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German Pages [232] Year 2013
BAUSTEINE ZUR SL AVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY
Reihe A: SL AVIST ISCHE FOR SCHUNG EN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)
Band 78
Russische Literatur in Polen (1864–1904)
von
Peter Salden
2013 B ÖH L AU VE R L AG KÖ L N WE I M A R WI E N
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Peter Salden promovierte als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Hamburg.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Der polnische Literaturwissenschaftler Włodzimierz Spasowicz spricht auf einem Bankett des russischen Schriftstellerverbands. Rechts von ihm der polnische Bildhauer Cyprian Godebski, links von ihm die russischen Schriftsteller Aleksej Potechin und Petr Boborykin sowie der Feuilletonist Vasil’evskij (Nachdruck aus Kraj Nr. 1/1899, 30; Bild: Staatsbibliothek zu Berlin). © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-21022-9
Danksagungen
Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die am 2. November 2011 von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg angenommen worden ist. Ermöglicht und betreut hat diese Dissertation Prof. Dr. Robert Hodel, dem ich für seine vertrauensvolle und stets kritisch-konstruktive Begleitung meines Wegs seit Studientagen herzlich danke. Auch Dr. Wojtek Klemm danke ich für seine langjährige Unterstützung. Auch seine Sachkenntnis und seine wertvollen Anmerkungen haben unmittelbare Auswirkung auf die Gestalt der vorliegenden Arbeit gehabt. Prof. Dr. Frank Golczewski danke ich für das Engagement und die Diskussionsfreude, mit denen er das Entstehen meiner Arbeit von Beginn an begleitet hat, sowie für die Übernahme des Zweitgutachtens. Wichtige Begleiterinnen und Begleiter meiner Arbeit waren meine Kolleginnen und Kollegen am Institut für Slavistik der Universität Hamburg. Für praktische und moralische Unterstützung danke ich besonders Uta, Ingeborg, Manfred, Mareike, Ulrike und Anke.
Inhalt
Danksagungen ..................................................................................................................
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Abkürzungen ....................................................................................................................
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Hinweise zu Zitaten und Übersetzungen ................................................................... 10 1. Einleitung .................................................................................................................. 11 2.
Die russische Literaturpolitik ................................................................................ 23 2.1 Russifizierung und Literaturpolitik ............................................................ 23 2.2 Russische Literatur in der Schule ............................................................... 27 2.3 Russische Buchhandlungen und Bibliotheken ........................................ 36 2.4 Zensur polnischer Übersetzungen ............................................................. 45 2.5 Das russische Theater in Warschau.............................................................. 53 2.6 Russische Schriftsteller in Polen und der „Varšavskij Dnevnik“............ 61
3. Der polnische Boykott und seine Grenzen ......................................................... 70 3.1 Der instinktive Boykott ................................................................................ 70 3.2 Zwischen Inspiration und Boykott: russische Literatur unter polnischen Sozialisten.................................................................................... 80 3.3 Der radikale Boykott: russische Literatur und Nationaldemokraten..... 91 4. Die Anhänger eines Ausgleichs mit Russland..................................................... 101 4.1 Kultur im Konzept eines Ausgleichs mit Russland.................................. 101 4.2 Włodzimierz Spasowicz und der „Kraj“..................................................... 106 4.3 Strategien für die Annäherung durch Literatur im „Kraj“...................... 109 4.4 Dokumentation und Kritik russischer Literatur im „Kraj“.................... 113 4.5 Der „Kraj“ und die russische Literaturpolitik im Königreich Polen............................................................................................. 117 5. Russische Literatur unter polnischen Autoren................................................... 121 5.1 Polnische Schriftsteller und russische Literatur zur Zeit des Realismus................................................................................................... 121 5.2 Polnische Schriftsteller und russische Literatur zur Zeit der frühen Moderne.............................................................................................. 137 6. Fallstudie I: Die Rezeption Lev Tolstojs in Polen (1864–1904) ................... 150
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Inhalt
7. Fallstudie II: Die Jubiläumsfeiern zu Puškins 100. Geburtstag (1899)......... 170 8. Zusammenfassung und Schluss.............................................................................. 189 9. Anhang: Übersetzungen der im Text erwähnten Originaltitel....................... 196 10. Literatur...................................................................................................................... 201 Index ................................................................................................................................... 220
Abkürzungen a.St. ATOP BN CVEV DI KVGG MNP MV NV PPS PW Rolsi SDKPiL SPbV VD ŻS
Alten Stils (= Datumsangaben nach dem julianischen Kalender, der im betrachteten Zeitraum in Russland galt) Agentstvo Tovariščestva Obščestvennoj Pol’zy Biblioteka Narodowa Cholmsko-Varšavskij Eparchial’nyj Vestnik Dział Ilustrowany (Teil des Kraj) Kanceljarija Varšavskogo General-Gubernatora Ministerstvo Narodnogo Prosveščenija Moskovskie Vedomosti Novoe Vremja Polska Partia Socjalistyczna Przegląd Wszechpolski Russkoe Obščestvo Ljubitelej Sceničeskogo Iskusstva Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy Sankt-Peterburgskie Vedomosti Varšavskij Dnevnik Życie i Sztuka (Teil des Kraj)
Hinweise zu Zitaten und Übersetzungen
1. Werktitel werden stets im polnischen oder russischen Original angeführt. Deutsche Übersetzungen aller Titel finden sich im Anhang. Sofern dies möglich war und sinnvoll erschien, wurden die Titel bereits vorliegender deutscher Übersetzungen übernommen. 2. Übersetzungen von Zitaten sind vom Verfasser dieser Arbeit (P. Salden), sofern dies nicht anders gekennzeichnet ist. Bei russischen Zitaten stehen vollständige Sätze stets in kyrillischen Buchstaben, Einzelworte und Satzfragmente werden transliteriert. 3. In Zitaten sind Hervorhebungen stets aus der Vorlage übernommen. Einschübe in eckigen Klammern sind stets vom Verfasser dieser Arbeit, sofern dies nicht anders gekennzeichnet ist. 4. Die Orthographie folgt den jeweiligen Vorlagen auch dort, wo sie nach heutigem Standard veraltet ist.
1. Einleitung
Am 28. Dezember 1898 versammelte sich in St. Petersburg der russische Schriftstellerverband, um den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz zu seinem 100. Geburtstag mit einem Festbankett zu ehren. Als zeitgenössischer Vertreter der polnischen Literatur war dazu neben anderen auch Bolesław Prus geladen, einer der bekanntesten Autoren seiner Zeit. Prus nahm die Einladung allerdings nicht an und verzichtete auch auf einen von seiner Kollegin Orzeszkowa angeregten gemeinsamen Brief an die in St. Petersburg versammelten Schriftsteller. Neuralgische Kopfschmerzen seien Schuld an seiner Unpässlichkeit, ließ Prus zur Erklärung verlauten (Orzeszkowa 1958, 121; vgl. Kraj Nr. 1–2/1899, 30 ff.). Fünf Monate später: Diesmal jährte sich der 100. Geburtstag des russischen Nationaldichters Aleksandr Puškin. In Petersburg gab es erneut ein Festbankett, diesmal organisiert von der polnischen Wochenzeitung Kraj und unter Teilnahme von Prominenz aus dem russischen Literaturleben. Erneut wurden auch die polnischen Schriftsteller eingeladen, doch wieder musste Prus sowohl die Teilnahme als auch eine längere Grußbotschaft absagen. In einem Brief an die Veranstalter erklärte er sich: „(...) znowu trochę przycisnęła newralgia i... chociaż ‚pociąg został, lecz lokomotywę diabli wzięli‘“ (Fita/Tokarzówna 1969, 542).1 Die Perspektive eines Kontakts zu seinen russischen Schriftstellerkollegen bereitete dem unter schwachen Nerven leidenden Prus offensichtlich Kopfzerbrechen.2 Man kann ihm dies nicht verdenken, denn zu beiden Anlässen war es gut möglich, durch öffentliche Respektsbekundungen gegenüber der russischen Literatur den Ärger des polnischen Publikums hervorzurufen. Äußerungen zur russischen Literatur erforderten damals von einem exponierten Schriftsteller wie Prus diplomatisches Geschick. Derartige Komplikationen ergaben sich allerdings nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im privaten Bereich. In seinem autobiographisch gefärbten Roman W młodych oczach beschreibt der polnische Schriftsteller Piotr Choynowski folgende Szene eines jungen Privatschülers mit seinem Lehrer: Otóż kiedyś, mimo woli prawie, nauczyłem się lekkiego jak pianka wiersza Puszkina, przeczytawszy go ledwie parę razy. Po prostu sam wpadł mi w ucho. Recytowałem go nauczycielowi chełpliwie: Rumianoj zarioju/Pakryłsia wastok;/W siele za riekoju/Patuch aganiok.../ 1 „(...) erneut hat ein wenig die Neuralgie gedrückt und... obwohl ‚der Zug geblieben ist, haben die Lokomotive die Teufel geholt‘.“ 2 Prus litt unter Agoraphobie und neuralgischen Kopfschmerzen (newralgia w głowie), vgl. Fita/ Tokarzówna 1969, 470; 532; Fita/Tokarzówna 1974, 268; Prus 1974, 175 f.; Lorentowicz 1962, 108 f.
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Einleitung Pan Srzednicki przysłuchiwał się tej deklamacji ze zdumieniem. Rzekł wreszcie sucho: „Po cóżeś ty się tego uczył?“ „Bo ja... Bo ja, proszę pana, lubię wiersze“ – bąkałem zmieszany. „Lubisz wiersze? Proszę, proszę... A nasze, polskie wiersze umiesz na pamięć?“ Stwierdziłem, ku własnemu nawet zdziwieniu, że umiem tylko Leci liście z drzewa, który to wiersz Melanka wkuła mi przemocą na imieniny matki. Zawstydziłem się tego. A student zmarszczył się groźnie i krzyknął na mnie prawie: „Nasze wiersze są sto razy, tysiąc razy piękniejsze!!!“ (Choynowski 1958, 45).3
Was genau machte die Rezeption russischer Literatur für Polen so schwierig? Ging es allein um ästhetischen Lokalpatriotismus, um eine natürliche Konkurrenz zwischen den beiden Nachbarvölkern? Sicherlich gab es entsprechende Phänomene zwischen Polen und Russen, doch die Komplikationen für Prus und den Schuljungen in Choynowskis Text rührten aus anderen, ernsthafteren Quellen. In drei Teilungen hatten Russland, Preußen und Österreich am Ende des 18. Jahrhunderts Polen als selbstständigen Staat aufgelöst und das Gebiet in ihren eigenen Herrschaftsbereich einbezogen. Zu Russland gehörten nach der Umverteilung des Gebiets auf dem Wiener Kongress 1815 etwa 82% des ehemaligen polnisch-litauischen Territoriums (Hoensch 1998, 192). Hiervon waren die ehemaligen polnischen Ostgebiete als „westliche Gouvernements“ (zapadnye gubernii) sofort sehr eng an den russischen Gesamtstaat angeschlossen worden (Amburger 1966, 390 f.). Nach dem Wiener Kongress wurde aus dem westlichen Teil mit der alten Hauptstadt Warschau nun das „Königreich Polen“ („Kongresspolen“) gebildet, das mit Russland in Personalunion verbunden war (Hoensch 1998, 193). Im Königreich Polen konzentrierte sich in den folgenden Jahrzehnten der Widerstand gegen die Fremdherrschaft, besonders deutlich in den polnischen Aufständen der Jahre 1830/31 (Novemberaufstand) und 1863/64 ( Januaraufstand). Die russischen Reaktionen waren stets kompromisslos: Die Verantwortlichen wurden hart bestraft und polnische Sonderrechte immer weiter beschränkt. Die Gegensätze zwischen Polen und Russen verschärften sich zusehends.
3 „So lernte ich eines Tages, fast ungewollt, ein schaumleichtes Gedicht Puškins, nachdem ich es lediglich ein paar Mal gelesen hatte. Es ging mir einfach von selbst ins Ohr. Ich rezitierte es dem Lehrer prahlerisch: ‚Rumjanoj zareju/ pokrylsja vostok;/ v sele za rekoju/ potuch ogonek.../’ Herr Srzednicki hörte dieser Deklamation mit Erstaunen zu. Schließlich sagte er trocken: ‚Wofür hast du das denn gelernt?’ ‚Weil ich... Weil ich, mein Herr, Gedichte mag‘ – murmelte ich verlegen. ‚Du magst Gedichte? Bitte, bitte... Und kannst du unsere, polnische Gedichte auswendig?‘ Zur eigenen Verwunderung stellte ich fest, dass ich nur Leci liście z drzewa konnte, ein Gedicht, das Melanka mir mit Gewalt zum Namenstag der Mutter eingebläut hatte. Ich schämte mich dafür. Und der Student runzelte bedrohlich die Stirn und schrie mich fast an: ‚Unsere Gedichte sind hundertfach, tausendfach schöner!!!‘“ Choynowski bezieht sich auf Puškins Gedicht Višnja und Wincenty Pols Leci liście z drzewa; über Choynowskis Roman siehe Nowakowski 1972, 94 ff.; 102 f.
Einleitung
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Der in dieser Arbeit betrachtete Zeitraum stellte in dieser Hinsicht den Höhepunkt dar. Erneut schlugen die russischen Truppen 1863/64 einen Aufstand mit aller Härte nieder, Rädelsführer und ihre Unterstützer wurden hingerichtet oder verbannt, ihre Vermögen konfisziert. Doch dabei blieb es nicht: Die russische Politik im Königreich Polen erfuhr eine grundsätzliche Neuausrichtung, deren Ziel die praktisch vollständige Abschaffung der bis dato ohnehin schon eng umgrenzten politischen Eigenständigkeit war (Chwalba 1999, 23; Chimiak 1999, 19 ff.). Organe, die von polnischer Autonomie zeugten, wurden bald nach dem Aufstand abgeschafft (detailliert Amburger 1966, 429 f. Grzybowski 1982, 62 ff.). Stattdessen wurde das Behördensystem nach russischem Vorbild umgebaut, wobei die Polen aus den Leitungspositionen herausgedrängt wurden – so u.a. im Gerichts- und Schulwesen (Kieniewicz 1997, 292 f.). Während in vielen Gebieten Russlands in den 1860er Jahren Institutionen der lokalen Selbstverwaltung eingeführt wurden, blieben diese den Polen vorenthalten, um der Entwicklung eines neuen Separatismus keinen Vorschub zu leisten (Weeks 1996, 131 ff.). Symbolisch drückte sich der neue Kurs darin aus, dass aus dem „Königreich Polen“ im offiziellen Sprachgebrauch das „Weichselland“ wurde, der russische Statthalter und Vizekönig entsprechend zum Generalgouverneur (Hoensch 1998, 220; Kieniewicz 1997, 292; Bałabuch 1997, 182 f.). Auch die Namen bildeten also ab, was die bürokratischen Umgestaltungen bewirken sollten: dass Polen in administrativer Hinsicht zu einer gewöhnlichen russischen Provinz herabsank. Für die Polen brachte dies viel Frustration mit sich, etwa beim Anblick russischer Soldaten im Stadtbild, bei der Begegnung mit russischen Beamten in den Behörden und beim Schulunterricht in einer fremden Sprache. In ihrem eigenen Land trafen sie auf Schritt und Tritt auf die Missachtung ihrer politischen Ambitionen und auf die Geringschätzung ihrer kulturellen Bedürfnisse. Russland agierte in Polen scheinbar aus einer Position der Stärke, doch stellte sich die Situation der russischen Politik in jenen Jahren ambivalent dar. Nach der russischen Niederlage im Krimkrieg (1853–56) war der Reformbedarf so offensichtlich geworden, dass es unter Zar Aleksandr II. zu Beginn der 1860er Jahre eine kurze Phase wichtiger innerer Reformen gegeben hatte, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Einführung lokaler Selbstverwaltung. Doch auch wenn sich zum Ende des Jahrhunderts die Wirtschaft grundsätzlich gut entwickelte und u.a. auch die militärischen Erfolge im russisch-türkischen Krieg Hoffnungen auf ein erneutes Erstarken des Landes nährten, misslang die Realisierung eines anhaltenden und ambitionierten Reformkurses. Um die Jahrhundertwende war deshalb unklar, ob Russlands innere Verhältnisse den eigenen Anspruch als europäische Führungsmacht dauerhaft würden tragen können (Stökl 1997, 536 ff.). Anlass für großes Selbstbewusstsein lieferte den Russen aber allemal das Kulturleben jener Jahre und insbesondere die Literatur. Nach einer langen Zeit der Bedeutungslosigkeit hatte sie im 19. Jahrhundert stetig an Renommee gewonnen, bis sie
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Einleitung
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine ganze Reihe hervorragender Autoren endgültig Weltrang erreichte. Dies war vor allem der Verdienst der ProsaAutoren, die in ihren Texten gerade auch die Widersprüche der Epoche abzubilden vermochten: 1859 erschien Gončarovs Oblomov, 1862 Turgenevs Otcy i deti, 1866 Dostoevskijs Prestuplenie i nakazanie und 1881 seine Brat’ja Karamazovy. Tolstoj veröffentlichte ab 1863 Vojna i mir und 1878 Anna Karenina. Auf diese Generation der großen realistischen Schriftsteller folgten in den 1890er Jahren weitere große Autoren wie Anton Čechov und Maksim Gor’kij (allgemein zur Entwicklung der russischen Literatur siehe z.B. Städtke 2002, 184 ff.; Stender-Petersen 1986, 191 ff.). Diese und andere russische Autoren fanden nicht nur in Russland, sondern auch in Westeuropa ein großes Publikum. In Polen dagegen behinderten nicht nur die politischen Verhältnisse eine enthusiastische Rezeption, sondern auch die Rückwirkungen des Konflikts auf die literarischen Texte. Anschaulich kann man sich dies z.B. in Vsevolod Krestovskijs Doppelroman Krovavyj puf vergegenwärtigen, in dem die Polen Intriganten und adlige Poseure sind, Feiglinge und Barbaren, die im Kampf gegen die Russen wehrlose Opfer in Stücke schneiden, ihnen die Haut abziehen, sie bei lebendigem Leib begraben oder ihnen die Augen ausstechen (Krestovskij 1995, 495 f.). Sicherlich entging den Polen nicht allzu viel, wenn sie als Konsequenz einen Autor wie Krestovskij ignorierten. Allerdings konnte sich auch die russische Hochliteratur von stereotypen Darstellungen der Polen nicht freimachen. Zu nennen ist hier an erster Stelle Dostoevskij, der in vielen seiner Werke abstoßende polnische Nebenfiguren zeichnete (vgl. Lednicki 1954, 262). Auch er ist aber bei weitem kein Einzelfall, sondern auch in den Polenbildern von Tjutčev, Polonskij, Leskov und vielen anderen Autoren spiegelt sich die antipolnische Welle, von der Russland nach dem Ausbruch des Januaraufstands überrollt wurde (Orłowski 1992, 122 ff.; vgl. Salden 2011).4 Nicht nur konservative Kreise ereiferten sich damals über die polnischen „Banden“ und „Banditen“, sondern auch viele russische Liberale. Die Schreckensmeldungen der Presse über das polnische Schurkentum entfachten eine regelrechte Paranoia: Den Polen schien alles zuzutrauen zu sein (Fal’kovič 2000, 169 f.). Die sehr rigorose Politik Polen gegenüber und die gleichzeitig aus polnischer Sicht oft nationalistischen Elemente in Werken der russischen Kultur brachten unter den Polen eine äußerst skeptische Sicht auf das slavische Brudervolk hervor. So berichtete der dänische Literaturwissenschaftler Georg Brandes von einer Reise durch den russischen Teil Polens am Ende des 19. Jahrhunderts: Das Kind saugt mit der Muttermilch die Geringschätzung und den leidenschaftlichen Hass gegen die Russen ein. Alles, was es in den ersten Lebensjahren hört, stärkt diesen Hass und
4 Wobei die Polenbilder der Autoren nicht unbedingt negativ blieben, sondern Wandlungen unterlagen, z.B. bei Leskov (Szyszko 1996, 6).
Einleitung
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diese Geringschätzung. (...) Alles, was das Kind hinsichtlich der Russen erfährt und erlebt, [ist] ungünstiger Art, oder es erhält eine ungünstige Auslegung (Brandes 1898, 89).
Aber dieses negative Bild ist nicht die ganze Wahrheit. „(...) Moskale posiadają dwie rzeczy dobre: Turgieniewa i herbatę“, schrieb 1889 der (spätere) polnische Schriftsteller Stefan Żeromski in sein Tagebuch (Żeromski 1980, 521).5 Żeromskis Notiz steht dafür, dass die Verhältnisse zwischen Polen und Russen sich trotz der ungünstigen Voraussetzungen nicht auf einen Gegensatz reduzieren lassen und dass dies auch die Zeitgenossen nicht durchweg taten. Im Gegenteil ist gerade die Zeit nach dem Januaraufstand von 1864 auch ein Abschnitt, in dem in der polnischen Gesellschaft das Bedürfnis entstand, einen Weg der Koexistenz zu finden. Dieser Pragmatismus gilt ebenso für die Rezeption russischer Literatur. Polen lasen aus unterschiedlichen Gründen russische Autoren – sei es, weil sie Literatur und Politik zu trennen vermochten, sei es, weil sie den Blick auf die polenfreundlichen Elemente der russischen Gesellschaft und Kultur richteten. Die Beziehung der Polen zur russischen Kultur erschöpfte sich nicht im Boykott – die Wirklichkeit war komplexer. Ziel dieser Arbeit ist es, diese vielschichtige Rezeption und ihre Voraussetzungen darzustellen. Die bisherige Forschung zu den polnisch-russischen Literaturbeziehungen im betrachteten Zeitraum ist umfangreich, wobei zwei besonders einflussreiche Arbeiten herausragen: Aleksander Brückners O literaturze rosyjskiej i naszym do niej stosunku dziś i lat temu trzysta (1906) sowie Literatura rosyjska wśród Polaków w okresie Pozytywizmu von Marian Jakóbiec (1950). Brückner, ein polnischer Slavist und langjähriger Professor für slavische Philologie an der Berliner Universität, schrieb in seiner Studie von einer äußerst geringen Verbreitung russischer Literatur unter den Polen. Die Schuld daran gab er in erster Linie den dargestellten politischen Umständen: Ignorowano u nas literaturę rosyjską, bo nie chciano mieć nic do czynienia z wrogiem, bo odosabniano się od niego szczelnie i ściśle na każdym polu, a więc i na duchowym. Obawiano się, czy poznanie szlachetnej strony u wroga nie osłabi, nie poczyni szczerbów w naszej antypatji; czy sympatje literackie nie pociągną za sobą politycznych, społecznych, czy nie będą wodą na młyn „ugodowców“. I odgraniczono Królestwo od literatury rosyjskiej, a Królestwo przesłoniło ją i Galicji i dzielnicy Poznańskiej (Brückner 1906, 11 f.).6 5 „(...) die Moskowiter haben zwei gute Sachen: Turgenev und Tee.“ 6 „Man ignorierte bei uns die russische Literatur, weil man nichts mit dem Feind zu tun haben wollte, weil man sich von ihm gründlich und rigoros in jedem Bereich absonderte und also auch im geistigen. Man befürchtete, dass das Kennenlernen einer edlen Seite am Feind diese Antipathie schwächen, ihr Risse zufügen könnte und dass literarische Sympathien politische, gesellschaftliche nach sich ziehen könnten, dass sie Wasser auf die Mühlen der ‚Ausgleichler‘ sein würden. Und so grenzte man das Königreich von der russischen Literatur ab, und das Königreich verdeckte sie auch Galizien und der Posener Region.“
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Einleitung
Laut Brückner führte dies so weit, dass die ganze russische Literatur auf den Index librorum prohibitorum gesetzt wurde: „I skutek był ten, że można było trafiać ludzi najwykształceńszych, (...) dla których imiona: Puszkin i Gogol, Turgenjew i Dostojewski, pustym pozostawały brzmieniem“ (Brückner 1906, 9).7 Diesen Zustand sah Brückner auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als gegeben an (Brückner 1906, 9). Marian Jakóbiec dagegen, ebenfalls Slavist und langjähriger Professor der Universität Wrocław (Breslau), deutete die Rezeptionssituation anders. Zwar schrieb auch er, dass es eine durch die politischen Umstände hervorgerufene Zurückhaltung der Polen gegenüber der russischen Kultur gab. Allerdings wandte er ein: „Nie znaczy to wcale, aby Polacy nie czytali rosyjskich książek i aby ich nie cenili. Czynili to wszyscy, ale bez rozgłosu i pochwał, nieraz w tajemnicy przed własnym patriotycznym otoczeniem“ (Jakóbiec 1950, 8 f.).8 Als Beleg zitierte Jakóbiec aus persönlichen Aufzeichnungen der Zeitgenossen, d.h. aus Briefen und Erinnerungen, und schlussfolgerte, dass die russische Literatur einen erheblichen Einfluss sowohl auf die polnische Literatur als auch auf die gesellschaftlichen Diskussionen im Land gehabt hatte. Bei der Beurteilung beider Thesen sind auch historische und persönliche Aspekte zu beachten. Als Aleksander Brückner seine Betrachtungen abschloss, war Polen noch geteilt, alle äußeren und inneren Hemmnisse der Rezeption russischer Texte in Kraft. Brückner selbst war politisch kein Freund Russlands, rezipierte die russische Literatur aber in ihrer ganzen Breite und mit Anerkennung (Kośny 1991, 16 f.; Rothe 2001, 47; Seemann 1991, 109 f.). Auf den Umfang der Rezeption seiner Landsleute musste er allerdings von außen schließen, d.h. von Berlin aus, und er tat dies recht freihändig, basierend auf seinen persönlichen Eindrücken – eine Arbeitsweise, die ihn zuweilen kennzeichnete (vgl. Puzynina 1991, 16; Markiewicz 2008, 265 f.). Folgt man Jakóbiec’ These von der verborgenen Rezeption, krankte Brückners Studie vor allem am fehlenden Zugang zu den persönlichen Aufzeichnungen der Zeitgenossen, die zu Jakóbiec’ Zeit bereits teilweise publiziert, zu Brückners Zeiten aber unzugänglich waren. Ein Urteil allein auf Grundlage von polnischer Presse und von Kontakten mit Polen in Österreich und Preußen konnte aber leicht dazu führen, die Rezeptionsreichweite zu unterschätzen (vgl. Jakóbiec 1950, 9 f.) Die Studie von Jakóbiec ist besser fundiert, trägt allerdings ebenfalls Zeichen ihrer Entstehungszeit. Als sie 1950 publiziert wurde, hatten die polnischen Kom7 „Und als Folge konnte man die gebildetsten Leute treffen, (...) für welche die Namen Puškin und Gogol’, Turgenev und Dostoevskij ohne Klang blieben.“ 8 „Das bedeutet keineswegs, dass die Polen russische Bücher nicht lasen und nicht schätzten. Das taten alle, aber ohne Aufsehen und viel Lob, oft im Verborgenen vor der eigenen patriotischen Umgebung.“
Einleitung
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munisten gerade unter sowjetischer Schirmherrschaft den Kampf um die Macht im Nachkriegspolen für sich entschieden. In Polen war die kurze Phase des Stalinismus angebrochen, das Land vollzog auf allen Ebenen die Hinwendung zum „großen Bruder“ im Osten. Dies hatte auch für die polnische Wissenschaft und Kultur Folgen, die wie die meisten anderen Lebensbereiche eine politisch bedingte Neuausrichtung erlebten. Russlandbezogene Themen hatten in dieser Situation eine besondere Sensibilität, weshalb auch die Russistik in den Dunstkreis der politischen Propaganda geriet (Baskakov 1973, 189 f.). Auch in Jakóbiec’ Arbeit, die zugleich Grundlage seiner Habilitation im Jahr 1951 war (Suleja 2009, 337), machen sich daher doktrinäre Aspekte bemerkbar. So stellte er zu Beginn die russische Literatur als das Medium des beständigen Freiheitskampfes des russischen Volks heraus, sowie die revolutionär bzw. sozialistisch gesinnten Kräfte in Polen als ihre wichtigsten Sympathisanten. Die bürgerlichen und adligen Polen dagegen hätten bewusst den Boykott forciert, um sowohl die alten nationalen Ressentiments zu schüren als auch die sozialistische Bewegung klein zu halten (Jakóbiec 1950, 3 f.; 12 ff.; 76). Die Studie hat aufgrund der Rahmenumstände Akzente, die später womöglich anders gesetzt worden wären (vgl. Jakóbiec 1990, 8; Suleja 2009, 337 f.; zur Atmosphäre in der Breslauer Russistik zu Beginn der 1950er Jahre s.a. Sielicki 1997, 79 ff.). Ungeachtet aller Vorbehalte und Erklärungen sind die Thesen von Brückner und Jakóbiec die meistzitierten in der einschlägigen Wissenschaftsliteratur und repräsentieren auch zwei unterschiedliche Forschungsabschnitte. Den ersten Abschnitt, eingeleitet von Brückners These, kennzeichnet in der Zeit zwischen 1906 und dem Zweiten Weltkrieg eine sehr geringe Forschungstätigkeit zum Thema der polnisch-russischen Literaturbeziehungen. Dies lag nicht nur daran, dass, wie Brückner suggerierte, es wenig zu erforschen gab. Vor allem scheint es, dass sich selbst nach der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit 1918 die damaligen Forscher und Wissenschaftsorganisatoren noch nicht von der einst selbst erlebten Isolation von der russischen Kultur befreien konnten. Von Russland hielt man sich lieber fern, und desto verdächtiger erschien die Erforschung russischer Einflüsse auf die Polen. Nicht zufällig existierte an polnischen Universitäten in diesen Jahren überhaupt nur ein einziger Lehrstuhl für russische Literatur (von Wacław Lednicki in Krakau; Jakóbiec 1990, 6 f.). Arbeiten über die Rezeption russischer Literatur in Polen erschienen nur vereinzelt. Die Veröffentlichung von Marian Jakóbiec’ These über die zwar verdeckte, aber durchaus umfangreiche Rezeption steht derweil stellvertretend für den zweiten Forschungsabschnitt, d.h. für einen enormen Anstieg der Forschungstätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die politischen Zusammenhänge liegen auf der Hand: Die Anbindung Polens an die Sowjetunion erforderte schon aus praktischen Gründen eine Stärkung der Russistik (z.B. zur Ausbildung von Russischlehrern), und da zudem aus ideologischen Gründen der Nachweis einer gewissen Freundschaftstradi-
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Einleitung
tion zwischen Polen und Russen wünschenswert erschien, entwickelten sich nun auch die Forschungen über die gegenseitige Literaturrezeption rasant (vgl. Jakóbiec 1990, 7 f.). Der politische Kontext hatte allerdings kaum Auswirkungen auf die Qualität der geleisteten Forschungen, die sehr hoch ist – hierfür stehen polnische Forscher wie Zbigniew Barański, Bazyli Białokozowicz, Samuel Fiszman, Bohdan Galster, Jan Orłowski, Telesfor Poźniak, Antoni Semczuk, Tadeusz Szyszko, Jan Trochimiak und Zbigniew Żakiewicz sowie die Moskauer Literaturwissenschaftlerin Elena Cybenko. Durch ihre Arbeiten wurden zahlreiche Einzelfragen aus dem Bereich der Rezeption russischer Literatur in Polen beleuchtet und zudem reiches Quellenmaterial erschlossen, so insbesondere zur Rezeption einzelner Schriftsteller in der polnischen Öffentlichkeit und zum Einfluss russischer Schriftsteller auf ihre polnischen Kollegen. Diese Forschungsliteratur zu den polnisch-russischen Literaturbeziehungen 1864–1904 besteht inzwischen aus einer kaum noch überschaubaren Menge an Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen. Verschiedene Überblicksdarstellungen und bibliographische Aufstellungen haben dies ansatzweise erfasst (z.B. Białokozowicz 1971, 302 ff.; Białokozowicz 1976; Orłowski 1990; Cybenko 1990; Chajęcka 1991; Cybenko 2009). Seit den 1990er Jahren haben die Forschungsaktivitäten nachgelassen. Viele zentrale Themen wurden bearbeitet, durch die Westorientierung Polens haben sich die politischen Rahmenumstände geändert und die direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aktive Forschergeneration ist inzwischen abgetreten. Diese Situation ermöglicht zweierlei: zum einen, die bisherige Forschung in einem gemeinsamen Rahmen zusammenzufassen und zum anderen, das Thema jenseits der alten Bahnen neu zu betrachten. Was Ersteres betrifft, so hat es seit Marian Jakóbiec’ Arbeit aus dem Jahr 1950 keine Darstellung mehr gegeben, in der die vielen Einzelstudien zusammengeführt wurden – obwohl der Ruf danach schon in den 1960er Jahren laut wurde und seitdem oft wiederholt worden ist, so auch in jüngster Vergangenheit ( Jakóbiec 1968, 132 f.; Białokozowicz 1971, 8 f.; Cybenko 2009, 280). Die vorliegende Arbeit stellt sich der Forderung nach einer entsprechenden Synthese. Der Ansatz hierfür besteht darin, die zentralen weltanschaulichen Kontexte zu rekonstruieren, in denen russische Literatur in Polen rezipiert wurde. So soll ein Rahmen geschaffen werden, in den Forscher die bisherigen Studien einordnen können, ohne dass diese alle explizit aufgegriffen werden müssen. Behandelt werden in diesem Sinne u.a. die Rezeptionssituationen der russischen Behörden in Polen, der polnischen Sozialisten und Nationalisten, der Befürworter einer Aussöhnung mit Russland sowie der polnischen Schriftsteller des Realismus und der Moderne. Fallstudien am Ende der Arbeit zu Tolstoj- und Puškin-Rezeption sollen illustrieren, welche Gemeinsamkeiten, Gegensätze und Wechselwirkungen es bei der Rezeption dieser Gruppen gab.
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Die Neuperspektivierung dieser Aspekte soll dadurch gelingen, dass klarer als bisher dem Umstand eines hochgradig politisierten Rezeptionsumfelds Rechnung getragen wird. Es scheint, dass eine rein literaturwissenschaftliche Betrachtung der Sache nicht gerecht wird, sondern dass die Aussagen der polnischen Rezipienten stets im weltanschaulichen und historischen Kontext gesehen werden müssen. Dieser Ansatz über die politischen Hintergründe zeigt, dass es in der Rezeptionsforschung zu den polnisch-russischen Literaturbeziehungen im betrachteten Zeitraum durchaus noch viele unberührte Felder gibt. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit betrifft dies die russische Literaturpolitik im Königreich Polen. Zwar wird in praktisch allen Studien zu den polnisch-russischen Literaturbeziehungen auf die politischen Rahmenumstände verwiesen, allerdings fehlen ausdrückliche Studien zur russischen Politik in Bezug auf das Literaturprogramm in den polnischen Schulen, auf die Zensur russischer Literatur, auf Bibliotheken, Buchhandlungen, das russische Theater und die Literatur im russischen Amtsblatt Varšavskij Dnevnik (Einzelaspekte aus diesem Themenkreis behandeln Zwinogrodzka 1984; Prussak 1987; Lech 1972; zur Schule vgl. für die Zeit vor 1864 Wołczuk 2005, 104 ff.). Das dritte Kapitel nähert sich der These vom Boykott der russischen Kultur durch die Polen. Es soll geprüft werden, inwiefern ein solcher Boykott in der Bevölkerung tatsächlich stattfand und welches Ausmaß er hatte. Dies betrifft einerseits den unideologischen Boykott im polnischen Alltag, andererseits aber auch die Entwicklung eines ideologisch begründeten Boykotts in den Kreisen der polnischen Sozialisten und besonders der Nationalisten (Nationaldemokraten). Auch hierzu liegt wenig Forschung vor (die Sozialisten betreffen Passagen in Jakóbiec 1950; Sandler 1954; Trochimiak 1983). Das vierte Kapitel befasst sich mit der Rezeption russischer Literatur durch diejenigen Polen, die politisch einen Kompromiss mit Russland anstrebten (sog. Ausgleichslager, von poln. ugoda = Ausgleich). Im Rückgriff auf politische Schriften dieser Richtung soll dargestellt werden, wie sich ein Konzept für den Kulturaustausch zwischen Polen und Russen entwickelte und wie sich die polnische Wochenzeitung Kraj in seinem Sinne zum wichtigsten Fürsprecher russischer Literatur unter den Polen entwickelte. Dabei soll über die bisherige Forschung hinausgegangen werden, die sich mit Włodzimierz Spasowicz auf die dominierende Figur dieses Lagers konzentrierte (Sławęcka 1969; Kulczycka-Saloni 1975; zum Kraj MatlakPiwowarska 1978). Das fünfte Kapitel betrifft die Rezeption russischer Literatur durch die polnischen Schriftsteller des Realismus und der frühen Moderne. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, welche Russlandbeziehung die jeweiligen Schriftstellergenerationen generell pflegten und inwieweit sie russische Literatur lasen bzw. sich womöglich sogar von ihr inspirieren ließen. In diesem Bereich lag der Schwerpunkt der bisherigen Forschung. Dies gilt insbesondere für die Zeit des Realismus mit Studien zur
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Beziehung von Autoren wie Prus, Orzeszkowa und Sienkiewicz zur russischen Literatur (z.B. „Prus und die russische Literatur“) sowie zur Rezeption einzelner russischer Autoren in Polen (z.B. „Dostoevskij in Polen“). Die wichtigen Studien sollen hier nicht aufgezählt werden, es genügt der Verweis auf die im Forschungsüberblick genannten Autoren bzw. die bibliographischen Aufstellungen. Was die polnischen Schriftsteller der Moderne betrifft, so fehlt bislang eine Studie für die Zeit vor 1905 (andere Akzente haben Żakiewicz 1968; Sobieska 2006; Baranov 2009). Die beiden abschließenden Fallstudien behandeln die polnische Rezeption Lev Tolstojs sowie die Ereignisse rund um die Feiern zu Aleksandr Puškins 100. Geburtstag 1899. Die Tolstoj-Rezeption ist bereits sehr gut erforscht (z.B. Grzegorczyk 1964, Białokozowicz 1966a und Białokozowicz 2003). Sie soll hier aufgegriffen werden, da Tolstoj im betrachteten Zeitraum der von Polen am breitesten rezipierte russische Autor war und es sich anbietet, dieses Thema aus der gewählten neuen Perspektive der vorliegenden Arbeit zu betrachten. Das Puškin-Jubiläum dagegen ist bisher nur oberflächlich behandelt worden (am ausführlichsten Przybyła 1999), obwohl es 1899 die gesamte polnische Intelligenz in Atem hielt. In allen Kapiteln soll auch unbekanntes oder bisher kaum beachtetes Quellenmaterial Verwendung finden, darunter Gesetzestexte und Dokumente aus dem Archiv der Zeitschrift Kraj (vertrauliche Notizen, Korrespondenz etc.). Das Fundament der Arbeit bilden allerdings die publizistischen Quellen. Sofern vorhanden, wurden hierfür existierende bibliographische Aufstellungen genutzt. Ein Großteil des verwendeten Materials stammt indes aus der kleinschrittigen Neudurchsicht von über 100 Jahrgängen zeitgenössischer Tages-, Wochen- und Monatszeitschriften. Dies erschien einerseits wichtig, um die Rezeption der entsprechenden Gruppen abbilden zu können, andererseits aber auch, um ein Bild von der Präsenz russischer Literatur im polnischen Alltag jener Jahre zu gewinnen. Einzelne Unterkapitel (z.B. 2.3, 2.5, 4.3, 4.4., 4.5) stützen sich in hohem Maße auf die Zeitungsquellen und somit auf bisher überwiegend unbekanntes Material. Die für diese Arbeit gewählte zeitliche Untergrenze ist das Jahr 1864. Es steht für die Niederschlagung des Januaraufstands und damit für eine eindeutige Zäsur in der politischen und kulturellen Geschichte Polens. Das als Obergrenze gewählte Jahr 1904 ist dagegen weniger selbsterklärend, ergibt sich aber aus mehreren Überlegungen. Während die Entwicklungslinien der polnischen Kultur und Politik nach 1864 lange Zeit recht konstant waren, kann das Revolutionsjahr 1905 gleich in mehreren Bereichen als Markzeichen einer Neuorientierung gelten. Die polnischen Nationaldemokraten schwenkten aus der radikalen Opposition gegen Russland auf eine russlandfreundliche Politik, das Ugoda-Lager dagegen hatte spätestens zu diesem Zeitpunkt seinen Zenit überschritten und formierte sich unter neuen Bedingungen außerhalb des vorigen Zentrums St. Petersburg. Die Generation der realistischen Schriftsteller beendete in diesen Jahren ihre Arbeit. Was allerdings das Wichtigste ist: Die Revolution von 1905 führte zu einer größeren Offenheit
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gegenüber der russischen Literatur, die man nun als Medium eines Volkes las, das keineswegs in jeder Hinsicht mit seinen Herrschern einverstanden war (Żakiewicz 1968, 483; Jakóbiec 1968, 148). Um die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe für die russische Literatur vor und nach 1904 nicht zu durchmischen, sollen Aussagen und Quellen der Zeit nach 1904 (abgesehen von wenigen Ausnahmen) nicht berücksichtigt werden. Geographisch liegt der Schwerpunkt der Darstellungen dieser Arbeit auf dem Königreich Polen, wo die Frage der Rezeption aufgrund der russischen Herrschaft wichtiger als in den anderen Teilungsgebieten war. Im preußischen Teilungsgebiet (mit dem Zentrum Posen) und im österreichischen (Galizien mit Krakau) wurde russische Literatur zwar unbefangener, aber auch weniger rezipiert. Die Situation in den ehemaligen polnischen Gebieten östlich des Königreichs ist dagegen teilweise mit der im Königreich Polen vergleichbar.9 In alle diese Gebiete wie auch in die polnische Emigration (in Kernrussland und Westeuropa) wird gelegentlich ausgegriffen, sofern dies notwendig erscheint. Die vorliegende Arbeit legt ihren Schwerpunkt auf diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die nach Meinung des Verfassers für das Verständnis der Rezeption russischer Literatur in Polen besonders wichtig sind. Andere Aspekte bleiben durch die gewählte Akzentsetzung ohne umfangreiche Würdigung. Nicht oder nur am Rande behandelt werden Fragen einer speziellen Rezeptionsoptik polnischer Konservativer, polnischer Juden, polnischer Emigranten in Westeuropa und nichtpolnischer Bewohner in polnisch dominierten Gebieten. Die Behandlung dieser Themen erscheint für Folgestudien wünschenswert. Dies gilt gleichfalls für die Vertiefung einiger der betrachteten Aspekte, so besonders für die russische Literaturpolitik. Hier könnte die Sichtung der in Archiven erhaltenen russischen Akten interessante Ergänzungen bringen (wenngleich ein Großteil der relevanten Akten im Krieg zerstört wurde, so z.B. Bestände zum Theater (Bieńka 2003, 42), zu den Bildungseinrichtungen (Poznański 1993, 5) und zur Zensur (Secomska 1966, 5 f.)). Als wichtiges Thema möglicher Folgearbeiten sei abschließend die genaue Aufarbeitung der polnischen Übersetzungen russischer Texte im betrachteten Zeitraum genannt. Die polnisch-russischen Literaturbeziehungen als Teil der polnisch-russischen Beziehungen haben eine lange und komplizierte Geschichte. Durch den Zusammenbruch des Kommunismus können sie heute in einem spannungsfreieren Feld erforscht werden. Dass solche Arbeiten notwendig sind, zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre: Historische Ereignisse wie der Warschauer Aufstand, Katyń oder auch noch deutlich fernere wie die Vertreibung der Polen aus dem Kreml im Jahre 1612 (heute Anlass für 9 Zum Status der unterschiedlichen polnischen Gebiete in Russland, Preußen und Österreich s. Hoensch 1998, 192 f.
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den russischen Nationalfeiertag) führen noch immer zu wichtigen tagespolitischen Diskussionen. Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, derartigen Debatten ein sachliches Fundament zu geben und gleichzeitig dazu anregen, ein bereits breit erforschtes Thema neu zu betrachten und zu diskutieren.
2. Die russische Literaturpolitik 2.1 Russifizierung und Literaturpolitik Die russische Polenpolitik nach dem Januaraufstand von 1863/64 hatte, wie bereits angedeutet, eine harsche Form. Im polnischen Bewusstsein sind diese Jahre als Zeit der Russifizierung verankert, d.h. – einfach definiert – als Phase einer Politik, die aus den Polen gegen ihren Willen Russen machen wollte (Thaden 1981, 7; vgl. Miller 2002). Russland nahm in dieser Hinsicht im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmend aktive Haltung ein, die sich – nach Edward Thaden (1981, 7 f.) – auch in sprachlichen Details nachweisen lässt. So dominierte mit Bezug auf die Eingliederung von Minderheiten in das Reich im offiziellen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts das intransitive Verb obruset’, was das „Russisch-Werden“ meint. Später dagegen setzte sich das aktive obrusit’ durch, d.h. das „Russisch-Machen“. Natürlich war die russische Politik gerade mit Blick auf Polen auch vorher nie rein passiv gewesen. Von der ersten polnischen Teilung 1772 an musste der russische Staat darauf bedacht sein, die neu hinzugewonnen Gebiete in die eigenen Strukturen einzugliedern. Diese notwendige „administrative Russifizierung“ wurde durch die Einrichtung entsprechender Organe, Behörden und Verfahren vollzogen. In den Bereich der administrativen Russifizierung lassen sich also auch die bereits genannten Maßnahmen zum Umbau der polnischen Verwaltung nach dem Januaraufstand einordnen. Das Jahr 1863 steht allerdings auch für eine derartige Intensivierung der Politik zur Eingliederung der polnischen Gebiete nach Russland, dass von einer „kulturellen Russifizierung“ gesprochen werden kann – d.h. dem Versuch, Nicht-Russen die russische Kultur, Sprache und Religion aufzuzwingen und entsprechend die polnische Kultur zurückzudrängen (vgl. Thaden 1981, 9). Aber was war das Ziel? In vielen Zeitgenossen lösten die bedrückenden Zustände der russischen Herrschaft in Polen weitreichende Befürchtungen aus. So schrieb der dänische Literaturkritiker Georg Brandes nach seinen Besuchen im russischen Teilungsgebiet 1885 und 1886: Dem polnischen (...) Leben gegenüber (...) steht das russische System, das schwere, maschinenmässig wirkende russische Zwangssystem, der Ausrodungs- und Ausrottungsmechanismus. Er strebt nicht nur danach, jeden freien Spross der Nationalität und der Sprachpflege abzumähen, sondern ihr Wachstum in der Wurzel zu treffen, die Keime zu untergraben, den Samen aufzureissen (Brandes 1898, 104).
Brandes Worte implizieren zweierlei: zum einen, dass die Russifizierungspolitik systematisch geplant und durchgeführt wurde; zum anderen, dass durch die Russifizierung die polnische Nationalkultur ausgetilgt werden sollte. Mit diesem Ein-
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druck stand Brandes damals nicht alleine, und er findet sich auch noch in der Sekundärliteratur des 20. Jahrhunderts (Beispiele geben Staliunas 2004, 274; Weeks 1994, 40). Beide Thesen werden jedoch von der jüngeren Forschung bezweifelt.10 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die russischen Behörden einen koordinierten, planvollen Ansatz für die Russifizierung der Polen (oder anderer Ethnien) hatten (Pearson 1989, 88 ff.); im Gegenteil zeigt die Analyse einzelner gegen die polnische Kultur gerichteter Maßnahmen die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz des behördlichen Vorgehens (Dolbilov 2004). Gleichzeitig war der Anspruch der Maßnahmen nicht die völlige kulturelle Eliminierung der Polen (Przygrodzki 2007, 15). Eine Ausrottung des „Polentums“ war nur insoweit das Ziel, wie es als Synonym für eine staatsfeindliche Ideologie verstanden wurde (Dolbilov 2004, 246; Staliunas 2004, 278). Weitergehende Ziele mussten schon am bürokratischen Realitätssinn scheitern, denn mit einer chronisch unterbesetzten Bürokratie konnte auch dem optimistischsten Beamten die völlige Umerziehung eines nach Millionen zählenden Volkes nicht als aussichtsreiches Unterfangen erscheinen (Przygrodzki 2007, 18; vgl. Weeks 1996, 12; VD Nr. 263/1895, 2). D. A. Miljutin, eine zentrale Figur bei der Neuorganisation des Königreichs Polen nach 1863, formulierte hierzu: Пусть поляк говорит в своей семье и со своим земляком по-польски, так же как рижский немец – по-немецки, а рядом с ним эстонец – по-эстонски; пусть каждый из них любит свою национальную литературу, свои народные песни и т.д.; но когда дело идет об управлении, о суде, о государственных учреждениях – тут уже не должно быть места национальности; тут необходимо возможно большее единство и слияние между частями одного государства (Dolbilov/Miller 2006, 196; vgl. Thaden 1981, 7 f.).11
Nicht kulturelle Einschmelzung, sondern Formung zum russischen Staatsbürger war demnach das Ziel (vgl. Kappeler 2004, 293 f.).12 10 Einen Überblick über entsprechende Arbeiten gibt Kappeler 2004, 291 f. 11 „Soll doch der Pole in seiner Familie und mit seinem Landsmann polnisch reden, so wie der Rigaer Deutsche deutsch, und neben ihm der Este estnisch; soll doch jeder von ihnen seine nationale Literatur lieben, seine Volkslieder etc.; aber was die Verwaltung betrifft, das Gericht, die staatlichen Einrichtungen – dort darf die Nationalität schon nicht mehr ihren Platz haben; dort ist die größtmögliche Einheit und Verschmelzung der Teile eines Staates unabdingbar.“ 12 Diese Deutung der Russifizierung ist in der Forschung kein Konsens. Vertreten wird sie vor allem von westeuropäischen und russischen Historikern, die darin im Übrigen den zeitgenössischen Beteuerungen der russischen Seite folgen (vgl. MV Nr. 12/1895, 2; VD Nr. 263/1895, 2). In Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern hält sich tendenziell ein kritischerer Blick auf die Russifizierung (Przygrodzki 2007, 16 ff.). Aber auch dort gibt es neue Ansätze, so z.B. bei Chwalba, der darauf hinweist, dass die Polen die Russifizierung teils selbst umsetzten (Chwalba 1999, 54). Über die unterschiedlichen Ansätze schreiben Staliunas (2004, 274) und Kappeler (2004, 296).
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Es versteht sich derweil, dass der Übergang zwischen administrativer und kultureller Russifizierung fließend war. Selbst wenn man also unterstellt, dass die Russen nicht mehr als eine administrative Russifizierung zum Ziel hatten, dann war diese ohne ein gewisses Maß an kultureller Russifizierung schlecht denkbar (vgl. Weeks 1994, 27). So macht das Miljutin-Zitat deutlich: Wenn die Verwaltung im Königreich Polen auf allen Ebenen der innerrussischen angeglichen werden sollte, dann mussten dafür die sprachlichen Bedingungen geschaffen werden, und dies betraf nicht nur die Beamten, sondern auch die Kunden, d.h. das ganze Volk – denn wie sollte ein Pole mit den russischen Behörden kommunizieren, wenn er kein Russisch konnte (vgl. Thaden 1981, 28)? Auf diese Weise kam über die administrative Russifizierung die Frage nach der russischen Sprache und somit letztlich auch nach der russischen Literatur in die Politik. Denn dass diese den Polen gegenüber eine politische Funktion erfüllen könnte, war den Vertretern der russischen Behörden durchaus bewusst. Der Varšavskij Dnevnik schrieb 1885 in diesem Sinne: Nie potrzeba być ani głębokim znawcą serca ludzkiego, ani nadzwyczaj spostrzegawczym badaczem, ażeby ocenić, jak bardzo zapoznanie się z najlepszymi przedstawicielami naszej literatury godzi polaków z rosyanami, jak sympatyczną nić między nimi nawiązuje. Potwierdzają to wszyscy, będący na służbie w tutejszych zakładach naukowych, zwłaszcza żeńskich i wszystkie ich uczennice. Uczennice kochają Puszkina, obudwóch Tołstych, Turgeniewa jak swoich krewnych, a nad Gogolem zaśmiewają się do hysteryi. Wchodzą one w sferę rosyjskiego zapatrywania na świat, rosyjskiego widzenia rzeczy; nawykają do szanowania Katarzyny II., do podziwiania Piotra I. (zitiert nach Kraj Nr. 12/1885, 14).13
Und im gleichen Ton formulierte das Blatt 1895: Русская школа, знакомящая молодое поколение с русским языком, русской литературой, русской историей, искусством и т.д., способствует развитию в среде населения верноподданических чувств, любви к братнему русскому народу, сознания принадлежности к великой славянской семье, стремления всегда и во всем поддерживать русские интересы (…) (VD Nr. 263/1895, 2).14
13 „Man muss weder ein großer Kenner des menschlichen Herzens noch ein übermäßig scharfsinniger Forscher sein, um abzuschätzen, wie sehr das Bekanntmachen mit den besten Vertretern unserer Literatur die Polen mit den Russen versöhnt, was für eine sympathische Verbindung sie zwischen ihnen anknüpft. Dies bestätigen alle, die in den hiesigen Bildungseinrichtungen Dienst tun, besonders in denen für Frauen, sowie alle ihre Schülerinnen. Die Schülerinnen lieben Puškin, beide Tolstojs, Turgenev wie ihre Verwandten, und über Gogol’ lachen sie bis zur Hysterie. Sie treten in die Sphäre der russischen Weltanschauung, der russischen Sicht auf die Dinge; sie gewöhnen sich an Respekt vor Katharina II., an die Bewunderung für Peter I.“ 14 „Indem die russische Schule die junge Generation mit der russischen Sprache, der russischen Literatur, der russischen Geschichte, Kunst usw. bekannt macht, fördert sie in der Gesellschaft die Entwicklung untertäniger Gefühle, Liebe zum russischen Brudervolk, Anerkennung der
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Für die Formung zum loyalen russischen Bürger hatte die Literatur folglich zweierlei Wert: Zum einen konnte sie als Medium des Spracherwerbs dienen, zum anderen das Verständnis für die russische Weltsicht und Einfühlung in das russische Denken ermöglichen. Die Literatur wurde so zu einem Gegenstand, dem auch politische Aufmerksamkeit gebührte. Schwerlich wird man jedoch in zeitgenössischen Quellen einen Generalplan für die russische Literaturpolitik im Königreich Polen finden. Literaturpolitik – verstanden als bewusste Politik zur Steuerung des Literaturlebens und der Literaturrezeption – war kein ausgewiesenes Politikfeld, zumal man selbst eine allgemein für Kultur zuständige Stelle im russischen Behördenapparat jener Jahre vergeblich sucht. Gleichwohl hat der Begriff Literaturpolitik insofern seine Berechtigung, dass politische Maßnahmen auf die Verbreitung und Rezeption russischer Literatur Einfluss nahmen und zumindest teilweise durch die Steuerung der Rezeption politische Ziele verwirklicht werden sollten. Diese Maßnahmen waren allerdings nicht unbedingt koordiniert und konsistent. Die Rekonstruktion einer russischen Politik in Bezug auf die eigene Literatur in Polen muss also ein Konstrukt sein, das sich aus verschiedenen Maßnahmen verschiedener Behörden zusammensetzt, die Einfluss auf die Verbreitung von Texten hatten. Einerseits geht es dabei um klassische Kulturförderung, insbesondere die Durchführung und finanzielle Unterstützung von literaturbezogenen Veranstaltungen bzw. Organisationen. Andererseits sind zum Kreis der Literaturpolitik auch Maßnahmen aus Bereichen zu zählen, die klassischerweise eher anderen Politikfeldern zugerechnet werden – so die Bildungspolitik, die Zensur, das öffentliche Bibliothekswesen und die Förderung des Buchhandels. Geplant wurde die Politik für das Königreich Polen nach dem Januaraufstand 1864 grundsätzlich in St. Petersburg. Der Abbau der polnischen Autonomie-Institutionen hatte dazu geführt, dass die Behörden vor Ort den Petersburger Ministerien untergeordnet wurden, d.h. jedes Ministerium hatte seine Vertreter vor Ort und ließ über sie die in der Hauptstadt bestimmte Politik umsetzen (Wereszycki 1979, 62 f.). Gleichwohl blieben den regionalen Behördenvertretern erhebliche Einflussmöglichkeiten. Nicht nur blieben bei der Umsetzung der Hauptstadt-Direktiven gewisse Spielräume, sondern die Politik der Petersburger Zentrale richtete sich auch nicht zuletzt nach den Informationen der Vertreter vor Ort. Die dominierende Figur der Polenpolitik war so gesehen der Warschauer Generalgouverneur, der zugleich als Stellvertreter des Zaren und als höchstrangiger Funktionär des mächtigen russischen Innenministeriums amtierte. Als solcher war er z.B. Aufseher über die Zensurbehörden und beeinflusste, welche russischen Texte im Königreich PoZugehörigkeit zur großen slavischen Familie, das Bestreben, immer und in allem die russischen Interessen zu unterstützen (...).“
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len verbreitet werden durften. Im Bereich der öffentlichen Ordnung entschied er über die Genehmigung literaturbezogener Veranstaltungen und als Aufseher über die Theaterbehörden lag es in seiner Hand, die Aufführung russischer Stücke im Königreich Polen zu veranlassen (vgl. Raskin 2001, 18; 35; 50; Bieńka 2003, 41 f.). Durch die Vergabe von Subventionen konnte der Generalgouverneur zudem in verschiedene Bereiche wirken, so z.B. in den Buchhandel und das Bibliothekswesen. Letztlich stand ihm in den zehn polnischen Gouvernements eine Art Richtlinienkompetenz zu, d.h. die allgemeine Abstimmung der Politik der dortigen Behörden (Čerkesov 2001, 236). Die Befugnisse des Generalgouverneurs hatten ihre Grenzen dort, wo Beamte der Lokalverwaltung ihre Weisungen aus einem anderen Petersburger Ministerium bezogen – eine Konstellation, die im Verbund mit der Richtlinienkompetenz nicht ohne Konflikte blieb (Čerkesov 2001, 235; Robbins 1987, 129 f.; 242). Für die Literaturpolitik ist als solcher Nebenspieler insbesondere das Ministerium der Volksaufklärung (Ministerstvo Narodnogo Prosveščenija = MNP) zu nennen, d.h. das Bildungsministerium. Sein oberster örtlicher Vertreter war der Vorsteher des Warschauer Lehrbezirks, in dem alle zehn polnischen Gouvernements zusammengefasst waren (Varšavskij učebnyj okrug; Manteuffel 1929, 46 ff.). Über die Bildungspolitik entschied sich, wie den Schülern russische Literatur in der Schule vermittelt wurde. Dies war der bedeutungsvollste Bereich der Literaturpolitik im Königreich Polen.
2.2 Russische Literatur in der Schule Noch 1862 war es Aleksander Wielopolski als Vorsitzendem einer polnischen Zivilregierung im Königreich Polen gelungen, für den Bildungsbereich erhebliche Autonomie zu erreichen (Kieniewicz 1997, 237). Nach dem Aufstand stand aber auch auf diesem Feld eine Neuorientierung an. Schnell schritten die Russen zur vollständigen Angleichung des Bildungswesens im Königreich Polen an das innerrussische. Schon nach wenigen Jahren gab es nur noch minimale Unterschiede zwischen einer Schule beispielsweise in Warschau und in Moskau, sowohl was den Lehrplan als auch was die Unterrichtssprache betraf. Wegweisend war 1867 die Gründung des Warschauer Lehrbezirks, durch die das polnische Gebiet denselben Status wie die übrigen russischen Bildungsbezirke erhielt (Amburger 1966, 198). Die Grundlage der vorigen Autonomie war damit beseitigt und das Bildungswesen fortan direkt dem Petersburger Ministerium der Volksaufklärung unterstellt (Manteuffel 1929, 46; MNP 1871, 464). Schrittweise wurde nun z.B. der Anteil des russischen Personals in Verwaltung und Schulen gesteigert (Chwalba 1999, 145 ff.) und Russisch als Unterrichtssprache ausgeweitet. Schon 1869 wurde Russisch zur alleinigen Unterrichtssprache in den Gymnasien, 1885 dann auch in den Elementarschulen (Staszyński 1968, 18; 22; Kucha 1982,
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30; 113; ausgenommen war nur der Religionsunterricht, in den Elementarschulen auch der Polnischunterricht; Staszyński 1968, 22; 52; 54). Was die russische Literatur betrifft, so war sie in den Elementarschulen nur eine Nebensache. Wichtiger war es dort, den Schülern überhaupt grundlegende Kenntnisse in russischem Wort und russischer Schrift beizubringen (Kucha 1982, 112 f.; 118; vgl. Eklof 1986, 484 f.). Zwar wurden dabei teils Fragmente russischer Literatur eingesetzt und auch das Auswendiglernen russischer Gedichte stand auf dem Programm. Die Elementarschulen kamen aber meist nicht über eine Grundbildung für die unteren Bevölkerungsschichten heraus, und insbesondere der Russischunterricht brachte vielerorts keine nachhaltigen Ergebnisse. Besonders auf dem Land besuchten viele Kinder die Schulen nur unregelmäßig und trafen dort zudem auf polnischstämmige Lehrer, die selbst kaum Russisch konnten. So konnten sie am Ende ihrer Schulkarriere womöglich lediglich einige Worte in gebrochenem Russisch sprechen, ihren Namen schreiben und einen russischen Text vorlesen, ohne diesen zu verstehen (Kukulski 2005, 260; 275; 278; Piltz/Spasowicz 1902, 162). Je intensiver sich die Behörden indes um die Russisch-Kompetenzen der jüngsten Schüler mühten, desto größer wurde das Misstrauen der Bauern, die ihre Kinder dann oft gar nicht mehr in die staatlichen Schulen schickten – zumal Russisch auf dem Land auch kaum praktische Bedeutung hatte (Kukulski 2005, 271; 275). Eine breite und systematische Vermittlung russischer Literatur hatte indes das Mittelschulwesen zur Aufgabe, in der das klassische, universitätsvorbereitende Gymnasium und die auf praktischere Berufe ausgerichtete Realschule die tragenden Zweige waren. Für den langjährigen russischen Bildungsminister D. A. Tolstoj waren diese Schulen der entscheidende Ort für die Formung der russischen Intelligenz, denn während man von den Absolventen der Elementarschulen kein gesellschaftliches Hervortreten erwartete und Universitätsstudenten als weltanschaulich bereits ausgereift galten, schien man in den Mittelschulen die zukünftige Elite in einem formbaren Zustand anzutreffen (Alston 1969, 84; 86; Sinel 1973, 130). Diesen Ausgangspunkt für die gesamtrussische Bildungspolitik übertrugen die regionalen Politiker auch auf das Königreich Polen. So schrieb der ehemalige Warschauer Vize-Gouverneur Vladimir I. Gurko 1897, dass die russische Elementarschule im Königreich Polen lediglich ein passives Übel verhindern solle, d.h. die fehlende geistige Bindung der Volksmasse an Russland. Die Mittelschule aber sei dazu da, ein aktives Übel zu verhindern: die offene Feindschaft der gebildeten Klassen der polnischen Gesellschaft gegen die russische Kultur. Letzteres aber sei erheblich wichtiger (Gurko 1897, 295).15 Die Gymnasien und Realschulen hatten in Russland 1871 bzw. 1872 neue Rechtsgrundlagen erhalten (Kaiser 1983, 50), wobei kurz darauf auch deren prak15 Vladimir Iosifovič Gurko war der Sohn des langjährigen Warschauer Generalgouverneurs Iosif Vladimirovič Gurko.
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tisch vollständige Übernahme für das Königreich Polen beschlossen worden war (MNP 1874, 461 f.; Roždestvenskij 1902, 589 f.; die wichtigste Sonderregelung war die Möglichkeit freiwilligen Polnischunterrichts). Die Schulstatuten sahen u.a. vor, dass Umfang und Inhalt des Unterrichts durch Lehrpläne des Petersburger Ministeriums definiert werden sollten (MNP 1874, 19). Das Ministerium wollte durch exakte Vorgaben verhindern, dass Lehrer eigene Lehrprogramme entwarfen und dadurch womöglich unerwünschte Inhalte in den Unterricht gelangten. Je mehr indes ein Fach dazu angetan war, unerfreuliche Diskussionen unter den Schülern zu wecken, umso exakter waren die Vorgaben der Lehrpläne (Sinel 1973, 154; 172 f.). Eines der davon betroffenen Fächer war der Russischunterricht, für den St. Petersburg nicht nur die Inhalte skizzierte, sondern gleich auch noch ausführliche Anweisungen zur didaktischen Durchführung und exemplarische Stundenmodelle lieferte. Auf die Einhaltung des Lehrplans wurde auch im Königreich Polen penibel geachtet, er wurde „der Katechismus des Lehrkörpers aller Schulen im Königreich [Polen]“ (katechizm dla ciała nauczycielskiego wszystkich szkół Królestwa, Kraushar 1915, 20). Die Lehrpläne für Jungen- und Mädchengymnasien sowie für die Realschulen zeigen ein grundsätzlich in allen Schulen und im gesamten betrachteten Zeitraum konstantes Vorgehen im Russischunterricht. In den ersten Schuljahren stand die Grammatik im Vordergrund, wobei Literatur wie in der Elementarschule als Hilfsmittel diente bzw. auch Gedichte und kurze Prosastücke auswendig gelernt wurden. In den höheren Klassen standen dann Stilistik, Literaturtheorie und –geschichte im Blickpunkt, wobei die letzten beiden Klassen der Lektüre von Originalliteratur gewidmet waren. Den Wendepunkt zwischen Grammatik und Literatur markierte etwa in der Mitte der Schulzeit eine Einführung in das Altkirchenslavische, die nicht nur den Abschluss der Grammatik, sondern auch den Ausgangspunkt zur Erforschung von Literatursprache und –geschichte markieren sollte. Die Lehrpläne des Ministeriums schrieben den Schulen dann exakt vor, welche Autoren und Werke mit den Schülern besprochen werden sollten. Der Blick auf diesen Teil der Vorschriften zeigt ein klassisches Programm der russischen Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (im Folgenden exemplarisch dargestellt am Plan für die Jungengymnasien von 1872 = MNP 1872, 44 ff.). Der Ausgangspunkt war als Beispiel eines altkirchenslavischen Textes das Ostromir-Evangeliar, das noch vorrangig aus der grammatischen Perspektive betrachtet wurde. Dann folgten das Heldenlied von Il’ja Muromec als Beispiel eines Volksepos, die Nestor-Chronik als Beispiel einer Chronik und das Igorlied, bei dem bereits die Analyse künstlerischer Aspekte in den Vordergrund trat. Nach einer kurzen Lektüre von Fragmenten aus Kurbskijs Geschichte Ivans des Schrecklichen folgte bereits Kantemir als Autor am Übergang von Barock und Klassizismus. Von ihm stand die erste Verssatire (K umu moemu ili na chuljaščich
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učenie) auf dem Lehrplan. Die nächsten obligatorischen Autoren waren Lomonosov mit O pol’ze knig cerkovnych v Rossijskom jazyke und die Oda na den’ vosšestvija na prestol imperatricy Elisavety, Ersteres als Beispiel eines argumentativen Textes, Letztere als Beispiel einer Ode. Auf Lomonosov folgten Deržavin (Felica, Videnie Murzy, Pamjatnik) und Fonvizins Nedorosl’, danach Karamzin (Pis’ma russkogo putešestvennika, Predislovie k istorii gosudarstva Rossijskogo und ein Ausschnitt aus seiner Geschichte Russlands). Von Žukovskij als Vorläufer der Romantik wurden verschiedene Verse gelesen (Opjat’ ty zdes’, moj blagodatnyj genij, Svetlana, Ivikovy žuravli, Toržestvo pobeditelej, Žaloba Cerery), von Krylov dagegen eine nicht näher bestimmte Gruppe Fabeln, die möglichst ein identisches Thema behandeln sollten (z.B. Bildung oder Erziehung). Als Nächstes folgte ein umfangreiches Puškin-Programm (Evgenij Onegin, Skupoj Rycar’, Boris Godunov und Gedichte: Prorok, Poetu, Poet i čern’, Echo, Brožu li ja vdol’ ulic šumnych, Opjat’ na rodine, Bezumnych let ugasšee vesel’e, Pamjatnik). Den Abschluss bildeten Griboedov (Gore ot uma), Gogol’ (Starosvetskie pomeščiki, Taras Bul’ba, Mertvye duši, Revizor) und Lermontov (Pesnja o kupce Kalašnikove, Mcyri und eine nicht bestimmte Auswahl Gedichte). Damit war das Programm der russischen Literatur abgeschlossen. Die genannten Titel sind ein Grundkanon, der in allen Realschulen, Jungenund Mädchengymnasien bis 1904 unterrichtet wurde (in den Realschulen verkürzt, dort wurde erst bei Lomonosov eingesetzt; MNP 1873, 15). Die Lehrplanreform von 1890 brachte allerdings viele Ergänzungen, was auch damit zu erklären ist, dass die Stundenzahl für den Russischunterricht stieg (Staszyński 1968, 40 f.). Hinzugefügt wurden keine jüngeren Autoren, sondern weitere aus den schon abgedeckten Epochen, z.B. Javorskij, Ozerov, Batjuškov und Kol’cov (MNP 1890, 32 ff.). Insgesamt enthält die Auswahl der Autoren keine Überraschungen. Sicherlich lassen sich gewisse didaktische Kriterien erkennen, wenn bei der Auswahl von Fragmenten längerer Werke oder einzelner Gedichte thematisch Patriotismus, Bildungsbeflissenheit oder ein verklärtes Dichtertum überwiegen. Dennoch gehören die Texte zum bis heute anerkannten Kanon der russischen Literatur, und man muss entgegen der Möglichkeit der Vermittlung nur lobsingender Literatur anerkennen, dass z.B. auch Gogol’s Revizor seinen Platz im Lehrplan hatte. Bemerkenswert sind statt der Auswahl der Autoren aber die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, sowie die Tatsache, dass die zeitgenössische russische Literatur den Schülern vorenthalten wurde. Was die Art und Weise der Lektüre betrifft, so war im Lehrplan exakt vorgegeben, was im Unterricht erlaubt und nicht erlaubt sein sollte. Erlaubt war den Schülern z.B. die Lektüre der Texte zu Hause, um damit Zeit zu sparen. Ausdrücklich nicht erlaubt war allerdings ihre Analyse zu Hause oder die Erteilung von Aufgaben, die vom Schüler eigene kritische Ansätze verlangt hätten:
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Разбираются же произведения в классе, ибо цель разбора состоит не в том, чтобы выучить гимназистов критике, a в том, чтобы помощию основательнаго суждения о литературном образце разъяснить его достоинство (MNP 1872, 40 f.).16
Zu einem kritischen Ansatz seien die Schüler überhaupt noch nicht in der Lage, so die Erläuterung im Lehrplan, und sollten sie einen solchen doch versuchen, würde dies nur „lächerliche und schädliche Einbildung“ (smešnoe i vrednoe samomnenie) hervorbringen: „Вот почему из круга письменных упражнений исключены задачи, требуюшия от гимназиста самoстоятельных разборов, самостоятельнаго приложения критических начал к читаемым сочинениям“ (MNP 1872, 41).17 Auch an späterer Stelle im Lehrplan wurde nochmals ausdrücklich die Analyse unter Aspekten der Kunst-, Ästhetik-, Sozialkritik o.Ä. verboten (MNP 1872, 42). Aus dem Lehrplan wird deutlich, dass die Erziehung zu einem kritischen Bewusstsein und eine Diskussion der Texte unbedingt vermieden werden sollten. Die Interpretationshoheit sollte in der Hand der Lehrer bleiben, wobei auch ihnen einige Fingerzeige zur richtigen Deutung gegeben wurden (z.B. sollte die patriotische Motivation von Autoren wie Karamzin und Lomonosov hervorgehoben werden; MNP 1872, 43 f.). Die Musteranalyse jedes literarischen Textes bestand unter diesen Voraussetzungen aus drei obligatorischen und zwei fakultativen Schritten. Obligatorisch waren Lektüre und Zusammenfassung des Werks (1.), dann Herausarbeitung von Aufbau und Grundgedanken (2.) sowie die Untersuchung von Sprache und Stil (3.). Fakultativ waren die Kennzeichnung typischer Gattungsmerkmale des Werks (4.) und die Verortung im historischen und autorenbiographischen Rahmen (5.). Die Punkte 4 und 5 konnten entfallen, wenn sie für das Verständnis des Werks nicht nötig oder aufgrund der Analyse voriger Werke überflüssig geworden waren (MNP 1872, 41 f.). Insgesamt war die Analyse also sehr formbezogen (vgl. Istomin 1897). Diese Grundrichtung blieb auch nach den Lehrplanreformen der Folgejahre erhalten (Ganelin 1954, 145; 150 f.; vgl. MNP 1898, 15 ff.). So wurde bei der Reform von 1890 nun auch für die Lehrer festgehalten, dass sie sich nicht zur Literaturkritik hinreißen lassen, sondern die Werke stets vor allem als Beispiele für die Entwicklung der russischen Hochsprache verstehen sollten. Die Analyse, so hieß es nun, solle vor allem grammatische und stilistische Phänomene behandeln und zudem das Werk einer literarischen Gattung zuordnen. Literarhistorische Fakten sollten dagegen nur „in allerkürzester Form“ besprochen werden (v samom ograničennom 16 „Analysiert werden die Werke in der Klasse, da das Ziel der Analyse nicht darin besteht, den Gymnasiasten Kritik beizubringen, sondern darin, mit Hilfe eines begründeten Urteils über ein literarisches Muster seinen Wert zu erklären.“ 17 „Aus diesem Grund sind von den schriftlichen Übungen Aufgaben ausgeschlossen, die vom Gymnasiasten selbstständige Analysen [und] die selbstständige Anwendung von kritischen Prinzipien an die gelesenen Werke erfordern.“
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ob’’eme), d.h. die Schüler sollten erfahren, wer der Autor war und wann er lebte, welche Ausbildung er hatte, welche Bedeutung er für die russische Literatur hatte und welche literarische Strömung zu seiner Zeit herrschte (MNP 1890, 41 f.). Ausdrücklich untersagt wurde es, dass die Schüler sich in eigenen Arbeiten mit satirischen Texten befassten (MNP 1890, 47 f.). Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Angst vor dem kritischen Geist der Schüler und die Formalisierung der Literaturanalyse keine polnisch-regionale Spezialität waren, sondern auch in russisch besiedelten Gebieten galten. Sie prägten das russische Bildungswesen von der Amtszeit des 1866–1880 amtierenden Bildungsministers Dmitrij Tolstoj bis ins frühe 20. Jahrhundert (vgl. Alston 1969, 206). Tolstoj und seine Nachfolger trieb bei der Lehrplangestaltung besonders die Angst vor einer wertelosen, kritisch-radikalen Jugend und ihren teils revolutionären Eskapaden an. Den Ausweg sahen sie darin, die Schüler einerseits streng zu leiten und sie andererseits durch ein umfangreiches Programm in Griechisch und Latein in die klassische Geisteswelt einzuführen, möglichst so umfangreich, dass sie dadurch dem Sog der zeitgenössischen Geistesströmungen entzogen würden (Sinel 1973, 132; Čerepanov 1951, 175). Dieser Gedanke erklärt die zweite Auffälligkeit des Lehrplans: das Fehlen der zeitgenössischen russischen Autoren. Der letzte behandelte Autor war Gogol’, dessen Tod bei Einführung der neuen Lehrpläne 1872 schon 20 Jahre zurücklag, im Jahr 1902 – als der Lehrplan noch immer nicht aktualisiert worden war – dann sogar ein halbes Jahrhundert. Dieses halbe Jahrhundert war in der russischen Literatur allerdings nicht fruchtlos geblieben, im Gegenteil – mit Autoren wie Dostoevskij, Turgenev und Tolstoj hatte ihr Weltruhm eigentlich erst begonnen. Diese Ignoranz der Gegenwart war im Laufe der Jahre für die Zeitgenossen immer weniger nachvollziehbar und entsprechende Diskussionen fanden ihren Weg auch ins russische Polen. So schrieb im April 1900 der Varšavskij Dnevnik: Ни для кого не тайна, да никто и не старается скрывать, что наша учащaяся молодежь выходит из гимназий и реальных училищ почти незнакомой или мало знакомой с произведениями даже таких корифеев нашей новейшей литературы, как Аксаков, Григорович, Гончаров, Лажечников, Майков, Никитин, Островский, Писемский, гр. Л. Толстой, гр. А. Толстой, Тургенев и т.д., не говоря уже о современных нам Чехове, Короленке, Потапенке, Боборыкине и пр. (VD Nr. 87/1900, 2).18
18 „Es ist für niemanden ein Geheimnis, ja es versucht auch niemand zu verbergen, dass unsere lernende Jugend die Gymnasien und Realschulen fast ohne oder mit nur geringen Kenntnissen der Werke selbst so bekannter Koryphäen unserer neueren Literatur wie Aksakov, Grigorovič, Gončarov, Lažečnikov, Majkov, Nikitin, Ostrovskij, Pisemskij, Gr. L. Tolstoj, Gr. A. Tolstoj, Turgenev usw. verlässt, schon ganz zu schweigen von unseren Zeitgenossen Čechov, Korolenko, Potapenko, Boborykin etc.“
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Auch wenn die Lehrplan-Revolution vorerst ausblieb – die Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lernten die Schüler in der Schule erst ab 1911 kennen (Čerepanov 1951, 177; 185) – wurde doch versucht, diesem Problem durch die Steuerung der Lektüre zu Hause zu begegnen. Der Ansatz hierfür waren die Schulbibliotheken, die von den Schulstatuten ausdrücklich vorgeschrieben waren (z.B. §21 f. im Gesetz über die Jungengymnasien, MNP 1874, 20 f.). In ihnen gab es eine breitere Autorenauswahl als im Lehrplan und insbesondere auch zeitgenössische Texte, wenngleich diese mit Bedacht ausgewählt wurden. Unter dem Eindruck von Studentenunruhen regelte das Ministerium der Volksaufklärung ab 1887 für ganz Russland exakt, welche Bücher in den Bibliotheken stehen durften. Verboten wurden damals z.B. die Werke von Dobroljubov, Boborykin, Zlatovratskij und Saltykov (Kaiser 1983, 131; Krzywicki 1957, 162; vgl. Kraj Nr. 15/1888, 14; Doppelnummer PW Nr. 22–23/1895, 352). Die Grenze des Vertretbaren lag für die Behörden bei einem Liberalismus der Art Turgenevs (Krzywicki 1957, 162). 1897 wurde der Katalog behutsam erweitert, z.B. um Texte Garšins, A. Ostrovskijs und Čechovs (MNP 1897, 53 ff.). Einen Eindruck von der durch die Schulbehörden genehmigten außerschulischen Lektüre gibt auch der Lektürekatalog für die Schüler der Warschauer Kadettenschule, die der Lehrer D. N. Fomin im Jahr 1900 verfasste. Dort waren z.B. Tolstojs Detstvo und ausgewählte Kapitel aus Vojna i mir verzeichnet, Turgenevs Zapiski ochotnika und einzelne der Stichotvorenija v proze sowie diverse Gedichte von Nikolaj Nekrasov – alles in allem Werke von patriotischem Gehalt oder sozialer und politischer Harmlosigkeit, wobei nichtsdestotrotz als wichtig erachtet wurde, dass Eltern und Erzieher die Lektüre ihrer Kinder erklärend begleiteten, da dem kindlichen Verstand schöne Literatur nicht sofort zugänglich sei (VD Nr. 87/1900, 2). In Polen war den Schulbibliotheken früh große Bedeutung zugemessen worden. So hatte Fedor Vitte (Witte), der damalige Vorsteher des Warschauer Bildungsbezirks, schon 1870 geschrieben: Uznając, że najlepszym środkiem do rozpowszechnienia języka rosyjskiego jest wzbudzenie u uczących się miłości do tego języka, rady pedagogiczne poszczególnych gimnazjów starały się nabyć do bibliotek gimnazjalnych jak największą liczbę arcydzieł literatury rosyjskiej, które wypożyczano uczniom do czytania w domu. Przeczytaną lekturę uczniowie streszczali ustnie lub pisemnie, co dawało oczekiwane korzyści. Liczba przeczytanych przez uczniów rosyjskich książek może posłużyć jako świadectwo sukcesu tej metody. W Płockim Gimnazjum – przykładowo – uczniowie przeczytali 1582 książki rosyjskie. W ogóle we wszystkich gimnazjach i progimnazjach okręgu książki rosyjskie są czytane nie tylko z wielką chęcią, która wyklucza konieczność stosowania dodatkowych środków, ale i z wyjątkowym zaciekawieniem (Poznański 1993, 300).19 19 „In Anerkennung der Tatsache, dass das beste Mittel zur Verbreitung der russischen Sprache die Erweckung von Zuneigung zu dieser Sprache in den Schülern ist, bemühten sich die pädagogischen Räte einzelner Gymnasien für die Gymnasialbibliotheken so viele Meister-
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Entsprechend wurden diese Bibliotheken auch in den Folgejahren gepflegt und ihre Nutzung mit Zuckerbrot und Peitsche angekurbelt. So verfassten die Lehrer auf Empfehlung des Schulkurators für die Schüler Listen mit besonders empfehlenswerten Büchern (Falkowska 1966, 42; Massalski 1985, 106). Gleichzeitig wachten sie darüber, wer wie viele Bücher aus der Bibliothek auslieh und prüften den Erfolg der Lektüre durch Inhaltsabfragen (Hoesick 1959, 175; Massalski 1985, 106). Um die Bibliothek attraktiver zu machen, richteten sich die Verantwortlichen aber auch durchaus geschickt nach der Nachfrage und boten z.B. spannende Reiseliteratur und russische Übersetzungen westeuropäischer Texte, die auf Polnisch noch nicht vorlagen (Krzywicki 1957, 162 ff.; Sieroszewski 1959, 59; 530). Der zeitgenössische polnische Publizist Antoni Zaleski klagte, dass den Schülern sogar unanständige Texte á la Zola an die Hand gegeben wurden, einzig um sie in die Schulbibliotheken und zur Lektüre russischer bzw. russischsprachiger Bücher zu bringen (Zaleski 1971, 459). Ebenfalls außerhalb des Lehrplans, aber gleichwohl mit einer hohen Verbindlichkeit gehörten zur Vermittlung russischer Literatur auch die regelmäßigen Aufführungen und Feiern, auf denen die Schüler Werke russischer Klassiker und auch eigene literarische Arbeiten vortrugen. Zu diesen Veranstaltungen, die z.B. zum Schuljahresende, teils aber auch häufiger stattfanden, erschienen nicht nur Schüler mit ihren Angehörigen und das Lehrpersonal, sondern oft auch die lokale Behördenprominenz (Wołyński 1936, 35; Krzywicki 1957, 124; VD Nr. 41/1899, 3). Noch größer wurden Feiern zu literarischen Jubiläen begangen, insbesondere zu runden Geburts- oder Todestagen klassischer russischer Autoren (z.B. VD Nr. 29/1895, 2 f.). Zu diesen Ereignissen gaben sich in ausgewählten Schulen durchaus auch der Bildungskurator oder gar der Generalgouverneur die Ehre. Auch die Berichterstatter russischer Zeitungen schrieben immer wieder über diese Veranstaltungen, um aus der Deklamation der nichtrussischen Schüler Rückschlüsse auf den Erfolg des Schulwesens im Königreich Polen zu ziehen (z.B. MV Nr. 53/1895, 2). Zumindest bei den größeren Feiern ging die Initiative nicht von den lokalen Behörden, sondern direkt vom MNP in St. Petersburg aus, das Vorgaben zu Ablauf und Inhalt dann gleich mitlieferte. Das Ziel derartiger Veranstaltungen war es, in den Schülern patriotische Gefühle zu wecken, wobei die Schulen im Weichselland werke der russischen Literatur wie möglich zu erwerben, die den Schülern zur Lektüre nach Hause ausgeliehen wurden. Die gelesenen Texte fassten die Schüler mündlich oder schriftlich zusammen, was den erwarteten Nutzen brachte. Die Zahl der von den Schülern gelesenen russischen Bücher kann als Zeugnis für den Erfolg dieser Methode dienen. Im Gymnasium von Płock beispielsweise lasen die Schüler 1.582 russische Bücher durch. Überhaupt werden in allen Gymnasien und Progymnasien des Bezirks russische Bücher nicht nur mit großer Bereitschaft gelesen, was die Notwendigkeit des Einsatzes weiterer Maßnahmen ausschließt, sondern auch mit außergewöhnlichem Interesse.“
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dann je nach Anlass die für Polen schmerzhaften Elemente abschwächten (Smorodinow 2003, 134 f.). Exemplarisch zeigen den Ablauf solcher Feiern die Veranstaltungen aus Anlass von Gogol’s 50. Todestag im Jahr 1902. Ihr Ablauf war in Warschau, Łódź, Suwałki und an anderen Orten stets ähnlich: Nach einem Gedenkgottesdienst mit Totengebet versammelte sich die Schülerschaft in der Aula und hörte Vorträge der Lehrer über Gogol’s Leben und Werk. Einzelne Schüler verlasen ihre Aufsätze zu diesem Thema sowie Gedichte, die zu Gogol’s Ehren angefertigt worden waren. Außerdem wurden von den Schülern Fragmente aus Gogol’s Texten verlesen bzw. Szenen aus seinen Bühnenstücken aufgeführt. Als Rahmen führten das Schulorchester und der Schulchor Vertonungen auf, z.B. aus Rimskij-Korzakovs Oper Noč’ pod Roždestvo. In einigen Schulen stand im Zentrum des Raums eine Gogol’-Büste, die dann z.B. im Warschauer Jungengymnasium Nr. 1 feierlich mit einem Lorbeerkranz geschmückt und beim Vortrag eines Ruhm-Gedichts direkt angeredet wurde. Am Ende der Feiern wurden schließlich Schokolade und Bonbons sowie Broschüren mit Gogol’s Werken verteilt (VD Nr. 52/1902, 2 f.; VD Nr. 53/1902, 2). Unterricht, Hauslektüre und gemeinsame literarische Feiern erscheinen als die wichtigsten Elemente der schulischen Vermittlung russischer Literatur in Polen, wenngleich weitere Formen vorkommen konnten (z.B. Sondervorstellungen russischer Theatergruppen für Schüler; Delegation der Schüler zu russischen Aufführungen; Bem 1892, 90 f.). Insgesamt boten die Mittelschulen ihren Schülern so unterschiedliche Zugänge zur russischen Literatur und vermittelten sie durchaus gründlich. Man braucht aber nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass die Krux dabei vor allem in der Art und Weise der Vermittlung lag. Wie diese auf die polnischen Schüler wirkte und welche Folgen sie hatte, soll im Kapitel über den polnischen Boykott dargestellt werden.20 20 Die Rolle der Warschauer Universität bei der Vermittlung russischer Literatur in Polen soll hier nur kurz erwähnt werden, da sie gering einzuschätzen ist. Die russische Universität in Warschau war 1869 aus der traditionsreichen polnischen Hochschule (zuletzt unter dem Namen Szkoła Główna) hervorgegangen (Michal’čenko 2003, 85 f.; Schiller 2005, 186; Ivanov 1997, 23). Dabei wurde auch ein Lehrstuhl für russische Literaturgeschichte eingerichtet (MNP 1871, 1274; Korotyński 1906, 105). Ihn besetzte 1881–1892 der „verbissene Polonophobe“ Anton Budilovič, der die Polen schon bei seiner Antrittsvorlesung verschreckte, als er Polnisch als einen Dialekt bezeichnete (Aksienowa 1978, 265). Es scheint, dass der Lehrstuhl mehr eine Alibi-Funktion als eine echte Zielgruppe hatte (Błażejewicz 1990, 27). Die Zahl der Studierenden war gering und speziell die Polen hielten sich fern (Bem 1892, 32; Krzemiński 1896, 33), auch wenn sie grundsätzlich an der Universität die Mehrheit stellten (Michal’čenko 2003, 91; Tur 1912, 431; Ivanov 1997, 24). Gleichwohl war die Universität in literarischer Hinsicht kein völlig unbeschriebenes Blatt, z.B. wenn Professoren der Universität öffentliche Vorträge hielten. 1901 wurde an der Warschauer Universität die „Gesellschaft für Geschichte, Philologie und Recht“ (Obščestvo istorii, filologii i prava) gegründet, die im inter-
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2.3 Russische Buchhandlungen und Bibliotheken Da durch die Schule im Königreich Polen nur ein ausgewählter Kanon russischer Werke erschlossen wurde, war ein polnischer Leser für ein umfassenderes Bild der russischen Literatur auf die im freien Verkauf und in Leihstellen zugänglichen Texte angewiesen. Wie dargestellt galt dies insbesondere für die damals zeitgenössischen Autoren. Man könnte meinen, dass dies in Polen und speziell in Warschau – damals immerhin die drittgrößte Stadt des russischen Reichs – kein Problem war. Tatsächlich stellte sich die Situation von russischem Buchhandel und Bibliothekswesen aber höchst unbefriedigend dar, nicht nur für die Polen, sondern besonders auch für die Russen selbst. Noch Anfang November 1902 musste der Varšavskij Dnevnik besorgt feststellen, dass ein in Warschau lebender Russe zu wenig Möglichkeiten habe, russische Bücher zu lesen und am Puls des literarischen Geschehens zu sein: „(...) в Варшаве русские люди забывают своего лучшаго друга – русскую книгу (…)“, so das Fazit der Zeitung (VD Nr. 292/1902, 1).21 Polnische Buchläden konnten hier kaum helfen. Auf dem Land war der Buchhandel ohnehin schwach entwickelt. In den Läden dort gingen zwar russische Schulbücher über den Ladentisch, sie waren aber aufgrund der insgesamt geringen Büchernachfrage in der Regel nur eins von vielen Produkten neben Schreibwaren, Devotionalien und Kleidung (vgl. Warda 1993, 98; 100; Lech 1974; Lech 1983, 79 f.; 85; 159; Konarska-Pabiniak 1994, 155; zum Analphabetismus Maleczyńska 1987, 164; 170). In den Städten dagegen gab es zwar reine Buchläden, doch auch wenn die polnischen Buchhändler ebenfalls vor Schuljahresbeginn ihre Läden mit russischen Büchern füllten, sorgten sie nach deren Ausverkauf bald wieder für die Polonisierung ihres Bestands. Aus dem ständigen Geschäft mit russischer Literatur hielten sie sich gewöhnlich heraus (Fiszer 1959, 8; 11 f.; 58; 60; VD Nr. 2/1883, 2; MV Nr. 37/1895, 2; vgl. Baliński 1987, 182).22 Die russische Zeitung Novoe Vremja schrieb entsprechend 1884 in einem Bericht aus Warschau: W oknach księgarń polskich nie dojrzysz ani jednego rosyjskiego dzieła, nie przeczytasz ani jednego rosyjskiego tytułu, nie spostrzeżesz ani jednej pracy rosyjskiego uczonego lub pisarza... (zitiert nach Kraj Nr. 8/1884, 2).23
disziplinären Kreis Vorträge u.a. zu literarischen Themen veranstaltete und auch literarische Jubiläen feierlich beging. Außenwirkung hatte für sie allerdings nachrangige Bedeutung (vgl. VD Nr. 52/1901, 2; VD Nr. 53/1901, 2; VD Nr. 39/1902, 2; VD Nr. 50/1903, 3 f.). 21 „(...) in Warschau vergessen die russischen Leute ihren besten Freund – das russische Buch (...).“ 22 Vgl. den russischen Großhandelskatalog ATOP 1873, der zur Lieferung an die großen polnischen Buchhändler praktisch ausschließlich Sach- und Lehrbücher vorsah. 23 „In den Fenstern der polnischen Buchhandlungen sieht man kein einziges russisches Werk, liest man keinen einzigen russischen Titel, erblickt man keine einzige Arbeit eines russischen Gelehrten oder Schriftstellers...“
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Entscheidend für eine umfassende Versorgung mit russischen Büchern war daher die Existenz russischer Buchläden, und zwar besonders in Warschau, von wo aus sich der aufwendige Import aus Russland und der Weiterverkauf in andere polnische Orte am einfachsten abwickeln ließen. Die Ausgangslage für den russischen Buchhandel war nach dem Januaraufstand in Warschau nicht günstig gewesen. Zwar wurden sporadisch russische Bücher verkauft, doch bedurfte es einer staatlichen Anschubsubvention von 4.000 Rubel (als zinsloses Darlehen), um 1865 den Petersburger Buchhändler Kožančikov zur Eröffnung eines vollwertigen Buchgeschäfts zu bringen (VD Nr. 123/1865, 588; VD Nr. 129/1865, 618; VD Nr. 17/1883, 1; Kozerska 1967, 61). Alles schien zum Besten zu stehen: Die Kunden bekamen von Kožančikov das volle Programm des russischen Buchhandels zu Petersburger Preisen, Kožančikov selbst dagegen durfte als eine Art Hoflieferant die Warschauer Universitätsbibliothek ausstatten (Kozerska 1967, 61; 64), große Schulbuchaufträge abwickeln (Kucha 1982, 25) und – da es der einzige russische Buchladen im Königreich Polen war – auf einen regen Zwischenhandel in die Provinzstädte hoffen. Dennoch ereilte ihn bald die Pleite – ein Schicksal, das in den Folgejahren noch viele russische Buchhandelsoptimisten teilen sollten. Im Jahr 1883 – gerade hatte ein russischer Buchhändler auf der Nowy Świat-Straße über Nacht seinen Laden ausgeräumt und sich mit unbekanntem Ziel aus dem Staub gemacht – konstatierte der Varšavskij Dnevnik, dass Warschau erneut ohne echten russischen Buchladen dastehe. Mit einer Ausnahme: Eine unbedeutende Auswahl finde sich noch an der Krakowskie Przedmieście-Straße im Geschäft von Vsevolod Istomin, der allerdings auch mit Spielkarten und Tee handle und keinerlei Anstalten mache, seinen Buchverkauf massenkompatibel auszubauen (VD Nr. 2/1883, 2). Istomin wollte diesen Anwurf nicht hinnehmen und antwortete der Zeitung mit einem langen Brief. 45 Jahre handle er nun schon in Warschau mit russischen Büchern, so Istomin, doch sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass ein großer Vorrat an Büchern unter den örtlichen Bedingungen geradezu selbstmörderisch sei. In einer langen Ausführung zählte Istomin dann 14 Buchläden auf, die er in seiner Zeit habe eingehen sehen, und hielt dem entgegen, dass er allein als 15. überlebt habe. Andere Leute hätten bis zu 60.000 Rubel verloren – ihn dagegen habe nur die rechtzeitige Erweiterung des Sortiments um Tee und Spielkarten gerettet, denn abgesehen von Schulbüchern könne man in Warschau kaum russische Bücher verkaufen. Istomin gab jedoch an, alle nicht bei ihm vorrätigen Bücher bei Bedarf zu bestellen (VD Nr. 17/1883, 1 f.).24 24 Es liegt Ironie darin, dass Istomins Geschäft im polnischen Gedächtnis ausgerechnet als Synonym für guten Tee verankert ist. Istomin sprach aber auch selbst von seinem Laden als „mein Teegeschäft“ (moj čajnyj magazin, VD Nr. 82/1867, 328). Istomin, der fließend Pol-
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Trotz Istomins pessimistischer Diagnose dauerte es kaum zwei Monate, bis mit N. Karbasnikov erneut ein russischer Buchhändler das scheinbar Unmögliche wagte (VD Nr. 67/1883, 1). Diesmal mit dauerhaftem Erfolg: Karbasnikovs Laden bestand bis ins 20. Jahrhundert und sorgte gemeinsam mit Istomins Angebot in den Folgejahren für die Versorgung Warschaus mit russischen Büchern (vgl. Błażejewicz 1990, 73 f.; Fiszer 1959, 59). In der russischen Presse wurde diese Lage als zufriedenstellend bewertet. Die Peterburgskie Vedomosti schrieben 1884, dass mit der Gründung von Karbasnikovs Geschäft der Warschauer Buchhandel in akzeptablem Zustand sei (wenngleich Karbasnikov eine zu liberale Tendenz bei der Auswahl seiner Bücher habe; SPbV 50/1884, 2; kritischer das Novoe Vremja, s. Kraj Nr. 8/1884, 2). 20 Jahre hatte es nach dem Januaraufstand also gedauert, bis die Nachfrage nach russischen Büchern das zur Existenz eines Buchladens nötige Niveau erlangt hatte. Die Ursache für die Stabilisierung wird vorrangig in der wachsenden russischen Bevölkerung zu suchen sein, denn es gibt keine Hinweise darauf, dass sich das polnische Leseverhalten in diesen Jahren änderte.25 Die anhaltende Zuwanderung war es auch, die in den 1890er Jahren zum weiteren Anwachsen des örtlichen Buchhandels führte. 1891 eröffnete das Geschäft von Flegontov (vgl. VD Nr. 13/1895, 3), um 1895 kamen weitere von Sytin, Štejnfinkel’, Kovner und Strakun dazu (SPbV Nr. 16/1895, 1). Laut Moskovskie Vedomonisch sprach und sein Haus mit den Büsten Puškins und Mickiewiczs schmückte, hat als einer der wenigen Russen unter Polen Anerkennung gefunden (SPbV Nr. 295/1887, 3; Kraj Nr. 25/1894, 31; Grzeniewski 1965, 134). Anders unter den Russen: Der Varšavskij Dnevnik antwortete Istomin auf seine zitierten Ausführungen unverblümt, dass man von ihm als Eigentümer mehrerer Häuser und als Inhaber eines offenbar gut gehenden Teehandels mehr Opferbereitschaft für das Gemeinwohl erwarten könne (VD Nr. 17/1883, 2). 25 In diesen Jahren lebten viele tausend Russen in Polen, vor allem Militärangehörige und Verwaltungsangestellte, aber auch – in geringerer Zahl – Zivilisten (Geschäftsleute u.a.). In Warschau gab es 1864 ca. 3.000 zivile Russen, 1892 dann schon 17.000 – d.h. ihr Anteil an der Bevölkerung stieg in diesem Zeitraum von 1,4% auf 3,5%, Tendenz weiter steigend (Kieniewicz 1976, 260). In der Provinz war die Lage ähnlich, so z.B. in Płock (Konarska-Pabiniak 1994, 20 f.) und Łomża (Dobroński 1993, 13; 119). Die steigende Zahl der russischen Bevölkerung erlaubte es den Russen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sich zumindest in den größeren Städten weitgehend unter Landsleuten zu bewegen. Verwaltungsbedienstete ließen sich gerne nahe ihrer Arbeitsstellen nieder, so dass sich von selbst russische Wohnkolonien bildeten (Vladimirov 2004, 112; vgl. Paszkiewicz 1991, 31 f.). Gleichzeitig entstanden verschiedene russische Institutionen, wie z.B. Sportvereine und Wohltätigkeitsgesellschaften (Kieniewicz 1976, 260). Besondere Bedeutung hatten die „Russischen Versammlungen“ (russkie sobranija; umgangssprachlich „russische Klubs“). Sie sollten für die Russen einer Stadt als gesellschaftlicher Anlaufpunkt dienen, dort wurden z.B. Tanzabende und Kartenspiel organisiert (Chimiak 1999, 250 f.; 274 ff.; SPbV Nr. 50/1884, 2; Gurko 1897, 350 ff.; Drozdowska 2002, 131).
