligno, Hl. († ca. 1309) 132 Angelus Silesius, Schriftsteller, Theologe u. Arzt († 1677) 168 Angers, O. u. Bm. 235 f., 239, 242, 269 Anna Laminit, Hl. († 1518) 117 f. Anno II., Ebf. v. Köln (1056 – 1075) 112 Anselm, Ebf. v. Canterbury, Theologe u. Philosoph (1093 – 1109) 169 Ansgar, Ebf. v. Bremen (ca. 845 – 865) 125 Antiochia, O. 32 f., 143
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Orts- und Personenregister
Appenfeller, Johann Georg, Häretiker (18. Jh.) 121 Aquila, bibl. Person 54 Aquileia, O. 25 Aquitanien, Terr. 236, 246 Arabia, Terr. 142 f., 148 Arbrissel, O. 233 u. Anm. 1, 235, 251 Aristeias von Prokonnesos, Schriftsteller u. Magier (7. Jh. v. Chr.) 109 Arnald von Villanova, Kanonist u. Arzt († 1311) 107 Athen, O. 45 Augsburg, O. 117 f., 224 Anm. 91 Augustin, Ebf. v. Canterbury u. Missionar (597 – 605) 38 Augustinus, Bf. v. Hippo u. Kirchenvater (396 – 430) 15, 27, 31, 33, 111, 125, 130, 259, 261, 264 Aventin, Johann, Humanist († 1534) 117 Avignon, O. 90, 290 – 292 Avitus, Bf. v. Vienne (494 – 518) 38, 65, 66 u. Anm. 40 Azariah, bibl. Person 140 Babylas, Hl. († 250/251) 33 Baldung Grien, Hans, Maler († 1545) 131 Basel, O. 90, 92, 98, 289 Baudri von Bourgueil, Ebf. v. dol-en-Bretagne (1107 – 1130) 240 – 247, 249 Belisar, oström. Feldherr († 565) 67 Benno, Bf. v. Meißen (1066 – 1106) 211 Berlin-Cölln, O. 292 Bernhard, Abt v. Clairvaux (1115 – 1153) 47 – 51, 106, 111, 120, 125, 264 – 268 Bernhard, konvertierter Jude (16. Jh.) 226 Bernhardi, Bartholomäus, Reformator († 1551) 217 Bernhardin von Siena, Hl. († 1444) 127 Bernini, Giovanni Lorenzo, Bildhauer u. Architekt († 1680) 51 Bernhard von Tiron, Hl. († 1117) 231 Anm. 2 Bernuzzi, Maria Crocifissa, Hl. (2. Hälfte 18. Jh.) 105 Bethlehem, O. 69 – 71, 74, 144, 243 Bhairava, hinduistische Gottheit 196 Birgitta von Schweden, Hl. († 1373) 124 f., 129 Böhme, Jakob, Mystiker, Philosoph u. Theologe († 1624) 167, 169 f. Bolland, Jean, Mönch u. Historiker († 1665) 248 f.
