Rom in Aufruhr: Soziale Bewegungen im Italien der 1970er Jahre [1. Aufl.] 9783839428955

In the supposedly »leaden« 1970s, Rome, viewed through a micro-historical lens, turns out to be a place of collective se

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German Pages 542 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Die Präsenz der Vergangenheit und der Stand der Forschung
2 Methodischer Ansatz
3 Aufbau und Quellengrundlage
I Das Stadtteilkomitee der Magliana
1 Prolog: Stadtentwicklung und urbane Kämpfe in Rom
1.1 Die Entstehung der „capitale abusiva“
1.2 Urbane Kämpfe im Rom der Nachkriegszeit
1.3 Die römischen Stadtteilkomitees der 1970er Jahre
2 La Magliana – „modello della speculazione“
2.1 Die Entstehung der Magliana
2.2 Die Sozialstruktur der Magliana
3 La Magliana – „modello della lotta“
3.1 Der Beginn des Kampfes und die Gründung des Stadtteilkomitees
3.2 Das Repertoire der Kampfformen des Stadtteilkomitees
3.2.1 Die direkten Aktionsformen des Stadtteilkomitees
3.2.1.1 Autoriduzione
3.2.1.2 Picchettaggio
3.2.1.3 Besetzungen
3.2.1.4 Mercati rossi
3.2.1.5 Feste
3.2.1.6 Bildungsinitiativen
3.2.2 Die indirekten Aktionsformen des Stadtteilkomitees
3.2.2.1 Dialog und Konflikt mit der Stadtverwaltung
3.2.2.2 Juristische Auseinandersetzung und öffentliche Meinung
3.3 Hegemoniekämpfe in der Magliana
3.3.1 Der ‚Pamphletkrieg‘ vom April 1972
3.3.2 Abgrenzung im politischen Alltag
3.3.3 Formen der Zusammenarbeit
3.4 Epilog: Die Konjunkturen des Stadtteilkampfes und sein Ende
4 Fazit
4.1 Klassenkonstitution und ‚moralische Ökonomie‘ in der Magliana
4.2 Das Ende der Ära der Stadtteilkomitees
II „La lotta per la casa“: Der Besetzungszyklus 1973/74
1 Vorgeschichte: San Basilio – eine römische borgata
1.1 Entstehung und Entwicklung von San Basilio
1.2 Soziale Kämpfe in San Basilio
2 Der Besetzungszyklus 1973/4
2.1 November 1973 – Auftakt des Besetzungszyklus
2.1.1 Startschuss in San Basilio
2.1.2 Fortsetzung in der Magliana
2.1.3 Ausnahmezustand auf Dauer gestellt
2.1.4 Lokale Verankerung als Ziel
2.1.5 Öffentlichkeitsarbeit und Schneeballeffekt
2.1.6 Den Alltag organisieren
2.1.7 Verbreiterung des Kampfes
2.2 Februar 1974 – Höhepunkt des Besetzungszyklus
2.2.1 Klimax
2.2.2 Akteure und Politikstile
2.2.3 Repression
2.3 September 1974 – Schlusspunkt des Besetzungszyklus
2.3.1 Chronologie der Ereignisse
2.3.1.1 „La battaglia di San Basilio“
2.3.1.2 Nach der Schlacht
2.3.2 Akteure und Motive
2.3.2.1 Die Besetzerfamilien
2.3.2.2 Die Bevölkerung von San Basilio
2.3.2.3 Die politischen Aktivisten
2.3.3 Praktische Logik und Klassenkonstitution
2.3.4 Exkurs: Hypothesen zur Schießerei vom 8. September 1974
2.4 Epilog: Via Pescaglia 93 – eine Besetzung besteht weiter
2.4.1 Stadtteilpolitik
2.4.2 Die politische Ausrichtung der Besetzung
2.4.3 Rekomposition der Besetzergemeinschaft
3 Fazit: Der Besetzungszyklus 1973/4 im Kontext der 1970er Jahre
III Die Bewegung von 1977
1 1977 – Anfänge einer Bewegung
1.1 Der 20. Juni 1976 und die neue Jugendbewegung
1.2 Zeitenwende: Parco Lambro 1976
2 1977 in Rom
2.1 Konstituierung
2.1.1 Studentenproteste und faschistische Aggression
2.1.2 Militanter Antifaschismus und Konfrontation mit der Staatsgewalt
2.1.3 Eine Bewegung entsteht
2.1.4 Raumaneignung und Hegemoniekampf
2.1.5 Die Campus-Besetzung als Problem der öffentlichen Ordnung
2.1.6 Das ‚Neue‘ einer Bewegung
2.1.7 Vorspiel: Kampf um den Campus
2.2 Radikalisierung
2.2.1 17. Februar: Der Kampf um den Campus
2.2.2 Deutungskampf und Bewegungsalltag jenseits des Campus
2.2.3 Die nationale Bewegungsversammlung vom Februar 1977
2.2.4 Zurück auf dem Campus – und in der Stadt
2.2.5 „Panzieri Libero!“
2.3 Eskalation
2.3.1 Der Tod Lorussos und die nationale Demonstration vom 12. März
2.3.2 Reaktionen und Reflexionen
2.3.3 Zurück auf dem Campus
2.3.4 Zweierlei Generalstreiks
2.3.5 ‚Indianische‘ Agitation und österliche Ruhe
2.3.6 21. April: Die Räumung des Campus und der Tod Passamontis
2.3.7 Risse in der Bewegung
2.3.8 Die Aktionseinheit zerbricht
2.3.9 12. Mai: Rom im Ausnahmezustand und der Tod Giorgiana Masis
2.4 Epilog: Vom langen Ende einer Bewegung
2.4.1 Eskalation und Ermüdung
2.4.2 Zwischenspiele
2.4.3 Römische Realitäten
2.4.4 Spaltung und Repression
2.4.5 Nach der Bewegung von 1977
3 Fazit
3.1 1977 in Rom
3.2 1977 in der italienischen Geschichte
IV Die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik 1978
1 Die Basiskämpfe an der römischen Poliklinik
1.1 Die Entstehung des Collettivo Policlinico
1.2 Etappen des Basiskampfes an der Poliklinik
1.2.1 Der Kampf um die ‚Regionalisierung‘ des Klinikpersonals
1.2.2 Der Kampf für eine Kinderkrippe in der Poliklinik
1.2.3 Der Kampf für Arbeitszeitreduktion und mehr Personal
1.3 Die Logik des autonomen Betriebskampfes
2 Die feministische Beratungsstelle von San Lorenzo
2.1 Die Anfänge der feministischen Bewegung in Italien und in Rom
2.2 Körperpolitik und Abtreibungsverbot
2.3 Die römische Kampagne gegen das Abtreibungsverbot
2.4 Entstehung und Arbeit der Beratungsstelle in San Lorenzo
2.4.1 Anfänge der feministischen Stadtteilintervention von San Lorenzo
2.4.2 Struktur und Verankerung der Beratungsstelle
2.4.3 Die Alltagspraxis der Beratungsstelle
2.5 Perspektiven und Probleme der Beratungsstelle
3 Der Kampf um das Abtreibungsrecht an der Poliklinik
3.1 Die Verabschiedung des Abtreibungsgesetzes
3.2 Die feministische Intervention an der Poliklinik
3.2.1 Anfänge der Intervention
3.2.2 Basiskampf gegen den Boykott des Abtreibungsgesetzes
3.3 Die selbstverwaltete Abtreibungsabteilung an der Poliklinik
3.3.1 Die Besetzung
3.3.2 Akteure und Ziele
3.3.3 Mediales Echo und politische Reaktionen
3.3.4 Polizeiintervention
3.3.5 Besetzungsalltag und Konflikte der beteiligten Akteure
3.3.6 Die Zuspitzung der Polemik
3.3.7 Das Ende der Besetzung
4 Fazit: Von der praktischen Logik der politischen (Zusammen-)Arbeit
Fazit
Anhang
1 Abkürzungsverzeichnis
2 Abbildungsverzeichnis
3 Quellen- und Literaturverzeichnis
3.1 Archivarische Quellen
3.2 Interviews
3.3 Zeitungen und Zeitschriften
3.4 Literatur und Internetseiten
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Rom in Aufruhr: Soziale Bewegungen im Italien der 1970er Jahre [1. Aufl.]
 9783839428955