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sti liefen nun die Geschäfte im russischen Buchhandel gut und wurden anständig geführt, wenngleich nicht jedes Buch erhältlich gewesen sei (MV Nr. 37/1895, 2; MV Nr. 189/1895, 3). Spätestens um die Jahrhundertwende stand damit auch ein breites Angebot an Belletristik zur Verfügung – Strakun z.B. führte im Katalog von 1900 allein 26 Titel von Dostoevskij, 23 von Saltykov-Ščedrin und 15 von Čechov (Radwańska 1981, 162; 175). Während sich der kommerzielle Handel mit russischen Büchern also zur Jahrhundertwende stabilisierte, blieb die Situation bei den Leihmöglichkeiten auch damals noch prekär. Die russische Öffentlichkeit beschäftigte dies mehr als die Frage nach den Läden, denn viele Russen konnten sich aufgrund ihrer bescheidenen Einkünfte nicht regelmäßig Bücher kaufen (VD Nr. 168/1866, 692). Die Ausgangslage war in diesem Bereich 1864 wie bei den Buchläden gewesen: Eine russische Bibliothek, eine größere Leihstelle oder einen Lesesaal für aktuelle Bücher und Zeitungen gab es selbst in Warschau nicht, und die polnischen Einrichtungen konnten aufgrund ihres wissenschaftlichen oder rein polnischen Charakters keine Abhilfe schaffen (Maleczyńska 1987; vgl. Radwańska 1981).26 Als Istomin und Kožančikov keine eigenen Angebote auf die Beine stellten (VD Nr. 168/1866, 692; VD Nr. 191/1866, 790), ergriff mit Michał Frühling schließlich ein Buchhändler jüdischer Herkunft die Initiative. 1867 ließ er aus St. Petersburg 1.000 russische Bücher anliefern und schloss sie seiner schon bestehenden Leihbibliothek mit Büchern anderer Sprachen an, darunter Werke klassischer und zeitgenössischer russischer Belletristik (Turgenev, Pisemskij, Ostrovskij, Tolstoj, Gončarov, Krestovskij u.a.). Nach einer kurzen Testphase bemühte sich Frühling sogar, das Sortiment entsprechend den Wünschen seiner Kunden zu erweitern und fuhr zwei Mal persönlich zum Buchkauf nach St. Petersburg (VD Nr. 94/1867, 382; VD Nr. 100/1867, 406; VD Nr. 122/1867, 494; vgl. Mlekicka 1987, 213). Frühling, dessen Pioniertat der Varšavskij Dnevnik nicht vergaß und noch 1901 in einem Nekrolog würdigte (VD Nr. 19/1901, 2), blieb allerdings einstweilen recht allein mit seinem Angebot, denn trotz des stetigen Anstiegs der russischen 26 Radwańska nennt eine Warschauer Leihstelle, in der auf fast 4.000 polnische und über 2.700 französische Bücher nur 149 russische kamen (Radwańska 1981, 169). Beispiel für die Russifizierung einer Bibliothek ist allerdings die Warschauer Universitätsbibliothek. Dort wurde nicht nur der polnische Einfluss auf die Leitung des Hauses gemindert, sondern es wurden auch sofort nach 1864 viele russische Bücher zugekauft, darunter Belletristik mit Werken von Gogol’, Saltykov, Turgenev, Nekrasov, Tolstoj, Dostoevskij und Belinskij (Kozerska 1967, 61). Die russische Literatur gehörte in den Folgejahren zu den Sammlungsschwerpunkten der Bibliothek, wenngleich aufgrund der Zensurlisten des Innenministeriums viele Autoren und Werke nicht freigegeben wurden. Für die Öffentlichkeit war die Universitätsbibliothek so oder so kein Ersatz für eine normale Leihstelle, da die Sammlung nicht dem Massengeschmack folgte und die Nutzungsbedingungen zu kompliziert waren (Błażejewicz 1990, 17; 62; 107 ff.).
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Bevölkerung in Warschau hinkte die Entwicklung der Leihmöglichkeiten hinterher. Lediglich im russischen Klub und in einigen Kasernen wurden Leihbestände eingerichtet, ansonsten blieb die Lage dürftig. Entsprechend zogen sich die Klagen der russischen Zeitungen durch die folgenden Jahrzehnte. 1884 schrieben z.B. die Sankt-Peterburgskie Vedomosti über die 1.200 Bände umfassende Bibliothek des russischen Klubs: Правда, в библиотеке нет ни русских, ни иностранных классиков в переводах, нет даже Пушкина и Гете, но за то есть Габорио и прочее в этом роде но о вкусах не спорят, а русские и за то, что дают, благодарны (SPbV Nr. 50/1884, 2).27
1885 beklagte die Nedelja, dass weder Istomin und Karbasnikov noch sonst ein Russe in der Lage sei, einen Lesesaal oder eine Leihstelle für russische Literatur einzurichten, so dass es nur zwei Leihbibliotheken jüdischer Eigentümer mit zerlesenen und unvollständigen russischen Büchern gebe. Dennoch müsse man dafür noch dankbar sein, so die Zeitung, und summierte ironisch: (…) bez żydów rosyanie nie mieliby co czytać, a polacy byliby pozbawieni możności poznania literatury rosyjskiej. Więc dzięki żydom warszawskim! Stają oni na kresach państwa, jako pionierowie piśmiennictwa rosyjskiego (zitiert nach Kraj Nr. 49/1885, 13).28
1890 deuteten die Moskovskie Vedomosti angesichts der anhaltenden LeihstellenMisere dann schon generelle Zweifel an der russischen Kulturpolitik im Königreich Polen an: (…) не много сделано, если нет еще у нас даже сносной русской публичной библиотеки или читальни. (…) Что касается библиотеки Русскаго Собрания, то нам кажется о ней не следовало бы упоминать в сериозном разговоре. (…) В этой библиотеке нет даже сочинений многих из главных русских поэтов и писателей художников. Недавно не было, да есть ли и теперь, даже сочинений Пушкина. (…) Приводим это лишь как пример, до какой степени мы мало имеем права говорить о нашей культурной силе (…) (MV Nr. 48/1890, 3).29 27 „Es stimmt, in der Bibliothek gibt es weder russische Klassiker noch ausländische in Übersetzung, es gibt nicht einmal Puškin und Goethe, aber dafür Gaboriau und Ähnliches dieser Art, aber über Geschmack streitet man nicht und die Russen sind auch für das dankbar, was man ihnen gibt.“ 28 „(...) ohne Juden hätten die Russen nichts zu lesen, und die Polen wären der Möglichkeit ledig, die russische Literatur kennen zu lernen. Also ein Dank den Warschauer Juden! Sie stehen am Rand des Staates, als Pioniere des russischen Schrifttums.“ 29 „(...) es ist nicht viel getan, wenn es bei uns noch nicht einmal eine annehmbare russische öffentliche Bibliothek oder Lesehalle gibt. (...) Was die Bibliothek des russischen Klubs betrifft, so scheint uns, dass man sie in einem ernsthaften Gespräch nicht erwähnen sollte. (...) In dieser Bibliothek gibt es noch nicht einmal die Werke vieler der wichtigsten russischen Dichter und Schriftsteller. Vor kurzem gab es noch nicht einmal – ja gibt es sie jetzt – die
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Und so setzten sich die Klagen fort, z.B. weitere fünf Jahre später im Novoe Vremja (NV Nr. 6775/1895, 4) und erneut in den Moskovskie Vedomosti (MV Nr. 189/1895, 3). Für die russischen Zeitungen war es kein Trost, dass bei verschiedenen nichtrussischen Leihstellen der Bestand an russischen Büchern wuchs. Eine vollständige russische Bibliothek, egal ob kommerziell oder privat, blieb das angestrebte Ziel. 1902 summierte der Varšavskij Dnevnik in einem Leitartikel noch einmal die traurige Lage: keine russische Bibliothek weit und breit, nur ein ungenügender Bestand im russischen Klub und in einigen Leihstellen, teure Bücher in den Läden, und viele Russen, die notgedrungen nicht mehr lasen und sich stattdessen in zweifelhaften Etablissements die Zeit vertrieben. Angesichts dessen sei es höchste Zeit für die Gründung einer russischen Bibliothek, so die Zeitung (VD Nr. 292/1902, 1). Die Lage in Warschau entsprach ziemlich genau der Lage in den anderen Städten des Königreichs Polen. Auch dort gab es in polnischen Leihstellen kaum russische Bücher, keine russischen Leihstellen und in den regionalen russischen Klubs nur unbefriedigende Bestände (VD Nr. 3/1904, 2; Smorodinow 2003, 63; Lech 1974, 312). Von dieser Regel gab es eine einzige Ausnahme: Die öffentliche russische Bibliothek in Płock. Sie war schon 1881 im Gebäude der Gouvernementsverwaltung eingerichtet worden und hatte sich zur Zufriedenheit ihrer Gründer entwickelt: 1889 hatte sie bei 62 Lesern einen Bestand von 1.500 Büchern. Diese scheinbar geringen Zahlen waren für eine Provinzstadt auch in der Wahrnehmung polnischer Beobachter ein vorzeigbarer Erfolg, selbst wenn die Bibliothek nur dank Subventionen überleben konnte (VD Nr. 30/1886, 4; Kraj Nr. 10/1889, 12; Lech 1972, 386). Im Januar 1903 berichtete der Varšavskij Dnevnik einmal mehr über die günstige Entwicklung der Płocker Bibliothek (VD Nr. 8/1903, 4), und kaum drei Wochen später kam Bewegung in die Bibliotheksfrage. Jedes der polnischen Gouvernements sollte fortan eine öffentliche russische Bibliothek nach Płocker Vorbild haben, teilte der Generalgouverneur Čertkov den ihm unterstehenden Gouverneuren mit und forderte sie auf, entsprechende Planungen aufzunehmen (VD Nr. 31/1903, 2; VD Nr. 35/1903, 1 f.).30 Diese Initiative blieb nicht folgenlos. Am 30. Dezember wurde feierlich eine Bibliothek im Gebäude der Gouvernementsverwaltung von Siedlce eröffnet (VD Nr. 3/1904, 2 f.), im Januar 1904 folgte eine Bibliothek im Gebäude der VerwalWerke Puškins. (...) Wir führen dies nur als Beispiel dafür an, wie wenig wir das Recht haben, von unserer kulturellen Stärke zu sprechen (...).“ 30 Öffentliche russische Bibliotheken gab es zwar nicht in Polen, aber in einigen Städten der „westlichen Gouvernements“, so in Żytomierz, Kamieniec Podolski und Wilna. Sie waren direkt nach dem Januaraufstand vom Wilnaer Generalgouverneur Murav’ev gegründet und mit einer jährlichen Subvention ausgestattet worden (Przyborowski 1887, 238 ff.; vgl. z.B. SPbV 173/1884, 3; Kraj Nr. 15/1886, 14; Kraj Nr. 12/1887, 16).
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tung von Kalisz (VD Nr. 15/1904, 4; VD Nr. 21/1904, 2).31 Dieses Vorpreschen der Provinz provozierte im Varšavskij Dnevnik einen weiteren Leitartikel über die Schlafmützigkeit der Warschauer Bibliophilen (VD Nr. 6/1904, 2), und endlich schien sich die Sache auch dort in einem großen Wurf zu lösen. Anfang Februar wurde der Plan publik, im Gebäude des geplanten russischen Theaters auch eine russische Bibliothek einzurichten – ein russisches Kulturzentrum also. Dieser Plan wurde allerdings nicht verwirklicht (s.u. Kap. 2.5). Betrachtet man bis zu diesem Punkt die Geschichte des russischen Buchhandels und Bibliothekswesens im Königreich Polen nach 1864, überrascht das geringe Eingreifen der Behörden in den Lauf der Dinge. Zwar hatte es die Anschubsubvention für Kožančikov gegeben,32 womöglich gab es auch später gewisse Vergünstigungen für Buchhändler (z.B. bei der Anmietung von Räumlichkeiten in öffentlichen Gebäuden) und die Bibliothek des russischen Klubs. Dennoch zeigt der vorstehende Überblick, dass die Behörden ungeachtet öffentlicher und privater Bitten lange nicht zu einem größeren Engagement bereit waren, um Buchhandel und Buchverleih zu stützen (vgl. VD Nr. 2/1883, 2; MV Nr. 189/1895, 3). Erst um 1900 zeigen das Eingreifen des Generalgouverneurs und die Einrichtung von russischen Bibliotheken in den Gouvernements-Städten, dass die Behörden Handlungsbedarf sahen. Dieser Zeitpunkt war indes kein Zufall, sondern eine Reaktion auf eine Vielzahl polnischer Volksbildungsinitiativen, die in dieser Zeit von verschiedenen politischen Lagern ausgingen und deren Pläne häufig auch die Gründung von Bibliotheken für das einfache Volk vorsahen. Die russischen Behörden beunruhigte diese Entwicklung, da sie fürchteten, die Kontrolle über die geistige Formung der Bauernschaft an Sozialisten oder patriotische polnische Emigrantenkreise zur verlieren, deren Publikationen durch die (teils illegalen) Bildungsaktionen ins Land kamen (Lech 1972, 386 f.). Die russischen Behörden wollten sich jedoch gerade an diesem Punkt das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen, hatten sie doch die Bauern nach 1863 als wichtigste Stütze ihrer Herrschaft in Polen verstanden. Da auch mit polizeilichen Mitteln die illegale Bücherflut nicht eingedämmt werden konnte, musste gegen den Einfluss der unerwünschten Texte ein anderes Gegenmittel gefunden werden. Die Lösung lag nahe: „Средством этим, очевидно, могла быть только здоровая умственная пища (…)“, wie es der Warschauer Generalgouverneur Imeretinskij in einem Bericht für den Zaren formulierte (Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še 1899, 23).33 Konkret bedeutete das: Dem Problem sollte durch einen Gegen31 1905 folgte eine Bibliothek in Łomża. All diese Projekte wurden i.d.R. mit staatlichen Mitteln gestützt (Lech 1972, 386; Lech 1974, 313; 319 f.). 32 Vor dem Januaraufstand hatte auch Istomin jährliche Subventionen erhalten (VD Nr. 17/1883, 1; Kozerska 1967, 9). 33 „Dieses Mittel konnte offensichtlich nur gesunde geistige Nahrung sein (...).“
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angriff mit staatlich ausgewählten Büchern begegnet werden, die in der Provinz in „Volksbibliotheken“ zur Verfügung gestellt werden sollten. Das Konzept der behördlichen Bücherverbreitung hatte in Polen als erster der Generalgouverneur Šuvalov in seiner kurzen Amtszeit (1894–96) in Angriff genommen (NV Nr. 7188/1896, 4). Er ließ musterhafte Büchersammlungen zusammenstellen, die dann in den zehn Gouvernements zugänglich gemacht werden sollten. Der Großteil der ausgewählten Bücher war dabei russisch. Doch noch bevor die Aktion richtig begann, wechselte der Generalgouverneursposten und Šuvalovs Nachfolger Imeretinskij unterzog das Konzept einer kritischen Revision. Zur Zurückweisung gefährlicher politischer Propaganda könne man nicht die polnischen Bauern russische Klassiker im Original lesen lassen, so Imeretinskij, und erläuterte: Польский ‚хлоп‘ еще совершенно неподготовлен к восприятию русской народной литературы, служащей отражением незнакомой ему русской духовной жизни, не говоря уже о том, что русская речь и грамота доступны ему несравненно менье, чем родныя польския. Поэтому вводить русския книги в каталог здешних народных библиотек надо крайне осторожно и постепенно (…) (Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še 1899, 24).34
Imeretinskij wollte die Sache gescheiter angehen. In den behördlichen Büchersammlungen setzte er neben lediglich 100 russische ein Kontingent von 150 polnischen Büchern und hoffte, durch die polnischen Bücher die Bauern in die Bibliotheken zu locken und dann mit den russischen zu „infizieren“. Von den derartigen Büchersammlungen schickte er im Oktober 1897 zwei in jedes der zehn polnischen Gouvernements, um die Nachfrage zu testen (VD Nr. 15/1899, 2). Imeretinskijs Plan war es, schon kurzfristig möglichst jede der 1.288 polnischen Gemeinden mit einer solchen Bibliothek zu versorgen. Der Zar persönlich segnete dazu seine Bitte um eine Anschubfinanzierung von 64.400 Rubeln ab (Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še 1899, 25 f.). Ein Jahr später bewerteten die russischen Behörden das Experiment als Erfolg und nahmen die Ausweitung auf das ganze Königreich Polen vor. Sorgsam wurde eine Auswahl der Bücher zusammengestellt, wobei man sich für die russischen nach Katalogen des MNP für kostenlose Lesehallen richtete,35 für die polnischen dagegen eine spezielle Kommission beim Warschauer Bildungskurator einrichtete. Ausgewählt wurden Bücher für vier Bereiche: religiös-moralische, populärwissenschaftliche, praktische (z.B. zur Landwirtschaft) und belletristische (VD Nr. 34 „Der polnische ‚Chłop‘ [Bauer] ist noch völlig unvorbereitet für die Aufnahme der russischen Volksliteratur, die als Spiegel des ihm unbekannten russischen Geisteslebens dient, ganz zu Schweigen davon, dass ihm die russische Sprache und Schrift wesentlich weniger zugänglich sind als seine heimische polnische. Aus diesem Grund muss man russische Bücher in den Katalog der hiesigen Volksbibliotheken überaus vorsichtig und schrittweise einführen.“ 35 Zu diesem sog. Normalkatalog (normal’nyj katalog) s. Kaiser 1983, 130 f.
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16/1899, 2). Bei der Auswahl der russischen Belletristik wurde darauf geachtet, die Leserschaft nicht mit zu schweren Texten zu überfordern (Lech 1972, 390; Kaiser 1983, 132). So standen in den Volksbibliotheks-Katalogen für das Königreich Polen zwar Volksausgaben von Klassikern wie Puškin (Kapitanskaja dočka), Gogol’ (Soročinskaja jarmarka, Noč’ pod roždestvo) und Krylov (Fabeln), aber auch viele Texte, die nur einen geringen künstlerischen Anspruch hatten oder schlicht die russische Geschichte und ihre Protagonisten glorifizierten – so z.B. die Broschüren Kak voeval Petr Velikij so Švedami von Iosif Senigov, Car’-Mirotvorec Aleksandr III von Dmitrij Loman sowie Hefte über Heldentaten russischer Kämpen im Krimkrieg und im Kaukasuskonflikt (KVGG 1899). Nach der Veröffentlichung des Katalogs und der weiteren Vorschriften häuften sich in den Folgemonaten die Eröffnungen von Volksbibliotheken in polnischen Dörfern, meist feierlich begangen mit einem Gottesdienst, Ansprachen oder auch Musik (z.B. VD Nr. 128/1899, 4; VD Nr. 31/1901, 2). Blickt man nach dieser Gründungsphase auf ihre weitere Entwicklung, kann man aus russischer Sicht nicht von einem völligen Fehlschlag sprechen, da einige der Bibliotheken durchaus ein Publikum fanden (vgl. PW Nr. 24/1897, 557; Przedświt 5/1898, 15). Besonders beliebt war an den meisten Orten jedoch die polnische Belletristik (VD Nr. 15/1899, 2; VD Nr. 115/1899, 4). Die Zahl der Ausleihen bei den russischen Büchern blieb schwach – sie machten teils unter 10% aus (vgl. VD Nr. 41/1901, 2; VD Nr. 31/1901, 2). Imeretinskijs Vorahnung erwies sich als richtig: Oft reichten auch bei fehlenden Berührungsängsten die sprachlichen Fähigkeiten nicht aus. Russische Bücher hatten daher nur dort Erfolg, wo eine Schule eine gute russische Sprachausbildung gewährleistete. Aber auch dann lag die Zahl der Ausleihen russischer Bücher, unter denen Märchen und Kriegserzählungen die beliebtesten waren, deutlich unter den Erwartungen der Behörden (Lech 1972, 403). Für die Gouverneure ergab sich daraus die Konsequenz, dass die Zahl der russischen Bücher gesteigert werden müsse oder dass die polnischen Bücher sogar vollständig aus dem Bestand zu verbannen seien (Lech 1972, 405) – ein Schritt, der die Popularität der Bibliotheken schwerlich steigern konnte. Ihr baldiger Niedergang war indes auch anderen Problemen geschuldet, wie z.B. der fehlenden Finanzierung für einen Ausbau bzw. Austausch des insgesamt doch recht geringen Bücherbestands. Nach der Revolution von 1905 versandete das Projekt der Volksbibliotheken und wurde schließlich aufgegeben.36 36 Eine Variante der Volksbibliotheken waren die Leseorte der Nüchternheitskomitees (komitety trzeźwości). Um die Bevölkerung vom Alkoholkonsum abzuhalten, wurden um 1900 in einer offiziellen Kampagne vielerorts Komitees gegründet, die durch verschiedene Aktionen von der Trunksucht abhalten sollten. Die Komitees wurden dazu ermuntert, selbst Volksbibliotheken mit Büchern gemäß dem Normalkatalog einzurichten oder diese Teestuben anzuschließen. In Polen war die Zahl entsprechender Leseorte gering (VD Nr. 63/1899, 2 f.; VD Nr. 64/1899, 2 f.; SPbV Nr. 28/1899, 1; Lech 1972, 409 f.).
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Insgesamt lässt sich sagen, dass die Versorgung mit russischer Literatur in der Originalsprache bis zur Jahrhundertwende auf polnischem Gebiet nicht zufriedenstellend war. Das Hauptproblem scheint die fehlende Nachfrage gewesen zu sein. Dies wird dadurch bestätigt, dass zwar in Warschau um 1900 aufgrund der steigenden Zahl russischer Einwohner private Buchläden endlich ihr Auskommen finden konnten, auf dem vorwiegend polnisch besiedelten Land die Volksbibliotheken aber nur geringen Erfolg hatten. Man kann dies auch als Hinweis darauf nehmen, dass polnische Leser für die Lektüre von Texten russischer Autoren nicht zum Original, sondern allenfalls zur Übersetzung griffen.
2.4 Zensur polnischer Übersetzungen Die Frage, in welcher Sprache die Polen russische Literatur lasen, ist zur damaligen Zeit kontrovers diskutiert worden. Im Dezember 1885 entspann sich hierzu zwischen der russischen Wochenzeitung Nedelja und dem polnischen Kraj eine bezeichnende Polemik. Ausgangspunkt war die Frage nach dem Interesse an der Literatur des jeweils anderen Volks. Die Nedelja argumentierte, dass von der russischen Aufgeschlossenheit für die polnische Literatur die zunehmende Zahl von Übersetzungen zeuge. Polnische Übersetzungen russischer Bücher gebe es dagegen kaum. Der Kraj hielt dagegen: Zwar gebe es tatsächlich weniger Übersetzungen aus dem Russischen. Aber wieso sollten die Polen auch russische Bücher übertragen, wo sich doch aufgrund der Petersburger Politik die russische Sprache im Land immer mehr verbreite? Wohl kaum könnten dagegen die Russen immer besser Polnisch, so dass sie entsprechend mehr übersetzen müssten als die Polen. Ein Indikator für das Interesse an der Literatur sei die Zahl der Übersetzungen also keineswegs (Kraj Nr. 49/1885, 9). Man darf bezweifeln, ob der Kraj mit seiner auf den ersten Blick plausiblen Argumentation den tatsächlichen Grund für die geringe Zahl der Übersetzungen präsentierte. Munition für diese Zweifel liefert ausgerechnet der Chefredakteur des Kraj persönlich. Besagter Erazm Piltz behandelte Jahre später in einer politischen Abhandlung ausführlich den russischen Glauben, dass unter den Polen das Russische weit verbreitet sei. „Ta opinia jest najzupełniej błędna“, schrieb Piltz nun.37 Sehr gut Russisch könnten nur die wenigen Hundert polnischen Absolventen höherer Bildungsanstalten. Doch sie, wie auch alle anderen in der Schule auf Russisch unterrichteten Polen, würden die Sprache schnell wieder vergessen, da sie ihnen im polnischen Alltag schlicht nicht mehr begegnen würde: „(...) język obcy, choćby
37 „Diese Meinung ist völlig falsch“.
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państwowy, do naszego świata nie wkroczy, bo nie może, bo tam miejsce już zajęte“ (Piltz 1898, 80; vgl. MV Nr. 150/1890, 2).38 In welcher Sprache also lasen die Polen russische Literatur? Den Schülern höherer Schulen war die Lektüre russischer Originaltexte problemlos möglich. Da diese Gruppe aber tatsächlich verhältnismäßig klein war, muss man davon ausgehen, dass die Mehrheit der Polen die Lektüre von Übersetzungen ins Polnische (zuweilen auch ins Französische) zumindest vorzog. Dies galt im Übrigen teils auch für die Mittelschüler, die das Russische zwar beherrschten, es aufgrund der unschönen Schulerfahrungen aber im Privatleben mieden. So schrieb der Warschauer Buchhändler Ferdynand Hoesick in seinen Erinnerungen: „(...) gdy mi np. wypadło w wypracowaniu szkolnym napisać charakterystykę głównych postaci w Rewizorze Gogola, wolałem w domu komedię tę przeczytać w polskim przekładzie (…) aniżeli w oryginale“ (Hoesick 1959, 175 f.).39 So existierte ein (wenngleich kleiner) Markt für Übersetzungen russischer Bücher, die polnische Verleger in allen drei Teilungsgebieten in ihr Programm aufnahmen. Für diese Übersetzungen galt es (wie für jedes andere Buch), vor dem Weg in den freien Verkauf eine wichtige Hürde zu nehmen: die Freigabe durch die Zensurbehörden. Überraschenderweise war dies gerade im russischen Teilungsgebiet aber keine Selbstverständlichkeit. Mit dem Warschauer Zensurkomitee (Varšavskij cenzurnyj komitet) bestand seit 1869 ein einziges zentrales Amt, das die ganze Bandbreite an Zensuraufgaben im Königreich Polen bearbeitete. Dort wurden Druckerzeugnisse wie Bücher und Zeitungen zensiert, aber auch Bilder, Zeichnungen und (polnische) Theaterstücke (Ramotowska 1992, 166 f.). Zusätzlich überwachten die Mitarbeiter die Produktionsund Verkaufsorte der überwachten Medien, also insbesondere Druckereien und den Buchhandel (Kowalczyk 2006, 36 ff.; vgl. Fiszer 1959, 24; 72 ff.). Organisatorisch lag die Zensur in Russland seit 1865 im Kompetenzbereich des Innenministeriums. Das Warschauer Zensuramt unterstand der dort angesiedelten Hauptverwaltung für Pressefragen (Glavnoe upravlenie po delam pečati), wobei die örtliche Aufsicht vom Generalgouverneur ausgeübt wurde (Ramotowska 1992, 166) – eine nicht unwichtige Tatsache, weil so die Ausprägung eines Lokalkolorits in den Warschauer Zensurentscheidungen begünstigt wurde. Die Aufgaben des Zensurkomitees richteten sich nach dem gesamtrussischen Zensurgesetz in seiner jeweils aktuellen Fassung (Tobera 1992, 176 f.). Die Grundlinien des Gesetzes blieben dabei über die Jahre gleich: Verboten waren insbeson38 „(...) eine fremde Sprache, und sei es auch die Staatssprache, dringt in unsere Welt nicht ein, weil sie es nicht kann, weil der Platz dort schon besetzt ist.“ 39 „(...) wenn ich z.B. in einem Schulaufsatz eine Charakterisierung der Hauptfiguren aus Gogol’s Revizor schreiben musste, las ich diese Komödie zu Hause lieber in der polnischen Übersetzung (...) als im Original.“
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dere solche Texte, die mit dem Christentum und seinen Grundwerten in Konflikt standen, das Zarenhaus herabwürdigten, gegen Anstand und gute Sitten verstießen oder durch die Verbreitung sozialistischer Ideen sozialen Unfrieden stifteten (Prussak 1994, 165 ff.; Tobera 1992, 183). Die meisten literarischen Texte russischer Autoren, die anhand dieses Maßstabs keine Bedenken geweckt hatten, wurden vom Warschauer Zensuramt auch in der polnischen Übersetzung durchgewunken. Dazu einige Beispiele (in Klammern das Jahr der Zensurentscheidung): Lermontovs Chadži Abrek (1872), Turgenevs Stepnoj korol’ lir (1879), Puškins Vystrel (1883), Lermontovs Geroj našego vremeni (1896), Puškins Kavkazskij plennik (1898), Tolstojs Krejcerova sonata und sein Drama Vlast’ t’my (1900), Gor’kijs Byvšie ljudi (1902) und Na dne (1903) sowie Andreevs Molčanie und Lejkins V gostjach u turok (1904) (alle Angaben auf Grundlage der bibliographischen Erfassung von Kostecki/Rowicka 2006 a,b,c). In anderen Fällen blieb die Übersetzung des literarischen Textes ohne Beanstandung, während die speziell für die polnischen Ausgaben geschriebenen Vorworte als tendenziös zensiert wurden – so z.B. im Falle von A.K. Tolstojs Tragödie Car’ Boris (ca. 1870; Kostecki/Rowicka 1992, 281) und einer Sammlung von drei Erzählungen Gogol’s (poln. Titel Obrazki z życia, 1903). Im letzteren Fall schrieb der Zensor über das Vorwort des polnischen Literaturkritikers Piotr Chmielowski: Wykładając biografię Gogola autor jako szczególną zaletę naszego pisarza przedstawia jego upodobanie do katolicyzmu i zachodnioeuropejskiego ustroju społecznego. Według słów Chmielowskiego Gogol uważał, że Rosja jest biczem Bożym dla Polski, wierzył w odrodzenie Polski, zachwycał się patriotyzmem Polaków i podzielał ich nienawiść do Rosji. Rosjan autor nazywa „Moskalami“ i z pogardą traktuje rosyjski styl życia. Poza tym w objaśnieniach do tekstu jest mowa o gwałtownej śmierci Piotra III. (Prussak 1994, 113).40
Frappierend ist insbesondere die Gruppe der Bücher, die auf Russisch legal erschienen, deren polnische Übersetzungen aber von der Warschauer Zensur gestoppt wurden. So schlug beispielsweise ein Zensurmitarbeiter 1888 für Aleksej K. Tolstojs Knjaz’ Serebrjanyj das Verbot der polnischen Übersetzung vor, da das Buch die russische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts in den unvorteilhaftesten Farben darstelle und als Hauptmerkmal der Amtszeit Zar Ivans IV. ständige Hinrichtungen der Untertanen exponiere (Prussak 1994, 62). Im Falle von Nikolaj Lejkins Gde apel’ziny zrejut bemängelte ein Zensor 1899, dass das Buch die Kulturlosigkeit, Naivität und 40 „Bei der Präsentation von Gogol’s Biographie stellt der Autor als besonderen Vorzug unseres Autors seine Neigung zum Katholizismus und zur westeuropäischen Gesellschaftsordnung heraus. Chmielowski zufolge war Gogol’ der Ansicht, dass Russland für Polen eine Geißel ist, er glaubte an die Wiedergeburt Polens, begeisterte sich für den Patriotismus der Polen und teilte ihren Hass auf Russland. Die Russen nennt der Autor ‚Moskowiter’ und behandelt die russische Lebensweise mit Verachtung. Außerdem ist in den Anmerkungen zum Text die Rede vom gewaltsamen Tod Peters III.“
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Unbeweglichkeit des russischen Provinzlebens in einer Weise darstelle, die polnischem Spott Tür und Tor öffne (Prussak 1994, 100). Die ausführlich begründeten Verbotsanträge für die genannten Werke von Lejkin und A. K. Tolstoj sind in den Akten der Zensurbehörde erhalten geblieben und geben Auskunft darüber, von welchen grundsätzlichen Motiven die Zensoren sich bei ihren Entscheidungen leiten ließen (Nachdruck in polnischer Übersetzung in Prussak 1994). Regelrecht programmatischen Charakter hat die 1888 verfasste Begründung zu Tolstojs Buch. In ihr berichtet der Zensor Voršev, wie die polnischen Zeitungen lange versucht hätten, durch den wörtlichen Nachdruck unvorteilhafter Berichte aus russischen Zeitungen die Zensur auszutricksen und die russische Realität in ein schlechtes Licht zu stellen. Die Zensur habe dies konsequent unterbunden. Nun aber seien die Polen auf eine neue Idee gekommen, nämlich die reihenweise Herausgabe russischer Belletristik, die wiederum aufgrund ihres Inhalts ein negatives Russlandbild im Leser evozieren solle. In die Reihe dieser Texte gehörten nach Ansicht Vorševs außer A. K. Tolstojs Knjaz’ Serebrjanyj z.B. auch Dostoevskijs Prestuplenie i nakazanie, Unižennye i oskorblennye und Zapiski iz mertvogo doma (vgl. Prokof ’eva 1970, 61). Weiter führte er aus: Można sądzić, że jeżeli Warszawski Komitet Cenzury będzie bez przeszkód zwalniać tłumaczone na język polski rosyjskie utwory beletrystyczne, charakteryzujące życie rosyjskie z jednej tylko, mrocznej strony, to w ciągu jakichś dwu lat biblioteki w Warszawie wypełnią utwory podobnego rodzaju. Może się nawet pojawić Wzburzone morze Pisiemskiego i Wieczorna ofiara Boborykina i inne, bardziej jeszcze pikantne powieści (Prussak 1994, 63).41
Das Warschauer Zensuramt dürfe angesichts dessen nicht zum Handlanger antirussischer Propaganda mit Hilfe russischer Schriftsteller werden, so der Zensor weiter, und erlaubte sich einen emotional gefärbten Exkurs: A nawiasem mówiąc czy przetłumaczono na język polski prozatorskie utwory Puszkina i Lermontowa, nie mówiąc już o ich wierszach? Nie. Czy przetłumaczono utwory Gonczarowa: Urwisko, Obłomow, Zwykła historia? Nie. Turgieniewa – Szlacheckie gniazdo, Rudin, W przededniu? Nie. Dlaczego wszystkie te utwory, tak interesująco malujące rosyjskie życie społeczne, nie zostały przetłumaczone na język polski? Dlatego że niewidoczna polska ręka boi się, żeby społeczeństwo polskie nie zainteresowało się życiem rosyjskim. Niech społeczeństwo polskie przeczyta najpierw wszystkie te utwory, wtedy wydanie dzieł Dostojewskiego, Książę Srebrny Tołstoja spotkają się z zupełnie inną oceną w oczach polskiej publiczności (Prussak 1994, 63).42 41 „Man könnte meinen, dass wenn das Warschauer Zensuramt ohne Probleme ins Polnische übersetzte Werke russischer Belletristik freigibt, die das russische Leben nur von einer, der dunklen Seite darstellen, innerhalb von etwa zwei Jahren die Warschauer Bibliotheken voll von derartigen Werken sein werden. Es könnten selbst Vzbalamučennoe more von Pisemskij und Žertva večernjaja von Boborykin sowie andere, noch pikantere Romane erscheinen.“ 42 „Und nebenbei gesagt[:] Wurden ins Polnische die Prosawerke von Puškin und Lermontov übersetzt, ganz zu Schweigen von ihren Gedichten? Nein. Wurden Gončarovs Werke über-
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Elf Jahre später, im Jahr 1899, bestätigte der Verbotsantrag für Lejkins Buch die anlässlich des Knjaz’ Serebrjanyj formulierte Grundidee. Nun hieß es unter Berufung auf den Zensor Nazarevskij: Polscy tłumacze utworów rosyjskich, przemilczając wielu rosyjskich klasyków – dawno już przetłumaczonych na wszystkie prawie języki europejskie, tendencyjnie proponują społeczeństwu polskiemu utwory pokazujące życie rosyjskie w mrocznych barwach albo też przedstawiające je w sposób karykaturalny. Warszawska cenzura czujnie reagowała na podobne objawy polskiego szowinizmu i zatrzymywała książki tego rodzaju, szkodliwe tylko w języku polskim i przy obecnym nastroju Polaków (Prussak 1994, 100).43
So scheiterten im Warschauer Zensuramt immer wieder Texte, die in Russland völlig legal waren, u.a. von Turgenev, Korolenko und Lev Tolstoj (Kostecki 2006a, b, c), oder erfuhren zumindest Veränderungen (ein Beispiel zu Griboedov s. Secomska 1987, 585; unklar ist generell die Rechtsgrundlage dieses Vorgehens). Gleichzeitig behinderte die Zensur auch die Verbreitung von sekundärliterarischen Texten über russische Literatur. Überliefert ist dies z.B. für einen Artikel des Literaturkritikers Bronisław Białobłocki über Saltykov, den der Zensor (laut Ludwik Krzywicki) mit der Begründung ablehnte: „Jeśli nasi nam wymyślają, trudna rada, musimy się jakoś z tym pogodzić, ale bynajmniej nie życzymy sobie, ażeby w polskiej prasie powtarzano ich zarzuty i zajmowano się nimi (...)“ (Krzywicki 1958, 145).44 Auf diese Weise entstand eine paradoxe Situation: Jenseits aller Boykottgedanken wurde es der polnischen Öffentlichkeit durch die russischen Behörden erschwert, sich ein umfassendes Bild von der russischen Literatur jener Jahre zu machen. Verständlich wäre dies für die illegale, z.B. sozialistische Literatur gewesen. Aber für die legale? In Verbindung mit seiner Herausgeberschaft der Zeitschrift Ateneum beklagte der polnische Anwalt Włodzimierz Spasowicz 1880 in einer Einsetzt: Obryv, Oblomov, Obyknovennaja istorija? Nein. Von Turgenev – Dvorjanskoe gnezdo, Rudin, Nakanune? Nein. Warum wurden all diese Werke, die das russische Gesellschaftsleben so interessant malen, nicht ins Polnische übersetzt? Weil eine unsichtbare polnische Hand dafür sorgt, dass die polnische Gesellschaft sich nicht für das russische Leben zu interessieren beginnt. Soll die polnische Gesellschaft erst all diese Werke lesen, danach werden die Publikation von Werken Dostoevskijs [und] der Knjaz’ Serebrjanyj von Tolstoj in den Augen der polnischen Öffentlichkeit eine völlig andere Bewertung erfahren.“ 43 „Die polnischen Übersetzer russischer Werke, die viele – längst in fast alle europäischen Sprachen übersetzte – russische Klassiker verschweigen, bieten der polnischen Gesellschaft tendenziös Werke an, die das russische Leben in dunklen Farben zeigen oder es in karikierender Weise darstellen. Die Warschauer Zensur reagierte sensibel auf entsprechende Erscheinungen des polnischen Chauvinismus und hielt Bücher dieser Art zurück, die schädlich nur auf Polnisch und bei der derzeitigen Stimmungslage der Polen sind.“ 44 „Wenn die Unsrigen uns beschimpfen, nichts zu machen, irgendwie müssen wir uns damit abfinden, aber keinesfalls wünschen wir uns, dass in der polnischen Presse ihre Vorwürfe wiederholt werden und man sich mit ihnen beschäftigt (...).“
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gabe an die Behörden diesen Zustand. Das Warschauer Zensuramt stehe mit seiner Willkür dem kulturellen Austausch zwischen Polen und Russen im Weg, so Spasowicz. Polnischen Autoren sei die Möglichkeit genommen, dem aktuellen russischen Geistesleben zu folgen. Dem Austausch stehe die Zensur „wie ein Schlagbaum“ (vrode dorožnogo šlagbauma) im Weg (Kaupuž 1966, 152). Derweil ist es schwer, in der Politik der Zensur ein konsistentes Vorgehen zu erkennen. Dies verwundert nicht, schließlich sind die Klagen über die Absurditäten der Zensur jener Jahre ungezählt. Zeitgenossen stellten die Behörde als ineffizient, widersprüchlich, kleinkariert und unberechenbar dar (z.B. Zaleski 1971, 330 ff.; Gawroński 1892; Baudouin de Courtenay 1903). Auch mit Blick auf die russische Literaturpolitik stellt sich die Frage, wie schlüssig und wirkungsvoll die Maßnahmen des Warschauer Zensuramtes waren. Dies betrifft zunächst die Konsequenz der inhaltlichen Kritik und ihre Umsetzung in die Indizierung eines Werks. Den Verbotsantrag für Lejkin begründete der Zensor damit, dass das russische Provinzleben in dem Buch unvorteilhaft, ja lächerlich dargestellt sei. Aber wieso galt dies nicht für Gogol’s Mertvye duši, das 1878 zum Druck zugelassen wurde? Noch deutlicher wird die Inkonsequenz im Fall von Dostoevskijs Prestuplenie i nakazanie, für das die Bedenken der Zensoren sogar dokumentiert sind. Ausdrücklich steht im bereits zitierten Verbotsantrag zu A. K. Tolstoj, dass Prestuplenie i nakazanie wie auch andere Werke Dostoevskijs „in den Lesern keinerlei erfreuliche Gefühle in Bezug auf das gegenwärtige russische Leben wecken werden“ (nie wzbudzą w czytelnikach ani jednego pocieszającego uczucia w stosunku do współczesnego życia rosyjskiego, Prussak 1994, 62 f.). Trotzdem hatte die Zensur ein Jahr zuvor (1887) nicht verhindert, dass Prestuplenie i nakazanie in der (ersten) polnischen Übersetzung in Warschau erschien (Poźniak 1958, 121). 1897 wurden auch Dostoevskijs Zapiski iz mertvogo doma von der Zensur genehmigt, obwohl sie für den polnischen Leser aufgrund ihrer Katorga-Thematik besonders interessant und gleichzeitig schwerlich geeignet waren, das Bild Russlands zu verbessern (Kostecki/Rowicka 2006b, 405; vgl. Poźniak 1958, 122 ff.).45 Warum also wurden Gogol’ und Dostoevskij nicht verboten? Man wird die Erklärung allenfalls im Nachsatz des Lejkin-Zensors suchen können, der in einem Verbot auch wegen des geringen literarischen Werts des Buchs kein Problem sah („Zakaz rozpowszechniania tłumaczenia powieści Lejkina nie powinien wywołać żadnych problemów ze względu na jej znikome literackie znaczenie“, Prussak 1994, 100).46 Dies Argument konnte nicht für die anderen Autoren gelten, die ihren Platz in der
45 Bis 1904 erschienen von Dostoevskij auf Polnisch allerdings kaum mehr als diese beiden Texte (ausführlich Poźniak 1958). 46 „Ein Verbreitungsverbot für die Übersetzung von Lejkins Roman sollte keinerlei Probleme hervorrufen angesichts seiner geringen literarischen Bedeutung.“
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Weltliteratur bereits erobert hatten und für ein Verbot womöglich schlicht zu bekannt waren. Auch „große“ Autoren waren vor der Zensur indes in akuten Fällen nicht sicher, wie sich schon oben gezeigt hat. Aus Gogol’s Gesamtwerk bietet sich als Beispiel der Revizor an. Das Theaterstück schildert, wie die erwartete Ankunft eines Inspektors aus St. Petersburg den zu inspizierenden Ort in helle Aufregung versetzt – schließlich beschäftigen sich die dortigen Amtsvorsteher mit Kartenspiel, Schmiergeld, Trinkgelagen und vielem mehr, aber nicht mit der ordentlichen Verwaltung ihrer Institutionen. Diese giftige Satire auf die russische Provinz-Verwaltung durfte in der polnischen Fassung in Warschau bis 1906 nicht auf der polnischen Bühne gespielt werden (Kaupuž 1966, 155; Prussak 1994, 100). Wie wirkungsvoll war dieses Verbot der Zensur? Keineswegs war das Stück im Königreich Polen unbekannt. Die Textversion war auf Russisch ohnehin legal erhältlich, aber auch die polnische schaffte es 1884 problemlos durch die Zensur (Kostecki/Rowicka 2006a, 371). Mehr noch: In russischen Schulen (und damit auch in den Schulen des „Weichsellandes“) gehörte der Revizor zum Lektüreplan (MNP 1890, 36). Die Warschauer Wissenschaftsbehörde ließ 1897 sogar einen Sonderdruck aus dem Russkij Filologičeskij Vestnik anfertigen, der sich u.a. mit der Sprache des Stücks beschäftigte (Istomin 1897). 1902 veranstalteten die Behörden im Warschauer Lehrbezirk dann auch noch große Gogol’-Jubiläumsfeiern, bei denen entsprechende Aufführungen ebenfalls nicht fehlten. Im Theater wurde der Revizor auf Polnisch nicht nur in Krakau, Lemberg und Posen nach 1863 immer wieder erfolgreich gespielt, sondern auch in verschiedenen Provinzstädten im russischen Teilungsgebiet (Kijas 1980, 272 ff.; Poźniak 1969, 28). Und auch Warschau war hier nicht völlig ausgeklammert: Das Stück gehörte wiederholt zum Repertoire russischer Gastspiel-Truppen in der Stadt (Kijas 1980, 275). Nach dem ersten Auftritt einer russischen Truppe im Warschauer Theater beschwerte sich die russische Presse sogar darüber, dass dieser Auftritt von den Polen zu wenig gewürdigt wurde (SPbV 133/1886, 4). Wofür also bei all dem noch das Aufführungsverbot der polnischen Version in Warschau? Machte diese Einschränkung bei dem geschilderten Verbreitungsgrad des Stücks wirklich noch Sinn? Man muss die Zensoren womöglich in Schutz nehmen. In den anderen Teilungsgebieten war der Revizor tatsächlich immer auch in seiner Bürokratie-, bzw. zugespitzt: in seiner Systemkritik rezipiert worden. Ähnliches ließ sich auch für Warschau nicht ausschließen, was angesichts der ohnehin exponierten Stellung der Warschauer Bühne sicher keinen günstigen Eindruck auf die russische öffentliche Meinung gemacht hätte. Die Zensoren fürchteten zudem die mobilisierende Kraft, die eine emotionale Theateraufführung entfalten könnte (Secomska 1982, 281). Dennoch zeigt das Beispiel des Revizors erneut, welch schwierige Gratwanderung die Zensurbehörden unternehmen mussten. Der populäre Gogol’ sollte gleichzeitig
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als russischer Nationaldichter besetzt und in seinem subversiven Gehalt unschädlich gehalten werden. Ein Erfolg auf ganzer Linie war dabei schwerlich zu erreichen. Dies gilt im Übrigen auch, wenn das Zensuramt aus der defensiven Position der Textunterdrückung in die Offensive ging, d.h. die Publikation bestimmter Texte forderte. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahr 1886, als erstmals eine russische Theatertruppe im Warschauer „Großen Theater“ (Teatr Wielki) auftrat (ausführlich s. Kap. 2.5). Die polnischen Zeitungen empfanden dies als bedrohliche Entwicklung, die das polnische Theater gefährden könnte, und schwiegen sich daher über die russischen Aufführungen aus. Vertreter der großen Redaktionen wurden daraufhin in das Warschauer Zensuramt einbestellt und mit dem Auftrag entlassen, Berichte von den Aufführungen sofort nachzureichen. Als eine der Zeitungen – der Wiek – dieser Aufforderung nicht nachkommen konnte, da kein Mitglied der Redaktion im Theater gewesen war, durfte das Blatt erst nach einer eintägigen Pause und nach Vorlage des gewünschten Artikels wieder erscheinen (Zwinogrodzka 1984, 532). Der Effekt der ganzen Aktion war indes begrenzt. Dies gilt nicht nur mit Blick auf diejenigen Zeitungen, die den erzwungenen Beiträgen eine demonstrative Dürftigkeit verliehen. Entgegen dem Anschein gilt dies auch für den Wiek. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet der Wiek-Artikel in den Peterburgskie Vedomosti überschwänglich gelobt wurde. Ausführlich zitierte die russische Zeitung den ihrer Meinung nach bemerkenswerten Text des Wiek, der die Hochachtung der Polen für russische Literatur u.a. unter Verweis darauf belege, dass Stücke wie der Revizor, Ioann Groznyj und der Knjaz’ Serebrjannyj Dauergäste der Bühnen in Lemberg und Krakau seien und Autoren wie Dostoevskij und Tolstoj viel übersetzt und gelesen würden. Am Ende schlug der Autor des polnischen Artikels vor, auch Stücke von Boborykin in polnischen Theatern zur Aufführung zu bringen (SPbV 143/1886, 3). Tolstoj, Dostoevskij, Revizor, Ioann Groznyj, Knjaz’ Serebrjannyj, Boborykin – man muss vor dem Autor des Wiek den Hut ziehen, dass er auch ohne Kenntnis der Zensurakten so punktgenau eine Auswahl derjenigen Autoren und Stücke in seinem Artikel unterbrachte, die den Behörden besonders schwer im Magen lagen. So lässt sich also nicht nur sagen, dass die Zensurbehörde in ihrem schwierigen Lavieren bei der Rezeptionssteuerung oft nicht zu runden Lösungen kommen konnte. Der Versuch der Steuerung scheint letztlich auch erfolglos gewesen zu sein, denn wie der Wiek-Artikel zeigt, kannten die polnischen Leser trotzdem die inkriminierten Autoren und erfassten den aus behördlicher Sicht subversiven Gehalt ihrer Texte. Wäre es allein darum gegangen, durch die Literatur Sympathie für Russland zu wecken, wäre es womöglich erfolgreicher gewesen, auch in Polen der Literatur mehr Freiheit zu gewähren.
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2.5 Das russische Theater in Warschau Auch mit Blick auf das russische Theater im Königreich Polen besteht ein Ungleichgewicht zwischen aus russischer Sicht wünschenswertem und tatsächlich realisiertem Zustand. Grundsätzlich lassen sich in vielen russischen Quellen Aussagen finden, die dem Theater gerade für Polen durch seine künstlerische Bildungsfunktion eine hohe und auch politische Bedeutung zumaßen. So schrieb z.B. die russische Zeitung Graždanin im Jahr 1890 anlässlich von russischen Theateraufführungen in Warschau: Sąsiedzi nasi niemcy słusznie uważają teatr za jeden z najsilniejszych środków asymilacyi kresów o ludności mieszanej pod względem narodowościowym. (…) Teatr stanowi do pewnego stopnia kontynuacyę owego wpływu na społeczeństwo dorosłe, jaki szkoła wywiera na wzrastające pokolenie (zitiert nach Kraj Nr. 9/1890, 10).47
Ähnlich wie bei den Bibliotheken ging aber auch die Etablierung des russischen Theaters im Königreich Polen nur sehr schleppend voran. Wie die Kultur insgesamt, so hatte auch das Theater in der russischen Politik direkt nach dem Januaraufstand keine Priorität gehabt. Ein russisches Theater gab es in keiner polnischen Stadt, und was das polnische Theater betraf, so beschränkten sich die Russen zunächst auf die strengere Kontrolle der dort aufgeführten Stücke. Dabei lag die Belebung speziell des russischen Theaters durchaus in der Hand der Behören, da die Theaterdirektion seit 1868 fast durchgängig von Russen geleitet wurde und diese zudem direkt dem Generalgouverneur unterstellt war (Bieńka 2003, 41 ff.). Entsprechende Ambitionen ließen sich speziell in den ersten Jahren nach 1864 jedoch nicht erkennen. Entsprechend wurde das russische Theater selbst in Warschau zunächst allein von Amateuren vertreten. Im Juli 1865 schrieb der Varšavskij Dnevnik erstmals von einer Amateur-Inszenierung im Orangerie-Theater, wo für einen guten Zweck und in Anwesenheit des russischen Statthalters Svad’ba Krečinskogo von Suchovo-Kobylin und das Vaudeville Beda ot nežnogo serdca von Sollogub gespielt wurden (VD Nr. 153/1865, 745). Kurz darauf wurde im selben Rahmen u.a. Gogol’s Revizor aufgeführt (VD Nr. 165/1865, 797 f.). Diese zunächst unregelmäßigen Aufführungen wurden im Laufe der nächsten Jahre langsam häufiger, behielten aber ihren Amateurcharakter und den kleinen, meist rein russischen Rahmen. Als Zentrum des bescheidenen russischen Theaterle-
47 „Unsere deutschen Nachbarn halten das Theater zurecht für eines der stärksten Assimilationsmittel in den Randgebieten mit national gemischter Bevölkerung. (...) Das Theater stellt in gewissem Maße die Fortsetzung jenes Einflusses auf die erwachsene Gesellschaft dar, den die Schule auf die heranwachsende Generation ausübt.“
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bens etablierte sich der russische Klub, der vor einer kleinen Bühne immerhin über 300 Zuschauern Platz bieten konnte (vgl. VD Nr. 55/1883, 2). Das Jahr 1883 war auf dieser Bühne ein besonders erfolgreiches, was in der russischen Öffentlichkeit die Frage nach einer Institutionalisierung des Theaterlebens aufwarf (VD Nr. 68/1883, 1; VD Nr. 187/1883, 1). Im November 1883 meldete der Varšavskij Dnevnik, dass die Gründung einer russischen Amateurtheater-Gesellschaft eingeleitet worden sei. Als Ziele setzte sich die Gesellschaft die Veranstaltung von Theateraufführungen und Lesungen, die Förderung hoffnungsvoller Schauspieler, die Verbreitung der Kunstliebe und die Hilfe für in Warschau gastierende russische Künstler (VD Nr. 236/1883, 3). Nach der Zulassung durch das Innenministerium am 20. Januar 1884 (a.St.) konnte sich die unter diesen Prämissen gegründete „Russische Gesellschaft der Freunde szenischer Kunst“ (Russkoe Obščestvo Ljubitelej Sceničeskogo Iskusstva; im Folgenden: Rolsi) im Februar 1884 zu ihrer ersten Versammlung treffen. In den Folgemonaten entfaltete sie eine rege Aktivität und feierte vor russischem Publikum schöne Erfolge, so dass die Mitgliederzahl schon ein Jahr später auf ca. 400 stieg und die Anmietung einer eigenen Probebühne möglich wurde (SPbV Nr. 67/1884, 3; SPbV Nr. 29/1885, 2; ausführlich über die Geschichte der Rolsi VD Nr. 23/1899, 2 f.). In den Folgejahren verlief die Entwicklung der Rolsi wechselhaft, aber die Gesellschaft hielt sich doch beharrlich über den gesamten in dieser Arbeit betrachteten Zeitraum. Dass dies nicht an der künstlerischen Qualität der Aufführungen lag, zeigen die kritischen Bewertungen insbesondere in den Petersburger und Moskauer Zeitungen, wie z.B. im Januar 1891 anlässlich einer Aufführung von Glinkas Žizn’ za carja in den Moskovskie Vedomosti: Если много нужно иметь храбрости для постановки этого грандиознаго творения силами провинциальной оперной труппы на скромной по средствам сцене провинциальнаго театра, то постановка его на микроскопической сцене здешняго русскаго любительскаго театра и главным образом силамим любителей казалась смелостью, доходящею до дерзости. Обходя щекотливый вопрос, следует ли со слабыми любительскими силами браться за постановку именно той оперы которая составляет гордость нашей музыки, мы скажем что исполнение оказалось значительно выше того на что можно было разчитывать при слабых силах любителей (MV Nr. 30/1891, 2; vgl. MV Nr. 32/1891, 6).48 48 „Wenn es schon viel Mut braucht, diese grandiose Schöpfung mit den Kräften einer ProvinzOperntruppe auf der Bühne eines den Mitteln nach bescheidenen Provinztheaters aufzuführen, so erschien die Aufführung auf der mikroskopischen Bühne des hiesigen russischen Amateurtheaters hauptsächlich mit Amateurkräften als eine Kühnheit, die an Dreistigkeit grenzt. Unter Umgehung der heiklen Frage, ob man sich mit schwachen Amateurkräften ausgerechnet an die Aufführung jener Oper machen sollte, die den Stolz unserer Musik darstellt, sagen wir, dass die Aufführung sich als wesentlich besser erwies, als man angesichts der schwachen Kräfte der Amateure erwarten konnte.“
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Insgesamt lief der Artikel darauf hinaus, dass schwache Akteure in schlechten Kostümen auf einer winzigen und bemitleidenswert dekorierten Bühne ihre Sache erstaunlich gut gemacht hatten – ein recht ambivalentes Kompliment also. Dennoch wurde der Rolsi von den Russen enormer Wert zugeschrieben, namentlich als Kulturinstitution für die unteren und mittleren Ränge der russischen Beamten und Militärs. Ihr Wert wurde neben der Integration insbesondere auch darin gesehen, dass sie eine Rückbindung zur russischen Heimatkultur herzustellen vermochte und dadurch der „Polonisierung“ der ständig in Warschau lebenden Russen entgegenwirkte (NV Nr. 9608/1902, 4). Wohl aufgrund dieses kulturpolitischen Werts stand die Rolsi lange auch in sehr guten Beziehungen zu den Behörden und zu den Generalgouverneuren, die die Gesellschaft persönlich z.B. durch die Besuche ihrer Veranstaltungen und mehrmals in Notlagen auch finanziell unterstützten (SPbV Nr. 275/1888, 4; NV Nr. 6849/1895, 3; VD Nr. 23/1899, 3). Um 1900 wurde an die Rolsi aus der Kasse des Generalgouverneurs eine jährliche Subvention von 1.000 Rubel gezahlt, was 10% ihrer Ausgaben deckte (VD Nr. 151/1900, 5). Durch die Bündelung der Amateurkräfte und die Einbindung durchreisender russischer Schauspieler schaffte es die Amateurgesellschaft, ab 1884 in Warschau ein ständiges russisches Theaterprogramm anzubieten. Allerdings wurde schnell klar, dass sie aufgrund ihrer beschränkten Kräfte kein Ersatz für professionelle Schauspieler sein konnte. Der gute Erfolg der Amateure in der Zeit direkt nach ihrer Gründung hatte den Behörden indes Mut gemacht, auf diesem Weg einen Schritt voranzugehen, und auch in der Warschauer russischen Gesellschaft waren nun Hoffnungen auf eine ständige und höherklassige russische Theatertruppe geweckt (SPbV Nr. 29/1885, 2; SPbV Nr. 64/1885, 3). Es war der Generalgouverneur Gurko persönlich, der die Realisierung dieser Pläne vorantrieb. Offenbar schon kurz nach der Gründung der AmateurtheaterGesellschaft hatte er in St. Petersburg entsprechende Gespräche aufgenommen. Schon im Frühjahr 1885 konnte er einen Erfolg verbuchen: Für das Jahr 1886 verpflichtete er für ein einmonatiges Gastspiel im Warschauer Teatr Wielki eine Truppe erstklassiger Schauspieler von den Moskauer Kaiserlichen Theatern, darunter z.B. Glikerija Fedotova. Das finanzielle Risiko übertrug er seiner eigenen Kanzlei, da die Warschauer Theaterverwaltung Befürchtungen drastischer Verluste geäußert hatte (SPbV Nr. 64/1885, 3; SPbV Nr. 54/1887, 4). Russische Künstler waren in den Vorjahren schon wiederholt in Warschau gewesen (z.B. VD Nr. 62/1867, 246; VD Nr. 28/1883, 1). Der Umfang des nun von Gurko initiierten Gastspiels ging aber deutlich über die bisherigen Veranstaltungen hinaus und wurde von den Russen in Warschau als ein historisches Novum empfunden. Entsprechend fiel der Empfang der Moskauer Schauspieler aus: Schon entlang der Bahnstrecke nach Warschau wurden sie u.a. in Brest-Litovsk und Siedlce begeistert empfangen, bis nach Novo Minsk (Mińsk Mazowiecki) kam ihnen eine
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Delegation aus Warschau entgegen. In Warschau schließlich hatten sich bei Ankunft des Zuges am Abend des 19. Mai 1886 Würdenträger und Theaterfreunde versammelt und empfingen die Moskauer Truppe mit Blumen und feierlichen Ansprachen (VD Nr. 101/1886, 1; Prussak 1987, 608). Einen Tag später kam dann im Großen Theater die erste Aufführung auf die Bühne, die extra renoviert worden war (Zwinogrodzka 1984, 529). Insgesamt gab es 16 Aufführungen, darunter mehrere Stücke von Ostrovskij sowie z.B. von Averkiev, Potechin, Gogol’ und Griboedov (Boczkowska 1984, 189). Das russische Publikum kam in Scharen und fiel in eine regelrechte Theater-Euphorie. „My wszyscy tutaj jesteśmy jak bogowie olimpijscy“, schrieb A. I. Južin-Sumbatov, einer der Schauspieler, in einem Brief aus diesen Tagen (Prussak 1987, 610).49 Die Ankunft der Moskauer Truppe markierte tatsächlich einen Wendepunkt in der Diskussion über das russische Theater im Königreich Polen. Viele Russen sahen in den Moskauer Künstlern Pioniere auf dem Weg zur Einrichtung eines ständigen russischen Theaters (VD Nr. 118/1886, 4; VD Nr. 120/1886, 1). Ein solches schien aufgrund des grandiosen Erfolgs nun plötzlich möglich zu sein, und die daraus resultierende Hochstimmung gipfelte am 29. Mai (a.St.) in einem rauschenden Bankett zu Ehren der Moskauer Truppe. Dort jagte ein Toast den nächsten und viele der kurzen Ansprachen drückten ob der rosigen Perspektiven auch eine politische Euphorie aus. Selbst die bis dahin äußerst taktvoll aufgetretenen Moskauer Schauspieler, die u.a. dem polnischen Schauspieler Żółkowski Ovationen bereitet und ihm einen Ehrenkranz überreicht hatten (Prussak 1987, 608 f.), ließen sich nun von der Stimmung mitreißen, so beispielsweise G. N. Fedotova, die einen Toast auf die russischen Soldaten ausbrachte. Kaum erbaulicher für die polnischen Beobachter war auch die Ansprache von P. A. Kulakovskij, Redakteur des Varšavskij Dnevnik, der zur Bedeutung des Auftritts der Schauspieler formulierte: Он служит знаком победоноснаго шествия русской культуры, русскаго просвещения, двигающагося от центров России на Запад… (…) pусские артисты поучили нас, напомнили нам, что на нас живущих и действующих здесь лежит великий долг служить делу русской культуры, русскаго просвещения, которое шаг за шагом, медленно, но прочно, без похвальбы и самомнения, с уважением к чужому, но без умаления своего собственнаго достоинства, пробивает свой путь дальше и дальше… (VD Nr. 118/1886, 4).50
49 „Wir alle sind hier wie olympische Götter.“ 50 „Er dient als Zeichen der siegreichen Ankunft der russischen Kultur, der russischen Bildung, die sich aus den Zentren Russlands nach Westen bewegt... (...) die russischen Schauspieler haben uns gelehrt, uns erinnert, dass auf uns hier Lebenden und Handelnden eine große Verantwortung liegt, der Sache der russischen Kultur zu dienen, der russischen Bildung, die sich Schritt für Schritt, langsam, aber sicher, ohne Prahlerei und Dünkel, mit Achtung vor dem Fremden, aber ohne Verminderung ihres eigenen Werts ihren Weg weiter und weiter bahnt.“
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Direkt nach der letzten Vorstellung der Moskauer Truppe am 3. Juni jubelten die Sankt-Peterburgskie Vedomosti: „В принципе устройство русскаго театра (…) дело уже решенное“ (SPbV Nr. 160/1886, 4).51 Aber der Euphorie folgte die Ernüchterung. Als Anfang 1887 auf Einladung der Rolsi die private Theatertruppe von A. M. Jakovlev in der Stadt gastierte, kamen zu wenig Zuschauer, um auch nur die Veranstaltungskosten zu decken (SPbV Nr. 115/1887, 4). Ende des Jahres versuchte Jakovlev es ein zweites Mal – und erneut wurden zumindest die ersten Abende zum Reinfall. Gerade einmal je 200 Zuschauer kamen zu den Inszenierungen im Russischen Klub, was den Varšavskij Dnevnik veranlasste, einen flammenden Appell an die Warschauer Russen zu veröffentlichen, damit sie durch regere Anteilnahme und am besten ausverkaufte Veranstaltungen die Notwendigkeit eines ständigen russischen Theaters in Warschau veranschaulichten (VD Nr. 245/1887, 3; vgl. VD Nr. 277/1887, 2). Es mögen diese ambivalenten Erfahrungen gewesen sein, aufgrund derer die Behörden zunächst keine weiteren Anstrengungen zur Einrichtung einer ständigen russischen Theatertruppe in Warschau machten (vgl. Gurko 1897, 244 f.). Es blieb einstweilen bei Gastspielen, teils von privaten Truppen, teils von Delegationen der großen Theater in Moskau und St. Petersburg. Letztere kamen nun traditionell für die Zeit der orthodoxen Passionszeit, in der in den beiden größten russischen Städten nicht gespielt wurde (Prussak 1987, 602). Die Zahl russischer Gastspiele ging aber bald deutlich darüber hinaus, so dass z.B. im Jahr 1902 allein in Warschau sechs unterschiedliche russische Theatertruppen insgesamt 154 Aufführungen gaben (VD Nr. 1/1903, 5; für Gesamtübersichten s. Boczkowska 1984; Bieńka 1995; Sivert 1988, 65 ff.; 245 ff.). Die Korrespondenten der russischen Presse verfolgten diese Entwicklung aufmerksam und kehrten beharrlich auf die Frage nach der Einrichtung eines ständigen russischen Theaters zurück. Die Argumente blieben dabei insgesamt über die Jahre gleich. Skeptiker der Idee gaben zu Bedenken, dass Polen und Juden ein russisches Theater vermutlich nicht besuchen würden, dass aber in jedem Fall das russische Theater besser sein müsste als ein polnisches oder jüdisches, da andernfalls bei dem gegebenen Alternativangebot für die Nicht-Russen kein Anreiz zum Besuch des russischen Theaters bestünde. Abgesehen davon schürten wiederholt niedrige Zuschauerzahlen russischer Gastspiele die Zweifel an der Perspektive eines dauerhaften Theaters, das insgesamt wohl auch viel zu teuer wäre, so die Kritiker – schließlich müssten einem guten russischen Schauspieler ihrer Meinung nach sehr gute finanzielle Bedingungen geboten werden, wenn man ihn von den Petersburger und Moskauer Bühnen abwerben wollte.
51 „Im Grunde ist die Einrichtung eines russischen Theaters (...) schon beschlossene Sache.“
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Für die Befürworter des Theaters war die Ablehnung der nicht-russischen Bevölkerung dagegen keineswegs eindeutig. So wie die Russen ins polnische Theater gingen, würden die Polen ihrer Meinung nach auch Aufführungen von Russen besuchen. Aber auch so habe Warschau so viele russische Einwohner wie eine russische Kleinstadt, in der es gewöhnlich auch ein Theater gebe, und auch die häufigen Erfolge russischer Gastspiele seien ein Beleg für den Bedarf. Was die Kosten betreffe, so seien mit den öffentlichen Bühnen ja bereits Räumlichkeiten vorhanden, wobei man dort bei guter Abstimmung der Spielpläne auch nicht den Betrieb der polnischen Aufführungen stören würde. Ohnehin könne man sich dank der teils russischsprachigen Schauspieler der polnischen Ensembles darauf beschränken, lediglich für die Hauptrollen gute russische Akteure zu engagieren und die Bühne dann mit den vorhandenen Statisten aufzufüllen.52 Besonders ärgerte die Befürworter des russischen Theaters die Frage nach der Finanzierung. Symptomatisch hierfür ist die Berichterstattung der Moskovskie Vedomosti über die Renovierung des Teatr Wielki 1890/91, die die Zeitung mit Artikeln wie „Russisches Geld für die polnische Sache“ (Russkija den’gi na pol’skoe delo) und „Russische Beamte für die polnische Sache“ (Russkie činovniki dlja pol’skago dela) begleitete. In einer regelrechten Kampagne kritisierten die Moskovskie Vedomosti, dass der russische Staat zwar jährlich 30.000 Rubel Subvention und nun auch noch mehrere hunderttausend Rubel für die Generalüberholung des Warschauer Theaters ausgebe, dafür aber keinen Gegenwert erhalte. Russische Stücke gebe es auf den Bühnen der öffentlichen Warschauer Bühnen, abgesehen von den Gastspielen, weder im Original noch in polnischer Übersetzung. Schlimmer noch: Der Zugang zu den Bühnen sei für russische Kultur schwerer als z.B. für Liliputaner oder Zauberkünstler. Derweil sei es die perfide Strategie der Polen, mit Hilfe der russischen Gelder die Perfektionierung des Repertoires von polnischem Theater und Ballett, von polnischer Oper und Operette zu betreiben und so den russischen Künsten den Zugang zum Publikum zu verstellen – wobei insbesondere das polnische Theater zum Zweck der Propaganda und der Polonisierung der russischen Besucher diene. Die Stoßrichtung dieser Artikel war klar: Die Subventionen für das polnische Theater sollten verschwinden und von dem Geld stattdessen russische Aufführungen realisiert werden (siehe z.B. MV Nr. 85/1890, 3; MV Nr. 174/1890, 4; MV Nr. 325/1890, 3; MV Nr. 30/1891, 2; MV Nr. 53/1891, 2; MV Nr. 245/1891, 3; MV Nr. 246/1891, 2; zur Höhe von Subventionen und Umbaukosten Bieńka 2003, 106 ff.). Trotz der Beharrlichkeit der Zeitungen und der teils bemerkenswert harschen Kritik an der offiziellen Politik änderte sich in Warschau bis zur Jahrhundertwende 52 Einige typische Artikel zur Diskussion über das russische Theater in diesen Jahren: SPbV Nr.29/1885, 2; SPbV Nr. 69/1890, 2; NV Nr. 6761/1894, 4; VD Nr. 76/1895, 2; MV Nr. 98/1895, 4; NV Nr. 6996/1895, 3; NV Nr. 7110/1895, 4; MV Nr. 226/1895, 2 f.; NV Nr. 7182/1896, 3.