Bologna, O. 124 Bonaventura, Philosoph u. Hl. († 1274) 50, 111 Bonifatius, Bf. v. Mainz u. Missionar (745 – 754) 117 Bonifaz/Bonifatius VIII., Papst (1294 – 1303) 107, 288, 291, 294 Bonnus, Hermannus, Reformator († 1548) 228 Boudet, Mönch aus Fontaines-en-France (16. Jh.) 247 Bourbon, Renée de, Äbtissin v. Fontrevaud (1491 – 1534) 247 Brahmā, hinduistische Gottheit 190, 196, 200 Bretagne, Terr. 120, 233, 240 Bruno, Giordano, Priester, Philosoph u. Astronom († 1600) 172, 174 Brüssel, O. 127, 225 – 227 Buchholz, O. 211 Bugenhagen, Johannes, Reformator († 1558) 213 Burgkmair, Hans, Maler († 1531) 117 Buttlar, Eva von, Häretikerin, († 1721) 120 – 122 Caligula, röm. Ks. (37 – 41) 119 Calixt II., Papst (1119 – 1124) 243 – 245 Calvin, Johannes, Reformator († 1564) 130, 214 Canossa, O. 97 Catio, Gesandter (4. Jh.) 33 Chalkedon, O. 144 Chemillé, O. 250 Christina Bruso, Begine († 1312) 132 Christina Ebner, Mystikerin († 1356) 98 Chromatius von Aquileia, Hl. († ca. 407) 33 Cîteaux, Kl. 48 Clairvaux, Kl. 51, 265 Clemens V., Papst (1305 – 1314) 294 Clemens VI., Papst (1342 – 1352) 92 Clemens IX., Papst (1667 – 1669) 250 Cluny, Kl. 49, 51, 243 Compostela/Santiago de Compostela, O. 129 Constantinopel, O. 33 Craon, O. 269 Crespin, Jean, Jurist, Buchdrucker u. Verleger († 1572) 228 Czepko, daniel, Schriftsteller († 1660) 168 daniel, Prophet 140, 279 daniel, russischer Abt u. Pilger (12. Jh.) 70 daphne, O. 32 f. david, Kg. v. Juda (1004 – 971 v. Chr.) 88, 226 deir ’Ain ’Abata, O. 145
Orts- und Personenregister deir al-’Adas, O. 142 demetrios Poliorketes, diadochenherrscher (336 – 283) 119 desiderius, Hl. (6. Jh.) 116 deutschland 16, 53, 59, 289, 291, 293 f., 296 dimashq, Terr. 142 dionysius Areopagita, Bf. v. Athen (1. Jh.) 201 dionysius, Bf. v. Mailand (349 – 355), 25 Anm. 19, 26 Anm. 27 dominicus von Caleruega, Hl. († 1221) 106 donaustauf, O. 292 dornau, Kaspar, Philologe u. Mediziner († 1632) 167 dorothea von Montau, Hl. († 1394) 115, 125 duglioli, Helena, Hl. († 1520) 124 dürer, Albrecht, Maler († 1528) 122f. Eber, Paul, Reformator († 1569) 228 Egeria, Pilgerin (4. Jh.) 62 Elias, Prophet 131 Elisabeth Achler von Reute, Mystikerin († 1420) 126 f. Elisabeth von Thüringen, Hl. († 1231) 112 f., 127 Elsass, Terr. 59 Engelthal, Kl. u. O. 98 f. England 38, 95 Anm. 51, 121, 236, 296 Eon von Stella, Prediger († 1150) 120 Ermengard, Gfn. der Bretagne (12. Jh.) 240 Esch, Johann van, Märtyrer der Reformation († 1523) 225 Escobar, Marina de, Nonne († 1633) 118 Essen, Bm. 53 Euhemeros, Philosoph (340 – 260 v. Chr.) 119 Eustachius, Gesandter (4. Jh.) 33 Ezechiel, Prophet 279 Felix, Hl. († ca. 303) 30 u. Anm. 54, 32, 36 Anm. 86 Filastin, Terr. 142 Finan von Lindisfarne, Hl. († 661) 106 Flacius, Matthias, Theologe († 1575) 228 Florenz, O. 94, 288 – Maria Novella, Ki. 94 Fontaines-en-France, Kl. 247 Fontevraud/Fontevrault, Kl. 236, 240 f., 243 – 245, 246 Anm. 76, 247 f., 250 f., 269, 273 Foxe, John, Schriftsteller († 1587) 228 Fra Michele Minorita, Mönch (14. Jh.) 128 Franck, Sebastian, Chronist († ca. 1542) 117 Frankreich/Südfrankfreich 233, 236, 265, 300