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Mathias Heigl Rom in Aufruhr

Histoire | Band 74

2014-12-15 17-00-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0224385065455434|(S.

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4) TIT2895.p 385065455442

Mathias Heigl (MA) lebt und arbeitet in München.

2014-12-15 17-00-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0224385065455434|(S.

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4) TIT2895.p 385065455442

Mathias Heigl

Rom in Aufruhr Soziale Bewegungen im Italien der 1970er Jahre

2014-12-15 17-00-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0224385065455434|(S.

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4) TIT2895.p 385065455442

Die Promotion wurde gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung und das Deutsche Historische Institut Rom. Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Rom 1977, © Tano D’Amico Satz: Sandra Tamas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2895-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2895-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-12-15 17-00-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0224385065455434|(S.

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4) TIT2895.p 385065455442

Inhalt Einleitung 1 Die Präsenz der Vergangenheit und der Stand der Forschung 2 Methodischer Ansatz 3 Aufbau und Quellengrundlage

13 22 32

I Das Stadtteilkomitee der Magliana 1 Prolog: Stadtentwicklung und urbane Kämpfe in Rom 1.1 Die Entstehung der „capitale abusiva“ 1.2 Urbane Kämpfe im Rom der Nachkriegszeit 1.3 Die römischen Stadtteilkomitees der 1970er Jahre

39 40 43 48

2 La Magliana – „modello della speculazione“ 2.1 Die Entstehung der Magliana 2.2 Die Sozialstruktur der Magliana

52 52 57

3 La Magliana – „modello della lotta“ 3.1 Der Beginn des Kampfes und die Gründung des Stadtteilkomitees 3.2 Das Repertoire der Kampfformen des Stadtteilkomitees 3.2.1 Die direkten Aktionsformen des Stadtteilkomitees 3.2.1.1 Autoriduzione 3.2.1.2 Picchettaggio 3.2.1.3 Besetzungen 3.2.1.4 Mercati rossi 3.2.1.5 Feste 3.2.1.6 Bildungsinitiativen 3.2.2 Die indirekten Aktionsformen des Stadtteilkomitees 3.2.2.1 Dialog und Konflikt mit der Stadtverwaltung 3.2.2.2 Juristische Auseinandersetzung und öffentliche Meinung 3.3 Hegemoniekämpfe in der Magliana 3.3.1 Der ‚Pamphletkrieg‘ vom April 1972 3.3.2 Abgrenzung im politischen Alltag 3.3.3 Formen der Zusammenarbeit

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3.4 Epilog: Die Konjunkturen des Stadtteilkampfes und sein Ende

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4 Fazit 4.1 Klassenkonstitution und ‚moralische Ökonomie‘ in der Magliana 4.2 Das Ende der Ära der Stadtteilkomitees

131 131 137

II „La lotta per la casa“: Der Besetzungszyklus 1973/74 1 Vorgeschichte: San Basilio – eine römische borgata 1.1 Entstehung und Entwicklung von San Basilio 1.2 Soziale Kämpfe in San Basilio