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nichts an der russischen Theatersituation, die sich widersprüchlich darstellte: Rauschende Erfolge wechselten mit frustrierenden Debakeln, teils wurden die Schauspieler im Teatr Wielki begeistert in die Höhe geworfen, teils brachen sie auf maroden Bühnen im Russischen Klub oder bei der Amateurgesellschaft fast in den Boden ein (letzteres s. SPbV Nr. 124/1888, 4). Erst im Jahr 1900 lässt sich ein Streben der Behörden erkennen, diese Situation zu ändern. Der Gesinnungswandel fiel zusammen mit einer Krise der Amateurtheater-Gesellschaft, die innerlich und finanziell zerrüttet (wieder einmal) in Schieflage geraten war und sich mit einem Hilfsgesuch an den Generalgouverneur Imeretinskij und das Innenministerium gewendet hatte (VD Nr. 40/1900, 2 f.). Imeretinskij stellte tatsächlich die gewünschte Hilfe in Aussicht, forderte dafür aber von der Theatergesellschaft eine bessere Qualität der Aufführungen und durch die Einbindung von Berufsschauspielern eine schrittweise Professionalisierung hin zu einem echten russischen Theater. Dem Fortgang dieser Professionalisierung entsprechend sollten dann die Subventionen sogar steigen (VD Nr. 276/1900, 5). Imeretinskijs Tod einen Monat später führte zur Aufgabe dieses Ansatzes, doch schien auch sein Nachfolger Čertkov die Dinge nun ernsthaft angehen zu wollen. Ein Signal in diese Richtung war ein Leitartikel im Varšavskij Dnevnik, der sich als halboffizielles Blatt bisher mit Kritik an der Theaterpolitik eher zurückgehalten hatte. Nun aber skizzierte er detailliert, wie ein russisches Theater verwirklicht werden könnte: Mit 25–30 Akteuren und Kosten von 6.000–7.000 Rubeln pro Jahr, einem regelmäßig zu 2/3 ausgelasteten Raum für 500 Zuschauer, einer Saison von September bis Mai und Requisiten etc. aus dem Fundus der öffentlichen polnischen Theater. Den Abschluss des Artikels bildete ein dringender Appell an die Theaterverwaltung, die Sache in die Hand zu nehmen (VD Nr. 129/1901, 1 f.). Zwar befasste sich die Verwaltung nun tatsächlich mit dem Problem, doch konnte der schnell aufgestellte Plan, eine russische Truppe im Theater am Sächsischen Garten bis zum Herbst 1902 anzusiedeln, nicht verwirklicht werden (VD Nr. 20/1902, 5). Erst im Februar 1904 schien endlich der Durchbruch bevorzustehen: Der Generalgouverneur Čertkov hatte unter seinem persönlichen Vorsitz eine hochkarätige Kommission einberufen, der u.a. der Warschauer Stadtpräsident, der Vorsitzende der Theaterverwaltung sowie Architekten und Ingenieure angehörten. Ihr Ziel: der Bau eines russischen Theaters mit angeschlossener russischer Bibliothek und Lesesaal (VD Nr. 24/1904, 2). Dieser Plan, der mit einem Schlag die zwei drängendsten Mängel der russischen Kulturpolitik in Polen zu beseitigen versprach, versetzte die russische Öffentlichkeit in Begeisterung – der Varšavskij Dnevnik feierte das geplante Gebäude gar als „Tempel der heimischen Kunst und Literatur“ (chram rodnogo iskusstva, rodnoj literatury; VD Nr. 25/1904, 2). Am 17. Februar nahm die Kommission ihre Arbeit auf und beschloss in den Folgesitzungen am 20. Februar und am 20. April Details für die Ausschreibung des Theaterbaus, den die Petersburger Architektenkammer bewerten sollte. Der Neu-
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bau sollte in hervorragender Lage im Ujazdowski-Park, im Winkel von Piękna-Straße und Ujazdowski-Allee entstehen, das Theater sollte 900 Plätze haben, ein separater Versammlungssaal 300 Plätze. Einschließlich Bibliothek und Lesesaal wurden Kosten von 400.000 Rubel veranschlagt (VD Nr. 36/1904, 3; VD Nr. 39/1904, 3; VD Nr. 99/1904, 2 f.; VD Nr. 106/1904, 3). Doch trotz dieser grandiosen und konkreten Pläne war das Projekt tot, bevor es eigentlich begonnen hatte. Die Bildung der Theater-Kommission hatte der Varšavskij Dnevnik am 6. Februar gemeldet – wenige Tage vor Beginn des russischjapanischen Krieges. Dass die Kommission dennoch ihre großen Pläne ausbreitete, mag man als Zeichen ihrer Entschlossenheit nehmen. In jedem Fall absorbierte der Konflikt aber bald so bedeutende Kräfte, dass die Realisierung des teuren Theaterprojekts ins Stocken geriet. Die Revolution im nächsten Jahr, Čertkovs Absetzung und die neue politische Lage im Königreich Polen führten dann dazu, dass das Vorhaben nicht mehr realisiert wurde. Aus politischer Sicht war die russische Theaterpolitik in Polen damit gescheitert. Wie aber ist die künstlerische Seite zu beurteilen? Während in den anderen polnischen Städten meist nur russische Amateurtheater oder mittelmäßige private Truppen zu sehen waren, muss man angesichts der Gastspiele der Ensembles aus Petersburg und Moskau anerkennen, dass in Warschau zwischen 1886 und 1904 erstklassiges russisches Theater zu sehen war. So gastierten in Warschau u.a. zeitgenössische Berühmtheiten wie Glikerija Fedotova, Aleksandr Južin, Fedor Korš, Marija Ermolova und Marija Savina, viele von ihnen mehrmals (vgl. Prussak 1987; Boczkowska 1984, 197 f.). Im Repertoire waren gerade in den 1880er Jahren viele klassische Stücke wie Griboedovs Gore ot uma, Gogol’s Revizor und diverse Stücke von Ostrovskij (häufig Naši ljudi sočtemsja). Mit der Zunahme der Gastspiele stieg jedoch auch der Wunsch des Publikums, andere und aktuelle Stücke zu sehen. Exemplarisch zeigt sich der Umgang mit aktuellen Stücken am Beispiel Čechovs: Während seine Stücke der 1880er Jahre im Königreich Polen zunächst nicht zu sehen waren, wurde Tri sestry 1901 praktisch direkt nach der Veröffentlichung aufgeführt (VD Nr. 71/1901, 3), ebenso 1904 Višnevyj sad (VD Nr. 72/1904, 5; zum Repertoire s. Boczkowska 1984 und Bieńka 1995). Derweil war durchaus nicht selbstverständlich, dass sich das russische Repertoire auf polnischen Bühnen mit dem der russischen Bühnen deckte. So polemisierte das Novoe Vremja 1896 gegen Stimmen in der Petersburger Presse, die vertraten, dass bestimmte russische Stücke in Warschau nicht aufgeführt werden sollten, da sie Russland von einer unschönen Seite zeigten. Im konkreten Fall argumentierte der Autor einer (ungenannten) Zeitung z.B. gegen Ostrovskijs Stücke, deren tyrannische Charaktere (samodurnye tipy) zu schockierend seien, oder gegen Stücke, in denen Generäle lächerlich dargestellt würden, was „das Kichern der Pölchen“ (chichikan’e Poljačkov) hervorrufen könnte. Wenn man auf diese Art das Prestige des russischen Staates wahren wolle, folgerte das Novoe Vremja polemisch, müsse
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man also auch alle anderen Stücke streichen, in denen russische Würdenträger in unvorteilhafter Weise zu sehen seien. Die Schlussfolgerung sei dann allerdings: „русский театр в Варшаве невозможен, ибо в русском репертуаре нет подходящих для Варшавы пьес“ (NV Nr. 7182/1896, 3).53 Auch wenn die Argumentation, russische Stücke mit unvorteilhaften Szenen aus dem russischen Leben in Warschau zurückzuhalten, grundsätzlich auf der Linie der Warschauer Zensurbehörde lag (s.o.), war eine derartige Regulierung für das Theater letztlich weniger relevant als für polnische Übersetzungen russischer Bücher. Da die russischsprachigen Aufführungen kaum von Polen besucht wurden, blieb das gefürchtete Kichern zwangsläufig aus. Spezielle Wünsche an das Repertoire wurden allerdings auch mit Blick auf die russische Bevölkerung im Königreich Polen gestellt, und zwar in dem Sinne, dass das Repertoire russischer Ensembles möglichst nur aus russischen Stücken bestehen sollte. So forderte der Varšavskij Dnevnik 1887 von den Theateramateuren die Vorführung „rein russischer Stücke, originale Werke aus der Feder russischer Dramatiker“ (čisto-russkija p’esy, original’nyja proizvedenija pera russkich dramaturgov; VD Nr. 210/1887, 2). Im selben Jahr erging ein entsprechender Appell an die Jakovlev-Truppe, die eine Aufführung vor Schülern anbot: „(...) нашей молодежи нужно познакомиться с лучшими и наиболее национальными русскими драматическими произведениями“ (VD Nr. 247/1887, 1).54 Tatsächlich spielten russische Theatergruppen eher selten Werke nicht-russischer Autoren. Durch die Mischung klassischer und aktueller, bekannter und unbekannter Stücke war es dadurch spätestens um die Jahrhundertwende möglich, sich auch in Warschau einen guten Überblick über das russische Theater zu verschaffen. Abgesehen vom Prestige-Effekt war ein festes russisches Theater insofern ohnehin überflüssig.
2.6 Russische Schriftsteller in Polen und der „Varšavskij Dnevnik“ Während russische Texte in der dargestellten Weise nur langsam ihren Weg zum polnischen Leser fanden, betraten viele russische Schriftsteller in diesen Jahren persönlich polnischen Boden. Dies ergab sich schon daraus, dass der Weg nach Westeuropa durch polnische Gebiete führte, insbesondere die Zugverbindung über Berlin nach Paris, aber auch die nach Wien. P.D. Boborykin beispielsweise berichtet in seinen Erinnerungen von wiederholten Reiseaufenthalten in Warschau und
53 „russisches Theater in Warschau ist nicht möglich, da es im russischen Repertoire keine für Warschau passenden Stücke gibt.“ 54 „(...) unsere Jugend muss mit den besten und nationalsten russischen dramatischen Werken bekannt gemacht werden.“
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Krakau, die er u.a. zum Besuch polnischer Theateraufführungen nutzte (Boborykin 1965b, 122 ff.; 165). Seltener führte russische Schriftsteller eine Reise gezielt an polnische Orte, wie z.B. Nikolaj Leskov, der 1862 seine Reise nach Paris bewusst für touristische Erkundungen in polnischen Städten nutzte (McLean 1977, 86 ff.). Ein anderes Beispiel ist Konstantin Paustovskij, der als Kind eine Reise mit seiner polnischen Großmutter über Wilna und Warschau nach Częstochowa unternahm, wo ihn die polnische Religiosität nachhaltig beeindruckte (Paustovskij 1982, 28 ff.). Eine familiäre Bindung nach Polen hatte auch Aleksandr Blok, dessen (russischer) Vater Professor an der Warschauer Universität war. Blok selbst wäre wohl in Warschau geboren, hätte nicht sein Großvater mütterlicherseits kurz vor der Geburt seine Tochter bei einem Besuch in St. Petersburg dort aufgehalten und damit die Trennung von ihrem Mann eingeleitet. Später hatte Blok keinen Kontakt zu seinem Vater und reiste erstmals aus Anlass von dessen Tod im Jahr 1909 nach Warschau (Pyman 1979, 3; 13 ff.; Pyman 1980, 68 ff.). Für derartige Kurzaufenthalte russischer Schriftsteller in Polen ließen sich weitere Beispiele finden. Von prägenden Auswirkungen kann man aber in den meisten Fällen weder für die Autoren noch für das polnische Verhältnis zur russischen Literatur sprechen. Anders sieht dies bei den Autoren aus, die über längere Zeit ihren Wohnsitz im Königreich Polen hatten. Dies betrifft keinen der prominentesten russischen Schriftsteller jener Jahre, aber doch einige andere, die in der russischen Literaturgeschichte kleinere Rollen spielten. Hierzu zählen Petr I. Vejnberg, ein damals bekannter Satiriker, Lyriker und Literaturübersetzer (Levin 1973, 226), Nikolaj V. Berg, Dichter und Übersetzer slavischer Literatur ins Russische (Štakel’berg 1989; Anučin 1893, 65 f.; 83), sowie Vsevolod V. Krestovskij, der mit seinem 1864-67 veröffentlichten Roman Peterburgskie truščoby in Russland einen großen Erfolg gefeiert hatte und zeitweise Dostoevskij nahe stand (Kabat 2001, 147 f.; Viktorovič 1994). Die Erfahrungen vor Ort hatten auf diese Autoren unterschiedliche Wirkungen. Für Vejnberg ist nicht überliefert, dass sich sein Aufenthalt in Polen – u.a. als Professor für russische Literatur an der Warschauer Universität – nennenswert in seinem Werk niedergeschlagen hat. Allerdings erwarb er sich unter den Warschauer Polen offenbar einen guten Ruf und verkehrte nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg in den Kreisen der Petersburger Ausgleichler um Włodzimierz Spasowicz (Boborykin 1965b, 123 f.; Kulczycka-Saloni 1975, 192). Deutlicher, wenngleich sehr unterschiedlich wirkte die Zeit in Polen bei Berg und Krestovskij. Berg war 1863 als Aufstands-Korrespondent der Peterburgskie Vedomosti und der Biblioteka dlja Čtenija nach Polen gekommen, wobei ihm damals der Ruf vorauseilte, der in Polenfragen kompetenteste russische Autor seiner Zeit zu sein (Boborykin 1965a, 348). Bald nahm er in Warschau seinen festen Wohnsitz und war dort u.a. an der Universität als Dozent am Lehrstuhl für russische Litera-
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tur tätig. Berg stürzte sich mit Begeisterung in das örtliche Leben, bewunderte das polnische Theater und die polnische Literatur, heiratete eine Polin und blieb bis zu seinem Lebensende 1884 in der Stadt – in Russland und Polen wurde daher später die Meinung geäußert, dass er „polonisiert“ worden sei (Boborykin 1965b, 123 f.; Štakel’berg 1968, 44; PW Nr. 12/1900, 731). Was sein künstlerisches Schaffen angeht, so hatte sich Berg besonders in seinen jüngeren Jahren zwar durchaus an eigenen Werken versucht, war aber schließlich vor allem als Übersetzer bekannt geworden. Schon früher waren darunter auch Texte polnischer Autoren gewesen, ein Interesse, das der Aufenthalt in Polen noch verstärkte. So stammt von Berg u.a. eine vollständige russische Übersetzung von Mickiewiczs Pan Tadeusz, veröffentlicht 1875 in Warschau (Kulczycka-Saloni 1988, 192 ff.). Erwähnenswert sind letztlich auch Bergs Kontakte zu polnischen Autoren, insbesondere zu J. I. Kraszewski, mit dem er von 1872-1882 korrespondierte und den er über Neuigkeiten aus dem russischen Literaturleben auf dem Laufenden hielt. Mehrmals schickte er Kraszewski sogar Primärtexte zu, so u.a. Anna Karenina, versehen mit einer Widmung (Żyga 1965, 66 f.). Auf Krestovskij dagegen hatte der Aufenthalt im Königreich Polen eine völlig entgegengesetzte Wirkung. Auch er war erstmals im Zusammenhang mit dem Januaraufstand nach Polen gekommen und 1865/66 Mitglied einer Regierungskommission, die Warschaus Keller, Katakomben und unterirdische Gänge auf geheime Verstecke erforschte. Als Schriftkundiger sollte er die Ergebnisse dieser Arbeit dokumentieren. Für Krestovskij waren der Aufstand und sein Aufenthalt in Warschau Schlüsselerlebnisse, die seine Wandlung vom halbherzigen Liberalen zum überzeugten russischen Nationalisten zur Folge hatten. Schon 1863 hatte er erste antipolnische Verse verfasst, später dann mehrere Erzählungen und Erlebnisberichte zu seiner Zeit in Warschau sowie als Krönung den antipolnischen Pamphlet-Doppelroman Krovavyj puf. In ihm zeichnet Krestovskij ein finsteres Bild der Polen als Drahtzieher der nihilistischen Bewegung in Russland und als unmoralische, blutrünstige und feige Kämpfer im Januaraufstand. Womöglich war es der dem Werk implizite Enthüllungs- und Missionscharakter, der Krestovskij 1892 erneut nach Warschau führte – diesmal als Redakteur der regierungsnahen Zeitung Varšavskij Dnevnik, die er bis zu seinem Tod 1895 leitete (Sidorov 1895, 890 f.). Seine Haltung zu Polen änderte sich in dieser Zeit kaum, auch wenn sein Interesse in seinen späten Jahren immer stärker auch der Idee einer jüdischen Bedrohung galt. Es ist kein Zufall, dass die Lebensläufe aller in Polen ansässigen russischen Autoren dieser Jahre auch mit dem Varšavskij Dnevnik verbunden sind, denn dort wurden dringend gewandte Schreiber gesucht. Das Blatt leiteten außer Krestovskij zeitweise auch Vejnberg und Berg. Mit dem Varšavskij Dnevnik sind außerdem weitere Personen verbunden, die aus literaturwissenschaftlicher Sicht von Interesse sind – so arbeiteten hier z.B. kurzzeitig Vera I. Pisareva, die Schwester des Schriftstellers Pisarev (Sonevickij 1913, 153), sowie der Philosoph Konstantin N. Leont’ev (Ivask
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1974, 241 ff.). Der erste Redakteur des Blatts war Nikolaj Pavliščev, der zwei Jahre nach Puškin das Lyzeum von Carskoe Selo abgeschlossen hatte, danach in den Kreisen der Petersburger Romantiker (insbesondere mit Del’vig) verkehrt und schließlich Puškins Schwester Ol’ga geheiratet hatte. Später leitete das Blatt Puškins Neffe Lev (Ljubarskij 1893, 152; VD Nr. 141/1899, 3 f.). Die erste Ausgabe des Varšavskij Dnevnik war unter Pavliščevs Leitung und auf Initiative der Behörden im Oktober 1864 erschienen.55 Die Zeitung galt als „halboffiziell“, was in zweierlei Sinn treffend ist: Zum einen bestand sie aus einem offiziellen Teil (mit amtlichen Bekanntmachungen) und einem nicht-offiziellen Teil (mit lokalen Nachrichten, Politik u.a.), zum anderen wurde der verantwortliche Redakteur des Varšavskij Dnevnik zwar vom Generalgouverneur ernannt, unterlag aber zumindest formal nicht dessen Anweisungen. Immer wieder wehrte sich die Redaktion deshalb gegen den Vorwurf, keine eigene Meinung zu vertreten (VD Nr. 71/1866, 283; VD Nr. 236/1883, 1; vgl. SPbV Nr. 18/1890,1). Doch selbst wenn es gelegentlich zu Differenzen zwischen der Redaktion und offiziellen Stellen kam, versteht es sich, dass der Varšavskij Dnevnik dennoch ein behördentreues Organ war. Ihm blieb wohl auch keine andere Wahl, da den Großteil seiner Einnahmen der Abdruck der offiziellen Bekanntmachungen brachte und er zudem vom Generalgouverneur eine jährliche Subvention und kostenlose Räumlichkeiten erhielt (Gurko 1897, 237; Sonevickij 1913, 149 f.).56 Blickt man auf die literarische Kompetenz der Redakteure des Varšavskij Dnevnik, hätte das Blatt allemal auch ein Forum für die russische Literatur in Warschau sein können. Die Realität sah jedoch anders aus. Pavliščevs Amtszeit hatte die Marschrichtung vorgegeben: Kultur kam von Beginn an nur in Randnotizen vor und beschränkte sich meist auf den Nachdruck von Meldungen anderer Zeitungen. Eigene literaturbezogene Artikel oder der Abdruck ganzer Erzählungen waren selten.57 Daran änderte sich auch nichts durch die Amtsführung der späteren Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Im Gegenteil: Bergs Redakteurszeit empfanden die Zeitgenossen als besonders traurig, da er sich in ihrem Empfinden allein auf den Abdruck von Bekanntmachungen beschränkte und das sonstige russische und polnische Leben ignorierte (Anučin 1893, 66; Sonevickij 1913, 148; Tur 1912, 413). 55 Zunächst erschien neben der russischen auch noch eine polnische Variante (in der Tradition der Amtszeitung Przegląd Powszechny), deren Bedeutung allerdings bei Dienstantritt der russischen Redaktion „auf Null“ fiel (Anučin 1893, 341) und die nach einigen Jahren eingestellt wurde (zur Konzeption siehe VD Nr. 170/1865, 822; VD Nr. 184/1865, 885; MV Nr. 16/1890, 4 f.; VD Nr. 76/1895, 2). 56 Direkt nach dem Aufstand waren die Mitarbeiter des Varšavskij Dnevnik Staatsbedienstete (SPbV Nr. 18/1890, 1; SPbV Nr. 115/1886, 3). 57 Randnotizen und Nachdruck z.B. VD Nr. 120/1865, 576; Nr. 240/1866, 995; eigene Artikel/Erzählungen VD Nr. 63/1866, 249 ff.; VD Nr. 71/1866, 283.
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Zu Zeiten von Vejnberg scheint es nicht besser gewesen zu sein: Nach Meinung des zeitweisen Dnevnik-Mitarbeiters I. Ljubarskij war das Blatt zur Amtszeit von Vejnberg und Berg sogar „in einem solchen Maße farb- und inhaltslos, dass es reine Makulatur war“ (do takoj stepeni bezcveten i bezsoderžatelen, čto predstavljal prostuju makulaturu; Ljubarskij 1893, 156).58 Ähnlich muss mit Blick auf den literarischen Gehalt auch das Urteil über Krestovskijs Tätigkeit ausfallen. Kulturelle Nachrichten verirrten sich zu seiner Zeit nur höchst selten etwa in die Korrespondenzen aus Städten wie Paris oder St. Petersburg, und ebenfalls nur sehr selten kamen längere Berichte oder Originaltexte zum Abdruck. Stattdessen rückte unter Krestovskij die Militär-Rubrik oft an die erste Stelle und selbst im eigentlich für das Feuilleton reservierten Unterteil der Seiten erschienen bevorzugt Artikel wie „Die Bedeutung des Kreuzers im zukünftigen Meereskrieg“ (VD Nr. 44/1894, 2). Sicher: Immer wieder wurden literarische Beiträge und auch lange Berichte zu literarischen Themen gedruckt, insbesondere aus Anlass von literarischen Jubiläen oder zu Todestagen bekannter Autoren (z.B. eine Reihe von Artikeln nach Turgenevs Tod, VD Nr. 177/1883 ff.). Berichtet wurde außerdem regelmäßig von russischen Theateraufführungen in Warschau. Insgesamt steht der Umfang der kulturellen Berichterstattung aber in keinem passenden Verhältnis zur vorhandenen Kompetenz. Wohl nach dem Willen seiner Geldgeber war der Varšavskij Dnevnik fast bis ins 20. Jahrhundert vor allem Amtsblatt und Sprachrohr der russischen Politik im Königreich Polen sowie – schon in geringerem Maße – lokales Informationsblatt für die dort lebenden Russen (vgl. die Selbstbeschreibung in VD Nr. 1/1864, 1). Literatur- und damit sprachkundige Redakteure wurden folglich vor allem dafür gebraucht, diese Aufgabe in angemessener Form zu erfüllen (vgl. Anučin 1893, 77 f.). Inwieweit die Redakteure selbst mit anderen Ambitionen an ihre Arbeit geschritten waren, lässt sich derweil nicht mehr rekonstruieren. Überliefert ist allerdings teilweise ihre Frustration u.a. aufgrund von Konflikten mit der Zensur (direkt durch Beamte der Kanzlei des Generalgouverneurs). N. Golicyn, Redakteur des Varšavskij Dnevnik von 1880-1883, soll seine eigene Zeitung aus Verärgerung über die Zensur am Ende nicht mehr gelesen haben (Sonevickij 1913, 151; vgl. Ljubarskij 1893, 152; 155). Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass sich ausgerechnet unter dem ausgebildeten Juristen Andrej Timanovskij, dem Nachfolger Krestovskijs ab 1895, dieses Bild langsam wandelte. Auch wenn er zunächst negative Kritiken erntete (MV Nr. 37/1895, 2), schaffte er bis zur Jahrhundertwende eine Aufwertung der Zeitung – auch dank der intensiveren Berichterstattung über Literaturthemen. Dabei war Timanovskij nicht unbedingt zimperlich bei der Auswahl der Inhalte und nicht alles, was er zum Abdruck brachte, konnte hohen Ansprüchen genügen. So veröf58 „in einem solchen Maße farb- und inhaltslos, dass es reine Makulatur war.“
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fentlichte der Varšavskij Dnevnik nun noch häufiger als zuvor die Erzählungen und Verse seiner Leser und machte sich damit zu einer Art Forum russischer Trivialliteratur in Polen. Beispielsweise dichtete ein Friedensrichter zur Eröffnung einer Kirche in Ostrov (bei Łomża): Настал день радостный и славный, Зажглась над Островом заря; В нем храм заложен православный Во славу Божью, в честь Царя. Патрону Руси Николаю Решили храм сей посвятить; Вождю России Николаю Любовь и преданность явить (VD Nr. 122/1899, 3).59
Oder ein anderes Beispiel, aus der Zeit des Russisch-Japanischen Krieges: Не говорите мне! Я верить не хочу, Чтоб русский меч японскому мечу Позволил сокрушить Артурския твердыни! Не говорите мне! Как прежде, так и ныне, Под нашим знаменем, смятением объят Склонится до земли коварный азиат. (…) (VD Nr. 243/1904, 2).60
Über derartige Gelegenheits- und Tendenzlyrik hinaus gelang es dem Varšavskij Dnevnik jedoch fast nie, Primärtexte bedeutender zeitgenössischer Autoren zu bringen. Stattdessen dominierten kurze Arbeiten literarische Lokalmatadore wie S. Ju. Elec oder V. Fomin. Kein Wunder also, dass der polnische Przegląd Wszechpolski Timanovskijs Feuilleton die Anmut eines Bärentanzes bescheinigte, in dem man allenfalls guten Willen erkennen könne (PW Nr. 18/1895, 285). Dennoch ließ sich unter Timanovskij nun doch eine gewisse Konstanz in der Rezeption der russischen Hochliteratur erkennen. Gewährleistet wurde dies durch die Etablierung mehrerer fester Rubriken: Unter der Überschrift Bibliografija („Bibliographie“) wurden (u.a.) literarische Neuerscheinungen vorgestellt, in der Rubrik Literaturnoe Obozrenie („Literarische Umschau“) Aktualitäten aus den russischen Zeitschriften besprochen 59 „Der frohe und gute Tag brach an/ Über Ostrov erglühte das Morgenrot/ In ihm ist eine orthodoxe Kirche begründet/ Zum Ruhme Gottes, zu Ehr dem Zar./ Dem Patron Russlands, Nikolaj/ Beschloss man diese Kirche zu widmen/ Dem Führer Russlands, Nikolaj/ Liebe und Ergebenheit zu bezeugen.“ 60 „Erzählt mir nichts! Ich will nicht glauben/ Dass das russische Schwert dem japanischen/ erlaubte, die Festung von [Port] Arthur zu zerschmettern!/ Erzählt mir nichts! Wie einst, so auch jetzt/ Unter unserem Banner, von Panik erfasst/ Beugt sich zu Boden der hinterlistige Asiat.“
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und in den Peterburgskie Pis’ma („Petersburger Briefe“) u.a. neue Entwicklungen im hauptstädtischen Kulturleben skizziert. Zählt man die Berichte von Theateraufführungen russischer Truppen in Warschau hinzu, war der Literaturanteil nun doch schon recht vorzeigbar. Was die behandelte Literatur betrifft, so ging sie im gesamten Erscheinungszeitraum von einer breiten Rezeption der russischen Klassiker aus. Puškin und Gogol’, aber auch Žukovskij wurde in diesen Jahren viel Platz eingeräumt (schon aufgrund ihrer Jubiläen, vgl. Puškins 100. Geburtstag 1899; Gogol’s und Žukovskijs 50. Todestag 1902). Aber auch die Klassiker des russischen Realismus mit Tolstoj und Dostoevskij wie auch (schon seltener) Gončarov, Nekrasov, Saltykov und A. K. Tolstoj waren Gegenstand von ausführlichen Studien oder zumindest kleineren Beiträgen. Unter den jüngeren Autoren wurde vom Varšavskij Dnevnik vorwiegend die Entwicklung derjenigen verfolgt, die in ihrer literarischen Arbeit dem russischen Realismus verpflichtet schienen – so besonders Čechov und Gor’kij, aber auch Korolenko und Boborykin. Auffällig ist dagegen die praktisch vollständige Ignoranz gegenüber der russischen Moderne bzw. gelegentlich auch die offene Polemik gegen ihre „dekadente“ Kunst. Aus der Perspektive des Varšavskij Dnevnik stand auf der einen Seite der literarischen Front dieser Jahre das Erbe von tief in der russischen Erde verwurzelten Autoren mit „wahrhaft göttlicher Inspiration“ (istinno božestvennoe vdochnovenie) wie Tolstoj und Dostoevskij gegen eine junge Generation, die weder künstlerisches Bewusstsein noch Heimatbindung habe. Die Poesie der russischen Moderne habe weder Gefühl noch Sinn, finde in einem krisenhaften Moment der Lyrik keine adäquaten neuen Formen und sei zudem nur ein schlechter Abklatsch der französischen Vorbilder, so der Standpunkt des Varšavskij Dnevnik. Der (anonyme) Autor eines Feuilletons im Dezember 1901 formulierte entsprechend: „Декадентам нельзя делать никаких уступок, потому что эти уступки только увеличивают ту растерянность, которая наблюдается ныне в области поэзии“ (VD Nr. 319/1901, 2).61 Trotz dieser Selbstbeschränkung: Durch die eigene Positionierung wurde der Varšavskij Dnevnik für kulturinteressierte Leser um die Jahrhundertwende interessanter. Dass das Blatt die Rezeption russischer Literatur in Polen im betrachteten Zeitraum nennenswert beeinflusst hätte, lässt sich trotzdem sicher verneinen. Dies verhinderte eine simple Tatsache: Es konnte sich keinen nennenswerten Leserkreis aufbauen. Selbst den Russen hatte der Varšavskij Dnevnik alles in allem zu wenig Tiefgang, so dass auch sie auf die russischen Hauptstadtzeitungen oder sogar polnische Blätter auswichen (SPbV Nr. 50/1884, 2; NV Nr. 4631/1889, 4; MV Nr. 37/1895, 2; Gurko 1897, 237). 61 „Den Dekadenzlern darf man keinerlei Zugeständnisse machen, denn diese Zugeständnisse vergrößern nur die Verwirrtheit, die man gegenwärtig in der Poesie beobachtet.“
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Die russsische Literaturpolitik
Welches Bild bietet sich nach den angestellten Betrachtungen insgesamt von der russischen Literaturpolitik im Königreich Polen? Zu Beginn dieses Kapitels ist festgestellt worden, dass die russische Literatur durchaus ein Baustein der russischen Polenpolitik hätte sein können. Die Ansätze hierfür lassen sich aus den vorstehenden Kapiteln ableiten: Eine aktive Literaturpolitik hätte den Kindern in der Schule russische Sprache und Literatur systematisch beibringen und dann im Alltag zugänglich machen können, z.B. durch den Aufbau russischer Theater, die Aufführung russischer Theaterstücke in polnischen Theatern und die Subventionierung von russischen Buchläden und Bibliotheken. Ergänzend hätte es u.a. die Möglichkeit gegeben, im Varšavskij Dnevnik die aktuelle russische Literatur zu präsentieren und die Übersetzung russischer Bücher ins Polnische zu fördern. Die vorstehenden Kapitel zeigen jedoch: Kaum etwas davon ist umgesetzt worden. Einzig in der Schulpolitik lässt sich erkennen, dass die Literatur konsequent vermittelt wurde. Die Behörden bauten aber kein ständiges russisches Theater auf, veranlassten keine Aufführungen russischer Stücke auf den polnischen Bühnen, unterstützten Buchläden und Bibliotheken nur halbherzig, behinderten durch die Zensur die Herausgabe polnischer Übersetzungen und unterstützten zwar den Varšavskij Dnevnik, nicht aber seine Entfaltung zu einem kulturell anspruchsvollen Organ. Angesichts dessen muss man zu dem Schluss kommen, dass es keinen umfassenden Ansatz zur Verbreitung der russischen Literatur unter den Polen gab. Warum war dies so, obwohl ein Bewusstsein für den grundsätzlichen Wert der Verbreitung offenbar vorhanden war und bei entsprechendem politischem Willen nachweislich auch finanzielle Mittel hätten freigesetzt werden können (vgl. Subventionen für das Theater, Finanzierung des Varšavskij Dnevnik)? Entscheidend erscheinen zwei Aspekte: die andere Prioritätensetzung und der Realitätssinn der Behörden. Die Vernachlässigung der Kulturpolitik ist ein Indiz dafür, dass die kulturelle Russifizierung der Polen tatsächlich nicht das Ziel der russischen Politik war. Kulturelle Russlandkompetenz war als flankierende Maßnahme der administrativen Russifizierung erwünscht, aber sie sollte nicht über das nötige Maß hinaus erzwungen werden – und das schon gar nicht, wenn es den gesellschaftlichen Frieden bedroht hätte. Denn eine offensive Kulturpolitik über das Schulwesen hinaus hätte womöglich nur begrenzten Nutzen erbracht, aber die große Gefahr geborgen, den Protest der Polen hervorzurufen und deshalb zu scheitern. In diesem Sinne stellte der ehemalige Warschauer Vize-Gouverneur Gurko fest: Besser gar kein Theater als ein halbleeres, das den Polen als Beweis für die Schwäche russischer Kultur gedient hätte (Gurko 1897, 244 f.). Der Warschauer Generalgouverneur Imeretinskij formulierte im Jahr darauf aus ähnlicher Perspektive, dass man die polnische Literatur in den Volksbibliotheken nicht einfach durch russische ersetzen könne, da dies nur Widerstand gegen die Russifizierung hervorrufen würde (Krajewska 1979, 22).
Russische Schriftsteller in Polen
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Was die realisierten Maßnahmen angeht, so muss man in Bezug auf das an die Polen gerichtete Vorgehen feststellen, dass die Behörden sich für eine Erreichung der gewünschten Ziele zu ungeschickt anstellten. Die Art der Literaturvermittlung in der Schule wirkte auf die Kinder abschreckend, die Lektüre von Texten wie Gogol’s Taras Bul’ba und Puškins antipolnischen Gedichten war für sie demütigend. Ähnliche Reaktionen riefen in den Volksbibliotheken Texte hervor, die russische Eroberungszüge oder den in Polen unbeliebten Zaren Aleksandr III. priesen. Die meisten derjenigen Texte dagegen, die für die Polen interessant gewesen wären, wurden von den Behörden zurückgehalten. Das Misstrauen gegen die eigene Literatur verhinderte so den Erfolg der russischen Literaturpolitik. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass jenseits der Schule die Behörden literaturpolitisch lange Zeit vor allem dann aktiv wurden, wenn die kulturellen Bedürfnisse der im Königreich Polen lebenden Russen betroffen waren. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die Amateurtheater-Gesellschaft eine durchgehende Unterstützung erhielt. Sie galt aus Behördensicht, wie bereits erwähnt, als Institution, die für die mittleren und niederen Ränge eine Rückbindung an die russische Kultur gewährleisten konnte. Ähnliches versprach man sich von den Gastauftritten der russischen Truppen und der Veranstaltung russischer Kulturangebote im russischen Klub. Diese Ereignisse wurden allerdings nicht aus dem russischen Kreis in ein polnisches Publikum hinausgetragen. Sie hatten nicht den Anspruch, Polen die russische Kultur zu vermitteln, sondern waren motiviert durch das Gefühl der Bedrängnis und des Identitätsverlusts in einem Land, dessen polnische Mehrheitskultur oft als überlegen empfunden wurde (Przygrodzki 2007, 22; für ein zeitgenössisches Beispiel vgl. z.B. MV Nr. 85/1890, 3). Allerdings erscheinen auch diese Maßnahmen keineswegs konsequent. In den ersten Jahrzehnten nach dem Januaraufstand war es so selbst in Warschau nicht leicht, russische Literatur umfassend zu rezipieren. Dass sich die Situation um die Jahrhundertwende wesentlich besser darstellte, lag vor allem an privaten Initiativen, so an den privaten Buchläden, privaten Leihstellen und privaten Theatertruppen, die alle vorrangig davon profitierten, dass mit der Zahl der Russen in Warschau auch die Zahl potentieller Kunden stieg. Die Behörden blieben in diesen Jahren insbesondere in der Bildungs- und Zensurpolitik bei ihren alten Positionen, die zwischenzeitlichen Aktivitäten in der Theater- und Bibliotheksfrage, ausgelöst wohl u.a. als Reaktion auf entsprechende polnische Initiativen, führten dagegen zu keinem überzeugenden Ergebnis. Insgesamt lässt sich so festhalten, dass russische Literatur erst um 1900 in Warschau breit rezipierbar war und es einen systematischen Ansatz russischer Kultur- und Literaturpolitik mit dem Ziel der kulturellen Russifizierung der Polen nicht gegeben hat.
3. Der polnische Boykott und seine Grenzen 3.1 Der instinktive Boykott Um die Haltung der Polen gegenüber Russland und den Russen nach dem Januaraufstand zu beschreiben, ist der Begriff des Boykotts ein wichtiger Ansatz. Die Polen, so die häufige These, hielten sich als Reaktion auf die Fremdherrschaft so weit wie möglich von allem Russischen fern. Sie wollten so die eigene Nationalidentität gegen eine offensive Politik der kulturellen Russifizierung schützen. Letztlich scheint es dabei gleichgültig zu sein, ob es diese Politik wirklich gab oder nicht. Denn selbst wenn sie objektiv nicht nachweisbar sein mag, bedeutet das nicht, dass sie für die Polen nicht doch subjektiv real sein konnte. Der Umbau der Behörden, die Schulpolitik und Maßnahmen wie die Durchsetzung russischer Beschilderung in den Städten oder das Eindringen östlich-byzantinischen Dekors in das Stadtbild ließen bei den Polen die berechtigte Frage aufkommen, wie weit dieses Vordringen in ihren Kulturraum reichen würde. Die mitunter brachialen Kommentare in der nationalistischen russischen Publizistik, in der die kulturelle Russifizierung der Polen durchaus als eine wünschenswerte Option gesehen wurde, befeuerten diese Ängste und lösten eine große Empfindlichkeit sowie sehr pessimistische Deutungen der russischen Politik aus (Golubev 2000, 202 ff.). Dass auf teils radikale Forderungen zur Einverleibung der polnischen Gebiete teils eine radikale Abwendung von Russland folgte, ist gut verständlich. Entsprechend finden sich in vielen Dokumenten aus der betrachteten Periode Aussagen über die Abkehr der polnischen Öffentlichkeit vom russischen Leben, so z.B. in den Erinnerungen der Pädagogin Romana Pachucka: (...) Polacy żyli swoim życiem, odrębnym od życia zaborców; nie łączyły ich towarzyskie kontakty, jedynie oficjalne lub zawodowe. (...) Opancerzono nas, dzieci, nienawiścią do wroga, budowano między nim a młodym pokoleniem mur nie do przebycia, a kto go przekroczył, ustępował z polskich rodzin (Pachucka 1958, 12 f.).62
Im selben Sinne schrieb Antoni Zaleski, ein zeitgenössischer polnischer Publizist: (...) towarzystwo warszawskie (...) ma (...) tę wielką zaletę, że trzyma się odrębnie, że z małymi niezmiernie wyjątkami od napływowego żywiołu stroni, że świat i ludzie rosyjscy mają do
62 „(...) Die Polen lebten ihr eigenes Leben, getrennt vom Leben der Teilungsmächte; es verbanden sie keine gesellschaftlichen Kontakte, nur offizielle oder berufliche. (...) Man panzerte uns, die Kinder, mit Hass auf den Feind, man baute zwischen ihm und der jungen Generation eine nicht zu überwindende Mauer, und wer sie überschritt, verließ die polnischen Familien.“
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niego wstęp niezmiernie utrudniony, a nawet w wielu razach niemożliwy (Zaleski 1971, 273; vgl. 150 ff.).63
Derartige Aussagen bestätigen auch die russischen Quellen. So heißt es z.B. 1885 in einer Warschau-Korrespondenz aus den Sankt Peterburgskie Vedomosti: Что русское население в Варшаве живет особняком и не сближается с поляками, это не новость. Но едва-ли известна хоть сотая доля тех мелочных столкновений, какие произходят чуть-ли не ежедневно между русскими и поляками, благодаря национальной розни (…) (SPbV Nr. 197/1885, 4).64
In dieser Ausgabe wie auch zwei Wochen später (SPbV Nr. 222/1885, 2) berichtete die Zeitung von Feindseligkeiten der Polen gegen die Russen und sogar von tätlichen Angriffen. Ein Russe fühle sich im Königreich Polen schlimmer als ein Tatare, heißt es an anderer Stelle, beispielsweise dann, wenn sich auf einem Ball alle Polinnen von den jungen Russen abwendeten (SPbV Nr. 74/1884, 2). Im Jahr 1890 führten die Sankt Peterburgskie Vedomosti sogar eine Reihe von Selbstmorden russischer Bewohner Warschaus auf die örtlichen Bedingungen zurück und deuteten darüber hinaus, dass aufgrund der feindseligen Atmosphäre einen Russen auch der natürliche Tod im Königreich Polen früher ereile als in der Heimat (SPbV Nr. 95/1890, 1). Aus den russischen Quellen spricht dabei oft ein Bewusstsein dafür, diese Verhältnisse sowohl durch die eigene Politik als auch durch das eigene Verhalten selbst mit verschuldet zu haben. So schrieb 1868 der Chef der Warschauer Gendarmerie in einem geheimen Jahresbericht über die Lage des Königreichs Polen: (…) не все русские деятели, призванные в здешний край, принялись за отправление своих обязанностей с надлежащим тактом (…) и большая часть их отнеслись и относятся до сего времени к польской территории, как к военной добыче, а к полякам, как к своим военнопленным, и, не заботясь о последствиях, переносят требовательность свою из официальной сферы даже в частную (Wiech/Caban 1999, 107).65
63 „(...) die Warschauer Gesellschaft (...) hat (...) den großen Vorteil, dass sie sich abseits hält, dass sie sich abgesehen von einigen überaus kleinen Ausnahmen vom zugeströmten Element fern hält, dass russische Welt und Leute zu ihr einen überaus erschwerten Zugang haben, in vielen Fällen sogar überhaupt keinen.“ 64 „Dass die russische Bevölkerung in Warschau separat lebt und sich nicht an die Polen annähert, ist keine Neuigkeit. Kaum bekannt ist aber auch nur ein Hundertstel der kleinen Konflikte, die fast jeden Tag zwischen Russen und Polen aus nationaler Zwietracht stattfinden.“ 65 „(...) nicht alle russischen Aktivisten, die in das hiesige Land berufen wurden, haben sich an die Erfüllung ihrer Aufgaben mit dem nötigen Takt gemacht (...) und der größere Teil von ihnen verhielt sich und verhält sich bis jetzt zum polnischen Gebiet wie zu einer Kriegseroberung und zu den Polen wie zu den eigenen Kriegsgefangenen und überträgt seine Ansprüche ohne Rücksicht auf die Folgen aus der offiziellen Sphäre selbst in die private.“
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Im selben Sinne schrieb auch der russische Historiker Nikolaj Kareev, 1879-1885 Professor der Warschauer Universität, in seinen Erinnerungen an seine Zeit im Königreich Polen: „(...) Rosjanie w Warszawie nie zajmują się niczym innym jak tylko uciskaniem na wszelkie sposoby Polaków a swoim brakiem kultury hańbią imię Rosjanina (...)“ (Aksienowa 1978, 277).66 Es ist nicht so, dass Polen und Russen tatsächlich ihre Sphären völlig voneinander trennen konnten. Der Alltag brachte viele Begegnungen mit sich, und dies nicht nur in den Behörden und bei offiziellen Anlässen. So waren z.B. die russischen Gouverneure und andere Würdenträger im gesellschaftlichen Leben wichtige Bezugspunkte für die lokale polnische Oberschicht. Viele Polen verkehrten in ihren Häusern, nahmen an Empfängen, Bällen und Feiern teil oder luden sie zu solchen Ereignissen ins eigene Haus ein (Chimiak 1999, 279 f.; Żeromski 1980, 90 f.). In Warschau gab es mit dem Klub Myśliwski sogar eine Einrichtung, die als „neutraler“ Treffpunkt der hohen russischen Beamten und der polnischen Oberschicht fungierte (Zaleski 1971, 205 f.). Eine beträchtliche Zahl von Polen diente zudem in russifizierten Einrichtungen (Chwalba 1999). Es handelte sich hierbei aber meist um pragmatisch-opportunistische Entscheidungen, eine echte Integration erwies sich als schwierig (Wiech/Caban 1999, 216; Zaleski 1971, 83; Gurko 1897, 333). Der erwähnte Professor Kareev ist einer der Russen, der den Polen gerne ein anderes Russlandbild vermittelt hätte und gezielt die Annäherung an die polnische Gesellschaft suchte – ein Unterfangen, das er als äußerst schwierig in Erinnerung behielt (Aksienowa 1978, 263; 270). Zwar lässt sich eine ganze Reihe von Russen nennen, deren Namen in der polnischen Erinnerung einen positiven Klang haben – neben Kareev betrifft dies z.B. den Buchhändler Istomin, den Schriftsteller Berg, den Vorsitzenden der Theaterkommission Muchanov, den Warschauer Stadtpräsidenten Starynkevič und den Gouverneur Toločanov.67 Dies ändert aber nichts daran, dass die Polen auch auf die Bekanntschaft mit diesen Leuten eigentlich gerne verzichtet hätten. „Gute Russen“ könne es nur unter dem Vorbehalt geben, dass jeder Russe im Königreich Polen Vertreter der Fremd66 „(...) Die Russen in Warschau beschäftigen sich mit nichts Anderem als mit allen erdenklichen Schikanen gegen die Polen und schänden mit ihrem Mangel an Kultur den Namen des Russen (...).“ 67 Zu Istomin siehe Kap. 2, S. 37, zu Berg siehe Kap. 2, S. 62, zu Muchanov s.u.; Starynkevič fand Anerkennung als vorbildlicher Beamter, der viele pragmatische Verwaltungsentscheidungen zum Wohle Warschaus traf (siehe z.B. Zaleski 1971, 153 ff.). Arkadij Toločanov diente von 1864–1897 u.a. als Gouverneur von Łomża und Radom. Er interessierte sich lebhaft sowohl für die russische als auch die polnische Literatur und baute sich aufgrund einer bibliophilen Veranlagung eine enorme Hausbibliothek mit polnischen und russischen Werken auf, die sein Haus in der Provinz zu einem geistigen Zentrum für Polen und Russen gleichermaßen machte (Brykalska 1960, 16 ff.; 38 ff.).
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herrscher und insofern Mitwirkender einer schlechten Sache sei, formulierte es Antoni Zaleski (Zaleski 1971, 152). Entsprechend dünn war das Fundament selbst dann, wenn sich in der normalen Bevölkerung Freundschaften ergaben. Einen Eindruck davon vermitteln die Tagebücher des Schriftstellers Stefan Żeromski, der im Gymnasium von russischen Schulfreunden schrieb: „Polubiłem serdecznie Szczukina. Jest to prosta, rubaszna, ale poczciwa, poetyczna moskiewska dusza. Drugi to Moskal, z którym łączą mię stosunki przyjazne (…)“ (Żeromski 1980, 122).68 Als aber Żeromski seinen erwähnten Freund fragte, ob er ihn im Kriegsfall umbringen würde, antwortete dieser: „Jak psa!“ (Żeromski 1980, 122; vgl. 127).69 Dem Żeromski-Beispiel wohnt ein Muster inne, das sich häufig im Verhalten zwischen Polen und Russen in diesen Jahren findet: Privat konnte es gegenüber der anderen Nationalität durchaus Aufgeschlossenheit geben, je stärker aber eine offizielle Ebene betreten wurde, desto größer wurde die Zurückhaltung. Dies hat auch Bedeutung für das Herangehen an die russische Literatur in diesen Jahren. Im Privaten war sie unter Umständen lesbar – je stärker jedoch ein Bereich möglicher oder tatsächlicher russischer Literaturpolitik berührt war, desto größer wurden Zurückhaltung oder gar offene Feindschaft.70 Das wichtigste Beispiel hierfür ist die Schule, die das vielleicht größte Politikum im russischen Polen war. Der russischen Politik diente sie, wie bereits beschrieben, als Mittel zur Heranführung der Polen an den russischen Kulturraum, insbesondere durch die konsequente Verwendung der russischen Sprache und des gesamtrussischen Lehrplans. Zwangsläufig bedeutete dies, dass es Polnischunterricht in den Mittelschulen nur als fakultatives Angebot gab, wobei die wenigen Stunden ungünstig vor Beginn des regulären Unterrichts lagen, d.h. vor 8 Uhr, oder nach 68 „Ich habe Szczukin herzlich liebgewonnen. Er ist eine einfache, grobe, aber gutmütige, poetische Moskauer Seele. Er ist der zweite Moskowiter, mit dem mich freundschaftliche Beziehungen verbinden.“ 69 „Wie einen Hund!“ 70 Jüngere Forschungen haben das Bild vom Zusammenleben der Nationalitäten im „Weichselland“ in verschiedenerlei Hinsicht revidiert – z.B. in Bezug auf die Zahl russischer Beamter (die erstaunlich gering war, Vladimirov 2004, 19 ff.) oder die Bereitschaft der Polen, in der russischen Verwaltung zu arbeiten (Chwalba 1999). Das Bild der getrennten Gesellschaften ist allerdings bestehen geblieben, wie z.B. ausdrücklich bei Chwalba: Die Polen sicherten zwar gerne aus pragmatisch-opportunistischen Gründen im russischen Dienst ihren Lebensunterhalt, unterhielten aber dennoch keine herzlichen Kontakte zu ihren russischen Kollegen (Chwalba 1999, 67 f.; vgl. Wiech/Caban 1999, 217). Allerdings hat die Darstellung des russisch-polnischen Gegensatzes in der Forschung teils einen zu emphatischen Ausdruck gefunden – so bei Agata Tuszyńska, die in ihrer Rekonstruktion des Warschauer Lebens jener Jahre nicht nur den wahllosen Beschuss polnischer Passanten als alltäglich darstellt, sondern den Russen auch noch unterstellt, sie hätten Antisemitismus, Korruption und Alkoholismus nach Polen gebracht, um die rechtschaffene örtliche Bevölkerung damit zu demoralisieren (vgl. Tuszyńska 1999, 122 ff.).
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dessen Ende am Nachmittag. Der Unterricht fand zudem auf Russisch statt und bestand inhaltlich insbesondere in polnisch-russischen Übersetzungen und dem Vergleich der Grammatik (Staszyński 1968, 51 f.). Die Zurückdrängung des Polnischen ging so weit, dass ab 1871 ein Erlass polnische Gespräche unter den Schülern für unerwünscht erklärte (Kucha 1982, 29; Bem 1892, 30). Diese und andere Demütigungen, insbesondere zur Zeit des Bildungskurators Apuchtin, sind von vielen Zeitgenossen geschildert worden (z.B. Bem 1892, 21 ff.; Hoesick 1959, 170 ff.; Korotyński 1906; Kraushar 1915; zu Apuchtin s. Staszyński 1968, 24 f.). Für die freundliche Aufnahme der russischen Literatur waren das ungünstige Voraussetzungen, und dies umso mehr, wenn sie für die polnischen Schüler weitere kleine Demütigungen bereithielt. So mussten die Schüler z.B. auch Gogol’s Taras Bul’ba und Puškins Klevetnikam Rossii lesen (MNP 1890, 51), beides Texte, die als Ausdruck der Geringschätzung gegenüber Polen verstanden wurden. Dass gerade Klevetnikam Rossii obligatorisch zum Auswendiglernen war, sorgte für zusätzliche Verbitterung und auch Streit, wenn z.B. einzelne Schüler die Rezitation verweigerten und dafür bestraft wurden (Bem 1892, 23; Gurko 1897, 314). Gerade zu Strafzwecken konnte es aber auch sonst vorkommen, dass Schülern – z.B. weil sie sich auf Polnisch unterhalten oder ein polnisches Buch gelesen hatten – das Auswendiglernen russischer Gedichte oder die Lektüre russischer Bücher aufgetragen wurde (Smorodinow 2003, 228; Hoesick 1959, 192). Positiv sanktioniert wurde es dagegen, wenn Schüler in ihren Arbeiten von „unserem“ Puškin schrieben und sich kritisch über die polnische Literatur äußerten (Hoesick 1959, 176). Wenn aber die Literatur als Mittel der Strafe eingesetzt wurde und die Inhalte für einen Polen beleidigend sein konnten, erstaunt es nicht, dass die Schüler für sie keinen Enthusiasmus entwickelten. Kein Wunder, dass über alle politischen und sogar nationalen Grenzen hinweg das Urteil über die russische Schule im Königreich Polen vernichtend war und auch die Folgen für die Rezeption der russischen Literatur als fatal eingeschätzt wurden. Der konservative Publizist Antoni Zaleski schrieb in einem zeitgenössischen Zeitungsbeitrag aus Warschau: Jak nie ma (…) dziecko rosyjskiego języka z duszy nienawidzić i wstrętu do niego uczuwać, jeśli od dziesiątego roku życia nauka jego jest dla niego istotną męczarnią, źródłem ustawicznych kar i zmartwień, jak ma ono literaturę rosyjską polubić, jeśli w niej widzi tylko narzędzie prześladowania, synonim szykany! (Zaleski 1971, 193).71
Der eigentlich auf eine Verständigung mit Russland zielende Journalist Erazm Piltz schrieb: 71 „Wie soll (...) ein Kind die russische Sprache nicht von Herzen hassen und Abneigung gegen sie fühlen, wenn für es vom zehnten Lebensjahr an der Unterricht eine wahre Qual ist, die Quelle ständiger Strafen und Sorgen, wie soll es die russische Literatur lieben, wenn es in ihr nur ein Mittel der Verfolgung sieht, ein Synonym für Schikane!“
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Niech mnie kto pokaże na tyle tysięcy uczących się w Królestwie jedno tylko, jedno (wiele nie żądam) dziecko, które zostało zruszczone za pomocą reformy szkolnej, albo, które choćby wyniosło z tej szkoły i za jej sprawą zamiłowanie do języka i literatury rosyjskiej (…)? Przeciwnie, młodzieniec, który wychodzi dziś z gimnazjum, nie bierze nigdy książki ruskiej do ręki, bo w szkole wszystko zrobiono, ażeby ten język uważał nie za środek umysłowego zbliżenia, ale za narzędzie represji (…) (Piltz 1898, 83 f.).72
Es ist bemerkenswert, dass sogar von Vertretern der russischen Behörden spätestens um die Jahrhundertwende die polnische Kritik geteilt wurde. Der Generalgouverneur Gurko z.B. klagte schon 1890 über das Handeln der Schulen: (...) оно не развивает в ребенке любви к России, а наоборот, заставляет его с юных лет возненавидеть все русское, доставившее ему в лучшую пору его жизни столько напрасных оскорблений и горьких слез (Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še 1899, 22).73
Gurkos Sohn Vladimir schrieb im selben Sinne 1897, dass ganz besonders der Unterricht russischer Literatur zur Entfremdung polnischer Kinder von Russland beitrage (Gurko 1897, 312).74 Eindrucksvoll ablesen lassen sich diese Entfremdung und der Widerstand gegen die offensive Literaturvermittlung an den Schülerprotesten gegen die Gogol’- und Žukovskij-Jubiläen 1902. Die Stimmung in den Schulen war damals aufgrund von Konflikten um die Sprache im Religionsunterricht ohnehin aufgeheizt, als sich im Frühjahr Gogol’s 50. Todestag näherte. Die Schulbehörden wollten das Fest wie gewohnt mit Feierstunden im Kreis von Schülern und Lehrern begehen, trafen aber auf erheblichen Widerstand. Die Schüler versuchten (teils unterstützt von Studenten der Warschauer Universität), polenweit einen umfassenden Boykott zu organisieren (Jaśkiewicz 2001, 207 f.). Tatsächlich konnten sich die Erfolge sehen lassen: In Łomża besuchte praktisch niemand die Feiern, in Płock dagegen kam es zu Ausschreitungen, als ein Teil der Schüler nach dem demonstrativen Verlassen des Festsaals in einen Raum in der Schule eingeschlossen wurde. In Warschau erschienen viele Schüler gar nicht erst zu den Veranstaltungen, andere zerfetzten nach ihrem 72 „Möge mir jemand unter den vielen tausend Schülern im Königreich nur ein, ein Kind zeigen (viel fordere ich nicht), das mit Hilfe der Schulreform russifiziert wurde, oder das aus der Schule oder mit ihrer Hilfe auch nur Zuneigung zur russischen Sprache und Literatur davongetragen hat (...)? Im Gegenteil, ein Jugendlicher, der heute das Gymnasium verlässt, nimmt niemals ein russisches Buch in die Hand, denn in der Schule wurde alles getan, damit er diese Sprache nicht als Mittel geistiger Annäherung, sondern als Mittel der Repression versteht (...).“ 73 „(...) es entwickelt im Kind keine Liebe zu Russland, sondern lässt es im Gegenteil von jungen Jahren an alles Russische hassen, das ihm in der besten Zeit seines Lebens so viele unnötige Beleidigungen und bittere Tränen bereitet.“ 74 In offiziellen Verlautbarungen zogen die Behörden dennoch eine positive Bilanz ihrer Bildungspolitik, siehe z.B. Esipov 1907, 126 ff.
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Ende demonstrativ die zuvor erhaltenen Gogol’-Broschüren auf den Straßen. Dort und in Płock reagierten die Schulleitungen mit einer Reihe von Schulverweisen (PW Nr. 4/1902, 307; Smorodinow 2003, 246; vgl. Choynowski 1958, 147 ff.). Die Ereignisse um die Gogol’-Feiern wurden öffentlich nicht diskutiert, aber den Schulvertretern war nicht verborgen geblieben, dass die Schüler die LiteraturFeiern zunehmend als Forum für Unmutsbekundungen nutzten. Als nun nur zwei Monate später der 50. Todestag des Dichters Žukovskij herannahte (vgl. VD Nr. 100/1902, 2 f.), nahm die Organisation schulischer Feierstunden teilweise absurde Züge an. So beschrieb der russische Gymnasiallehrer Vasilij G. Smorodinov in seinen Erinnerungen, unter welchen Umständen die Žukovskij-Feier in einem Radomer Gymnasium stattfand (Smorodinow 2003, 250 ff.). Die Lehrer hatten im Vorfeld erfahren, dass eine Gruppe Schüler die Feier zum Anlass für Proteste gegen eine disziplinarische Maßnahme nehmen wollte. Eine im Kollegium unter dem Eindruck der Gogol’-Exzesse erwogene Absage der Veranstaltung wies der Direktor als „schändlich“ zurück und kündigte stattdessen an, die Feier abzuhalten und Störenfriede gnadenlos zu bestrafen. Um jedoch einen Eklat zu verhindern, wurde eine Reihe von Maßnahmen zur Befriedung der Unruhestifter eingeleitet. Zunächst wurden auffällige Schüler persönlich verwarnt, dann ihre Eltern zu einem Gespräch in die Schule geladen oder nötigenfalls zu Hause besucht. Außerdem wurden alle Ausgaben mit Gedichten Žukovskijs, die an die Schüler verteilt werden sollten, mit dem Stempel der Schule, Vor- und Nachnamen des Schülers und einer Nummer versehen, um sie im Falle ihrer öffentlichen Zerstörung auf der Straße dem Täter zuordnen zu können. Am Tag der Veranstaltung wurden die Schüler in einem Schachbrett-System in die Aula gesetzt, um die Dynamik einer großen sitzenden Menge zu bremsen. Gleichzeitig wurden die Klassen durchmischt, z.B. die siebte mit der zweiten, die fünfte mit der achten etc. Zu jeder Klasse wurde der jeweilige Erzieher gesetzt. Vorne vor Sängern und Orchester postierte sich der Direktor, hinten der Schulinspektor, so dass die Schüler von allen Seiten den Blicken des Schulpersonals ausgesetzt waren. Nach der Feier sollte dann jeder Lehrer seine Klasse in ihren Raum führen, dort die Broschüren verteilen und schließlich die Schüler bis auf die Straße hinausbegleiten und darauf achten, dass alle friedlich den Weg zu ihrem Wohnort einschlugen. Diese groteske Zwangsvermittlung russischer Literatur löste bei den Schülern verständliche Abwehrreflexe aus. Ferdynand Hoesick, später ein bekannter polnischer Buchhändler, schrieb in seinen Aufzeichnungen: (…) nabrałem po prostu fizycznego wstrętu do języka rosyjskiego (którym mimo to władałem biegle) tak dalece, że w wyższych klasach nie mogłem się zmusić do czytania utworów literatury rosyjskiej, które nam czytać kazano poza szkołą. Choć z czytelni gimnazjalnej zaopatrzonej jedynie w książki rosyjskie, a z której nam książki dawano do domu, brałem po kilka tomów miesięcznie, albowiem pilnowano tego bacznie, to jednak nie czytałem tych książek
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wcale, oddawałem je bibliotekarzowi nie czytane (…). Ten w warszawskich szkołach nabyty ostatecznie wstręt do języka rosyjskiego i do wszystkiego w ogóle, co tchnęło Rosją i Wschodem, pozostał mi na całe życie tak dalece, że od chwili wyjścia ze szkoły Apuchtina (…) nigdy nie przeczytałem jednej rosyjskiej książki (…) (Hoesick 1959, 175 f.).75
Im weiteren Verlauf seiner Erinnerungen stellte Hoesick allerdings klar, dass er durchaus später noch russische Autoren las – in Übersetzungen. An anderer Stelle schrieb er anerkennend, dass der Literaturunterricht ihm viele Werke der russischen Literatur vermittelt habe und dass ihm die Märchen Krylovs sowie Žukovskijs und Lermontovs Übersetzungen westlicher Dichter besonders gut gefallen hätten (Hoesick 1959, 176; 180 f.). Diese Passagen richten den Blick darauf, dass der Literaturunterricht womöglich doch einen nachhaltigeren Effekt hatte, als es die Beiträge zu den politischen Debatten erkennen lassen. Der polnische Schriftsteller Stefan Żeromski hat in seinem Roman Syzyfowe prace ausgehend von seinen eigenen Erlebnissen in der Schule die Entwicklung des fiktiven Gymnasiasten Marcin Borowicz beschrieben, der unter der leitenden Hand der russischen Pädagogen ein aufrichtiges Interesse an der russischen Literatur entwickelt und sie im Kreise seiner Mitschüler sogar auch außerhalb der Schule studiert. Żeromski beschreibt, wie die Literatur so ein Teil des Lebens der Schüler wird: „Najpierwsze samoistne uczucia tych młodzieńców, namiętne miłostki, marzenia i sny znajdowały swój wyraz, dźwięk i barwę w utworach pisarzów rosyjskich“, heißt es in dem Buch (Żeromski 1973, 193).76 Nach einer Phase der Schwärmerei für das Russische wandelt sich Borowicz zwar in einen überzeugten polnischen Patrioten und geht auf deutliche Distanz zur russischen Schule. Vergleicht man jedoch die Schilderungen des Romans mit Żeromskis persönlichen Aufzeichnungen, zeigt sich, dass Patriotismus und Lektüre russischer Literatur für einen Schüler kein Widerspruch sein mussten. In bemerkenswerter Weise vermochte es Żeromski offenbar schon als Schüler, sich seinen ästhetischen Genuss selbst dann nicht trüben zu lassen, wenn er sich als Patriot z.B. 75 „(...) ich entwickelte einfach eine physische Abneigung gegen die russische Sprache (die ich dennoch fließend beherrschte), so weitgehend, dass ich mich in den höheren Klassen nicht zur Lektüre der Werke russischer Literatur zwingen konnte, die man uns außerhalb der Schule lesen ließ. Obwohl ich aus der Gymnasialbibliothek, in der es ausschließlich russische Bücher gab und aus der man uns Bücher mit nach Hause gab, monatlich einige Bücher auslieh, und obwohl man sorgsam darauf achtete, las ich diese Bücher überhaupt nicht, sondern gab sie dem Bibliothekar ungelesen zurück (...). Diese in den Warschauer Schulen endgültig erworbene Abneigung gegen die russische Sprache und überhaupt alles, woraus etwas Russisches und Östliches atmete, blieb mir für das ganze Leben so sehr, dass ich ab dem Moment, wo ich die Schule Apuchtins verließ, (...) nie mehr ein einziges russisches Buch durchlas (...).“ 76 „Die ersten eigenständigen Gefühle dieser Jugendlichen, leidenschaftliche Liebeleien, Wünsche und Träume fanden ihren Ausdruck, Klang und Farbe in den Werken der russischen Schriftsteller.“
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von Texten Karamzins abgestoßen fühlte (Żeromski 1953, 343; weiter zu Żeromski s.u. Kap. 5). Ähnliche Muster finden sich auch in den Aufzeichnungen anderer Schüler der russischen Gymnasien. Der Schriftsteller Wacław Sieroszewski berichtete, dass er mit einer Gruppe Mitschüler einen Eid ablegte, nicht Russisch zu sprechen, dass aber die Literatur diesen Eid überwunden habe: Nawet sprzysiężeni nie mogli oprzeć się czarowi wielkiej poezji rosyjskiej i deklamowali z przejęciem: „Kawkaz pada mnoju (...)“ albo: „Wychażu adin ja na dorogu (...)“. Dzięki dźwięczności wiersza popularne nawet było nacjonalistyczne Borodino (Lermontow) (...) (Sieroszewski 1959, 47).77
Ähnliches schrieb auch der Literaturwissenschafter Marian Zdziechowski von seiner Jugend in Minsk: Zaczynałem gimnazjum z wyniesioną z domu niechęcią, niemal wstrętem do języka i literatury rosyjskiej; kończąc, byłem w literaturze tej rozmiłowany. Żaden z poetów-liryków nie oczarował mię nigdy do takiego stopnia, jak Lermontow (...). Powieści zaś Turgienjewa, Lwa Tołstoja, odtwarzające staroszlachecką, do naszej zewnętrznie tak podobną przeszłość, budziły sympatję do społeczeństwa rosyjskiego, spajały węzłami wspólności z niem w obyczajach i w uczuciach (Zdziechowski 1939, 25).78
Der Grundgedanke der russischen Literaturpolitik in der Schule war also offensichtlich gar nicht so abwegig: Tatsächlich weckte die russische Literatur in nicht wenigen Schülern Begeisterung. Die ungeschickte Präsentation im Unterricht und die Demonstration der Geringschätzung polnischer Sprache und Literatur verhinderten aber zumindest, dass diese Zuneigung sich im Sinne der Behörden auch auf den russischen Staat insgesamt übertrug. Die russische Literatur wurde für viele Polen zu einer Privatsache, in der Öffentlichkeit dagegen blieben sie auf Distanz. Ähnlich wie in der Schule lässt sich dies auch für das Theater beobachten. Hier nährte die behördliche Unterstützung für Gastauftritte russischer Truppen die Befürchtung, dass die polnischen Bühnen verdrängt werden könnten. Verhältnismäßig entspannt war man in dieser Hinsicht in den Provinzstädten, wo schon in den 1870er Jahren russische Stücke auch von polnischen Theatertruppen auf die Bühne 77 „Selbst die Eingeschworenen konnten sich dem Zauber der großen russischen Poesie nicht widersetzen und deklamierten ergriffen: ‚Kavkaz podo mnoju‘ (...) oder: ‚Vychožu odin ja na dorogu‘ (...). Dank des Wohlklangs der Verse war sogar das nationalistische Borodino (Lermontov) populär (...).“ Die von Sieroszewski zitierten Zeilen stammen aus Gedichten von Puškin (Kavkaz) und Lermontov. 78 „Ich begann das Gymnasium mit zu Hause erworbener Abneigung, geradezu Abscheu vor der russischen Sprache und Literatur; beim Abschluss war ich in diese Literatur verliebt. Kein Lyriker hat mich jemals so bezaubert wie Lermontov (...). Die Romane von Turgenev und Lev Tolstoj aber, die eine altadlige Vergangenheit abbildeten, die unserer äußerlich so ähnlich war, weckten Sympathie für die russische Gesellschaft, knüpften Knoten der Gemeinsamkeit mit ihr in Bräuchen und Gefühlen.“
Der instinktive Boykott
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gebracht wurden, was das kulturell weniger gebildete Publikum oft wohl gar nicht bemerkte (Kaszyński 1962, 126; 132; 149). Andere Regeln galten aber für die symbolträchtigen Warschauer Theater. Um deren polnischen Charakter zu bewahren, setzten Akteure und Zuschauer auf einen doppelten Boykott. Zum einen spielte bis 1905 keines der großen polnischen Ensembles in Warschau russische Stücke, weder im Original noch in polnischer Übersetzung (Bieńka 2003, 237; Filler 1960, 166 f.). Zum anderen besuchte fast kein Pole die Aufführungen der russischen Truppen, die seit 1886 immer wieder nach Warschau eingeladen wurden. Die Rufe der russischen Presse nach einem ständigen russischen Theater in Warschau machten die Bevölkerung nervös, und entsprechend sollte eine positive Resonanz der Polen auf die Aufführungen nicht als positives Signal für die Realisierbarkeit dienen. Das Jahr 1886 mit dem ersten Besuch einer russischen Truppe setzte den Maßstab für die Folgejahre: Das polnische Publikum blieb praktisch komplett zu Hause und auch die polnische Presse bemühte sich, das Ereignis zu ignorieren (Zwinogrodzka 1984, 530 ff.; s.o. Kap. 2.4; 2.5). Dies änderte sich auch später kaum, wobei die Polen ihre Präferenzen zuweilen auch auf noch deutlichere Art demonstrierten. So endete 1890 eine für die Warschauer Schüler bestimmte Aufführung einer russischen Theatertruppe laut Moskovskie Vedomosti damit, dass die Schüler massenweise ins benachbarte polnische Theater liefen und den Schauspielern dort Ovationen bereiteten (MV 174/1890, 4; vgl. SPbV Nr. 69/1890, 2).79 Auch im Falle des Theaters schloss die Zurückweisung der russischen Politik aber nicht die private Anerkennung für die russische Kunst aus. Dies war zuweilen für die Russen selbst überraschend, was anschaulich aus den Erinnerungen von Pavel Orlenev spricht, einem damals bekannten russischen Schauspieler, der 1899 als Teil eines russischen Ensembles im Warschauer Theater auftrat. Orlenev schrieb: 79 Letztlich erwiesen sich die polnischen Sorgen als unbegründet, das polnische Theater konnte sich verhältnismäßig frei entwickeln. Ab dem 1. Mai 1868 lag die Verwaltung der Warschauer Theater bei Sergej Muchanov zwar erstmals in der Hand eines Russen. Muchanov erwies sich jedoch keineswegs als der Russifizierer der polnischen Theaterlandschaft, den man in ihm hätte vermuten können. Im Gegenteil: Er bewahrte nicht nur das Polnische als Hauptsprache der Warschauer Bühnen, sondern begünstigte mit seiner umsichtigen Amtsführung (bis 1880) eine Blütezeit des polnischen Theaters, die ihm allgemeine Anerkennung einbrachte (Sivert 1982, 40 ff.). Auch wenn seine Nachfolger sich teils schwerer taten, führten sie Muchanovs Politik doch zumindest insofern fort, als dass sie den polnischen Charakter des Theaters stützten (Bieńka 2003, 43). Warum die Russifizierung ausblieb, wird unterschiedlich begründet. Womöglich sollte das Theater als ein Aushängeschild moderater russischer Politik dienen, die russischen Beamten in der Mäzenaten-Rolle erstrahlen lassen oder ein Ventil für den aufgestauten nationalen Druck sein (Secomska 1982, 288). Womöglich war das Theater ohne polnisches Publikum auch einfach nicht zu betreiben (Zaleski 1971, 413 f.). So oder so hatte es für die Polen eine gewaltige Bedeutung, da es neben der Kirche die einzige öffentliche Institution war, in der praktisch ausschließlich Polnisch gesprochen wurde (Zaleski 1971, 412).
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Der polnische Boykott und seine Grenzen Zaszedłem do frysjera, musiałem zaczekać na swoją kolej. Siedziałem przeglądając czasopisma. Nagle zauważyłem, że siedzący naprzeciw mnie klient z namydloną twarzą zwrócił się do fryzjera i wskazując na mnie głową spytał: „Kto to taki?“. Fryzjer poznał mnie i wyjaśnił, że jestem aktorem, Orleniewem. Wtedy klient starł mydło z twarzy, nałożył kołnierzyk i krawat, wziął kapelusz i wyszedł z gabinetu. Ja, będąc uprzedzony, pomyślałem: „Otóż i bojkot“. Usiadłem, aby się golić, i zamyśliłem się. A w tym czasie klient wrócił i podchodząc do mnie ofiarował mi fotograficzny portret z piękną dedykacją po francusku, ukłonił się i odszedł. Ja, wychodząc, spytałem fryzjera, kto to taki. Okazało się – jeden z bardziej znanych polskich aktorów (Prussak 1987, 620).80
Derartige Respektsbekundungen unter den Künstlern waren durchaus keine Seltenheit (Prussak 1987, 608 f.; 612; 614; 616; 620). Boykott und Respekt künstlerischen Werts, Patriotismus und ästhetischer Genuss mussten sich also nicht ausschließen. Viele Polen boykottierten das Russische überall dort, wo die Rezeption in der Öffentlichkeit eine politische Bedeutung erlangt hätte, oder aber dort, wo durch die Einlassung auf das Russische etwas Polnisches in Gefahr schien. Der Boykott hatte immer ein demonstratives Element. Das änderte allerdings nichts daran, dass die Präsenz der russischen Literatur im Land auch Neugierde erzeugte und Anerkennung weckte. Im Privatleben waren russische Bücher eine beliebte, teils sogar bevorzugte Lektüre (vgl. Rabska 1964, 11; 82). Dieses Verhältnis hatte Gültigkeit für viele Polen, erfuhr aber zumindest für einen Teil von ihnen eine Neuausrichtung am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich mit Sozialisten und Nationalisten neue politische Kräfte etablierten.
3.2 Zwischen Inspiration und Boykott: russische Literatur unter polnischen Sozialisten „Największym wrogiem polskiej klasy robotniczej jest carat rosyjski“, schrieb 1895 der polnische Arbeiterführer Józef Piłsudski in einem Artikel für die sozialistische Zeitung Robotnik (Piłsudski 1930a, 291).81 Doch trotz dieser unter den polnischen 80 „Ich ging zum Friseur und musste warten, bis ich an der Reihe war. Ich saß da und sah eine Zeitschrift durch. Plötzlich merkte ich, wie sich der mir gegenüber sitzende Kunde mit eingeseiftem Gesicht an den Friseur wandte, mit dem Kopf auf mich zeigte und fragte: ‚Wer ist das denn?’ Der Friseur erkannte mich und erklärte, dass ich Schauspieler sei, Orlenev. Daraufhin wischte sich der Kunde die Seife aus dem Gesicht, legte Kragen und Krawatte an, nahm den Hut und ging aus dem Geschäft. Ich, der ich gewarnt war, dachte: ‚Da haben wir den Boykott’. Ich setzte mich, um mich rasieren zu lassen, und versank in Gedanken. Und in dieser Zeit kehrte der Kunde zurück, trat zu mir und schenkte mir ein fotographisches Porträt mit einer schönen Widmung auf Französisch, verbeugte sich und ging weg. Beim Herausgehen fragte ich den Friseur, wer das war. Es stellte sich heraus – einer der bekannteren polnischen Schauspieler.“ 81 „Der größte Feind der polnischen Arbeiterklasse ist das russische Zarentum.“
Russische Literatur unter polnischen Sozialisten
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Sozialisten weit verbreiteten Auffassung waren die Voraussetzungen für die Aufnahme russischer Literatur in ihren Kreisen günstiger als in der restlichen Bevölkerung. „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, hatten Marx und Engels das kommunistische Manifest geschlossen und damit prägnant den internationalistischen Anspruch des Sozialismus formuliert. So bezog sich die Abneigung der polnischen Sozialisten vorrangig auf die russische Autokratie, während sie gegenüber den „guten“ Elementen der russischen Gesellschaft grundsätzlich aufgeschlossen waren. Dass der polnische Sozialismus in seiner Frühphase äußerst enge Verbindungen mit Russland unterhielt, hatte seine Ursache allerdings weniger in ideologischen als in pragmatischen Entscheidungen. Die russischen Hochschulen waren für viele Polen im russischen Teilungsgebiet attraktiver als die Warschauer Universität, die als Hort der Russifizierung galt und deren intellektuelles Niveau nicht gut angesehen war (Nowiński 1986, 191; Schiller 2005, 186). Besonders junge Polen aus den Gebieten östlich von Warschau nahmen ihre Ausbildung daher lieber in den Hochschulen von St. Petersburg, Moskau und anderen russischen Großstädten auf, wo sie in den 1860er und 1870er Jahren in eine politisch aufgeladene Atmosphäre kamen (Naimark 1979, 56 f.; Blit 1971, 16 ff.). Viele Polen gerieten aufgrund ihrer Abneigung gegen die Politik des Zarenreichs unter den Einfluss der russischen Revolutionäre, gründeten eigene konspirative Zirkel oder schlossen sich den russischen Organisationen an (Dłuski 1929, 222 ff.; Bazylow 1984, 271 ff.). Die russische Bewegung war der polnischen damals weit voraus, was das Interesse der revolutionär gesinnten Polen vergrößerte. „Odessa, Kijów, Petersburg, Moskwa były naówczas dla młodzieży polskiej, rwącej się do pracy społecznej, czymś w rodzaju Mekki wśród mahometan“, schrieb der bekannte Sozialist Ludwik Krzywicki in seinen Erinnerungen (Krzywicki 1958, 19; vgl. Piłsudski 1930b, 7; Studnicki 1910, 507).82 Ein wichtiger Bestandteil des revolutionären Werdegangs dieser frühen polnischen Sozialisten war die Lektüre der gesellschaftlich engagierten russischen Literatur, für die es auf Polnisch noch keine Entsprechung gab. Anschaulich hat dies in seinen Erinnerungen der polnische Ökonom Zygmunt Heryng beschrieben. Den Beginn seiner Begeisterung für die jugendliche Rebellion schrieb er der Lektüre von Turgenevs Otcy i deti und der Faszination für den Protagonisten Bazarov zu – das Buch las er als Schüler (Heryng 1930, 48). Später dann, während des Studiums in St. Petersburg ab 1875, habe er Autoren des revolutionären Lagers wie Černyševskij, Dobroljubov, Pisarev, Michajlovskij und Lavrov gelesen, aber besonders auch Saltykov und Nekrasov. Gerade den beiden Letzteren schrieb er erhebliche Bedeutung bei der ideologischen Formung bzw. Stärkung gegen das zaristische System zu. Überhaupt, so Heryng weiter, habe er die russische Belletristik nicht so 82 „Odessa, Kiev, Petersburg, Moskau waren damals für die polnischen Jugendlichen, die auf gesellschaftliche Arbeit brannten, so etwas wie Mekka für die Mohammedaner.“
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Der polnische Boykott und seine Grenzen
sehr für den ästhetischen Genuss gelesen, sondern als Medium, das ihm einen umfassenden Einblick in die russische Gesellschaft ermöglichte (Heryng 1930, 52; 54). Heryngs Umgang mit der russischen Literatur war typisch für die frühe Sozialistengeneration und findet sich in ähnlicher Weise auch in anderen Lebensberichten. Am Beginn stand die Lektüre der legalen russischen Belletristik – so empfahl z.B. der spätere Wissenschaftler Augustyn Wróblewski seinem Bruder beim Versuch, ihn zum Sozialismus zu bekehren, nicht nur politische, sondern auch schöngeistige Literatur, darunter Titel von Turgenev, Tolstoj, Gogol’ und Puškin (Białokozowicz 2000, 105; vgl. Stempowski 1953, 87; 89; 93; Sobieska 2006, 489). Von dort führte der Weg dann über die revolutionäre Poesie und Prosa (insbesondere Černyševskijs Čto delat’?) zur mehr oder weniger radikalen russischen Literatur- und Gesellschaftskritik (Belinskij, Dobroljubov, Pisarev etc.; vgl. Naimark 1979, 56 f.). Ihre Texte weckten in den jungen Polen die Hoffnung auf eine neue Zeit und wurden entsprechend „als Evangelium“ (jako Ewangelję) aufgenommen (Zdziechowski 1920, 60; vgl. Snytko/Žigunov 1976, 229; Nowiński 1986, 205; Sandler 1954, 11; Dłuski 1929, 223). Im Rückblick schrieb der sozialistische Przedświt 1894 über diese Frühzeit: Literatura rosyjska na młodzież naszą znaczny wpływ wywarła – tam znajdowali towarzysze nasi strawę, której we własnem piśmiennictwie brakło. Nasza szczupła literatura socyalistyczna nie mogła się mierzyć z rosyjską, z pismami Hercenów, Czernyszewskich i innych. W legalnem piśmiennictwie rosyjskiem znajdowano też bogaty materyał, wobec którego swojska literatura wydawała się dziwnie bladą i zacofaną. Podczas gdy u nas Orzeszkowa w socyalizmie widziała tylko „brudne widmo cywilizacyi“, beletrystyka rosyjska obfitowała w sympatycznie kreślone postacie socyalistyczne (Przedświt Nr. 10/1894, 8).83
Mitte der 1870er Jahre begann der Zustrom der an den russischen Hochschulen ausgebildeten polnischen Sozialisten ins Königreich Polen. Viele von ihnen kamen mit dem ausdrücklichen Ziel, dort politisch zu agitieren (Snytko 1969, 243; 251 ff.). Diese erste Welle sozialistischer Propaganda in Warschau wurde in den Jahren 1878/79 durch gezieltes Vorgehen der Sicherheitsorgane beendet, ein Teil der Aktivisten wurde verhaftet, ein anderer emigrierte (Naimark 1979, 75; 81 f.). Es folgte jedoch insbesondere in der Emigration in Genf eine Zeit der theoretischen und organisatorischen Sammlung, aus der schon wenige Jahre später ein neuer Anlauf zur Organisation der Arbeitermassen im Königreich Polen wurde. Die zentrale Person war dabei Ludwik Waryński, der 1881 aus der Emigration nach Polen zurückkehrte 83 „Die russische Literatur übte auf unsere Jugendlichen erheblichen Einfluss aus – dort fanden unsere Genossen die geistige Nahrung, die im eigenen Schrifttum fehlte. Unsere schmale sozialistische Literatur konnte sich nicht mit der russischen messen, mit den Schriften der Gercens, Černyševskijs und anderer. Auch im legalen russischen Schrifttum fand man reiches Material, gegen das die heimische Literatur seltsam blass und rückständig wirkte. Während bei uns Orzeszkowa im Sozialismus nur ein ‚schäbiges Gespenst der Zivilisation’ sah, gab es in der russischen Belletristik sympathische sozialistische Figuren im Überfluss.“
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und mit einem Kreis Gleichgesinnter die erste polnische Arbeiterpartei aufbaute, den sog. Wielki Proletariat („Großes Proletariat“; auch: 1. Proletariat; Blit 1971, 51 ff.; Naimark 1979, 107 ff.). Die Partei war durch und durch von den polnischen Sozialisten russischer Prägung gestaltet, und auf Grundlage der Erfahrungen mit den russischen Kampfesbrüdern hatte sie eine internationalistische Ausrichtung (vgl. Strobel 1968, 158 f.). Die Frage nach der Unabhängigkeit Polens stand im „Proletariat“ hinter dem Ideal eines gemeinsamen Kampfes der Arbeiter aller Nationalitäten zurück, und tatsächlich bestanden zwischen russischen und polnischen Revolutionären in diesen Jahren auch weiterhin enge persönliche Kontakte (Snytko 1969, 321 ff.; Puchlov 1968, 49 ff.). Die Aktivitäten der aus St. Petersburg und Moskau kommenden Sozialisten bewirkten, dass sich nun auch im polnischen Kernland Lektüre-Karrieren wie in Russland formten (vgl. Brzozowski 2007, 74; Jazukiewicz-Osełkowska 1980, 73). Da es damals in Polen noch keine entsprechende Literatur gab, brachten die zuströmenden Revolutionäre die einschlägige russische Literatur mit in die Stadt. Schnell eroberte sie sich dort eine Position, die monopolartigen Charakter hatte. Ludwik Krzywicki schrieb: Kazimierz Sosnowski (...) przywiózł z sobą niemal całą bibliotekę, wyłącznie w języku rosyjskim (...). U Krusińskich zawsze można było znaleźć na stole którąś książkę radykalnych miesięczników rosyjskich (...). Literatura rosyjska kompletnie ciążyła wtedy nad młodzieżą bardziej zamiłowaną w poważnym czytelnictwie. O tej sprawie systematycznie milczano w naszej publicystyce. (...) Tylko w rozmowach poufnych narzekano na to „ruszczenie się“ młodzieży (Krzywicki 1958, 44 f.).84
Der Politiker Władysław Studnicki schrieb in seinen Erinnerungen von einer durch die russische Literatur hervorgerufenen „revolutionären Moskowiter-Liebe“ (rewolucyjny moskalofilizm; Studnicki 1928, 11), und auch Roman Dmowski, der Führer der polnischen Nationalisten, schrieb über die „revolutionäre Russophilie“ der frühen Sozialisten, „które się wyrażało w uwielbieniu dla literatury rosyjskiej (wobec której najwięksi pisarze i poeci polscy nic nie byli warci) (...) [i] w czytaniu wyłącznie po rosyjsku (...)“ (Kozicki 1964, 42).85 Die Beschaffung dieses Lesestoffs 84 „Kazimierz Sosnowski (...) brachte fast eine ganze Bibliothek mit, ausschließlich auf Russisch. (...) Bei den Krusińskis konnte man auf dem Tisch immer irgendeinen Band der radikalen russischen Monatsblätter finden (...). Die russische Literatur lag damals vollständig über dem Teil der Jugend, der ernsthafter Lektüre stärker zugewandt war. Über diese Sache wurde in unserer Publizistik systematisch geschwiegen (...). Nur in vertraulichen Gesprächen beschwerte man sich über diese ‚Verrussung’ der Jugend.“ 85 „die sich in der Verehrung russischer Literatur ausdrückte (gegenüber der die größten polnischen Schriftsteller und Poeten nichts Wert waren) (...) [und] in der Lektüre ausschließlich auf Russisch (...).“
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war im Übrigen riskant, beispielsweise wenn aus Westeuropa illegale Texte über die Grenze ins Königreich Polen geschmuggelt wurden. Bei Durchsuchungen von verdächtigen polnischen Studenten wurde in diesen Jahren regelmäßig russische Literatur entdeckt, beispielsweise von Černyševskij und Gercen (Trochimiak 1983, 85 f.; Snytko 1969, 332 ff.). Auch Bronisław Białobłocki, der als erster Vertreter einer marxistischen polnischen Literaturkritik gilt, verbarg in seinen Arbeiten nicht seine enge Beziehung zur russischen Literatur. Białobłockis Werdegang ist in vielerlei Hinsicht typisch für diese erste sozialistische Generation. Seine Jugend in den russischen Westgebieten und das Studium in St. Petersburg bescherten ihm eine so starke russische Prägung, dass er Schwierigkeiten hatte, sich auf Polnisch auszudrücken (Białobłocki 1932, IX; Sandler 1954, 11).86 Aus Russland brachte er eine hervorragende Kenntnis der russischen Literatur und Literaturkritik mit, die den Ausgangspunkt seiner eigenen literarkritischen Tätigkeit bildeten (Sandler 1954, 49 ff.). Nicht zufällig debütierte er also 1883 im Przegląd Tygodniowy mit einem Artikel über die zeitgenössische russische Belletristik (Uspenskij, Zlatovratskij), dem bis 1885 eine Reihe weiterer Texte zu dieser Thematik folgten (u.a. über Al’bov, Saltykov, Turgenev; Sandler 1954, 127 ff.; 144 f.). Białobłockis Ausgangspunkt war die Annahme, dass Schriftsteller den aktuellen Zustand einer Gesellschaft aufnehmen und in der künstlerischen Verarbeitung Denkanstöße an sie zurückgeben – häufig mit einer deutlichen eigenen Botschaft. Insofern sollten die Polen die russische Belletristik kennen, so Białobłocki, da sie sowohl ein Bild vom Zustand der russischen Gesellschaft, als auch von den Positionen ihrer ehrenwertesten Vertreter vermittle (Białobłocki 1932, 60 f.). Dabei billigte er ihnen auch das Potential zu, auf die polnische Gesellschaft inspirierend zu wirken. Dass Białobłocki indes in diesen Jahren der einzige produktive Kritiker russischer Literatur in Warschau war, ist ein anschauliches Beispiel für die ungewöhnliche Offenheit der frühen Sozialisten in dieser Hinsicht.87 Die erste Blütezeit des polnischen Sozialismus endete 1886 mit der Verhaftung der letzten Führer des „Großen Proletariats“ (Naimark 1979, 170). Die Neuformierung der Bewegung führte Anfang der 1890er Jahre zu einer Spaltung. Die 1893 gegründete „Sozialdemokratie des Königreichs Polen“ (SDKP; später SDKPiL = Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy“/„Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens“) setzte die internationalistische Tradition fort. 86 Für die Herausgabe seiner literaturkritischen Arbeiten 1932 wurden die auffälligsten Russizismen beseitigt (Białobłocki 1932, X f.; vgl. Sandler 1954, 141). 87 Białobłocki und einige Gleichgesinnte (Ludwik Krzywicki, Stanisław Krusiński) publizierten im positivistischen Przegląd Tygodniowy, da sie über legale Organe sozialistisches Gedankengut propagieren wollten. Der Przegląd Tygodniowy war dafür offenbar aufgrund des Anspruchs seines Herausgebers Adam Wiślicki geeignet, der seine Zeitschrift als fortschrittliches Organ profilieren wollte (Sandler 1954, 24 ff.).