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Franziscus vom Kreuze, Theologe († 1610) 131 Franziskus von Assisi, Hl. († 1226) 50, 111, 129 Freiburg i. Ü., O. 118 Friedrich I., Ebf. v. Köln (1100 – 1131) 258, 264 Friedrich III., röm.-dt. Kg. (1440 – 1493) u. Ks. (1452 – 1493) 86, 123 Friedrich Sunder, Mönch († 1328) 115 Gabriel, Erzengel 123 Gaius, bibl. Person 54 Galiläa 145, 148 Gallien/Gallia 33, 41, 119, 301 Galo von St-Florent-les-Saumur, Schriftsteller († 1129) 246 Gaṇeśa, hinduistische Gottheit 190, 196, 199 Gaudentius von Brescia, Hl. († nach 406) 33 Gaza, O. 145 – Jabaliyah-Kirche 145 Gelasius I., Papst (ca. 492 – 496) 23 Geoffroy von Vendôme, Mönch († 1132) 269, 271 u. Anm. 74, 272 f. Georg, Hl. († ca. 305) 141 Gertrud von Helfta, gen. die Große, Nonne († ca. 1301) 113 f. Gervasius, Hl. († um 300) 27, 31 Giotto di Bondone, Maler († 1337) 123 Giovanni della Verna, Mönch († 1322) 115 Girald von Salles, Kleriker († 1120) 246 Girolamo Savonarola, Mönch († 1498) 128, 227 u. Anm. 114 Goethe, Johann Wolfgang von, Schriftsteller († 1832) 281 Goltwurm, Kaspar, Theologe († 1559) 228 Gottfried von Vendome, Abt v. La Trinité (1070 – 1132) 239 f., 242, 248 Gratian, röm. Ks. (375 – 383) 32 Gregor I., Papst (590 – 604) 38, 107 Gregor VII., Papst (1073 – 1085) 107 u. Anm. 9 Gregor, Bf. v. Tours u. Historiograph (573 – 594) 116 Guericke, Otto von, Physiker u. Erfinder († 1686) 163 Hananiah, bibl. Person 140 Hebron, O. 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Philosoph († 1831) 12 f., 162 Anm. 2, 172 Heidelberg, O. 58 Anm. 4, 59, 86 Anm. 9, 287 – Heiliggeistkirche 57 f.
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Orts- und Personenregister
– Universität 57 Heinrich IV., Kg. v. Frankreich (1589 – 1610) 247 Heinrich VIII., Kg. v. England (1509 – 1547) 109 Heinrich Taube von Selbach, Chronist v. Regensburg († 1364) 290 Heinrich von Lausanne, Prediger († ca. 1145) 255, 257, 264 – 269, 271 – 274, 277 f. Heinrich von Nördlingen, Prediger († ca. 1379) 289 Heinrich Seuse, Mystiker († 1366) 115, 122, 128 Helfta, Kl. 113 Hemmaberg, O. 64 f. Hermes Trismegistos, mythische Gestalt 172 Heylwighe Bloemardinne, Begine († 1335) 127 f. Hieronymus, Kirchenvater († 420) 34 f., 277 Hildebert von Lavardin, Ebf. v. Tours (1125 – ca. 1133) 246, 265 f., 268 Hildegard von Bingen, Mystikerin († 1179) 122, 125 Hisham ibn Abd al-Malik, umayyadischer Kalif (724 – 743) 73 Holbein d. Ä., Hans, Maler († 1524) 117 Hondorff, Andreas, Schriftsteller († 1572) 228 Honorius, weström. Ks. (395 – 423) 36 Hutten, Ulrich von, Humanist († 1523) 223, 224 Anm. 91 Ibn Arabi, Sufi u. Philosoph († 1240) 199 Ikelia, Witwe in Jerusalem (5. Jh.) 70 Ildefons, Gf. v. Toulouse (1108 – 1148) 265 f., 268 Indien/Südindien 7, 187 Indra, hinduistische Gottheit 196 Innozenz I., Papst (401 – 417) 35 Innozenz VI., Papst (1352 – 1362) 90 Anm. 28 u. 29, 96 Anm. 52 Isaak, bibl. Person 140 Israel 139, 142, 150 Italien 33, 51, 105, 282, 293