142 142 146

2 Der Besetzungszyklus 1973/4 2.1 November 1973 – Auftakt des Besetzungszyklus 2.1.1 Startschuss in San Basilio 2.1.2 Fortsetzung in der Magliana 2.1.3 Ausnahmezustand auf Dauer gestellt 2.1.4 Lokale Verankerung als Ziel 2.1.5 Öffentlichkeitsarbeit und Schneeballeffekt 2.1.6 Den Alltag organisieren 2.1.7 Verbreiterung des Kampfes 2.2 Februar 1974 – Höhepunkt des Besetzungszyklus 2.2.1 Klimax 2.2.2 Akteure und Politikstile 2.2.3 Repression 2.3 September 1974 – Schlusspunkt des Besetzungszyklus 2.3.1 Chronologie der Ereignisse 2.3.1.1 „La battaglia di San Basilio“ 2.3.1.2 Nach der Schlacht 2.3.2 Akteure und Motive 2.3.2.1 Die Besetzerfamilien 2.3.2.2 Die Bevölkerung von San Basilio 2.3.2.3 Die politischen Aktivisten 2.3.3 Praktische Logik und Klassenkonstitution 2.3.4 Exkurs: Hypothesen zur Schießerei vom 8. September 1974 2.4 Epilog: Via Pescaglia 93 – eine Besetzung besteht weiter 2.4.1 Stadtteilpolitik 2.4.2 Die politische Ausrichtung der Besetzung 2.4.3 Rekomposition der Besetzergemeinschaft

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3 Fazit: Der Besetzungszyklus 1973/4 im Kontext der 1970er Jahre

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III Die Bewegung von 1977 1 1977 – Anfänge einer Bewegung 1.1 Der 20. Juni 1976 und die neue Jugendbewegung 1.2 Zeitenwende: Parco Lambro 1976

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2 1977 in Rom 2.1 Konstituierung 2.1.1 Studentenproteste und faschistische Aggression 2.1.2 Militanter Antifaschismus und Konfrontation mit der Staatsgewalt 2.1.3 Eine Bewegung entsteht 2.1.4 Raumaneignung und Hegemoniekampf 2.1.5 Die Campus-Besetzung als Problem der öffentlichen Ordnung 2.1.6 Das ‚Neue‘ einer Bewegung 2.1.7 Vorspiel: Kampf um den Campus 2.2 Radikalisierung 2.2.1 17. Februar: Der Kampf um den Campus 2.2.2 Deutungskampf und Bewegungsalltag jenseits des Campus 2.2.3 Die nationale Bewegungsversammlung vom Februar 1977 2.2.4 Zurück auf dem Campus – und in der Stadt 2.2.5 „Panzieri Libero!“ 2.3 Eskalation 2.3.1 Der Tod Lorussos und die nationale Demonstration vom 12. März 2.3.2 Reaktionen und Reflexionen 2.3.3 Zurück auf dem Campus 2.3.4 Zweierlei Generalstreiks 2.3.5 ‚Indianische‘ Agitation und österliche Ruhe 2.3.6 21. April: Die Räumung des Campus und der Tod Passamontis 2.3.7 Risse in der Bewegung 2.3.8 Die Aktionseinheit zerbricht 2.3.9 12. Mai: Rom im Ausnahmezustand und der Tod Giorgiana Masis 2.4 Epilog: Vom langen Ende einer Bewegung 2.4.1 Eskalation und Ermüdung 2.4.2 Zwischenspiele 2.4.3 Römische Realitäten 2.4.4 Spaltung und Repression 2.4.5 Nach der Bewegung von 1977

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3 Fazit 3.1 1977 in Rom 3.2 1977 in der italienischen Geschichte

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IV Die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik 1978 1 Die Basiskämpfe an der römischen Poliklinik 1.1 Die Entstehung des Collettivo Policlinico 1.2 Etappen des Basiskampfes an der Poliklinik 1.2.1 Der Kampf um die ‚Regionalisierung‘ des Klinikpersonals 1.2.2 Der Kampf für eine Kinderkrippe in der Poliklinik 1.2.3 Der Kampf für Arbeitszeitreduktion und mehr Personal 1.3 Die Logik des autonomen Betriebskampfes

379 379 382 382 393 398 405

2 Die feministische Beratungsstelle von San Lorenzo 2.1 Die Anfänge der feministischen Bewegung in Italien und in Rom 2.2 Körperpolitik und Abtreibungsverbot 2.3 Die römische Kampagne gegen das Abtreibungsverbot 2.4 Entstehung und Arbeit der Beratungsstelle in San Lorenzo 2.4.1 Anfänge der feministischen Stadtteilintervention von San Lorenzo 2.4.2 Struktur und Verankerung der Beratungsstelle 2.4.3 Die Alltagspraxis der Beratungsstelle 2.5 Perspektiven und Probleme der Beratungsstelle

407 407 412 414 421

3 Der Kampf um das Abtreibungsrecht an der Poliklinik 3.1 Die Verabschiedung des Abtreibungsgesetzes 3.2 Die feministische Intervention an der Poliklinik 3.2.1 Anfänge der Intervention 3.2.2 Basiskampf gegen den Boykott des Abtreibungsgesetzes 3.3 Die selbstverwaltete Abtreibungsabteilung an der Poliklinik 3.3.1 Die Besetzung 3.3.2 Akteure und Ziele 3.3.3 Mediales Echo und politische Reaktionen 3.3.4 Polizeiintervention 3.3.5 Besetzungsalltag und Konflikte der beteiligten Akteure 3.3.6 Die Zuspitzung der Polemik 3.3.7 Das Ende der Besetzung

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4 Fazit: Von der praktischen Logik der politischen (Zusammen-)Arbeit

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Fazit

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Anhang 1 Abkürzungsverzeichnis

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2 Abbildungsverzeichnis

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3 Quellen- und Literaturverzeichnis 3.1 Archivarische Quellen 3.2 Interviews 3.3 Zeitungen und Zeitschriften 3.4 Literatur und Internetseiten