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Ihr Ziel war nicht vorrangig die polnische Unabhängigkeit, sondern der gemeinsame Kampf der Arbeiter aller Nationen um eine gerechte Gesellschaftsordnung (Haustein 1969, 182 f.; Strobel 1974, 98 f.). Dabei setzte die Partei auch auf ein enges Zusammengehen mit den russischen Sozialisten. Selbst wenn es gelegentlich ideologische Meinungsverschiedenheiten mit ihnen gab, blieb es die Grundüberzeugung der SDKPiL-Aktivisten, dass polnische und russische Sozialisten gleiche Interessen hätten und diese gemeinsam besser verfolgen könnten (Puchlov 1968, 106 ff.; 161 ff.; Juzwenko 1975, 52 ff.). Anders hielt es die ebenfalls 1893 gegründete „Polnische Sozialistische Partei“ mit Józef Piłsudski (Polska Partia Socjalistyczna = PPS). Für sie stand die Befreiung und Wiedererrichtung Polens im Vordergrund, um dann den neuen polnischen Staat nach sozialistischen Prinzipien gestalten zu können (Haustein 1969, 167 ff.; Tomicki 1983, 32 ff.). Diese Betonung der nationalen Eigenständigkeit erforderte für die PPS auch eine Neuregelung der Verhältnisse zu anderen Nationen und ihren sozialistischen Bewegungen. So knüpfte die PPS Beziehungen zu den russischen Sozialisten u.a. an die Bedingung, dass diese das polnische Unabhängigkeitsstreben anerkennen (Robotnik Nr. 26/1898, 2; vgl. Tych 1975, 260). Insgesamt blieb die PPS anders als die SDKPiL Russland gegenüber sehr skeptisch (Juzwenko 1975, 54 ff.). Der Historiker Ulrich Haustein schrieb über die in Bezug auf Russland unterschiedlichen Ansätze der beiden Parteien: Wenn das Unabhängigkeitsprogramm der PPS die Gefahr einer extremen Übersteigerung barg, nämlich der Übertragung der Feindschaft gegen den moskowitischen Despotismus auf alles Russische, so konnte das Programm der SDKP in ein anderes Extrem entarten: Übertragung der Freundschaft zur russischen revolutionären Bewegung auf alles Russische (Haustein 1969, 156).
Tatsächlich scheint sich dies auch für die Rezeption russischer Literatur in den beiden Lagern zumindest teilweise zu bewahrheiten. Im Falle der SDKPiL lässt sich dies am Beispiel ihrer prominentesten Führer illustrieren, d.h. anhand von Feliks Dzierżyński, Julian Marchlewski und Rosa Luxemburg. Alle drei besuchten ein russisches Gymnasium und begannen in dieser Zeit die Lektüre der fortschrittlichen russischen Autoren – Marchlewski beispielsweise von Černyševskij (Čto delat’?, Schumacher/Tych 1966, 19), Dzierżyński von N. A. Nekrasov, Saltykov, Belinskij und Gercen (Cvigun 1977, 13). Auf unterschiedliche Weise nutzten und entwickelten sie dieses literarische Kapital dann in ihrer weiteren Tätigkeit. So agitierte Dzierżyński zu Beginn seiner politischen Karriere Mitte der 1890er Jahre in Wilna unter Gleichaltrigen u.a. dadurch, dass er Verse von Nekrasov präsentierte (Blobaum 1984, 35). Marchlewski dagegen gründete 1902 in der Emigration in München einen Verlag für slavische und nordische Literatur und publizierte dort bis 1904 Werke von Maksim Gor’kij, Ivan Bunin, Vikentij Veresaev, Leonid Andreev, Gleb Uspenskij und Vladimir Korolenko (Schu-
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macher/Tych 1966, 109 ff.; Marchlewski 1953, 149 ff.). Seine wohl wichtigste Veröffentlichung war 1902 die Erstausgabe von Gor’kijs Na dne auf Russisch.88 Bei Rosa Luxemburg letztlich zeugen nicht nur entsprechende Aussagen in ihrer privaten Korrespondenz von der kontinuierlichen Lektüre russischer Bücher, sondern sie schrieb auch immer wieder als Publizistin darüber (z.B. über Gleb Uspenskij, Lev Tolstoj). 1919 veröffentlichte sie sogar eine eigene deutsche Übersetzung von Korolenkos Istorija moego sovremennika, versehen mit einem langen einleitenden Essay, der ihre Sicht auf die russische Literatur im Allgemeinen ausführte. So schrieb sie dort: Seit (...) [die russische Literatur] mit Puschkin und Lermontow in unvergleichlichem Glanz eine sichtbare Fahne vor der Gesellschaft aufgerollt hatte, war ihr Lebensprinzip der Kampf gegen Finsternis, Unkultur und Bedrückung. Sie rüttelte mit verzweifelter Kraft an den sozialen und politischen Ketten, scheuerte sich an ihnen wund und zahlte ehrlich die Kosten des Kampfes mit ihrem Herzblut (Luxemburg 1974, 305).
Was aber Luxemburg der russischen Literatur für die Vergangenheit zuschrieb, begründete wohl auch ihr Interesse an den russischen Gegenwartsautoren. Entsprechend begeisterte sie z.B. der soziale Gehalt der Werke von Autoren wie Gor’kij, dessen Na dne sie (kurz nach seiner Veröffentlichung durch Marchlewski) 1903 in Berlin im Theater sah: Ich war bereits zweimal im Nachtasyl und werde noch so oft gehen, als es meine Finanzen irgend gestatten. Das Werk ist eine große sittliche Tat und ein Faustschlag en pleine visage unserer „wohlgesitteten“ Gesellschaft. Ich beobachte mit Hochgenuß und Schadenfreude, wie das liebe Parterrepublikum sich jedesmal geohrfeigt fühlt und sich doch mit Hundemut die Ohrfeigen gefallen lassen muß (Luxemburg 1982b, 15).
Der letzte Satz mag dabei auch von der „grotesken Wut“ zeugen, die Luxemburgs Biograph Peter Nettl angesichts der Tatsache ausmacht, dass ihr Werben für die russische Literatur in Deutschland meist erfolglos blieb: „Jahraus, jahrein suchte sie deutschen Sozialisten die Bedeutung der russischen Romanciers klarzumachen. Zuweilen fand sie Gehör, meist aber predigte sie tauben Ohren (...)“ (Nettl 1967, 45). Tatsächlich empfahl sie den deutschen Genossen gerne russische Texte (z.B. 88 Das Geschäftsmodell des Verlags basierte nicht zuletzt auf einem Urheberrechtsdilemma von Schriftstellern in Russland. In vielen europäischen Ländern garantierte seit Mitte der 1880er Jahre die Berner Übereinkunft Autoren die Rechte an ihren Texten. Russland war der Übereinkunft allerdings nicht beigetreten, so dass Werke ohne Rücksprache mit den Autoren und insbesondere ohne ihre Entlohnung nachgedruckt werden konnten. Dies ließ sich umgehen, wenn die Erstausgabe eines Werks in einem Land erschien, in dem die Genfer Übereinkunft galt. Indem also Marchlewski die Werke russischer Autoren zuerst in seinem Münchener Verlag veröffentlichte, sicherte er ihnen die Einnahmen aus späteren Auflagen und z.B. die Tantiemen aus Theateraufführungen (vgl. Marchlewski 1953, 22; Scharlau/Zeman 1964, 78 f.; 132 f.).
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Luxemburg 1982a, 533) und betonte den Wert der russischen Literatur auch im Vergleich mit der deutschen, etwa wenn sie schrieb, dass die gesamte deutsche Moderne im Schatten Gleb Uspenskijs „wie eine Schar Sperlinge im Schatten einer Pyramide spazierengehen kann“ (Luxemburg 1970, 186). Während im Lager der SDKPiL so die aus der Frühzeit des polnischen Sozialismus bekannte Faszination für russische Literatur ihre Fortsetzung fand, gestaltete sich die Rezeption im konkurrierenden Lager schwieriger. Man kann nicht von einer generellen Ablehnung sprechen – dies zeigt z.B. die wohlwollende Lektüre russischer Autoren durch Kazimierz Kelles-Krauz, einen der führenden Ideologen der PPS (Kelles-Krauz 1984a, 71; 161; 268; 288; Kelles-Krauz 1984b, 744). Gleichwohl strebten viele PPS-Anhänger – bewusst oder unbewusst – nach einer Ablösung vom östlichen Nachbarn auch jenseits der Politik, und so schrieb z.B. Józef Piłsudski, dass das intensive Studium der fortschrittlichen russischen Literatur (in seiner Wilnaer Jugend, beim Studium in Charkov und in der sibirischen Verbannung) ihn enttäuscht habe, und zwar insbesondere aufgrund dessen, dass sie ihm zu sehr dem polnischen Kontext enthoben war. So schrieb er z.B.: Co do mnie, rosyjskiej publicystyki – Dobrolubowych, Pisarewych, Czernyszewskich, Michajłowskich – nie znosiłem. Nużyła mię ta rozwlekła gadanina, niejasna i mglista, z mnóstwem aluzyj do wypadków z życia społecznego i literackiego Rosji, która dla mnie była zupełnie obcą (Piłsudski 1930b, 9; 11; vgl. Jędrzejewicz/Cisek 1994, 43).89
Immer häufiger fand sich nun in der sozialistischen Publizistik auch die These, dass Russland im Gegensatz zu Polen ein kulturell rückständiges Gebiet sei (vgl. Robotnik Nr. 0/1894 (Jednodniówka), 5; Studnicki 1928, 20 f.). Entsprechend wurde in den 1890er Jahren im Kreis der PPS-nahen Sozialisten die Präsenz russischer Literatur geringer. Zeitschriften wie der Londoner Przedświt und der konspirative Robotnik druckten praktisch keine Texte von russischen Schriftstellern oder über russische Literatur. Sicherlich hatten sie generell keinen literarischen Anspruch, sondern waren vorrangig auf die Agitation der Arbeiter oder programmatische Diskussionen gerichtet, wie auch überhaupt die polnische Arbeiterschaft schon aufgrund der hohen Analphabetenrate kein idealer Platz für die Verbreitung schöner Literatur war (vgl. Krajewska 1979, 8 f.). Die Gründe für das Zurückweichen der russischen Literatur in den Kreisen der PPS scheinen aber doch auch ideologisch bedingt gewesen zu sein. Die Neuausrichtung auf die polnische Unabhängigkeit sorgte auch für eine stärkere Akzentuierung der polnischen Kultur bzw. für expliziten Widerstand gegen die Aufdrängung der russischen Kultur (Robotnik Nr. 0/1894 (Jednodniówka), 2 f.). Wenn überhaupt, 89 „Was mich betrifft, so konnte ich die russische Publizistik – die Dobroljubovs, Pisarevs, Černyševskijs, Michajlovskijs – nicht ertragen. Mich langweilte dieses langatmige Geschwafel, unklar und nebulös, mit einer Menge Anspielungen auf das gesellschaftliche und literarische Leben Russlands, das mir völlig fremd war.“
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so wurden darum in den PPS-nahen Zeitungen literarische Texte polnischer Autoren gedruckt (z.B. Przedświt Nr. 6/1895, 3 ff.; Przedświt Nr. 1-2-3/1896, 1; Robotnik Nr. 2/1894, 3; Robotnik Nr. 5/1894, 2 ff.; vgl. Czarnik 1992, 112 ff.). Die russische Literatur dagegen rückte nur als Mittel der Russifizierung in den Blickpunkt. Wenn die Polen das russische Theater in Warschau besuchen oder ihren Bauern russische Bücher geben würden, sei der Rest der nationalen Würde verloren, hieß es beispielsweise 1896 im Przedświt (Przedświt Nr. 11–12/1896, 3), und entsprechend wurden Aktionen wie der Boykott der Gogol’-Feiern in den polnischen Schulen 1902 oder Proteste gegen Auftritte russischer Schauspieler in Warschau wohlwollend kommentiert (Przedświt Nr. 1-2-3/1894, 33 f.; Przedświt Nr. 3/1902, 110; 114). Die Volksbibliotheken attackierte der Robotnik als „Instrument der Verdummung und Russifizierung des Volkes“ (narzędzie ogłupiania i rusyfikowania ludu; Robotnik Nr. 28/1898, 4; vgl. Przedświt Nr. 5/1898, 15; Przedświt Nr. 8/1898, 2). Es war wohl im Sinne dieser Politik, wenn der politische Aktivist Zygmunt Balicki 1895 im Przedświt, der in London herausgegebenen Zeitung der polnischen Auslands-Sozialisten, die kulturelle Einheit des Volkes als eine Voraussetzung für den Kampf um die Unabhängigkeit postulierte: Jedność narodowa (...) jest faktem socyologicznym (...). To nie żadna „synteza“ sprzecznych interesów klasowych, ale niewspólmierna z nimi, odrębna sfera życia obejmująca język (niezawsze zresztą), literaturę, sztukę, obyczaje, charakter narodowy, słowem kulturę w szerokiem tego słowa znaczeniu. Jeżeli i robotnik i kapitalista równie dobrze mogą zachwycać się Mickiewiczem i uważać go za swego poetę, to nie jako przedstawiciele klas wrogich, lecz jako ludzie i polacy. Otóż, dla narodu zdrowego, normalnego, nie zdemoralizowanego niewolą dążenie do niepodległości powinno być prostem, koniecznem następstwem odrębności kultury (Przedświt Nr. 10–11/1895, 6).90
Die Akzentuierung der eigenständigen Nationalkulturen lief allerdings immer mehr auch auf eine Zuspitzung der Gegensätze zu den Kulturen anderer Nationen hinaus, was anschaulich ein vier Jahre später (erneut im Przedświt) erschienener Artikel von Władysław Studnicki zeigt. Studnicki argumentierte, dass die polnischen Sozialisten von den russischen keine Hilfe erwarten dürften, da der russischen Kultur westliche Vorstellungen von Freiheit fremd seien. Da aber die Literatur stets untrennbar aus einer bestimmten Kultur hervorgehe, zeige sich dies auch in ihr: 90 „Die nationale Einheit (...) ist eine soziologische Tatsache (...). Sie ist keine ‚Synthese’ widersprüchlicher Klasseninteressen, sondern eine von ihnen unabhängige, separate Sphäre des Lebens, die Sprache (im Übrigen nicht immer), Literatur, Kunst, Bräuche, Nationalcharakter, mit einem Wort: die Kultur in einem weiten Sinne umfasst. Wenn sowohl ein Arbeiter als auch ein Kapitalist sich gleichermaßen gut für Mickiewicz begeistern und ihn für ihren Dichter halten können, dann nicht als Vertreter feindlicher Klassen, sondern als Menschen und Polen. Für eine gesunde, normale, nicht durch Unfreiheit demoralisierte Nation sollte das Streben zur Unabhängigkeit also die einfache, notwendige Folge der Eigenständigkeit ihrer Kultur sein.“
Russische Literatur unter polnischen Sozialisten
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Społeczeństwo rosyjskie nigdy nie było wolne, nima żadnych wolnościowych tradycyi, w utworach największych beletrystów rosyjskich: Tołstoja i Dostojewskiego, w najradykalniejszej nawet publicystyce, rozpoczynając od Bielińskiego i Czernyszewskiego, a kończąc na większości marksistów, nie mówiąc już o urzędnikach, spotykamy niechęć lub obojętność względem form politycznych zachodu. Wobec tego wyrzec się winniśmy doktrynerstwa i zerwać ze złudzeniami co do skuteczności pomocy ze strony proletaryatu rosyjskiego w dziele zburzenia bastylii caratu, tej podpory reakcyi europejskiej (Przedświt Nr. 6/1899, 6).91
Studnicki forderte also nicht nur die Trennung von den russischen Sozialisten, sondern aus seiner Argumentation sprachen auch Zweifel daran, inwiefern die russische Literatur für polnische Leser eine angemessene Lektüre sei. In diesem Sinne legte Studnicki in der Folgenummer nach, als er nicht nur erneut behauptete, die russische Literatur sei ein Beweis für die negative Durchdringung des Geisteslebens mit der autokratischen russischen Staatsdoktrin, sondern indem er Russland auch generell ein niedriges kulturelles Niveau bescheinigte. Als Anhaltspunkt dafür wertete er u.a., dass auch viele talentierte russische Autoren Trinker seien (Przedświt Nr. 7/1899, 9). Derartige Ansichten blieben nicht ohne Widerspruch. Sowohl auf Studnickis als auch auf Balickis Thesen folgten Repliken, aus denen trotz aller nationaler Färbung internationalistisches Bewusstsein sprach.92 So schrieb Kazimierz KellesKrauz zur Antwort auf Balicki, dass es keine National-, sondern nur Standeskulturen gebe. Zwar würden alle Stände Mickiewicz lesen, aber für die einen sei er nur ein Pilzsucher, für die anderen dagegen ein Dichter der Konspiration: Niema dziś odrębności kultury między Wielopolskim, Łobanowem, Hohenlohem, Windischgrätzem, między Blochem a Polakowem, jak niema między lwowskim i wiedeńskim zecerem. Jeśli są pewne różnice w postępowaniu robotnika polskiego i robotnika rosyjskiego, to nie odrebność kultury jest tego przyczyną, lech późniejsze wstąpienie rosyan w stan proletaryatu i mniejsze wyrobienie w walce. (…) Narodowa jedność kultury, a więc i przeciwstawność kultur dwóch narodów, jest złudzeniem w tem wyższym stopniu, im mamy do czynienia z narodami, dalej zapędzonymi w okres kapitalizmu (...) (Przedświt Nr. 10–11/1895, 12).93 91 „Die russische Gesellschaft war niemals frei, hat keinerlei freiheitliche Traditionen, in den Werken der größten russischen Belletristen: Tolstoj und Dostoevskij, selbst in der radikalsten Publizistik, angefangen bei Belinskij und Černyševskij und aufgehört bei der Mehrheit der Marxisten, schon ganz zu schweigen von den Beamten, treffen wir Abneigung oder Gleichgültigkeit gegen die politischen Formen des Westens. Demgegenüber müssen wir uns von Doktrinen freimachen und mit Illusionen bezüglich der Wirksamkeit von Hilfe des russischen Proletariats bei der Zerstörung der Bastion des Zarentums, dieser Stütze der europäischen Reaktion, brechen.“ 92 Gleichwohl schrieb W. Studnicki in seinen Erinnerungen, dass Piłsudski mit den Grundgedanken seiner Przedświt-Artikel einverstanden gewesen sei (Studnicki 1928, 51). 93 „Es gibt heute keinen Unterschied der Kultur zwischen Wielopolski, Lobanov, Hohenlohe, Windischgrätz, zwischen Bloch und Polakov, wie es ihn nicht zwischen einem Lemberger und
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Der polnische Boykott und seine Grenzen
Dass die Distanzierung von der russischen Literatur im rechten sozialistischen Lager nicht zwangsläufig war, zeigen auch die Beispiele der PPS-nahen Zeitschriften Galiziens. Im sozialistischen Naprzód beispielsweise wurde 1893 in einem Artikel über sozialistische Kunst der Mangel an entsprechenden polnischen Texten beklagt und darauf hingewiesen, dass selbst ein autokratisches Land wie Russland in dieser Hinsicht mehr hervorgebracht habe: Nawet Rosya, ta otchłań despotyzmu i ciemnoty, zabita na pozór deskami od światła słonecznego, odgraniczona chińskim murem od świata nowych myśli i idei, może się poszczycić całym zastępem pisarzy, którzy świeżością uczuć, siłą natchnienia, szlachetnością intencyj i współczuciem dla cierpiącej ludzkości świadczą wymownie, że pod żelazną stopą tyrana północy żyje, wzmaga się i rozwija proletaryat i manifestuje łączność swoją z proletaryatem całego świata. Nie pomogą knut i Sybir! Idea wolności żyje nawet w najciemniejszym zakątku cywilizacyi i przyświeca masom imionami Czernyszewskiego, Dostojewskiego, Korolenki, Garszyna, Szczedryna, Grigorowicza, Uspieńskiego, Nekrasowa i innych (Naprzód Nr. 18/1893, 1).94
In diesen Jahren druckte der Naprzód zwar nicht häufig, aber doch ab und zu Texte von russischen Autoren oder über sie (z.B. Tolstoj, Naprzód Nr. 23/1892, 1; Gor’kij, Naprzód Nr. 130/1900, 1 f.). Ähnlich verhielt es sich in der ebenfalls PPSnahen Krytyka, die recht umfangreich das Werk der zeitgenössischen russischen Autoren verfolgte (z.B. Gor’kijs, Korolenkos, L. Andreevs; Lichodziejewska 1978, 376). Insgesamt zeigt sich, dass der Spagat zwischen Internationalismus und Nationalismus für die polnischen Sozialisten eine stete Herausforderung war. Mit Blick auf die russische Literatur scheint es, dass ihre Rezeption auch außerhalb des internationalistischen Lagers nicht völlig verebbte, selbst wenn sie in den Hintergrund trat. Die Konsequenz eines totalen Boykotts russischer Literatur wurde allerdings einem Wiener Setzer gibt. Wenn es gewisse Unterschiede im Auftreten eines polnischen und eines russischen Arbeiters gibt, dann ist die Ursache kein Unterschied der Kultur, sondern das spätere Eintreten der Russen in den Stand des Proletariats und ihre geringere Erfahrung im Kampf. (...) Die nationale Einheit der Kultur, und somit auch der Gegensatz der Kulturen zweier Nationen, ist desto mehr eine Täuschung, wenn wir es mit Nationen zu tun haben, die weiter in die kapitalistische Phase hineingetrieben sind.“ 94 „Selbst Russland, dieser Abgrund von Despotie und Rückständigkeit, scheinbar mit Brettern gegen das Sonnenlicht vernagelt, mit einer chinesischen Mauer von der Welt neuer Gedanken und Ideen abgegrenzt, kann sich einer ganzen Schar von Autoren rühmen, die durch frische Gefühle, die Kraft der Eingebung, edle Absichten und Mitgefühl für die leidende Menschheit beredt bezeugt, dass unter dem eisernen Fuß des nördlichen Tyrannen das Proletariat lebt, stärker wird und sich entwickelt und seine Verbundenheit mit dem Proletariat der ganzen Welt manifestiert. Knute und Sibirien helfen nichts! Die Idee der Freiheit lebt selbst im finstersten Winkel der Zivilisation und leuchtet den Massen mit den Namen Černyševskijs, Dostoevskijs, Korolenkos, Garšins, Ščedrins, Grigorovičs, Uspenskijs, Nekrasovs und anderer.“
Russische Literatur unter polnischen Sozialisten
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nur vereinzelt gezogen und erlangte keinen programmatischen Charakter. Dieser radikale Weg blieb einem anderen Lager vorbehalten, dem sich auch Zygmunt Balicki und Władysław Studnicki in diesen Jahren anschlossen: den polnischen Nationaldemokraten.95
3.3 Der radikale Boykott: russische Literatur und Nationaldemokraten Der Boykott der ersten Jahrzehnte nach dem Januaraufstand hatte einen weitgehend instinktiven Charakter gehabt. Zu vielen Gelegenheiten war er beeindruckend umfassend, doch stand dahinter keine ordnende Kraft, die als eine Art Boykott-Aufsicht die Handlungen kontinuierlich motiviert hätte. Die Bevölkerung hielt sich in einer Art ungeschriebenem Konsens an bestimmte Tabus. Zum Ende des Jahrhunderts verlor dieser Konsens an Kraft. Dies betraf nicht nur das sozialistische Lager, sondern seit den 1880er Jahren mehrten sich die Indizien, dass der Boykott auch andernorts zumindest selektiv missachtet wurde. Gleich mehrere zu Beginn der 1880er Jahre entstandene Zeitungen druckten nun gelegentlich oder gar regelmäßig russische Literatur (Kraj, Prawda, Słowo), es mehrten sich auch die öffentlichen Aussagen polnischer Schriftsteller über russische Literatur (s.u. Kap. 5). Gegen diesen Trend gab es spätestens ab den 1890er Jahren aber auch eine Gegenbewegung. Die Ausprägung eines neuen polnischen Nationalismus war zeitlich nach der Niederlage des Januaraufstands leicht verzögert worden, wuchs aber schließlich aus der Frustration einer Generation von jungen Intellektuellen, die den Januaraufstand meist nicht mehr bewusst erlebt hatten und die auf ihn folgende Phase pragmatischer polnischer Politik in Frage stellten (Porter 2000, 75). Ab 1886 erschien in Warschau die Zeitung Głos, die zum Forum ideologischer Diskussionen u.a. über die Bedeutung der unteren Volksschichten (lud) als Träger der Nation wurde. 1887 gründete dann der Schriftsteller Zygmunt Miłkowski (Pseudonym T. T. Jeż) in der Schweiz die Liga Polska („Polnische Liga“), deren erklärtes Ziel die Stärkung der Nation bis hin zur Erlangung der Unabhängigkeit war (Wapiński 1997, 91 f.). Aus diesem Umfeld folgte 1893 die Gründung der National-Liga (Liga Narodowa) bzw. 1897 der Nationaldemokratischen Partei (Stronnictwo Demokratyczno-Narodowe) 95 Balicki war lange gleichzeitig in sozialistischen und nationalistischen Organisationen aktiv. 1894 trat er aus dem Auslandsverband der polnischen Sozialisten aus, blieb aber noch einige Zeit lose mit der Bewegung verbunden (Balicki 2008, IX f.; XII; Grott 1995, 55 ff.). Studnicki brach um das Jahr 1900 mit den Sozialisten und schloss sich dann den Nationaldemokraten an (Studnicki 1928, 55; 65 ff.). Einige Jahre später ging er allerdings auch zu den Nationaldemokraten auf Distanz, als diese ihm zu russlandfreundlich wurden (Studnicki 1928, 72; vgl. Gzella 1998, 17).
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Der polnische Boykott und seine Grenzen
um Roman Dmowski, deren Anhänger noch deutlicher als Miłkowski und der Głos die Interessen der eigenen Nation in den Mittelpunkt und vor allem auch in Gegensatz zu anderen Nationen stellten. Der Nationenbegriff nahm bei ihnen eine deutlich ethnische Färbung an (Wapiński 1997, 87 ff.; Tomaszewska 1985, 433 ff.; Bułhak 2000, 76). Im Weltbild dieser jungen Nationalisten-Generation rückte die Frage nach der Stärkung der eigenen Nation auf neue Weise in den Mittelpunkt. Wenn eine Nation nicht stark genug sei, so fassten es Dmowski und sein Umfeld auf, sei ihr Aufgehen in einer anderen Nation die logische Folge und im Sinne zivilisatorischen Fortschritts in der Regel auch wünschenswert. Die Beziehung zwischen Nationen stellte sich so als ein kultureller Konflikt dar, der den Polen selbst eine offensive Option an die Hand gab, angesichts der politischen Verhältnisse aber besonders auch die defensive Ausrichtung neu definierte. Wollte man unter den Bedingungen der polnischen Teilung von kultureller Assimilation verschont bleiben, so musste in der Logik der Nationaldemokraten zwangsläufig die Abgrenzung gegen die fremden Kulturen wie auch die Stärkung der eigenen Kultur zum obersten Gebot werden (Porter 2000, 180 f.; Wapiński 1980, 35 f.; 41; Łagoda 2002, 121; Jakubowska 1988, 362 ff.; Dmowski 1907, 200 ff.). Diese Sichtweise bedeutete nicht nur die Bestätigung des bisherigen Boykotts, sondern eine erhebliche Radikalisierung, denn durch den Einzug der nationalen Komponente war die bisherige Differenzierung zwischen offiziellem und inoffiziellem, zwischen bösem und gutem Russland hinfällig geworden. „Tak często dający się słyszeć pogląd, że uciska nas rząd, a nie naród rosyjski, pozbawiony jest wszelkiej podstawy (...). Nas uciska naród rosyjski (...)“, schrieb Dmowski in diesem Sinne 1895 im Przegląd Wszechpolski (PW Nr. 17/1895, 262; vgl. PW Nr. 20/1896, 461; Łagoda 2002, 192; Porter 2000, 214 f.).96 Die Folgerung aus dieser Feststellung war die vollständige Abwendung von der russischen Gesellschaft. So verweigerten sich die Nationaldemokraten der Kooperation mit fortschriftlichen russischen Kräften (PW Nr. 4/1899, 244), sprachen sich gegen jedwede freundschaftliche Privatbeziehungen mit Russen aus (PW Nr. 20/1896, 460) oder riefen (im Gegensatz zur katholischen Kirche) 1899 dazu auf, während einer großen Hungersnot in Russland nicht für die Notleidenden zu spenden (PW Nr. 7/1899, 392 ff.). Mit Blick auf die sozialdarwinistische Idee, dass eine höhere Zivilisation die niedere überwindet, fühlten sich die Polen grundsätzlich nicht in der Rolle des 96 „Die häufig zu hörende Ansicht, dass uns die Regierung und nicht das russische Volk unterdrückt, ist ohne jegliche Grundlage (...). Uns unterdrückt das russische Volk (...).“ Der Przegląd Wszechpolski galt in diesen Jahren als das wichtigste Organ der Nationaldemokraten (ausführlich Łagoda 2002; Jakubowska 1988, 16 ff.). Artikel im Przegląd Wszechpolski wurden i.d.R. mit Pseudonymen oder überhaupt nicht unterzeichnet. Für einen Teil der Artikel ist die Autorschaft rekonstruierbar. Hier und im Folgenden richten sich entsprechende Angaben nach der Aufstellung in Łagoda 2002, 285 ff.
Russische Literatur und Nationaldemokraten
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Schwächeren. Die Russen waren aus Sicht der polnischen Nationalisten die Mongolen (PW Nr. 8/1899, 475), die „Dschingis-Khans des 19. Jahrhunderts“ ohne europäische Werte (PW Nr. 8/1900, 456; vgl. PW Nr. 5/1900, 303; Studnicki 1928, 20 f.), denen die Polen in praktisch allen Bereichen des öffentlichen Lebens kulturell überlegen seien (PW Nr. 3/1898, 39; Łagoda 2002, 119 f.). Allerdings, so schrieb der Przegląd Wszechpolski, setzten die speziellen Herrschaftsverhältnisse in Polen das Prinzip der zivilisatorischen Überlegenheit in gefährlicher Weise außer Kraft, da die Russen der höher entwickelten polnischen Kultur mit einer Gewalt begegnen könnten, der die Polen schutzlos ausgeliefert seien (PW Nr. 5/1896, 97 f.). Wenn aber gleichzeitig die Boykott-Front bröckele, sei die polnische Kultur in ernster Gefahr: „Wszyscy zaś powinniśmy zastanowić się poważnie nad tem, że nikt z nas nie jest bez winy, że sami świadomie lub bezwiednie to zakażenie naszego życia narodowego, to rozszczepianie naszej jednolitości popieramy“ (PW Nr. 5/1896, 100). 97 Der Aufruf, den Boykott wieder zu radikalisieren, betraf zwangsläufig auch die russische Literatur. In der Wahrnehmung der Nationaldemokraten war sie eines der Elemente, das selbst in der privaten Lektüre zu einer Gefahr für das polnische Wesen werden konnte. So schrieb Zygmunt Balicki: Czy będę szerzył i zalecał literaturę rosyjską ze względów nibyto cywilizacyjnych, w imię ogólno ludzkiej kultury, czy też dlatego że jestem w gruncie zruszczonym pseudo-Polakiem, lub figurą rządową, szerzącą rusyfikacyę, to z punktu widzenia społecznego wychodzi zupełnie na jedno. Fakt w życiu narodowem pozostaje faktem, że kultura nietylko obca, ale wręcz wroga, szerzy się, urabia umysły, asymiluje, a przez to nas samych rozkłada. Powiedziałbym więcej: daleko mniej szkody przynosi brutalny nacisk lub niezbyt zwykle sprytne podstępy powołanych rusyfikatorów, niż to bezwiedne, naiwne aż do niepoczytalności, współdziałanie ich planom (PW Nr. 20/1896, 460).98 97 „Wir alle aber sollten ernsthaft darüber nachdenken, dass niemand von uns ohne Schuld ist, dass wir selbst bewusst oder unbewusst diese Infizierung unseres nationalen Lebens, diese Spaltung unserer Einheit unterstützen.“ In späteren Jahren standen Dmowski und seine Partei für eine politische Orientierung nach Russland, so dass das skizzierte negative Russlandbild überraschen kann. Die Hinwendung zu Russland (ab ca. 1904) entsprang aber weniger Russophilie als politischem Pragmatismus. Namentlich Dmowski kam in dieser Zeit zu dem Ergebnis, dass Preußen als kulturell höher entwickeltes und politisch gefestigtes Land für Polen der gefährlichere Gegner war. Er sprach sich deshalb dafür aus, mit Russland zusammen Preußen zu bezwingen und die polnischen Gebiete innerhalb Russlands zu vereinigen. Aufgrund der instabilen innenpolitischen Lage in Russland hoffte er, aus dieser Position heraus Polen befreien zu können. Das änderte allerdings nichts an seiner Geringschätzung für die russische Kultur (zu früher und späterer Russlandbeziehung siehe u.a. Jakubowska 1988, 228; Wapiński 1980, 88 ff.; 109; Świercz 2003, 56 f.; Łagoda 2002, 40; Bułhak 2000). 98 „Ob ich die russische Literatur aus angeblich zivilisatorischen Gründen verbreite und bewerbe, im Namen der allgemeinmenschlichen Kultur oder auch weil ich im Grunde ein rus-
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Der von Balicki formulierte Totalboykott russischer Literatur ist vor dem dargestellten ideologischen Hintergrund konsequent. Er überrascht aber dennoch mit Blick auf die literarische Bildung der nationaldemokratischen Ideologen. Teils waren sie selbst als Schriftsteller tätig (Zygmunt Miłkowski, Władysław Jabłonowski), teils muss man ihnen zumindest ein besonderes literarisches Interesse attestieren. Dmowski beispielsweise veröffentlichte als junger Erwachsener eigene Prosastücke und publizierte eine ganze Reihe von literaturkritischen Texten (Hendzel 2000, 69 f.), und auch der nationalistische Ideologe Jan Ludwik Popławski hat ein reiches Oeuvre literaturkritischer Schriften hinterlassen – „Popławski był (...) z duszy poetą“, schrieb sein Kampfgefährte Zygmunt Wasilewski (Hendzel 2000, 36; 51 ff.; vgl. Kulak 1989, 27 f.; Zimand 1971).99 Viele der späteren Nationaldemokraten hatten ihre politische Karriere zudem (wie Studnicki und Balicki, s.o.) in sozialistischen Zirkeln begonnen und sich dort nicht nur politisch von russischen Vorbildern beeinflussen lassen (hierzu Bułhak 2000, 29 ff.; Porter 2000, 81 ff.), sondern auch rege die schöngeistige russische Literatur rezipiert, inspiriert z.B. von der Schule oder längeren Aufenthalten in Russland. Popławski beispielsweise entdeckte während seiner Verbannung nach Russland 1879–1882 u.a. Nekrasov, Dostoevskij und Uspenskij für sich und lernte zudem den (späteren) Schriftsteller Vladimir Korolenko persönlich kennen, der einen nachhaltigen Einfluss auf ihn hatte (Popławski 1910, 156; Kulak 1989, 74 ff.; 80). Nach seiner Rückkehr nach Warschau publizierte Popławski dann u.a. 1886 in der Prawda Artikel über Turgenev, Ostrovskij und A.K. Tolstoj sowie 1889 im Głos einen enthusiastischen und kenntnisreichen Nachruf auf Saltykov-Ščedrin (Orłowski 1975, 282; Hendzel 2000, 148). Popławski war mit dieser Rezeption kein Einzelfall: Zygmunt Miłkowski beispielsweise hatte einst persönlich mit Gercen polemisiert (Śliwowska 1975, 154 f.), Zygmunt Wasilewski Saltykov übersetzt (Szyszko 1975, 262). Ebenfalls sehr gut mit der russischen Literatur vertraut waren Władysław Jabłonowski (s.u.) und Władysław Studnicki (Studnicki 1928, 11; 21). Auch der Blick in den Głos als wichtigstes Forum der werdenden Nationalistengeneration zeigt, dass das Blatt die Entwicklung des russischen Literaturlebens aufmerksam verfolgte und gelegentlich auch längere Studien zu diesem Thema brachte (Hendzel 2000, 148 ff.; vgl. Stokowa 1955). sifizierter Pseudo-Pole oder eine Regierungsfigur bin, die russifizierend wirkt, ist aus gesellschaftlicher Sicht völlig gleichgültig. Eine Tatsache bleibt im nationalen Leben eine Tatsache, dass nämlich eine nicht nur fremde, sondern geradezu feindliche Kultur sich verbreitet, den Geist bearbeitet, assimiliert, und uns dadurch selbst zersetzt. Ich würde noch mehr sagen: Weit weniger Schaden bringen der brutale Druck oder die gewöhnlich nicht allzu gescheiten Maßnahmen der berufenen Russifizierer, als die unbewusste und bis zur Unzurechnungsfähigkeit naive Mitwirkung an ihren Plänen.“ 99 „Popławski war (...) im Herzen ein Dichter.“
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Diese ursprüngliche Offenheit ging verloren, als der Głos Mitte der 1890er Jahre gegenüber dem Przegląd Wszechpolski als politisches Forum für die Nationaldemokraten an Bedeutung verlor (Kozicki 1964, 106) und der Radikalboykott dort zunehmend exponiert wurde. Besonders in den ersten Jahrgängen des Przegląd Wszechpolski wurden russische Autoren praktisch überhaupt nicht erwähnt. Es ist interessant, dass sich dieser hermetische Kurs ausgerechnet in den Jahren 1899 bis 1901 änderte, als die redaktionelle Hauptverantwortung beim Przegląd Wszechpolski vorübergehend nicht mehr bei Dmowski, sondern bei Popławski lag (Dmowski befand sich in dieser Zeit auf Reisen; Fountain 1980, 73). Zwar blieb Popławski wie Dmowski konsequent in der Opposition gegen russische Literaturinstitutionen und auch in seiner grundsätzlich recht pauschalen Abgrenzung gegen „die Russen“. Gleichzeitig finden sich in dieser Zeit aber auch gewisse Abweichungen vom ideologischen Standard. So heißt es in einer Korrespondenz aus Warschau im Mai 1900: „Rosyanin wogóle, (wyłączam oczywiście Hercenów, Tołstojów, Turgeniewów i ludzi ich typu), nie ma poczucia honoru w rycerskiem i europejskiem znaczeniu wyrazu; jest Azyatą“ (PW Nr. 5/1900, 303; vgl. PW Nr. 8/1899, 488).100 Hier tauchte zwischen den Zeilen doch wieder die Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Russen auf, die von den Nationaldemokraten an vielen anderen Stellen bekämpft worden war.101 Zumindest in Einzelfällen wurde nun doch eine wenn schon nicht qualitative, so zumindest inhaltliche Auseinandersetzung mit Texten der russischen Literatur wieder möglich, ausgehend von dem soziologischen Ansatz, der die nationalistische Literaturkritik grundsätzlich kennzeichnete.102 Das wichtigste Beispiel hierfür ist die Besprechung von Tolstojs Voskresenie im September 1900 durch Władysław Jabłonowski (PW Nr. 9/1900, 551 ff.). Jabłonowski versah sie mit einer grundsätzlichen Einleitung, die seine Beschäftigung mit einem russischen Autoren legitimieren sollte. So schrieb er, dass die polnische Gesellschaft, gelenkt von Instinkt und Bewusstsein, sich mehr denn je von der russischen Literatur fernhalte: instinktiv, 100 „Der Russe im Allgemeinen (ich nehme natürlich die Gercens, Tolstojs, Turgenevs und Leute ihrer Art aus) hat kein Ehrgefühl im ritterlichen und europäischen Sinne des Wortes; er ist ein Asiat.“ 101 Weitere Erwähnungen russischer Literatur in diesen Jahren siehe z.B. PW Nr. 8/1899, 467 f.; PW Nr. 8/1900, 457; PW Nr. 10/1900, 601. Es ist hinzuzufügen, dass die Weltanschauung der Nationalisten in diesen Jahren weder kohärent noch konsensuell, sondern im Gegenteil oft nebulös und heterogen war (Wapiński 1988, 72; 385). Popławski hatte großen Einfluss auf die Gestaltung der nationalistischen Weltsicht (Fountain 1980, 106 f.). 102 Vgl. Dmowskis Einleitung zu einer Analyse von Reymonts Ziemia obiecana: „Nie będziemy też długo zatrzymywali się nad jej stroną artystyczno-literacką, bo chcemy przedewszystkiem skupić uwagę na jej znaczeniu społecznem“ (PW Nr. 2/1899, 83; „Wir werden uns auch nicht lange bei künstlerisch-literarischen Aspekten aufhalten, sondern wollen uns vor allem auf die gesellschaftliche Bedeutung konzentrieren“).
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da ein Pole von der Literatur einer Teilungsmacht immer implizite Billigung des geschehenen Unrechts erwarte, und bewusst, da in der Vergangenheit auch kritische russische Geister in Bezug auf die Polenfrage kein Einfühlungsvermögen gezeigt hätten – so Puškin, Dostoevskij und Nekrasov. Es seien inhaltliche, nicht politische Gründe, die einen Polen von der Lektüre russischer Literatur abhielten, schlussfolgerte Jabłonowski. Allerdings gebe es auch solche Autoren, die für den polnischen Leser durchaus eine erbauliche Lektüre bereithielten: „Są tacy, którzy do znienawidzenia tem lepszego wszystkiego, co carskie i państwowo-rosyjskie, znakomicie dopomódz nam mogą“ (PW Nr. 9/1900, 552).103 Schon drei Monate nach Jabłonowskis Artikel erschien im Przegląd Wszechpolski ein weiterer Artikel über ein Buch eines russischen Autors – diesmal über N. Bergs Geschichte der polnischen Aufstände (Zapiski o pol’skich zagovorach i vosstanijach). Es handelte sich hier genau genommen um die Besprechung einer historisch-politischen Arbeit von Berg, der in der russischen Literaturgeschichte nur einen bescheidenen Rang einnimmt (s.o. Kap. 2). Dennoch ist es auch in diesem Fall bemerkenswert, dass der strikte Boykott nicht verwirklicht wurde und Popławski – der Autor des Artikels – dies zu Beginn mit Bergs integrer Persönlichkeit und dem Inhalt des Buches rechtfertigte (PW Nr. 12/1900, 730 f.). Diese aufgeschlossenere Herangehensweise setzte sich auch in den Folgejahren fort und ging einher mit einem großen Interesse an der allgemeinen Entwicklung Russlands. Sowohl im Jahr 1902 als auch im Kriegsjahr 1904 erschien im Przegląd Wszechpolski eine ganze Artikelserie über Russland, in der sich ein neuer Blick auf das Land abzeichnete. Bisher, so sahen es die Autoren, hatte in Russland eine despotische Kaste geherrscht, die das breite Volk in tumber politischer Passivität gehalten und für die eigenen expansiven Ambitionen benutzt hatte. Nun beobachteten sie mit Faszination, wie es im Inneren Russlands rumorte, und wie sich wider Erwarten eine dem Zarentum nicht wohl gesonnene Kraft formierte. Dieser noch formlosen Opposition fehle allerdings ein positives Ideal – stattdessen schlage sie als Reaktion auf die lange Tradition der Fesselung durch den Staat ins andere Extrem über, d.h. in die Anarchie. Wiederholt äußerte sich der Przegląd Wszechpolski in diesen Jahren positiv über die russische Literatur. Diese habe in jüngerer Zeit „ungewöhnliche Vertreter“ hervorgebracht (niepospolici reprezentanci; PW Nr. 1/1902, 11) und sei insofern ein Spiegel der gesellschaftlichen Ereignisse, dass sie um einen Figurenkreis aus Despoten, Unfreien und Anarchisten kreise (PW Nr. 8/1902, 593) und gebrochene Menschen mit einem tiefen Unrechtsempfinden, aber ohne die Fähigkeit zu positiver Tätigkeit in den Mittelpunkt stelle (PW Nr. 6/1902, 424). Der Mangel an positiver
103 „Es gibt solche, die uns hervorragend dabei helfen können, alles Zaristische und StaatlichRussische noch besser zu hassen.“
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Kraft wurde von den nationalistischen polnischen Kritikern auch auf die Literatur selbst übertragen: (...) literatura rosyjska, która w utworach Tołstoja, Turgieniewa i Dostojewskiego, obecnie zaś Gorkija zaimponowała światu analizą psychologiczną, nieubłaganem obnażaniem sumienia, obciążonego grzechem, przekleństwem, i krzywdą, nareszcie nieznaną dotychczas w Europie nutą wschodniej rozpaczy, oraz litością dla zbrodni i prostytucyi, literatura ta nie zawiera dodatniego ideału narodowego, któryby świadczył o konstrukcyjnych właściwościach umysłu rosyjskiego, o zamiłowaniu Rosyanina w budownictwie stylowem i regularnem, o jędrnej i zdrowej tradycyi społecznej. Przeciwnie – świadczy ona ponuro i wymownie, że dusza rosyjska jest ciężko, może beznadziejnie chora (PW Nr. 6/1904, 409 f.).104
Mit Tolstoj und Puškin gebe es zwei typische Beispiele, schrieb in diesem Artikel der Publizist Bolesław Lutomski. Puškin sei zwar der russische Nationaldichter, habe der Nation in seinen Werken aber kein positives Ideal aufgezeigt, sondern nur die typisch russischen Eigenschaften Sehnsucht, Spott, Selbst- und Fremdverachtung – Eigenschaften, die auch der Herd des destruktiven Staatshandelns seien. Tolstoj dagegen sei zwar durch seine anarchischen Lehren das gerade Gegenteil eines Staatsdichters, habe aber außer seiner destruktiven Mission der „Staatszersetzung“ auch kein positives Angebot für sein Volk parat (PW Nr. 6/1904, 411 f.). Gerade Tolstoj, aber auch Autoren wie Čechov, Gor’kij und Turgenev fanden in diesen Jahren Anerkennung in der Literaturkritik polnischer Nationaldemokraten (z.B. PW Nr. 5/1902, 340; PW Nr. 12/1902, 895). Der Totalboykott der 1890er Jahre war damit abgemildert, aber die Beziehung zur russischen Literatur blieb dennoch gespalten, denn ein echter Wert wurde den russischen Autoren nur für ihren heimischen Kontext zugesprochen. Selbst wenn ein Buch also aus Sicht der polnischen Nationalisten für ein russisches Publikum brauchbar war, galt dies für ein polnisches Publikum noch lange nicht. Im Gegenteil: Der Einfluss russischer Bücher auf die Polen wurde weiterhin als grundsätzlich schädlich eingeschätzt. Ihre destruktive Essenz sei zwar heilsam für die Befreiung vom staatlichen Joch in Russland, nicht aber für die Polen, die nationale Einheit aus einer destruierten Situation erschaffen müssten. Entsprechend erschien die Lektüre russischer Bücher durch Polen nur dann unbedenklich, wenn der jeweilige Leser weltanschaulich aus104 „(...) die russische Literatur, die in den Werken von Tolstoj, Turgenev, Dostoevskij und gegenwärtig Gor’kij der Welt mit psychologischer Analyse, schonungsloser Entblößung des mit Sünde, Fluch und Schande belasteten Gewissens und schließlich einer bis dahin in Europa unbekannten Note östlicher Verzweiflung, Erbarmen für Verbrechen und Prostitution imponiert hat, diese Literatur enthält kein positives Nationalideal, das von konstruktiven Eigenschaften des russischen Geistes zeugen würde, von der Zuneigung des Russen zum stilgerechten und regelmäßigen Bauen, von einer frischen und gesunden gesellschaftlichen Tradition. Im Gegenteil – sie zeugt bedrückend und beredt, dass die russische Seele schwer, vielleicht hoffnungslos krank ist.“
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reichend widerständig gegen die schädlichen Tendenzen der Texte war. In diesem Sinne schrieb Lutomski über die Einflüsse der russischen Literatur auf die Polen: Wpływy te, o ile ich nie równoważą inne, ze świadomości i tradycyi narodowej pochodzące, są szkodliwe, przeczące i dezorganiczne, kiedy nam potrzeba dodatnich i organicznych. Proces przemiany wewnętrznej, jaki przechodzi i przechodzić powinno społeczeństwo polskie, jest wręcz odwrotny i różny od wewnętrznego procesu rosyjskiego. Tam trzeba rozkładać, u nas – skupiać. (…) Literatura rosyjska w głównych swoich objawach niesie nam zarazę anarchii wewnętrznej. Umysły nasze, któreby dla zasilenia się wymagały zdrowego pokarmu i wzoru do wewnętrznego układu, czerpią z niej rozstrój. Jest ona ciekawą, w niektórych momentach głęboką i potężną, lecz tylko inteligencya odporna i wykształcona obcować z nią potrafi bezkarnie (PW Nr. 6/1904, 414 f.; vgl. PW Nr. 5/1902, 336; PW Nr. 6/1902, 424).105
Während sich die Bereitschaft zur Wahrnehmung russischer Literatur und zur Anerkennung ihres künstlerischen und insbesondere gesellschaftlichen Werts auf die beschriebene Weise leicht wandelte, blieben die Nationaldemokraten konsequent in ihrer Ablehnung all jener russischen Institutionen, die in ihren Augen im Königreich Polen russische Literatur zur Russifizierung verbreiteten. Russisches Theater, Volksbibliotheken und die Schule beförderten in diesem Verständnis den russischen Plan, das polnische Geistesleben zu verderben und damit die russische Vorherrschaft zu stärken (PW Nr. 3/1902, 171; PW Nr. 5/1902, 344 f.). Entsprechend registrierte der Przegląd Wszechpolski z.B. mit Sorge die Besuche russischer Theatertruppen in polnischen Städten sowie die Gerüchte um die Einrichtung eines ständigen russischen Theaters in Warschau. Zur Abwehr der Gefahr für das polnische Theater wurde der Plan aufgebracht, dessen Finanzierung durch eine private Stiftung zu sichern. Insgesamt erschien die Bedrohung aber doch nicht als besonders groß, da die Polen sich von den Gastauftritten überwiegend fernhielten und die Einrichtung des ständigen russischen Theaters insofern als zu verlustbringend erschien (PW Nr. 11/1895, 172; PW Nr. 13/1895, 202; PW Nr. 4/1896, 85; PW Nr. 1/1902, 60 f.). Mit größerem Eifer wurde der Plan der Volksbibliotheken und der Nüchternheitskomitees diskutiert, die beide die russische Literatur an das einfache Volk herantragen sollten. Die Nationalisten verstanden dies nicht ohne Grund als eine direkte Konkurrenz zu ihren eigenen Bildungsinitiativen, die u.a. auch zur Gründung 105 „Diese Einflüsse, sofern sie nicht durch andere, aus nationalem Bewusstsein und Tradition kommende aufgewogen werden, sind schädlich, verneinend und desorganisierend, während wir positive und organisierende brauchen. Der Prozess innerer Umwandlung, den die polnische Gesellschaft durchläuft und durchlaufen muss, ist dem russischen gerade entgegengesetzt und von ihm verschieden. Dort muss man zersetzen, bei uns – versammeln. (...) Die russische Literatur bringt uns in ihren wichtigsten Erscheinungen die Seuche innerer Anarchie. Unser Geist, der zur Stärkung gesunde Nahrung und Muster innerer Ordnung bräuchte, zieht aus ihr Zerrüttung. Sie ist interessant, in manchen Momenten tief und machtvoll, aber nur eine widerständige und gebildete Intelligenz kann mit ihr schadlos umgehen.“
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kleiner Bibliotheken geführt hatten (vgl. PW Nr. 11/1897, 245 f.). Nationalisten und Russen begegneten sich hier also in direkter Konkurrenz um die Lektüresteuerung der polnischen Landbevölkerung, und es versteht sich, dass Dmowski und seine Leute die russischen Volksbibliotheken nach Kräften als Mittel der Russifizierung geißelten. Ihr Zweck sei es, dem polnischen Bauern literarisch ein anderes Vaterland als Polen vorzugaukeln – und wenn die russische Belletristik sogar auf Teile der polnischen Intelligenz einen negativen Einfluss habe, müsse man tatsächlich ernsthaft um das Wohl der polnischen Landbewohner fürchten (PW Nr. 20/1897, 458 f.; PW Nr. 13/1898, 199; PW Nr. 5/1899, 290 f.). Als Instrument der Russifizierung wurde letztlich auch der Unterricht russischer Literatur in der Schule gedeutet. Die Prüfungen zur Literatur seien für den Lehrer nur ein Vorwand, um die Schüler auf ihre Weltanschauung zu prüfen, schrieb Dmowski persönlich in einem langen Artikel über die russische Schule im Königreich Polen. Echte Bildung über Literatur vermittle sie aber weder in Bezug auf Russland noch im Allgemeinen (PW Nr. 21/1895, 331 f.; Doppelnummer PW Nr. 22–23/1895, 347; vgl. PW Nr. 10/1900, 592). Dass es dennoch um die Jahrhundertwende Anzeichen für die Stabilisierung von literaturverbundenen russischen Institutionen im Königreich Polen gab, deuteten die Nationaldemokraten als eine Schwäche der polnischen Boykottmentalität: „Te (...) księgarnie, czytelnie i teatry (...) są widomym dowodem naszego niedbalstwa i obojętności, naszego niedołęztwa lub znikczemnienia“ (PW Nr. 5/1896, 100).106 Es war ein Novum, dass die Nationaldemokraten diesem Zustand nun auch aktiv begegnen wollten. So schrieb der Przegląd Wszechpolski in Bezug auf die Volksbibliotheken: „(...) nietylko nie należy ich popierać, ale, przeciwnie, trzeba im przeciwdziałać“ (PW Nr. 24/1897, 557).107 Das Mittel der Wahl war in diesem Fall eine intensivierte eigene Bildungstätigkeit im Volk und verstärkter Schmuggel illegaler polnischer Drucke in das russisch besetzte Gebiet. Ähnliches tat sich beim russischen Theater. So hatten schon im März 1891 nationalistische Jugendliche (auf Dmowskis Initiative) vor dem Gastauftritt einer russischen Truppe in Warschau im Theatersaal stinkende Chemikalien vergossen und später sogar die aus dem Theater kommenden Besucher attackiert, indem sie ihnen Chemikalien auf die Kleidung spritzten (Garlicki 1966, 423). Vergleichbare Aktionen wiederholten sich in den Folgejahren, und auch Aktionen in den Schulen wie anlässlich des Gogol’-Jubiläums unterstützten junge Nationalisten (vgl. PW Nr. 4/1902, 307; PW Nr. 1/1903, 4). Insgesamt betrachtet lässt sich erkennen, dass das Konzept des radikalen Boykotts in Widerspruch zur eigenen Faszination für die russische Literatur geriet. 106 „Diese (...) Buchhandlungen, Lesehallen und Theater (...) sind ein offenkundiger Beweis unserer Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit, unserer Unzulänglichkeit oder Niedertracht.“ 107 „(...) man muss sie nicht nur nicht unterstützen, sondern im Gegenteil, man muss ihnen entgegenwirken.“
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Zumindest für die Gesamtbewegung wollten die Nationaldemokraten jedoch auf einer Abkehr von der russischen Kultur bestehen. In ihrem 1903 neu formulierten Programm wurde deshalb festgeschrieben, dass zur Verteidigung und Stärkung der kulturellen Eigenständigkeit alle russischen Angewohnheiten aus dem polnischen Leben ausgemerzt und jedweder russischen Kulturtätigkeit im Königreich Polen entgegengewirkt werden sollte (Program stronnictwa demokratyczno-narodowego w zaborze rosyjskim, PW Nr. 10/1903, 751). Insgesamt wird so deutlich, dass es nicht den Boykott gab, sondern unterschiedliche Formen der Zurückhaltung gegenüber russischer Literatur. Grundsätzlich scheinen viele Polen ihr gegenüber sogar aufgeschlossen gewesen zu sein, sofern sie nicht im Gefolge russischer Politik daherkam. Dies gilt sowohl für die Sozialisten als auch für die politisch weniger radikale Bevölkerung. Ab einer gewissen Schmerzgrenze griffen im öffentlichen Leben gleichwohl Boykottmechanismen, wobei nicht zu erkennen ist, dass es dabei eine organisierende Kraft gegeben hätte. Man kann insofern von einem instinktiven Boykott sprechen, und gerade aus diesem Grund ist es bemerkenswert, wie umfassend die Verweigerung nötigenfalls aus einem stillen Konsens heraus sein konnte. Den Versuch einer Institutionalisierung des Boykotts erkennt man erst im Lager der Nationaldemokraten, die entsprechendes Verhalten in ihrem Programm festschrieben. Eine Radikalisierung erfuhr er dort aber auch durch die auf der nationalistischen Ideologie aufbauende Totalverweigerung, sowie später durch die aktive Widerstandskomponente. Zwar kennzeichnete ein aktivistischer Geist auch die sozialistische Bewegung, doch richtete dieser sich nicht derart explizit gegen die russische Literatur.
4. Die Anhänger eines Ausgleichs mit Russland 4.1 Kultur im Konzept eines Ausgleichs mit Russland Die Tradition des Kampfes gegen die Teilungsmächte und des damit verbundenen Boykotts stehen in der polnischen Erinnerung an das 19. Jahrhundert fraglos im Vordergrund. Allerdings bestand Polen in dieser Zeit weder allein aus eingefleischten Widerständlern noch aus einer einheitlichen Boykottfront. Stattdessen gab es seit Beginn der Teilungen auch Polen, die sich mit der Lage und den neuen Herrschern arrangierten und sich für eine friedliche Koexistenz aussprachen (Chwalba 2005, 25 ff.). Für die Zeit nach dem Januaraufstand wird dabei im russischen Teilungsgebiet der Begriff des „Ausgleichs“ zentral (poln. ugoda/ru. primirenie). Der Historiker Andrzej Szwarc, Autor der maßgebenden Studie zu diesem Thema (Szwarc 1996), definiert diesen politischen Ansatz als Streben nach einer möglichst konkreten Übereinkunft mit der russischen Regierung, die den Polen umfassende sprachliche, religiöse und administrative Rechte bringen sollte. Zum Ausgleichslager zählt Szwarc aber auch all jene Polen, die in diesen Jahren mit weniger klaren Vorstellungen eine polnisch-russische Annäherung insbesondere auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene befürworteten (Szwarc 1996, 13). In jedem Fall akzeptierten die Befürworter eines Ausgleichs die dauerhafte Zugehörigkeit des russischen Teilungsgebiets zum russischen Staat. „Odrębność narodowa, wspólność państwowa“ lässt sich das Programm in vier Worten zusammenfassen (Piltz 1898, 101).108 Konkret bedeutete dies sowohl das Bemühen um die politische, kulturelle und wirtschaftliche Stärkung der polnischen Gebiete als auch die politische, kulturelle und wirtschaftliche Annäherung an Russland.109 Nach dem Januaraufstand erreichten derartige Anschauungen eine erhebliche Reichweite. In den unteren und mittleren Schichten, insbesondere unter den Bauern, hatte schon während des Aufstands eine große Skepsis gegen die bewaffnete Konfrontation geherrscht. Nach dem Aufstand setzte die russische Politik gezielt an dieser Stelle an und versuchte, die Bauern durch Reformen für das Zarenhaus einzunehmen. Entsprechend ist der Einschätzung zuzustimmen, dass in den mittleren und unteren Schichten bald nach dem Aufstand eine „wenn nicht untertänige, so doch ausgleichlerische“ Stimmung dominierte (postawa jeśli nie wiernopoddańcza, to ugodowa; Kaczyńska 2001, 177). Es handelte sich hierbei allerdings um eine Stimmung im eigentlichen Sinne, d.h. nicht um eine politisch reflektierte 108 „Nationale Eigenständigkeit, staatliche Einheit“. 109 Zur Programmatik des Ausgleichslagers siehe ausführlich in Kidzińska 2007, 26 ff.; Kmiecik 1969a, 181 ff.; Szwarc 1996.
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Unterstützung von Ausgleichsbestrebungen – die Teilhabe der unteren Schichten am politischen Geschehen war in diesen Jahren weder erwünscht noch angesichts der hohen Analphabetenraten überhaupt möglich (vgl. Blejwas 1984, 58; Hoensch 1998, 221). Wichtiger ist insofern die Positionierung der großen politischen Lager, d.h. der Liberalen und der Konservativen. Beide Gruppen distanzierten sich nach der Niederschlagung des Januaraufstands von gewalttätigen Lösungen der Polenfrage und rückten als Alternative gleichermaßen den Begriff der „Organischen Arbeit“ in den Mittelpunkt ( Jaszczuk 1986, 8). Gemeint war damit die friedliche und legale Arbeit am „Organismus“ der Nation, z.B. durch Bildungsinitiativen und wirtschaftliche Aktivitäten. Organische Arbeit war nicht gleichbedeutend mit einem Ausgleich mit Russland, und nicht wenige Befürworter organischer Arbeit lehnten jegliche Kooperation mit den Teilungsmächten ab (vgl. Kieniewicz 1964, 23 ff.). Dennoch ist klar, dass sich die friedliche Aufbauarbeit nur schwer bei einem gleichzeitigen Konfrontationskurs mit den Behörden verwirklichen ließ. Zumindest eine maßvolle Annäherung an die Fremdherrscher scheint somit für alle Anhänger der organischen Arbeit schwer vermeidbar gewesen zu sein, weshalb es wiederum nicht weit war bis zur Unterstützung von Gedanken mit deutlichem Ugoda-Einschlag. So schrieb z.B. der Historiker Marek Czapliński über die organische Arbeit: „Prawda, że z drogą tą łączyła się olbrzymia pokusa ugodowości, pokusa, której wielu ideologów i praktyków pracy organicznej uległo“ (Czapliński 2001, 131).110 Zum gleichen Ergebnis kam sein Kollege Henryk Michalak: Taktyka legalności przy jednoczesnym wykonywaniu obowiązków „obywatela“ obcego państwa w sferze życia codziennego musiała prowadzić do postaw ugodowych, konformistycznych, a nawet w szczególnych przypadkach apostazji narodowej (Michalak 1985, 247 f.).111
Der Ausgleich mit Russland war also weder originärer Bestandteil der liberalen noch der konservativen Ideologie, doch gab es in beiden Lagern eine erhebliche Resonanz des Konzepts (Ludwikowski 1991, 190; Szwarc 1987a). Zumindest zeitweise gelang es auch, diese Stimmung in die Öffentlichkeit zu tragen – so insbesondere in den Jahren um die Jahrhundertwende, in denen u.a. der Besuch des Zaren in Warschau (1897) und der 100. Geburtstag Aleksandr Puškins (1899) Anlass zu Feierlichkeiten mit großer öffentlicher Anteilnahme waren (Sobczak 1999, 157). Angesichts dessen überrascht es, dass das Hauptziel des Ausgleichslagers – politische Konzessionen von der russischen Seite – nicht erreicht wurde. Zum einen 110 „Tatsächlich war mit diesem Weg die enorme Versuchung des Ausgleichlertums verbunden, eine Versuchung, der viele Ideologen und Praktiker der organischen Arbeit erlagen.“ 111 „Die Taktik der Legalität bei gleichzeitiger Ausübung der Pflichten des ‚Bürgers’ eines fremden Staats im Alltagsleben musste zu ausgleichlerischen, konformistischen Haltungen führen, und in einigen Fällen sogar zur Aufgabe der nationalen Identität.“
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lässt sich dies durch organisatorische Probleme erklären: Die Ugoda-Befürworter gehörten politischen Lagern an, die über andere Fragen zerstritten waren ( Jaszczuk 1986) und unterlagen zudem dem weitgehenden Verbot politischer Aktivität, das bis 1905 im Königreich Polen galt (Kulak 2001, 139). Zum anderen erzeugten die vielen ab den 1860er Jahren publizierten Broschüren, Bücher und Artikel mit ausgleichlerischem Inhalt, aber auch z.B. das ungewöhnlich geschlossene Auftreten von Ausgleichsbefürwortern aller Couleur anlässlich des Zarenbesuchs in Warschau 1897 auf der russischen Seite keinerlei relevante Reaktion. Dort war man nach dem Scheitern des Autonomie-Experiments zu Beginn der 1860er Jahre und dem Januaraufstand zu dem Ergebnis gekommen, dass man die Befriedung Polens lieber mit eigenen Kräften und auf kompromisslose Weise vornehmen sollte: „carat (…) nie chciał żadnej ugody, [a] domagał się kapitulacji“ (Karpiński 1994, 56).112 Dass die organisierte politische Arbeit den ausgleichsorientierten Kräften aufgrund der Umstände fast unmöglich war, bedeutete allerdings nicht das Ende ihrer Aktivitäten. In dem Maße, wie die Politik in den Hintergrund treten musste, schob sich stattdessen die Kultur mit in den Vordergrund. Diese Tendenz wurde insbesondere ab den 1880er Jahren deutlich, als in der ausgleichlerischen Publizistik entsprechende Akzente gesetzt wurden. Die Frage nach der Beziehung von polnischer und russischer Kultur hatte sich schon direkt nach dem Januaraufstand in den politischen Schriften abgezeichnet. Aus ihnen wird deutlich, wie aus dem politischen Ziel eines polnisch-russischen Zusammengehens stets die Frage folgte, welche Beziehung die Polen dann zur russischen Sprache und Kultur einnehmen sollten. Verschiedene Autoren kamen damals zu dem Ergebnis, dass insbesondere der Erwerb der russischen Sprache für die Polen sinnvoll wäre, um so den Weg in die russische Staatsverwaltung und Wirtschaft zu ebnen. Vorausgesetzt war dabei jeweils, dass die Polen eine angemessene Autonomie erhalten würden (Karpiński 1994, 118; 122; Mikoszewski 1872, 9 ff.). Insgesamt blieb aber eher unklar, wie das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitskultur aussehen sollte. In dieser Situation erschien 1872 in Dresden eine Broschüre des polnischen Politikers Kazimierz Krzywicki, die zu diesem Thema radikale Antworten lieferte (Polska i Rossya w 1872 r.). Krzywicki sprach sich in seiner Abhandlung unmissverständlich für ein Zusammengehen der Polen mit Russland aus, wobei er seinen Betrachtungen eine darwinistisch anmutende Geschichtsphilosophie vorausschickte. Die Geschichte, so Krzywicki, kehre nie zum Ausgangspunkt zurück, sondern entwickle sich zu immer vollkommeneren Einheiten. Dabei sei es völlig natürlich, dass einzelne Gruppen in diesem Prozess ihre alte Ordnung aufgeben und zu Gunsten des menschlichen Zivilisationsfortschritts in den höher entwickelten Einheiten aufgehen müssten (Krzywicki 1872, 3 f.). Konstanter Faktor in der Menschheits112 „Das Zarentum (...) wollte keinerlei Ausgleich, [sondern] forderte die Kapitulation.“
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entwicklung sei derweil immer die Zugehörigkeit des Menschen zur allgemeinen menschlichen Gesellschaft. Konkret sah Krzywicki dieses Prinzip im Entstehen und Vergehen von Staaten und Nationen walten: Eine Nation, die ihre eigene staatliche Existenz verliere, könne ihre äußerlichen Züge ablegen und in einen anderen Staat wieder einfließen, um dort als Teil der Gesellschaft die menschliche Entwicklung voranzubringen (Krzywicki 1872, 4). Die Polen sah er nun genau an diesem Punkt angekommen, da sie sich mutig vom alten Vaterland verabschieden müssten, wobei ihm Russland aufgrund der verwandten slavischen Kultur als bestes „Aufnahmevolk“ erschien (Krzywicki 1872, 7; 33). Was nun die polnische Kultur betraf, so sah Krzywicki in ihr den vielleicht wichtigsten Hinderungsgrund der von ihm gewünschten Union: „Niestety, nic dotąd zwyczajniejszego wpośród nas nad okrzyk: my, Polacy, łączyć się mamy z Rossyą! A co będzie z cywilizacyą naszą zachodnią, z naszą narodowością, językiem?!“ (Krzywicki 1872, 52 f.).113 Als Antwort darauf erinnerte Krzywicki an biblische Zeiten und die unselige Rolle, die seit dem Turmbau zu Babel die Sprachenpluralität spiele: Języki, języki, języki! poczęto ze wszech stron wołać. Nie o to już pytano: jaki to człowiek? ale: jakim mówi językiem? (…) Nie o to: jaka nauka? ale: w jakim traktuje się języku? (...) Czy te dawne czasy nie powtarzają się z dziwną analogią w dzisiejszych? (Krzywicki 1872, 53).114
Krzywickis Argumentation lief darauf hinaus, dass die Nationalität und ihre Ausdrucksformen hinter den allgemeinmenschlichen Eigenschaften zurückstehen müssten und dass also auch die polnische Nationalität und ihre Kultur ohne großes Bedauern dem Aussterben preisgegeben werden könnten: „Tak więc, już nie jako Polacy, jako ludzie przychodzimy do narodu rossyjskiego“ (Krzywicki 1872, 71).115 Die polnische Sprache und implizit die polnische Kultur könnten demnach abgelegt werden, sofern sich dies auf naturgesetzliche Weise vollzöge (Krzywicki 1872, 54 ff.). Es überrascht nicht, dass Krzywickis Broschüre auf seine Landsleute einen fatalen Eindruck machte. Die Reaktionen waren durchweg negativ und häufig von Empörung gekennzeichnet. So schrieb der galizische Publizist Stefan Buszczyński: „Tacy ludzie powinni być wyrzuceni ze społeczeństwa. (...) Potrzeba utworzyć 113 „Leider gibt es bei uns bis dato nichts Üblicheres als den Aufschrei: Wir, die Polen, sollen uns mit Russland verbinden! Und was wird aus unserer westlichen Zivilisation, unserer Nationalität, der Sprache?!“ 114 „Sprachen, Sprachen, Sprachen!, begann es von allen Seiten zu rufen. Man fragte schon nicht mehr: Was ist das für ein Mensch? Sondern: Was für eine Sprache spricht er? (...) Nicht: Was für eine Lehre? Sondern: In welcher Sprache ist sie? (...) Wiederholen sich diese alten Zeiten nicht in einer seltsamen Analogie heute?“ 115 „Also schon nicht mehr als Polen, als Menschen kommen wir zum russischen Volk.“
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pręgierz osobny dla zapisywania ich imion i podania na pogardę potomności“ (Buszczyński 1872, 32).116 Krzywickis Thesen forderten auch eine Reaktion der Befürworter eines Ausgleichs mit Russland heraus, die ja zumindest geographisch mit Krzywicki in dieselbe Richtung schritten. Aber waren auch sie bereit, dem Bund mit Russland die polnische Kultur zu opfern? Direkten Bezug auf Krzywicki nimmt u.a. die Abhandlung „Unser Banner gegen einen neuen Targowica-Bund in Polen“ (Nasz sztandar w obec zawiązku nowej Targowicy w Polsce) des polnischen Juristen und Politikers Antoni Wrotnowski. Auch wenn Wrotnowski grundsätzlich der Meinung war, dass zwischen polnischer und russischer Literatur, Kunst, Sprache etc. enorme Unterschiede bestünden, sah er ein Zusammengehen mit Russland doch als sinnvollste politische Option an, sofern Russland den Polen angemessene Autonomie gewähren würde (Wrotnowski 1873, 37; 50; 58). Den Versuch, das polnische Volk zu russifizieren, hielt Wrotnowski dabei aber für vollkommen utopisch. Die polnische Nation bestehe weiter, so Wrotnowski, und auch wenn man der Idee eigener Staatlichkeit abschwöre, sei es umso mehr die Aufgabe der Polen, das „Banner des polnischen Geistes“ (sztandar ducha polskiego) hochzuhalten, d.h. die Bewahrung und Entwicklung des geistigen Erbes der Nation (Wrotnowski 1873, 6; 27; 73 f.). Wrotnowski sprach sich also für eine Integration Polens nach Russland aus, setzte dabei aber anders als Krzywicki den Bestand und die Autonomie der polnischen Kultur voraus. Wie indes dann die Beziehung zur russischen Kultur aussehen konnte, zeigt die ebenfalls als Antwort auf Krzywicki verfasste Abhandlung „Selbstmordpolitik“ (Polityka Samobójstwa) des Juristen Włodzimierz Spasowicz (1872). Auch wenn die Polen sich aufgrund der politischen Lage anderen Staaten anschließen müssten, sei das beileibe kein Bekenntnis zur Aufgabe der eigenen Sprache und Kultur, so Spasowicz (Nachdruck in Kraj Nr. 50/1883, 7). Zwar sei die Wiedererlangung der Staatlichkeit in absehbarer Zeit unrealistisch und solle auch nicht verfolgt werden. Gleichwohl sei organische Arbeit für die Entwicklung der eigenen Nation geboten, denn das Ende der Eigenstaatlichkeit bedeute nicht das Ende der Nation, sondern im Falle der Polen die Verpflichtung, das eigene kulturelle Erbe zu pflegen. Dies sollte aber auch im Kontakt mit anderen Völkern geschehen: Oddajmy państwu wszystko, co się państwu należy, prosto, szczerze, bez ogródek: obcujmy z niemcami, węgrami, rosyanami, państwowo, umysłowo i ekonomicznie; a obcowanie i współzawodnictwo nasze, szczególniej z rosyanami, w tych zakresach będzie niesłychanie dla obu stron pożyteczne. Nam konieczność nakazuje poznać jak najdokładniej tych, wśród których jesteśmy, i wśród których liczebnie giniemy, jako kropla w morzu (...); ale i oni przyjr116 „Solche Leute sollte man aus der Gesellschaft herauswerfen. (...) Man muss einen besonderen Pranger aufstellen, um ihre Namen zu verzeichnen und der Nachwelt zur Verachtung preiszugeben.“
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zawszy się nam z bliska, przekonają się, że jest i w nas coś więcej nad szlachetczyznę albo religijny obsukurantyzm, o który nas hurtem pomawiają (zitiert nach Kraj Nr. 52/1883, 7).117
Über die Kritik an Krzywicki kam Spasowicz also zu einem eigenen Verständnis der zukünftigen kulturellen Beziehungen von Polen und Russen. Wie Krzywicki forderte er, dass die Polen sich der russischen Kultur öffnen sollten – allerdings allein aufgrund der unabwendbaren Tatsache, dass ein großer Teil der Polen in Zukunft in Russland leben würde. Die eigene Kultur sollten sie dennoch behalten – und diese sogar an die Russen herantragen, um das Leben im gemeinsamen Staat auf gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Wertschätzung gründen zu können. Spasowicz vereinte in seiner Schrift damit drei Elemente: Ausgleich mit der Teilungsmacht, begrenzte Annahme der Kultur der Teilungsmacht und Bewahrung der eigenen Kultur. Die Broschüren von Wrotnowski und Spasowicz zeigen, wie die Diskussion über Krzywickis Thesen das Kulturverständnis der Ausgleichler klarer konturierte und letztlich in eine Form brachte, die es in den folgenden Jahrzehnten behalten sollte: Kulturaustausch auf der Grundlage kultureller Autonomie. Die polnische Kultur sollte gewahrt und gleichzeitig der russischen offen begegnet werden (vgl. z.B. Piltz 1898, 92; Tyszkiewicz 1895, 155). Doch auch wenn sich Ausgleichsbefürworter immer wieder zu diesen Maximen bekannten, kam es in diesem Bereich kaum zu konkreten Maßnahmen. Exponierte Vertreter des Ausgleichslagers wie Zygmunt Wielopolski und Ludwik Górski fielen nicht durch Aktivitäten auf, die einem russisch-polnischen Kulturaustausch dienten, sondern konzentrierten sich auf (im engeren Sinne) politische Fragen und die Wirtschaft. Dennoch waren es das Kulturverständnis des Ausgleichs und die stark begrenzten Möglichkeiten zum politischen Handeln, die das größte Projekt zur Bekanntmachung russischer Literatur unter den Polen hervorbrachten: die polnische Zeitung Kraj, die ab 1882 in St. Petersburg erschien.
4.2 Włodzimierz Spasowicz und der „Kraj“ Mit dem Kraj rückt erneut Włodzimierz Spasowicz in den Blickpunkt, der für den polnisch-russischen Kulturaustausch nach 1864 die zentrale Figur war. Aufgrund seiner Biographie war er für diese Rolle prädestiniert. 1829 wurde Spasowicz in 117 „Geben wir dem Staat alles, was ihm zusteht, geradezu, ehrlich, ohne Vorbehalte: Verständigen wir uns mit den Deutschen, Ungarn, Russen, staatlich, geistig und wirtschaftlich; und die Verständigung und unser Wettbewerb, besonders mit den Russen, wird in diesen Bereichen für beide Seiten unerhört nützlich sein. Die Notwendigkeit gebietet uns, so genau wie möglich jene kennen zu lernen, unter denen wir leben, und unter denen wir zahlenmäßig verschwinden wie ein Tropfen im Meer (...); aber auch sie werden, wenn sie uns aus der Nähe betrachten, sich davon überzeugen, dass auch in uns mehr ist als Adligkeit und religiöser Obskurantismus, die man uns gemeinhin nachsagt.“
Włodzimierz Spasowicz und der „Kraj“
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Minsk geboren, d.h. in einer Stadt, die im kulturellen Grenzgebiet zwischen Polen und Russland lag. Seine Eltern und das soziale Umfeld der Familie waren polnisch geprägt, aber er besuchte eine russische Schule (Kulczycka-Saloni 1975, 13); sein Vater und er selbst waren orthodox getauft, seine Mutter und Schwester dagegen katholisch ( Jaszczuk 1999, 42 f.). Dieser von Kindesbeinen gewohnte Wandel zwischen zwei Welten fand seine Fortsetzung im späteren Leben: Während des Jura-Studiums in St. Petersburg verkehrte er zunächst vor allem mit polnischen Kommilitonen (Bazylow 1984, 292), fand dann aber im Hause seines Professors und Mentors Kavelin ab 1857 auch Anschluss an die russische Intelligenz (Kulczycka-Saloni 1975, 16 f.). Beruflich machte Spasowicz in Russland als Professor für Strafrecht an der Petersburger Universität und danach als Strafverteidiger Karriere, in Polen dagegen engagierte er sich u.a. als Herausgeber der Warschauer Wissenschaftszeitung Ateneum. Spasowiczs politische Heimat war das Umfeld der russischen Liberalen in St. Petersburg (Sławęcka 1969, 20), aber seine besondere Bekanntheit rührte (vor allem in Polen) aus seinem Engagement für die polnisch-russische Aussöhnung. Ausgehend von liberalen Ideen der Freiheit des Einzelnen und einer verfassungsgebundenen Staatsmacht profilierte er sich als Vertreter des liberalen Ugoda-Flügels, dessen wichtigste Figur er über Jahrzehnte blieb. In Russland warb er so für eine Lockerung der russischen Polenpolitik und bemühte sich, in der Intelligenz Achtung für die polnische Kultur zu wecken. In Polen dagegen versuchte er, seine Landsleute von der Notwendigkeit eines friedlichen Einsatzes für die nationalen Rechte zu überzeugen und gleichzeitig Anerkennung für die russische Kultur zu wecken. Spasowiczs bemerkenswert un-nationalistische Art irritierte seine Zeitgenossen bis hin zu der Frage, ob er die Russifizierung der Polen oder die Polonisierung der Russen betreibe (Kraj Nr. 11/1895, 16). Spasowicz verstand sich indes als Pole und suchte nicht mehr und nicht weniger als eine Annäherung beider Nationen auf der Grundlage gegenseitigen Respekts. Neben seiner politischen Leidenschaft kennzeichnete Spasowicz dabei eine aufrichtige Begeisterung für Literatur, mit der er sich auf professionelle Weise befasste. So gilt Spasowicz als einer der wichtigsten polnischen Literaturkritiker der Zeit um 1900 (Frybes 1959, 425), als Patron der polnischen Russistik und als Begründer der polnischen Puškin-Forschung (Sławęcka 1969, 19; 66). Dabei ist nicht zu übersehen, wie sich bei ihm auch in Bezug auf die Literatur Polen und Russland mischten. So kannte er aus St. Petersburg viele russische Autoren persönlich, u.a. Nikolaj Černyševskij, Ivan Turgenev, Petr Boborykin, Vladimir Solov’ev und Vladimir Korolenko (Kulczycka-Saloni 1975, 17; Kmiecik 1969a, 381 f.; vgl. Spasowicz 1981, 273). Auf polnischer Seite dagegen hatte er u.a. Kontakt zu den Schriftstellern Eliza Orzeszkowa und Józef Ignacy Kraszewski sowie zu dem bekannten Literaturwissenschaftler und -kritiker Piotr Chmielowski (Kulczycka-Saloni 1975, 173 f.).