Jan van Eyck, Maler († 1441) 123 Jan van Ruusbroec, Schriftsteller († 1381) 128 Jandl, Ernst, Schriftsteller († 2000) 165 f., 185 Jeanne-Baptiste de Bourbon, Äbtissin v. Fontevraud (1637 – 1670) 247f., 250 Jerash, O. 139, 141 Jeremias, Prophet 105, 279 Jericho, O. 143 Jerusalem, O. 69 f., 74, 141 Anm. 13, 143 f., 148, 243 – Tempel 45 Jesaja, Prophet 279 Jesus 46, 54, 110, 124, 126, 246, 266, 277, 295 Joachimsthal, O. 209 Johann von Jenstein, Ebf. v. Prag (1378 – 1400) 87, 89 Anm. 25 Johann von Winterthur, Mönch u. Chronist († ca. 1348) 293, 296 Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz (1679 – 1716) 58 Johanna von Orléans, Hl. († 1431) 127 Johannes der Täufer 105 Johannes Markus, bibl. Person 54 Johannes XXII., Papst (1316 – 1334) 178, 288, 291 Johannes XXIII., Papst (1958 – 1963) 107 f. Johannes von damaskus, Kirchenvater († 754) 158 Johannes Andreae, Kanonist († 1348) 289 Johannes Marienwerder, Theologe († 1417) 125 Johannes von Capistrano, Prediger († 1456) 129 f. Johannes von dambach, Mönch u. Theologe († 1372) 289 f., 293 – 296 Jean de Joinville, Biograph († 1317) 130 Jordanien/Zentraljordanien 139 – 144, 150 Juan d’Austria, span. Befehlshaber († 1578) 131 Justina, byz. Ksn. († 388) 24 f. Justinian I., byz. Ks. (527 – 565) 67 u. Anm. 42, 148 Juvenal, Bf. v. Jerusalem (422 – 458) 70
Jacobus von Voragine, Ebf. v. Genua u. Schriftsteller (1286 – 1298) 228 Jakob Twinger, Geschichtsschreiber († 1420) 295 Jakobus, Verfasser des Protoevangeliums (ca. 2. Jh.) 70 Jan Hus, Reformator († 1415) 214, 227
Kafka, Franz, Schriftsteller († 1924) 284 f. Karl der Große, frk. Kg. (768 – 814) u. röm.-dt. Ks. (800 – 814) 91 Karl IV., röm.-dt. Kg. (1346 – 1378) u. Ks. (1355 – 1378) 86, 87 u. Anm. 11, 88, 89 u. Anm. 24 u. 25, 90 u. Anm. 28, 91 u. Anm. 30 u. 32, 92 u. Anm. 37, 93 u.
Orts- und Personenregister Anm. 38, 94, 95 u. Anm. 49, 96 f., 98 u. Anm. 62 u. 64, 99 u. Anm. 67, 100 u. Anm. 69 u. 70, 101, 127, 289, 293, 295 Karl V., frz. Kg. (1364 – 1380) 224 Anm. 91 Karlstadt, Andreas, Reformator († 1541) 108, 130, 218 u. Anm. 47, 223 f. Kärnten, O. 64 Katharina von Bologna, Hl. († 1463) 112 Katharina von Siena, Hl. († 1380) 111, 124 f. Kathisma-Kirche 69 – 71, 74, 144 Kelsos, Philosoph (2. Jh.) 163, 164 u. Anm. 8, 166 f. Kent, Terr. 121 Khildah, O. 141, 145 Khirbat al-Mafjar, Palast 143 Khirbet es-Shubeika, O. 148 Köln, O. 112, 121, 258, 264 Konrad Kügelin, Augustiner Chorherr († 1428) 126 Konrad von Megenberg, Schriftsteller († 1347) 91, 93 Konstantin der Große, röm. Ks. (306 – 337) 22 u. Anm. 7, 32 Anm. 61, 46, 88, 146 Kuhlmann, Quirinus, Schriftsteller u. Mystiker († 1689) 120 Kunigunde, Hg.in v. Österreich (1465 – 1520) 118 La Roë, O. 235, 269 La Trinité, Kl. 239 Latour, Bruno, Soziologe 283 f. Le Mans, O. 265, 268 Leo I., Papst (440 – 461) 23 Lepanto, O. 131 Libanon/Südlibanon 142 Linck, Wenzel, Theologe u. Reformator († 1547) 226 Ludwig IV.‚ gen. der Bayer, röm.-dt. Kg. (1314 – 1347) u. Ks. (1328 – 1347) 90, 92, 97 – 99, 288, 290 – 293, 295 f. Ludwig IX., gen. der Hl., Kg. v. Frankreich (1226 – 1270) 88 Anm. 16, 130 Luitgart von Wittichen, Mystikerin († 1348) 125 f. Lukas, Evangelist 33 Lukian von Samosata, Satiriker († ca. 180) 116 Luther, Martin, Reformator († 1546) 108, 117 f., 130f., 168 Anm. 19, 209 – 214, 216 f., 218 u. Anm. 47, 219 – 223, 224 u. Anm. 91, 226 f., 228 u. Anm. 117, 229 f. Ma’in, Terr. 141, 143, 145, 147