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Danksagung

Sowohl die Forschung zur vorliegenden Studie als auch ihre Drucklegung waren nur dank der Förderung durch die Hans-Böckler-Stiftung möglich. Drei Forschungsaufenthalte in Rom wurden durch das Deutsche Historische Institut Rom großzügig unterstützt. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich Martin Baumeister für seine Ermutigung und seine stets konstruktive und anregende Betreuung des Projekts. Lutz Klinkhammer, Petra Terhoeven, Sven Reichardt, Lutz Raphael und Thomas Mergel eröffneten mir die Möglichkeit, Ergebnisse meiner Untersuchung an verschiedenen Orten vorzustellen und zu diskutieren. Vorrei ringraziare tutti quelli che mi hanno aiutato con le ricerche per questo libro: sopratutto Graziella Bastelli, Edda Billi, Domenico Cecchini, Maurizio Cesarini, Tano D’Amico, Roberto De Angelis, Franco De Martis, Marco Grispigni, Liliana Ingargiola, Vincenzo Miliucci, Franco Moretti, Bruno Papale, Daniele Pifano, Aldo Polido, Irma Staderini, Guido Tufariello, Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini, Silvia Tozzi, Roberta Sibbio che sono stati pronti a parlare del loro passato con un’estraneo. Queste interviste sono stati i momenti più preziosi della mia ricerca. Roberta dell’IRSIFAR, Luigi, Andrea e Fabrizio della Libreria Anomalia, Gabriele del CSOA Macchia Rossa e Mila e Giovanna dell’Archivia della Casa Internazionale delle Donne mi hanno aiutato in tutte le maniere. Alfredo Toppi ha messo a disposizione le sue fotografie della Magliana. Un ringraziamento particolare a Tano D’Amico per le sue splendide fotografie che sono le più belle testimonianze dell’epoca. E chiaramente vorrei ringraziare Valentina, con la quale ho imparato l’italiano e scoperto Roma. Für ihre Hilfe bei der Endkorrektur, beim Layout und der Drucklegung möchte ich Filippo Cosenza, Sandra Tamas sowie Johanna Tönsing und Gero Wierichs vom transcript Verlag danken. Während der vierjährigen Arbeit an diesem Buch fristete ich kein Leben als akademischer Eremit. Mein Umfeld musste viel ertragen: chronischen Zeitmangel und gerade in der Schlussphase einen zunehmenden Tunnelblick auf die Arbeit. Deshalb möchte ich mich bedanken bei meiner Familie für ihre vielfältige Unterstützung, bei der WG mit Kathl, Maria, Julie, Benni, Daniel und Tom für viele gemeinsame Jahre, für eure Hilfe und für Freundschaften, die bleiben; bei Sven, Dani und Christoph, die immer ein offenes Ohr hatten und auch mal für die nötige Ablenkung sorgten. Ganz besonders möchte ich Korinna danken, für ihre Geduld und ihren Humor, für ihre Anregungen und die praktische Unterstützung – wie schön, dass wir in Athen denselben Bus bestiegen haben.

Einleitung

1 DIE PRÄSENZ DER VERGANGENHEIT UND DER STAND DER FORSCHUNG Als es am 14. Dezember 2010 im Zuge von Studentenprotesten zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten1 und Sicherheitskräften auf der Piazza del Popolo im Herzen Roms kam, lag für viele Kommentatoren der Vergleich mit den Ausschreitungen des Jahres 1977 auf der Hand: „Roma è ripiombata nelle plumbee atmosfere degli anni ’70.“2 Tatsächlich war eine Reihe von Ähnlichkeiten kaum zu übersehen: Am 12. März 1977 war es am gleichen Ort zu heftigen Krawallen gekommen. Wie im Jahr 1977 handelte es sich beim Gros der Protestierer auch 2010 um Studenten, die gegen eine Universitätsreform auf die Straße gingen. Wie 1977 verbanden sich auch 2010 die bildungspolitischen Forderungen der Protestierenden mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung der amtierenden Rechtsregierung, gegen die sich trotz Skandalen und Wirtschaftskrise keine glaubwürdige und handlungsfähige parlamentarische Opposition formierte. Angesichts ausgebrannter Autos und eingeschlagener Schaufensterscheiben wurde allerdings weniger auf die realen Ähnlichkeiten und die signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Ereignissen,3 ihren jeweiligen Akteuren und den gesellschaftlichen Kontexten eingegangen, sondern vielmehr alarmistisch auf die ‚bleiernen Jahre‘4 verwiesen: „Roma è stata sfregiata come non accadeva dal ’77, dai terribili anni di piombo.“5

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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Gianni Sammarco, Koordinator des römischen Popolo della Libertà (‚Volk der Freiheit‘, Partei Silvio Berlusconis) zitiert nach: La Repubblica vom 15.12.2010, S. 1. „Rom ist in die bleierne Atmosphäre der ’70er Jahre zurückgefallen.“ Der Verweis auf die 1970er Jahre war keineswegs auf die Politiker der Rechtsregierung beschränkt, sondern auch in regierungskritischen Blättern wie La Repubblica omnipräsent, vgl. La Repubblica vom 15.12.2010, S.1. Am Abend des 12.3.1977 hatten sich auf der Piazza del Popolo Demonstranten und die Polizei Schusswechsel geliefert. Von einer derartigen Eskalation konnte am 14.12.2010 keine Rede sein. Der Begriff ‚anni di piombo‘ (‚bleierne Jahre‘) stellt eine Übertragung ins Italienische des Titels von Margarethe von Trottas Film ‚Die bleierne Zeit‘ (1981) dar, der sich an die Biographien von Christiane und Gudrun Ensslin anlehnt. Der vage Terminus bezeichnet die

14 | R OM IN A UFRUHR

Interpretationen wie die vom Dezember 2010 machen exemplarisch deutlich, dass die Erinnerung an den ausnehmend heftigen und langen Zyklus sozialer Kämpfe6, den Italien in der Dekade ab 1968 erlebte, fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Assoziationen an die bewegten 1970er Jahre schreiben sich immer wieder aufs Neue in die Wahrnehmungen der italienischen Gegenwart ein. Allerdings bleibt die kollektive Erinnerung häufig auf einige wenige dramatische – und zumeist blutige – Ereignisse und eindrückliche Schlagworte der Dekade beschränkt.7 Doch nicht nur die Erinnerung der italienischen Öffentlichkeit erscheint fragmentarisch, auch die wissenschaftliche Aufarbeitung des italienischen Bewegungszyklus ab 1968 ist keineswegs abgeschlossen. Die Folge ist auch hier eine oft verzerrte Wahrnehmung: „Die geläufige Gleichsetzung der 1970er Jahre mit der ‚bleiernen Zeit‘ muss […] auch auf den ungenügenden Stand der historischen Verarbeitung zurückgeführt werden.“8 Neuere Gesamtdarstellungen der italienischen Nachkriegsgeschichte legen zwar durchaus ein besonderes Augenmerk auf die sozialen Bewegungen9 und groß angelegte Reihen widmen den Jahren des Bewegungszyklus eigene