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Das Bestreben, zwischen den beiden Welten auch mit Hilfe der Literatur zu vermitteln, wird in Spasowiczs Biographie und in seinen Schriften immer wieder deutlich. Als frühes Beispiel ist hier insbesondere seine Mitarbeit an der „Geschichte der slawischen Literaturen“ des russischen Literaturwissenschaftlers Aleksandr Pypin zu nennen, die 1865 – also nur zwei Jahre nach dem Januaraufstand – veröffentlicht wurde. Spasowicz schrieb das Kapitel über die polnische Literatur. Später erläuterte er, dass er darin versucht habe, dem russischen Publikum die speziellen nationalen Eigenheiten und Ideale der Polen näher zu bringen und damit Verständnis und Zuneigung zu ihnen zu wecken. Er ging dabei davon aus, dass sich die Eigenschaften einer Nation in besonderer Weise in ihrer Literatur spiegeln, so dass die Kenntnis der Literatur eines Volkes zwangsläufig das Verständnis für deren Wesen fördern müsste. Entsprechend positiv musste es auf die polnisch-russischen Beziehungen wirken, wenn sich die Russen die polnische Literatur erschließen würden: „(...) tym samym zrobiony by był olbrzymi krok naprzód na drodze wzajemnego poważania, a więc i zbliżenia dwu cywilizacji, przedzielonych dotąd chińskim murem przesądów“, so Spasowicz (1981, 87).118 In diesem Sinne betrieb Spasowicz Literaturkritik auch in den folgenden Jahren, insbesondere in seinen komparatistischen Arbeiten zu Mickiewicz und Puškin, mit denen er für die Puškin-Forschung Neuland betrat (Sławęcka 1969, 73). Angesichts dieser Vorgeschichte überrascht es nicht, dass Spasowicz auch von Beginn an im Umfeld der polnischen Wochenzeitung Kraj zu finden war, die bald zum wichtigsten Organ des Ausgleichslagers wurde. Grundsätzlich gab es in diesen Jahren mehrere Zeitungen, die politisch dieser Richtung zuzuordnen sind, so in den 1880er Jahren die Warschauer Chwila und ab Mitte der 1890er Jahre das Słowo (Szwarc 1996, 18). Trotz gewisser ideologischer Überschneidungen profilierten sich diese Blätter allerdings unterschiedlich. Das Słowo legte seinen Schwerpunkt auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen aus konservativer Perspektive und konzentrierte sich im Kulturteil auf Polen (Kmiecik 1969b, 311). Die Chwila dagegen, durch ihre Russland gegenüber besonders loyale Tonart eine der umstrittensten Zeitungen dieser Zeit überhaupt, argumentierte für den Ausgleich mit Russland vor allem durch die Überzeichnung der Germanisierung in Posen (Szwarc 1987b, 34). Zwar artikulierten auch Artikel der Chwila sowohl Achtung vor der russischen Kultur als auch die Forderung nach Respekt vor der polnischen Kultur – also ganz im Sinne des Ugoda-Kulturverständnisses (z.B. Chwila Nr. 65/1885, 1; Chwila Nr. 69/1885, 3; vgl. Szwarc 1987b, 36). In größerem Umfang wurde russische Kultur dort aber nicht vermittelt. Ohnehin existierte die Zeitung nur ein Jahr lang (Oktober 1885–Oktober 1886). 118 „(...) damit wäre ein enormer Schritt auf dem Weg der gegenseitigen Wertschätzung getan, und somit zur Annäherung von zwei Zivilisationen, die bisher von einer Chinesischen Mauer aus Vorurteilen getrennt sind.“
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Was die Motivation für die Gründung des Kraj war, lässt sich heute nicht mehr eindeutig sagen. Hatte Spasowicz die Idee? Entsprang sie dem Kreis der Warschauer Positivisten? Sicher ist, dass ab 1879 der polnische Journalist Erazm Piltz in St. Petersburg in mehreren Eingaben an die Zensurbehörden um die Gründung einer polnischen Zeitung in der russischen Hauptstadt nachsuchte. Piltz, der dem liberalen Milieu in Warschau entstammte und dort die erste positivistische Tageszeitung Nowiny geleitet hatte, kündigte dabei ein politisch gemäßigtes und fortschrittsorientiertes Profil an, gerichtet nicht zuletzt auf die Verständigung von Polen und Russen (Kmiecik 1969a, 30 f.). Diese Maximen kommunizierte er nach der Genehmigung des Projekts auch deutlich an seine Leser. Die Polen sollten konzentriert an der moralischen, geistigen und ökonomischen Wiedergeburt arbeiten, schrieb er bezüglich der Innenpolitik (Kraj Nr. 19/1883, 1). Gleichzeitig stellte er klar, dass die Polen allen Ambitionen auf die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit entsagen sollten (Kmiecik 1969a, 185; 194). Für weitergehende politische Aussagen war der Spielraum gerade in den ersten Jahren äußerst begrenzt. Auch dies war eine Folge des Zulassungsverfahrens für die Zeitung, in dem die Zensur zur Bedingung gemacht hatte, dass Fragen der russischen Polenpolitik im Kraj keine große Rolle spielen sollten. Dementsprechend hatte Piltz gegenüber den Zensurbehörden erklärt, dass er mit seiner Zeitung einen Beitrag zur Aussöhnung von Polen und Russen leisten wolle und insbesondere auch die polnische Gesellschaft mit dem öffentlichen und literarischen Leben Russlands bekanntmachen wolle (Kmiecik 1969a, 39). Die Kultur spielte u.a. aus diesem Grund von Beginn an eine enorme Rolle im Kraj.
4.3 Strategien für die Annäherung durch Literatur im „Kraj“ Literatur wurde im Kraj über die Jahre in unterschiedlichen Rubriken präsentiert: Teils im durch eine Linie abgetrennten Unterteil der Seiten (sog. odcinek), dem klassischen Ort des Feuilletons in diesen Jahren, teils in den Korrespondenzen aus unterschiedlichen Städten und Ländern, teils dann aber auch in einem mehrseitigen separaten Kulturteil. Grundsätzlich vermittelte der Kraj einen Überblick über die gesamte europäische Literatur. Aufmerksam wurde insbesondere die französische Literatur verfolgt, regelmäßig gab es hierzu Berichte aus Paris sowie Studien und Primärtexte zu Autoren wie Alexandre Dumas, Victor Hugo und Alfons Daudet. Beachtung fanden aber auch andere Autoren (z.B. Gerhart Hauptmann, Hermann Sudermann, Henrik Ibsen, August Strindberg, Francis Brett Harte) sowie praktisch alle slavischen Literaturen (z.B. Ivan Franko, Jan Neruda, Jovan Jovanović Zmaj). Dass auch polnische und russische Literatur zum Zweck eines kulturellen Austauschs eine wichtige Rolle spielen würden, hatte die Redaktion – ganz im Sinne
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der Verpflichtungen gegenüber der Zensur – schon in der ersten Ausgabe angekündigt: W rubryce „Przegląd prasy“ i w innych działach Kraju, znajdzie dziennikarstwo rosyjskie dość materyału dla obeznania się z różnemi kierunkami i poglądami polskiego społeczeństwa. Z drugiej strony będziemy podawali, również o ile można szczegółowy, przegląd prasy i literatury rosyjskiej, żeby dać czytelnikom Kraju możność rozejrzenia się we wszystkich przejawach politycznego, społecznego i umysłowego życia Rosyi, znajomość którego (…) stała się naszym politycznym obowiązkiem (Kraj Nr. 1/1882, 1).119
In diesem Zweiklang von polnischer und russischer Kultur gebührte ersterer von Beginn an der Vorrang und der Kulturteil bewegte sich in diesem Bereich sofort auf hohem Niveau. Noch im ersten Jahrgang wurden Primärtexte von wichtigen polnischen Schriftstellern wie Maria Konopnicka, Eliza Orzeszkowa und Bolesław Prus abgedruckt (u.a. Kraj Nr. 7/1882, 11; Kraj Nr. 25/1882, 2 ff.; Kraj Nr. 26/1882, 16 f.). In späteren Jahren folgten dann praktisch alle namhaften Autoren dieser Jahre, von Sienkiewicz bis zu Autoren der Moderne wie Tetmajer und Staff. Zusätzlich druckte der Kraj eine Unmenge an Meldungen, Berichten und Studien zur Entwicklung der polnischen Literatur und brachte zu besonderen Ereignissen große Sonderausgaben (z.B. Kraszewskis Verratsprozess, Beilage zu Kraj Nr. 20/1884; Orzeszkowas 25. Dienstjubiläum, Sonderausgabe Kraj Nr. 50/1891; Mickiewiczs 100. Geburtstag, Sonderausgabe Kraj Nr. 51/1898). Der Erfolg des Kraj-Kulturteils lässt sich nicht allein auf die solide Redaktionsarbeit zurückführen, sondern auch auf die vorteilhafte Lage der Zeitung außerhalb des Zugriffs der Warschauer Zensur – denn während die Warschauer Zensur polnische Publikationen mit besonderem Misstrauen begutachtete, galten die Petersburger Kollegen als liberaler. Entsprechend war es in polnischen Intellektuellenkreisen ein übliches Vorgehen, einen in der Warschauer Zensur gescheiterten Text beim Petersburger Kraj erneut einzureichen. So war der Kraj nicht nur ein attraktiver Publikationsort, sondern auch eine wertvolle Quelle für Nachrichten, die andernorts im Königreich Polen nicht erhältlich waren (Bazylow 1984, 295; Kmiecik 1969a, 95 f.). Durch die polnische Literatur wurden die polnischen Leser der Zeitung allerdings auf unterschiedlichen Wegen auch in den russischen Kulturkreis hineingeführt. Zum einen geschah dies durch die Dokumentation der Existenzbedingungen 119 „In der Rubrik ‚Presseschau‘ und in anderen Teilen des Kraj findet der russische Journalismus ausreichend Material, um sich mit den unterschiedlichen Richtungen und Anschauungen der polnischen Gesellschaft bekanntzumachen. Auf der anderen Seite werden wir, gleichfalls so detailliert wie möglich, eine Umschau der russischen Presse und Literatur bringen, um den Lesern des Kraj die Möglichkeit zu geben, sich in allen Erscheinungen des politischen, gesellschaftlichen und geistigen Lebens von Russland umzutun, dessen Kenntnis (...) unsere politische Pflicht geworden ist.“
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polnischer Literatur im Inneren Russlands. So schilderten die Korrespondenten der Zeitung auch aus den entferntesten Winkeln Russlands, wie es um die Verfügbarkeit polnischer Bücher bestellt war, oder – insbesondere bei Berichten aus St. Petersburg, Moskau und den russischen Westgebieten – wie es um das polnische Theaterleben stand (z.B. Kraj Nr. 4/1882, 8 f.; Kraj Nr. 27/1883, 14; Kraj Nr. 9/1885, 15). Zum anderen zeigte die Redaktion, wie die Russen auf die polnische Literatur reagierten. So verfolgte sie z.B. akribisch die Übersetzung polnischer Bücher ins Russische, teils mit ausführlichen Besprechungen der russischen Ausgaben (Kraj Nr. 1/1882, 8), zumindest aber mit regelmäßigen kurzen Meldungen zu veröffentlichten oder geplanten Übertragungen, beispielsweise: Przekłady. Wyszły z pod prasy w przekładzie rosyjskim pp. Lawrowa i Palmina, niektóre utwory H. Sienkiewicza, pod tytułem: „Amerykanskije oczerki i razskazy“, W prasie peryodycznej przekłady rosyjskie są również na porządku dziennym. Kijewlanin tłómaczy drukującą się w Kraju „Bańkę mydlaną“, Nowosti drobne utwory Prusa, Zarja T. T. Jeża i t. d. (Kraj Nr. 4/1883, 14).120
In ähnlicher Weise versuchte der Kraj zu dokumentieren, wenn sich russische Zeitungen über polnische Autoren äußerten (z.B. Kraj Nr. 3/1885, 1 zu Odyniec; Kraj Nr. 9/1885, 22 f. zu Sienkiewicz; Kraj Nr. 19/1894, 15 f. zu Orzeszkowa). Insgesamt verwies das Blatt in diesem Zusammenhang gerne darauf, dass der polnischen Literatur in Russland große Anerkennung zukomme. Dies gelte z.B. für das polnische Theater (Kraj Nr. 4/1882, 8), aber besonders auch für die zeitgenössischen Autoren, z.B. für Sienkiewicz: „Przekłady jego powieści są rozchwytywane na równi z Tołstojem, Turgenjewem, Dostojewskim. Stał sie ulubieńcem rosyjskiej czytającej publiczności (...)“ (Kraj Nr. 10/1900, 11 f.).121 Besondere Bedeutung hatte es, wenn sich russische Schriftsteller positiv über ihre polnischen Kollegen äußerten. In diesen Fällen schien sich schließlich am deutlichsten zu manifestieren, dass Polen und Russen kulturell auf Augenhöhe miteinander verkehrten und sich auf dieser Ebene unbefangen begegnen konnten.122 Den Höhepunkt bildeten in dieser Hinsicht die russischen Feiern zu Adam Mickie120 „Übersetzungen. Aus dem Druck sind in russischer Übersetzung der Herren Lavrov und Palmin einige Werke von H. Sienkiewicz gekommen, mit dem Titel: ‚Amerikanische Skizzen und Erzählungen’. In der periodischen Presse sind russische Übersetzungen ebenfalls an der Tagesordnung. Der Kievljanin übersetzt im Nachdruck aus dem Kraj ‚Bańka mydlana’, die Novosti kleine Werke von Prus, die Zarja T. T. Jeż usw.“ 121 „Die Übersetzungen seiner Romane werden genauso verschlungen wie Tolstoj, Turgenev, Dostoevskij. Er ist zum Liebling der lesenden russischen Öffentlichkeit geworden (...).“ 122 Vgl. z.B. Čechov und andere Autoren mit Grußtelegrammen an Sienkiewicz und Orzeszkowa (Kraj Nr. 6/1895, 19); Russischer Schriftstellerbund mit Grüßen an Sienkiewicz (Kraj Nr. 50/1900, 32); Jakov Polonskij über Sienkiewicz (Kraj Nr. 47/1902, 497 ŻS).
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wiczs 100. Geburtstag Anfang des Jahres 1899. Der Kraj berichtete zu diesem Anlass zunächst ausführlich über ein Festmahl des russischen Schriftstellerbundes, auf dem u.a. Aleksej Potechin, Vladimir Solov’ev und Petr Boborykin Mickiewicz ihre Ehre erwiesen. „Uczta nosi charakter rosyjski, polaków jest tylko kilkunastu w charakterze gości“, schrieb die Zeitung, um die russische Initiative der Veranstaltung zu betonen (Kraj Nr. 1–2/1899, 30).123 Im Anschluss zitierte sie die Reden der russischen Teilnehmer, in denen Mickiewiczs Genie gerühmt und auf eine Stufe mit dem Puškins gestellt wurde (Kraj Nr. 1–2/1899, 30 ff.). Einen Monat später folgte dann ein zweiter Bericht, diesmal über einen öffentlichen Literaturabend zu Ehren von Mickiewicz, ebenfalls organisiert vom russischen Schriftstellerbund. Ziel der russischen Autoren sei es dabei gewesen, Mickiewicz als einem Vertreter der polnischen Kunst zu huldigen und sein Leben und Werk einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen (Kraj Nr. 7/1899, 20). An diesem Abend traten u.a. Boborykin und Korolenko auf. Derartige Berichte blieben auf polnischer Seite tatsächlich nicht folgenlos für die Rezeption der russischen Literatur. Als Konsequenz der russischen MickiewiczFeiern beispielsweise erwies es sich einige Monate später für die Redaktion des Kraj als leichter, Polen für die Feier zu Ehren von Puškins 100. Geburtstag zu gewinnen. Bolesław Prus schrieb damals zur Begründung seiner Teilnahme: „Ponieważ ruscy literaci uczcili pamięć Mickiewicza, więc ludzie dobrze wychowani muszą wywzajemnić się uczczeniem Puszkina“ (Prus 1959, 282).124 Einen ähnlichen Effekt rief z.B. 1882 das vom Kraj dokumentierte Erscheinen einer russischen MickiewiczÜbersetzung hervor, auf die J. I. Kraszewskis aus dem Dresdener Exil mit einem Brief an den dafür verantwortlichen Petersburger Herausgeber Wolff reagierte: Z prawdziwą przyjemnością odebrałem wczoraj pierwszy tom Mickiewicza, w przekładzie rosyjskim, i winszuję Panu tej dobrej myśli, która się tak pięknie pierwszym tomem zapowiada. Na tej to drodze spokojnej, nawzajem się bliżej zapoznając, stosunki życzliwsze zawiązują się najskuteczniej. (...) Nawzajem dlaczego by tak ślicznych opowiadań Turgenjewa nie wydać wszystkich w dobrym przekładzie polskim? Mało znamy go i za mało oceniony jest u nas – a godzien uznania i poznania (Kraj Nr. 1/1882, 12; ein weiterer Brief Kraszewskis an Wolff in Kraj Nr. 22/1883, 12).125 123 „Das Mahl hat russischen Charakter, es sind nur etwa ein Dutzend Polen als Gäste da.“ 124 „Weil die russischen Literaten Mickiewiczs Angedenken geehrt haben, müssen dies gut erzogene Leute mit der Ehrung Puškins erwidern.“ Häufig ist daher vermutet worden, dass die Redaktion des Kraj die russischen Mickiewicz-Feiern selbst organisiert habe. In der Tat ist es nicht vorstellbar, dass es zuvor keinen Kontakt zwischen dem russischen Schriftstellerbund und der Redaktion gab – Spasowicz war selbst Mitglied des Verbands und Piltz, Spasowicz und andere Redaktionsmitglieder nahmen an beiden russischen Feiern teil. 125 „Mit echter Freude habe ich gestern den ersten Mickiewicz-Band entgegengenommen, in russischer Übersetzung, und gratuliere Ihnen zu dem guten Gedanken, der so schön aus dem ersten Band kündet. Auf diesem ruhigen Weg, im gegenseitigen Kennenlernen, lassen
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Die Aussagen von Prus und Kraszewski sind zum einen also Indizien für den Erfolg der Strategie, russische Literatur über den Umweg der Rezeption polnischer Autoren durch Russen populärer zu machen. Zum anderen sind sie aber auch selbst als Teil einer Strategie des Kraj zu sehen, indem nämlich die polnische Rezeption russischer Literatur durch die Berufung auf prominente polnische Autoren den normalen polnischen Lesern erleichtert wurde. Entsprechend dokumentierte der Kraj immer wieder derartige Aussagen, was seinen Höhepunkt 1895 in einem offenen Brief des Dichters Wiktor Gomulicki an die polnischen und russischen Schriftsteller fand, in dem er dazu aufforderte, die jeweils andere Literatur unvoreingenommen zu rezipieren (Kraj Nr. 11/1895, 5 ff; s.u. Kap. 5.1).
4.4 Dokumentation und Kritik russischer Literatur im „Kraj“ Zur behutsamen Heranführung der polnischen Leser an die russische Literatur betrafen immer wieder Artikel in der beschriebenen Weise einen Grenzbereich zwischen polnischer und russischer Literatur. Auf das Potential derartiger Artikel für die gegenseitige Annäherung hatte in einer der ersten Nummern des Kraj der Philologe Marian Zdziechowski hingewiesen, als er schrieb: Dla specyalnego jednak celu: wzajemnego zrozumienia się, może jeszcze większą wagę miałyby nierozpoczęte dotąd porównawcze badania wszystkich objawów duchowego życia obu narodów, łatwo bowiem przewidzieć, że doprowadzą one do nader ważnych wyników, gdyż w literaturze zarówno jak w instytucyach politycznych i całej historyi Rosyi i Polski wiele odnaleźć można wspólnych myśli, dążeń i ideałów (Kraj Nr. 5/1882, 2).126
Doch auch wenn entsprechend in den Folgejahren oft komparatistische Artikel abgedruckt wurden (z.B. „Turgenev und Prus“, Kraj Nr. 41/1895, 13 f.; „Tolstoj und Sienkiewicz“, Kraj Nr. 11/1901, 130 f. ŻS), wurde russische Literatur im Kraj vorrangig als eigenständiges Phänomen behandelt. Den Anspruch, das russische Geistesleben umfassend abzubilden, hatte die Zeitung zu Beginn selbst formuliert. Insgesamt lässt sich sagen, dass sie ihn erfüllen konnte, auch wenn es leichte sich wohlwollendere Beziehungen am wirksamsten knüpfen. (...) Umgekehrt, warum sollte man die so schönen Erzählungen Turgenevs nicht in einer guten polnischen Übersetzung herausgeben? Wir kennen ihn wenig und er wird bei uns zu wenig geschätzt – und ist doch Anerkennung und Kennenlernen wert.“ 126 „Für das spezielle Ziel aber: das gegenseitige Verständnis, hätten womöglich noch größere Bedeutung die bisher nicht begonnenen vergleichenden Studien zu allen Erscheinungen geistigen Lebens beider Nationen, denn es ist leicht vorhersehbar, dass sie zu überaus wichtigen Ergebnissen führen, da man sowohl in der Literatur als auch in den politischen Institutionen und der gesamten Geschichte Russlands und Polens viele gemeinsame Gedanken, Bestrebungen und Ideale finden kann.“
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Schwankungen gab (vgl. Kraj Nr. 1/1889, 4; Kraj Nr. 2/1889, 12 f.). Separate Rubriken, in denen russische Literatur präsentiert wurde, existierten stets nur für kurze Zeit (z.B. 1894/95 „Z piśmiennictwa ruskiego“). Das Fundament der Rezeption bildeten dagegen die ständigen, allgemeinen Rubriken. Als solche sind zunächst die regelmäßigen Berichte aus Moskau und St. Petersburg zu nennen, die das gesamte gesellschaftliche und (lokal-)politische Leben dieser Städte spiegelten. In ihnen nahm das Theaterleben großen Raum ein, d.h. welche Stücke auf den Bühnen der beiden Hauptstädte gespielt wurden, wer die Hauptrollen spielte und wie das Stück beim Publikum ankam (z.B. Kraj Nr. 36/1884, 17). Handelte es sich um Premieren, wurde teils auch auf den Inhalt verwiesen und in Kürze eine eigene kritische Einschätzung gegeben (z.B. Kraj Nr. 39/1885, 17). Anlässlich besonders gelungener Auftritte oder zu Jubiläen rückten auch die Schauspieler und Regisseure in den Mittelpunkt (z.B. Kraj Nr. 52/1888, 15). Diese personenbezogene Dokumentation des Kulturlebens drückte sich im Kraj auch in Meldungen über biographische Markpunkte im Leben russischer Schriftsteller aus. So informierte die Zeitung z.B. über Ereignisse wie Černyševskijs Rückkehr aus der sibirischen Verbannung (Kraj Nr. 46/1883, 15) oder über schwere Krankheiten (z.B. Saltykovs, Kraj Nr. 42/1885, 19; Turgenevs, Kraj Nr. 26/1883, 17). Gewürdigt wurden auch Jubiläen zum künstlerischen Schaffen einzelner Autoren (z.B. bei Boborykin, Kraj Nr. 1/1895, 19; Kraj Nr. 44/1900, 589 f. DI) sowie Jahrestage von Geburt und Tod – so besonders ausgeprägt im Falle Puškins, dessen 50. Todestag und 100. Geburtstag jeweils nicht nur durch besondere Artikel in der Zeitung, sondern auch durch die Beteiligung der Redaktion an Festveranstaltungen gewürdigt wurden (Kraj Nr. 6/1887, 8 f.; 11 f.; Sondernummer Kraj Nr. 22/1899). Was aktuelle Todesfälle in der russischen Schriftstellerschaft betrifft, so registrierte der Kraj grundsätzlich das Verscheiden jedes bedeutenden Autors, skizzierte seinen Werdegang und rekapitulierte seine künstlerischen Verdienste (z.B. A. Ostrovskij, Kraj Nr. 23/1886, 8; V. Garšin, Kraj Nr. 14/1888, 12; N. Leskov, Kraj Nr. 9/1895, 23; J. Polonskij, Kraj Nr. 44/1898, 23 f.). Starb indes ein nach Einschätzung des Kraj besonders bedeutender Autor, konnte dieses Ereignis auch eine umfangreichere Würdigung zur Folge haben, z.B. im Falle Čechovs (Kraj Nr. 29/1904, 17 f.; 5 ŻS; 7 f. ŻS). Die stärkste Resonanz fand im Kraj der Tod Turgenevs 1883, der gleich für mehrere Wochen den Inhalt der Zeitung mitbestimmte. So erschienen z.B. ein Nachruf auf Turgenev von J. I. Kraszewski, Berichte vom Begräbnis, Berichte von den Reaktionen in Russland sowie kurze Primärtexte (Kraj Nr. 35-Kraj Nr. 44/1883). Dabei wurde auch nicht vergessen, polenfreundliche Äußerungen Turgenevs zu rekapitulieren und zu vermerken, dass die Petersburger Polen für einen Kranz auf Turgenevs Sarg spendeten bzw. selbst einen solchen vorbereiteten (Kraj Nr. 35/1883, 1; Kraj Nr. 38/1883, 14). Betrachtet man jenseits dieser Sonderfälle das im Kraj gespiegelte russische Literaturleben, sind grundsätzlich dessen ganze künstlerische Vielfalt und alle
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wichtigen Autoren zu finden. Im Kraj erschienen in polnischer Übersetzung u.a. Primärtexte von Puškin, Lermontov, Nekrasov, Tolstoj, Turgenev, Saltykov, Korolenko, Garšin, Boborykin, Čechov und Gor’kij, aber auch Texte von (heute) weniger bekannten Autoren wie Mačtet, Nadson, Polonskij und Goleniščev-Kutuzov. Literaturkritische Artikel betrafen neben den genannten Autoren u.a. Žukovskij, Gogol’, Gončarov und A.K. Tolstoj (siehe die bibliographische Aufstellung in Matlak-Piwowarska 1978, 332 ff.). Die Gewichtung der Autoren folgte freilich nicht immer der ihnen in Russland selbst zugemessenen Bedeutung. So fällt auf, dass neben Lev Tolstoj, Turgenev und Puškin auch P. Boborykin und V. Korolenko unter den am häufigsten gedruckten und besprochenen Autoren waren. Dostoevskij fristete dagegen ein Nischendasein und wurde kaum mehr als im Umfang von kurzen Notizen berücksichtigt (vgl. Kraj Nr. 7/1889, 12; Kraj Nr. 9/1901, 109 f. ŻS). Die Gründe hierfür sind fraglos weniger in ästhetischen Kriterien zu sehen als in der weltanschaulichen Nähe des KrajUmfelds zu den jeweiligen Autoren. Dostoevskij sei ein genialer, aber kranker Autor gewesen, ein Autor voller Widersprüche, hieß es etwa in einem Beitrag von 1889 (Kraj Nr. 7/1889, 12). Das Hauptproblem dürfte aus polnischer Sicht in dem „pathologischen Polenhass“ gelegen haben, der in Dostoevskijs Texten immer wieder zu abstoßenden polnischen Figuren geführt hat. Tolstoj und Turgenev galten dagegen nicht nur als genial, sondern auch als Polen gegenüber freundlich gesonnen. Korolenko und Boborykin wiederum galten nicht als genial, dafür aber als ganz besonders polenfreundlich (Korolenko hatte sogar polnische Wurzeln, Barański 1959, 6 f.). Ganz offensichtlich hatte dies Rückwirkungen auf die Beurteilung der Autoren.127 Jenseits dieser Problematik lässt sich dennoch in der Literaturkritik des Kraj eine geringere Voreingenommenheit bei der Beurteilung der russischen Literatur als z.B. im Lager der polnischen Nationalisten erkennen. Grundsätzlich bewegten sich die polnischen Kritiker aus dem Umfeld des Kraj auf Augenhöhe mit ihren russischen Kollegen, auf die sie im Übrigen häufig Bezug nahmen und deren Meinungen teils auch in Übersetzung nachgedruckt und lediglich mit kurzen Kommentaren versehen wurden. Allgemein konstatierten Mitarbeiter des Kraj immer wieder Symptome dafür, dass die russische Prosa (und sie war der Hauptgegenstand der Erörterungen) sich 127 Während einer seiner Romane noch 1893 im Kraj recht bösartig verrissen wurde (Kraj Nr. 19/1893, 13), galt Boborykin nach einem komparatistischen Vortrag über Mickiewiczs Pan Tadeusz und Puškins Evgenij Onegin schon kurz darauf als einer der „gegenwärtig wichtigsten Vertreter des russischen Romans“ (jest najgłówniejszym przedstawicielem w obecnej chwili (...) romansu ruskiego; Kraj Nr. 5/1894, 1). In den Folgejahren begleitete der Kraj wohlwollend Boborykins weitere Entwicklung, wobei Piltz und Spasowicz auf Feiern zu Ehren Boborykins in den Jahren 1895 und 1900 sogar herzliche Ansprachen an ihn richteten (Kraj Nr. 1/1895, 19; Kraj Nr. 44/1900, 589 f. DI).
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in einer Übergangszeit befinde. Den jungen Autoren sei es noch nicht gelungen, das Erbe der großen Vorgänger Gogol’, Turgenev, Dostoevskij und Tolstoj zu bewältigen. Ihnen gelinge es nicht in gleicher Weise, durch ihre Texte Orientierung für die Gesellschaft zu geben oder die historischen Prozesse zu spiegeln (Kraj Nr. 6/1889, 12; Kraj Nr. 12/1894, 10 f.). Stattdessen sei die jüngere Literatur zu publizistisch, beschränke sich allein auf Krankheit und Wahnsinn (in schlechtem Epigonentum Dostoevskijs) oder ahme französische Vorbilder nach, ohne auf die eigene Originalität zu vertrauen (Kraj Nr. 19/1893, 13; Kraj Nr. 33/1894, 7). So sei eine Belebung der russischen Literatur notwendig, aber neue Richtungen ließen sich noch nicht erkennen (Kraj Nr. 33/1894, 7; Kraj Nr. 52/1895, 7). Die Beiträge offenbarten, dass die tatsächlichen Neuerungen des beginnenden Symbolismus in der Redaktion nur mit Skepsis aufgenommen wurden (vgl. Kraj Nr. 28/1894, 6 f.). Zwar hatte die Redaktion des Kraj keine grundsätzlichen Berührungsängste mit moderner Kunst und druckte auch Verse symbolistischer Autoren (z.B. von K. D. Bal’mont, Kraj Nr. 43/1904, 2 ŻS; N. M. Minskij, Kraj Nr. 51/1904, 4 ŻS). Wohl aufgrund des pragmatisch-politischen Hintergrunds vieler Redaktionsmitglieder war das Verständnis für eine realistisch-mimetische Kunst aber grundsätzlich größer. Deren Belebung traute man u.a. Vladimir Korolenko und auch Čechov zu, der als Fortsetzer der realistischen Tradition interpretiert wurde (Kraj Nr. 3/1894, 10; Kraj Nr. 33/1894, 7; Kraj Nr. 29/1904, 5 ŻS). Ihre besten Leistungen erbrachte die Literaturkritik im Kraj letztlich nicht durch eine originelle Interpretation der Gesamtsituation der russischen Literatur, sondern in den Einzelstudien. Hierzu ist abschließend darauf hinzuweisen, dass unter den Kritikern der russischen Literatur im Kraj die kompetentesten Kräfte waren, die in der damaligen Zeit auf polnischer Seite zur Verfügung standen. Die Zeit um 1900 ist die Frühphase der akademischen polnischen Russistik, als deren wichtigste Vertreter in diesen Jahren Wacław Lednicki (1933, X ff.) Włodzimierz Spasowicz, Józef Tretiak, Jan Łoś, Stanisław Ptaszycki, Aleksander Brückner, Jan Baudouin de Courtenay und Marian Zdziechowski nannte. Alle (außer Brückner) schrieben im Kraj und beteiligten sich an Ereignissen wie dem Puškin-Jubiläum von 1899 (vgl. Matlak-Piwowarska 1978, 336 ff.; Salden 2008, 295 f.). Unter den prominenteren Rezensenten russischer Literatur waren außerdem z.B. die Schriftsteller Czesław Jankowski und Wiktor Gomulicki sowie der bekannte Kritiker Józef Tokarzewicz. Insgesamt lässt sich so festhalten, dass im Kraj von kompetenten Autoren ein umfassendes Bild der russischen Literatur gezeichnet wurde.
Der „Kraj“ und die russische Literaturpolitik
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4.5 Der „Kraj“ und die russische Literaturpolitik im Königreich Polen Angesichts der für eine polnische Zeitung in diesen Jahren ungewöhnlichen Schwerpunktsetzung auf die russische Literatur stellte die russische Kulturpolitik im Königreich Polen für die Redaktion zugleich eine Gefahr und eine Chance dar. Eine Gefahr war die Politik insofern, als dass der Kraj leicht mit den behördlichen Maßnahmen (z.B. in der Schulpolitik) in Verbindung gebracht und dadurch diskreditiert werden konnte. Gleichzeitig bot sie für den Kraj aber auch die Chance, sich von den offiziellen russischen Stellen abzugrenzen und damit dem Ruch, Handlanger der Russifizierung zu sein, etwas entgegenzusetzen. Grundsätzlich waren die Möglichkeiten der Zeitung zur eigenen Positionierung allerdings gerade in den ersten Jahren beschränkt. Auch wenn die Petersburger Zensur liberaler als die Warschauer war, konnte der Kraj nicht gegen Maßnahmen der regionalen Behörden polemisieren. Dagegen hatte es sogar Interventionen des russischen Bildungsministeriums und des Warschauer Generalgouverneurs Gurko gegeben (Kmiecik 1969a, 90 f.). Nur in seltenen Fällen distanzierte sich das Blatt darum von Aussagen oder Aktivitäten im russischen Kulturleben des Königreichs Polen – so z.B. 1887, als während russischer Feiern zu Puškins 50. Todestag der Warschauer RussischProfessor Budilovič nur denjenigen Völkern eine dauerhafte Literatursprache bescheinigte, die einen eigenen Staat haben (d.h. den Polen nicht; Kraj Nr. 6/1887, 13). Grundsätzlich erfuhren die Leser von solchen Ereignissen und insbesondere von Maßnahmen der russischen Kulturpolitik im Königreich Polen bis zur Jahrhundertwende aber fast nur aus Berichten der großen russischen Blätter, die in Übersetzung im Kraj nachgedruckt wurden. Dies betrifft z.B. den russischen Buchhandel und die Bibliotheken, über die der Kraj praktisch ausschließlich unter Berufung auf russische Quellen berichtete. Dabei vermittelte er den Lesern das (zutreffende) Bild, dass in diesem Bereich kaum nennenswerte Infrastruktur vorhanden war. Der Kraj selbst schrieb zu diesem Thema nichts, mit Ausnahme eines freundlichen Nachrufs auf den Buchhändler Istomin, der es in Warschau mit seiner bescheidenen und hilfsbereiten Art, aber auch durch seine guten Polnischkenntnisse und die Achtung vor der polnischen Kultur zu Beliebtheit gebracht hatte (Kraj Nr. 25/1894, 31). Als dann um die Jahrhundertwende von den russischen Behörden die Volksbibliotheken mit polnisch-russischem Bücherbestand eingeführt wurden, dokumentierte der Kraj dies in wohlwollender, aber doch auffallend zurückhaltender Weise. Ausschlaggebend dafür mag gewesen sein, dass noch während der Planungsphase der Volksbibliotheken 1898 von den polnischen Sozialisten ein geheimer Bericht des Generalgouverneurs Imeretinskij veröffentlicht worden war, aus dem hervorging, dass die Bibliotheken nicht zuletzt eine Erziehung im staatstreuen Geist zum Ziel haben sollten. Unter diesen Umständen musste ein zu großer Enthusiasmus für die Lesehallen auf Seiten der Ausgleichler ungeschickt sein. Über die russischen
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Bücher in den Lesehallen wurde daher im Kraj wenig geschrieben, gleichwohl aber positiv herausgestellt, dass die Bibliotheken – ob alleine oder im Verbund mit den Nüchternheitskomitees – insbesondere durch die polnischen Bücher einen wichtigen Beitrag zur Volksbildung leisten könnten und insofern auch ein Entgegenkommen der Regierung gegenüber den Polen bedeuteten (z.B. Kraj Nr. 23/1897, 21; Kraj Nr. 5/1898, 26; Kraj Nr. 23/1898, 14 f.; Kraj Nr. 51/1898, 48 f.; Kraj Nr. 40/1899, 10). Dabei wurde hervorgehoben, dass die Auswahl der polnischen und russischen Bücher im obligatorischen Katalog der Lesehallen insgesamt nicht zu beanstanden sei: (...) usuwano widocznie wszystko, co mogło nastręczyć zarzut tendencyjności z jednej lub drugiej strony. (...) Jeżeli tylko w dalszym rozwoju tej sprawy i w zastosowaniu praktycznem zachowana będzie zasada, że czytelnie mają na celu wyłącznie nie propagandę polityczną, lecz postęp cywilizacyjny, to instytucja ta może się bardzo rozwinąć i przynieść rzetelny pożytek dla kraju (Kraj Nr. 1–2/1899, 44).128
Auch zur Frage nach einem russischen Theater blieb der Kraj zunächst passiv und berichtete darüber nur durch die Wiedergabe russischer Quellen (Kraj Nr. 5/1885, 11; Kraj Nr. 12/1885, 14). Als jedoch 1886 tatsächlich erstmals eine professionelle russische Theatertruppe nach Warschau kam, brachte der Kraj dazu zumindest zu einzelnen Stücken auch kurze eigene Notizen (Kraj Nr. 20/1886, 13; Kraj Nr. 21/1886, 10). Die auf den Gastauftritt folgenden Vorwürfe der russischen Presse, dass die Polen sich dem Theater gegenüber nicht angemessen verhalten hätten, rief allerdings den Widerspruch der Redaktion hervor. Niemand bestreite, dass die Russen in Warschau ein eigenes Theater fordern könnten, hieß es in einem Kommentar. Allerdings müssten die Russen auch verstehen, dass der Auftritt der russischen Truppe auf der wichtigsten polnischen Bühne in Verbindung mit den nationalistischen Kommentaren der russischen Presse bei den Polen Ängste auslöse (Kraj Nr. 24/1886, 12). In den Folgejahren verfolgte der Kraj aufmerksam die Forderungen der russischen Presse nach einem ständigen russischen Theater, blieb selbst aber auf Distanz dazu und betonte stattdessen den nötigen Schutz der polnischen Interessen: Dziwnem i niesłusznem byłoby oponowanie przeciwko istnieniu teatru rosyjskiego w Warszawie, skoro liczba mieszkających w niej rosyan dochodzi do 9 tysięcy; oba teatry polski i rosyjski mogą spokojnie i niezależnie istnieć w Warszawie; chodzi tylko o to, żeby zabezpieczenie bytu trupy rosyjskiej nie odbyło się kosztem środków sceny polskiej, zaspakajającej umysłowo-
128 „(...) offenbar wurde alles entfernt, was den Vorwurf der Tendenzhaftigkeit von der einen oder anderen Seite auf sich ziehen könnte. (...) Wenn bei der weiteren Entwicklung dieser Sache und in der praktischen Umsetzung nur das Prinzip eingehalten wird, dass die Lesehallen nicht politische Propaganda, sondern ausschließlich zivilisatorischen Fortschritt zum Ziel haben, so kann sich diese Institution gut entwickeln und dem Land redlichen Nutzen bringen.“
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artystyczne potrzeby 400-tysięcznej publiczności, która, jak wiadomo, gorąco przywiązaną jest do sztuki ojczystej (Kraj Nr. 47/1887, 9).129
Als sich indes die Befürchtungen zu bestätigen schienen und russische Zeitungen anlässlich der Renovierung des Großen Theaters in Warschau eine Umleitung von Subventionen für die polnische Bühne in den Aufbau einer russischen forderten, verteidigte der Kraj offensiv das polnische Theater. So verwies er u.a. darauf, dass die jährliche Subvention aus der Steuerkasse des Königreichs Polen finanziert würde (d.h. ohne Schaden für die Bewohner anderer Landesteile) und der Staat damit lediglich seiner Verpflichtung nachkomme, die geistigen Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zu befriedigen. Geschickt interpretierte die Zeitung Attacken gegen das polnische Theater auch als Kritik an den lokalen russischen Behörden und sprach ihrerseits dem Generalgouverneur Gurko ihren Dank dafür aus, dass er sich für die Finanzierung des Theaterumbaus eingesetzt hatte (Kraj Nr. 36/1891, 17 f.; Kraj Nr. 37/1891, 19). Auch später blieb der Kraj bei dieser Position, die ein russisches Theater in Warschau zwar nicht ablehnte, vor allem aber in der Verteidigung der polnischen Bühne bestand (z.B. Kraj Nr. 7/1895, 18 f.). Dass die Polen mit der russischen Bildungspolitik unzufrieden waren, ließ der Kraj lange nur im Rückgriff auf Berichte russischer Zeitungen durchscheinen, die eben diese Aussage enthielten (z.B. Bericht über die Ohrfeige gegen den verhassten Schulkurator Apuchtin, Kraj Nr. 17/1883, 5 f.; vgl. Kraj Nr. 42/1891, 18). Ebenfalls nur auf diesem mittelbaren Weg – unter Berufung auf einen Artikel im Russkoe Obozrenie – wurde darauf verwiesen, dass die Art und Weise des Unterrichts russischer Literatur für die Schüler abschreckend sei (Kraj Nr. 52/1896, 3). Erst die Aufbruchstimmung Anfang des Jahres 1897 und die Entlassung Apuchtins ließen den Standpunkt des Kraj in dieser Frage deutlicher werden (Kmiecik 1969a, 222 f.). Das Blatt argumentierte nun für eine Entpolitisierung der Schule im Königreich Polen und für die Ausrichtung der Bildung an den Bedürfnissen der Bevölkerung, wobei als wichtigstes der Unterricht von Muttersprache und auch muttersprachlicher Literatur angeführt wurde (Kraj Nr. 17/1897, 7 ff.; Kraj Nr. 34/1899, 6 ff.; Kraj Nr. 45/1900, 9 ff.; Kraj Nr. 44/1903, 5 ff.). Davon abgesehen sei die Kenntnis von russischer Sprache und Kultur durchaus bedeutsam und beide sollten auch weiter vermittelt werden – allerdings sei die derzeitige Form kontraproduktiv. So schrieb z.B. Erazm Piltz:
129 „Merkwürdig und falsch wäre Widerstand gegen die Existenz eines russischen Theaters in Warschau, da die Zahl der dort lebenden Russen neuntausend erreicht; das polnische und das russische Theater können friedlich und unabhängig in Warschau existieren; es geht nur darum, dass die Absicherung der Existenz einer russischen Truppe nicht auf Kosten der Mittel für die polnische Bühne geht, die die geistig-künstlerischen Bedürfnisse eines 400.000erPublikums befriedigt, das bekanntlich der heimischen Kunst innig verbunden ist.“
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(...) chyba nie znajdzie obrońców w poważnej prasie ruskiej kombinacja, ażeby zamiłowanie do języka i literatury ruskiej, która posiada tylu znakomitych pisarzy, myślicieli i poetów, dało się zaszczepić przez zepchnięcie w szkole polskiej języka polskiego na plan ostatni (Kraj Nr. 6/1897, 4).130
Insgesamt wird somit deutlich, dass die Redaktion des Kraj eine offene Kritik der Institutionen russischer Kulturvermittlung im Königreich Polen vermied, sie aber gleichwohl kritisch betrachtete. Bei der Bewertung ihres Zustands und ihrer Entwicklung hatte die Zeitung vor allem die polnischen Interessen im Blick. Sie war insofern konsequent im Sinne der politischen Idee des Ausgleichs, die zwar die Annäherung an Russland vorsah, aber gleichzeitig auf der Wahrung der polnischen Eigenständigkeit bestand. Das Königreich Polen war für die Ausgleichler vorrangig ein polnischer Kulturraum, in dem russische Kulturpolitik grundsätzlich zurückhaltend zu sein hatte. Entsprechend gab es auch nur begrenzte Fürsprache der Ausgleichler für russische Bibliotheken, russische Theater oder die russische Literatur in der Schule. Sie alle wurden nicht als Einrichtungen verstanden, die dem eigenen Ziel der Kulturmittlung hätten dienlich sein können. Im Gegenteil scheint es, dass von russischer Seite immer wieder der erfolgversprechendere Ansatz des Ausgleichslagers untergraben wurde, beispielsweise durch die aggressiven Forderungen zum Aufbau eines russischen Theaters auf Kosten des polnischen oder durch das Bekanntwerden von Imeretinskijs politischen Plänen bei der Einrichtung der polnisch-russischen Volksbibliotheken. Betrachtet man abschließend die Bedeutung des polnischen Ugoda-Lagers für die Rezeption russischer Literatur unter den Polen, so ist einerseits festzuhalten, dass aus der als politisch unausweichlich angesehenen Zugehörigkeit Polens zu Russland eine große Bereitschaft folgte, sich der russischen Kultur zu öffnen – bei gleichzeitiger Wahrung der polnischen Identität. Umfangreichere Aktivitäten für einen Kulturaustausch als Mittel zur Annäherung der beiden Völker lassen sich aber nur im Kreis um den Petersburger Kraj erkennen. Dessen Bedeutung ist allerdings hoch einzuschätzen. Zum einen druckte im Kraj die gesamte intellektuelle Elite Polens ihre Texte und wurde so durch die Lektüre des Blatts auch über die Entwicklung der russischen Kultur und Literatur auf dem Laufenden gehalten. Zum anderen hatte der Kraj im Vergleich mit anderen gesellschaftspolitischen Wochenblättern eine sehr hohe Auflage. Im Jahr 1900 z.B. überstieg sie die der Prawda um mehr als das Dreifache, die des Głos um mehr als das Vierfache. Dies scheint auch aufzuwiegen, dass die Mehrheit der Kraj-Abonnenten nicht im Königreich Polen, sondern in den russischen Westgebieten wohnte (Kmiecik 1969a, 148 ff.). 130 „(...) vermutlich gibt es in der ernsthaften russischen Presse keine Verteidiger des Einfalls, dass sich die Zuneigung zur russischen Sprache und Literatur, die so viele hervorragende Schriftsteller, Denker und Dichter hat, dadurch einimpfen lässt, dass man in der polnischen Schule die polnische Sprache an die letzte Stelle stellt.“
5. Russische Literatur unter polnischen Autoren 5.1 Polnische Schriftsteller und russische Literatur zur Zeit des Realismus Verbindungen zwischen polnischer und russischer Literatur haben eine lange Tradition. Das wichtigste Beispiel aus der Zeit vor 1864 ist der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz, der 1824–29 aus politischen Gründen aus seiner polnischlitauischen Heimat verbannt wurde und in diesen Jahren in Odessa, Moskau und St. Petersburg Kontakte zu russischen Schriftstellerkollegen knüpfte (s.u. Kap. 7). Den Januaraufstand von 1863/64 erlebte Mickiewicz wie viele andere Autoren der Romantik (z.B. Juliusz Słowacki, Zygmunt Krasiński) allerdings nicht mehr. Die Haltung der Romantiker zur russischen Literatur soll hier nicht vertieft werden, da sie sich außerhalb des Betrachtungszeitraums dieser Arbeit entwickelte. Ähnlich verhält es sich mit der Generation am Übergang von Romantik und Realismus, deren Vertreter allerdings noch länger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aktiv waren. Es fällt schwer, für diese Generation ein gemeinsames weltanschauliches Fundament zu finden, von dem ihre Rezeption ausging, oder in späteren Jahren gemeinsame Entwicklungslinien. Als Beispiele lassen sich Teodor Tomasz Jeż (Zygmunt Miłkowski) und Józef Ignacy Kraszewski nennen. Jeż kannte die russische Literatur u.a. aus seiner Schulzeit in Odessa, blieb mit ihr aber auch nach der Emigration nach Westeuropa in Kontakt – Aleksandr Gercen lernte er persönlich kennen (Śliwowska 1975, 154 f.). Jeż wurde im Ausland zu einem der Väter des modernen polnischen Nationalismus, dessen Sicht auf die russische Literatur seine Ansichten zu diesem Thema beeinflussten. So schrieb er 1909, Dostoevskij, Gor’kij und andere russische Autoren hätten die polnische Jugend auf „patriotisch und ethisch falsche Wege“ geführt (błędne patrjotycznie i etycznie drogi; Jeż 1937, 570). Aber auch weitere Indizien, wie z.B. sein Bild von Puškin als einem käuflichen Opportunisten, zeugen für die Zeit nach 1864 von einer negativen Haltung Jeżs zur russischen Literatur. Kraszewski dagegen, der ebenfalls selbst das Russische beherrschte, hatte sich seit Ende der 1830er Jahre mit russischer Literatur beschäftigt, dieses Interesse stetig entwickelt und u.a. in der von ihm redigierten Zeitung Athenaeum russische Literatur publiziert (Żyga 1965, 48; 55; Vasil’enko 2002, 51 f.). Nach dem Januaraufstand ließ Kraszewskis Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht nicht nach. Weiterhin verfolgte er neue Entwicklungen der russischen Literatur und tauschte sich über sie u.a. auch direkt mit russischen Autoren aus. So korrespondierte er gelegentlich mit Turgenev sowie regelmäßig und über einen langen Zeitraum mit dem in Warschau lebenden Nikolaj Berg (Żyga 1965, 66; 69). Auch wenn Kraszewski nach dem Ja-
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nuaraufstand in seinen Texten teils sehr russlandkritische Töne anschlug, kann man bei ihm in Bezug auf die russische Literatur eine interessierte Aufgeschlossenheit konstatieren (Orłowski 1995, 321). Wie gesagt ist es schwierig, für die kleine Gruppe der Übergangsautoren ein einheitliches Muster ihrer Rezeption russischer Literatur festzuhalten. Ein deutlicheres Bild lässt sich in dieser Hinsicht aber für die Schriftstellergeneration zeichnen, die erst nach dem Januaraufstand die Bühne betrat. Die Niederschlagung des Januaraufstands 1864 war für die Polen nicht nur eine politische Zäsur. Auch kulturell bedeutete sie einen Neubeginn. Die Ideale der vorangegangenen Romantik, deren Autoren sich oft emotional-idealistisch der Verklärung des Kampfes um die Wiedererweckung Polens hingegeben hatten, waren durch die Realität diskreditiert worden. In den Diskussionen über die Lehren aus dem Aufstand wurde den romantischen Literaten nun vorgehalten, dass sie die Jugend ins Verderben geführt und dass sie sich zudem künstlerisch überlebt hätten. Das Jahr 1864 bedeutet deshalb für die polnische Literatur einen Wendepunkt. In den Folgejahren formte sich eine neue Autorengeneration, die sich deutlich von ihren romantischen Vorgängern absetzte. Zu ihr gehörten u.a. Eliza Orzeszkowa, Henryk Sienkiewicz und Bolesław Prus, die sich künstlerisch dem Realismus zuwandten. Weltanschaulich gerieten viele der jungen Autoren in den 1870er Jahren unter den Einfluss rationaler westlicher Denker wie Spencer, Mill und Comte. Nach Comtes positivistischer Philosophie erhielten sie darum den Namen „Positivisten“. Der entlehnte Begriff täuscht allerdings leicht über die lokale Spezifik der (insbesondere Warschauer) Autoren hinweg, die keinen Anspruch auf eine abstrakte Weiterentwicklung der westlichen Philosophie erhoben, sondern aus ihr ein in erster Linie gesellschaftspolitisches und stark an den lokalen Gegebenheiten orientiertes Programm ableiteten.131 Ausgangspunkt des polnisch-positivistischen Denkens war der rationale Mensch, der im Rahmen der Möglichkeiten und zum Wohl der Gesellschaft handeln sollte. Dieses Wohl sah man allgemein in einer „Entwicklung“. Dahinter ver131 Der Begriff „Positivismus“ ist im literarhistorischen Kontext für westliche Forscher unvertraut. In Polen hat er sich zur Bezeichnung der Generation der realistischen Schriftsteller durchgesetzt. Allerdings wird auch in der polnischen Forschung darauf hingewiesen, dass Positivismus eher die Weltanschauung als den Schreibstil meint. Auch so ist die Bezeichnung aber kritikwürdig. So hatte Comte, auf den sie zurückgeht, in Polen nur wenige Anhänger. Die jungen polnischen Denker nahmen den Begriff eher aufgrund seines modernen Untertons an (Markiewicz 2002, 9; 48; 56). Davon abgesehen verdeckt er, dass keineswegs alle damals aktiven Schriftsteller positivistischen Anschauungen huldigten bzw. dass manche von ihnen sich nach kurzer Zeit von ihnen lösten – dies betrifft selbst den vermeintlich prominentesten Positivisten Henryk Sienkiewicz.
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barg sich eine ganze Reihe von Zielen, insbesondere die Stärkung der Wirtschaft sowie die Bildung und gesellschaftliche Einbindung der unteren Schichten. Für diese Ziele vertrauten die Positivisten auf die Wirksamkeit liberaler Rechts- und Wirtschaftsprinzipien und besonders auf die Kraft des Wissens, was sich zu einem tief ausgeprägten Wissenschaftsglauben, teils gar zum Wissenskult auswuchs (zu diesem Gesamtkonzept der „Organischen Arbeit“ vgl. Kap. 4.1). Immer wieder betonten die Positivisten, dass sie sich von der Politik verabschiedet hätten. Man darf diese Aussage allerdings nicht allzu wörtlich nehmen, da das Wort „Politik“ vor allem das Unwort vom Aufstand ersetzte, von dem man sich distanzieren wollte. Doch während die ganze positivistische Programmatik also trotzdem von gesellschaftspolitischen Postulaten geprägt ist, fehlt es an einer klaren Haltung zur politischen Zukunft Polens in den Teilungsgebieten und insbesondere auch in Russland. Diskutiert man die Haltung der Positivisten zur politischen Zukunft ihres Vaterlandes, so kann man voraussetzen, dass sie sich in all ihrem Tun als Patrioten fühlten. Man kann den Patriotismus sogar als die Klammer verstehen, die den Zusammenhalt der vielgestaltigen positivistischen Ideologie sicherte. Immer wieder wiederholt sich in den publizistischen und literarischen Texten jener Jahre die Aufforderung an die Gesellschaft, zum Wohl aller Polen und zur Stärkung des „Organismus“ der Nation friedliche Aktivitäten zu entfalten. Besonders die literarischen Texte zielten auf eine Ermutigung der Leser, dass Polen nicht verloren sei. Gleichzeitig durchzieht diese Texte eine respektvolle Haltung gegenüber denjenigen, die sich in vorigen Kämpfen für Polen geopfert hatten. Viele der Protagonisten des Positivismus waren selbst in den Januaraufstand verwickelt gewesen und hatten im Kampf gegen die Russen ihr Leben riskiert bzw. gesehen, wie Freunde und Familienangehörige ihr Leben gelassen hatten (Krzyżanowski 1964, 7). Dennoch unterschied sich der positivistische Patriotismus deutlich von dem der vergangenen Romantik, denn neben dem Respekt vor persönlichem Einsatz in den Kämpfen stand eine scharfe Kritik der Gewalt als politisches Mittel. Der Kampf um die Unabhängigkeit stand darum im positivistischen Patriotismusverständnis nicht mehr im Vordergrund. Eliza Orzeszkowa beispielsweise beschrieb in ihrem Text Patriotyzm i kosmopolityzm den Patriotismus als ursprünglich emotionale Kategorie, die jedes Kind im Laufe seines Wachstums als Heimatliebe und Zugehörigkeitsgefühl entwickle. Aus diesem Gefühl wüchsen dann laut Orzeszkowa u.a. die Dankbarkeit und schließlich das Gefühl der Verantwortung, der eigenen Gemeinschaft etwas zurückzugeben (Orzeszkowa 2002, 198). Eben darin lag im positivistischen Sinne das Wesen des Patriotismus: Im friedlichen Dienst für die Gemeinschaft und in der Arbeit an ihrem Wohl, nicht aber im zur Niederlage verdammten bewaffneten Kampf. An dieser Stelle erreichte der positivistische Patriotismus allerdings einen kritischen Punkt, denn ohne bewaffneten Kampf ließ sich die Teilung Polens – wollte man nicht auf ein Wunder hoffen – nicht beenden.
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Oft wurde dieses Dilemma der Legalität durch die Interpretation als Zwei-Phasen-Programm entschärft (Modzelewski 1977, 60). Demnach wäre die organische Arbeit ein mittelfristiges Übergangsprojekt gewesen, dessen Endziel in unbestimmter Zukunft gleichwohl die Unabhängigkeit bleiben sollte. Diese Deutung ist aber keineswegs zwangsläufig. Konsequent in eine andere Richtung hat mit Aleksander Świętochowski der führende Ideologe des Positivismus den Legalismus zu Ende gedacht. Sei es denn überhaupt so schlimm, dass Polen seine Staatlichkeit verloren habe, fragte er 1882 in einem kurzen Text mit dem Titel Wskazania polityczne. Keineswegs, so seine provokante Antwort. Die Menschen wünschten sich vor allem persönliches Glück, so Świętochowski, und falls sich dies verwirklichen lasse, sei der Verlust der Staatlichkeit kein großes Übel: (...) z liberalnego stanowiska sama utrata własnych instytucyj politycznych nie wydawałaby się nam wcale niedolą. Szczęście bowiem ogółu, według nas, nie jest bezwzględnie zależne od jego siły i samodzielności politycznej, lecz od możności uczestniczenia w cywilizacji powszechnej i posuwania własnej. (…) Bo czegóż żąda z nas każdy, wzięty w odosobnieniu? Czy własnych żołnierzy, bitew, zwycięstw, zaborów, parlamentów, posłów, ministrów – słowem, aparatu politycznego? Nie, każdy marzy o tym tylko, ażeby mógł żyć szczęśliwie, z prawami swej osobistej i zbiorowej natury zgodnie (Świętochowski 2002, 191).132
Die auf den ersten Blick unglückliche Lage in drei unterschiedlichen Staaten biete den Polen also durchaus eine Perspektive, die in unermüdlicher Arbeit am Organismus der Nation und aufmerksamer Nutzung der aktuellen zivilisatorischen Errungenschaften liege. Świętochowski legte sogar noch nach: Man müsse, so schrieb er weiter, auch die Vorteile der Teilung sehen. Die Zugehörigkeit zu Russland eröffne schließlich polnischen Wirtschaftsaktivitäten ein weites Handlungsfeld, so insbesondere den Zugang zum russischen Markt (Świętochowski 2002, 193). Świętochowskis Vorschlag für eine pragmatische Aufgeschlossenheit gegenüber Russland erntete ein verheerende Echo, das ihn noch Jahre später erschauern ließ und zu einem Rückzug seiner Ansichten auf die Zwei-Phasen-Idee führte (Świętochowski 1966, 110 f.). Letztlich ist umstritten, ob Świętochowski seine Thesen wirklich so radikal meinte, wie sie sich lasen (vgl. Brykalska 1974, 28 f.; 34 ff.). So oder so provoziert sein Text aber die grundsätzliche Frage, ob für die Positivisten ein dauerhafter Verbleib Polens in Russland denkbar war. Tatsächlich gibt es eine 132 „(...) vom liberalen Standpunkt aus würde uns allein der Verlust der eigenen politischen Institutionen keineswegs als Unglück erscheinen. Das Glück der Allgemeinheit ist nämlich unserer Meinung nach nicht unbedingt abhängig von der politischen Stärke und Eigenständigkeit, sondern von der Möglichkeit zur Teilhabe an der allgemeinen Zivilisation und zur Fortbildung der eigenen. (...) Denn was verlangt jeder von uns, für sich genommen? Eigene Soldaten, Schlachten, Siege, Eroberungen, Parlamente, Abgeordnete, Minister – mit einem Wort, einen politischen Apparat? Nein, jeder träumt nur davon, dass er glücklich leben kann, in Einklang mit den Rechten seiner eigenen und der gemeinschaftlichen Natur.“
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Reihe von Indizien, die darauf hindeuten. Für Świętochowski z.B. lassen sich besonders in den 1870er Jahren Aussagen finden, die in diese Richtung deuten, wie auch später seine eigene Zeitung Prawda zumindest zu Beginn von einem entsprechenden Geist durchweht war (Modzelewski 1977, 63 f.). Andere Autoren dieser Zeit unterhielten enge Kontakte zu den Ausgleichsbefürwortern in Warschau und St. Petersburg, so z.B. Prus, der 1897 sogar als (inoffizieller) Vertreter der polnischen Künstler am festlichen Empfang des Zaren auf dem Warschauer Bahnhof teilnahm, oder Eliza Orzeszkowa, die zum selben Zarenbesuch die Abfassung einer Broschüre im Sinne des Ausgleichslagers in Erwägung zog (was dann doch nicht geschah; Jankowski 1964, 476 ff.). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass viele der politischen Aktivisten des Ausgleichslagers dem Warschauer Positivistenmilieu entwachsen waren – so z.B. Erazm Piltz, der vor seinem Umzug nach St. Petersburg die erste positivistische Tageszeitung leitete, oder der Schriftsteller Walery Przyborowski, der 1885/86 die als „ultraloyal“ beschimpfte Zeitung Chwila betrieb. Bei fast allen war es keine slavophile Verklärung, die zur Hinwendung nach Russland führte. Die pragmatische Akzeptanz der Kräfteverhältnisse erlaubte kaum einen anderen Ausweg, und diese erzwungene Offenheit begünstigte letztlich auch oft ein ehrliches Interesse an Entwicklungen im Land des „großen Bruders“.133
133 Mit Blick auf die Literatur ist es interessant, dass sich ausgleichlerisches Gedankengut vereinzelt auch in den künstlerischen Texten nachweisen lässt (Salden 2012b). Die in diesem Sinne interessanteste literarische Figur ist Stanisław Wokulski, Protagonist des für den polnischen Realismus zentralen Romans Lalka („Die Puppe“) von Bolesław Prus. Wokulski ist ein Warschauer Kaufmann, der sich in die Aristokratentochter Izabela Łęcka verliebt. Die Welt der Aristokratie ist Wokulski durch seinen falschen Stand eigentlich verschlossen, doch mit großer Energie betreibt er seinen sozialen Aufstieg, der ihn für Izabela zu einem akzeptablen Bräutigam machen soll. Den Grundstein für seinen Reichtum legt Wokulski als Lieferant der russischen Armee im Russisch-Türkischen Krieg von 1877, was ihm ein Vermögen bringt (Prus 1991a, 191). Aber auch von Warschau aus nutzt Wokulski (ganz im Sinne des zitierten Świętochowski-Texts) die Möglichkeiten, die der russische Markt ihm bietet. Es ist seine Vision, Warschaus Potential als Zwischenhandelsplatz zwischen Russland und Westeuropa auszuschöpfen (Prus 1991a, 292). Die von ihm zu diesem Zweck gegründete Handelsgesellschaft soll u.a. preisgünstige Waren aus Russland einführen, die in Polen und Westeuropa gefragt sind, um sie dort gewinnbringend zu verkaufen (Prus 1991a, 292). Sein eigener Laden wird so zu einem Zentrum des Handels mit russischen Stoffen (ognisko handlu ruskich tkanin, Prus 1991a, 248). Wokulski unterhält aber nicht nur geschäftliche Beziehungen nach Russland. Mit dem Moskauer Kaufmann Suzin verbindet ihn auch eine aufrichtige Freundschaft, die aus gemeinsamen Jahren in Sibirien stammt, wohin Wokulski als Teilnehmer am Januaraufstand verbannt worden war. Während Wokulski in der Warschauer Aristokratie immer wieder auf falsche Freunde trifft, ist Suzin ein echter Freund, der sich Wokulski für dessen Beistand in Sibirien zu Dank verpflichtet fühlt (Prus 1991b, 87). Immer wieder tritt Suzin aus eigener Initiative
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Die Frage nach dem Verhältnis der Positivisten zum Ausgleichslager ist brisant, da sie die angesehenen Autoren in die Nähe einer Gruppierung rückt, die im Ruch des Landesverrats stand (vgl. Micińska 1998, 73 ff.). Bisherige Forschungsarbeiten gaben zu diesem Thema keine eindeutige Auskunft. Modzelewski (1977, 59 ff.) und Szwarc (1987a, 267 f.) kommen zu dem Ergebnis, dass ausgleichlerische Ideen im Kreis der Positivisten durchaus Unterstützung fanden, deshalb aber nicht der ganze Positivismus als ausgleichlerisch gelten kann. Sie verweisen also auf eine individuell unterschiedliche Intensität und Evolution entsprechender Ansichten, Szwarc zudem auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen zu diesem Thema anhand zweitrangiger Figuren des Kulturlebens. Festhalten lässt sich aber, dass Ausgleichsgedanke und positivistischer Legalismus aus derselben Quelle strömten, nämlich der negativen Deutung des Januaraufstands. Festhalten lässt sich zudem, dass sich alle Positivisten aus patriotischer Überzeugung ein blühendes Polen wünschten. Dies musste indes kein Widerspruch zur Ausgleichspolitik sein. Auch die Ausgleichler verstanden sich ja als Patrioten und strebten nicht das Aufgehen Polens in Russland an. Mit einer politischen und kulturellen Autonomie unter russischer Herrschaft konnten sich die Positivisten aber besser anfreunden als mit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes. Stellt man die Frage also wie Szwarc in der Überschrift seines Artikels – „Neigten die Positivisten zur Politik eines Ausgleichs mit Russland?“ – muss man dies bejahen. Auf einem anderen Blatt steht, dass sie nicht den entsprechenden politischen Karren zogen und dass sie sich in einer idealen Welt ein unabhängiges Polen gewünscht hätten. Für die vorliegende Fragestellung ist vor allem wichtig, dass in der vernunftbasierten Ideologie des Positivismus selbst in politischer Hinsicht keine grundsätzliche Berührungsangst mit Russland bestand. Für die Kultur musste dies mindestens in gleichem Maße gelten. Hierzu bietet sich auch nochmals der Rückgriff auf die positivistische Ideologie an, denn in Bezug auf die Kultur war es vor allem der positivistische Wissenskult, der eine völlige Ignoranz nicht zuließ. Alle neuen technischen und intellektuellen Entwicklungen im In- und Ausland verfolgten die positivistischen Akteure mit Begeisterung, um die Erkenntnisse möglichst in die entsprechenden Fächer zu kanalisieren und dort für die polnische Gesellschaft nutzbar zu machen. Prus schrieb in dieser Hinsicht von einer „elementaren“ und einer „zivilisatorischen“ Seite des Patriotismus: Elementar war in seinem Verständ-
an Wokulski heran, um ihn an eigenen Geschäften – offenbar geht es stets um die Ausrüstung des russischen Militärs (Prus 1991b, 102 Fn. 64) – teilhaben zu lassen. Bezeichnend ist, dass ausgerechnet ein langes, freundschaftliches Gespräch zwischen Wokulski und Suzin von der russischen Zensur aus der Urversion von Lalka herausgestrichen wurde (Prus 1991b, 600 ff.). Waren die Zensurbeamten womöglich nicht an Texten interessiert, die ein versöhnliches, aber gleichberechtigtes Zusammenleben zwischen Polen und Russen skizzierten (vgl. Bachórz 2003, 180)?
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nis die emotionale Liebe zum Vaterland, zivilisatorisch dagegen die kosmopolitische Offenheit für die Errungenschaften anderer Völker, die zum Wohl des eigenen Volkes eingebracht werden sollten (Prus 1965, 172 ff.). Die Positivisten verfolgten entsprechend neue Entwicklungen in Russland und setzten sich mit ihnen auseinander – oft mit einem produktiven Anspruch, d.h. mit dem gleichzeitigen Versuch, daraus für die eigene nationale Kultur zu lernen. In besonderem Maße musste dies für die Literatur gelten. Zum einen band auch die Schriftsteller der utilitaristische Maßstab, die eigene Literatur zu entwickeln und zu vervollkommnen – dafür ließen sich einige der bedeutendsten zeitgenössischen Kollegen schlecht ignorieren. Zum anderen gab es aber auch bedeutende Berührungspunkte zwischen polnischer und russischer Literatur, die in vielerlei Hinsicht unter ähnlichen gesellschaftlichen Umständen entstanden. Auch wenn der Positivismus in den 1870er Jahren in Warschau, wo sich das damalige Literaturleben konzentrierte, im kulturellen Milieu eine erhebliche Strahlkraft hatte, lassen sich nicht alle Autoren dieser Jahre in diesen weltanschaulichen Kontext einordnen. Henryk Sienkiewicz beispielsweise, einer der wichtigsten polnischen Realisten und 1905 Nobelpreisträger für Literatur, orientierte sich schon zu Beginn der 1880er Jahre als Redakteur der Zeitung Słowo deutlich in die konservative Richtung. Andere dagegen, wie der einige Jahre jüngere Adam Szymański, verbanden mit dem für die ältere Generation prägenden Erlebnis des Januaraufstands keine ähnlich intensiven Erfahrungen und ließen sich von den aufrührerischen Ideologien des Sozialismus oder Nationalismus faszinieren. Auch für diese Autoren galt allerdings, dass die blühende russische Literatur ihnen nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich nahe stand. In den polnisch besiedelten Gebieten setzten ebenso wie im Inneren Russlands Industrialisierung und kapitalistisches Wirtschaften ein, die Bauernfrage war in Bewegung, der Adel verlor an Einfluss und an moralischer Unangreifbarkeit, die Arbeiterbewegung entstand. Entsprechend überschnitten sich russische und polnische Literatur thematisch in diesen Jahren in Vielem, u.a. bei der sozialen Frage in der Stadt und dem Leben der Bauern auf dem Land, bei der Diskussion über den Zustand des Adels, bei Fragen von Industrialisierung und Modernisierung sowie von Ehe, Familie und Emanzipation. Andere Fragen waren lokal spezieller (z.B. Januaraufstand und nationale Konsolidierung in Polen, Nihilismus und Sozialutopien in Russland), doch war eine breite gemeinsame Basis gegeben, die für die Autoren kaum gleichgültig sein konnte.134
134 Auch wenn der russische Realismus schnell ein internationales Echo fand, sieht die einschlägige Forschung ihn für den polnischen Realismus nicht als maßgebende Inspiration an. Die polnische Literatur, so die gängige Argumentation, entwickelte sich eigenständig (Cybenko 2001, 297; 302 f.; Jakóbiec 1950, 18).
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Russische Literatur unter polnischen Autoren
Alles in allem überrascht es deshalb nicht, in den persönlichen Aufzeichnungen von polnischen Schriftstellern unterschiedlicher Couleur in diesen Jahren Spuren der Lektüre russischer Literatur zu finden. Als Beispiel kann Eliza Orzeszkowa dienen, deren umfangreiche Korrespondenz zu einem guten Teil veröffentlicht ist. Orzeszkowa verbrachte den größten Teil ihres Lebens in Grodno, einer Stadt, die nach den polnischen Teilungen als Teil der russischen „Westgebiete“ an das Zarenreich angeschlossen worden war. Sie konnte russische Texte im Original lesen (Puškarevič 1931, 435; Jankowski 1964, 337) und bezog mehrere russische Monatsblätter – in ihren Briefen nennt sie z.B. die Russkaja Mysl’ oder den Vestnik Evropy. Informationen über das russische Literaturleben bezog sie so aus erster Hand.135 Ihre Hochachtung für die russische Literatur verbarg sie in ihrer Korrespondenz keineswegs, wie z.B. ein Brief an den Sprachwissenschaftler Jan Karłowicz aus dem Jahr 1882 zeigt: (...) czytam dużo: Kalinkę, Tain[e]’a, Szczedryna, którego admiruję, Dostojewskiego, który mię zdumiewa. Tyle geniuszu w połączeniu z taką pierwotnością formy i nawet do pewnego stopnia pojęć nigdy jeszcze nie spotkałam. Jego Zapiski z miertwaho doma są i wspaniałe, i zarazem obrzydliwe. Dla nas, dzieci cywilizacji zachodniej, takie ukształtowanie głowy pisarskiej zupełnie jest niezrozumiałym (Orzeszkowa 1956, 27; Einschub in der Vorlage).136
Es ist sogar ein persönlicher Brief Orzeszkowas an Saltykov erhalten, den sie aus Anlass eines seiner Artikel verfasste, in dem Orzeszkowas Novelle Silny Samson wohlwollend erwähnt wird. Orzeszkowa dankte Saltykov daraufhin brieflich und schrieb ihm u.a. von ihrer „lebendigen Bewunderung“ (żywe uwielbienie) für seine Schriften, die sie fast alle gelesen habe und die ihr „eine bedeutende Summe geistigen Vergnügens und Nutzens gegeben“ hätten (dały mi one znaczną summę umysłowej przyjemności i korzyści; Puškarevič 1931, 435).137 135 Wenngleich auch aus anderen Quellen, vgl. 1881 Lektüre Saltykovs in der französischen Revue politique et littéraire (Orzeszkowa 1967, 125). 136 „(...) ich lese viel: Kalinka, Tain[e], Ščedrin, den ich bewundere, Dostoevskij, der mich erstaunt. So viel Genie in Verbindung mit so einer Ursprünglichkeit der Form und bis zu einem gewissen Grad selbst der Begriffe ist mir noch nie begegnet. Seine Zapiski iz mertvogo doma sind sowohl großartig als auch gleichzeitig grässlich. Für uns, die Kinder der westlichen Zivilisation, ist ein so ausgestalteter Autorenkopf völlig unverständlich.“ 137 Bemerkenswert ist, dass Orzeszkowa in Russland sehr viel gelesen wurde, was auch zu weiteren Kontakten mit Vertretern der russischen Intelligenz führte. So schrieb sie 1896 in einem Brief an ihre Bekannte Lucyna Kotarbińska: „Gdybyś wiedziała, jak jestem czytana i uwielbiana w Rosji, śmiałabyś się! Przynajmniej dziesięć razy więcej niż w Polsce. Wyobraź sobie, że Babunia w przekładzie zrobiła tam furorę. Jeden z pisarzy rosyjskich napisał mi o niej, że jest to ‚pieśń anielska podsłuchana przez geniusz i wiernie powtórzona ziemi.’ Powieściopisarz Boborykin powiedział komuś w tych czasach, że uważa mnie jako chlubę i ozdobę całej Słowiańszczyzny.“ (Orzeszkowa 1971, 76; vgl. Orzeszkowa 1961, 262 f.). Dt.: „Wenn Du wüsstest, wie sehr ich in Russland gelesen und geliebt werde, würdest Du lachen! Min-
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Während bei Orzeszkowa die Literaturkenntnis vor allem aus den persönlichen Dokumenten spricht (für weitere Beispiele s. Cybenko 1963a), lässt sie sich bei ihrem Schriftstellerkollegen Bolesław Prus auch in der umfangreichen Publizistik nachweisen. Prus schrieb für verschiedene polnische Zeitungen sogenannte Wochenchroniken (d.h. zwischen Feuilleton und Klatsch changierende Kurzberichte aus Warschau). Dort nahm er wiederholt Bezug auf die Texte russischer Schriftsteller, so z.B. von Gogol’ und Turgenev (1883; Prus 1957, 33; 358). 1889 hob er die Bedeutung von Tolstoj, Dostoevskij, Saltykov-Ščedrin und Turgenev als Autoren und Denker von Weltrang hervor: Nie posiada również Francja nawet w przybliżeniu ani jednego powieściopisarza tej miary co czterej Rosjanie: Tołstoj, Dostojewski, Szczedryn i Turgieniew, spomiędzy których osobliwie trzej pierwsi są fenomenami w literaturze świata (Prus 1962, 97).138
Mehrmals ging er auf Dostoevskij ein (1889, 1897 und 1901; Prus 1962, 98; Prus 1965, 211; Prus 1967, 99; zu Prus und Dostoevskij s. a. Baranov 2008), ebenso auf Tolstoj und Puškin (s. u. Kap. 6; Kap 7; zu Prus und russischer Literatur s.a. Cybenko 1963b). Etwas anders als bei Orzeszkowa und Prus vollzog sich die Rezeption russischer Literatur bei Adam Szymański. Er stellt insofern einen Sonderfall dar, als dass er 1879 für konspirative Aktivitäten nach Sibirien verbannt wurde. Dort heiratete er eine Russin, mit der er auch nach dem Ende der Verbannung 1885 weiter in Russland lebte (u.a. in St. Petersburg). Szymański war einer der Wenigen, die sich schon in den 1870er Jahren in Warschau zur Rezeption russischer Literatur bekannt hatten. Der Aufenthalt in Kernrussland verstärkte dieses Interesse, zumal er auch persönliche Bekanntschaften mit russischen Autoren machte (u.a. mit Korolenko). Auch wenn Szymański kein umfangreiches literaturkritisches Werk zur russischen Literatur hinterlassen hat, sind seine entsprechenden Interessen doch gut belegt (Burdziej 1991, 27; 29; 31; 51 ff.; vgl. Małgowska 1989). Bei näherem Hinsehen wird bei allen drei Autoren deutlich, dass sie die russische Literatur auch in vergleichender Perspektive lasen. So kritisierte Szymański 1877, dass es Turgenev an Tendenzhaftigkeit mangele – eine Eigenschaft, die für die Literatur des frühen polnischen Realismus kennzeichnend war (Burdziej 1991, 52). destens zehnmal mehr als in Polen. Stell Dir vor, Babunia hat dort in Übersetzung für Furore gesorgt. Ein russischer Schriftsteller hat mir darüber geschrieben, dass es ‚ein Engelslied ist, gehört von einem Genie und der Erde getreu wiederholt.’ Der Romanautor Boborykin hat dieser Tage jemandem gesagt, dass er mich für den Stolz und Schmuck der ganzen Slavenheit hält.“ 138 „Auch Frankreich hat nicht annähernd einen Romanautoren des Rangs der vier russischen: Tolstoj, Dostoevskij, Ščedrin und Turgenev, von denen besonders die drei ersten Phänomene der Weltliteratur sind.“
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Prus wiederum schrieb 1887 in einem Artikel im Kraj über die Fortschrittlichkeit der russischen Schriftsteller in der Bauernfrage: A kto jest dzisiaj bohaterem większej części nowel jeżeli nie chłop, jak 20 lat temu bohaterem takim był doktór albo inżynier, a jeszcze dawniej – książę, hrabia albo artysta? (...) Wstyd wyznać, lecz w kwestii chłopskiej my, Polacy, zostaliśmy daleko poza Rosjanami. U nich chłopomaństwo było modą już wówczas, kiedy jeszcze u nas poeci lub dramatopisarze „walczyli ze zgubnym wpływem pozytywizmu i nauk przyrodniczych“. I dopiero dziś, kiedy w Rosji już wytworzyła się cała literatura bądź opisująca lud, bądź przeznaczona dla ludu, my – zaczynamy na lud zwracać pierwsze spojrzenia (Prus 1960, 266).139
Orzeszkowa schließlich antwortete 1903 in einem Brief an den Literaturkritiker Aureli Drogoszewski, dass die russische Literatur in der jüngeren Vergangenheit besonders aufgrund ihres demokratischen Gehalts für polnische Jugendliche anziehend gewesen sei, während die polnische Literatur in dieser Hinsicht weniger zu bieten gehabt habe: A o tym, co Pan pisze o niedostateczności w pewnym momencie literatury polskiej i niemożności jej utrzymania konkurencji z rosyjską, wiedziałam zawsze i wiem, tylko wiedziałam też i wiem o przyczynach, które tę niedostateczn[ość] sprowadziły. Legł pod kulami i na stepach północnych, zawisł na szubienicy zastęp szlachetnych, młodych demokratów – braci po duchu wczesnej młodości mojej! (...) (Orzeszkowa 1958, 141; Einschub in der Vorlage).140
Insgesamt zeugen die Beispiele von Orzeszkowa, Prus und Szymański davon, dass sie mit der russischen Literatur gut vertraut waren, diese schätzten und in ihr auch eine Referenz für den Stand und die Entwicklung des eigenen Schaffens sahen. Dennoch ist ein generalisierender Rückschluss auf den Umfang der Rezeption russischer Literatur durch polnische Autoren schwieriger als es scheint. So sind bei anderen zentralen Autoren die Hinweise auf die Lektüre russischer Bücher recht vereinzelt: Sienkiewicz beispielsweise zitierte zwar in einem Brief Gogol’ auf Russisch (Sienkiewicz 2009, 386 f.), deutete aber ansonsten keine umfangreichen Kenntnisse 139 „Und wer ist heute der Protagonist des Großteils der Novellen wenn nicht der Bauer, so wie vor 20 Jahren der Protagonist ein Doktor oder Ingenieur war, oder noch früher – ein Fürst, Graf oder Künstler? (...) Es ist beschämend zuzugeben, aber in der Bauernfrage sind wir, die Polen, weit hinter den Russen zurückgeblieben. Bei ihnen war die Bauerneuphorie schon Mode, als bei uns die Dichter und Dramaturgen noch ‚mit dem schädlichen Einfluss des Positivismus und der Naturwissenschaften kämpften’. Und erst heute, wo sich in Russland schon eine ganze Literatur entweder zur Beschreibung des Volkes oder bestimmt für das Volk herausgebildet hat, beginnen wir – auf das Volk die ersten Blicke zu lenken.“ 140 „Und was Sie schreiben über die Unzulänglichkeit der polnischen Literatur in einem bestimmten Moment und ihre Unfähigkeit, mit der russischen Schritt zu halten, wusste ich immer und weiß ich, aber ich kannte auch und kenne die Gründe, die diese Unzulänglichk[eit] herbeigeführt haben. Es fiel unter den Kugeln und in den nördlichen Steppen, hing am Galgen die Schar edler, junger Demokraten – die Brüder im Geiste meiner frühen Jugend! (...).“
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russischer Literatur an (vgl. Białokozowicz 1967, 97 f.); Piotr Chmielowski schrieb als einer der wichtigsten Literaturkritiker seiner Zeit zwar einzelne Texte und Passagen insbesondere zu Gogol’ und Turgenev (Litwinow 1975, 178 f.; Sielicki 1975, 117), äußerte sich insgesamt aber ebenfalls wenig zu russischen Autoren. Ähnlich sah es z.B. bei Maria Konopnicka aus (Piotrovskaja 1959), bei der trotz auffälliger thematischer Nähe zu Nekrasov ihre Kenntnis der Werke des russischen Kollegen spekulativ bleiben muss (Piotrovskaja 1970, 314). Auch der Blick in die kulturell relevanten Zeitschriften ergibt hier kein klares Bild. Die Niwa brachte unabhängig von ihrer wechselnden weltanschaulichen Orientierung fast nur Randnotizen zur russischen Literatur (Brykalska 1978a, 242 ff.). Im wissenschaftlich orientierten Ateneum fehlen Übersetzungen russischer Literatur im gesamten Erscheinenszeitraum (1876–1901), auch wenn aus anderen Literaturen durchaus Texte gedruckt wurden. Immerhin erschienen dort sechs umfangreiche und hochwertige literarische Studien – quantitativ allerdings auch dies, gerechnet auf das 25jährige Bestehen der Zeitschrift, ein niedriges Niveau (Świerczyńska 1978, 263). Im Przegląd Tygodniowy letztlich, dem wichtigsten Blatt des jungen Positivismus, blieben ganze Jahrgänge ohne nennenswerte Texte zur russischen Literatur. Zwischen 1866 und 1890 erschienen insgesamt 6 Übersetzungen von Primärtexten russischer Autoren, aber 53 von französischen; im selben Zeitraum stehen 24 literaturkritische Arbeiten zu russischen Autoren gegenüber 228 mit Bezug zu französischen (Kabata 1978, 210). Anlass für die russistischen Beiträge waren meist Jubiläen oder Nachrufe, bei der Auswahl der behandelten Autoren beschränkte sich das Blatt in der Regel auf die bekanntesten. Die Rezeption fiel also vergleichsweise bescheiden aus und vermittelte zudem den Lesern kein vollständiges Bild vom aktuellen russischen Geistesleben. Ein anderes Bild bietet vor allem Aleksander Świętochowskis Prawda. Świętochowski formulierte gleich nach der Gründung der Zeitung seine Ansicht, dass die Polen nicht nur polenkritische russische Organe wie die Moskovskie Vedomosti oder das Novoe Vremja wahrnehmen dürften, sondern den Dialog und die Diskussion mit den „ehrlichen“, d.h. liberaleren Kräften suchen müssten. Zur Anregung dieses Dialogs legte er als erste kostenlose Beilage für seine Abonnenten den Artikel Kwestia polska w literaturze rosyjskiej („Die polnische Frage in der russischen Literatur“) des russischen Literaturhistorikers Aleksandr Pypin bei, quasi als Thesenpapier, anhand dessen die Polen ihre Vorstellung vom russischen Polenbild revidieren sollten. In den folgenden Monaten gab er seinen Lesern dafür weiteres Material an die Hand, teils durch den Abdruck von russischen Primärtexten, teils durch verschiedene Berichte zu aktuellen Fragen des russischen Literaturlebens. Auch er selber sparte dabei nicht mit Lob für die russischen Autoren, aber die verschärfte politische wie auch Świętochowskis persönliche Situation – russlandfreundliche Aussagen hatten ihn in die Defensive gedrängt – führten dazu, dass etwa ab 1884 die Berichterstattung über Russland bescheidener wurde (Brykalska 1978b, 280).