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Madaba, O. 143, 146, 148 Magdalena Beutler(in), Mystikerin († 1458) 114 Mailand, O. 24, 25 u. Anm. 19, 26 u. Anm. 27, 27 f., 30, 32 Anm. 62, 33, 39 f., 42 Anm. 119 – Basilika Vetus 26 – Basilika Nova / Maior 26 – Basilika Portiana 24, 26 Mairāla, hinduistische Gottheit 196 Major, Georg, Theologe († 1574) 228 Malachias von Armagh, Hl. († 1148) 125 Mamertus, Bf. v. Vienne (451 – 473) 38 f. Marbod, Bf. v. Rennes (1096 – 1125) 236 u. Anm. 17, 237 – 242, 244, 262 Anm. 36, 269, 270 u. Anm. 73, 271 u. Anm. 74, 272 – 274 Margarete Porete, Begine († 1310) 114 Margarete, Tochter Ks. Maximilians I. († 1530) 108 Margery Kempe, Mystikerin († ca. 1438) 115 Maria, Mutter Jesu 70, 71, 114, 121 f., 123, 142, 222, 247, 263 Maria, Mutter des Johannes Markus 54 Maria Bianca, röm.-dt. Kgn. (1494 – 1510) u. Ksn. (1508 – 1510) 117 Maria von Brabant, Hg.in v. Bayern (1226 – 1256) 127 María Pizarro, Mystikerin (16. Jh.) 131 Mariccus, Gallier (1. Jh.) 119 Marie de Bretagne, Äbtissin v. Fontrevaud (1438 – 1478) 247 Mārikā, hinduistische Gottheit 196 Marius Victorinus, Gelehrter († nach 363) 174 Anm. 39 Marquard von Lindau, Mönch († 1392) 173 Anm. 36, 179 Martigné-Briand, Kl. 251 Martin, Bf. v. Tours u. Hl. (ca. 316 – 397) 36 u. Anm. 86, 67, 125 Masuh, O. 143 Maternus, Bf. v. Trier (316 – 328) 32 Mathesius, Johannes, Reformator († 1565) 209 u. Anm. 3, 210 Maximilian I., röm.-dt. Kg. (1486 – 1519) u. Ks. (1508 – 1519) 32, 108, 117 f., 123 Mechthild von Hackeborn, Mystikerin († 1299) 113 Meister Eckhart, Theologe u. Philosoph († 1328) 172, 174, 178 – 182, 199 – 201, 205 f. Metz, O. 91 u. Anm. 32
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Orts- und Personenregister
Michael/Mishael, Erzengel 119, 140 Michele de Berti, Mönch († 1389) 108 Milone, Isabella, lebende Hl. in Neapel (18. Jh.) 119 Minucius Felix, Apologet (2./3. Jh.) 54 Mocteus, Bf. v. Lughmud, († ca. 535) 106 Mohammed/Muhammad, Prophet († 632) 69, 157, 278 f. Mont St-Michel, Kl. 241 Mörl, Maria von, Mystikerin († 1868) 127 Mose, bibl. Person 164, 279 Moskau, O. 120 Nabgha, O. 142 Nabor, Hl. († ca. 304) 27, 30 u. Anm. 54, 32 Neapel, O. 119 Nebo, Berg 139 Neilos von Ankyra, Mönch († 430) 158 Nicaea, O. 22 Nicolaus Cusanus, Theologe († 1464) 169, 172 Nicquet, Honoré, Mönch († 1667) 248 f. Niederlande 226 Nikolaus V., Papst (1447 – 1455) 130 Nikolaus von Ybbs, Bf. v. Regensburg (ca. 1270 – 1340) 291 Nikolaus von Bernau, Propst († 1325) 292 Nikolaus von Flüe, Einsiedler († 1487) 117 Nitl, O. 144 Norbert von Xanten, Ebf. v. Magdeburg (ca. 1080 – 1134) 258 Nordafrika, siehe Afrika Noricum, Terr. 64 f. Olympias, Mutter Alexanders des Großen († 316) 119 Olympiodoros von Athen, Feldherr († 287 n. Chr.) 158 Orsan, Kl. 236, 250 Oswald, Hl. († 642) 123 Padmapāda, Philosoph (8. Jh.) 194 Padua, O. 50 Palästina 139 f., 142, 150 Palaestina Prima, Terr. 142 f. Palaestina Secunda, Terr. 142 f. Palaestina Tertia, Terr. 142 f. Paris, O. 47, 91 Anm. 32, 122, 235 Passerat, Jean, Schriftsteller († 1602) 167 Paulinus von Nola, Hl. († 431) 33 – 35, 36 Anm. 86, 158 Paulus, Apostel 54 f., 116 Peru 131