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Phase der eskalierenden politischen Konfliktualität und des Terrorismus in den (späten) 1970er und frühen 1980er Jahren, vgl. Marica Tolomelli (2009): Jenseits von ‚Spaghetti und Revolvern‘. Italienische Verhältnisse in den 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 35, S. 429-457, hier: S. 429. Corriere della Sera vom 15.12.2010, S. 1. „Rom wurde verunstaltet wie seit ’77 nicht mehr, seit den schrecklichen bleiernen Jahren.“ Für einen kritischen Kommentar, der aber ebenfalls an der These festhält, die Auseinandersetzungen vom 14.12.2010 markierten die Rückkehr einer „stagione di violenza“ („Periode der Gewalt“), vgl. La Repubblica vom 15.12.2010, S. 1. Tarrow entwickelte seinen Begriff des ‚cycle of protest‘ in seiner Studie zur Bewegungsdekade in Italien, die ihm zufolge die Jahre 1965 bis 1975 umfasste, vgl. Sidney Tarrow (1989): Democracy and Disorder. Protest and Politics in Italy 1965-1975. Oxford u.a., S. 3ff. Die in dieser Arbeit verwendete Periodisierung des Bewegungszyklus, die das Jahrzehnt von 1968 bis 1978 umfasst, wurde unter anderem von Robert Lumley vertreten, vgl. Robert Lumley (1990): States of Emergency. Cultures of Revolt in Italy from 1968 to 1978, London/New York. Für eine umfassendere Diskussion des Zyklus-Begriffs vgl. Sidney Tarrow (2011): Power in Movement. Social Movements and Contentious Politics. 3. Aufl. Cambridge u.a., S. 195-214. Giovanni Moro spricht von ‚Pathologien der Erinnerung‘ im Hinblick auf die 1970er Jahre, vgl. Giovanni Moro (2007): Anni Settanta. Turin, S. 11-24. Tolomelli (2009), S. 431. Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht definieren ‚soziale Bewegung‘ als „[…] an organized and sustained effort of a collectivity of inter-related individuals, groups and organizations to promote or to resist social change with the use of public protest activities.“, vgl. Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht (1991): The Analysis of Social Movements: The State of the Art and some Perspectives for Further Research, in: Dieter Rucht (Hg.): Research on Social Movements, Frankfurt a. M., S. 421-464, hier: S. 450. Ähnlich lautet Raschkes Defintion: „Soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifi-

E INLEITUNG

| 15

Bände.10 Doch können derartige Darstellungen nur auf dem Fundament breit gestreuter empirischer Detailstudien zu einer umfassenden Einordnung der Bewegungsdekade gelangen. Eine solche empirische Fundierung durch Studien, die sich der Darstellung und Analyse spezifischer Aspekte und Phasen des Bewegungszyklus verschreiben, ist bislang allerdings nur partiell möglich, da die sozialen Bewegungen keineswegs umfassend untersucht sind.11 Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Forschungsstand im Hinblick auf den Bewegungszyklus ab 1968 als uneinheitlich. Hinsichtlich der ersten Jahre des Bewegungszyklus ist die Forschung inzwischen große Schritte vorangekommen: Neben zahlreichen, zumeist autobiographisch gefärbten Darstellungen von ehemaligen Aktivisten der Studentenbewegung12 ist die frühe Phase der Studentenproteste sowie das Übergreifen der studentischen Agitation auf die großen Fabriken mittlerweile auch zum Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden.13

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kation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.“, vgl. Joachim Raschke (1991): Zum Begriff der sozialen Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 3139, hier: S. 32f. Vgl. Guido Crainz: Il paese mancato. Dal miracolo economico agli anni ottanta. Rom 2003; Piero Craveri (2007): Dalla contestazione agli anni di piombo (= Italia storia contemporanea Bd. 6). Novara. Allerdings nehmen in Caveris Darstellung, die die Jahre 1968 bis 1978 umfasst, die sozialen Bewegungen eine weit weniger bedeutende Rolle ein, als der Titel vermuten lässt. Barbara Armani (2005): Italia anni settanta. Movimenti, violenza politica e lotta armata tra memoria e rappresentazione storiografica, in: Storica 32, S. 41-82, hier: S. 41. Vgl. z.B. Guido Viale (1978): Il Sessantotto. Tra rivoluzione e restaurazione. Mailand; Oreste Scalzone (1988): Biennio rosso. Figure e passaggi di una stagione rivoluzionaria. Mailand; Roberto Massari (1998): Il ’68. Come e perché. Bolsena. Vgl. Diego Giachetti (1997): Il giorno più lungo. La rivolta di Corso Traiano. Torino 3 luglio 1969. Pisa. Diego Giachetti/Marco Scavino (1999): La Fiat in Mano agli operai. l’autunno caldo del 1969. Pisa; Jan Kurz (2001): Die Universität auf der Piazza. Entstehung und Zerfall der Studentenbewegung in Italien 1966-1968, Köln; Giuseppe Carlo Marino (2004): Biografia del Sessantotto. Utopie, Conquiste, Sbandamenti. Mailand. Für Darstellungen des italienischen ’68 im internationalen Kontext bzw. in transnationaler Vergleichsperspektive vgl. Marica Tolomelli (2001): ‚Repressiv getrennt‘ oder ‚organisch verbündet‘. Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Opladen; Marcello Flores/Alberto De Bernardi (2003): Il Sessantotto. Bologna. Ebenso der kurze Überblick: Marica Tolomelli (2008): Il Sessantotto. Una breve storia. Rom. Für einen Überblick über die europäische Forschung zu 1968 vgl. Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.) (2008): 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956-1977, New York. Für einen internationalen Literaturüberblick und eine Einführung in die aktuellen Forschungstendenzen vgl. Patrick Bernhard/Anne Rohstock (2008): Writing about the ‚Revolution‘. Nuovi studi internazionali sul movimento del ’68, in: Ricerche di Storia Politica 2, S. 177-192.