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Dennoch verschwand sie nie ganz aus der Prawda: Auf alle Jahrgänge bis ins frühe 20. Jahrhundert verteilt sich ein steter Anteil von Artikeln zur russischen Literatur (vgl. bibliographische Aufstellung in Brykalska 1978b, 305 ff.). Nimmt man persönliche und öffentliche Quellen zusammen, so ergibt sich insgesamt das Bild, dass die Autoren gerade in der Öffentlichkeit in Bezug auf die russische Literatur Zurückhaltung übten. Es lässt sich aber dennoch eine gewisse Stetigkeit der Rezeption nachweisen, und gibt man einzelnen Hinweisen generalisierende Bedeutung, so scheint die Rezeption auch in der gesamten Generation stattgefunden zu haben. Es war für die Autoren allerdings nicht opportun, sich dazu öffentlich zu bekennen. Gerade an sie wurde damals nach wie vor ein hoher patriotischer Maßstab angelegt, und wenn sie sich ohne Widerspruch ihrer Landsleute wohlwollend über russische Literatur äußern durften, so allenfalls als Reaktion auf ein Entgegenkommen der russischen Seite (vgl. die Strategie des Kraj). Dies wie auch die ganze Komplexität der Rezeptionssituation der polnischen Schriftsteller lässt sich anhand einer Kette von Ereignissen zu Beginn des Jahres 1895 veranschaulichen, in denen sich die beschriebene Problematik in symptomatischer Weise verdichtete.141 Ihren Ausgang hatten die Ereignisse Anfang Februar 1895 in Moskau genommen, wo die Redaktion der russischen Zeitung Russkaja Mysl’ ihr 15jähriges Bestehen gefeiert und aus diesem Anlass Grußtelegramme u.a. an Henryk Sienkiewicz und Eliza Orzeszkowa geschickt hatte, deren Werke wiederholt in dem Blatt erschienen waren. Der Text des Telegramms an Sienkiewicz, das an die Redaktion 141 Der Mangel an direkten Aussagen über russische Literatur bei einem Teil der realistischen Schriftsteller hat in der komparatistischen Forschung zu dem Versuch geführt, die Lektüre russischer Literatur direkt in den künstlerischen Texten nachzuweisen. Derartige Textvergleiche haben interessante Parallelen hervorgebracht, ihr objektiver Erkenntniswert war jedoch stets gering, denn was für den einen Forscher offensichtlich war, erschien dem anderen völlig abwegig. Anschaulich zeigt dies ein Beispiel aus der Sienkiewicz-Forschung. 1930 schrieb Jan Harhala im Pamiętnik Literacki über den seiner Meinung nach „ziemlich deutlichen“ Einfluss russischer Autoren auf Sienkiewicz und führte zum Beleg eine „frappierende Ähnlichkeit“ (uderzające podobieństwo) zwischen einer Szene aus Puškins Kapitanskaja dočka und einer Szene aus Sienkiewiczs Ogniem i mieczem an (Harhala 1930, 121). Für Marian Jakóbiec waren dies 1950 „eingebildete Ähnlichkeiten“ (wyimaginowane podobieństwa) und Harhalas Ansatz „sinnlos“ (bezsens) bzw. „abschreckend“ (odstraszający; Jakóbiec 1950, 31). Allerdings stellte Jakóbiec gleich anschließend selbst völlig spekulative Thesen in den Raum: Sienkiewicz müsse Tolstoj gelesen haben und insbesondere von seinen Kampfdarstellungen beeindruckt gewesen sein (Jakóbiec 1950, 31). Diese These bezeichnete einige Jahre später Bazyli Białokozowicz als abwegig (Białokozowicz 1967, 110 f.), nicht ohne allerdings selbst wieder andere Einflüsse für plausibel zu halten (Białokozowicz 1967, 98 f.). Auf diesem Weg lassen sich offensichtlich keine belastbaren Ergebnisse erzielen und insbesondere die fehlenden Quellen zur direkten Rezeption nicht ersetzen.
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der Gazeta Polska adressiert war, lautete auf Polnisch: „Prosimy zakomunikować panu Henrykowi Sienkiewiczowi serdeczne pozdrowienie, z okoliczności naszego dorocznego święta, oraz życzenia łączności we wspólnej pracy“ (Kraj Nr. 6/1895, 19).142 Das Telegramm an Orzeszkowa hatte denselben Wortlaut (Orzeszkowa 1955, 62) und beide Telegramme unterschrieben neben den gewöhnlichen Redaktionsmitgliedern auch mehrere russische Schriftsteller, darunter Anton Čechov, Vasilij Nemirovič-Dančenko und Ignatij Potapenko. Anstatt jedoch den russischen Kollegen gleichfalls einen unverbindlichen Gruß zu senden, nutzte Henryk Sienkiewicz die Gelegenheit, um subtil auf die nach wie vor schwierigen Umstände im russischen Teilungsgebiet aufmerksam zu machen, wie auch auf die mangelnde Wertschätzung polnischer Kultur, die seiner Meinung nach die russische Gesellschaft kennzeichnete. Sienkiewicz schrieb: Dziękuję szczerze za dowód uznania, jakie w mojej osobie składacie literaturze polskiej. Będąc pewnym, że przez wspólność pracy rozumiecie sprawę cywilizacji, zdrowego postępu i dążenie do stosunków, opartych na wzajemnem poszanowaniu i sprawiedliwej opinji – życzę wam serdecznie wszelkich na tej drodze powodzeń (Kraj Nr. 6/1895, 19).143
Orzeszkowas Antwort fiel dagegen unprätentiöser aus, indem sie nach Moskau telegrafierte: „Gorące szlę podziękowania za uprzejmą depeszę, którą zachowam, jako bardzo drogą pamiątkę. Najlepsze życzenia pomyślności i trwałej przyszłości dla pańskiego szanownego i sympatycznego pisma“ (Kraj Nr. 6/1895, 19).144 Damit war die Sache allerdings nicht erledigt, denn beide Antworten führten nach ihrem Bekanntwerden zu Kontroversen. Während viele Polen Sienkiewicz zu seiner politischen Botschaft gratulierten, erregten sich nationalistische russische Kreise, dass „gesunder Fortschritt“ in Sienkiewiczs Verständnis vermutlich die Zerstörung Russlands und der Wiederaufbau Polens von Meer zu Meer sei (MV Nr. 77/1895, 2). Orzeszkowas Telegramm dagegen sorgte bei vielen ihrer Landsleute für Verstimmungen und brachte ihr heftige Vorwürfe ein, dass sie zu den Russen zu freundlich sei ( Jankowski 1964, 434 ff.; Orzeszkowa 1955, 62; 66 ff.; 332 ff.). Deutlich wird so, dass die politischen Umstände beiden polnischen Autoren eine unbefangen-herzliche Antwort an ihre russischen Kollegen unmöglich mach142 „Wir bitten, Herrn Henryk Sienkiewicz aus Anlass unseres Jubiläumstags einen herzlichen Gruß auszurichten und Wünsche der Verbundenheit in der gemeinsamen Arbeit.“ 143 „Ich danke aufrichtig für den Beweis der Anerkennung, den Sie in meiner Person der polnischen Literatur darbieten. In der Gewissheit, dass Sie unter gemeinsamer Arbeit die Angelegenheiten der Zivilisation, des gesunden Fortschritts und das Strebens nach Beziehungen verstehen, die auf gegenseitigem Respekt und gerechte Ansichten gestützt sind – wünsche ich Ihnen auf diesem Weg jeglichen Erfolg.“ 144 „Ich schicke tiefen Dank für die freundliche Depesche, die ich als teures Andenken halte. Die besten Erfolgswünsche und eine lange Zukunft für Ihre geehrte und sympathische Zeitschrift.“
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ten. Sienkiewicz nahm dies (womöglich aus Überzeugung) in Kauf. Orzeszkowas Unbedarftheit dagegen rächte sich bitter. So wurde aus dem harmlosen Telegramm der russischen Kulturschaffenden eine Affäre, in deren Verlauf vor allem der Ruf der polnischen Autorin litt. Als Echo dieser Diskussionen erschien kurz darauf im Kraj ein Artikel des polnischen Dichters Wiktor Gomulicki (Kraj Nr. 11/1895, 5–7; Nachdruck in Salden 2012a, 348–352). Gomulicki, geboren 1848 und seit 1864 in Warschaus literarischen Kreisen zu Hause, war schon zuvor als stark in romantischen Traditionen verwurzelter Dichter einen eher individuellen Weg gegangen (Libera 1965, 282; zur Biographie s. Parzych 1988, 4 ff.). Nun ergriff er in ungewöhnlicher Weise das Wort und skizzierte zu Beginn seiner Ausführungen einen „Literaturstaat“ (rzeczpospolita literacka), der außerhalb der politischen Sphäre ein dem Alltag enthobenes Reich darstelle und für den besondere Rechte kennzeichnend seien: Wiadomo czem była w swoim czasie immunitas ecclesiastica. Zapewniała ona z jednej strony nietykalność miejscom świętym (...), z drugiej – czyniła nietykalnymi tych, którzy się pod jej skrzydła schronili. Więc, czy kogo (...) znalazł się w rozterce z własnem sumieniem lub z sumieniem narodu, czy (...) popełnił czyn, za który głowa jego z mieczem katowskim spotkać się miała – bezpieczny bywał, zasłoniwszy się puklerzem kościelnego juris asyli. (...) I jeden jeszcze posiadały świątynie przywilej. Pod osłoną ich znajdowali spokój ci, których burze życia niezdolnymi do walki uczyniły (...). Takim kościołem nietykalnym, takim szczytem po nad strefę chmur piorunowych wyniesionym, jest dziś, a przynajmniej być powinna – literatura (Kraj Nr. 11/1895, 5).145
Mit den Worten über diejenigen, die sich „im Widerspruch zum Gewissen der Nation“ befänden und „die das Leben unfähig zum Kampf gemacht“ habe, spielte Gomulicki auf Orzeszkowa und die direkt vorhergegangenen Diskussionen an. Für Gomulicki war dies aber nicht der eigentliche Gegenstand seiner Ausführungen, sondern nur der Anlass, grundsätzlich die Beziehungen zwischen russischen und polnischen Autoren zu thematisieren. Trotz des Untertitels „Ein offener Brief an den Redakteur des Kraj“ (List otwarty do redaktora „Kraju“) handelte es sich so um einen offenen Brief an seine polnischen und russischen Schriftstellerkollegen. 145 „Es ist bekannt, was zu seiner Zeit die immunitas ecclesiastica war. Sie sicherte einerseits die Unberührbarkeit heiliger Orte (...), andererseits – machte sie jene unberührbar, die sich unter ihren Flügeln schützten. Wenn sich also jemand (...) im Zwiespalt mit dem eigenen Gewissen oder dem Gewissen der Nation befand, oder (...) eine Tat beging, für die sein Kopf das Henkersschwert treffen sollte – sicher war er, wenn er sich im kirchlichen juris asyli schützte. (...) Und noch ein Privileg besaßen die Heiligtümer. Unter ihrem Schutz fanden diejenigen Ruhe, welche die Stürme des Lebens unfähig zum Kampf gemacht hatten (...). Eine solche unberührbare Kirche, ein solcher Gipfel über der Zone der Gewitterwolken ist heute, oder sollte es zumindest sein – die Literatur.“
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Als Ausgangspunkt für diese allgemeinere Problematik nahm Gomulicki zeitnahe Beispiele von Todesfällen unter russischen und polnischen Autoren, die von den Autoren des jeweils anderen Volkes schweigend übergangen worden seien. So folgerte er: (...) od dość dawnego już czasu, w sferze, o którą chodzi, stało się zwyczajem ignorowanie się wzajemne, [i] (...) zwyczaj ten przeszedł jakby w milczącą umowę, której trzymanie się obie strony poczytują niejako za wiary społecznej artykuł (Kraj Nr. 11/1895, 5).146
Gomulicki sah die Schuld dafür aber nicht nur bei den Autoren. Anhand von zwei eigenen Erlebnissen illustrierte er, wie schwer es für einen Schriftsteller sein konnte, sich zur jeweils anderen Kultur zu äußern: Im einen Fall hatte eine polnische Zeitung den Abdruck von Gomulickis Lermontov-Übersetzungen abgelehnt, da zuvor in einer russischen Zeitung ein für einen polnischen Autor unvorteilhafter Artikel erschienen sei. Im anderen Fall dagegen war er vom Varšavskij Dnevnik für die Rezension einer russischen Malerei-Ausstellung angegriffen worden, weil diese auch kritische Anmerkungen enthalten habe (Kraj Nr. 11/1895, 5 f.). Sowohl die russische als auch die polnische Seite achteten also genau auf die politische Korrektheit kulturbezogener Aussagen. In seinem Artikel formulierte Gomulicki keine direkt politische Botschaft zur Überwindung der Differenzen von Polen und Russen – selbst wenn seine Wortmeldung auch im Kontext der Hoffnungen des polnischen Ausgleichslagers zu sehen sind, das nach der Thronbesteigung Nikolajs II. in diesen Monaten eine Verbesserung des polnisch-russischen Verhältnisses erwartete (Sobczak 1999, 151). Gomulicki wendete sich aber vor allem dagegen, dass die Schriftsteller beider Völker sich in diese Ränkespiele hineinziehen ließen. Schriftsteller sollten sich unabhängig von der Nationalität und der politischen Konjunktur als Brüder in der Kunst verstehen und gemeinsam nach dem Schönen und Wahren streben, so Gomulickis Botschaft. Das Streben nach Wahrheit verbiete es dann, auf Vorurteilen basierende Darstellungen des jeweils anderen Volkes in die eigenen Werke einzubringen, das Streben nach Schönheit dagegen verbiete es, sich von Vorurteilen geleitet der Literatur des anderen Volkes zu verschließen. Auf dem Weg zu diesem Ideal sah Gomulicki die Russen ein gutes Stück voraus, denn während die Russen sich zuletzt der polnischen Literatur geöffnet hätten, sei das jüngere russische Schrifttum für die Mehrheit der Polen noch immer eine terra ignota (Kraj Nr. 11/1895, 6). Gomulickis insofern doch vorrangig an die Polen gerichteter Aufruf, sich der russischen Literatur zu öffnen, fand in beiden Ländern nicht das Echo, das Gomulicki sich wohl erhofft hatte. Während die Warschauer Zeitungen hierzu schwiegen, 146 „(...) seit recht langer Zeit ist es in der Sphäre, um die es geht, zum Brauch geworden, sich gegenseitig zu ignorieren, [und] (...) dieser Brauch ist quasi in einen stillschweigenden Vertrag übergegangen, dessen Einhaltung beide Seiten als eine Art Artikel gesellschaftlichen Glaubens halten.“
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schlug das Novoe Vremja vor, dass polnische und russische Autoren in Warschau eine Filiale einer gesamtrussischen Schriftsteller-Vereinigung gründen könnten (NV Nr. 6881/1895, 3) – ein für die Polen inakzeptabler Vorschlag, da sie um jeden Preis den Eindruck vermeiden wollten, russische Autoren zu sein.147 In der galizischen Presse dagegen wurde Gomulicki von Roman Dmowski attackiert, in dessen Weltsicht von im Kulturkampf befindlichen Nationen die Vision eines übernationalen Literaturstaats sich denkbar schlecht einfügte. Entsprechend schimpfte er, Gomulicki sei ein „heruntergekommener Autor ohne Gefühl von nationaler Würde“ (podupadły autor bez poczucia godności narodowej) und rückte ihn in die Nähe des als Polenhasser geschmähten russischen Schriftstellers Krestovskij: (...) myśmy dotąd sądzili, że pisarzom naszym przyświecają słowa nieśmiertelnego Adama: „Ja i ojczyzna to jedno“, od p. Gomulickiego zaś dowiadujemy się czegoś całkiem przeciwnego. Wskazuje on jakiś ideał dobra, wiszący ponad dobrem własnego narodu a może nawet jemu przeciwny, pod jego wezwaniem każe łączyć się z bojownikami wrogich nam dążności i powiada prawie: „Ja i Krestowskij to jedno“ (PW Nr. 8/1895, 118).148
So sind die Reaktionen auf das Russkaja Mysl’-Telegramm in vielerlei Hinsicht bezeichnend für die damalige Rezeptionssituation russischer Literatur durch polnische Schriftsteller. Sowohl von der polnischen als auch von der russischen Seite mussten sie missgünstige Kommentare fürchten. Dennoch ist Gomulickis Brief allein aufgrund der Tatsache seines Erscheinens auch ein Hinweis darauf, dass diese Hemmung der (öffentlichen) Rezeption um die Jahrhundertwende an Kraft verlor. Hierzu trugen unterschiedliche Gründe bei. So starb z.B. die Generation derjenigen russischen Autoren aus, die unter dem Eindruck des Januaraufstands sehr scharfe antipolnische Texte geschrieben hatte – Gomulicki nahm in seinem Text exemplarisch Bezug auf den Tod Vsevolod Krestovskijs im Januar 1895. Gleichzeitig offenbarten viele der aktiven russischen Autoren Polen gegenüber in diesen Jahren Sympathien – so z.B. Vladimir Korolenko und 147 Was im Übrigen nicht immer gelang: 1903 veröffentlichte der französische Verleger Guyot einen Band mit Sienkiewiczs Novellen mit dem Hinweis, dass er die französische Öffentlichkeit nach der Herausgabe von Puškins Werken auch mit anderen russischen Schriftstellern habe bekanntmachen wollen (Kraj Nr. 49/1903, 23). Sienkiewicz verwehrte sich erbost gegen diese Einordnung – aber erfolglos. Nur ein Jahr später verlieh ihm die französische Regierung den Orden der Ehrenlegion als russischem Schriftsteller (Białokozowicz 1967, 98). 148 „(...) bisher waren wir der Meinung, dass unseren Schriftstellern die Worte des unsterblichen Adam vorschweben: ‚Ich und das Vaterland sind eins’, von Hrn. Gomulicki allerdings erfahren wir etwas völlig Entgegengesetztes. Er zeigt ein unbestimmtes Ideal des Guten, das über dem Wohl der eigenen Nation schwebt oder ihm womöglich sogar entgegen steht, fordert unter seinem Ruf die Vereinigung mit den Kämpfern uns feindlicher Bestrebungen und sagt beinahe: ‚Ich und Krestovskij sind eins’.“ Dmowski bezieht sich auf einen Satz von Konrad, dem Protagonisten aus Adam Mickiewiczs Drama Dziady (3. Teil).
Russische Literatur zur Zeit der frühen Moderne
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Lev Tolstoj. Der polnischen Öffentlichkeit musste es dementsprechend leichter fallen, die russische Literatur als etwas Positives aufzunehmen. Ein politischer Faktor war letztlich, dass zwischen 1894 und 1900 die Ausgleichs-Ideologie insbesondere aufgrund von personellen Veränderungen in den russischen Behörden ihre größte Popularität erreichte. Entsprechend stieg um die Jahrhundertwende auch die Zahl der öffentlichen Aussagen realistischer Autoren zur russischen Literatur. Dies lässt sich z.B. für Prus und Orzeszkowa nachweisen, aber auch für weniger prominente Autoren. Czesław Jankowski beispielsweise, der sich noch in der Frühzeit des Positivismus in Warschau als Dichter einen Namen gemacht hatte, war um 1900 eng mit dem Petersburger Kraj verbunden (Fedorowicz 2005, 30 f.) und veröffentlichte dort eine ganze Reihe von Übersetzungen (Solov’ev, Burenin, Turgenev) und Artikeln (über J. Polonskij, A. K. Tolstoj, L. Tolstoj, Puškin, Boborykin, Gogol’; Matlak-Piwowarska 1978, 334 ff.). Ein ähnlicher Fall ist Wiktor Gomulicki. Zwar hatte Gomulicki auch schon in den Vorjahren vereinzelt Übersetzungen russischer Autoren in polnischen Zeitungen publiziert (Taborski 1960, 25 ff.), doch nahmen diese Aktivitäten um die Jahrhundertwende zu. Im Kraj publizierte er nun u.a. Übertragungen von Gedichten Puškins und Polonskijs (Kraj Nr. 44/1898, 24; Kraj Nr. 22/1899, 14 f. DI), bemühte sich (erfolglos) um die Veröffentlichung eines Puškin-Sammelbandes (Taborski 1960, 28 ff.) und schrieb zudem die teils als zu russlandfreundlich abgelehnte Erzählung Sołdat, in der während des Januaraufstands ein russischer Soldat Freundschaft mit einer polnischen Familie schließt. Was die Grundidee des offenen Briefs von Gomulicki betrifft, d.h. dass die Kunst ein dem politischen Alltagsleben enthobener Bereich sei, mögen seine Zeitgenossen diese noch mehrheitlich als naiv betrachtet haben. Mit gleichem Recht kann man seine Äußerungen allerdings auch als Vorboten des modernistischen Kunstverständnisses nehmen, das gerade in diesen Jahren eine neue polnische Künstlergeneration prägte. Während sich also das Verhältnis der etablierten Autoren zur russischen Literatur in der Öffentlichkeit entkrampfte, wuchs eine neue Autorengruppe heran, die ihre Rezeption auch weltanschaulich auf völlig neue Grundlagen stellte.
5.2 Polnische Schriftsteller und russische Literatur zur Zeit der frühen Moderne Es ist schwer zu sagen, ob die Künstler der polnischen Moderne die russische Literatur besser kannten als ihre realistischen Vorgänger. Es lässt sich allerdings sicher sagen, dass die jüngere Generation ihre russische Lektüre und ihre Russlandbeziehung nicht in vergleichbarer Weise verheimlichte. Dies gilt besonders für die Zeit nach 1905, als eine ganze Reihe sowohl künstlerischer als auch sekundärliterari-
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scher Texte zu Russland und seiner Literatur entstanden.149 Die Revolutionsereignisse von 1905 trugen dazu in hohem Maße bei, doch die Kenntnisse und das Interesse an der Thematik kamen nicht aus dem Nichts. Sie hatten tiefe Wurzeln in den Jahren vor der Revolution. Die polnische Literaturwelt veränderte sich ab Mitte der 1890er Jahre stark. Analog zum Aufkommen der modernistischen Strömungen in anderen Teilen Europas wendeten sich damals auch viele der jungen polnischen Autoren von der Idee eines gesellschaftlichen Auftrags der Kunst ab. Stärker als das Soziale interessierten sie die inneren Vorgänge im einzelnen Menschen, sowohl körperlicher als auch geistiger Art. Gleichzeitig faszinierte sie das, was über den Menschen hinauswies – metaphysische Fragen und die nach der Macht der künstlerischen Natur. Die Kunst sollte um der Kunst willen bestehen, hervorgebracht von der unergründlichen Seele des schöpferischen Individuums. Ganz bewusst wurden individuelle und künstlerische Autonomie in den Mittelpunkt gerückt (Hutnikiewicz 2002, 40 ff.). Der so verstandenen Kunst wohnte automatisch ein kosmopolitisches Element inne, das auch nationale Animositäten in den Hintergrund treten ließ. Die polnische Literatur sollte sich im Dialog mit anderen Literaturen entwickeln, da ästhetischer Wert und künstlerischer Gehalt im Sinne des Wahren, Schönen und Guten sich nicht nach dem regionalen Ursprung oder der Tendenz eines Werkes bestimmen ließen (Legutko 2000, 8 ff.). So polemisierte beispielsweise der Warschauer Literaturtheoretiker und Übersetzer Zenon Przesmycki (Pseudonym Miriam) gegen die Geringschätzung fremder Literaturen in Polen und stellte heraus, dass stattdessen gerade in der gegenseitigen Rezeption das Potential für neue Schöpfungen liege: (...) wyosobnionych piśmiennictw nie ma, (...) historia literatury powszechnej jest właściwie historią wędrówki tych samych idei i form przez rozmaite sfery żywotów narodowych, przetwarzania się ich stosownie do otoczenia i oddziaływania dalej znów w tej nowej, przetworzonej postaci (Przesmycki 1967a, 179).150
In ähnlicher Weise argumentierte der Schriftsteller Stanisław Przybyszewski in seinem Manifest Confiteor. Dort verwies er zwar darauf, dass ein Künstler durchaus in seiner Nation verwurzelt sei, ihren spezifischen Geist spiegele und aus ihr seine Inspiration schöpfe; weder habe aber die eigene Kunst die Aufgabe, patriotisch zu wirken, noch sei der Bewertungsmaßstab anderer Kunst der eigene Patriotismus: 149 Z.B. Texte von Stanisław Brzozowski (Teodor Dostojewski: Z mroków duszy rosyjskiej; Płomienie), Tadeusz Nalepiński (On idzie! Rzecz o królu duchu Rosji), Tadeusz Miciński (Kniaź Patiomkin), Władysław Jabłonowski (Dookoła sfinksa; Indywidualizm rosyjski i jego odbicie w literaturze). 150 „(...) isolierte Literaturen gibt es nicht, (...) die Geschichte der allgemeinen Literatur ist eigentlich eine Geschichte der Wanderung gleicher Ideen und Formen durch unterschiedliche Sphären nationalen Daseins, ihre Umgestaltung entsprechend der Umgebung und Fortwirkung in der neuen, umgeformten Gestalt.“
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Sztuka w naszym pojęciu nie zna przypadkowego rozklasyfikowania objawów duszy na dobre lub złe, nie zna żadnych zasad czy to moralnych, czy społecznych: dla artysty w naszym pojęciu są wszelkie przejawy duszy równomierne, nie zapatruje on się na ich wartość przypadkową, nie liczy się z ich przypadkowym złym lub dobrym oddziaływaniem, czy to na człowieka lub społeczeństwo, tylko odważa je wedle potęgi, z jaką się przejawiają. (...) Działać na społeczeństwo pouczająco albo moralnie, rozbudzać w nim patriotyzm lub społeczne instynkta za pomocą sztuki, znaczy poniżać ją, spychać z wyżyn absolutu do nędznej przypadkowości życia, a artysta, który to robi, niegodny jest miana artysty (Przybyszewski 1973, 237 f.).151
Es liegt nahe, dass ein solcher Ansatz an die Kunst auch das Herangehen an die russische Literatur veränderte. Indem die Autoren patriotische Pflichten nicht mehr anerkannten und die entsprechenden Erwartungen der Leser sanken, indem das Beurteilungskriterium für Literatur auch anderer Völker nicht mehr gesellschaftliche Opportunität, sondern das Maß an Seelenkraft war, entfielen für die Rezeption russischer Literatur wichtige Grenzen. Sie wurde zu einer Literatur unter vielen, deren Wert sich allein nach ihrer Wirkung bemaß, und der man die Ehre erweisen durfte, sofern sie es verdiente. Am Beispiel von Przybyszewski und Przesmycki lässt sich dies illustrieren. Bei Przybyszewski bietet sich dafür seine intensive Dostoevskij-Rezeption an. Zwar kannte und schätzte er auch andere russische Autoren, so Garšin, Gogol’, Lermontov, Tolstoj und Turgenev (vgl. Przybyszewski 1985; ausführlich Galska 1972). Dostoevskij aber war für ihn ein künstlerisches Erlebnis von besonderem Rang. Prestuplenie i nakazanie habe er schon als Schüler „in einem Atemzug“ durchgelesen und sei danach vor Ergriffenheit sprachlos gewesen, schrieb Przybyszewski in seinen Erinnerungen (Przybyszewski 1985, 59). Die Lektüre von Besy, Brat’ja Karamazovy, Idiot und den Erzählungen Ende der 1890er Jahre habe in ihm dann sogar eine regelrechte Schaffenskrise ausgelöst: Ich las alles ohne aufzusehen, monatelang, ich las es vom Anfang bis zum Ende und umgekehrt: Ich begann mit dem Ende und strebte, ohne Atem zu schöpfen, wieder dem Anfang zu, und dabei durchlebte ich die schwerste Tragödie meines schöpferischen Lebens. Dostojewski überwinden, das hätte bedeutet, sich jener allmächtigen Zwei-Einheit ebenbürtig zu erweisen, die er und Shakespeare zusammen bilden (...). [Ich] schrieb etliche Jahre keinen Roman mehr,
151 „Kunst in unserem Verständnis kennt keine zufällige Klassizifierung von Geisteserscheinungen in gute und schlechte, kennt keine moralischen oder gesellschaftlichen Prinzipien: Für einen Künstler in unserem Verständnis sind alle Geisteserscheinungen gleichwertig, er schaut nicht auf ihren zufälligen Wert, rechnet nicht mit ihrer zufälligen schlechten oder guten Wirkung, sei es auf den Menschen oder die Gesellschaft, sondern bemisst sie nur nach der Macht, mit der sie sich präsentieren. (...) Auf eine Gesellschaft belehrend oder moralisch wirken, in ihr Patriotismus oder gesellschaftliche Instinkte mit Hilfe der Kunst wecken, bedeutet diese zu erniedrigen, sie aus den Höhen des Absoluten herabzustoßen in die armselige Zufälligkeit des Lebens, und der Künstler, der das tut, ist die Bezeichnung Künstler nicht wert.“
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bis ich den überwältigenden Einfluß Dostojewskis abgeschüttelt hatte (...) (Przybyszewski 1985, 274 f., vgl. Przybyszewski 1937, 359).
In seinen Erinnerungen schrieb Przybyszewski: „Dostojewski erwähnte ich schon. Bei ihm verspüre ich nur ein einziges Bedürfnis: Auf die Knie!“ (Przybyszewski 1985, 274). An anderen Stellen schrieb er von einer Seelenverwandtschaft mit dem russischen Schriftsteller (Przybyszewski 1985, 275; 399). Przybyszewskis Aussagen sind nicht nur darum bemerkenswert, weil Dostoevskij ein russischer Autor war, sondern vor allem auch darum, weil Dostoevskij zur Zeit des Realismus als „pathologischer Polenfeind“ von Polen praktisch überhaupt nicht beachtet worden war. Die modernistische Weltanschauung änderte nun die Rezeptionsoptik: Nicht Dostoevskijs nebensächliche Aussagen über die Polen oder sein Russlandbild beeinflussten das Urteil, sondern seine Fähigkeit, Seelenzustände und insbesondere inneres Leiden zu spiegeln. Für Przybyszewski war Dostoevskij deshalb ein vollkommener Künstler, in dessen Seele sich zugleich „das Allerschändlichste und das Allerheiligste“ spiegelten (Przybyszewski 1985, 13). Przybyszewskis Aussagen können dabei als symptomatisch gelten, da auch andere Autoren der frühen polnischen Moderne von Dostoevskij fasziniert waren (z.B. Brzozowski und Żeromski; Jazukiewicz-Osełkowska 1980; vgl. Poźniak 1971).152 Bei Zenon Przesmycki äußerte sich die neue Rezeptionssituation vor allem in seiner Publikationspolitik als Herausgeber der Zeitschrift Chimera, die von 1901 bis 1907 in Warschau erschien. Entsprechend der neuen Doktrin fehlte der Chimera ein politischer Teil, stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf den Abdruck künstlerischer oder kunsttheoretischer Texte sowohl polnischer als auch anderssprachiger Autoren. Dass die russische Literatur dabei nicht ausgenommen sein würde, zeigte schon die erste Ausgabe, in der Przesmycki persönlich einen Band polnischer Lermontov-Übersetzungen rezensierte (Chimera Nr. 1/1901, 155 ff.). Die russische Literatur hatte in der Chimera keine hervorstechende Position, aber sie fügte sich organisch in die künstlerische Gesamtordnung ein. Gogol’ stand hier neben anderen Autoren als „großer Dichter“ (Chimera Nr. 4–5/1901, 33), Tolstojs Aussagen über Kunst waren wie die anderer Autoren Teil des theoretischen Diskurses (Chimera Nr. 2/1901, 317). Auch russische Primärtexte erschienen wiederholt: kurze Erzählungen von Vsevolod Garšin (übersetzt von Jan Lemański; Chimera Nr. 4–5/1901, 156 ff.), Verse von Bal’mont (übersetzt von Przesmycki; Chimera Nr. 15/1902, 418 f.) und Erzählungen von Leonid Andreev (übersetzt von Jan Wroczyński, Chimera Nr. 18/1902, 347 ff.). Dies ist nicht sonderlich viel, im Vergleich mit den Texten aus anderen Literaturen aber auch nicht wenig, und bestätigt insofern das kunstfokussierte, egalitäre Herangehen des Herausgebers. 152 Häufig wurde auch auf Analogien zwischen einzelnen Texten Dostoevskijs und Przybyszewskis hingewiesen, insbesondere zwischen Dzieci Szatana und Besy (vgl. Przybyszewski 1985, 233; 275; Galska 1972, 82 ff.).
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Diese Publikationspolitik, die ihm keineswegs nur Zustimmung brachte, erläuterte Przesmycki exemplarisch für das Jahr 1902: Nie znaliśmy „starych i młodych“, nie znaliśmy szkół i kierunków, nie znaliśmy ciasnych doktryn i formuł. Niezmordowanie poszukując najwyższych objawów piękna, najwyższych porywów ducha, wędrowaliśmy (...) po wszystkich czasach i krajach (...). (...) uważamy, iż zbogaciliśmy piśmiennictwo krajowe, zawiązali nanowo węzły z wielkim wszechświatowym ruchem duchowym, węzły, tak silne ongi w świetnych naszych epokach, a w dobie spółczesnej rozluźnione zupełnie. Robiono nam zarzut, wybornie malujący dzikie zapatrywania dzisiejsze na przekłady, iż zawiele drukujemy rzeczy „obcych.“ Przedewszystkiem, rzecz doskonała w doskonałym przekładzie nie jest ani swoja ani obca: jest doskonała – a to wystarczy (Chimera Nr. 18/1902, 474; 476).153
Przesmycki und Przybyszewski verkörperten das modernistische Epochenbewusstsein fraglos in besonderer Weise – Ersterer als Ästhetiker, Letzterer als Dekadenzler mit einem turbulenten Lebenswandel. Nicht für alle Autoren dieser Jahre lagen die Dinge allerdings so klar. Entsprechend kennzeichnet auch die polnische Moderne von Beginn an eine gewisse Heterogenität der künstlerischen Ansätze, wobei viele Autoren speziell Postulaten der Entnationalisierung bzw. der Entbindung der Kunst von gesellschaftlichem Engagement nicht folgen wollten (Eile 2000, 145 f.). So schlossen sich Schriftsteller dieser Generation sowohl den Nationaldemokraten (z.B. Dębicki, Jabłonowski) als auch den Sozialisten (z.B. Strug, Brzozowski) an oder entwickelten individuelle Formen einer gesellschaftlich engagierten Literatur (Żeromski). Auch wenn dies in Maßen Folgen für das Russlandbild dieser Autoren und ihre Deutung literarischer Texte gehabt haben mag, scheint es, dass die Zugehörigkeit zu einem politischen Lager nicht die Tatsache der Rezeption russischer Literatur an sich beeinflusste. Władysław Jabłonowski beispielsweise war zwar im Lager der Nationaldemokraten aktiv, veröffentlichte aber ungeachtet der Boykottaufrufe sowohl vor als auch nach 1905 umfangreiche eigene Studien zur russischen Literatur.154 153 „Wir kannten keine ‚Alten und Jungen’, wir kannten keine Schulen und Richtungen, wir kannten keine engen Doktrinen und Formeln. Unermüdlich die höchsten Erscheinungen des Schönen, die höchsten Anwandlungen des Geistes suchend, sind wir (...) durch alle Zeiten und Länder gewandert (...). (...) wir meinen, dass wir das heimische Schrifttum bereichert haben, aufs neue Verbindungen mit der großen geistigen Bewegung der Welt angeknüpft haben, Verbindungen, so stark wie einst in unseren großartigen Epochen, so vollkommen gelockert in der heutigen Zeit. Man hat uns einen Vorwurf gemacht, der hervorragend die wilde heutige Anschauung auf Übersetzungen illustriert, dass wir zu viele ‚fremde’ Sachen drucken. Eine vollkommene Sache in einer vollkommenen Übersetzung ist zu allererst weder eigen noch fremd: Sie ist vollkommen – und das reicht aus.“ 154 Ostatnia powieść hr. Lwa Tołstoja (PW Nr. 9/1900, 551 ff.); Indywidualizm rosyjski i jego odbicie w literaturze (1908); Teodor Dostojewski wobec nowych prądów świadomości rosyjskiej (1908); Dookoła sfinks. Studya o życiu i twórczości narodu rosyjskiego (1910).
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Gewisse Unterschiede sind allerdings in Art und Umfang der Rezeption zwischen den beiden kulturellen Zentren dieser Zeit, d.h. zwischen Galizien (mit Krakau und Lemberg) und dem Königreich Polen (mit Warschau) festzustellen. In Galizien wurde russische Literatur insgesamt weniger und selektiver gelesen. Dies lag zunächst daran, dass die galizischen Autoren in der Schule nicht mit russischen Texten in Berührung kamen, nicht Russisch sprachen und auch darüber hinaus die kulturelle Orientierung insgesamt stark auf den deutschsprachigen Raum bzw. Westeuropa gerichtet war. Dies zeigt sich z.B. im literarischen Programm der Krakauer Zeitschrift Życie (1897–1900), die neben der Chimera als wichtigstes Organ der polnischen Moderne gilt. Deutsche Autoren standen in ihr regelmäßig im Blickpunkt, russische dagegen höchst selten – und das selbst in den Jahren 1898– 1900, als Stanisław Przybyszewski die Redaktion leitete.155 Besser stellte sich die Situation in der Krytyka dar, die mit moderner Kunst sympathisierte (Lichodziejewska 1978, 376). Die Zurückhaltung der galizischen Autoren in Bezug auf Russland kann man aber u.a. auch dadurch erklären, dass Galizien in der polnischen Moderne vorrangig Lyriker hervorbrachte, die aus dem prosa-affinen Russland zunächst eher wenig Inspiration empfangen konnten. Trotz dieser Einschränkungen lässt sich für viele der galizischen Autoren die Kenntnis zumindest einzelner Texte der russischen Literatur nachweisen. In den literarischen Zirkeln an der Lemberger Universität beispielsweise, in denen Ostap Ortwin, Leopold Staff und andere Autoren verkehrten, wurden mit großer Anteilnahme Tolstoj und Dostoevskij gelesen (Ortwin 1969, 15 f.). Jan Kasprowicz rezensierte für Lemberger Zeitungen Theaterstücke von Tolstoj und Gor’kij und berief sich in anderen Rezensionen auch auf A. Ostrovskij und Gogol’ (Białokozowicz 2003, 96 f.). In ähnlicher Weise beschäftigte sich Ostap Ortwin in seinen Theaterrezensionen mit russischer Literatur (Ortwin 1969, 292; 331 ff.) und Adolf Nowaczyński debütierte 1899 in der Krytyka als Publizist mit einem Text über die junge russische Prosa (Korolenko, Gor’kij, Čechov; Kieżuń 1993, 149 ff.; 222). Auch von Władysław Orkan ist überliefert, dass er russische Literatur in Übersetzungen las und schätzte (Pigoń 1958, 122). Für die im Königreich Polen oder in den russischen Westgebieten aufgewachsenen Schriftsteller der polnischen Moderne erübrigt es sich weitgehend, in ähnlich kleinteiliger Weise Kenntnisse russischer Literatur nachzuweisen. „[Literatura rosyjska] znana jest w oryginale i najszczegółowszych przejawach byłym uczniom 155 Noch vor Przybyszewski Dienstantritt waren im Życie eine Skizze über Tolstoj (von Antoni Potocki) und Fragmente aus Tolstojs Čto takoe iskusstvo? erschienen (Życie Nr. 34/1898, 443; Życie Nr. 35/1898, 456 ff.; Życie Nr. 36–37/1898, 476 f.). Außerdem hatte es einen Abdruck von Čechovs Erzählung Čelovek v futljare gegeben (Życie Nr. 32/1898, 417 ff.; Życie Nr. 33/1898, 433 ff.). Unter Przybyszewski indes setzte praktisch vollständiges Schweigen ein (abgesehen z.B. von der kurzen Dokumentation einer Aussage Solov’evs; Życie Nr. 40–41/1898, 542 f.).
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szkół Królestwa, Litwy, Wołynia i Podola“, schrieb Stefan Żeromski mit gutem Grund in seinen Erinnerungen (Śniadower 1966, 51).156 Es war äußerst selten, dass dort ein späterer Autor ohne offizielle Schulbildung aufwuchs und so weder mit Russisch noch mit der russischen Literatur in Berührung kam.157 Die große Mehrheit dagegen besuchte ein russisches Gymnasium und durchlief entsprechend das im ersten Teil dieser Arbeit dargestellte Lektüreprogramm (so z.B. Antoni Lange, Jan Lemański, Zenon Przesmycki, Andrzej Strug, Cezary Jellenta u.v.m.). Wie bei allen anderen Schülern rief dies auch bei den späteren Schriftstellern unterschiedliche und oft widersprüchliche Reaktionen hervor. Die meisten suchten einen Weg mit geringem Widerstand und arbeiteten sich u.a. durch die umfangreichen Aufgaben zur russischen Literatur (z.B. Strug, Michalski 1988, 18 f.; Hryniewiecki 1965, 37). Für Wacław Rolicz-Lieder dagegen ist überliefert, dass er nach seiner disziplinarischen Relegation vom Gymnasium einen „lebenslagen anti-russischen Komplex“ davontrug (Podraza-Kwiatkowska 1966, 11). Nicht selten weckte der Unterricht aber auch das Interesse an der russischen Literatur, was sich u.a. für Stefan Żeromski und Stanisław Brzozowski nachzeichnen lässt. Żeromski besuchte ein Gymnasium mit russischem Lehrplan in Kielce und führte in den oberen Klassen (wie auch in den Folgejahren) ein Tagebuch, in dem seine Lektüre und seine geistige Entwicklung festgehalten sind. Die Aufzeichnungen zeigen, dass er sich mit den vom Schulprogramm vorgeschriebenen Texten intensiv auseinandersetzte (ausführlich Śniadower 1966). Häufig lösten sie bei ihm Begeisterung aus, so z.B. Lermontov, den er immer wieder erwähnt und zitiert: „Na wszystkie moje duże bóle umie odpowiedzieć Lermontow“, heißt es beispielsweise in einem Eintrag aus dem Jahr 1885 (Żeromski 1953, 355; vgl. 339; 340; 342).158 Es kann keine Rede davon sein, dass Żeromski durch die Lektüre der Texte seine patriotische Gesinnung verlor. Gleichzeitig behielt er aber eine unvoreingenommene Offenheit für den Wert der Literatur. An Karamzin beispielsweise kritisierte er nach der Lektüre von Fragmenten aus seiner Geschichte Russlands die Tendenzhaftigkeit, bewunderte aber gleichzeitig den Stil (Żeromski 1953, 343). Bemerkenswert ist, dass Żeromski in seinem Studium der Schullektüre deutlich über das hinausging, was vom Lehrplan vorgesehen war. So übersetzte er Gedichte von Puškin und Lermontov ins Polnische und publizierte sogar eine der Lermontov-Übertragungen in einer polnischen Zeitung (Żeromski 1953, 99 f.). An anderer Stelle nahm er sich vor, seine Lektüre von Lermontov, Puškin, Gogol’ und Turgenev 156 „[Die russische Literatur] ist den ehemaligen Schülern der Schulen des Königreichs, Litauens, Wołyniens und Podoliens im Original und in den detailliertesten Erscheinungen bekannt.“ 157 Allerdings war dies auch nicht ausgeschlossen. Władysław Stanisław Reymont beispielsweise, der spätere Literaturnobelpreisträger, konnte aus familiären Gründen keine höhere Schule besuchen und konnte auch kein Russisch (Kotowski 1979, 34 ff.; Olaszek 1981, 37). 158 „Auf alle meine großen Schmerzen kann Lermontov antworten.“
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zu vertiefen (Żeromski 1953, 297). Turgenev kam dabei besondere Bedeutung zu, denn seine Prosa wurde für Żeromski zu einem „Ideal“ (Żeromski 1953, 382), in ihr suchte er Inspiration für die eigene Schreibtätigkeit. Später las er auf diese Weise auch Tolstoj und Dostoevskij (vgl. Żeromski 1954, 160; 231; Śniadower 1966, 51). Seine russische Lektüre war aber noch deutlich umfangreicher, und das Interesse an der russischen Literatur behielt Żeromski sein Leben lang.159 Auch im Falle Stanisław Brzozowskis war die Schullektüre der Auftakt zu einer Suche nach Inspiration im weiten Feld der russischen Literatur. Brzozowski besuchte zunächst das russische Gymnasium in Lublin, später zog er mit seinen Eltern nach Niemirów und setzte am dortigen Gymnasium seine Ausbildung fort. Die Schullektüre weckte sein Interesse an der russischen Literatur, und indem er seinen Blick über die im Unterricht besprochenen Autoren hinaus auf die zeitgenössischen Texte lenkte, wurden daraus Faszination und ein intellektueller Erwachensprozess: Pamiętam jeszcze wrażenie przy czytaniu Ojców i dzieci Turgieniewa. Co za książka! Nie znam rzeczy tak harmonijnie tragicznej i ludzkiej w literaturze tego rodzaju. Ale wtedy, w 15 roku, wydawało mi się, że po raz pierwszy spotkałem się z mową dorosłych ludzi. „The brain“, jak mówi Meredith – po raz pierwszy spotkałem się z tym żywiołem we mnie, w czytaniu. Dotąd myśl to było coś, czego ja nie znajdowałem sam przez się w sobie, coś uroczystego, nudnego, i pokornie znosiłem ten stan rzeczy. Nagle książka z myślą, która mówiła to wlaśnie, co mnie interesowało, poruszała się we mnie i poza mną jednocześnie. Potem Zbrodnia i kara; nie wierzyłem oczom, że to jest napisane, że mogą istnieć stronice tak przyspieszające sam proces wewnętrznego istnienia (Brzozowski 2007, 74).160
Es verwundert nach diesen Worten nicht, dass Brzozowski sich die russische Literatur in ihrer ganzen Breite erschloss: Od 14 (...) czytałem przeważnie Moskali. Bielińskiego przeczytałem całego kilkakrotnie, podobnie Dostojewskiego, Puszkina, Turgieniewa i Gogola. Później poznałem Dobrolubowa 159 Hierzu nur einige Aspekte in Stichworten: Rezension von Pokrovskijs Roman Blednov (1892); Stanisław Stempowski liest dem kranken Żeromski Tolstoj und Saltykov vor (1900); Bekanntschaft mit Maksim Gor’kij und Leonid Andreev auf Capri (1907); Polemik mit Michail P. Arcybašev um Puškin als Pornographen (1925; Kasztelowicz/Eile 1961, 106; 165; 233 ff.; 460). 160 „Ich erinnere mich noch an den Eindruck bei der Lektüre von Turgenevs Otcy i deti. Was für ein Buch! Ich kenne keine so harmonisch tragische und menschliche Sache in der Literatur dieser Art. Aber damals, mit 15 Jahren, schien mir, dass ich zum ersten Mal auf die Sprache erwachsener Leute getroffen bin. „The brain“, wie Meredith sagt – zum ersten Mal traf ich dieses Element in mir, beim Lesen. Bis dahin war ein Gedanke etwas, was ich nicht von selbst in mir fand, etwas Feierliches, Langweiliges, und demütig ertrug ich diesen Stand der Dinge. Plötzlich ein Buch mit einem Gedanken, der genau das sagte, was mich interessierte, er rührte sich in mir und außer mir gleichzeitig. Dann Prestuplenie i nakazanie; ich traute meinen Augen nicht, dass das geschrieben ist, dass Seiten existieren, die den Prozess innerer Existenz selbst so beschleunigen.“
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i Pisarewa. W uniwersytecie zaczytywałem się Szczedrinem i Gl. Uspienskim ( JazukiewiczOsełkowska 1980, 73).161
Die russische Literatur faszinierte Brzozowski insbesondere durch ihre soziale Orientierung und ihren Humanismus (Jazukiewicz-Osełkowska 1980, 74 f.), und unschwer erkennt man in Brzozowskis Aufzählung die klassische Lektüre-Entwicklung eines polnischen Sozialisten dieser Zeit (s.o. Kap. 2.2). So oder so wurde die russische Literatur für Brzozowski zu der prägenden Kraft, die auf die Orientierung seiner eigenen literarischen Arbeiten entscheidenden Einfluss hatte: „(...) Brzozowski nie wchodzi w literaturę rosyjską, lecz literatura rosyjska umożliwia mu wejście w świat (...)“, schrieb der Literaturwissenschaftler Andrzej Mencwel (Mencwel 1976, 104).162 Der Einfluss der russischen Literatur auf Brzozowski ist in diesem Sinne kaum zu überschätzen. Eine besondere Gruppe bilden unter den polnischen Schriftstellern dieser Epoche diejenigen, die eine längere Zeit im russischen Kernland verbrachten bzw. verbringen mussten, z.B. beruflich (Leopold Blumenthal), aus familiären Gründen (Bolesław Leśmian), zur Ausbildung (Włodzimierz Perzyński, Gustaw Daniłowski) oder aufgrund von Verbannung (Wacław Sieroszewski, Andrzej Strug, Zdzisław Dębicki). Der Aufenthalt in Russland führte bei allen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der russischen Kultur. Der spätere Dramaturg Włodzimierz Perzyński beispielsweise rezipierte in seiner Schulzeit in St. Petersburg intensiv das russische Theater und insbesondere das Schaffen Saltykovs und Nemirovič-Dančenkos (Hutnikiewicz 2002, 234), Andrzej Strug dagegen war während seiner Verbannung nach Archangel’sk von Dostoevskij fasziniert (Michalski 1988, 27; 30). Meist entstand so eine Affinität, die sich auf unterschiedliche Weise auch in der späteren künstlerischen oder publizistischen Arbeit äußerte. Daniłowski beispielsweise, der als Sohn eines Verbannten in Russland geboren wurde und später in Charkov studierte, übersetzte 1903 Tolstojs Cholstomer (Grzegorczyk 1964, 135; 140; 168). Leopold Blumenthal, der von 1894–1904 in St. Petersburg als Anwalt arbeitete, schrieb (unter seinem Pseudonym Leo Belmont) über russische Literatur für so unterschiedliche Zeitungen wie Świętochowskis Prawda, Piltzs Kraj und Wilhelm Feldmans Krytyka und veröffentlichte u.a. 1902 die erste vollständige polnische Übersetzung von Puškins Evgenij Onegin (Kitrasiewicz 2007, 120 f.; Makowiecki 1998, 20). In Einzelfällen führte die Russland-Erfahrung zu einer noch stärkeren Prägung. Dies gilt insbesondere für Bolesław Leśmian und Wacław Sieroszewski, bei denen
161 „Ab dem 14. [Lebensjahr] (...) las ich überwiegend Moskowiter. Belinskij las ich komplett einige Male, ähnlich Dostoevskij, Puškin, Turgenev und Gogol’. Später lernte ich Dobroljubov und Pisarev kennen. In der Universität versenkte ich mich in Ščedrin und Gl. Uspenskij.“ 162 „(...) Brzozowski tritt nicht in die russische Literatur ein, sondern die russische Literatur ermöglicht ihm den Eintritt in die Welt (...).“
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der langjährige Aufenthalt in einer russisch dominierten Umgebung bis zu einem gewissen Grade dazu führte, dass sie selbst Teil der russischen Literatur wurden. Leśmian hatte seine ersten Lebensjahre in Warschau verbracht, bevor sein Vater aus beruflichen Gründen mit der Familie nach Kiev zog. Kiev war eine multikulturelle Stadt, in der auch die Polen eine ansehnliche Gruppe der Bevölkerung stellten. Doch auch wenn Leśmians Familie einen dezidiert polnisch-patriotischen Haushalt führte, war der Einfluss der russischen Kultur hier deutlich stärker als in Warschau. Da Leśmian in Kiev ein gewöhnliches russisches Gymnasium besuchte und anschließend an der ebenfalls russisch geprägten Kiever Universität studierte, konnte er sich diesem Einfluss nicht entziehen (Łopuszański 2000, 25 ff.). Es deutet aber auch nichts darauf hin, dass er dies wollte: Die Kiever Jahre waren für Leśmian intellektuell eine äußerst prägende Zeit, und so verwundert es nicht, dass er in der russischen Kultur und Literatur tiefe Wurzeln schlug (Sobieska 2005, 26 f.). In der Stadt kam damals die russische symbolistische Bewegung auf, und Leśmian fühlte sich von der Weltsicht dieser Gruppe stärker angezogen als von allen alternativen ästhetischen Konzepten auf polnischer Seite (Stone 1976, 147). Mit mehreren der russischen Dichter der Zeit war er persönlich bekannt bzw. korrespondierte mit ihnen (z.B. Bal’mont, Brjusov). Schließlich verfasste er sogar selbst mindestens 17 Gedichte auf Russisch und veröffentlichte die meisten davon 1906 und 1907 in den russischen Symbolisten-Zeitschriften Zolotoe Runo, Vesy und Pereval (Rymkiewicz 2001, 315). Teilweise wurde er in Russland als russischer Autor eingeordnet (Stone 1976, 151). Die russischen Gedichte haben in Leśmians Gesamtwerk zwar nur episodischen Charakter (Pollak 1971, 252), aber sie zeigen sowohl seine enge Beziehung zur Poetik der russischen Modernisten als auch sein Profil als zweisprachiger Schriftsteller. Letzteres reichte so weit, dass sich in seine frühen polnischen Gedichte gelegentlich Russizismen einschlichen (Leśmian 1962, 233). Als zweisprachigen Schriftsteller bezeichnete sich auch Wacław Sieroszewski (Szyszko 1966, 61), der 1879 als junger Sozialist nach Sibirien verbannt worden war und dort etwa 15 Jahre verbrachte (Klemm 1998, 289 f.). Obwohl er zunächst nur schwach Russisch sprach und während des Aufenthalts seine Karriere als polnischer Prosa-Autor begann, hatte er doch mit der Fortdauer des Aufenthalts im Polnischen mit sprachlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. An seine Schwester schrieb Sieroszewski: Ach ten język, co on mię kosztuje pracy, papieru i czasu! Ale nie uwierzysz, z jakimi chorobliwymi przeszkodami walczyć muszę: czytasz po rosyjsku, mówisz po rosyjsku, słuchasz – po jakucku, a myśleć musisz i pisać – po polsku! (Sieroszewski 1964, 418).163
163 „Ach diese Sprache, was kostet sie mich Arbeit, Papier und Zeit! Aber Du glaubst nicht, mit was für krankhaften Hindernissen ich kämpfen muss: Du liest russisch, redest russisch, hörst – jakutisch, und denken und schreiben musst Du – auf Polnisch!“
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Die Schwester mühte sich nach Kräften, Sieroszewskis zunehmend vom Russischen überlagerte Texte zu begradigen und schickte ihm sogar ein polnisches Sprachlehrbuch (Sieroszewski 1964, 414; 422; Sieroszewski 1959, 476). Derweil verfasste ihr Bruder bald auch ganze Texte auf Russisch. So schrieb Sieroszewski in seinen Erinnerungen über die Bedingungen, unter denen er in Sibirien arbeitete: (...) czytelnikami w szerszym zakresie poza osobistymi przyjaciółmi mogli być tylko Rosjanie. Stąd powstała konieczność pisania po rosyjsku, w czym nabrałem z czasem dużej wprawy. Z początku były to tłomaczenia (sic!) z polskiego, lecz następnie zacząłem pisać wprost po rosyjsku i zdobyłem własny styl, własny język zupełnie poprawny, choć wyczuwało się w nim zawsze polską podszewkę (...) (Sieroszewski 1959, 477).164
Seine zunächst auf Russisch erschienenen ethnografischen Arbeiten brachten Sieroszewski große Anerkennung und schließlich die Erlaubnis, Sibirien zu verlassen. 1894 zog er zunächst nach St. Petersburg, wo er Anschluss an die dortigen Literaten-Kreise fand, insbesondere im Umfeld der Zeitschrift Russkoe Bogatstvo, wo er eine enge persönliche Freundschaft mit dem russischen Schriftsteller Vladimir Korolenko anknüpfte (Szyszko 1966, 54 f.). 165 Auch wenn Sieroszewski seine Erzählungen und Romane auf Polnisch schrieb, sorgten die Veröffentlichung ihrer russischen Übersetzungen und die Bekanntheit der wissenschaftlichen Arbeiten dafür, dass ihn viele Zeitgenossen für einen russischen Schriftsteller hielten (Białokozowicz 1966a, 259). Tatsächlich brachte die Erlaubnis zur Rückkehr nach Warschau auch für Sieroszewski selbst einen Identitätskonflikt mit sich. 1896 besuchte er Eliza Orzeszkowa, wobei sich ein Gespräch darüber ergab, dass Orzeszkowa alle Veröffentlichungen ihrer Texte in russischen Zeitungen ausdrücklich als Übersetzungen kennzeichnen ließ. Weiter berichtete Orzeszkowa von diesem Gespräch: Tu p. Si[e]roszewski (...) zapytuje mię, czy widzę cokolwiek złego w tym, aby autor polski pisał oryginalnie po rosyjsku? Na to zapytanie otwieram szeroko oczy, tak mię ono zadziwia, a następnie utrzymuję, że naturalnie, taką rzecz uważam wprost za zdradę kraju. (...) W odpowiedź na to p. S[ieroszewski] utrzymywać zaczął, że pisanie po ros[yjsku] jest, przeciwnie, 164 „(...) Leser im weiteren Umfeld konnten außer persönlichen Freunden nur Russen sein. So entstand die Notwendigkeit, auf Russisch zu schreiben, worin ich mit der Zeit große Übung erlangte. Zu Beginn waren es Übersetzungen aus dem Polnischen, aber dann begann ich direkt auf Russisch zu schreiben und erlangte einen eigenen Stil, eine eigene, völlig korrekte Sprache, obwohl man in ihr immer einen polnischen Unterton spürte (...).“ 165 Die Parallelen von Sieroszewskis Biographie zu der Adam Szymańskis sind offensichtlich. Szymański (s. Kap. 5.1) war nur wenige Jahre älter als Sieroszewski und beider Verbannung nach Sibirien überschnitt sich zeitlich. Beide lernten Korolenko kennen, erforschten sibirische Völker, fanden die Anerkennung der russischen Wissenschaftswelt und lebten nach ihrer Verbannung zeitweise in St. Petersburg. Ähnlichkeiten gibt es aber auch in ihren Werken. Ausführlich betrachtet persönliche und künstlerische Beziehung der beiden Autoren B. Burdziej (Burdziej 1991, 221 ff.).
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Russische Literatur unter polnischen Autoren
z zasady rzeczą dobrą i pożyteczną, że moje zdanie to szowinizm, że trzeba się rządzić ideami szerszymi, więcej wszechświatowymi itd., itd. (Orzeszkowa 1955, 105 f.; Einschübe in der Vorlage).
Von ähnlichen Verwerfungen nach Sieroszewskis Rückkehr nach Warschau berichtete Ludwik Krzywicki in seinen Erinnerungen: (...) Sieroszewski w otoczeniu jakuckim zatracał użycie języka polskiego, mówił z jakucka po rosyjsku i w końcu rozpoczął swoją działalność pisarską, jako pisarz rosyjski. Gdy przybył do Warszawy, którą opuścił właściwie na przejściu od wyrostka do młodzieńczości, właściwie mówił po polsku spolszczonymi rosyjskimi wyrazami, a przynajmniej często-gęsto przeplatał nimi swoją mowę. Rozpoczął swoje, że tak powiem, wżywanie się, lub – jeśli ktoś woli – wrastanie w społeczność polską (Krzywicki 1958, 451).166
Sieroszewski selbst war sich der Schwierigkeiten bewusst und schrieb über die Beziehung zu seinen Landsleuten: „Я далек, чужд им (...). Продолжительное изгнание как будто лишило меня родины. Это ужасно неприятное чувство: в России я не русский, в Польше – не поляк“ (Rovnjakova 1968, 135).167 Letzten Endes verwarf er den russischen Teil seines Lebens nicht vollständig und bekannte sich in gewisser Weise auch öffentlich dazu, indem er z.B. in der Prawda 1904 einen kenntnisreichen Nachruf auf den russischen Literaturkritiker Michajlovskij veröffentlichte (Sieroszewski 1963, 174 f.). Wichtiger scheint ihm aber das Bemühen gewesen zu sein, in der polnischen Gesellschaft auch als Patriot wieder Anerkennung zu finden. Was in seiner Biographie nicht zu diesem Bild passte, behandelte er mit Vorsicht – was so weit führte, dass seine in Sibirien geborene Tochter, die in Russland aufwuchs und sich als Russin fühlte, aus seinem „offiziellen Lebenslauf “ verschwand (Sadowska 2007, 158). Sieroszewskis Erfahrungen bei seiner Rückkehr nach Warschau zeigen, dass die Stimmung Russland gegenüber um die Jahrhundertwende noch immer alles andere als unbelastet war. So konnten die Modernisten zwar in ihrem künstlerischen Kreis eine Art Narrenfreiheit für sich in Anspruch nehmen, öffentliche Ansprüche verneinen und auch die ungeliebte russische Literatur nach Belieben rezipieren. Sie durften allerdings nicht darauf hoffen, öffentliche Anerkennung dafür zu ernten. 166 „(...) Sieroszewski hatte in der jakutischen Umgebung die polnische Sprache nicht mehr gebraucht, sprach Russisch mit jakutischem Einschlag und begann letzten Endes seine Schreibtätigkeit als russischer Autor. Als er nach Warschau kam, das er eigentlich am Übergang von der Halbwüchsigkeit zur Jugend verlassen hatte, sprach er eigentlich polnisch mit polonisierten russischen Ausdrücken, oder flocht sie zumindest laufend in sein Reden ein. Er begann, um es so zu sagen, sich einzuleben, oder – wenn man so will – hineinzuwachsen in die polnische Gesellschaft.“ 167 „Ich bin ihnen fern, fremd (...). Es ist, als ob die lange Vertreibung mich eines Vaterlands ledig gemacht hat. Das ist ein schrecklich unangenehmes Gefühl: In Russland bin ich kein Russe, in Polen – kein Pole.“
Russische Literatur zur Zeit der frühen Moderne
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Als entsprechend Leopold Blumenthal im Jahr 1902 seine Übersetzung von Aleksandr Puškins berühmtem Versroman Evgenij Onegin veröffentlichte – es handelte sich um die erste vollständige Übertragung in Polnische – registrierte er frustriert, dass es in der polnischen Presse darauf kaum eine Resonanz gab. In einem Brief an seinen Schriftstellerkollegen Czesław Jankowski, der schließlich für den Abdruck von Passagen der Übersetzung im Petersburger Kraj sorgte, beklagte Blumenthal diesen Zustand und rekapitulierte in Gedichtform die negativen Rückmeldungen, die er schon während der Arbeit erhalten hatte: Raz po raz mi się przypomina, Jak to mi mówił ten i ów: „Poco tłumaczyć Oniegina?! „Stek rymowanych, zbytnich słów... „Poemat słaby, przestarzały, „Bardzo wątpliwej strzępek chwały; „Jedynie niekulturny smak „Mógł dostrzedz w nim talentu znak... „Rzecz, co nie żyła i nie żyje, „Którą tłumaczyć... niemal wstyd! „Miejże, człowieku, choćby spryt! „Na półkach polski przekład zgnije, „Albo go zje księgarska mysz... „A krytyk powie: Kysz! A kysz“! ( Jankowski 1926, 64).168
Trotz dieser Schwierigkeiten veranschaulicht das Beispiel der Onegin-Übersetzung noch einmal den Unterschied zwischen der Situation der realistischen und der modernistischen Autoren. Beide Generationen interessierten sich für die Texte ihrer russischen Kollegen und beide konnten dafür nicht auf den Beifall der Öffentlichkeit hoffen. Während es jedoch für einen realistischen Autor noch undenkbar gewesen wäre, eine eigene Übersetzung eines russischen Werks ohne erhebliche Proteste seiner Landsleute auf den Markt zu bringen, traute sich Belmont diesen Schritt und musste sich lediglich mit fehlender Anerkennung abfinden. Das Bekenntnis zur Lektüre russischer Bücher stellte in diesen Jahren für einen polnischen Autor schon kein Tabu mehr dar.
168 „Mal um Mal erinnere ich mich/ Wie mir dieser und jener sagte/ ‚Wozu den Onegin übersetzen?!/ ‚Ein Haufen gereimter, überflüssiger Wörter.../ ‚Ein schwaches Poem, veraltet/ Ein Fetzen sehr zweifelhaften Ruhms/ ‚nur ein unkultivierter Geschmack/ ‚Konnte in ihm ein Zeichen von Talent erblicken/ ‚Eine Sache, die nicht lebte und nicht lebt/ ‚Die zu übersetzen... fast eine Schande ist!/ ‚Hab doch, Junge, etwas Verstand!/ ‚In den Regalen wird die polnische Übersetzung verfaulen/ ‚Oder die Buchladen-Maus frisst sie auf/ ‚Und der Kritiker sagt: Kusch! Und kusch!“.
6. Fallstudie I: Die Rezeption Lev Tolstojs in Polen (1864–1904) Für viele polnische Schriftsteller und Literaturkritiker war Lev Tolstoj der wichtigste russische Autor der Zeit um 1900. Bei der polnischen Rezeption russischer Literatur in diesen Jahren stand er eindeutig im Mittelpunkt. „Tołstoj jest to najwyższe drzewo w lesie twórczości rosyjskiej (...)“, schrieb etwa Henryk Sienkiewicz im Jahr 1908 über seinen russischen Kollegen (Grzegorczyk 1964, 58).169 Um diese Faszination zu verstehen, ist auch ein Blick auf Tolstojs schriftstellerische Entwicklung nötig, denn es war ihm nicht in die Wiege gelegt, unter den Polen Beliebtheit zu erlangen. „Во мне в детстве развивали ненависть к полякам“, zitierte sein Sekretär Nikolaj Gusev eine Aussage des Schriftstellers aus dem Jahr 1908 (Gusev 1955, 237).170 Auf Tolstoj hatte dies allerdings keinen prägenden Einfluss. Schon in seinen Kazaner Studienjahren und in der Armee begegnete er polnischen Kommilitonen und Kameraden unvoreingenommen (vgl. Białokozowicz 1964, 18 ff.). Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Polenfrage lässt sich derweil in den frühen Jahren nicht nachweisen, auch nicht in den ersten literarischen Arbeiten, in denen Polen selten erwähnt werden. Einigermaßen klar konturierte polnische Figuren gibt es nur in den Sevastopol’skie rasskazy und in Vojna i mir. In den Sevastopol’skie rasskazy, die die Belagerung der Schwarzmeer-Stadt durch westliche Truppen während des KrimKrieges 1854–1856 beschreiben (und während des Krieges verfasst wurden), führt Tolstoj polnische Randfiguren als Teil der russischen Armee ein. Sie sind zu den negativen Figuren zu zählen, deren Eitelkeit und Karrierestreben der aufrichtigen Hingabe entgegensteht, die den anderen Teil der Kämpfer kennzeichnet. Negativ tritt insbesondere der Leutnant (poručik) Nepšitšetskij hervor, der sich vor einer Kanonade krank meldet, dann aber mit seinen Freunden bei einer Flasche Wein Karten spielt und hinterher aus dem Kampf zurückkehrende Soldaten scheinheilig als Feiglinge beschimpft (Tolstoj 1935, 34 ff.). Den Polen, so wird implizit deutlich, fehlt die Bindung an die nationale russische Sache, was sie gegenüber dem heroischen Kampf anderer Beteiligter unvorteilhaft erscheinen lässt. Ähnlich ist die Situation in Vojna i mir, Tolstojs Epos über die Zeit der napoleonischen Kriege und insbesondere die französische Invasion nach Russland 1812 (geschrieben 1863–1869). Auch hier sind die Polen Randfiguren, die kaum für Russlands Wohl wirken. So zeigt Tolstoj, wie Napoleon die Polen durch das Versprechen zur Wiederherstellung Polens für sich einnimmt – beispielsweise durch 169 „Tolstoj ist der höchste Baum im Wald des russischen Schaffens (...).“ 170 „In mir hat man in der Kindheit Hass auf die Polen entwickelt.“
Die Rezeption Lev Tolstojs in Polen
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das Anlegen einer polnischen Uniform direkt vor dem Einmarsch seiner Truppen in Russland (Tolstoj 1940, 8). Seine polnischen Kämpfer wirken dadurch wie euphorisiert, insbesondere in einer Szene, in der eine Abteilung polnischer Husaren vor Napoleons Augen durch einen reißenden Fluss galoppiert, um die eigene Ergebenheit und Furchtlosigkeit zu demonstrieren. Vierzig Husaren sterben, Napoleon dagegen nimmt dies kaum zur Kenntnis (Tolstoj 1940, 10 f.). Polen gibt es in Vojna i mir aber auch auf Seiten der Russen, so den Außenminister Čartorižskij und verschiedene Truppenführer.171 Alle diese Figuren tragen eher negative Züge. In den Worten von Tolstojs Protagonisten Andrej Bolkonskij ist Čartorižskij zwar eine der großartigsten, aber auch eine der unangenehmsten Figuren in Russland, und seine Führungsposition bereitet ihm Unbehagen (Tolstoj 1937, 309). Čartorižskij erscheint als einer der rationalen und hochnäsigen Elitenangehörigen, die im Gegensatz zum intuitiv-volksnahen General Kutuzov das Wesen des Kampfes nicht erfassen. Kaum besser sind andere polnische Figuren dargestellt, die häufig im Dunstkreis von Verrat und Verratsverdacht stehen. So entspricht es einer stereotypen anti-polnischen Darstellung, dass ein polnischer Unteroffizier sein französisches Regiment schutzlos an die Russen ausliefert, weil er sich zuvor in seiner Ehre gekränkt fühlt (Tolstoj 1933, 77 f.; weiter Stellen zur Verratsproblematik: Tolstoj 1932, 14 f.; 139; Tolstoj 1937, 354; Tolstoj 1940, 22; 103). Ausgerechnet bei der russischen Familie Kuragin, die im Roman eine zwielichtige Rolle spielt, kann man gewisse Berührungspunkte zu Polen finden: Der Frauenheld Anatol’ hat eine (von ihm bald verlassene) polnische Ehefrau (Tolstoj 1932, 332), seine Schwester Elen dagegen tritt zum katholischen Glauben über. Es ist jedoch bezeichnend, dass sich Elens Konversion unter dem Einfluss eines französischen Jesuiten vollzieht, nicht eines polnischen (Tolstoj 1940, 283). Die Polen sind in Vojna i mir nur kleine Figuren in einem größeren Spiel, das die Geschichte mit Franzosen und Russen treibt. Die für die Polen unvorteilhaften Anklänge sind dabei weniger mit einer antipolnischen Haltung Tolstojs zu erklären, als mit seiner Kontrastierung russischer Lebenswelt und dem (seiner Meinung nach) zu Unrecht idealisierten westlichen Gebaren. Man kann sie umso mehr verzeihen, als dass Tolstoj sein Buch während des polnischen Januaraufstands schrieb, der in Russland eine beispiellose Dämonisierung der Polen auslöste. Daran gemessen ist Tolstojs Zurückhaltung geradezu bemerkenswert, zumal seine Protagonisten keine Bitterkeit den Polen gegenüber erkennen lassen. Im Gegenteil: Einer von ihnen, Nikolaj Rostov, wird sogar zum uneigennützigen Wohltäter einer im Elend lebenden polnischen Familie (Tolstoj 1932, 127). 171 Bei Čartorižskij (alias Czartoryski) handelt es sich um eine historische Gestalt. Der polnische Fürst Adam Czartoryski war ein enger Vertrauter Zar Aleksandrs II. und diente ihm u.a. als Außenminister. In späteren Jahren war Czartoryski in Paris ein wichtiger polnischer Exilpolitiker (siehe z.B. Zawadzki 1993).
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Fallstudie I
Obwohl sich Tolstoj spätestens mit Anna Karenina (geschrieben 1873–77) als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller seiner Zeit etabliert hatte, fand eine polnische Rezeption seines Werks zu dieser Zeit noch nicht statt. Polnische Zeitungen brachten fast überhaupt keine Beiträge über Tolstoj und auch Übersetzungen seiner Werke erschienen in diesen Jahren noch nicht. Dies lag offenbar weniger daran, dass Tolstoj ein Russe war – schließlich fanden zur selben Zeit Turgenev und Saltykov bereits ein positives Echo (vgl. Trochimiak 1982, 24 ff.; Szyszko 1965, 17 ff.). Tolstoj wirkte allerdings oberflächlich betrachtet in seiner Themenwahl wie ein Nationalist, während Turgenev in Polen als „Positivist“ erschien und Saltykov durch seine Satiren als Kritiker des Zarenstaats. Verschiedene Indizien schienen indes die Vorbehalte gegen Tolstoj zu bestätigen, so z.B. seine Abstammung aus dem russischen Hochadel und die Tatsache, dass er seine Texte u.a. im als antipolnisch und nationalistisch betrachteten Russkij Vestnik von Michail Katkov publizierte (Semczuk 1975, 286). Es war insofern eine Pioniertat, dass der Varšavskij Dnevnik und sein damals noch existierender polnischsprachiger Ableger Dziennik Warszawski ab 1876 Übersetzungen von Tolstojs literarischen Arbeiten druckten – darunter die Sevastopol’skie rasskazy, Kazaki, Semejnoe Ščast’e und Anna Karenina (Grzegorczyk 1964, 107 f.). Nikolaj Berg, der damalige Redakteur des Varšavskij Dnevnik, hatte persönlich bei Tolstoj um eine Genehmigung der Übersetzungen nachgesucht und dessen Zustimmung erhalten (Tolstoj 1953, 270 f.). Allerdings erzeugten sie in Polen aufgrund der geringen Reichweite beider Zeitungen kein breites Echo, im Gegenteil – die umfangreiche Publikation von Tolstojs Texten in der kritisch beäugten Regierungspresse machte ihn aus polnischer Perspektive wohl eher noch verdächtiger. Dass sich die polnische Rezeption von Tolstojs Schaffen dennoch in den 1880er Jahren belebte, ist vor allem auf seine weitere persönliche und künstlerische Entwicklung zurückzuführen. Spätestens nach dem Abschluss von Anna Karenina stellten sich Tolstoj mit Dringlichkeit existentielle religiöse und weltanschauliche Fragen, die ihn um 1880 zu einer grundlegenden Hinterfragung der geistigen Fundamente seiner Arbeit führten. Auf seiner Sinnsuche gelangte Tolstoj zur Vision eines authentisch gelebten Christentums, in dem die Nächstenliebe zum Angelpunkt wurde. Tolstojs so genannte „Krise“ war vor allem eine Glaubenskrise, die ihn gleichwohl auch zu Folgerungen mit brisanten politischen Implikationen führte. Dies betraf zum einen die Kirche, in deren Doktrin Tolstoj die urchristlichen Ideale nicht mehr verwirklicht fand. Zum anderen betraf es aber auch den Staat, den Tolstoj im Widerspruch zur Nächstenliebe und als einen Herd von Gewalt sah, als ein Zwangssystem aus Gerichten, Polizei und Militär (Kjetsaa 2001, 249; 263; 265 f.). Auch in dem kurzen Text Nikolaj Palkin (1886–87) stellt Tolstoj die Frage, in welcher Beziehung christliche und staatliche Gebote stehen. Dem Staat, so Tolstoj, dürfe man vieles geben, was er verlangt – z.B. Geld, die Arbeit, den Besitz. Man
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dürfe in seinem Namen aber keine Handlungen vornehmen, die gegen christliche Gebote verstoßen – z.B. töten oder den Nächsten hassen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der Bericht eines russischen Soldaten, der u.a. in Polen zur Zeit Nikolajs I. Teilnehmer grausamer Kriegshandlungen war (Tolstoj 1936a, 557). Nikolaj Palkin ist so ein Hinweis darauf, dass in Tolstoj auch das russische Vorgehen in Polen Zweifel an der Gesellschaftsordnung nährte. Öffentlich äußerte er sich allerdings lange nicht zu diesem Thema, was sich erst in den 1890er Jahren änderte und letztlich auch Eingang in seine künstlerischen Arbeiten fand. Eine wichtige Etappe markierte in dieser Hinsicht Tolstojs dritter großer Roman Voskresenie, der 1899 erschien. Im Mittelpunkt des Romans steht der Fürst Dmitrij Nechljudov, der durch ein Schäferstündchen das Hausmädchen Katjuša Maslova vom rechten Weg abbringt, was für das Mädchen letztlich in die Verbannung nach Sibirien mündet. Nechljudov selbst sitzt in der Jury, die diese Verbannung ausspricht, und wird sich dort seiner Schuld der Maslova gegenüber bewusst. Sein Entschluss, Gnade für sie (und damit sich selbst) zu suchen, führt ihn durch die gesellschaftlichen Institutionen Russlands, durch Gerichte, Amtsstuben, Gefängnisse, Kirchen etc., mit denen Tolstoj ob ihrer Korruption, Heuchelei und Willkür hart ins Gericht geht. Diese Kritik verweist oft auch auf das Unrecht im Königreich Polen. So heißt es über den (fiktiven) Senator Vol’f: Погубить же, разорить, быть причиной ссылки и заточения сотен невинных людей вследствие их привязанности к своему народу и религии отцов, как он сделал это в то время, как был губернатором в одной из губерний Царства Польского, он не только не считал бесчестным, но считал подвигом благородства, мужества, патриотизма (…) (Tolstoj 1936b, 257; vgl. 265).172
Nechljudovs Weg führt auch zu den Opfern des russischen Gesellschaftssystems, und dabei u.a. zu Polen. So wird im Buch die Hinrichtung eines Polen und eines Juden geschildert, die propolnische Flugblätter verteilt hatten und dann wegen eines Fluchtversuchs hingerichtet werden (Tolstoj 1936b, 376 ff.). Nechljudov kommt schließlich zu der Einschätzung, dass die inhaftierten polnischen „Verbrecher“ vor allem dafür büßen, dass sie moralisch über dem Durchschnitt der russischen Gesellschaft stehen (Tolstoj 1936b, 311).173 172 „Und Hunderte von unschuldigen Menschen wegen ihrer Anhänglichkeit an ihr Volk und die Religion ihrer Väter zu verderben, zugrunde zu richten und der Urheber ihrer Verbannung und Einkerkerung zu sein, wie er es zu der Zeit gemacht hatte, als er Gouverneur in einem der polnischen Gouvernements gewesen war, das hielt er nicht für ehrlos, sondern für eine Tat des Edelsinns, des Mutes und des Patriotismus“ (Tolstoj 1959, 341). 173 Auch in späteren Prosa-Texten bezog Tolstoj sich auf die Polenfrage, insbesondere in den Erzählungen Chadži-Murat und Začto?, wobei letztere das Schicksal eines nach Russland verbannten Polen und seiner Frau schildert. Beide Erzählungen sollen hier nicht ausführlich
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Fallstudie I
Aus Sicht des offiziellen Russlands stellte diese Entwicklung des populären Tolstoj ein Ärgernis dar. Der Ober-Prokuror der Heiligen Synode, Konstantin Pobedonoscev, schrieb über Tolstoj: (...) он разносит по всей России страшную заразу анархии и безверия!.. Точно бес овладел им – а что с ним делать? Очевидно, он враг церкви, враг всякого правительства и всякого гражданского порядка (Žirkov 2009, 127).174
Doch die Eindämmung von Tolstojs Lehre bereitete den Behörden Schwierigkeiten, wie der Chef der Hauptverwaltung für Pressefragen (d.h. der Zensur), E. M. Feoktistov, in seinen Erinnerungen schrieb. Tolstoj habe zwar einen unvergleichlich negativen Einfluss auf die Russen gehabt, sei aber gleichzeitig so populär gewesen, dass die Zensur seiner Werke besonderes Fingerspitzengefühl erforderte (Feoktistov 1975, 242 ff.). So entpuppte sich auch der Versuch, Tolstoj allein mit der Zensur zum Schweigen zu bringen, als hoffnungsloses Unterfangen. Zwar wurde spätestens ab Beginn der 1880er Jahre jeder von Tolstojs Texten erheblich zensiert, die unzensierten Versionen kursierten allerdings zeitgleich in hohen Zahlen dank handschriftlicher Kopien oder im Ausland angefertigter Drucke (Žirkov 2009, 116 ff.). Im Königreich Polen stellte sich die Situation besonders paradox dar. Gerade noch hatte der halboffizielle Varšavskij Dnevnik mit Tolstoj Werbung für die russische Kultur gemacht, während die polnische Öffentlichkeit davon nichts hatte wissen wollen. Nun aber wuchs Tolstojs Popularität unter den Polen von Jahr zu Jahr, während die Russen sich um eine Eindämmung des Phänomens bemühten – gerade auch im Königreich Polen. So kam in der Petersburger Presse der Ruf auf, Tolstojs Drama Vlast’ t’my wegen seines pessimistischen Russlandbildes in Warschau nicht zu zeigen (NV Nr. 7182/1896, 3). Grundsätzlich bereitete die Warschauer Zensur Übersetzungen von Tolstojs Werken allerdings nur selten Schwierigkeiten (Kostecki/Rowicka 2006b, 361; 401; 500; 521), auch wenn die Grundlage polnischer Übersetzungen selbstredend die zensierten russischen Versionen sein mussten. Doch auch unter den Polen florierte der Markt für unzensierte Tolstoj-Texte, wie z.B. im Fall von Voskresenie, das sich die interessierten Leser praktisch zeitgleich mit der Veröffentlichung der zensierten Version aus Westeuropa in der Originalfassung besorgten (Białokozowicz 1966a, 149 f.). Die Schwierigkeiten der offiziellen Stellen, eine Haltung zu Tolstoj zu finden, zeigten sich im Königreich Polen am deutlichsten im Varšavskij Dnevnik. Tolstojs immer ausdrücklicher vorgetragene Kritik an den gesellschaftlichen Institutionen besprochen werden, da ihre Rezeption in Polen nicht mehr in den hier betrachteten Zeitraum fällt. 174 „(...) er verbreitet in ganz Russland die schreckliche Seuche der Anarchie und des Unglaubens! Er ist geradezu vom Teufel besessen – aber was soll man mit ihm machen? Offensichtlich ist er ein Feind der Kirche, ein Feind jedweder Regierung und jedweder bürgerlichen Ordnung.“
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ließ das Blatt auf Distanz zu ihm gehen, ohne ihn indes vollkommen zu verwerfen. 1886 beispielsweise wurde der lange Bericht einer anonymen Autorin („O. V.“) von einem Besuch bei Tolstoj in Jasnaja Poljana gedruckt. In diesem Artikel werden zwei Tolstojs unterschieden, der bewundernswürdige Schriftsteller der Vergangenheit und der bemitleidenswerte Wunderling der Gegenwart: В его новейших статьях (…) граф не узнаваем. Странныя мысли, сравнения, цинизм выражений вас часто поражают. (…) Некоторые народные разказы (sic!) до того бледны в сравнении с прежними сочинениями гр. Толстого, что их читаешь с прискорбием, невольно сожалея, что такой великий талант теряется в несбыточных мечтаниях (VD Nr. 33/1886, 4).175
In den Folgejahren erschienen wiederholt Artikel, die Tolstoj gegenüber kritisch waren. 1901 beispielsweise druckte der Varšavskij Dnevnik eine ausführliche Besprechung von Dmitrij Merežkovskijs Studie Tolstoj i Dostoevskij, die mit Tolstoj hart ins Gericht ging. In der Besprechung heißt es: Оказалось, что правды в прославленном писателе немного, немного того, за что мы должны были бы его чтить и у него учиться. Зато много, очень много, по изследованию г. Мережковскаго, в Л. Толстом неправды, обмана (или самообмана), лицемерия и сильно выраженнаго себялюбия. (…) Но самая большая вина Толстого, как человека, это, по мнению Мережковскаго, та, что он ввел в заблуждение все русское общество, что, будучи слепым, он сделал слепыми и всех, читавших его творения (VD Nr. 202/1901, 2).176
Besonders diese Rolle Tolstojs als Verführer und Blender des Volkes wurde (in teils plumper Form) im Varšavskij Dnevnik immer wieder behandelt. So druckte das Blatt 1904 ein kurzes Feuilleton mit dem Titel Čto značit inogda „žit’ po-tolstovski“ („Was es bedeutet, ab und zu ‚auf tolstojsche Art zu leben’“). Als Antwort auf die Frage, wie sich Tolstojs Ideale im echten Leben umsetzen lassen, beschrieb der Autor einen jungen Mann, der sein Studium abbricht und zu seinen Eltern zurückkehrt. In seinem Elternhaus belehrt er Mutter und Vater, sich nicht vom Hauspersonal bedienen zu lassen bzw. nachsichtig zu sein, wenn es einen Auftrag nicht perfekt
175 „In seinen neuesten Artikeln (...) erkennen wir den Grafen nicht. Merkwürdige Gedanken, die Vergleiche, der Zynismus der Ausdrücke überraschen oft. (...) Einige Volkserzählungen sind derart blass im Vergleich mit früheren Werken des Grafen Tolstoj, dass man sie mit Traurigkeit liest, unwillkürlich bedauernd, dass ein so großes Talent sich in unerfüllbaren Träumen verliert.“ 176 „Es zeigte sich, dass wenig Wahrhaftigkeit in dem gerühmten Schriftsteller ist, wenig von dem, wofür wir ihn ehren oder von ihm lernen sollten. Dafür ist der Studie von Hrn. Merežkovskij zufolge viel, sehr viel Unwahrheit in L. Tolstoj, Betrug (oder Selbstbetrug), Heuchelei und stark ausgeprägte Selbstverliebtheit. (...) Aber die größte Schuld Tolstojs als Mensch ist es nach Meinung Merežkovskijs, dass er die ganze russische Gesellschaft in die Irre geführt hat, dass er, selbst blind, alle blind gemacht hat, die seine Werke lasen.“
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Fallstudie I
ausführt, und sich auf die eigene moralische Läuterung zu konzentrieren. Über den Sohn heißt es weiter: Сам он жил идеально просто. Вставал утром очень поздно, умывался не особенно тщательно и весь день бродил полуодетый и нечесаный. Главное занятие его состояло в поучении других в отношении нравственном. В этом деле он неутомимо показывал ближним свое немалое превосходство. (…) Кстати не забыть бы: герой мой нимало не препятствовал отцу своему кормить его трудами рук своих. Эту обязанность отца он как-то безмолвно признавал (VD Nr. 23/1904, 3).177
Unschwer lassen sich hier die Vorwürfe erkennen, die von Tolstojs Kritikern an ihn persönlich gerichtet wurden, d.h. dass er die Jugend verderbe, aber seinen selbstgerechten Predigten gar nicht entspreche. Auf Tolstojs Verführungskunst spielte auch eine Episode unter der Überschrift „Ein Opfer der Ideologie des Grafen L. Tolstoj“ (Žertva ideologii grafa L. Tolstago) an, in der es um einen österreichischen Militärarzt ging, der aus Faszination für Tolstoj desertierte (VD Nr. 172/1895, 2). Einen kuriosen Höhepunkt bildete schließlich das Schmähgedicht Tolstovščina („Tolstojerei“) des Siedlcer Friedensrichters Mitrofan Korjakin, das der Varšavskij Dnevnik 1901 aus dem Cholmsko-Varšavskij Eparchial’nyj Vestnik übernahm: Несчастные толстовцы, / Как слепыя овцы / Без смысла и ума, / Лезут в пасть льва. / А лев то мудреный, / При том же ученый; / И в роли лжеца, / Образец лже-отца. / Добрым он бывает / Толькo на словах; / Себе загребает, / На своих землях. / Смотрите: у пана, / Есть „Ясная Поляна“; / Там с титулом „графа“, / Ведет жизнь магната. / А на показ – простолюдин, / В тулупе из овчин; / В дырявой колымаге, / Да в мужицкой сермяге. / А спросишь: зачем?.. / Для адских затей, / Лишь морочит людей. / Дает наставленьи, / В безбожном направленьи; / А люди слабые умом, / Да незнакомые с трудом, / Бегут на эту вонь / Как мошки на огонь, / И погибают! / Душа погибшая, проснись! / Вокруг себя ты осмотрись / Удержись ты ложь болтать; / А то беды не миновать… / Как будешь умирать! (VD Nr. 209/1901, 3; Original CVEV Nr. 31/1901, 12).178 177 „Er selbst lebte auf ideal einfache Weise. Er stand morgens sehr spät auf, wusch sich nicht besonders gewissenhaft und ging den ganzen Tag halb angezogen und ungekämmt umher. Seine Hauptbeschäftigung bestand darin, andere in moralischer Hinsicht zu belehren. In dieser Sache zeigte er den anderen unermüdlich seine beträchtliche Überlegenheit. (...) Übrigens nicht zu vergessen: Mein Held hinderte seinen Vater in keiner Weise daran, ihn durch die Mühen seiner Hände zu ernähren. Diese Pflicht des Vaters erkannte er irgendwie stillschweigend an.“ 178 „Die unglücklichen Tolstojaner/ Kriechen wie blinde Schafe/ Ohne Sinn und Verstand/ In das Maul des Löwen [des Levs]/ Und dieser Löwe ist seltsam/ Und dabei gelehrt/ Und in der Rolle des Lügners/ Muster eines Lügenvaters/ Er ist gut/ Nur in den Worten/ Rafft zusammen/ Auf seinem Land/ Seht: Der Pan/ Hat ‚Jasnaja Poljana’/ Führt dort mit dem Titel ‚Graf ‘/ Das Leben eines Magnaten./ Und zum Schein – ein Mann aus dem Volk/ In einem Pelz aus Schafen/ In einer löchrigen Kalesche/ Und in einem Bauernrock/ Und man fragt: Wozu?/ Nur für teuflische Streiche/ Täuscht er die Leute/ Gibt Belehrungen/ Gottloser Orientierung/ Und Leute mit schwachem Verstand/ Ja unvertraut mit Arbeit/ Laufen
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Das Gedicht kommentierte die Redaktion mit einem vieldeutigen „?!...“, und es lässt sich kaum sagen, ob sie es inhaltlich gelungen fand oder nicht.179 Denn die TolstojKritik war trotz allem nur eine Seite der Tolstoj-Rezeption im Varšavskij Dnevnik. Angesichts der teils boshaften Kritik mutet es paradox an, dass das Blatt trotzdem immer wieder Texte von Tolstoj oder Zusammenfassungen seiner Werke abdruckte und ihm damit ein Forum gab – so erschienen im Varšavskij Dnevnik z.B. Chozjain i rabotnik (VD Nr. 59/1895 und Folgenummern),180 ein Brief von Tolstojs Frau an den Petersburger Metropoliten Antonij (anlässlich von Tolstojs Kirchenausschluss; VD Nr. 85/1901, 2 f.), ein Brief Tolstojs mit Gedanken zu Krankheit und Tod (VD Nr. 106/1903, 3) und allgemeine erbauliche Gedanken (VD Nr. 13/1904, 4). Den Abdruck von Chozjain i rabotnik begründete die Zeitung damit, dass es für ihre Leser sicherlich interessant sei, Tolstojs neue Erzählung zu kennen. Tatsächlich ließ sich Tolstoj wohl vor allem deshalb nicht einfach abtun, weil auch unter den Warschauer Russen das Interesse an ihm zu groß war. So meldete der Varšavskij Dnevnik, dass Tolstoj in den Bibliotheken zu den meistgelesenen Autoren gehörte (z.B. in Novo Aleksandrija (Puławy), VD Nr. 9/1899, 3) und berichtete von den regelmäßigen Inszenierungen von Tolstojs Dramen auf den Warschauer Bühnen, teils durch russische Gasttheater und teils durch einheimische Amateure (z.B. Plody prosveščenija, VD Nr. 39/1901, 4; Vlast’ t’my, VD Nr. 297/1901, 2; VD Nr. 92/1902, 4 f.). Aus diesem Grund verfolgte der Varšavskij Dnevnik auch weitere Entwicklungen rund um Tolstoj, z.B. den Erfolg von Vlast’ t’my in Moskauer und Krakauer Theatern (VD Nr. 287/1895, 2; VD Nr. 70/1900, 4), die Veröffentlichung des Romans Voskresenie und seine Verbreitung unter den Polen (VD Nr. 90/1899, 3; VD Nr. 90/1899, 4; VD Nr. 101/1899, 4; Nr. 149/1900, 2) oder allgemein Tolstojs Befinden (VD Nr. 27/1904, 3). Endgültig wurde die Tolstoj-Rezeption im Varšavskij Dnevnik zum Spagat, wenn die Redakteure selbst Tolstoj lobten – z.B. als „großen Künstler“ (velikij chudožnik, VD Nr. 322/1900, 4), als „unseren größten Wortkünstler“ (naš krupnejšij chudožnik v oblasti slova; VD Nr. 135/1901, 2) und als „großen Künstler der russischen Erde“ (velikij pisatel’ zemli russkoj; VD Nr. 85/1902, 2). Die Haltung der Zeitung dürfte dabei symptomatisch auch für die Sicht der sonstigen Behördenvertreter sein, so zu diesem Gestank/ Wie Motten ins Feuer/ Und kommen um!/ Verlorene Seele erwache!/ Sieh um Dich/ Halte ein zu lügen/ Sonst lässt sich das Unglück nicht vermeiden.../ Sobald Du stirbst!“ 179 Für den Erstabdruck ist dies eindeutiger, denn zusammen mit dem Gedicht veröffentlichte der Cholmsko-Varšavskij Eparchial’nyj Vestnik einen Artikel Korjakins, in dem er Tolstojs Missbrauch des Evangeliums anprangerte und ihn als „Lügenapostel“ (lžeapostol) kritisierte, den die gerechte Strafe ereilen werde (CVEV Nr. 31/1901, 10 ff.). 180 VD Nr. 59/1895, 2; VD Nr. 62/1895, 2 f.; VD Nr. 63/1895, 2; VD Nr. 64/1895, 2; VD Nr. 65/1895, 2.