Peter, Kardinal v. Ostia (1353 – 1361) 95, 96 Anm. 52 Peter, Bf. v. Poitiers (1087 – 1115) 246, 248, 250 Peter von Bruis, Häretiker († ca. 1131) 257 Petronilla von Chemillé, Äbtissin v. Fontevraud († 1149) 236, 241, 243, 250 Petrus, Apostel († ca. 65) 116, 118 Petrus damiani, Kirchenlehrer († 1072) 107 Petrus Venerabilis, Abt v. Cluny u. Theologe (ca. 1092 – 1156) 130, 275 f., 277 u. Anm. 11, 278 u. Anm. 12, 279 Petrus von dacien, Mönch († 1289) 132 Petrus von Poitiers, Theologe († 1215) 276, 278 u. Anm. 12 Pico della Mirandola, Philosoph († 1494) 117 Pirckheimer, Willibald, Humanist († 1530) 123 Pius IX., Papst (1846 – 1878) 250 Plotin, Philosoph († 270) 196 Anm. 44, 201 Poitiers, O. 235 f. Pordage, John, Priester u. Mystiker († 1681) 121 Prag, O. 87, 89, 94 f., 98, 100 Prisca, bibl. Person 54 Protasius, Hl. († ca. 300) 27, 31 Pseudo-dionysius, Schriftsteller (6. Jh.) 199 Puente, Luis da la, Mönch († 1624) 118 Pyrmont, O. 121 Rabus, Ludwig, Theologe († 1592) 228 Ramón Llull, Mönch, Philosoph u. Theologe († 1316) 130 Ramot, O. 148 Ravenna, O. 66 f. – Basilica Ursiana 66 – Sant’Apollinare Nuovo 66 Raymund von Capua, Mönch († 1399) 125 Regensburg, O. 290 – 293 Reggio, Terr. 105 Reims, O. 93, 120 Rennes, O. 244, 249, 269 Resafa, O. 71 u. Anm. 65, 73, 74 Richard, Mönch (14./15. Jh.) 127 Richard von Poitiers, Mönch († ca. 1174) 246 Rihab, O. 145 f. Robert von Arbrissel, Prediger († 1116) 233 – 244, 245 u. Anm. 73, 246 u. Anm. 78, 247 – 251, 256, 269 – 273 Robert von Auxerre, Chronist († 1212) 246 Rom, O. 47, 58, 88, 90, 92, 93 Anm. 38, 96 Anm. 52, 107 f., 112, 115, 119, 124 f., 131 f., 248 – 250, 259
Orts- und Personenregister – Petersdom 51 Rouen, O. 34, 250 Anm. 99 Rudolf Losse, Trierer Offizial (14. Jh.) 290 Ruprecht I., pfälz. Kurfürst (1329 – 1390) 57 Sabas-Kloster 62 Saint-denis, Kl. u. O. 47, 51, 120 Salzburg, O. 292 Śaṅkarānanda/Śaṅkara, Philosoph (8./9. Jh.) 188 u. Anm. 8, 194 f., 197, 199 – 201, 205 u. Anm. 85, 206 Schiller, Friedrich, Schriftsteller († 1805) 215 f. Schottland 296 Schreber, daniel, Jurist († 1911) 122 Scotus Eriugena, Schriftsteller († ca. 877) 169 Sebastian, Hl. († ca. 288) 123 Sergios, Hl. († 312) 71, 73 Sergius, Hl. († ca. 305) 144 f. Sidonius Apollinaris, Bf. v. Clermont-Ferrand (469 – ca. 480) 39, 40 u. Anm. 108 Sigismund, Kg. v. Burgund (516 – 524) 66 Sinai, Berg 142 Siricius, Papst (384 – 399) 35 Śiva/Shiva, hinduistische Gottheit 188, 190 f., 199 f. Sixtus IV., Papst (1471 – 1484) 247 Southcott, Joanna, Sektengründerin († 1814) 121 Spalatin, Georg, Humanist († 1545) 228 u. Anm. 118 Spanien 33, 51, 276 Speyer, O. 287 St. Martin und Maria, Stadtpfarrkirche in Biberach 60 Stommeln, O. 132 Straßburg, O. 290, 293, 296 Südfrankreich, siehe Frankreich Südindien, siehe Indien Südlibanon, siehe Libanon Suger, Abt v. Saint-denis (1122 – 1151) 47 f., 51 Sulpicius Severus, Biograph († ca. 420) 33, 35, 36 u. Anm. 86, 125, 244 Susiya, O. 141, 143 Svenung, Mönch (14. Jh.) 129 Sylvester, Bf. v. Rennes (1076 – 1093) 235 Syrien 73, 142, 150 Tamra, O. 145 Tanchelm von Antwerpen, Prediger († 1115) 255, 257, 258 u. Anm. 23, 259,