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Noch weitaus größere Aufmerksamkeit wird den ‚bleiernen Jahren‘ gegen Ende des italienischen Bewegungszyklus zuteil. Eine kaum zu überblickende Anzahl von Erinnerungen und Biographien ehemaliger Protagonisten des bewaffneten Kampfes sowie eine große und rasch wachsende Zahl zumeist journalistischer Rekonstruktionen der Konfrontation zwischen den bewaffneten Gruppen und dem italienischen Staat stehen zur Verfügung. Neben diesen Darstellungen, denen alle Vor- und Nachteile der Memorialistik bzw. der journalistischen Erzählung zueigen sind, steht eine wachsende Zahl von Arbeiten der wissenschaftlichen Terrorismusforschung, die sich dem Phänomen zum Teil in Form transnationaler Vergleichsstudien nähern. 14 Die Anzahl der Versuche, die Geschichte der italienischen Bewegungsdekade als Ganze darzustellen, bleibt hingehen überschaubar. Zudem legen die existierenden Darstellungen des italienischen Bewegungszyklus‘ ähnlich wie die entsprechenden Abschnitte in den Gesamtdarstellungen der italienischen Nachkriegsgeschichte ihre Schwerpunkte gewöhnlich auf die frühen Jahre des Bewegungszyklus und/oder die spektakuläre Bewegung von 1977 und die eskalierende politische Gewalt der späten 1970er Jahre.15 Hinzu kommt eine Reihe von interpretierenden Darstellungen, die sich um einen zusammenfassenden Erklärungsansatz bemühen, dabei aber weitgehend auf darstellende Anteile verzichten.16

14 Vgl. Tobias Hof (2011): Staat und Terrorismus in Italien 1969-1982. München. Als transnationaler Vergleich sind folgende Untersuchungen angelegt: Marica Tolomelli (2006): Terrorismo e società. Il pubblico dibattito in Italia e in Germania negli anni Settanta. Bologna. Ebenso folgender Sammelband: Johannes Hürter/Gian Enrico Rusconi (Hg.) (2010): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969-1982. München. Donatella Della Portas Vergleichsstudie untersucht die Entstehung politischer Gewalt im Kontext von sozialen Bewegungen und bewaffneten Gruppen in Deutschland und Italien: Donatella Della Porta (1995): Social movements, political violence and the state: a comparative analysis of Italy and Germany. Cambridge. Für einen Überblick über die italienische Forschung im europäischen Kontext vgl. Sven Reichardt (2010): Nuove prospettive sul terrorismo europeo degli anni Settanta e Ottanta, in: Ricerche si storia politica 3, S. 343-366, hier v.a. S. 346f. Für einen Überblick über die Forschung zu Italien und Deutschland vgl. Klaus Weinhauer (2010): Linksterrorismus der 1970er Jahre. Ein Literaturbericht zur Bundesrepublik Deutschland und zu Italien, in: Johannes Hürter/Gian Enrico Rusconi (Hg.): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969-1982. München, 117-125. 15 Vgl. Lumley (1990); Diego Giachetti (1998): Oltre il sessantotto. Prima, durante e dopo il movimento, Pisa. Einen Versuch, die Bewegungsgewalt der mittleren und späten 1970er Jahre umfassend zu untersuchen, liefert: Silvia Casilio (2005): ‚Il cielo è caduto sulla terra!‘ Politica e violenza politica nell’estrema sinistra in Italia (1974-1979). Rom. Die immer noch beste Gesamtdarstellung aus Aktivistenhand bietet: Primo Moroni/Nanni Balestrini (1988): L’orda d’oro. Mailand. Vgl. auch den Sammelband: Nicoletta Fasano/Mario Renosio (Hg.) (2002): I Giovani e la politica: Il lungo ’68. Turin. 16 Vgl. z.B. Marco Revelli (1995): Movimenti sociali e spazio politico, in: Francesco Barbagallo u.a. (Hg.): Storia dell’Italia repubblicana. Teil 2. La trasformazione dell’Italia: svilupppo e squilibri. Bd. II Istituzioni, movimenti, culture. Turin. S. 385 – 476. Für eine interpretierende Zusammenfassung der Bewegungen in Italien, Deutschland und Frank-

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Wissenschaftliche Studien hingegen, die gerade die mittleren Bewegungsjahre detailliert in den Blick nehmen, sind rar.17 So droht eine zweigeteilte Erzählung zu entstehen: auf der einen Seite der emanzipatorische Aufbruch der späten 1960er Jahre, der vor allem in seiner massenmedialen Repräsentation zuweilen entpolitisiert und als kulturelles Happenig verharmlost wird,18 auf der anderen Seite die finstere Ära der ‚bleiernen Jahre‘ gegen Ende der 1970er Jahre.19 Die frühen und mittleren 1970er Jahre bleiben den kursorischen Überblicken der Gesamtdarstellungen überlassen und erscheinen oft nur als Inkubationsphase der ‚bleiernen Jahre‘, die am Ende des Jahrzehnts stehen.20 Marica Tolomelli beklagt deshalb zurecht, ein ganze Dekade der italienischen Geschichte verschwinde hinter einer Chiffre: „Das Schlagwort ‚bleierne Zeit‘ […] hat das gesamte Jahrzehnt scheinbar in einer derart irreversiblen Weise geprägt, dass ein ‚bleierner‘ Schleier die komplexen Dynamiken und die soziale Lebendigkeit dieses Jahrzehnts kaum noch in Erscheinung treten lässt.“21 Ähnlich argumentiert Giovanni Moro, der die gesellschaftliche Partizipation – ob im bewegungsförmigen oder institutionellen Rahmen – als oft unterschätztes Schlüsselcharakteristikum der Dekade hervorhebt.22