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dass es nicht verwundert, dass Tolstojs Texte auch ihren Eingang in den speziell für das „Weichselland“ aufgelegten Katalog der Volksbibliotheken fanden (verzeichnet sind dort Sevastopol’skie rasskazy, Kavkazskij plennik und Tri smerti; KVGG 1899, 4 f.; 11) „Was soll man mit Tolstoj tun?“, hatte Pobedonoscev gefragt (s.o.). Betrachtet man das Verhalten der offiziellen russischen Stellen einschließlich des Varšavskij Dnevnik, kann man nicht den Eindruck gewinnen, dass sie darauf eine Antwort hatten. Viele Russen – und darunter ganz offensichtlich auch höherrangige – verehrten Tolstoj als Künstler, doch gleichzeitig ließ sich seine Ideologie unmöglich mit den tragenden Gedanken des russischen Staates vereinen. Der Kompromiss war eine Verrenkung: Tolstoj wurde als Künstler gewürdigt, seine Ideologie dagegen selektiv abgelehnt und kritisiert. Als vollkommen staatstreu ließ sich Tolstoj nicht umdeuten, dazu war er zu lebendig. Zumindest aber sollte er nicht als Staats- und Kirchenkritiker bekannt werden, sondern als großer Prosaschriftsteller, der in seiner Bauernromantik den Blick für das rechte Maß verloren hatte. Während Tolstoj seine russischen Leser ab Beginn der 1880er Jahre so vor neue Herausforderungen stellte, nahm die Rezeption seiner Werke und seines Denkens unter den Polen Mitte dieses Jahrzehnts gerade erst ihren Anfang. Große Bedeutung wird in der Forschung dabei der „französischen Spur“ zugeschrieben, d.h. einer Reihe von Rezensionen und Studien französischer Literaturkritiker in den Jahren 1883–89, die Tolstoj und andere russische Autoren enthusiastisch feierten (Grzegorczyk 1964, 13 f.). Tatsächlich wirkte das steigende Interesse in Frankreich auf die polnischen Kritiker, für die das Pariser Kunstleben in gewissem Maße als Richtschnur galt. 1884 veröffentlichte mit Józef Ignacy Kraszewski der damals wohl populärste lebende polnische Schriftsteller eine kurze, aber positive Rezension von Tolstojs Vojna i mir, und es ist bezeichnend, dass er sich dabei auf eine französische Ausgabe stützte (Grzegorczyk 1964, 31). Gleichzeitig gibt es bei der Intensivierung der Tolstoj-Rezeption aber auch eine „russische Spur“, und diese Spur führt in die Redaktion des Petersburger Kraj. Spasowicz, Piltz und ihre örtlichen Mitarbeiter verfolgten nicht nur die polnische und die westliche Presse genauestens, sondern saßen in St. Petersburg vor allem auch am Puls des russischen Geschehens. So war ihnen Tolstojs Radikalisierung nicht entgangen, und ihnen muss bewusst gewesen sein, dass der pazifistische und christliche Tolstoj ein geeigneter Bannerträger des eigenen Kulturvermittlungsideals sein konnte. Anders als zuvor vermutet, erwies sich Tolstoj als Kritiker von russischem Absolutismus und jeglichem Zwang und Gewalt, kurzum als einer der „guten“ Russen, die Interesse und Sympathie der Polen wecken konnten. So ist es kein Zufall, dass die erste überhaupt jemals in einer polnischen Zeitung veröffentlichte Übersetzung eines Tolstojschen Textes 1885 im Kraj erschien (die Erzählung Al’bert; Kraj Nr. 18/1885, 2 ff. und Folgenummern; vgl. Grzegorczyk 1964, 109). Und dabei blieb es nicht: Allein im selben Jahrgang 1885 gab es eine
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ganze Reihe von kürzeren und längeren Texten zu Tolstoj, so eine ausführliche Kritik von V čem moja vera (Kraj Nr. 22/1885, 21 f.), einen Bericht von einem Besuch bei Tolstoj in Jasnaja Poljana (Kraj Nr. 25/1885, 21 f.), die Nachricht von seiner Arbeit an einem Werk über Geld (Kraj Nr. 34/1885, 26), einen Hinweis auf Tolstojs Artikel über die Moskauer Volkszählung (Kraj Nr. 44/1885, 32) sowie eine Notiz zu einem Pariser Vortrag über Tolstoj (Kraj Nr. 51/1885, 15). In dieser Dichte setzte sich die Berichterstattung auch in den Folgejahren fort. Gerade in den ersten Jahren verwies auch der Kraj wiederholt auf französische Quellen. Gleichzeitig präsentierte das Blatt aber auch Beiträge eigener Autoren und verfolgte zudem die Meldungen russischer Zeitungen. Diese umfassende Berichterstattung über Tolstoj hatte Pioniercharakter und das Blatt betrieb sie mit einer gewissen Passion. Tolstoj war im Kraj mit Abstand der am häufigsten behandelte russische Autor und alle erdenklichen Texte von und rund um Tolstoj wurden gedruckt: Übersetzungen seiner Werke (selten), seine Wortmeldungen, Studien über ihn, Berichte von Aufführungen seiner Stücke oder von neuen Übersetzungen, aber auch Berichte von Besuchen bei ihm, über seinen Gesundheitszustand, seine Urlaubspläne oder Arbeitsprojekte.181 Betrachtet man diese Berichterstattung insgesamt, lässt sich jedoch keine Verklärung Tolstojs erkennen. Als politischer Denker passte er weder zum liberalen Profil der Zeitung noch zur Notwendigkeit, sich staatstreu und zensurkonform zu geben. Insofern wurden Tolstojs kontroverse Thesen zu Religion und Politik im Kraj nicht ausführlich präsentiert. Davon abgesehen fielen die Bewertungen unterschiedlich aus. „(...) całość nosi charakter bezładnego dość gadulstwa (...)“,182 heißt es 1885 in einer Rezension von V čem moja vera (Kraj Nr. 22/1885, 21), und im selben Jahr in einem Kommentar zu Tolstojs Artikel über die Moskauer Volkszählung, er „posiere mit seiner ‚Evangelientreue’“ (pozuje ze swoją ‚ewangelicznością’; Kraj Nr. 44/1885, 32). Kritische oder ironische Stimmen über Tolstoj lassen sich im Kraj auch in den Folgejahren noch finden (z.B. Kraj Nr. 10/1886, 16; Kraj Nr. 50/1904, 22). Gerade aus den längeren Artikeln und Studien sprach aber gewöhnlich Hochachtung für den Künstler und Menschen, z.B. in Beiträgen von Czesław Jankowski (Kraj Nr. 10/1899, 13 f.), Kazimierz Waliszewski (Kraj Nr. 14/1899, 32), Wiktor Gomulicki (Kraj Nr. 2/1901, 16 ŻS) und Leopold Blumenthal (alias Belmont; hier unter seinem Pseudonym Leon Bielski; Kraj Nr. 37/1902, 390 ff. ŻS).
181 Die längeren Texte von und über Tolstoj im Kraj verzeichnet Grzegorczyk (1964). Hinzu kommen kürzere Meldungen, z.B. Kraj Nr. 3/1886, 4; Kraj Nr. 10/1886, 16; Kraj Nr. 34/1886, 9; Kraj Nr. 11/1887, 12; Kraj Nr. 12/1887, 17; Kraj Nr. 17/1887, 9; Kraj Nr. 51/1887, 14; Kraj Nr. 31/1888, 9; Kraj Nr. 42/1888, 13; Kraj Nr. 24/1890, 11; Kraj Nr. 35/1891, 5 f.; Kraj Nr. 11/1892, 19; Kraj Nr. 25/1892, 14 etc. 182 „(...) das Gesamte hat den Charakter von ziemlich unschönem Geschwätz (...).“
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Insgesamt lässt sich erkennen, dass auch im Kraj Tolstoj als Künstler mehr denn als Gesellschaftskritiker und Religionstheoretiker geschätzt wurde. Gleichwohl dürfte die Redaktion auch darauf gehofft haben, dass Tolstoj seine pazifistischen Überzeugungen auch in Bezug auf Polen zum Ausdruck bringen würde, und so ist es letztlich wohl kein Zufall, dass Tolstojs erste ausführliche Wortmeldung zu diesem Thema aus dem Umfeld des Kraj angeregt wurde, namentlich vom Krakauer Slavistik-Professor Marian Zdziechowski. Zdziechowski ist weniger als ein führender Ugoda-Politiker dieser Jahre zu sehen, sondern als ein intellektueller Individualist mit ausgeprägtem Interesse an gesamtslavischen und zudem christlich-moralischen Fragestellungen. Gleichwohl strebte auch er spätestens seit seiner Studienzeit in St. Petersburg nach einer polnisch-russischen Annäherung. Seit dem ersten Jahrgang hatte er im Kraj publiziert (Kraj Nr. 5/1882, 2 ff.) und Spasowicz war sein „politischer Mentor“ gewesen, dessen Ideen er auch in späteren Jahren teils in gleicher, teils in eigener Weise entwickelte (Opacki 1996, 114). Im August 1895 schrieb Zdziechowski einen langen Brief an Tolstoj, in dem er sich als Befürworter einer polnisch-russischen Annäherung zu erkennen gab und die Frage aufwarf, ob Tolstojs Verurteilung patriotischer bzw. nationalistischer Bestrebungen im selben Maße für große und kleine, für unterdrückende und unterdrückte Völker gelten könne. Als Beispiel führte er die Polen an: Im russischen Teilungsgebiet litten sie unter der Herabsetzung ihrer Kultur, Einschränkungen bei ihrer Berufstätigkeit und bei der Religionsausübung, und dennoch pflegten sie einen Patriotismus, der unterschiedliche Schichten der Gesellschaft vereine und sich gleichzeitig um die Übereinstimmung mit christlichen Dogmen – insbesondere der Nächstenliebe – bemühe (s. den vollständigen Brief in Białokozowicz 1966a, 155 ff.). Tolstoj antwortete Zdziechowski mit einem ausführlichen Brief, in dem er eine Trennung in guten und schlechten Patriotismus nicht akzeptierte. Womöglich sei Patriotismus in unterdrückten Nationen eher verzeihlich, schrieb Tolstoj, gleichwohl sei Patriotismus aber immer von demselben Geist getragen, das eigene Volk mehr zu lieben als ein anderes, und insofern widerspreche er dem christlichen Ideal der Nächstenliebe, das keinen Unterschied zwischen der Herkunft der Menschen mache. So gesehen sei auch die Polenfrage keine Ausnahme: Вы пишете о тех страшных насилиях, которые совершаются дикими, глупыми и жестокими русскими властями над верою и языком поляков, и выставляете это как бы поводом для патриотической деятельности. Но я не вижу этого. Для того, чтобы быть возмущенным этими насилиями и всеми силами противодействовать им, не нужно быть ни поляком, ни патриотом, нужно только быть христианином. В данном случае, например, я, не будучи поляком, поспорю с каждым поляком в степени отвращения, негодования к тем диким и глупым мерам русских правительственных лиц, которые употребляются против веры и языка поляков; поспорю, и в желании противодействовать
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этим мерам, и не потому, что язык больше, чем другие языки, а потому, что я стараюсь быть христианином (Tolstoj 1954, 167).183
Patriotismus berge immer die gleichen Gefahren, sich unter Berufung auf den Schutz des eigenen Volkes über andere erheben zu wollen, so Tolstoj. Insofern könne das Ziel eines Christen auch nicht die Errichtung von Staaten sein, sondern die Errichtung einer christlichen Welt von Menschen, die einander ohne Vorbehalte aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit begegnen (Tolstoj 1954, 168 ff.). Auch wenn Tolstoj sich durch seine christliche Lösung der Patriotismus-Frage politischen Kategorien entzog, bedeutete sein Brief doch eine Bestätigung des Tolstoj-Schwerpunkts des Kraj – schließlich hatte es bis dato zumindest im Bereich der Literatur keinen deutlicheren Beweis dafür gegeben, dass es „gute Russen“ gab, mit denen die Polen in Frieden leben könnten. Entsprechend setzte die Zeitung ihre Publikationspraxis in dieser Hinsicht fort und suchte darüber hinaus später auch den persönlichen Kontakt zu Tolstoj. So schickte Piltz 1899 anlässlich einer Feier des Kraj zu Ehren von Puškins 100. Geburtstag eine Einladung auch an Tolstoj und lockte ihn mit den Worten, dass seine Stimme der Veranstaltung einen „hohen moralischen Rang“ geben würde (Białokozowicz 1971, 156). Gleichzeitig bemühte er sich in Krakau, Tolstojs Ernennung zum Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften zu erreichen. Allerdings reagierte weder Tolstoj auf die Einladung noch folgten die Krakauer der Ernennungsaufforderung, letzteres aus dem Grund, dass sie eine Solidarisierung mit Tolstojs Gesellschaftstheorien fürchteten (Salden 2008, 287). Der Brief, den Zdziechowski nach Erhalt als Teil einer eigenen Publikation verwendete und darüber hinaus an die Presse weitergab, sorgte aber auch in weiteren Kreisen der polnischen Gesellschaft für ein breites Echo. Dass Tolstoj als weltberühmter russischer Schriftsteller so ausdrücklich die russische Polenpolitik kritisierte, steigerte seine Popularität unter den Polen erheblich und machte ihn auch für die Russland weniger wohlgesonnenen politischen Lager attraktiv, auch wenn es sowohl den Sozialisten als auch den Nationalisten schwer fiel, eine eindeutige Haltung ihm gegenüber zu finden. 183 „Sie schreiben über die schrecklichen Gewalttaten, die von den wilden, dummen und brutalen russischen Machthabern an Glauben und Sprache der Polen begangen werden, und stellen dies quasi als Grund für patriotische Tätigkeit heraus. Aber ich sehe das nicht. Um von diesen Gewalttaten empört zu sein und ihnen mit allen Kräften entgegenzuwirken, muss man weder Pole noch Patriot sein, man muss nur Christ sein. Im gegebenen Fall beispielsweise werde ich, der ich kein Pole bin, mich mit jedem Polen im Grad der Abscheu und Entrüstung gegenüber diesen wilden und dummen Maßnahmen, die von russischen Regierungsvertretern gegen Glauben und Sprache der Polen angewandt werden, messen; ich werde mich messen, auch im Wunsch, diesen Maßnahmen entgegenzuwirken, und das nicht deshalb, weil die Sprache besser ist als andere Sprachen, sondern weil ich mich bemühe, ein Christ zu sein.“
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Im sozialistischen Lager war das Interesse an Tolstoj als Schriftsteller Privatsache, Tolstoj als Sozialphilosoph und engagierter Bürger dagegen ein Thema hohen Rangs. Auch in der sozialistischen Presse war Tolstoj der meistzitierte russische Schriftsteller, noch deutlich vor eigentlich politisch näher liegenden Autoren wie z.B. Černyševskij. Zeitungen wie Przedświt und Naprzód berichteten über seine Forderungen zur Reform der russischen Gesellschaft und seine Konflikte mit den Behörden und der Kirche (z.B. Przedświt Nr. 3/1901, 85; Przedświt Nr. 4/1901, 145 ff.; Przedświt Nr. 6/1901, 240). 1902 druckte der Naprzód sogar ein Bildporträt und stellte fest: „W kwestyi robotniczej Tołstoj na wielu bardzo punktach ogromnie sympatyzuje z ruchem socyalistycznym (...)“ (Naprzód Nr. 88/1902, 2; 3).184 Tatsächlich konnten auch die polnischen Sozialisten ihre Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in Russland oft nicht radikaler als Tolstoj formulieren, so dass z.B. im Jahr 1900 einer seiner Texte quasi als Leitartikel im Krakauer Naprzód diente (Naprzód Nr. 141/1900, 1). Auch Rosa Luxemburg verstand Tolstojs soziale Ideale als reinen Sozialismus und bezeichnete ihn selbst als einen der großen Utopisten des Sozialismus (Luxemburg 1972, 251; 253). Dennoch ließ sich nicht abstreiten, dass Tolstoismus und Sozialismus letztlich in ihren Lehren weit auseinander gingen. Für die Sozialisten war irritierend, dass Tolstoj zwar radikal die privilegierten Klassen kritisierte, aber mit gleicher Entschiedenheit auch revolutionäre Doktrinen zurückwies (Kjetsaa 2001, 269). So schätzten sie Tolstoj als Kritiker von Behörden, Militarismus und ungleicher Verteilung des Wohlstands und zollten seinem Mut bei der offenen Kundgabe dieser Ansichten Respekt. Gleichzeitig erschienen ihnen diese aber nicht konsequent genug (vgl. Przedświt Nr. 4/1901, 147). Aus sozialistischer Perspektive fehlte vor allem der Schritt zur Aktivität, zur Veränderung der Verhältnisse. Tolstojs Vision einer aus christlichen Idealen heraus erneuerten Gesellschaft erschien gegen eine revolutionäre Neugestaltung als nicht sehr viel versprechend. Tolstojs Vorstellungen seien teils von kindlicher Naivität, klagte der Przedświt, und es fehle ihm ein positives Programm (Przedświt Nr. 4/1901, 145; Przedświt Nr. 1/1903, 7). Kazimierz Kelles-Krauz schrieb: „(...) Tołstoj jest (...) w rzeczach społecznych i ekonomicznych zupełnym nieukiem (...)“ (Kelles-Krauz 1984a, 112; vgl. zur Kritik auch in Grzegorczyk 1964, 78 ff.).185 Doch auch wenn den polnischen Sozialisten klar war, dass Tolstoj kein Sozialist und seine Doktrin nicht identisch mit dem Sozialismus war, übte er ohne Frage eine starke Anziehung auf sie aus. Tolstojs Bücher standen im Königreich Polen in Partei- und Arbeiterbibliotheken (Krajewska 1979, 139; 165), Stanisław Stempowski übersetzte Tolstojs Voskresenie (Grzegorczyk 1964, 219), und als 1897 in Wilna 184 „In der Arbeiterfrage sympathisiert Tolstoj an sehr vielen Punkten enorm mit der sozialistischen Bewegung (...).“ 185 „(...) Tolstoj ist (...) in gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen ein völliger Banause (...).“
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Feliks Dzierżyński verhaftet wurde, förderte eine Durchsuchung bei ihm auch Tolstojs Kavkazskij plennik zutage (Cvigun 1977, 31 f.). Tolstojs Werk schien auch immun gegen die Skepsis im PPS-Lager, denn selbst der Przedświt verwahrte sich dagegen, Tolstoj allein aufgrund russophober Erwägungen zu kritisieren (Przedświt Nr. 1/1903, 7). Der Vorwurf einer russophoben Tolstoj-Rezeption war im Przedświt gegen Zygmunt Balicki gerichtet und lenkt den Blick auf die ebenfalls höchst ambivalente Rezeptionssituation im Lager der polnischen Nationaldemokraten. Tolstojs radikale Ablehnung des Patriotismus traf ihre junge Ideologie an den Wurzeln, gleichzeitig stand seine Kritik des russischen Staates aber der nationaldemokratischen an Radikalität in nichts nach. Sollten sie Tolstoj also als Feind des Feindes, d.h. als Freund behandeln, oder war er selbst ein Feind? Offensichtlich war der Eindruck von Tolstojs Worten zu stark, um den parallel postulierten Totalboykott in seinem Fall beibehalten zu können. Entsprechend druckte der Przegląd Wszechpolski 1896 Fragmente aus Tolstojs Brief an Zdziechowski, versehen mit der zugleich einschränkenden wie anerkennenden Anmerkung: „Nie podzielamy poglądow Tołstoja, ale z głębokiem uznaniem podnosimy niezwykły w pisarzu rosyjskim objaw odwagi i szczerości w wypowiadaniu swych myśli“ (PW Nr. 1/1896, 21).186 In den Folgejahren wurde im Przegląd Wszechpolski sowohl Tolstojs Konflikt mit der Kirche dokumentiert (z.B. PW Nr. 7/1900, 444 f.) als auch seine künstlerische Entwicklung – so brachte das Blatt zum Erscheinen von Voskresenie erstmals eine Besprechung eines russischen Buchs, verfasst von Władysław Jabłonowski, der den Roman gar als „eins der hervorragendsten Bücher des Jahrhunderts“ bezeichnete (jedno ze znakomitszych dzieł stulecia, PW Nr. 9/1900, 552).187 Ungeachtet der Boykott-Idee und der Geringschätzung für alles Russische war Tolstoj im Przegląd Wszechpolski „der große Prophet“ (wielki prorok, PW Nr. 1/1896, 21), „der hervorragende russische Denker“ (znakomity myśliciel rosyjski, PW Nr. 2/1899, 126) und „der seltsame, geniale Tolstoj“ (dziwny, genialny Tołstoj; PW Nr. 8/1902, 592). Insofern war er auch von der kulturellen Zuordnung zu den Asiaten ausgenommen, die für die Russen ansonsten grundsätzlich galt (PW Nr. 5/1900, 303). Tolstojs Reiz lag dabei auch für die Nationaldemokraten vor allem in seiner Rolle als Kritiker der russischen Staatsinstitutionen. Der russische Staat, so referierte Jabłonowski in seiner Rezension von Voskresenie, sei für Tolstoj der größte 186 „Wir teilen Tolstojs Anschauungen nicht, aber mit großer Anerkennung stellen wir die für einen russischen Schriftsteller ungewöhnliche Bekundung von Mut und Ehrlichkeit bei der Darlegung seiner Gedanken heraus.“ 187 Wiederum erscheint es bezeichnend, dass der Text zur Zeit von Popławskis Hauptverantwortung erschien (s. Kap. 3.3). Popławski selbst hatte sich schon 1886 in einem Artikel in der Prawda mit Tolstoj auseinandergesetzt (Brykalska 1978b, 308).
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Feind aller vernünftigen und edlen menschlichen Bestrebungen, er schädige seine Bewohner seelisch und körperlich und halte sie in einem menschenverachtenden Willkürsystem aus Gewalt und Ausbeutung (PW Nr. 9/1900, 553). Alle diese Punkte konnten die polnischen Nationaldemokraten praktisch ohne Einschränkung unterschreiben. Die Konsequenzen, die Tolstoj aus seiner Analyse des Staatswesens zog, waren ihnen allerdings suspekt. B. Lutomski versuchte, Tolstojs aus nationalistischer Perspektive unverständliche Postulate als regionales Phänomen zu erklären. Tolstojs Anarchismus sei der radikale Gegenpol zu einem maßlos despotischen russischen Staat, Tolstojs Vision radikaler Herrschaftslosigkeit also ein Produkt der bestehenden radikalen Herrschaft. Typisch russisch sei Tolstojs Individualismus dabei auch insofern, als dass sich in Russland nie ein Gefühl gesellschaftlichen Zusammenhalts bzw. ein Nationalgefühl entwickelt habe – auch dies eine Folge der Machtverhältnisse, in denen eine herrschende Kaste die Ausprägung eines Gemeinschaftsgefühls der Massen habe verhindern wollen (PW Nr. 6/1904, 410 f.; vgl. PW Nr. 8/1902, 592). Letztlich waren derartige Erklärungen aber Nebensache. Mit Tolstojs antinationalistischen und pazifistischen Ideen konnten die polnischen Nationalisten nichts anfangen, und diese Kritik artikulierten sie deutlich. Hauptsächlich richtete sie sich gegen die gesellschaftliche Passivität des Tolstoismus: „[Tołstoizm] przedstawia (...) typowy przykład kierunku umysłowy z pozoru bardzo radykalnego, w istocie swej jednak społecznie zupełnie jałowego“, schrieb z.B. T. Grużewski (PW Nr. 2/1902, 107).188 Bestenfalls sei der Tolstoismus destruktiv, indem er das bestehende System zerstöre; im schlechtesten Fall dagegen werde er zur Stütze des bestehenden Systems, da er zu dessen Zersetzung nicht initiativ sei. „Przykazanie Tołstoja – ‚nie sprzeciwiaj się złu’ – jest w świetle etyki społecznej z gruntu niemoralne, gdyż każąc nam zło tolerować, czyni nas jego wspólnikami“, schrieb Zygmunt Balicki 1902 in seiner programmatischen Schrift Egoizm narodowy wobec etyki (Balicki 2008, 355; vgl. PW Nr. 2/1902, 105; PW Nr. 6/1904, 415).189 In einem Artikel des Wolne Polskie Słowo hieß es, auf die Idee, sich dem Bösen nicht entgegenzustellen, könnten vielleicht unbescholtene Eingeborene in Afrika oder Ozeanien kommen, eine zivilisierte Nation dagegen würde sich immer verteidigen (Porter 2000, 211). Władysław Studnicki sah in Tolstojs Aufruf zur Gewaltlosigkeit den sklavenhaften Geist der Russen in reinster Form verkörpert (Studnicki 1910, 510).
188 „[Der Tolstoismus] stellt das typische Beispiel einer scheinbar sehr radikalen geistigen Richtung dar, die in ihrem Wesen aber gesellschaftlich völlig nutzlos ist.“ 189 „Tolstojs Gebot – ‚stell Dich dem Bösen nicht entgegen’ – ist im Lichte gesellschaftlicher Ethik von Grund auf unmoralisch, denn indem es uns das Böse tolerieren heißt, macht es uns zu seinen Komplizen.“
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So zeigen die vorstehenden Ausführungen, wie stark die Deutung Tolstojs in Polen von unterschiedlichen politischen Kontexten abhängig war. Wie aber ist sein Einfluss als Künstler auf die polnische Kunst zu beurteilen? Zahlreiche Kommentare polnischer Schriftsteller zu Tolstoj stammen aus der Zeit nach der Revolution von 1905 und wurden anlässlich seines 80. Geburtstags (1908) sowie zu seinem Tod (1910) verfasst (Grzegorczyk 1964, 40 ff.; 56 ff.). Betrachtet man dagegen die Tolstoj-Rezeption im Zeitraum bis 1904, finden sich viele typische Muster. Sienkiewicz äußerte sich nicht über Tolstoj, Orzeszkowa nur in ihren persönlichen Aufzeichnungen; die positivistischen Zeitschriften und Publizisten schwiegen sich weitgehend aus, ausgenommen Świętochowski und seine Mitarbeiter in der Prawda sowie Bolesław Prus in seinen Wochenchroniken. Ferner äußerten sich öffentlich einige der üblichen Verdächtigen unter den sonstigen Autoren – so Wiktor Gomulicki, Czesław Jankowski und Józef Tokarzewicz. Deutlich wird dennoch, dass die Positivisten Tolstoj als Schriftsteller schätzten. Voskresenie beispielsweise bezeichnete Orzeszkowa als genial, Prus als eine der höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes (Orzeszkowa 1958, 68; Prus 1966, 480 f.). Daran änderte es auch nichts, dass sie Tolstojs Weltanschauung nicht teilten. Prus beispielsweise schrieb, dass er Tolstojs radikalen Pazifismus nicht verstehe (Prus 1966, 485), Świętochowski hielt die urchristlichen Ideen für wenig originell und Tolstoj selbst für inkonsequent (Grzegorczyk 1964, 51; 55). Auch Orzeszkowa schrieb, zur Doktrin von Voskresenie „wäre einiges zu sagen“ (byłoby trochę do mówienia, Orzeszkowa 1958, 68). Der Tolstoismus war für sie alle aber nicht das Entscheidende. Świętochowski schrieb hierzu: Czego w swych moralno-społecznych rozprawach uczy Tołstoj, to może być całkowicie lub częściowo paradoksalnym, dziwacznym, niedorzecznym, mimo to nawet najbardziej bezzasadne i fanatyczne jego wywody świadczą o potędze i wzniosłości jego ducha, o tym apostolskim nastroju, który większym jest w błędzie niż inne umysły w prawdzie (zitiert nach Brykalska 1978b, 297).190
Und Prus: Nie wiem, jakie są ‚doktryny‘ Tołstoja, na czym polega jego ‚fanatyzm‘ i ‚mistycyzm‘; do zaczepiania tych stron jego działalności nie posiadam ani prawa, ani ochoty. Ale coś niecoś wiem, jakim Tołstoj jest powieściopisarzem i jak zapatruje się na tę swoją specjalność (Prus 1967, 97 f.).191 190 „Was Tolstoj in seinen moralisch-gesellschaftlichen Abhandlungen lehrt, mag ganz oder teilweise paradox sein, wunderlich, unsinnig, aber selbst die grundlosesten und fanatischsten seiner Schlüsse zeugen von einer Stärke und Würde seines Geistes, von einer apostolischen Stimmung, die im Falschen größer ist als andere Geister im Wahren.“ 191 „Ich weiß nicht, was Tolstojs ‚Doktrinen‘ sind, worin sein ‚Fanatismus‘ und sein ‚Mystizismus‘ bestehen; zur Betrachtung dieser Seiten seiner Tätigkeit habe ich weder das Recht noch die Lust. Aber etwas weiß ich doch, [und zwar] was Tolstoj für ein Romanautor ist und wie er diese seine Spezialisierung auffasst.“
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Sicherlich ist es doppeldeutig, wenn Prus davon schrieb, dass ihm „das Recht“ zur Diskussion von Tolstojs Doktrin fehle – man mag dies als Hinweis auf die Zensur nehmen. Tatsächlich scheint es aber, dass die Hochachtung der positivistischen Schriftsteller für Tolstoj vor allem dem Gefühl eines ähnlichen künstlerischen Programms entsprang. Besonders augenfällig ist dies zwischen Tolstoj und Orzeszkowa. Beide blickten mit Skepsis auf den (moralischen) Zustand der höheren Gesellschaft und interessierten sich für die Aufklärung und Aktivierung des einfachen Volkes, beide kennzeichnete zudem der Glaube an das Gute im Menschen und an die Kraft der Nächstenliebe. Niederschlag fand dies sowohl in der Thematik der Werke beider Künstler, als auch in den persönlichen Biographien, beispielsweise im Engagement für die Volksbildung. Diese Ähnlichkeiten waren auch schon für die Zeitgenossen offensichtlich, wie z.B. für Marian Zdziechowski, der Tolstoj 1896 einen Text Orzeszkowas mit den Worten empfahl, dass man in ihm die positive Wirkung seiner Ideen sehe (zametno blagotvornoe vlijanie Vašich idej; Białokozowicz 1966b, 446). Bezeichnend ist auch, dass mehrere von Orzeszkowas Texten auf Russisch in dem von Tolstoj gegründeten Verlag Posrednik erschienen und sich lange das Gerücht hielt, Tolstoj habe für einzelne von ihnen persönlich die Vorworte geschrieben (Białokozowicz 2003, 64 f.). In der Forschung sind später viele Analogien zwischen Texten Orzeszkowas und Tolstojs benannt worden (z.B. Cybenko 1963a, 417 ff.). Auch für andere Schriftsteller des Realismus sind Parallelen nachgewiesen worden (z.B. für Sienkiewicz, Krzyżanowski 1946, 133 ff.; für Prus, Cybenko 1963b, 70), auch andere haben ihre Hochachtung für Tolstoj bekundet (z.B. Adam Szymański, Burdziej 1991, 53 f.) und auch andere veröffentlichten ihre Werke im Posrednik (Konopnicka; Piotrovskaja 1959, 191). Es ist allerdings schwer einzuschätzen, wie groß Tolstojs Einfluss auf sie tatsächlich war. Für Orzeszkowa beispielsweise ist überliefert, dass Tolstojs (angeblich) positive Einschätzung ihrer Werke sie mit Stolz erfüllte und sie ihn gerne in Jasnaja Poljana besucht hätte, wenn ihr Alter sie nicht gehindert hätte (Białokozowicz 2003, 57). Gleichzeitig beharrte sie aber auch auf der Originalität ihrer Gedanken, selbst wenn diese Tolstojs ähnelten. So schrieb sie in einem Brief aus dem Jahr 1903: Alboż nie powinniśmy od pasztetów i parawaników chińskich zawracać choć po trochu do większej prostoty potrzeb i zwyczajów, do pracy fizycznej etc. To nie z Tołstoja wzięte, upewniam Pana, lecz z moich własnych, najgłębszych przekonań. I ze spostrzeżeń niezliczonych. I z doświadczenia własnego (Orzeszkowa 1958, 121).192 192 „Oder sollten wir etwa nicht von den Pasteten und chinesischen Wandschirmen zu wenigstens etwas schlichteren Bedürfnissen und Gewohnheiten zurückkehren, zur physischen Arbeit etc. Das ist nicht von Tolstoj genommen, versichere ich Ihnen, sondern aus meinen eigenen, tiefsten Überzeugungen. Und aus unzähligen Beobachtungen. Und aus eigener Erfahrung.“
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Tatsächlich entstanden trotz aller Parallelen die Texte der polnischen Autoren in einem eigenständigen und speziellen Kontext, für den Tolstojs Einfluss nicht überbewertet werden darf. Gleichwohl sahen die Realisten mit Genugtuung, wenn ihr weltbekannter russischer Kollege ähnliche Ideale predigte und lebte wie sie selbst. Häufig klingt insofern an, dass der Maßstab zur Beurteilung Tolstojs die eigenen, positivistischen Ideale waren, und hier insbesondere der Aspekt des Dienstes der Künstler an der Gesellschaft. Besonders deutlich wird dies bei Bolesław Prus, der zwischen 1899 und 1901 in drei Beiträgen für den Kurier Codzienny ausführlich über Tolstoj schrieb und dies nicht zuletzt dazu nutzte, um die positivistische Weltanschauung in der Polemik mit Autoren der polnischen Moderne zu verteidigen (vgl. Semczuk 1969). So verwies Prus darauf, dass auch Tolstoj der Kunst vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe zuweise. Ein Roman, so argumentierte Prus mit Blick auf Tolstoj, müsse aus dem echten Leben schöpfen, d.h. realistisch sein und von einfachem, realistischem Stil (Prus 1967, 98 f.; Prus 1966, 479). Zudem dürfe er auch nicht nur als „Kunst um der Kunst willen“ bestehen, sondern solle die Gesellschaft bilden und bessern (Prus 1966, 479 f.). Bei Tolstoj sah Prus dies bestätigt: Seine Texte seien nicht zum Vergnügen geschrieben, sondern ein Mittel zur brüderlichen Vereinigung der Menschen (Prus 1967, 98). Ähnlich argumentierte auch Aleksander Świętochowski: Tolstojs Ideologie sei zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass er überhaupt gesellschaftlich aktiv sei (Brykalska 1978b, 297). Tatsächlich ist es keine Frage, dass Tolstojs Kunstverständnis dem positivistischen näher als dem modernistischen war und insbesondere dekadenten und ästhetisierenden Konzepten entgegenstand. Anschaulich zeigt sich dies anhand der Tatsache, dass sowohl Przesmycki als auch Przybyszewski ihre wichtigsten publizistischen Veröffentlichungen mit einer klaren Abgrenzung von Tolstoj begannen. Przesmycki berief sich sowohl in der programmatischen Ankündigung seiner Zeitschrift Chimera als auch in seinem kurz darauf veröffentlichten Manifest Walka ze sztuką auf Tolstoj und stellte dessen utilitaristischen und antielitären Auffassungen die eigene Ästhetikfokussierung gegenüber (Przesmycki 1967b, 7; 39 f.). Für Przesmycki gehörte Tolstoj zu den prominentesten Vertretern einer im Kern kunstfeindlichen Stimmung, der er durch sein eigenes Wirken begegnen wollte. Entsprechend polemisierte er scharf gegen Tolstoj und schrieb z.B. über dessen Auffassung, dass Kunst allgemeinverständlich sein solle: „Nikomu nie przychodzi na myśl, iż innymi słowy znaczy to: ‚sztuką prawą jest ta, która sprawia przyjemność ignorantom i głupcom, a literatura stosować się winna do smaku analfabetów estetycznych‘“ (Przesmycki 1967b, 174 f.).193 193 „Niemandem kommt in den Sinn, dass dies mit anderen Worten bedeutet: ‚Wahre Kunst ist die, die Ignoranten und Dummköpfen Vergnügen bereitet, und die Literatur sollte sich an den Geschmack von ästhetischen Analphabeten anpassen‘.“
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Fallstudie I
Ähnlich deutlich setzte sich Przybyszewski von Tolstoj ab: Unmittelbar bevor er 1898 die Redaktion des Krakauer Życie übernahm, druckte diese Fragmente aus Tolstojs Čto takoe iskusstvo? (Życie Nr. 35/1898, 456 ff.; Życie Nr. 36–37/1898, 476 f.). Statt jedoch wie geplant insgesamt vier Folgen zu bringen, riss der Druck im Moment der Übernahme der Redaktion durch Przybyszewski ab (Życie Nr. 38–39/1898; vgl. Białokozowicz 2003, 162). Stattdessen erschien kurz darauf Przybyszewskis Manifest Confiteor, in dem er Tolstojs Anschauungen zur Kunst „Greisenunfug“ (starcze niedorzeczności) nannte und ihnen offensiv seine eigenen Ideale einer „Kunst um der Kunst willen“ entgegenstellte (Przybyszewski 1973, 236). Es verwundert nicht, dass gerade Przybyszewski und Przesmycki sich gegen Tolstojs Kunstverständnis aussprachen. Allerdings erntete er auch bei weniger ästhetikfokussierten Autoren der polnischen Moderne zu diesem Thema keine Zustimmung. So schrieb z.B. auch Leopold Blumenthal über Čto takoe iskusstvo? von einem „in vielerlei Hinsicht gefährlichen Buch voller schädlicher Fehler“ ([książka] pełna szkodliwych błędów i z wielu względów niebezpieczna“; Grzegorczyk 1964, 216).194 Und Władysław Kozicki resümierte mit Blick auf einen modernistischen Literaturzirkel in Lemberg „(...) Tołstojowi nie mogliśmy przebaczyć jego ‚filisterskiej’ broszury Co to jest sztuka (...)“ (Ortwin 1969, 16).195 Tolstoj, so schrieb Jan Kasprowicz in einer seiner Theaterrezensionen von Stücken Tolstojs, sei ungeachtet aller Postulate dennoch vor allem ein echter Künstler (Białokozowicz 2003, 101 f.). Und so darf man nicht übersehen, dass er trotz aller Differenzen im Kunstverständnis für viele der modernistischen polnischen Autoren auch eine wichtige Inspirationsquelle und ein Vorbild war. Wohl nicht zufällig gilt dies z.B. für Stefan Żeromski, d.h. einen Prosaautoren, der dem radikalen Ästhetizismus fern stand. „Czytam (...) Tołstoja ‚Wojna i mir‘ – i uczę prawdziwej psychologii“, schrieb er beispielsweise in einem Brief, und an anderer Stelle: „Czytam Tołstoja – i to czytanie naucza mię mądrości i darcia własnych utworów“ (Śniadower 1966, 51).196 Ähnliche Hochachtung spricht aus den Worten Władysław Orkans: „(...) najbardziej na myśl moją oddziałali Tołstoj i Ruskin. Pierwszy życiem swym, drugi zaś swoimi fantazjami“ (Pigoń 1958, 241).197 Sieroszewski schrieb 1902 sogar einen Brief an Tolstoj, in dem er darum bat, ihn in Jasnaja Poljana besuchen zu dürfen (Białokozowicz 1966a, 353 f.; vgl. Rovnjakova 1968, 131). So ist es auch folgerichtig, dass es aus der Zeit nach 1904 eine ganze Reihe von hochachtungsvollen Skizzen modernistischer Autoren über Tolstoj und seine Texte gibt. 194 Für eine sachliche Auseinandersetzung aus der modernistischen Perspektive siehe auch Edward Abramowskis Rezension aus dem Przegląd Filozoficzny (Abramowski 1973). 195 „(...) Tolstoj konnten wir seine ‚philisterhafte‘ Broschüre ‚Was ist Kunst‘ nicht verzeihen (...).“ 196 „Ich lese (...) ‚Krieg und Frieden‘ von Tolstoj – und lerne echte Psychologie“; „Ich lese Tolstoj – und diese Lektüre lehrt mich Weisheit und das Zerreißen der eigenen Werke.“ 197 „(...) am stärksten wirkten auf meinen Geist Tolstoj und Ruskin. Der erste mit seinem Leben, der zweite mit seinen Phantasien.“
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Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass die Tolstoj-Rezeption von zwei widersprüchlichen Aspekten dominiert wurde: Kaum jemand wollte Tolstoj in seiner Weltanschauung folgen, und trotzdem war gerade sie es, die seine ungewöhnliche Popularität erst ermöglicht hatte. Die Polen aller gesellschaftlichen Gruppen bedienten sich selektiv an Tolstojs ideologischen Äußerungen und nahmen vor allem seine Kritik am russischen Staatswesen und speziell den Verhältnissen in den polnischen Gebieten auf, um ihn für die jeweiligen politischen Ziele dienstbar zu machen. Jenseits davon gab es aber auch Anerkennung für Tolstoj als Künstler, die selbst weltanschaulich deutlich anders orientierten Lesern die Lektüre seiner Werke ermöglichte. Zu dieser Gruppe sind nicht zuletzt die staatstreuen Russen und die russischen Behörden zu zählen, die auch im Königreich Polen Tolstoj als Schriftsteller würdigten, seine politischen Aussagen dagegen bagatellisierten.
7. Fallstudie II: Die Jubiläumsfeiern zu Puškins 100. Geburtstag (1899) Am 26. Mai 1899 (a.St.) jährte sich der Geburtstag des russischen Nationaldichters Aleksandr Puškin zum 100. Mal. In Russland warf das Ereignis seine Schatten lange voraus. Schon Mitte des Vorjahres begannen die Zeitungen mit der Einstimmung (z.B. SPbV Nr. 251/1898, 2 f.). Im Oktober 1898 wandte sich schließlich die Russische Akademie der Wissenschaften an den Zarenhof, um die Einrichtung einer Festtagskommission zu erwirken (Imperatorskaja Akademija Nauk 1900, 1 f.). Unter Vorsitz des Großfürsten Konstantin Konstantinovič erarbeitete diese Kommission anschließend ein umfangreiches Programm, das u.a. Gedenkgottesdienste, eine Feierstunde, eine Ausstellung von Andenken an Puškin, Aufführungen seiner Werke, die Prägung einer Gedenkmünze und den Ankauf von Puškins Familiengut Michajlovskoe durch den Staat vorsah (Imperatorskaja Akademija Nauk 1900, 5 ff.). Der Wunsch der Akademie war es auch, die Feierlichkeiten über Petersburg hinaus in die anderen Landesteile zu tragen, und tatsächlich entbrannten in ganz Russland bald rege Vorbereitungen. Ab dem Frühjahr 1899 berichtete der Varšavskij Dnevnik in einer eigenen Rubrik fast täglich von diesen Aktivitäten (K Puškinskomu Jubileju). Im Königreich Polen tat sich allerdings zunächst vergleichsweise wenig. Anfang Februar schrieb der Varšavskij Dnevnik: (…) в то время как вся Россия – от столицы до захолустья – готовится отпраздновать этот день возрождения русской истории, одни русские варшавяне как то равнодушномолчаливо ожидают этого торжества, погруженные в свою будничную жизнь (VD Nr. 24/1899, 3).198
Erst knapp zwei Monate vor dem großen Tag nahm der Warschauer Generalgouverneur Imeretinskij die Zügel in die Hand und setzte am 27. März (8. April) im Warschauer Schloss eine Kommission ein, die dem Feiertag insbesondere in Warschau einen würdigen Rahmen geben sollte. In seinem Grußwort an die Kommission forderte Imeretinskij ausdrücklich einen Plan für eine Feier nur „im Kreise der Russen“ (v krugu russkich ljudej). Offenbar leitete ihn der Gedanke, dass sie zu einer Art Vereinigungsfest der Warschauer Russen im Bewusstsein ihrer quasi-zivilisatorischen Mission im Königreich Polen werden könnte:
198 „(...) während ganz Russland – von der Hauptstadt bis in die hinterste Provinz – sich darauf vorbereitet, diesen Tag der Wiedergeburt der russischen Geschichte zu feiern, erwarten allein die Warschauer Russen gleichgültig-schweigsam diesen Festtag, versunken in ihren Alltag.“
Die Jubiläumsfeiern zu Puškins 100. Geburtstag
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Было бы желательно, чтобы наше русское общество отпраздновало эти дни, не разбиваясь на отдельные кружки, а напротив тесно сплотившись предъ одушевляющею всех нас общею целью (VD Nr. 85/1899, 3).199
Auf ein polnisches Publikum zielten (wie so häufig) am stärksten die Pläne des Bildungsministeriums, das dem Puškin-Fest eine „hohe erzieherische Bedeutung“ (vysokoe vospitatel’noe značenie) zumaß und den 26. Mai (a.St.) zu einem besonderen Puškin-Feiertag ausgerufen hatte (VD Nr. 138/1899, 2).200 Auch im Königreich Polen hatten die Vorbereitungen des MNP auf dieses Datum früher begonnen als alle sonstigen. So hatte der Kurator des Warschauer Wissenschaftsbezirks schon Mitte Januar eine Kommission eingesetzt, der die Ausarbeitung von Puškin-Broschüren für die polnischen Schulen übertragen wurde. 65.000 dieser Broschüren – je eine für die Elementar- und eine für die Mittelschulen – wurden Mitte April an die Lehranstalten verschickt (VD Nr. 12/1899, 2 f.; VD Nr. 105/1899, 3; MNP 1899). Für den großen Tag selbst gab das MNP einen recht genauen Ablauf der Feierlichkeiten vor: Zunächst sollte ein Gedenkgottesdienst mit Totengebet (Panichida) abgehalten werden, dann eine Festversammlung „mit angemessenen Reden“ (in den Hochschulen) bzw. mit Reden, dem Vortrag ausgewählter Werke Puškins und Musik (in den Elementar- und Mittelschulen; VD Nr. 138/1899, 2). Dieses Konzept wurde am Jubiläumstag – teils in leichter Variation – im ganzen Königreich Polen umgesetzt (VD Nr. 142/1899, 2). Besonders groß waren die Feiern im ersten Warschauer Jungengymnasium, wo auch der Generalgouverneur und der Bildungskurator anwesend waren (VD Nr. 143/1899, 2). Ebenfalls in Warschau gab es eine Puškin-Aufführung im Großen Theater, die 1.250 Schüler besuchten (VD Nr. 141/1899, 7). Anders als sonstige literarische Feiertage reichten die Puškin-Feiern aber deutlich über die Schulen hinaus – zumindest die offiziellen Stellen schienen in ein regelrechtes Puškin-Fieber zu geraten. Rund um den 26. Mai gruppierten sich PuškinAufführungen Moskauer Schauspieler im Großen Theater (VD Nr. 144/1899, 3), Aufführungen der russischen Amateurtheater-Gesellschaft (VD Nr. 142/1899, 2), ein Festabend im russischen Klub (VD Nr. 142/1899, 2), ein von der Universität gestalteter Festakt im Warschauer Rathaus (VD Nr. 142/1899, 2), eine Ausstellung 199 „Es wäre wünschenswert, dass unsere russische Gesellschaft diese Tage nicht gespalten in unterschiedliche Kreise feiert, sondern im Gegenteil eng sich vereinend angesichts des uns alle beseelenden gemeinsamen Ziels.“ 200 Das Ministerium folgte hier direkt dem Großfürsten Konstantin Konstantinovič, der noch ganz zu Beginn der Planungen dem Bildungsminister von dieser erzieherischen Seite der Feiern geschrieben hatte: „(...) чествование не следует ограничивать только стенами Академии, но (…) оно должно быть устроено так, чтобы (…) оно по возможности имело воспитательное значение для народа“ (Imperatorskaja Akademija Nauk 1900, 1); dt. „(...) die Feier sollte nicht auf die Wände der Akademie beschränkt, sondern (...) so organisiert sein, dass sie (...) nach Möglichkeit eine erzieherische Bedeutung für das Volk hätte.“
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Fallstudie II
in der Universitätsbibliothek (VD Nr. 140/1899, 2) und ein zentraler Gedenkgottesdienst mit Totengebet (VD Nr. 142/1899, 2). Im Warschauer Zentralgefängnis wurden nach dem Morgengottesdienst die alphabetisierten Häftlinge versammelt und erhielten mit Hinweis auf den Jubiläumstag Puškin-Broschüren, mit denen sie – nachdem der stellvertretende Gefängnisdirektor ihnen einen Teil des Mednyj vsadnik deklamiert hatte – zurück in die Zellen geschickt wurden, um ihre Mithäftlinge mit Puškins Versen zu erfreuen (VD Nr. 142/1899, 3). Letztlich wurde sogar ein Verwandter Puškins ausfindig gemacht, der im Königreich Polen lebte – ein gewisser N. O. Pane, der Sohn von Puškins Nichte, der dann als eine Art Ehrengast an einzelnen Festveranstaltungen in Warschau teilnahm (VD Nr. 138/1899, 2; VD Nr. 141/1899, 7). Den populistischen Höhepunkt der Feiern bildete schließlich ein Volksfest im Alexander-Park von Warschau-Praga. Vor Puškin-Büsten und von improvisierten Lesebühnen wurden den 10–15.000 Besuchern dort Puškins Werke vorgetragen, doch geriet die Kunst angesichts von Clowns und Akrobaten mit Salto-MortaleAufführungen sowie Schießbuden, Karussels, Hindernislauf und Sackhüpfen deutlich in den Hintergrund – wohl auch eine Folge dessen, dass unter den Vergnügungslustigen allein ca. 9.000 freigestellte Soldaten der Warschauer Garnison waren (VD Nr. 144/1899, 3; vgl. PW Nr. 6/1899, 358). Die polnische Bevölkerung ließ sich mit all diesen Veranstaltungen kaum erreichen. Sicher: In den Schulen war das Programm wie stets für die polnischen Schüler verpflichtend. Darüber hinaus hatte der Generalgouverneur jedoch die Linie vorgegeben, als er – wie bereits erwähnt – Feiern im Kreis der russischen Bevölkerung und im russischen Geiste gefordert hatte. Auch die in den russischen Wortbeiträgen zu diesen Veranstaltungen vertretene Deutung Puškins folgte diesem Pfad, der für die Polen nur abschreckend sein konnte. Natürlich wurde in diesen Tagen viel und blumig über die angeblich wahrhaftige Synthese von Form und Inhalt in Puškins Kunst geredet und von seiner Fähigkeit, durch diese Synthese zum Wesen der Dinge und zu tieferer Wahrheit vorzudringen. Als Puškins grundlegender Verdienst wurde jedoch immer wieder seine Rolle für das Geistesleben der Nation herausgestellt: Während seine literarischen Vorgänger sich in Form und Inhalt ihrer Dichtung nicht hinreichend von westlichen Vorbildern hätten lösen können, sei erst Puškin auf allen Ebenen die Erschließung des russischen Lebens und Geistes gelungen. Puškin sei insofern der Urvater einer originär russischen Poetik gewesen, und – was in dieser Interpretation stets implizit mitschwang – der Ausgangspunkt eines nationalen Erwachens in der Kunst, das Russlands inneres Gleichgewicht und seine äußere Stärke seitdem mitbedingt habe (vgl. VD Nr. 54/1899, 2; VD Nr. 141/1899, 2). Die Feiern des Puškin-Jubiläums wurden entsprechend auch zu einem Gradmesser dafür, inwieweit sich das angebliche Erbe Puškins erfüllt hatte. Das Fest, so schrieb der Varšavskij Dnevnik, sei auch ein „Indikator für das schnelle Wachstum
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unserer Kulturhaftigkeit, unseres nationalen Selbstbewusstseins“ (pokazatel’ bystrago rosta našej kul’turnosti, našego narodnago samosoznanija). Vorbei sei inzwischen die Zeit der Selbsterniedrigung, in der sich jeder Russe vor einem Franzosen wie ein verschüchtertes Schulkind gefühlt habe. Nun habe die ganze Bevölkerung Stolz auf das Eigene erfasst, und das nicht zuletzt dank des Puškinschen Vorbilds: „Последуем за великим поэтом, давшим в своих произведениях столь возвышенные образцы истиннаго здраваго патриотизма…“ (VD Nr. 141/1899, 6).201 Es versteht sich, dass diese polarisierte Interpretation Puškins keinen Raum für eine differenzierte Betrachtung des Dichters ließ. Die Widersprüche in Puškins künstlerischer Biographie wurden verschwiegen oder ggf. einer entsprechenden Deutung unterzogen (vgl. MNP 1899, X). So habe Puškin in den Menschen „gute Gefühle“ (čuvstva dobrye) und die Vision eines humanen Zeitalters geweckt, das im Jetzt verwirklicht sei – eine sehr wohlwollende Auslegung der russischen Gegenwart um das Jahr 1900, die gleichwohl eine Bestätigung für Puškins prophetischen Geist darstellen sollte (VD Nr. 121/1899, 2). Die national-patriotische Deutung des Puškinschen Schaffens war ein Phänomen, das die Feiern in ganz Russland betraf. In den polnischen Gebieten musste diese Tendenz jedoch eine besonders fatale Wirkung auf die nichtrussische Bevölkerung haben, deren Integration in die Festlichkeiten auch auf der Ebene des kunstbezogenen Diskurses so verbaut wurde. Kein Wunder also, dass die Vertreter der polnischen Boykott-Front diese Steilvorlage aufnahmen. So wurden im Vorfeld der Feiern von einer nationaldemokratischen Gruppe in Warschau Flugblätter verteilt, mit denen die Bevölkerung über deren russifizierenden Charakter aufgeklärt werden sollte: „Czcić nam swoich zabroniono, czcić obcych kazano (...). Nieznacznie i powoli chcą zniszczyć w nas pamięć o Polsce, a ożywić poczucie jedności z Rosyą“ (PW Nr. 6/1899, 373).202 In ähnlicher Weise drückte auch PPS-Führer Józef Piłsudski im Robotnik seine Überzeugung aus, dass die Feier vor allem ein Werkzeug der Russifizierung sei, wobei er auch von einer Billigung durch die polnische Oberschicht ausging: Rząd najezdniczy, narzucając nam obchód puszkinowski w Warszawie, chce zaświadczyć, że Polska i Rosja to jedno, że my, Polacy, wspólnym żyjemy życiem z „wielką ojczyzną rosyjską“ (…). Gdy policja carska wespół z panami polskimi nawoływać będzie lud nasz, by pod jej przewodnictwem uczcił jubileusz Puszkina – świadomy robotnik ze wstrętem odwróci się od tego wezwania (…) (Piłsudski 1937, 261).203 201 „Wir folgen dem großen Poeten, der in seinen Werken ein so erhabenes Muster von wahrhaftigem gesundem Patriotismus gibt ...“ 202 „Die Unsrigen zu ehren ist uns verboten, Fremde zu ehren geboten. (...) Unmerklich und langsam wollen sie in uns die Erinnerung an Polen zerstören und das Gefühl der Einheit mit Russland beleben.“ 203 „Die Besatzer-Regierung will, indem sie uns die Puškin-Feier in Warschau aufdrängt, beweisen, dass Polen und Russland eins sind, dass wir, die Polen, ein gemeinsames Leben mit dem
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Fallstudie II
Die Argumentation gegen die Feiern blieb indes nicht bei der Brandmarkung ihrer angeblichen politischen Instrumentalisierung stehen, sondern nahm häufig auch Bezug auf Puškins Leben und Werk. Puškin, so schrieb z.B. der Schriftsteller und Patriarch der Nationalisten T. T. Jeż (Z. Miłkowski), habe sich vor dem Zaren selbst erniedrigt und ihm seine Seele verkauft. Er sei womöglich ein großer russischer Dichter gewesen, als Mensch aber alles andere als ein Vorbild und für die Polen auch als Künstler nicht relevant (Salden 2008, 295; 302). Ein Beispiel für eine andere drastisch-polemische Herabsetzung des Puškinschen Schaffens erschien im Przegląd Wszechpolski. Dort hieß es: Propaganda rusyfikacyi za pomocą poezyi Puszkina jest pomysłem zupełnie chybionym, ten poeta bowiem nie może pociągnąć młodych serc i umysłów, a rozpala tylko instynkty pornograficzne. Jego rzekomy liberalizm w pierwszej dobie twórczości jest bardzo ściśle zespolony z pornografią i nawet powodem kary, jaka w młodości na Puszkina spadła, była zarówno nieprawomyślność polityczna, jak nieprzystojność obyczajowa (PW Nr. 6/1899, 356).204
Die literaturbezogene Kritik an Puškin fiel allerdings auch sachlicher aus. So wurde z.B. ebenfalls im Przegląd Wszechpolski darauf verwiesen, dass Puškin seine positiven jugendlichen Ideale verraten und namentlich für die unterdrückten Polen später nicht mehr viel übrig gehabt habe (PW Nr. 6/1899, 373). In diese Kerbe hieb auch Piłsudski: Puškin habe sich nach seinen jugendlichen Freiheitsträumen an den Zaren angebiedert und sei dafür u.a. von Mickiewicz als Opportunist betrachtet worden. Piłsudski folgerte daraus auch auf eine Unvereinbarkeit zwischen sozialistischem und Puškinschem Geist: Obcą jest nam wszelka nienawiść plemienna i narodowościowa. Bojownicy wolności wszystkich krajów i narodów są naszymi braćmi. (…) Ale w wypadku obecnym mamy do czynienia wcale nie z poetą, który wcielał ducha wolności w słowo i przez to stał się drogim dla wszystkich uciskanych i wyzyskiwanych. Przeciwnie, (…) Puszkin z walką przeciwko niewoli nic wspólnego nie miał, a nawet niekiedy tę samą niewolę pochwalał (Piłsudski 1937, 261).205 ‚großen Vaterland Russland‘ führen (…). Wenn die Zarenpolizei gemeinsam mit den polnischen Herren unser Volk dazu aufruft, dass es unter ihrer Führung Puškins Jubiläum ehren soll – wendet sich ein bewusster Arbeiter mit Abscheu von dieser Aufforderung ab (…).“ 204 „Propagierung der Russifizierung mit Hilfe von Puškins Poesie ist ein völlig verfehlter Gedanke, denn dieser Dichter kann die jungen Herzen und Geister nicht anziehen, sondern entfacht nur pornographische Instinkte. Sein angeblicher Liberalismus in den Frühwerken ist aufs engste mit Pornographie verquickt und sogar der Grund der Strafe, die Puškin in der Jugend traf, war sowohl politische Illoyalität, wie auch sittliche Unschicklichkeit.“ 205 „Fremd ist uns jedweder Stammes- und Nationalhass. Die Freiheitskämpfer aller Länder und Nationen sind unsere Brüder (...) Aber im gegenwärtigen Fall haben wir es keineswegs mit einem Dichter zu tun, der den Geist der Freiheit im Wort verkörpert hat und so allen Unterdrückten und Ausgebeuteten teuer geworden ist. Im Gegenteil, (...) Puškin hatte mit dem Kampf gegen die Unfreiheit nicht nur nichts gemein, sondern huldigte zuweilen sogar dieser Unfreiheit.“
Die Jubiläumsfeiern zu Puškins 100. Geburtstag
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Die biographie- und textnahe Argumentation, die sich in diesen Boykottaufrufen abzeichnet, ist ein Symptom für die polnische Herangehensweise an die PuškinFeiern insgesamt. Der eine Faktor in der polnischen Beurteilung Puškins war dabei Puškins ambivalente persönliche Beziehung zum Zarenhof, die besonders für die Jahre nach seiner Verbannung teils als sehr eng wahrgenommen wurde. Besondere Aufmerksamkeit galt jedoch auch Puškins persönlicher Beziehung zu Polen, die gleichfalls Raum für unterschiedliche Interpretationen bot. Eine umfassend negative Deutung derselben erschien anlässlich des Jubiläums in Krakau (Kozłowski 1899). Puškins Biographie zeigt, dass er zu Polen keine grundsätzlichen Berührungsängste hatte – so gehörten immer wieder Polen zu seinem Bekanntenkreis. In Bezug auf die Polenfrage hatte er allerdings die feste Überzeugung, dass eine Loslösung Polens von Russland nicht in Frage komme. Insofern war seine Haltung zu allen nationalen polnischen Ambitionen feindselig (Lednicki 1956, 14). Verständigungsbereit war Puškin jedoch insbesondere auf der künstlerischen Ebene. So rechtfertigte er zwar in Versen an den polnischen Grafen Olizar die nationale Trennung zwischen Polen und Russen, bekannte sich aber zu einer möglichen Eintracht der Dichter unterschiedlicher Völker (Ivinskij 2003, 45 f.). Dieser „Ernstfall“ trat für Puškin durch die Bekanntschaft mit dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz ein, der von 1824–1829 nach der Verbannung aus seiner Heimat u.a. in Odessa und Moskau lebte. Auf mehreren Treffen lernten die beiden Poeten sich kennen und schätzen, so dass ihr Verhältnis bald einen vertrauten und freundschaftlichen Charakter annahm. Doch nach Mickiewiczs Abreise aus Russland im Mai 1829 verschlechterte sich die Beziehung schnell. Beängstigt vom polnischen Novemberaufstand 1830/31 verfasste Puškin drei Gedichte mit deutlich polenfeindlicher Note, während Mickiewicz seine neu geweckte Abneigung gegen das Zarenregime im dritten Teil seiner Dziady verarbeitete. Als direkte Reaktion auf Puškins Verse ergänzte Mickiewicz auch noch ein separates Gedicht, gerichtet „An die Moskauer Freunde“ (Do przyjaciół Moskali), dessen Anspielungen auf käuflich-opportunistische ehemalige Freunde sich durchaus auch auf Puškin beziehen ließen. Puškin unterließ eine direkte Antwort, posthum wurde jedoch sein an Mickiewicz gerichtetes Gedicht On meždu nami žil veröffentlicht. Motive aus Dziady nahm Puškin zudem auch in Mednyj vsadnik auf, wobei er in den Fußnoten auch direkt auf Mickiewicz verwies. Auch ohne all diese Texte hier im Detail darzustellen, zeichnet sich ab, dass die Beziehung der beiden Dichter unterschiedliche Phasen durchlief und sich auf diese Weise unterschiedlichen Deutungen öffnet. Piłsudski und die Nationaldemokraten hatten eine negative Lesart gewählt; doch auch das positive Potential fand seinen natürlichen Vertreter: die Ausgleichler um Piltz und Spasowicz. Die Redaktion des Kraj hatte schon einige Monate zuvor die Weichen in diese Richtung gestellt, als sie sich Ende 1898 und im Januar 1899 in St. Petersburg an
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Fallstudie II
Feiern des Russischen Schriftstellerverbands zu Adam Mickiewiczs 100. Geburtstag beteiligte (Doppelnummer Kraj Nr. 1–2/1899, 30 ff.; Kraj Nr. 7/1899, 20 ff.).206 Vor diesem Hintergrund schien es fast zwangsläufig, dass nun zu Puškins Jubiläum eine polnische Feier als Erwiderung veranstaltet werden würde. Anhand des teilweise erhaltenen Redaktionsarchivs des Kraj lässt sich nachvollziehen, wie ab Mitte April 1899 die Planungen für diese Feier höchst pragmatisch vorangetrieben wurden.207 Deutlich wird so auch, dass die Veranstaltung von Beginn an einen politischen Unterton hatte. Piltz war am 14. Mai zu einer Beratung über die Feiern nach Warschau gereist und hatte sich dort bei dem Anwalt Lucjan Wrotnowski, einer zentralen Figur des konservativen Ugoda-Lagers, mit Gleichgesinnten beraten (BN t.1, 3; 6). Das dort beschlossene Programm sah vor, dass am 3. Juni zeitgleich von Polen veranstaltete Puškin-Abende in St. Petersburg, Posen, Krakau und Lemberg stattfinden sollten. Am 4. Juni sollte dann in St. Petersburg ein großes Bankett zu Ehren des Dichters folgen, auf dem telegrafische Berichte von den Veranstaltungen des Vortags sowie Grußtelegramme von Polen aus ganz Europa verlesen werden sollten. Der Kraj sollte dabei sowohl den Petersburger Teil organisieren als auch als Mittler zum Russischen Schriftstellerverband fungieren, an den die Grußtelegramme nach dem Bankett überreicht werden sollten. „(...) To, że takie odczyty będą jednocześnie we Lwowie, Krakowie, Poznaniu i Petersburgu, będzie miało swoją wymowę“, schrieb Piltz kurz nach der Konferenz bei Wrotnowski in einem Brief (BN t. 1, 6).208 Es ging um ein freundschaftliches Signal der Polen aller Teilungsgebiete an die Russen: „(...) W Warszawie wszyscy są zdania, że trzeba spoleczeństwu rosyjskiemu pokazać, że się rasowej nienawiści nie żywi i że grunt umysłowy jest gruntem neutralnym, na którym się spotkać możemy“ (BN t. 1, 7).209
206 Ein Teil der folgenden Ausführungen zur Feier des Kraj wurde bereits in der Zeitschrift für Slawistik veröffentlicht (Salden 2008). 207 Das Archivmaterial befindet sich in der polnischen Nationalbibliothek, poln. Biblioteka Narodowa = BN. Insgesamt betreffen den Kraj die Katalogposten BN rkps 8342–8363. Eine Übersicht über das Material enthält der Handschriftenkatalog der Nationalbibliothek (Kamolowa/Smoleńska 1972, 63 ff.). Alle folgenden Zitate aus dem Material beziehen sich auf den Katalogposten BN rkps 8346. Dieser Posten besteht aus zwei Bänden (t.1 und t.2). Im Folgenden wird verkürzt zitiert nach dem Schema „BN t. Bandnummer, Blattnummer“, also z.B. BN t.1, 3. Der zweite Band beginnt nach dem Blatt Nr. 18 mit der Zählung erneut bei 1. Bei Zitaten aus diesem Band werden die Blattnummern daher im Folgenden von A-1 bis A-18, dann von B-1 bis B-31 zitiert, also z.B. BN t.2, A-1. 208 „(...) dass solche Vorträge gleichzeitig in Lemberg, Krakau, Posen und Petersburg sein werden, wird für sich sprechen.“ 209 „(...) in Warschau sind alle der Meinung, dass man der russischen Gesellschaft zeigen muss, dass man keinen Rassenhass hegt und dass der geistige Boden ein neutraler Boden ist, auf dem wir uns treffen können.“
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Mit Hochdruck arbeitete Piltz von St. Petersburg aus in den Wochen vor den Feiern am Gelingen dieses Plans. Ab Mitte Mai wurden die Einladungen verschickt, allein für den literarischen Abend in Petersburg über 400 an Polen in St. Petersburg und an anderen Orten (BN t.1, 16 ff.). Für das Bankett verzeichnet eine Liste im Archiv des Kraj 125 geladene polnische Gäste, zuzüglich einiger Ehrengäste und Russen (BN t. 1, 27 ff.). Unter den Geladenen fanden sich viele prominente Namen von bekannten Intellektuellen, Adligen und anderen Personen des öffentlichen Lebens, so z.B. von Ferdynand Hoesick, Tadeusz Korzon, Ludwik Górski uvm. Für den Fall, dass die Angeschriebenen nicht persönlich nach St. Petersburg kommen würden, wurde in den Einladungen zumindest um einen telegrafischen Gruß an den Kraj gebeten. Damit das geplante Zeichen an Russland gelingen würde, waren Piltz und seine Mitstreiter auf eine möglichst große Resonanz aus allen polnischen Gebieten angewiesen. Entsprechend wollten sie dies nicht dem Zufall überlassen: Neben Piltz in St. Petersburg bemühten sich in Warschau der Medizinprofessor Ignacy Baranowski, der Publizist Marian Gawalewicz, der Zeitungsredakteur Antoni Donimirski und der schon genannte Anwalt Lucjan Wrotnowski darum, mögliche Absender von Telegrammen anzusprechen und die Feiern in den anderen Teilungsgebieten anzuschieben. Dort fanden sich bald auch weitere Vertraute, so z.B. in Posen Fürst Engeström von der dortigen „Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften“. Im Hintergrund wirkte derweil unermüdlich aus St. Petersburg Erazm Piltz. So bat er Donimirski in einem Brief vom 26. Mai: „Niech Pan raczy namówić hr. Adama Zamojskiego, żeby przyjechał na ucztę 5.6. To dobrze zrobi, bo on jest b. sympatyczny (...)“ (BN t.1, 98).210 Nach Posen schrieb er an Fürst Engeström, ebenfalls betreffs der Gästeakquisition: Ponieważ Rosjanie mało znają nasze stosunki więc trzeba, żeby nasi goście zwłaszcza zagraniczni, mieli nazwiska, które z tego czy innego powodu zaimponować mogą a przynajmniej coś mówią. Na przykład w Petersburgu zrobiłoby dobre wrażenie gdyby przyjechał Ks. Zdzisław Czartoryjski (...) (BN t.1, 6 f.). 211
210 „Seien Sie so gut, Fürst Adam Zamojski zu überreden, dass er zum Festessen am 5.6. kommt. Das wird sich gut machen, denn er ist sehr sympathisch (...).“ Das Essen fand am 4. Juni statt, zwischenzeitlich war es aber für den Folgetag geplant (vgl. BN t.1, 2). 211 „Da die Russen unsere Verhältnisse kaum kennen, ist es nötig, dass vor allem unsere ausländischen Gäste Namen haben, die aus diesem oder jenem Grund imponieren können oder wenigstens etwas sagen. Zum Beispiel würde es in Petersburg einen guten Eindruck machen, wenn Fürst Zdzisław Czartoryski käme (...).“ Der Nachname Czartoryski „sagt etwas“ in Russland, da Adam Jerzy Czartoryski ein enger Freund des Zaren Aleksandr I. war und er ihm zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Minister diente (s.o. Kap. 6).