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260 u. Anm. 26, 261, 262 u. Anm. 39, 263, 264 u. Anm. 44, 267 – 269, 271 – 274, 276, 277 Tell al-’Umayri East, Berg 144 Teresa von Avila, Hl. († 1582) 115 Thaddäus, bibl. Person 111 Theodosius I., oström. Ks. (379 – 394) 27 Anm. 33, 31 u. Anm. 58, 32 Theodosius, Mönch (6. Jh.) 70 Theodulus, Gesandter (4. Jh.) 33 Théot, Catherine, Verehrte († 1794) 122 Thom, John Nichols, Häretiker († 1838) 121 f. Thomas von Aquin, Philosoph u. Mönch († 1274) 169, 180 Timotheus, Hl. († ca. 97) 33, 260 Tours, O. 236 Trajan, röm. Ks. (98 – 117) 148 Trient, O. 92 Umm al-Jimal, O. 144 – Numerianos-Kirche 144 – Julianos-Kirche 144 Umm al-Rasas, O. 139, 141, 145, 147 f. Urban II., Papst (1088 – 1099) 235, 242, 269 Urban V., Papst (1362 – 1370) 93 Anm. 38, 95 Urban VI., Papst (1378 – 1389) 288 Utrecht, O. 258, 260 Anm. 26 Valentinian II., röm. Ks. (375 – 392) 24, 32 Vendôme, O. 239, 248 Vianney, Jean, Hl. († 1859) 110 Victor, Hl. († nach 305) 30 u. Anm. 54, 32 Victorius, Bf. v. Grenobel (516 – 517) 66 Victricius von Rouen, Hl. († vor 410) 33 – 35, 37 Anm. 91, 39 Vidyāraṇya, Philosoph (14. Jh.) 187, 188 u. Anm. 6, 189 – 191, 193, 202, 203 Anm. 69 u. 72 Vienne, siehe Wien Vigilantius von Calagurris, Hl. († ca. 400) 34 f. Vigilius von Trient, Hl. († 405) 33 Vinzenz Ferrer, Hl. († 1419) 127 Viṣṇu/Vishnu, hinduistische Gottheit 190 u. Anm. 17, 191 f., 196, 199, 201 Voes, Heinrich, Mönch u. Märtyrer der Reformation († 1523) 225 Weimar, O. 216 Welser, Anton, Augsburger Patrizier († 1518) 118 Wenzel, Hl. († 929/935) 295
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Orts- und Personenregister
Wenzel II., böhm. Kg. (1278 – 1305) 97 Anm. 57 Wenzel, röm.-dt. Kg. (1376 – 1400) 87 Anm. 11, 89 Anm. 25 Wien/Vienne, O. 41 Wilhelm, Abt v. Saint-Thierry (1121 – 1148) 125 Winter, Justus Gotthardt, Theologe († um 1700) 120 Anm. 79, 121 Wittenberg, O. 227 Anm. 112
Worms, O. 224 Ya’mun, O. 140 Yakṣas, hinduistische Gottheit 196 Yazid II., umayyadischer Kalif (720 – 724) 139, 142, 145, 150 Zentraljordanien, siehe Jordanien Zwingli, Huldrych, Reformator († 1531) 130, 214
b e i t r äg e z u r h ag i o g r a p h i e
Herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 1439–6491
Dieter R. Bauer / Klaus Herbers (Hg.) Hagiographie im Kontext Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung 2000. XXVIII, 288 S. mit 2 Abb. und 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-07399-8 Anke Krüger Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert 2001. 398 S., geb. ISBN 978-3-515-07789-7 Martin Heinzelmann / Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hg.) Mirakel im Mittelalter Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen 2002. 492 S., kt. ISBN 978-3-515-08061-3 Charles Mériaux Gallia irradiata Saints et sanctuaires dans le nord de la Gaule du haut Moyen Âge 2006. 