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reich vgl. Marica Tolomelli (2002): Movimenti collettivi nell’europa di fine anni ’60. Guida allo studio dei movimenti in Italia, Germania, Francia. Bologna. Vgl. z.B. Giovanni De Luna (2009): Le ragioni di un decennio. 1969-1979. Militanza, violenza, sconfitta memoria. Mailand. Es ist kein Zufall, dass De Lunas Darstellung der 1970er Jahre als Bewegungsdekade stark auf die außerparlamentarische Gruppe Lotta Continua zentriert ist. De Luna steht damit zumindest partiell in der Tradition der meist aus der Hand ehemaliger Aktivisten oder Journalisten stammender Darstellungen über einzelne außerparlamentarischen Organisationen, in denen die frühen und mittleren 1970er Jahre als Hochphase dieser Gruppen ausführlich behandelt werden, vgl. z.B. Luigi Bobbio (1988): Storia di Lotta Continua, Mailand; Aldo Cazzullo (1998): I ragazzi che volevano fare la rivoluzione. 1968-1978 storia di Lotta Continua. Mailand. Aldo Grandi (2003): La generazione degli anni perduti. Storie di Potere Operaio. Turin. Vgl. Giachetti (1997), S. 7ff.; Marco Grispigni (2002): Note per una storia da fare: Stagione dei movimenti in Italia, in: Nicoletta Fasano/Mario Renosio (Hg.) (2002): I Giovani e la politica: Il lungo ’68. Turin, S. 5-17, hier: S. 6. Vgl. Armani (2005), S. 43ff. Eine Ausnahme bildet hierbei die Bewegung von 1977, der durchaus eine Reihe von Darstellungen gewidmet ist, die zumeist allerdings eher essayistisch-interpretatorischen Charakter haben, vgl. z.B. Marco Grispigni (1997): Il Settantasetta. Un manuale per capire. Un saggio per riflettere. Mailand; Silvia Casilio/Marco Paolucci (2005): ’77: spazi occupati, spazi liberati. Ancona. Eine ‚oral-history‘ des römischen 1977 bietet: Claudio Del Bello (Hg.) (1997): Una sparatoria tranquilla. Per una storia orale del ’77. Rom. Eine Reihe interessanter Aufsätze finden sich in: Quaderno di storia contemporanea 42 (2007). Aus Aktivistensicht: Sergio Bianchi (Hg.) (1997): Settantasette. La rivoluzione che viene. Rom. Eine journalistische Darstellung bietet: Stefano Cappellini (2007): Rose e Pistole. 1977. Cronache di un anno vissuto con rabbia. Mailand. Marica Tolomelli (2009), S. 429. Vgl. Moro (2007), S. 33ff.

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Ausgehend von diesen Überlegungen soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen werden, die italienischen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre als Sujet sui generis in den Blick zu nehmen, das sich nicht auf ein Übergangsphänomen zwischen 1968/9 und den ‚bleiernen Jahren‘ reduzieren lässt. Damit gliedert sich die vorliegende Untersuchung in die wachsende Forschung zu den 1970er Jahren ein.23 Die Dekade kann dabei als Beginn einer Ära interpretiert werden, die einen „Strukturbruch“ einleitete, der „[…] sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich gebracht hat […]“24 und in den die sozialen Bewegungen und das mit ihnen eng verbundene ‚alternative Milieu‘25 als wesentliche gesellschaftliche ‚Gegenkräfte‘ eingebunden waren.26 Die mangelnde Untersuchung der mittleren Phase des italienischen Bewegungszyklus von etwa 1970 bis 1976 korrespondiert mit einer unzureichenden Wahrnehmung bestimmter Akteursgruppen und spezifischer Räume. Der Bewegungszyklus, der Italien zwischen 1968 und etwa 1978 erschütterte, lässt sich in Hinblick auf seine jeweiligen Protagonisten in mehrere Phasen gliedern. Nachdem die ersten Jahre nach 1968 zunächst von der Studentenbewegung und anschließend von den Kämpfen einer vor allem im Norden starken Industriearbeiterschaft geprägt waren, präsentierte sich das Feld der Bewegungsakteure schon bald weit weniger übersichtlich: In den 1970er Jahren kämpften neben den Arbeitern und Studenten auch Mieter und Konsumenten, Feministinnen, Schüler, Arbeitslose und prekär beschäftigte Jugendliche und so entstand ein breites Spektrum sozialer Bewegungen. Die Veränderungen zwischen den Bewegungsphasen spiegelten sich in einem Wandel der ‚politischen Topographie‘ der sozialen Bewegungen: Während in der ersten Bewegungsphase 1968 die sozialräumliche Struktur des Universitätscampus prägend für Zusammensetzung und Agenda der Bewegung war, avancierte anschlie-

23 Für die wachsende italienische Forschung zu den 1970er Jahren: Comitato Nazionale Bilancio dell’esperienza repubblicana all’inizio del nuovo secolo (2003): L’Italia repubblicana nella crisi degli anni settanta. 4 Bde. Soveria Mannelli, hier vor allem Band II: Fiamma Lussana/Giacomo Marramao (Hg.) (2003): Culture, nuovi soggetti, identità. Soveria Mannelli. Zwei aktuelle italienische Versuche sich den 1970er Jahren unter besonderer Beachtung der sozialen Bewegungen und der politischen Konfliktualität zu nähern vgl. Moro (2007) und De Luna (2009). Für einen Einblick in die wachsende US-Forschung zu den 1970er Jahren vgl. Stephen Tuck: Reconsidering the 1970s – The 1960s to a disco Beat?, in: Journal of Contemporary History 43 (2008), S. 617-620. Zur wachsenden deutschen Forschung vgl. Konrad H. Jarausch (Hg.) (2008): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen. Ein Forschungsprogamm für die Epoche ab 1970 entwerfen: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael (2008): Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen. 24 Doering-Manteuffel/Raphael (2008), S. 10. 25 Vgl. Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.) (2010): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 19681983. Göttingen. 26 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael/ (2008), S. 32ff.