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Betreffs der Telegramme schrieb Piltz an Donimirski: Niech Pan przy pomocy prof. Baranowskiego, Gawalewicza, mec. Wrotnowskiego i in. raczy się postarać, żebyśmy najpóźniej w niedzielę 4.6. jak najwięcej z Warszawy dostali telegramów (od redakcji, osób etc.) (BN t.1, 98).212
Wiederum an Engeström erging die Bitte: Czyby Sz. Panowie nie byli łaskawi utworzyć w Poznaniu jakiś komitecik, który by się zajął poinformowaniem instytucji i redakcji pism co kiedy i jak należy zrobić oraz który by nas trzymał au courant tego, co Panowie robicie, telegramy wysyłał itd. (BN t.1, 8).213
Die Zitate geben einen Eindruck davon, wie zielstrebig die Organisatoren vorgingen. Doch nicht alle Pläne gingen auf. Namentlich die Posener Feier konnte nicht stattfinden, da die Organisatoren um Fürst Engeström die politischen Implikationen nicht ausreichend bedacht hatten. Władysław Łebiński, Redakteur des Dziennik Poznański, beschwerte sich in einem Brief an den Kraj vehement über Engeström, der „politisch völlig unreif “ sei (BN t.1, 146) und nicht verstehe, dass die preußische Obrigkeit einer nach Russland gerichteten Feier mit Misstrauen begegnen würde. Tatsächlich ruderte daraufhin auch Engeström selbst zurück und sagte bei Piltz die von ihm geplante Veranstaltung ab, da die Reaktion der preußischen Behörden unvorhersehbar sei: (…) sama myśl chociażby najidealniejszego zbliżenia się serc polskich i możliwość jakiejkolwiek ugodowej idei jest tutaj dla krzyżackiego plemienia i buty pangermańskiej rzeczywistym postrachem i zmorą (…) (BN t.1, 103).214
Da auch die Lemberger Feier nicht zu Stande kam, war das ursprüngliche Projekt letztlich doch recht stark verschlankt. Die Dramaturgie sah nun so aus: Zuerst eine Feststunde in Krakau, dann ein literarischer Abend in St. Petersburg und schließlich ebendort das festliche Bankett. Auf ihm sollten wie geplant auch die Telegramme aus allen Teilungsgebieten verlesen werden, denen nun – angesichts der fehlenden Veranstaltungen – noch mehr Gewicht zukam. Am 31. Mai ging die Krakauer Veranstaltung im dortigen Hotel Saski wie vorgesehen über die Bühne. Unter den 46 Teilnehmern waren allein 22 Professoren 212 „Seien Sie so gut, sich mit Hilfe von Prof. Baranowski, Gawalewicz, RA Wrotnowski und anderen darum zu bemühen, dass wir spätestens am Sonntag, den 4.6., so viele Telegramme wie möglich aus Warschau bekommen (von Redaktionen, Personen etc.).“ 213 „Könnten Sie, geehrte Herren, nicht so gut sein, in Posen irgendein kleines Komitee zu bilden, das sich mit der Information von Institutionen und Zeitungsredaktionen beschäftigt, was wann und wie zu tun ist, und das uns au courant darüber hält, was Sie machen, Telegramme schickt etc.“ 214 „(...) allein der Gedanke auch nur der idealsten Annäherung der polnischen Herzen und die Möglichkeit irgendeiner Ausgleichs-Idee ist für den hiesigen Kreuzritterstamm und den pangermanischen Hochmut ein echter Schrecken und Graus (...).“
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der Jagiellonen-Universität (Opacki 1996, 122). In festlicher Stimmung wurden mehrere Reden gehalten und schließlich zwei Telegramme verschickt: das eine an den Kraj zur Weitergabe an die offizielle Puškin-Kommission, das andere an Lev Tolstoj als Zeichen der Ehrerbietung für die russische Gegenwartsliteratur (Kraj Nr. 22/1899, 19 f.). In St. Petersburg folgte am 3. Juni der literarische Puškin-Abend im Bibliothekssaal der Kirche St. Katharinen. Dort hörten fast 400 überwiegend polnische Gäste eine kurze Ansprache von Erazm Piltz sowie Vorträge der polnischen Gelehrten Włodzimierz Spasowicz, Stanisław Ptaszycki und Jan Łoś über Puškins Leben und Werk (Kraj Nr. 22/1899, 21). Am 4. Juni fand dann im Restaurant L’Ours das Festessen statt. Unter dem Vorsitz von Włodzimierz Spasowicz wurden hier zahlreiche kurze Ansprachen und Toasts vorgebracht, außerdem eine lange Reihe von Telegrammen verlesen. Inwieweit ging es bei diesen Feiern überhaupt um Puškin? Marian Zdziechowski, Mitveranstalter der Krakauer Feier, schrieb zu diesem Thema nach der Veranstaltung in einem Brief an Lev Tolstoj: Конечно, поэзия Пушкина не возбуждает в нас особенной симпатии, но мы желали засвидетельствовать, что мы далеки от шовинизма и того чувства ненависти к России, которое нам приписывают русские газеты (...) (Białokozowicz 1966b, 447).215
Um dies zu illustrieren, griffen die Teilnehmer der ausgleichlerisch orientierten Feiern gleichwohl auf Puškins Leben und Werk zurück, wobei ein Puškin-Bild entstand, dass sich deutlich von dem der Nationaldemokraten und Sozialisten unterschied. In den Mittelpunkt rückte vor allem eine andere Deutung der Beziehung zu Mickiewicz. Man kann dabei nicht durchgehend von einer Beschönigung reden. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Czesław Jankowski beispielsweise, der für den Kraj einen dreiseitigen Lebenslauf Puškins schrieb, nannte Mickiewicz überhaupt nicht (Kraj Nr. 22/1899, 7 ff. DI). Stanisław Ptaszycki, Jan Łoś und Włodzimierz Spasowicz dagegen erwähnten in ihren Vorträgen am 3. Juni zwar Mickiewicz, gingen aber mehr oder weniger deutlich auch auf die problematischen Seiten der Dichterfreundschaft ein. Spasowicz beispielsweise, ein hervorragender Kenner der Materie, konstatierte zu Puškins antipolnischen Gedichten: Ta wyłączność i jednostronność rosyjskiego patrjotyzmu sprawiała, że Puszkin z narodowością polską wogóle nie sympatyzował, że zawsze i bezwarunkowo chwalił Katarzynę II za podziały Polski, że w roku 1824 w niedokończonym wierszu do polaka, hrabiego O., rzucał już na papier myśli, które rozwinął następnie po polskiem powstaniu 1830 r., w słynnych wierszach: Oszczercom Rosji i W rocznicę Borodina, wierszach, które wstrętnemi były nawet Wiazem215 „Natürlich weckt Puškins Poesie in uns keine besondere Sympathie, aber wir wollten bezeugen, dass wir fern vom Chauvinismus und dem Hass auf Russland sind, den uns die russischen Zeitungen zuschreiben (...).“
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skiemu z powodu swego szowinizmu, chociaż znalazły, jak zwykle w podobnych wypadkach ogromną wziętość w rosyjskiej publiczności, bo odpowiadały jej instynktom i aspiracjom (Kraj Nr. 22/1899, 5 DI).216
Im Gesamtbild der polnischen Feiern waren diese kritischen Betrachtungen letztlich aber nicht mehr als eine Fußnote. Die Außenwirkung machte die Tatsache der Feiern an sich aus sowie die Gedanken, die in Toasts und Grußworten über Puškin und Mickiewicz geäußert wurden – und für ein differenziertes Bild war in diesen pointierten Formen und der festlichen Atmosphäre kaum Raum. Entsprechend verkürzten sich die Aussagen zu der Dichterbeziehung auf die Formel der „Brüder“ und „Freunde“. Dabei griffen die Redner gerne auf Mickiewiczs und Puškins Werke zurück: Die Szene aus Mickiewiczs Dziady III, in der zwei Dichter einträchtig vor dem Denkmal Peters des Großen stehen, übertrugen sie auf Mickiewicz und Puškin, und zitierten zudem mehrmals die Verse von der Völkerfreundschaft aus Puškins On meždu nami žil (vgl. die Reden von Arabažin, Koni, Kutyłowski, Andreevskij und Kareev in Kraj Nr. 22/1899, 9 ff.). Noch pointierter fielen letztlich die telegrafischen Grüße aus, z.B.: „Hołd wielkiemu poecie i druhowi Mickiewicza“ (Noskowski), oder „Cześć genjalnemu przyjacielowi naszego Adama“ (Józef Rostafiński; Kraj Nr. 22/1899, 14).217 Unter den telegrafischen Botschaften befanden sich auch Grüße von mehreren polnischen Schriftstellern – so von Eliza Orzeszkowa, Bolesław Prus, Henryk Sienkiewicz und Wiktor Gomulicki. Teils kaum drei Zeilen lang, hatte ihnen doch die ganz besondere Aufmerksamkeit der Organisatoren gegolten, in deren Auffassung die Feier des russischen Schriftstellers ganz besonders dringend auch eine Reaktion seiner zeitgenössischen polnischen Kollegen erforderte (ganz abgesehen davon, dass die öffentliche Anteilnahme der beliebten Schriftsteller auch einen positiven Prestige-Effekt haben musste). Entsprechend stand auf den Einladungslisten des Kraj eine ganze Kohorte polnischer Autoren (in Klammern die teils bekannteren Pseudonyme): Michał Bałucki, Wiktor Gomulicki, Marian Gawalewicz, Aleksander Głowacki (Bolesław Prus), Konstanty Marian Górski, Artur Gruszecki, Czesław Jankowski, Maria Konopnicka, Edward Lubowski, Zygmunt Miłkowski (T.T. Jeż), Eliza Orzeszkowa, Antoni Pietkiewicz (Adam Pług), Walery Przyborowski, 216 „Diese Ausschließlichkeit des russischen Patriotismus bewirkte, dass Puškin mit der polnischen Nationalität überhaupt nicht sympathisierte und immer bedingungslos Katharina II. für die Teilungen Polens lobte, dass er schon 1824 im unvollendeten Gedicht an einen Polen, den Grafen O., die Gedanken aufs Papier warf, die er anschließend nach dem polnischen Aufstand 1830 in den bekannten Gedichten Den Verleumdern Russlands und Der Jahrestag von Borodino entwickelte, Gedichte, die sogar Vjazemskij wegen ihres Chauvinismus für widerlich hielt, obwohl sie, wie üblich in ähnlichen Fällen, enorme Beliebtheit in der russischen Öffentlichkeit fanden, weil sie ihren Instinkten und ihrem Streben entsprachen.“ 217 „Ehre dem großen Poeten und Freund Mickiewiczs“; „Ehre dem genialen Freund unseres Adams“.
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Władysław Stanisław Reymont, Maria Rodziewiczówna, Lucjan Rydel, Henryk Sienkiewicz, Kazimierz Tetmajer, Józef Weyssenhoff, Stanisław Witkiewicz, Włodzimierz Zagórski und Gabriela Zapolska (BN t.1, 20 ff.; Näheres zu den genannten Autoren in Markiewicz (2002) und Hutnikiewicz (2002)). Priorität hatten für die Veranstalter Beiträge der drei großen realistischen Autoren: Eliza Orzeszkowa, Henryk Sienkiewicz und Bolesław Prus. Sienkiewiczs Name taucht schon auf dem Notizzettel von der Planungskonferenz bei Wrotnowski auf („Telegram Sienkiewicza“ – Telegramm von Sienkiewicz; BN t.1, 3). Ein Telegramm von ihm war Piltz auch deshalb besonders wichtig, weil Sienkiewicz seit 1897 Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften war (Lednicki 1960, 66) und insofern ein gutes Aushängeschild der kulturellen Annäherung zu sein schien. Am 26. Mai schrieb Piltz darum an Donimirski: Niech Pan raczy pomówić z Sienkiewiczem co do obchodu. Trzeba koniecznie, żeby on wysłał telegram, jako członek Cesarskiej Akademii Nauk w Petersburgu do Akademii (...). Wtedy będziemy mogli ten telegram odczytać na uczcie, a to bardzo ważne. Drogi Panie, niech Pan na to nastaje (BN t.1, 98). 218
Tatsächlich reagierte Sienkiewicz auf die Aufforderung, doch kam dabei keineswegs die gewünschte harmonische Botschaft heraus. „Pan wiesz, że my na jego postanowienia w takich kwestiach wielkiego wpływu nie mamy, zrobił jak sam chciał przy radzie i pomocy innych“, schrieb Donimirski in Bezug darauf am 31. Mai an Piltz (BN t.1, 95).219 Sienkiewicz hatte seinen Jubiläumsgruß nicht an den Kraj, sondern an die Peterburgskie Vedomosti geschickt, und darin auf die mit dem Jubiläum zusammenfallende Hungersnot in Russland hingewiesen. Als symbolische Ehrung Puškins spendete Sienkiewicz mit dem Brief 50 Rubel für die Hungernden und forderte zugleich die russischen Herausgeber seiner Werke zu gleicher Großzügigkeit auf – und zwar als Ausgleich dafür, dass sie ihm keine Honorare zahlen (SPbV Nr. 140/1899, 2; Nachdruck des Briefs u.a. in Białokozowicz 1971, 154 f.).220 Während sich Sienkiewicz mit seiner mehrdeutigen Lösung der Vereinnahmung für den Feiertag entzog, schienen die Bemühungen bei Prus besser zu fruchten. Er 218 „Seien Sie so gut, mit Sienkiewicz bezüglich der Feier zu reden. Es ist unbedingt nötig, dass er ein Telegramm schickt, als Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg an die Akademie (...). Dann können wir das Telegramm auf dem Bankett vorlesen, und das ist sehr wichtig. Lieber Herr, bestehen Sie darauf.“ 219 „Sie wissen ja, dass wir auf seine Entschlüsse in solchen Fragen keinen großen Einfluss haben, er hat es gemacht wie er selbst es wollte mit Rat und Hilfe Anderer.“ 220 Auch Sienkiewicz litt darunter, dass Russland der Berner Übereinkunft zum Schutz der Autorenrechte nicht beigetreten war. Trotz hoher Auflagenzahlen der russischen Übersetzungen sah Sienkiewicz deshalb von den Einnahmen keine Kopeke (Krzyżanowski 1973, 144 ff.; s.o. Kap. 3.2).
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signalisierte Bereitschaft, statt eines Telegramms sogar einen ausführlichen Brief zu senden. Am 26. Mai hatte Piltz in Bezug darauf an Donimirski geschrieben: Jeżeliby Prus chciał przysłać list niegłupi, a nie telegram, to list ten mógłby Pan także przeczytać na uczcie po polsku, a ktoś z nas mógłby go przetłomaczyć po rusku (Fita/Tokarzówna 1969, 541).221
In einem Brief an Piltz konkretisierte Prus am 28. Mai seine Pläne. In seinem Brief wolle er Puškins Namen lediglich streifen, um die Gelegenheit dafür zu nutzen, im politischen Zusammenhang eine Erklärung zur „gemeinsamen Situation“ abzugeben. Dies meinte Prus offenbar in einem zweifachen Sinne: Zum einen wollte er eine Perspektive für die polnisch-russischen Beziehungen aufzeigen (o potrzebie, ważności, sposobach itd. polsko-ruskiego zbliżenia pod hasłem ‚za naszą i waszą pomyślność‘; Prus 1974, 170), zum anderen aber wohl auch seine Beziehung zum Ausgleichslager darstellen.222 Bei Piltz fragte er in dieser Hinsicht nach, ob ein solcher Auftritt überhaupt angemessen sei – oder ob er sich damit lächerlich mache. Dieser Grundsatzbrief blieb jedoch ungeschrieben, wofür sich Prus am 1. Juni in einem Brief an Piltz mit Verweis auf einen Anfall von neuralgischen Kopfschmerzen entschuldigte. Letztlich schickte er per Brief nur den knappen Gruß: „Cześć pamięci Puszkina, który natchnionymi pieśniami przyczynił się do rozwoju i sławy swego ojczystego języka“ (Fita/Tokarzówna 1969, 542; Kmiecik 1967, 152).223 Piltz war das offenbar zu wenig, so dass er den Text handschriftlich mit dem Kommentar „Proszę tak poprawić“ („Bitte so verbessern“) veränderte in: „Cześć pamięci Puszkina, który natchnionymi pieśniami przyczynił się do rozwoju swego ojczystego języka i sławy swojej ojczyzny“ (Fita/Tokarzówna 1969, 542; BN t.1, 111).224 In dieser Variante wurde der Text auf der Feier in St. Petersburg dann auch vorgelesen (Kraj Nr. 22/1899, 13).225 221 „Falls Prus einen gescheiten Brief schicken wollte, und kein Telegramm, dann könnten Sie diesen Brief auch auf dem Festmahl auf Polnisch vorlesen und jemand von uns könnte ihn ins Russische übersetzen.“ 222 „über die Notwendigkeit, Wichtigkeit, Arten usw. der polnisch-russischen Annäherung unter dem Motto: ‚für euer und unser Wohl’.“ 223 „Ehre dem Andenken Puškins, der mit beseelten Liedern zu Entwicklung und Ruhm seiner Muttersprache beigetragen hat.“ 224 „Ehre dem Andenken Puškins, der mit beseelten Liedern zur Entwicklung seiner Muttersprache und zum Ruhm seines Vaterlands beigetragen hat.“ 225 Dieser Fall ist nicht der einzige, in dem Piltz einen Jubiläumsgruß veränderte. Drastischer noch als bei Prus stutzte Piltz ein Schreiben von T. T. Jeż (Z. Miłkowski) zurecht. Jeż hatte in einem Brief an Piltz erklärt, dass er angesichts der von ihm als russifizierend empfundenen Puškin-Feiern der Warschauer Behörden als polnischer Patriot nicht an ähnlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Piltz kürzte dies so zusammen, dass Jeż scheinbar nur deshalb nicht größeren Anteil an den Feiern nahm, weil ihm etwas dazwischen gekommen war (ausführlich Salden 2008, 295; 302).
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Prus’ Beitrag zum Jubiläum beschränkte sich dennoch nicht nur auf diese wenigen Zeilen, denn außer Piltz hatte bei ihm auch Jan Baudouin de Courtenay als Veranstalter der Krakauer Feier für eine Teilnahme angefragt. Diese versagte ihm Prus, versicherte aber seine „moralische Anteilnahme“ und schrieb weiter in einem Brief vom 28. Mai (d.h. dem Tag, an dem er auch den ersten Brief an Piltz schrieb): Głęboko odczuwam i jestem głęboko przekonany o potrzebie zbliżenia się i porozumienia wszystkich uczciwych, rozumnych, energicznych i utalentowanych Polaków i Rosjan. Istnieje bowiem mnóstwo spraw, nad którymi moglibyśmy wspólnie pracować. Jedną zaś z tych spraw byłoby: zmniejszenie czy ograniczenie wzajemnych przesądów, nienawiści i wynikającego z nich – szkódnictwa. Przypuszczam zaś, że do podobnego zbliżenia czy choćby tylko – próby zbliżenia, uroczystość puszkinowska nastręcza wdzięczne pole (Prus 1959, 281 f.).226
Diesen Brief veröffentlichten später sowohl Baudouin de Courtenay als auch Piltz (Baudouin de Courtenay 1983, 90 f.; Kraj Nr. 23/1899, 14). Ähnlich wie Prus hatte auch Eliza Orzeszkowa aufgeschlossen reagiert, als Piltz sie um eine Wortmeldung zur Puškin-Feier gebeten hatte. Allerdings hatte sie auch sofort zu erkennen gegeben, dass sie unsicher bezüglich der angemessenen Form und des Inhalts war (Orzeszkowa 1954, 231). An Baranowski schrieb sie am 21. Mai nach Warschau: Otóż biedzę się z tym, jak tę telegramę zredagować. Czy Drogi Pan nie może przesłać mi wskazówki pod tym względem? Byłabym ogromnie wdzięczną. Gdyby to można wiedzieć, jak brzmieć będą depesze Sienkiewicza i Prusa, zastosowałabym się do nich (Orzeszkowa 2001, 222)!227
Baranowski, der zu diesem Zeitpunkt für Prus noch von der Brief-Lösung ausging, antwortete ihr daraufhin am 26. Mai mit einigen eigenen Vorschlägen: Sądziłbym, że telegram francuski jest łatwiejszy, bo krótszy. Wszak w kilku słowach wyrazić się da: Puszkin jako wielki poeta przysporzył narodowi swemu światła pojęć i ciepła uczuć ludzkich. Stał się on przez to łącznikiem między Rosją a innymi narodami, więc się należy cześć
226 „Tief empfinde ich und bin tief überzeugt von der Notwendigkeit der Annäherung und Verständigung aller ehrlichen, vernünftigen, energischen und talentierten Polen und Russen. Denn es gibt eine Menge Sachen, an denen wir gemeinsam arbeiten könnten. Eine dieser Sachen wäre: Die Verringerung und Begrenzung gegenseitiger Vorurteile, des Hasses und der sich aus ihnen ergebenden – Schäden. Ich nehme jedoch an, dass es für eine entsprechende Annäherung oder auch nur – den Versuch einer Annäherung die Puškin-Feier ein günstiges Feld bietet.“ 227 „Also plage ich mich damit, wie ich das Telegramm abfassen soll. Können Sie, lieber Herr, mir nicht vielleicht diesbezüglich Hinweise schicken? Ich wäre überaus dankbar. Wenn man wissen könnte, wie die Depeschen von Sienkiewicz und Prus lauten werden, würde ich mich ihnen anschließen!“
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Fallstudie II
jego pamięci, a wdzięczność narodowi, który go wydał. Kochana Pani znajdzie i formę piękną, i treść właściwą (Orzeszkowa 2001, 223).228
Obwohl sich Piltz und der von ihm damit beauftragte Donimirski weiter darum bemühten, Orzeszkowa die Abstimmung zumindest mit Prus zu ermöglichen (BN t.1, 95; 98), blieb sie letztlich beim Verfassen des Telegramms auf sich selbst gestellt und schrieb so einen Text, der nach der Übersetzung des französischen Originals im Kraj mit folgendem Wortlaut zum Abdruck kam: Głęboki hołd pamięci Aleksandra Puszkina, pierwszorzędnego genjusza, sławy waszej ojczyzny, przyjaciela Mickiewicza! Obyśmy wszyscy, dążąc w ślady i spełniając marzenia naszych wielkich poetów i myślicieli, mogli wznosić ich ołtarze w świątyni dobra i wszechludzkiego braterstwa (Kraj Nr. 22/1899, 13; das Original in Orzeszkowa 2001, 223).229
Die Fälle aller drei Autoren zeigen auf interessante Weise, wie eng die Organisatoren der Feier ihre Ansprechpartner umsorgten und mit Hinweisen zu leiten versuchten. Alle drei Fälle zeigen aber auch, in welche Schwierigkeiten die Schriftsteller durch die Anfrage gerieten. Allen waren die politischen Implikationen einer Wortmeldung zu dieser Gelegenheit und in diesem speziellen Kreis bewusst, und jeder schlug dabei einen anderen Weg ein: Sienkiewicz setzte sich demonstrativ von den Ausgleichlern ab, Prus erwog das Bekenntnis zum Ausgleichsgedanken, und Orzeszkowa letztlich schien vor allem darum bemüht zu sein, die ohnehin virulenten Spannungen aufgrund ihrer engen Kontakte zu einzelnen Personen aus dem Ausgleichslager nicht noch weiter anzuheizen. Dabei zeigt gerade Orzeszkowas scheinbar harmloses Telegramm eine besondere Tiefgründigkeit – denn indem sie Puškin und Mickiewicz nebeneinander stellte, verwies sie dezent auf die Gleichwertigkeit dieser beiden Dichter und somit mittelbar auch auf die Gleichwertigkeit von Polen und Russen im Allgemeinen. Diese Botschaft stand im Übrigen vollkommen im Einklang mit den Absichten der Ausgleichler, denen es nicht um eine einseitige Propagierung russischer Kultur ging, sondern um die Annäherung von Polen und Russen im Geiste gegenseitiger Anerkennung. Wichtig sei nicht, was die beiden Dichter über Polen und Russland geschrieben hätten, so die Quintessenz im Editorial der Jubiläumsausgabe des Kraj 228 „Ich würde meinen, dass ein Telegramm auf Französisch einfacher ist, weil kürzer. Schließlich kann man in einigen Worten ausdrücken: Puškin mehrte als großer Dichter seinem Volk das Licht der Begriffe und die Wärme der menschlichen Gefühle. Dadurch wurde er ein Bindeglied zwischen Russland und anderen Völkern, weshalb seinem Andenken Ehre gebührt und Dankbarkeit dem Volk, das ihn hervorgebracht hat. Sie werden, liebe Frau, sowohl eine schöne Form, als auch einen angemessenen Inhalt finden.“ 229 „Tiefe Ehre dem Andenken Aleksandr Puškins, des hervorragenden Genies, Ruhm Eures Vaterlandes, des Freundes Mickiewiczs! Auf dass wir alle, auf ihren Spuren strebend und die Träume unserer großen Dichter und Denker erfüllend, ihre Altäre im Heiligtum des Guten und der allgemeinmenschlichen Bruderschaft errichten können.“
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– wichtig sei allein, dass beide im jeweils anderen Land respektiert würden (Kraj Nr. 22/1899, 7). Man kann die polnischen Puškin-Feiern so auch als ein Trojanisches Pferd begreifen, in dessen Bauch Mickiewicz – damals noch ein mit politischen Tabus belegter Dichter – nach Russland gefahren wurde. In dieser Hinsicht war das Jubiläum ein Erfolg, da die Grußworte und Telegramme ohne Eingriff der Zensur an die russische Öffentlichkeit weitergegeben wurden. Überhaupt scheint es, dass die Veranstalter der polnischen Feiern insgesamt mit dem Ergebnis zufrieden sein konnten. Natürlich hatte vieles nicht so geklappt wie ursprünglich geplant. Aber insgesamt war das Echo unter den Polen doch groß genug gewesen, um die Veranstaltungen zumindest als gesamtpolnische Geste darzustellen – und dieser PR-Faktor war aus Sicht der Ausgleichs-Politiker wohl das Entscheidende. Im Archiv des Kraj gibt es neben den Einladungslisten eine Liste von fast 50 polnischen Zeitungen (BN t.1, 23 f.), was darauf schließen lässt, dass schon im Vorfeld eine gute Pressearbeit betrieben wurde. Dies zahlte sich aus: Fast alle polnischen Zeitungen brachten nach den Veranstaltungen Berichte über Puškin und die polnischen Feiern (so laut PW Nr. 6/1899, 354 und VD Nr. 149/1899, 4; vgl. die (unvollständige) bibliographische Erfassung in Toporowski 1950, 186 ff.). Gleichzeitig berichteten auch viele russische Zeitungen über die Feiern, und das stets mit großem Wohlwollen (SPbV Nr. 140/1899, 2; SPbV Nr. 145/1899, 4; NV Nr. 8346/1899, 3; NV Nr. 8354/1899, 3; VD Nr. 141/1899, 5; VD Nr. 149/1899, 4; vgl. die bibliographischen Angaben in Berkov/Lavrov 1949, 905 f.). Der Kraj selbst erschien am 9. Juni mit einer Sonderausgabe, die fast vollständig dem Thema Puškin gewidmet war (Kraj Nr. 22/1899). Für das russische Publikum wurden dann die wichtigsten Beiträge übersetzt und in einer separaten Broschüre veröffentlicht (Russko-pol’skija otnošenija i čestvovanie Poljakami Puškina 1899). Hier wurde nun auch ganz deutlich ausgesprochen, was die Ausgleichler sich von den Puškin-Feiern versprachen: Sie seien ein Beweis dafür, wie sehr die polnische öffentliche Meinung sich zuletzt zu Gunsten Russlands gewandelt habe. Nicht nur sei 1897 der Zar feierlich in Warschau empfangen worden, sondern nun hätten auch noch Polen aus allen Teilen Europas Puškin ihre Ehre bezeugt. Bedeutung erlange diese Tatsache vor dem Hintergrund, dass den Polen im Weichselland bisher aus Mangel an Vertrauen die Gleichberechtigung mit den Bürgern Kernrusslands verwehrt worden sei. So hieß es mit Verweis auf die Grußtelegramme zum Jubiläum: Для того, чтобы иметь право разсчитывать на доверие надо заслужить его (…). Если доверие было (…) утрачено вследствие несчастнаго события 1863 года, то истекшия с тех пор 35 лет полнаго спокойствия и безпрекословнаго исполнения законов и всех распоряжений могли бы уже возстановить доверие. Если язык заграничной польской печати (…) был враждебен России, то тем большее значение должен получить тот новейший поворот, когда польские ученые и литературныя общества за границей сочувственно
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Fallstudie II
откликаются на русское народное чествование Пушкина (Russko-Pol’skija otnošenija i čestvovanie Poljakami Puškina 1899, 10 f.).230
Entsprechend all diesen positiven Signalen und der Bereitschaft der Polen, sich in den russischen Staat widerspruchslos einzugliedern, so die Argumentation, müsse Russland den Polen daher nun endlich politisch entgegenkommen – d.h. die gleichen Bürgerrechte wie normalen Russen gewähren und die Unantastbarkeit der polnischen Sprache und der katholischen Religion gewährleisten. Die Jubiläumsfeier war hier also längst keine literarische Ehrbekundung mehr, sondern ein Argument in der politischen Debatte. Dabei ist es bemerkenswert, dass der Kraj auch in diesem Fall von der großzügigen Zensur in St. Petersburg profitierte und durchaus deutliche Worte gegen die russische Polenpolitik fand. Diese Tatsache zeigt, dass der häufig an die Ausgleichler gerichtete Vorwurf, stur zum Zaren zu stehen und Polen zu verraten, in seiner Härte ungerechtfertigt war. Gleichwohl provozierte die Feier des Kraj unter den russlandkritischen Polen stärkeren Widerstand als die Feier der Russen in Warschau. Dahinter steckte die Sorge, dass die Ausgleichsbewegung wieder an Stärke gewinnen könnte. Seit dem Zarenbesuch 1897 waren viele davon ausgegangen, dass die Ausgleichler ihren politischen Zenit überschritten hatten, nun aber sah z.B. der Przegląd Wszechpolski eine Erneuerung der Ausgleichsbemühungen und bewertete die Puškin-Feier als „Verrat der polnischen Sache“ (zdrada sprawy polskiej) und erklärte feierlich seine Bereitschaft, gegen derartige Gefahren vorzugehen (PW Nr. 6/1899, 332). Der Kurier Lwowski schrieb im selben Ton von den Machenschaften eines „moskophilen Agenten“ (ajent moskalofilski), der in der Stadt für das Jubiläum gewirkt habe (Kurier Lwowski Nr. 159/1899 = BN t.2, A-8), und der galizische Satiriker Kazimierz Bartoszewicz ironisierte in einem Artikel über die Vergeblichkeit der ganzen Unternehmung: Gdyby p. Włodzimierz Spasowicz żył ze 30.000 lat (co zdaje mi się wykluczonem) to bardzo być może, że przy schyłku swojego żywota cieszyłby sie słysząc Moskali śpiewających: „Jeszcze Polska nie zginęła“ i Polaków zawodzących bez rozkazu: „Boże, carja chrani!“ Może dzięki jego usiłowaniom stanąłby wówczas pomnik Kościuszki w Moskwie, Mickiewicza w Petersburgu, Batorego w Pskowie, a na Rynku krakowskim wyrosłyby z bronzu posągi Katarzyny II., Suwarowa i Puszkina (Dziennik Polski Nr. 160/1899 = BN t.2, B-1).231 230 „Um mit Recht auf Vertrauen zu zählen, muss man es sich verdienen (...). Wenn das Vertrauen (...) in Folge des unglücklichen Ereignisses von 1863 verloren wurde, so könnten die seitdem vergangenen 35 Jahre vollkommener Ruhe und unbedingter Ausführung von Gesetzen und aller Anordnungen es schon wieder hergestellt haben. Wenn die Stimme der ausländischen polnischen Presse (...) Russland gegenüber feindselig war, dann muss die neueste Wendung, in der polnische Gelehrte und Literaturgesellschaften im Ausland sich mitfühlend zur nationalen russischen Feier Puškins äußern, eine umso größere Bedeutung haben.“ 231 „Wenn Herr Włodzimierz Spasowicz 30.000 Jahre leben würde (was mir ausgeschlossen scheint), dann wäre es gut möglich, dass er am Ende seiner Tage sich darüber freuen würde,
Die Jubiläumsfeiern zu Puškins 100. Geburtstag
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Die Quintessenz der Artikel gegen die polnischen Puškin-Feiern war letztlich stets gleich: Die diskriminierende Behandlung der Polen durch die Russen und der russische Versuch, die Polen auch kulturell zu russifizieren, verbiete die öffentliche Äußerung von Wertschätzung für einen russischen Schriftsteller. Geboten sei vielmehr der Schutz der polnischen Kultur. Wohl gerade aufgrund dieses Zusammenhangs gerieten im übrigen die an der Feier beteiligten polnischen Schriftsteller unter besonders heftigen Beschuss. Recht glimpflich kam Sienkiewicz davon – der vom Goniec erhobene Vorwurf von Loyalismus und Finanzexport (przykład wywożenia z kraju pieniędzy, bezogen auf seine Geldspende) war eher vereinzelt (vgl. PW Nr. 6/1899, 357; 378). Härter dagegen traf es Prus und Orzeszkowa. Im Przegląd Wszechpolski hieß es über sie: Ten kompromitujący rezultat swoich zabiegów ukrywa Kraj wysunięciem na pierwszy plan Galicyi i zwłaszcza Krakowa oraz kilku głośnych nazwisk – wielkiego pisarza, ale naiwnego maniaka politycznego, Bolesława Prusa i Elizy Orzeszkowej, której skłonność do przyjaźnienia się z Moskalami, ujawniona n.p. po r. 1863, sprawiła, że ta znakomita autorka jest najmniej popularną właśnie na Litwie, gdzie te szczegóły jej zachowania się znają, i że dzisiaj nawet cieszy bodaj większym uznaniem w społeczeństwie rosyjskiem niż w polskiem. Zresztą niejednokrotnie stwierdzona naiwność polityczna Prusa i Orzeszkowej, rozgrzesza ich w tym wypadku, jak w innych (PW Nr. 6/1899, 329).232
Derartige Kritik war taub für die Untertöne der Jubiläumsbotschaften, wie insbesondere im Falle Orzeszkowas. Allerdings hatten sich die Autoren ihre Verwicklung in die politischen Scharmützel wohl auch selbst zuzuschreiben, denn wie die Rekonstruktion der Vorgänge gezeigt hat, waren sie sich der Implikationen ihres Tuns durchaus bewusst, und man muss davon ausgehen, dass sie sich tatsächlich nur aufgrund politischer Erwägungen überhaupt selbst äußerten – denn dass auch nur einer der genannten Autoren sich tatsächlich für Puškins Literatur begeisterte, ist nicht belegt.233 wie die Moskowiter singen: ‚Noch ist Polen nicht verloren’, und wie die Polen unaufgefordert anstimmen: ‚Gott schütze den Zaren!’ Vielleicht würde dank seiner Mühen ein Denkmal Kościuszkos in Moskau stehen und eins von Mickiewicz in Petersburg, eins von Batory in Pskov, und auf dem Krakauer Marktplatz würden sich aus Bronze die Statuen Katharinas II., Suvorovs und Puškins erheben.“ 232 „Dieses kompromittierende Ergebnis seiner Bemühungen verdeckt der Kraj, indem er Galizien und vor allem Krakau sowie einige bekannte Namen in den Vordergrund stellt – so den des großen Schriftstellers, aber naiven Polit-Wahnsinnigen Bolesław Prus und den von Eliza Orzeszkowa, deren Hang zur Befreundung mit den Moskowitern, offenbart z.B. nach dem Jahr 1863, bewirkt hat, dass diese ausgezeichnete Autorin am unpopulärsten eben in Litauen ist, wo man diese Details ihres Verhaltens kennt, und dass sie sich heute wohl sogar größerer Anerkennung in der russischen als in der polnischen Gesellschaft erfreut. Im Übrigen entschuldigt Prus und Orzeszkowa ihre mehrfach bestätigte politische Naivität in diesem Fall wie in anderen.“ 233 Als Ausnahme kann Wiktor Gomulicki gelten, der zum Jubiläum nicht nur ein Grußtelegramm und einige Puškin-Übersetzungen im Kraj veröffentlichte (Kraj Nr. 22/1899, 13; 14
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„W tym chaosie sprzeczek i kłótni nikt nie chciał nawet myśleć o nim [Puszkinie, P.S.] jako o poecie, przyjacielu Mickiewicza“, schrieb der Student Henryk Ułaszyn an Erazm Piltz, nachdem sein Versuch, eine Krakauer Studentenvereinigung von der Beteiligung an dem Jubiläum zu überzeugen, zu einer politischen Grundsatzdiskussion eskaliert war (BN t.1, 184).234 Diese Aussage ist sicher ein gutes Fazit für die Ereignisse um die polnischen Puškin-Feiern. Gleichwohl zeigt das Fest exemplarisch, unter welchen Bedingungen sich die Rezeption russischer Literatur in diesen Jahren dort vollzog und wie die in den vorstehenden Kapiteln dieser Arbeit aufgezeigten Rezeptionsweisen zu einem konkreten Anlass kollidieren konnten. So zeigt sich, dass die Russen bei dieser größten Veranstaltung zur russischen Literatur im Königreich Polen des 19. Jahrhunderts die polnische Bevölkerung weder erreichen wollten noch erreichen konnten. Ganz im Gegensatz zu dem, was ihnen die polnischen Boykottanhänger unterstellten, verstanden sie das Fest von vornherein mehr als Gelegenheit zur Festigung der lokalen russischen Gemeinschaft denn als Gelegenheit zur Russifizierung der örtlichen Bevölkerung. In diesem Sinne setzten sie dann auch die inhaltlichen und organisatorischen Akzente. Die Möglichkeit, die Polen über eine entsprechende Deutung der Beziehung von Puškin und Mickiewicz zu integrieren, wurde nicht genutzt (vgl. Aussparung Mickiewiczs in der Broschüre für die polnischen Schüler; MNP 1899).235 So mussten im Nachhinein auch russische Beobachter zugeben, dass die Polen von den Feiern in Warschau nicht erreicht wurden (NV Nr. 8356/1899, 4). Mit Blick auf die Polen war die russische Literaturpolitik in diesem Fall nur insofern wirkungsvoll, als dass sie die Auseinandersetzung mit dem Dichter motivierte. Bei der Deutung von Puškins Person und Werk zeigt sich dann eine enge Bezugnahme auf seine Haltung zu Polen und zu Adam Mickiewicz, wobei sich die Gewichtung der in beiden Beziehungen enthaltenen Widersprüche letztlich meist nach dem politischen Standpunkt der Interpreten richtete. Das Ergebnis war eine Kakophonie der politisierten Puškin-Bilder – und im öffentlichen Diskurs die weitgehende Marginalisierung seines sonstigen literarischen Schaffens.
DI), sondern auch selbst die Initiative für einen ganzen Band mit Übersetzungen übernahm, der aber letztlich nicht erschien (Taborski 1960, 28 f.). 234 „In diesem ganzen Chaos von Streit und Ärger wollte niemand auch nur einen Gedanken an ihn [Puškin] als an einen Dichter, an den Freund Mickiewiczs, verlieren.“ 235 Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet die aus Moskau angereisten Schauspieler des Malyj Teatr waren, die bei ihrer Aufführung im Großen Theater eine Szene namens „Puškin und Mickiewicz vor dem Denkmal Peters des Großen“ präsentierten. In den Moskovskie Vedomosti wurden sie dafür scharf kritisiert – denn bei Mickiewicz werde das Denkmal letztlich so gedeutet, dass Peters Pferd – und damit Russland – zu Boden stürzt und zerschellt (MV Nr. 155/1899, 3).
Zusammenfassung und Schluss
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Die Rezeption der russischen Literatur in Polen war ein überaus populäres Thema der slavistischen Komparatistik des 20. Jahrhunderts. Die bisherige Forschung kreiste dabei um zwei Paradigmen. Das erste (in Anlehnung an Aleksander Brückner): Die Polen ignorierten die russische Literatur, um mit dem politischen Feind nichts zu tun zu haben. Das zweite (in Anlehnung an Marian Jakóbiec): Die Polen lasen zwar die russische Literatur, aber aufgrund der politischen Umstände nur im Verborgenen, um durch den Umgang mit der Kultur des Feindes keine falschen Signale zu senden. Geht man allein von diesen Paradigmen aus, lassen sich Aspekte benennen, zu denen sich Folgestudien positionieren müssen. So schreiben (1.) sowohl Brückner als auch Jakóbiec von einer politischen Bedrohung der Polen durch die Russen, wobei die Literatur als Element des politischen Konflikts eingeordnet wird. Sowohl Brückner als auch Jakóbiec variieren (2.) als Reaktion darauf das populäre Selbstund Fremdbild der Polen als eines Volks des Widerstands. Dabei steht insgesamt außer Zweifel, dass (3.) die Rezeption russischer Literatur in Polen 1864–1904 in starker Abhängigkeit vom historisch-politischen Kontext stand. Die vorliegende Arbeit knüpft entsprechend an diese Punkte an und führt unter Berücksichtigung der schon vorliegenden Forschungsarbeiten eine starke Kontextualisierung herbei, wobei besonderes Augenmerk auf die Fragen nach der russischen (Kultur-) Politik und den polnischen Widerstand gegen sie gelegt wird. Dabei wird der besondere Reiz darin gesehen, dass heute – anders als zur Zeit der Teilungen, als Brückner forschte, und anders als zur Zeit des Stalinismus, als Jakóbiec forschte – diese Aspekte nüchterner diskutiert werden können. So verbindet sich mit dieser Neubetrachtung der Thematik die Hoffnung, eine Inspiration für neue Studien über die polnisch-russischen Literaturbeziehungen sein zu können (4.).
(1.) Die Bedrohung der Polen durch die russische Politik An der Lage im Königreich Polen gibt es für die Zeit von 1864–1904 nichts zu beschönigen. Als Reaktion auf das gescheiterte Experiment erweiterter polnischer Autonomie unter Aleksander Wielopolski zu Beginn der 1860er Jahre und als Konsequenz des polnischen Januaraufstands 1863/64 betrieb Russland im Königreich Polen eine Politik, die weitgehend ohne Rücksicht auf polnische Bedürfnisse die forcierte Eingliederung des Gebiets in das Zarenreich zum Ziel hatte. Konsequent wurden Behörden, Gerichte und andere Institutionen den innerrussischen Vorbildern angepasst. Der Begriff der Russifizierung ist für den Verwaltungsbereich angemessen.
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Russifiziert wurde auch das Schulwesen im Königreich Polen. Dort galten schon bald nach dem polnischen Januaraufstand russische Lehrpläne, Russisch wurde zur Unterrichtssprache. Auch ein umfangreiches Programm russischer Literatur wurde behandelt, wobei die Behörden sich eine Wirkung der Texte auf die polnischen Schüler in zweierlei Hinsicht erhofften: Sie sollten helfen, die russischen Sprachkenntnisse zu festigen, und gleichzeitig an das russische Geistesleben heranführen. Insgesamt scheint es aber, dass dies weniger Teil einer Strategie zur nachhaltigen kulturellen Russifizierung der Polen, als eine flankierende Maßnahme der administrativen Russifizierung war. Der Verdacht, dass die Russen eine umfassende kulturelle Russifizierung der Polen anstrebten, liegt angesichts der insgesamt sehr offensiven russischen Politik nahe und ist in der Vergangenheit immer wieder vorgebracht worden, so auch in Arbeiten zu den polnisch-russischen Literaturbeziehungen. Eine genaue Untersuchung der russischen Kulturpolitik in Polen fehlte allerdings bislang. Die Einzelstudien im 2. Kapitel der vorliegenden Arbeit („Die russische Literaturpolitik“) zeigen nun, dass sich der Verdacht der kulturellen Russifizierung nicht erhärten lässt. Lange Jahre nach dem Januaraufstand blieb das Königreich Polen ohne funktionierenden Handel mit russischen Büchern, eine öffentliche russische Bibliothek gab es selbst in Warschau im gesamten betrachteten Zeitraum nicht, und auch kein (festes) russisches Theater. Die russische Tageszeitung in Polen – der Varšavskij Dnevnik – hielt sich mit kultureller Berichterstattung zurück, und letztlich erwies sich sogar die Zensur als Akteur, der polnische Übersetzungen russischer Literatur teils eher erschwerte statt förderte. Die Verwaltung vor Ort versuchte nicht oder nur halbherzig, diesen Zustand zu ändern. Die Behörden im Königreich Polen folgten keinem von St. Petersburg vorgegebenen Plan zur allgemeinen Russifizierung, und sie hatten auch selbst keinen solchen Plan. Die polnische Identität war im Königreich Polen also auch in den schwierigen Jahren nach dem Januaraufstand nicht grundsätzlich in Gefahr. Zu diesem Befund passt die Tatsache, dass das polnische Geistesleben in diesen Jahren zwar u.a. durch die russische Zensur in seiner freien Entfaltung behindert wurde, gleichwohl Warschau aber eine Blüte als intellektuelles, publizistisches und literarisches Zentrum erlebte. Diese Erkenntnis soll insbesondere die Zustände im russifizierten Schulwesen nicht beschönigen. Gleichwohl darf man angesichts der tatsächlichen Lage die russischen Pläne auch nicht übertreiben. Besondere Bedeutung hat dies auch zur Einschätzung der polnisch-russischen Literaturbeziehungen in diesen Jahren, denn nur wenn man die russische Politik nüchtern betrachtet, lässt sich erklären, warum die russische Literatur auch unter den Polen ein Publikum fand.
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(2.) Der polnische Boykott Es besteht kein Zweifel, dass die meisten Polen sich im betrachteten Zeitraum ein freies und unabhängiges eigenes Land wünschten. Je drückender die Politik insbesondere der russischen Teilungsmacht wurde, desto größer wurde auch die polnische Abneigung gegen die fremden Herrscher. Dies fand seinen Ausdruck auch in unterschiedlichen Varianten des Boykotts gegen russisches Kulturgut. Wenn russische Theaterensembles Gastspiele im Königreich Polen gaben, hielten sich die Einheimischen mit Besuchen zurück. Wenn in den Schulen polenfeindliche Verse deklamiert werden sollten, verbitterte dies die Schüler und erregte ihren Widerstand. Im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit („Der polnische Boykott und seine Grenzen“) konnte gezeigt werden, dass dieser Widerstand speziell in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Januaraufstand vor allem dort begann, wo in der Öffentlichkeit die russische Kultur mit der polnischen in Konkurrenz zu treten schien. Hier setzte die öffentliche Meinung allzu forschen Vorstößen zur Rezeption russischer Literatur Grenzen. Im privaten Raum dagegen gab es oft weniger Vorbehalte. Viele Polen waren in der Lage, zwischen der russischen Politik und den literarischen Leistungen russischer Schriftsteller zu unterscheiden. Rezipiert wurden dabei insbesondere zeitgenössische Autoren, d.h. jene, die in der russischen Schule absichtsvoll nicht unterrichtet worden waren und die auch die russische Zensur nicht ohne weiteres passieren ließ. Nicht immer ließ sich allerdings das Private privat halten, und entsprechend führte der Zwiespalt zwischen öffentlichem Schweigegebot und privater Lektürerealität immer wieder zu Komplikationen. Dies gilt besonders für die polnischen Schriftsteller. Da für Polen politische Institutionen fehlten, galten die Autoren als besonders exponierte Repräsentanten ihrer Nation und hatten entsprechend hohe gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen – eine russlandkritische Grundhaltung eingeschlossen. Schon viele Autoren des Realismus standen der russischen Literatur aber offener gegenüber, als es aus orthodox-patriotischer Perspektive schicklich erschien. Zudem beschränkte sich ihre Rezeption nicht auf reine Kenntnisnahme, sondern die Lektüre russischer Bücher war oft Inspirationsquelle und Referenzpunkt für ihr eigenes Schaffen. In der Praxis vollzog sich diese Rezeption aber unter erschwerten Bedingungen: Die durchgängige Lektüre der zeitgenössischen russischen Bücher erschwerte die russische Zensur, die offene Diskussion der gelesenen Texte die polnische Etikette. Zensur auf unterschiedlichen Ebenen und nicht zuletzt auch die Selbstzensur führten zu einer Situation, deren anschauliches Ergebnis u.a. die zu Beginn dieser Arbeit erwähnten Kopfschmerzen des Bolesław Prus waren. Erst in die Zeit der Jahrhundertwende fällt der Versuch, den Boykott russischer Literatur in Polen tatsächlich zu institutionalisieren, so besonders als Teil der Programmatik des nationaldemokratischen Lagers. Gleichwohl zeigt die Situation um die Jahrhundertwende noch deutlicher einen Befund, der sich auch in den Vorjah-
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ren schon abgezeichnet hatte, dass sich nämlich allein mit dem Begriff des Boykotts die Rezeptionssituation in Polen nicht beschreiben lässt.
(3.) Die Kontextabhängigkeit der Rezeption russischer Literatur in Polen Dass die Rezeption russischer Literatur in Polen vom historisch-politischen Kontext abhängig war, ist die fundamentale Annahme der bisherigen Forschung. Dabei scheint allerdings nicht deutlich genug herausgestellt worden zu sein, dass die damalige politische Landschaft Polens nicht einheitlich war. Natürlich spielte der polnische Widerstand gegen die Fremdherrschaft eine große Rolle. Dies ist allerdings nur ein Element von vielen anderen, die für die Rezeptionssituation in Polen prägend waren. Den stärksten Gegenpol zum Boykott bildeten die Anhänger des so genannten Ugoda-Lagers, d.h. diejenigen Polen, die eine friedliche Verständigung mit Russland und eine möglichst weitgehende politische Autonomie des Königreichs Polen innerhalb des Zarenreichs anstrebten. Da für diese Ausgleichsbefürworter die Möglichkeiten zu politischer Aktivität gering waren, verfolgten sie ihre Ziele auch im kulturellen Bereich. Das Ziel war es, Polen und Russen besser miteinander vertraut zu machen, so Verständnis zu wecken und eine Versöhnung herbeizuführen. Das Mittel war u.a. die Popularisierung russischer Literatur in Polen, vollführt durch die polnische Wochenzeitung Kraj. Zwischen den Anhängern eines Radikalboykotts und den Helfern aktiver Verbreitung gab es ein großes Spektrum an politischen und intellektuellen Anschauungen, die auf die jeweilige Rezeption Einfluss nahmen. Entsprechend erscheint es nicht möglich, wie im Falle der traditionellen Paradigmen von Aleksander Brückner und Marian Jakóbiec die Gesamtsituation der Rezeption russischer Literatur in Polen mit einer allumfassenden Formel zu beschreiben. Es ignorierten eben nicht alle Polen die russische Literatur (wie bei Brückner) und es lasen nicht alle Polen nur im Verborgenen (wie im Anschluss an Jakóbiec suggeriert wurde). Betrachtet man die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, findet man stattdessen vielfältige Postulate zur Haltung gegenüber der russischen Literatur: den vollständigen Boykott bis in den privaten Raum hinein, den Boykott nur im öffentlichen Raum, die verborgene künstlerische Inspiration, die öffentlich zelebrierte künstlerische Egalität, die politische Inspiration und die Betrachtung als Medium des Kulturaustauschs zur gegenseitigen Annäherung. In dieser schon oberflächlich gegebenen Vielfalt zwischen den Gruppen erschöpft sich die Lage allerdings nicht, wenn man in die Gruppen hineinschaut. So hat das Beispiel der Nationaldemokraten gezeigt, dass viele der vermeintlichen Radikalboykotteure mit den russischen Texten bestens vertraut waren. Im soziali-
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stischen Lager gab es Unterschiede zwischen den tendenziell russophilen Internationalisten und den tendenziell russophoben Kämpfern um Józef Piłsudski. Gleichzeitig war ein Boykott russischer Literatur im rechten Sozialistenlager zwar eine nicht ungewöhnliche Anschauung, aber bei weitem auch kein Konsens. Diese Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Rezeptionssituation lassen sich nicht auflösen. Auch wenn es unbequem ist, müssen sie hingenommen werden. Die Akzeptanz der Vielschichtigkeit und Heterogenität geht allerdings zu Lasten der leichten Überschaubarkeit und auch der leichten Darstellbarkeit. Dem slavistisch geprägten Forscher ist die Frage nach Dichtung und Wahrheit in der Geschichtsschreibung allein schon von Lev Tolstoj her vertraut. Derweil ist nicht nur die Historiographie, sondern im selben Maße auch die Literaturgeschichtsschreibung anfällig dafür, Sachverhalte – allein schon um ihrer Erzählbarkeit willen – in einer Weise zu vereinfachen, die bis zur Verfälschung der (literar-) historischen Realität reichen kann. Ansatz für einen Ausweg ist die Darstellung einzelner Linien, aus deren Gesamtschau sich ein präziseres Bild ergeben kann. Im gegebenen Fall ist gleichzeitig zu bedenken, dass die Darstellung der Rezeption russischer Literatur in Polen nicht anhand eines Konzepts geschehen kann, das auf der Vorstellung klarer nationaler Trennlinien basiert. So zeigt das Beispiel aller betrachteten Gruppen, dass die Rezeption in einem Geflecht aus polnisch-russischen Wechselbeziehungen stattfand und damit nicht zuletzt im Kontext des multinationalen Zarenreichs zu sehen ist, das einen vielschichtigen Interaktionsraum darstellte. Die Bewohner dieses Raums fühlten sich keineswegs nur an ihr ethnisches Lager gebunden, sondern standen in einem Gefüge komplexer Beziehungen (vgl. Semyonov 2003, 391 f.; Gerasimov u.a. 2010, 9). Aus dieser Perspektive aber lassen sich der Umgang der Polen mit der russischen Literatur und auch die teils widersprüchlichen Haltungen ihr gegenüber besser erklären. Polen und Russen begegneten sich womöglich auf einer nationalen Ebene als Feinde, auf einer ethnischen aber als eine Art Verwandte, auf einer sozialen innerhalb der Schichten als Gleiche, auf einer revolutionären als Verbündete, etc. (vgl. Gerasimov u.a. 2010, 10). Folgt man in der Literaturgeschichtsschreibung also nicht allein dem nationalen Narrativ, treten komplexe Identitäten und somit komplexe Rezeptionssituationen zutage. Es wird verständlich, warum ein und dieselbe Person oder politische Gruppe die Lektüre russischer Literatur zugleich verdammen und praktizieren konnte.
(4.) Schluss Die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts besonders in Polen und Russland populäre Erforschung der Rezeption russischer Literatur in Polen 1864–1904 hat in den letzten Jahren nachgelassen. Die Ursache hierfür mag der Eindruck sein, dass die
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wichtigsten Dinge gesagt worden sind. Das Thema scheint ausreichend beschrieben. Die vorliegende Arbeit zeigt dagegen, dass es durchaus noch einen reichen Fundus unerforschter Einzelaspekte gibt. Vor allem aber zeigt sie, dass auch die grundsätzliche Deutung der Rezeptionssituation neu ausgerichtet werden kann und neu ausgerichtet werden muss, ausgehend von einer nüchterneren Betrachtung der polnisch-russischen Beziehungen nach dem Januaraufstand insgesamt. Der Ansatz der vorliegenden Arbeit war dabei in erster Linie dokumentarischer Art. Perspektivisch wäre es wünschenswert, von diesem Punkt aus auch zu einer neuen theoretischen Durchdringung des Themas zu kommen, z.B. im Anschluss an postkolonialistische Ansätze oder an die speziell osteuropäisch interpretierte „Neue Imperialgeschichte“, in der die Idee des Interaktionsraums noch zentraler ist als im Postkolonialismus (vgl. die zitierten Texte von Semyonov 2003 und Gerasimov u.a. 2010). Selbst wenn jedoch die in dieser Arbeit betrachtete Zeit keine Forschungsrenaissance erleben sollte, scheint es, dass der gewählte Ansatz auch eine Inspiration zur Erforschung anderer Abschnitte der polnisch-russischen Literaturbeziehungen sein kann, so z.B. für die Zeit zwischen 1945 und 1989, als erneut das Bedürfnis nach Abgrenzung gegen eine ungewollte politische und auch kulturelle Vereinnahmung mit Aufgeschlossenheit und Sympathie für Russland und seine Kultur zusammenfielen. Grundsätzlich zeigt der Blick über das Jahr 1904 hinaus, dass sich der zwischen 1864 und 1904 abzeichnende Trend zur Entspannung in den polnisch-russischen Literaturbeziehungen nicht zeitnah verstetigt hat. Zwar markierte das Jahr 1905 mit den revolutionären Unruhen in Russland einen Höhepunkt des polnischen Interesses an russischer Literatur (Żakiewicz 1968, 483 f.; vgl. Kijas 1980, 275; 282; Pachucka 1958, 247 ff.). Gleichzeitig blieben aber auch nach der Neugründung des unabhängigen polnischen Staates 1918 alte Vorbehalte in Kraft, wie auch das russische Revolutionsjahr 1917 und die anschließenden polnisch-sowjetischen Kriegshandlungen die alten Ängste vor einer Vereinnahmung durch den östlichen Nachbarn aufs Neue entfachten. Die Rezeption der russischen Literatur in der Zwischenkriegszeit war entsprechend weiterhin stärker mit politischen und stereotypen Vorbehalten belastet als die Rezeption der Literatur westlicher Völker (hierzu s. insbesondere die Arbeiten von Franciszek Sielicki, z.B. Sielicki 1988; Sielicki 1996). Die historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts waren wenig dazu angetan, diese Situation zu verändern: Dem russischen Einmarsch in Ostpolen kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 folgte nach dem Zurückweichen der deutschen Armee die Einbindung Polens in den sowjetisch dominierten Ostblock. Heute – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – sind die polnisch-russischen Beziehungen noch immer nicht stets harmonisch, aber die Existenz eines selbstständigen
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polnischen Staates und die Klärung der wichtigsten politischen Grundsatzfragen erlauben einen sachlichen Umgang mit der Thematik. Dabei muss man gerade im kulturellen Bereich die Vielschichtigkeit der Beziehungen zwischen Polen und Russen anerkennen. Die Grenzen zwischen beiden Kulturen waren und sind durchlässig, und was die gegenseitige Literaturrezeption betrifft, so hinterließ sie ihre Spuren sowohl in der Abgrenzung als auch in der positiven Inspiration. Das Ergebnis aber bleibt in beiden Fällen eine tiefe gegenseitige Verwobenheit.
9. Anhang: Übersetzungen der im Text erwähnten Originaltitel a) Werktitel Al’bert. Albert (Lev N. Tolstoj) Anna Karenina. Anna Karenina (Lev N. Tolstoj) Babunia. Großmütterchen (Eliza Orzeszkowa) Bańka mydlana. Seifenblase (Eliza Orzeszkowa) Beda ot nežnogo serdca. Unglück durch ein zärtliches Herz (Vladimir Sollogub) Besy. Die Dämonen (Fedor Dostoevskij) Bezumnych let ugasšee vesel’e (Elegija). Der irren Jahre längst vergangne Lust (Elegie) (Aleksandr Puškin) Boris Godunov. Boris Godunov (Aleksandr Puškin) Borodino. Borodino (Michail Lermontov) Brat’ja Karamazovy. Die Brüder Karamazov (Fedor Dostoevskij) Brožu li ja vdol’ ulic šumnych. Wenn ich durch laute Straßen eile (Aleksandr Puškin) Byvšie ljudi. Verlorene Leute (Maksim Gor’kij) Car’ Boris. Zar Boris (Aleksej K. Tolstoj) Car’-Mirotvorec Aleksandr III. Der Zar und Friedensstifter Aleksandr III. (Dmitrij Loman) Chadži Abrek. Chadži Abrek (Michail Lermontov) Chadži-Murat. Chadži-Murat (Lev N. Tolstoj) Cholstomer. Der Leinwandmesser (Lev N. Tolstoj) Chozjain i rabotnik. Herr und Knecht (Lev N. Tolstoj) Čelovek v futljare. Der Mensch im Futteral (Anton Čechov) Čto delat’? Was tun? (Nikolaj Černyševskij) Čto takoe iskusstvo? Was ist Kunst? (Lev N. Tolstoj) Detstvo. Kindheit (Lev N. Tolstoj) Do przyjaciół Moskali. An die Moskauer Freunde (Adam Mickiewicz) Dookoła sfinksa; Studya o życiu i twórczości narodu rosyjskiego. Um die Sphinx; Studien über Leben und Werk des russischen Volks (Władysław Jabłonowski) Dvorjanskoe gnezdo. Das Adelsnest (Ivan Turgenev) Dziady. Die Ahnenfeier (Adam Mickiewicz) Echo. Das Echo (Aleksandr Puškin) Egoizm narodowy wobec etyki. Nationaler Egoismus und Ethik (Zygmunt Balicki) Evgenij Onegin. Evgenij Onegin (Aleksandr Puškin) Felica. Felica (Gavrila Deržavin) Gde apel’ziny zrejut. Wo die Apfelsinen reifen (Nikolaj Lejkin) Geroj našego vremeni. Ein Held unserer Zeit (Michail Lermontov)
Übersetzungen der im Text erwähnten Originaltitel
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Gore ot uma. Verstand schafft Leiden (Aleksandr Griboedov) Idiot. Der Idiot (Fedor Dostoevskij) Indywidualizm rosyjski i jego odbicie w literaturze. Der russische Individualismus und seine Spiegelung in der Literatur (Władysław Jabłonowski) Ioann Groznyj. Ivan der Schreckliche (Aleksej K. Tolstoj) Istorija moego sovremennika. Die Geschichte meines Zeitgenossen (Vladimir Korolenko) Ivikovy žuravli. Die Kraniche des Ibykus (Vasilij Žukovskij) K umu moemu ili na chuljaščich učenie. An meinen Verstand oder wider die Verächter der Wissenschaft (Antioch Kantemir) Kak voeval Petr Velikij so Švedami. Wie Peter der Große mit den Schweden kämpfte (Iosif Senigov) Kapitanskaja dočka. Die Hauptmannstochter (Aleksandr Puškin) Kavkaz. Der Kaukasus (Aleksandr Puškin) Kavkazskij plennik. Der Gefangene im Kaukasus (Aleksandr Puškin) Kavkazskij plennik. Der Gefangene im Kaukasus (Lev N. Tolstoj) Kazaki. Die Kosaken (Lev N. Tolstoj) Klevetnikam Rossii. Den Verleumdern Russlands (Aleksandr Puškin) Kniaź Patiomkin. Fürst Patiomkin (Tadeusz Miciński) Knjaz’ Serebrjanyj. Der Fürst Serebrjanyj (Aleksej K. Tolstoj) Krejcerova sonata. Die Kreutzersonate (Lev Tolstoj) Krovavyj puf. Blutiger Betrug (Vsevolod Krestovskij) Lalka. Die Puppe (Bolesław Prus) Leci liście z drzewa. Laub fällt vom Baum (Wincenty Pol) Literatura rosyjska wśród Polaków w okresie Pozytywizmu. Polnische Literatur unter den Polen zur Zeit des Positivismus (Marian Jakóbiec) Mcyri. Mcyri (Der Novize) (Michail Lermontov) Mednyj vsadnik. Der eherne Reiter (Aleksandr Puškin) Mertvye duši. Die toten Seelen (Nikolaj Gogol’) Molčanie. Das Schweigen (Leonid Andreev) Na dne. Nachtasyl (Maksim Gor’kij) Nakanune. Am Vorabend (Ivan Turgenev) Naši ljudi sočtemsja. Wir werden das unter uns abmachen (Aleksandr N. Ostrovskij) Nedorosl’. Der Minderjährige (Denis Fonvizin) Nikolaj Palkin. Nikolaj Palkin (Lev N. Tolstoj) Noč’ pod roždestvo. Die Nacht vor Weihnachten (Nikolaj Gogol’) O literaturze rosyjskiej i naszym do niej stosunku dziś i lat temu trzysta. Über russische Literatur und unsere Beziehung zu ihr heute und vor dreihundert Jahren (Aleksander Brückner) O pol’ze knig cerkovnych v rossijskom jazyke. Über den Nutzen der Kirchenbücher in der russischen Sprache (Michail Lomonosov) Oblomov. Oblomov (Ivan Gončarov) Obryv. Die Schlucht (Ivan Gončarov) Obyknovennaja istorija. Eine alltägliche Geschichte (Ivan Gončarov)
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Oda na den’ vosšestvija na prestol imperatricy Elisavety. Ode auf den Jahrestag der Thronbesteigung der Kaiserin Elisaveta (Michail Lomonosov) Ogniem i mieczem. Mit Feuer und Schwert (Henryk Sienkiewicz) On idzie! Rzecz o królu duchu Rosji. Er kommt! Über den Geisteskönig Russlands (Tadeusz Nalepiński) On meždu nami žil. Er lebte unter uns (Aleksandr Puškin) Opjat’ na rodine. Wieder in der Heimat (Aleksandr Puškin) Opjat’ ty zdes’, moj blagodatnyj genij. Da bist Du wieder, mein segensreicher Genius (Vasilij Žukovskij) Ostatnia powieść hr. Lwa Tołstoja. Der letzte Roman von Gr. Lev Tolstoj (Władysław Jabłonowski) Otcy i deti. Väter und Söhne (Ivan Turgenev) Pamjatnik. Das Denkmal (Gavrila Deržavin) Pamjatnik. Das Denkmal (Aleksandr Puškin) Pan Tadeusz. Pan Tadeusz (Adam Mickiewicz) Patriotyzm i kosmopolityzm. Patriotismus und Kosmopolitismus (Eliza Orzeszkowa) Pesnja o kupce Kalašnikove. Lied über den Kaufmann Kalašnikov (Michail Lermontov) Peterburgskie truščoby. Petersburger Armenviertel (Vsevolod Krestovskij) Pis’ma russkogo putešestvennika. Briefe eines russischen Reisenden (Nikolaj Karamzin) Plody prosveščenija. Die Früchte der Bildung (Lev N. Tolstoj) Płomienie. Flammen (Stanisław Brzozowski) Poet i čern’. Der Dichter und die Menge (Aleksandr Puškin) Poetu. Dem Dichter (Aleksandr Puškin) Polska i Rossya w 1872 r. Polen und Russland im Jahr 1872 (Kazimierz Krzywicki) Predislovie k istorii gosudarstva rossijskogo. Vorwort zur Geschichte des russischen Staates (Nikolaj Karamzin) Prestuplenie i nakazanie. Schuld und Sühne (Fedor Dostoevskij) Prorok. Der Prophet (Aleksandr Puškin) Revizor. Der Revizor (Nikolaj Gogol’) Rudin. Rudin (Ivan Turgenev) Semejnoe ščast’e. Familienglück (Lev N. Tolstoj) Sevastopol’skie rasskazy. Sevastopol’-Erzählungen (Lev N. Tolstoj) Silny Samson. Der starke Samson (Eliza Orzeszkowa) Skupoj rycar’. Der geizige Ritter (Aleksandr Puškin) Soročinskaja jarmarka. Der Sorotschinsker Jahrmarkt (Nikolaj Gogol’) Starosvetskie pomeščiki. Altväterische Gutsbesitzer (Nikolaj Gogol’) Stepnoj korol’ lir. Ein König Lear der Steppe (Ivan Turgenev) Stichotvorenia v proze. Gedichte in Prosa (Ivan Turgenev) Svad’ba Krečinskogo. Krečinskijs Hochzeit (Aleksandr Suchovo-Kobylin) Svetlana. Svetlana (Vasilij Žukovskij) Syzyfowe prace. Sisyphus-Arbeiten (Stefan Żeromski) Taras Bul’ba. Taras Bul’ba (Nikolaj Gogol’)
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Teodor Dostojewski wobec nowych prądów świadomości rosyjskiej. Fedor Dostoevskij und die neuen Strömungen des russischen Bewusstseins (Władysław Jabłonowski) Teodor Dostojewski: z mroków duszy rosyjskiej. Fedor Dostoevskij: Aus dem Dunkel der russischen Seele (Stanisław Brzozowski) Tolstoj i Dostoevskij. Tolstoj und Dostoevskij (Dmitrij Merežkovskij) Toržestvo pobeditelej. Das Siegerfest (Vasilij Žukovskij) Tri sestry. Drei Schwestern (Anton Čechov) Tri smerti. Drei Tode (Lev N. Tolstoj) Unižennye i oskorblennye. Erniedrigte und Beleidigte (Fedor Dostoevskij) V čem moja vera. Worin mein Glaube besteht (Lev N. Tolstoj) V gostjach u turok. Zu Gast bei den Türken (Nikolaj Lejkin) Videnie murzy. Murzas Erscheinung (Gavrila Deržavin) Višnevyj sad. Der Kirschgarten (Anton Čechov) Višnja. Die Kirsche (Aleksandr Puškin) Vlast’ t’my. Die Macht der Finsternis (Lev N. Tolstoj) Vojna i mir. Krieg und Frieden (Lev N. Tolstoj) Voskresenie. Auferstehung (Lev N. Tolstoj) Vychožu odin ja na dorogu. Einsam tret ich auf den Weg (Michail Lermontov) Vystrel. Der Schuss (Aleksandr Puškin) Vzbalamučennoe more. Das aufgewühlte Meer (Aleksej Pisemskij) W młodych oczach. In jungen Augen (Piotr Choynowski) Walka ze sztuką. Kampf gegen die Kunst (Zenon Przesmycki) Wskazania polityczne. Politische Hinweise (Aleksander Świętochowski) Začto? Wofür? (Lev N. Tolstoj) Zapiski iz mertvogo doma. Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Fedor Dostoevskij) Zapiski o pol’skich zagovorach i vosstanijach. Aufzeichnungen über polnische Verschwörungen und Aufstände (Nikolaj Berg) Zapiski ochotnika. Aufzeichnungen eines Jägers (Ivan Turgenev) Ziemia obiecana. Das gelobte Land (Władysław S. Reymont) Žaloba Cerery. Die Klage des Ceres (Vasilij Žukovskij) Žertva večernjaja. Das abendliche Opfer (Petr Boborykin) Žizn’ za carja. Das Leben für den Zaren (Michail Glinka)
b) Presse- und Zeitschriftentitel Ateneum. Athenäum Biblioteka dlja Čtenija. Lesebibliothek Chimera. Chimäre Cholmsko-Varšavskij Eparchial’nyj Vestnik. Chełm-Warschauer Patriarchatsbote Chwila. Der Augenblick
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Dziennik Polski. Polnisches Tageblatt Dziennik Poznański. Posener Tageblatt Dziennik Warszawski. Warschauer Tageblatt Gazeta Polska. Polnische Zeitung Głos. Die Stimme Goniec. Der Bote Graždanin. Der Bürger Kieveljanin. Der Kiever Kraj. Das Land Krytyka. Kritik Kurier Codzienny. Tageskurier Kurier Lwowski. Lemberger Kurier Moskovskie Vedomosti. Moskauer Nachrichten Naprzód. Vorwärts Nedelja. Die Woche Niwa. Die Aue Novoe Vremja. Die neue Zeit Novosti. Neuigkeiten Nowiny. Neuigkeiten Pamiętnik Literacki. Literarisches Tagebuch Pereval. Der Pass Posrednik. Der Vermittler Prawda. Die Wahrheit Przedświt. Das Morgengrauen Przegląd Filozoficzny. Philosophische Rundschau Przegląd Powszechny. Allgemeine Rundschau Przegląd Tygodniowy. Wöchentliche Rundschau Przegląd Wszechpolski. Allpolnische Rundschau Robotnik. Der Arbeiter Russkaja Mysl’. Der russische Gedanke Russkij Filologičeskij Vestnik. Russischer Philologie-Bote Russkoe Bogatstvo. Der russische Reichtum Russkoe Obozrenie. Russische Rundschau Sankt-Peterburgskie Vedomosti. St. Petersburger Nachrichten Słowo. Das Wort Varšavskij Dnevnik. Warschauer Tageblatt Vestnik Evropy. Bote Europas Vesy. Die Waage Wiek. Das Zeitalter Wolne Polskie Słowo. Freies polnisches Wort Zolotoe runo. Goldene Rune Życie. Das Leben
10. Literatur Zeitgenössische Presse Chimera (Warschau) Cholmsko-Varšavskij Eparchial’nyj Vestnik (Warschau) Chwila (Warschau) Kraj (St. Petersburg) Moskovskie Vedomosti (Moskau) Naprzód (Krakau) Novoe Vremja (St. Petersburg) Przedświt (London/Krakau) Przegląd Wszechpolski (Lemberg/Krakau) Robotnik (o.O.) Sankt-Peterburgskie Vedomosti (St. Petersburg) Varšavskij Dnevnik (Warschau) Życie (Krakau)
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Index A Abramowski, Edward 168 Aksakov 32 Al’bov, Michail 84 Aleksandr I. 177 Aleksandr II. 13, 151 Aleksandr III. 69 Andreev, Leonid 47, 85, 90, 140, 144 Andreevskij, A. S. 180 Apuchtin, Aleksandr 74, 77, 119 Arabažin, Konstantin 180 Arcybašev, Michail 144 Averkiev, Dmitrij 56 B Balicki, Zygmunt 88, 89, 91, 93, 94, 163, 164 Bal’mont, Konstantin 116, 140, 146 Bałucki, Michał 180 Baranowski, Ignacy 177, 178, 183 Barański, Zbigniew 18 Bartoszewicz, Kazimierz 186 Batjušov, Konstantin 30 Baudouin de Courtenay, Jan 116, 183 Belinskij, Vissarion 39, 82, 85, 89, 144 Belmont, Leo. Siehe Blumenthal, Leopold Berg, Nikolaj 62, 63, 64, 65, 72, 96, 121, 152 Białobłocki, Bronisław 49, 84 Białokozowicz, Bazyli 18, 132 Bielski, Leon. Siehe Blumenthal, Leopold Blok, Aleksandr 62 Blumenthal, Leopold 145, 149, 159, 68 Boborykin, Petr 32, 33, 48, 52, 61, 67, 107, 112, 114, 115, 128, 137 Brandes, Georg 14, 23, 24 Brjusov, Valerij 146 Brückner, Aleksander 15, 16, 17, 116, 189, 192
Brzozowski, Stanisław 138, 140, 141, 143, 144, 145 Budilovič, Anton 35, 117 Bunin, Ivan 85 Burenin, Viktor 137 Buszczyński, Stefan 104 C Čechov, Anton 14, 32, 33, 39, 60, 67, 97, 111, 114, 115, 116, 133, 142 Černyševskij, Nikolaj 81, 82, 84, 85, 89, 90, 107, 114, 162 Čertkov, Michail 41, 59, 60 Chmielowski, Piotr 47, 107, 131 Choynowski, Piotr 11, 12 Chwalba, Andrzej 73 Comte, Auguste 122 Cybenko, Elena 18 Czapliński, Marek 102 Czartoryski, Adam 151, 177 Czartoryski, Zdzisław 177 D Daniłowski, Gustaw 145 Daudet, Alphonse 109 Dębicki, Zdzisław 141, 145 Del’vig, Anton 64 Deržavin, Gavrila 30 Dmowski, Roman 83, 92, 93, 94, 95, 99, 136 Dobroljubov, Nikolaj 81, 82, 87, 144 Donimirski, Antoni 177, 178, 181, 182 Dostoevskij, Fedor 14, 16, 20, 32, 39, 48, 50, 52, 62, 67, 89, 90, 94, 96, 97, 111, 115, 116, 121, 128, 129, 138, 139, 140, 141, 142, 144, 145, 155 Drogoszewski, Aureli 130 Dumas, Alexandre 109 Dzierżyński, Feliks 85, 163
E Ekaterina II. 25, 179, 186 Elec, Julij 66 Engels, Friedrich 81 Engeström, Wawrzyniec 177, 178 Ermolova, Marija 60 F Fedotova, Glikerija 55, 56, 60 Feldman, Wilhelm 145 Feoktistov, Evgenij 154 Fiszman, Samuel 18 Flegontov, A. A. 38 Fomin, D. N. 33 Fomin, V. 66 Fonvizin, Denis 30 Franko, Ivan 109 Frühling, Michał 39 G Gaboriau, Émile 40 Galster, Bohdan 18 Garšin, Vsevolod 33, 90, 114–115, 139– 140 Gawalewicz, Marian 177, 178, 180 Gercen, Aleksandr 82, 84, 85, 94, 95, 121 Glinka, Michail 54 Goethe, Johann Wolfgang von 40 Gogol’, Nikolaj 16, 25, 30, 32, 35, 39, 44, 46–47, 50–51, 53, 56, 60, 67, 69, 74–76, 82, 88, 99, 115–116, 129, 130–131, 137, 139, 140, 142–144 Goleniščev-Kutuzov, Arsenij 115 Golicyn, Nikolaj 65 Gomulicki, Wiktor 113, 116, 134, 135, 136, 137, 159, 165, 180, 187 Gončarov, Ivan 14, 32, 39, 48, 67, 115 Gor’kij, Maksim 14, 47, 67, 85–86, 90, 97, 115, 121, 142, 144 Górski, Konstanty Marian 180 Górski, Ludwik 106, 177
Index
221
Griboedov, Aleksandr 30, 49, 56, 60 Grigorovič, Dmitrij 32, 90 Gruszecki, Artur 180 Grużewski, Tadeusz 164 Gurko, Iosif 28, 55, 75, 117, 119 Gurko, Vladimir 28, 68, 75 Gusev, Nikolaj 150 Guyot 136 H Harhala, Jan 132 Harte, Francis Bret 109 Hauptmann, Gerhart 109 Haustein, Ulrich 85 Hercen, Aleksandr. Siehe Gercen, Aleksandr Heryng, Zygmunt 81, 82 Hoesick, Ferdynand 46, 76, 77, 177 Hugo, Victor 109 I Ibsen, Henrik 109 Imeretinskij, Aleksandr 42, 43, 44, 59, 68, 117, 120, 170 Istomin, Vsevolod 37, 38, 39, 40, 42, 72, 117 Ivan IV. 47 J Jabłonowski, Władysław 94, 95, 96, 138, 141, 163 Jakóbiec, Marian 15, 16, 17, 18, 132, 189, 192 Jakovlev, Aleksandr 57, 61 Jankowski, Czesław 116, 137, 149, 159, 165, 179, 180 Javorskij 30 Jellenta, Cezary 143 Jeż, T. T.. Siehe Miłkowski, Zygmunt Južin-Sumbatov, Aleksandr 56, 60
222
Index
K Kalinka, Walerian 128 Kantemir, Antioch 29 Karamzin, Nikolaj 30, 31, 78, 143 Karbasnikov, N. P. 38, 40 Kareev, Nikolaj 72, 180 Karłowicz, Jan 128 Kasprowicz, Jan 142, 168 Katkov, Michail 152 Kavelin, Konstantin 107 Kelles-Krauz, Kazimierz 87, 89, 162 Kol’cov, Aleksej 30 Koni, Anatolij 180 Konopnicka, Maria 110, 131, 180 Konstantin Konstantinovič (Großfürst) 170, 171 Korjakin, Mitrofan 156, 157 Korolenko, Vladimir 32, 49, 67, 85, 86, 90, 94, 107, 112, 115, 116, 129, 136, 142, 147 Korš, Fedor 60 Korzon, Tadeusz 177 Kościuszko, Tadeusz 186 Kotarbińska, Lucyna 128 Kovner, M. A. 38 Kožančikov, D. E. 37, 39, 42 Kozicki, Władysław 168 Krasiński, Zygmunt 121 Kraszewski, Józef Ignacy 63, 107, 110, 112, 113, 114, 121, 158 Krestovskij, Vsevolod 14, 39, 62, 63, 65, 136 Krusiński, Stanisław 83, 84 Krylov, Ivan 30, 44, 77 Krzywicki, Kazimierz 103, 104, 105, 106 Krzywicki, Ludwik 49, 81, 83, 84, 148 Kulakovskij, Platon 56 Kurbskij, Andrej 29 Kutyłowski, Bohdan 180
L Lange, Antoni 143 Lavrov, Petr 81 Lavrov, Vukol 111 Lažečnikov, Ivan 32 Łebiński, Władysław 178 Lednicki, Wacław 17, 116 Lejkin, Nikolaj 47, 48, 49, 50 Lemański, Jan 140, 143 Leont’ev, Konstantin 63 Lermontov, Michail 30, 47, 48, 77, 78, 86, 115, 135, 139, 140, 143 Leskov, Nikolaj 14, 62, 114 Leśmian, Bolesław 145, 146 Ljubarskij, I. V. 65 Loman, Dmitrij 44 Lomonosov, Michail 30, 31 Łoś, Jan 116, 179 Lubowski, Edward 180 Lutomski, Bolesław 97 Luxemburg, Rosa 85, 86, 162 M Mačtet, Grigorij 115 Majkov 32 Marchlewski, Julian 85, 86 Marx, Karl 81 Meredith, George 144 Merežkovskij, Dmitrij 155 Michajlovskij, Nikolaj 81, 87, 148 Michalak, Henryk 102 Miciński, Tadeusz 138 Mickiewicz, Adam 11, 63, 88, 89, 108, 110, 112, 115, 121, 136, 174, 175, 176, 179, 180, 184, 185, 186, 188 Miljutin, Dmitrij 24, 25 Miłkowski, Zygmunt 91, 92, 94, 111, 121, 174, 180, 182 Mill, John Stuart 122 Minskij, Nikolaj 116 Miriam. Siehe Przesmycki, Zenon
Muchanov, Sergej 72, 79 Murav’ev, Michail 41 N Nadson, Semen 115 Nalepiński, Tadeusz 138 Nazarevskij 49 Nekrasov, Nikolaj 33, 39, 67, 81, 85, 90, 94, 96, 115, 131 Nemirovič-Dančenko, Vasilij 133, 145 Neruda, Jan 109 Nikitin, Ivan 32 Nikolaj I. 153 Nikolaj II. 66, 135 Noskowski 180 Nowaczyński, Adolf 142 O Odyniec, Antoni 111 Orkan, Władysław 142, 168 Orlenev, Pavel 79, 80 Orłowski, Jan 18 Ortwin, Ostap 142 Orzeszkowa, Eliza 11, 20, 82, 107, 110, 111, 122, 123, 125, 128, 129, 130, 132, 133, 134, 137, 147, 165, 166, 180, 181, 183, 184, 187 Ostrovskij, Aleksandr 32, 33, 39, 56, 60, 94, 114, 142 Ozerov, Vladislav 30 P Pachucka, Romana 70 Palmin, Liodor 111 Pane, N. O. 172 Paustovskij, Konstantin 62 Pavliščeva-Puškina, Ol’ga 64 Pavliščev, Lev 64 Pavliščev, Nikolaj 64 Perzyński, Włodzimierz 145 Petr I. 25, 180
Index
223
Petr III. 47 Pietkiewicz, Antoni 180 Piłsudski, Józef 80, 85, 87, 89, 173, 174, 175, 193 Piltz, Erazm 45, 74, 109, 112, 115, 119, 125, 145, 158, 161, 175, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 183, 184 Pisareva, V. I. 63 Pisarev, Dmitrij 63, 81, 82, 87, 145 Pisemskij, Aleksej 32, 39, 48 Pług, Adam. Siehe Pietkiewicz, Antoni Pobedonoscev, Konstantin 154, 158 Pokrovskij, Nikolaj 144 Polonskij, Jakov 14, 111, 114, 115, 137 Pol, Wincenty 12 Popławski, Jan Ludwik 94, 95, 96, 163 Potapenko, Ignatij 32, 133 Potechin, Aleksej 56, 112 Potocki, Antoni 142 Poźniak, Telesfor 18 Prus, Bolesław 11, 12, 110, 111, 112, 113, 122, 125, 129, 130, 165, 166, 167, 180, 181, 182, 183, 184, 187, 191 Przesmycki, Zenon 138, 139, 140, 141, 143, 167, 168 Przyborowski, Walery 125, 180 Przybyszewski, Stanisław 138, 139, 140, 141, 142, 168 Ptaszycki, Stanisław 116, 179 Puškin, Aleksandr 11–12, 16, 18, 20, 25, 30, 38, 40, 44, 47–48, 64, 67, 69, 74, 78, 82, 86, 96–97, 102, 107–108, 112, 114–117, 121, 129, 132, 136–137, 143–145, 149, 161, 170–176, 179–188 Pypin, Aleksandr 108, 131 R Reymont, Władysław S. 95, 143, 181 Rimskij-Korzakov, Nikolaj 35 Rodziewiczówna, Maria 181 Rolicz-Lieder, Wacław 143
224
Index
Rostafiński, Józef 180 Ruskin, John 168 Rydel, Lucjan 181 S Saltykov-Ščedrin, Michail 33, 39, 49, 67, 81, 84, 85, 90, 94, 114, 115, 128, 129, 144, 145, 152 Savina, Marija 60 Semczuk, Antoni 18 Senigov, Iosif 44 Shakespeare, William 139 Sienkiewicz, Henryk 20, 110, 111, 113, 122, 127, 130, 132, 133, 134, 136, 150, 165, 166, 180, 181, 184 Sieroszewski, Wacław 78, 145, 146, 147, 148, 168 Štejnfinkel’ 38 Słowacki, Juliusz 121 Smorodinov, Vasilij 76 Sollogub, Vladimir 53 Solov’ev, Vladimir 107, 112, 137, 142 Sosnowski, Kazimierz 83 Spasowicz, Włodzimierz 19, 50, 62, 105, 106, 107, 108, 109, 115, 116, 158, 175, 179, 186 Spencer, Herbert 122 Staff, Leopold 110, 142 Starynkevič, Sokrates 72 Stempowski, Stanisław 144, 162 Strakun 38, 39 Strindberg, August 109 Strug, Andrzej 141, 143, 145 Studnicki, Władysław 83, 88, 89, 91, 94, 164 Suchovo-Kobylin, Aleksandr 53 Sudermann, Hermann 109 Šuvalov, Pavel 43 Suvorov, Aleksandr 186 Świętochowski, Aleksander 124, 125, 131, 145, 165, 167
Sytin, Ivan 38 Szwarc, Andrzej 101 Szymański, Adam 127, 129, 130, 147, 166 Szyszko, Tadeusz 18 T Taine, Hippolyte 128 Tetmajer, Kazimierz 110, 181 Thaden, Edward 23 Timanovskij, Andrej 65, 66 Tjutčev, Fedor 14 Tokarzewicz, Józef 116, 165 Toločanov, Arkadij 72 Tolstoj, Aleksej K. 25, 32, 47, 48, 50, 67, 94, 115, 137 Tolstoj, Dmitrij 28, 32 Tolstoj, Lev 14, 18, 20, 25, 32, 33, 39, 47, 49, 52, 67, 78, 82, 86, 89, 90, 95, 97, 111, 113, 115, 116, 129, 137, 139, 140, 141, 142, 144, 145, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 179, 193 Tretiak, Józef 116 Trochimiak, Jan 18 Turgenev, Ivan 14, 15, 16, 25, 32, 33, 39, 47, 48, 49, 65, 78, 81, 82, 84, 94, 95, 97, 107, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 121, 129, 131, 137, 139, 143, 144, 152 Tuszyńska, Agata 73 U Uspenskij, Gleb 84, 85, 86, 87, 90, 94, 145 V Vadkovskij, Antonij 157 Vejnberg, Petr 62, 63, 65 Veresaev, Vikentij 85 Vitte, Fedor 33 Vjazemskij, Petr 180 Voršev 48
W Waliszewski, Kazimierz 159 Waryński, Ludwik 82 Wasilewski, Zygmunt 94 Weyssenhoff, Józef 181 Wielopolski, Aleksander 27, 189 Wielopolski, Zygmunt 89, 106 Wiślicki, Adam 84 Witkiewicz, Stanisław 181 Wolff, Mavrikij (Maurycy) 112 Wróblewski, Augustyn 82 Wroczyński, Jan 140 Wrotnowski, Antoni 105, 106 Wrotnowski, Lucjan 176, 177, 178, 181
Index
225
Z Zagórski, Włodzimierz 181 Żakiewicz, Zbigniew 18 Zaleski, Antoni 34, 70, 73, 74 Zamojski, Adam 177 Zapolska, Gabriela 181 Zdziechowski, Marian 78, 113, 116, 160, 161, 163, 166, 179 Żeromski, Stefan 15, 73, 77, 140, 141, 143, 144, 168 Zlatovratskij, Nikolaj 33, 84 Zmaj, Jovan Jovanović 109 Zola, Émile 34 Żółkowski, Alojzy 56 Žukovskij, Vasilij 30, 67, 75, 76, 77, 115
FORUM FÜR OSTEUROPÄISCHE IDEEN- UND ZEITGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON LEONID LUKS, NIKOLAUS LOBKOWICZ, ALEXEI RYBAKOV, ANDREAS UMLAND UND GUNTHER DEHNERT
Die Zeitschrift befasst sich mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit osteuropäischer Länder. Aufsätze, die sich auf neu erschlossene Archivmaterialien stützen, und Dokumente in Originalsprache und deutscher Übersetzung bilden den Schwerpunkt des historischen Teils des »Forums«. Der ideengeschichtliche Teil widmet sich vor allem der jahrzehntelangen Suche osteuropäischer Intellektueller nach den Alternativen zur herrschenden kommunistischen Doktrin. JG. 16, HEFT 2 (2012)
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