428 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08353-9 Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriele Signori (Hg.) Patriotische Heilige Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne 2007. 405 S., kt. ISBN 978-3-515-08904-3 Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks (Hg.) Sakralität zwischen Antike und Neuzeit 2007. 294 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08903-6 Uta Kleine Gesta, Fama, Scripta
Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis 2007. XVI, 481 S. mit 6 Abb. und 6 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08468-0 8. Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Hedwig Röckelein / Felicitas Schmieder (Hg.) Heilige – Liturgie – Raum 2010. 293 S. mit 35 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09604-1 9. Christofer Zwanzig Gründungsmythen fränkischer Klöster im Früh- und Hochmittelalter 2010. 539 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09731-4 10. Sofia Meyer Der heilige Vinzenz von Zaragoza Studien zur Präsenz eines Märtyrers zwischen Spätantike und Hochmittelalter 2012. 383 S., kt. ISBN 978-3-515-09068-1 11. Waltraud Pulz (Hg.) Zwischen Himmel und Erde Körperliche Zeichen der Heiligkeit 2012. 227 S. mit 28 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10283-4 12. Daniel Nuß Die hagiographischen Werke Hildeberts von Lavardin, Baudris von Bourgueil und Marbods von Rennes Heiligkeit im Zeichen der Kirchenreform und der Réécriture 2013. 257 S., kt. ISBN 978-3-515-10338-1 13. Andrea Beck / Andreas Berndt (Hg.) Sakralität und Sakralisierung Perspektiven des Heiligen 2013. 210 S. mit 2 Abb. und 20 Farbtaf., kt. ISBN 978-3-515-10624-5
14.
Gordon Blennemann / Klaus Herbers (Hg.) Vom Blutzeugen zum Glaubenszeugen? Formen und Vorstellungen des christlichen Martyriums im Wandel 2014. 319 S. mit 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10715-0
15.
Klaus Herbers / Hans-Christian Lehner (Hg.) Unterwegs im Namen der Religion / On the Road in the Name of Religion Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen / Pilgrimage as a Means of Coping with Contingency and Fixing the Future in the World’s Major Religions 2014. 152 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10777-8
Heiligkeit ist bis heute ein nicht klar definiertes Phänomen, das je nach gesellschaftlichem Umfeld unterschiedlich ausgerichtet sein kann. Der schmale Grat zwischen Heiligkeit und Häresie steht im Mittelpunkt dieses Bandes, der die Frage nach Sakralität und der Abweichung von der Norm aufgreift. Verschiedene historische Muster und Lö-
sungswege gewährleisten Einblicke in den Umgang mit Abweichungen. Vertreter unterschiedlicher Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Germanistik, der vergleichenden Religionswissenschaft und der Indologie untersuchen die Aspekte von Sakralisierungsmaßnahmen und deviantem Verhalten und ermöglichen damit einen interdisziplinäreren Vergleich.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10921-5
9 7 8 3 5 1 5 1 09 2 1 5