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ßend die fordistische Fabrik zum Zentrum der Auseinandersetzungen.27 Bald jedoch verstärkten sich auch die sozialen Kämpfe jenseits von Universität und Fabrik im städtischen Terrain.28 Vor allem dort, wo die Industrialisierung schwach ausgeprägt war, spielten die Auseinandersetzungen im und um den urbanen Raum schon bald nach 1968 eine prägende Rolle. Aber auch in den stärker industrialisierten Regionen verlagerten organisierte Bewegungsaktivisten mit dem ersten geringfügigen Abflauen der Fabrikmilitanz nach dem Klimax von 1969 ab Anfang der 1970er Jahre ihr Augenmerk zumindest partiell auf die Konflikte im urbanen Raum.29 Nicht umsonst konstatierten Eddy Cherki, Dominique Mehl und Anne Marie Metaillé gegen Ende der 1970er Jahr in einem Überblick zu den urbanen Protestbewegungen in Westeuropa die Ausnahmestellung Italiens: „It is […] in Italy where the militant urban protest movement is the most virulent. Initially centered on the question of housing, it has gradually extended to other issues – educational and medical facilities, child-minding amenities, and […] the problem of public service charges.“30 Dennoch ist gerade das Agieren der sozialen Bewegungen im urbanen Raum bislang nur unzureichend untersucht.31 Diese Privilegierung bestimmter Akteursgruppen und der für sie zentralen ‚Sozialräume‘32 in der bisherigen Forschung korrespondiert mit der Tendenz, spezifische Ausschnitte des italienischen Territoriums in den Mittelpunkt zu rücken und zumindest implizit zum repräsentativen Pars pro Toto der Gesamtentwicklung zu erklären: Die Mehrheit der Untersuchungen konzentriert sich vor allem auf das Geschehen in den norditalienischen Bewegungshochburgen Turin und Mailand.33 Demgegenüber

27 Ähnlich argumentiert Revelli, der die Politisierung der Alltagsräume und des Lokalen als wesentliches Charakteristikum von 1968 sieht, dabei aber praktisch ausschließlich die Universität und den (industriellen) Arbeitsplatz im Auge hat, vgl. Revelli (1995), S. 413 und 450. 28 Vgl. Paul Ginsborg: (1990): A History of Contemporary Italy 1943-1980. London u.a., S. 322-325. 29 Vgl. Bobbio (1988), S. 80ff.; Grandi (2003), S. 170ff. 30 Eddie Cherki/Dominique Mehl/Anne Marie Metaillé (1978): Urban Protest in Western Europe, in: Colin Crouch/Alessandro Pizzorno (Hg.): The Resurgence of class conflict in Western Europe since 1968. Bd. II: Comparative Analyses. London u.a., S. 247-275, hier: S. 255. Castells geht davon aus, dass die urbane soziale Konfliktualität im Spanien der 1970er Jahre ein weitaus größeres Ausmaß hatte – allerdings unter völlig anderen politischen Vorzeichen, vgl. Manuel Castells (1983): The City and the Grassroots. A CrossCultural Theory of Urban Social Movements. London, S. 215. Cherki, Mehl und Metaillé beziehen Spanien in ihre Darstellung nicht mit ein. 31 Exemplarisch für dessen Vernachlässigung ist etwa Revelli (1995). 32 Zum Begriff und dessen Relevanz für sozialen Bewegungen vgl. Susanne Maurer (2005): Soziale Bewegung, in: Fabian Kessl u.a. (Hg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden. S. 629648. 33 Diani und Melucci haben früh darauf hingewiesen, dass die italienische Bewegungsforschung stark auf Mailand konzentriert ist, vgl. Mario Diani/Alberto Melucci (1991): The Growth of an Autonomous Research Field: Social Movement Studies in Italy, in: Dieter Rucht (Hg.): Research on Social Movements, Frankfurt a.M., S. 149-174, hier: S. 156. Für

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spielen Studien zu den sozialen Bewegungen in Mittel- und Süditalien bislang eine deutlich untergeordnete Rolle. Um zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen, erscheinen also vor allem detaillierte Untersuchungen zu den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre in Mittel- und Süditalien notwendig, die ihren Schwerpunkt auf die Auseinandersetzungen im und um den urbanen Raum legen. Dieser Versuch soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit anhand der italienischen Hauptstadt Rom unternommen werden: Die römischen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre sind bislang noch kaum wissenschaftlich untersucht34 und Italiens Hauptstadt erscheint aufgrund ihrer stark tertiären und eher den Städten Süditaliens ähnelnden ökonomischen Struktur als interessantes Korrektiv zu den besser untersuchten norditalienischen Bewegungshochburgen Mailand und Turin.35 Mit der Fokussierung der vorliegenden Untersuchung auf Rom wird diese auf der Schnittfläche der Bewegungsforschung und der römischen Stadtgeschichte der Nachkriegszeit positioniert. Neben der allgemeinen Bewegungsforschung bildet somit auch die stadtgeschichtliche Forschung zu den 1970er Jahren in Rom einen zweiten wichtigen Referenzpunkt: In den zentralen Gesamtdarstellungen der jüngsten römischen Stadtgeschichte nehmen die sozialen Bewegungen zwar zum Teil eine eigenständige Rolle als epochemachender Kollektivakteur ein, der analytischen Tiefe sind allerdings durch den Mangel an Detailstudien Grenzen gesetzt.36 Bruno Bonomo beklagte vor einigen Jahren nicht umsonst eine „[…] lamentevole scarsità di lavori

wesentliche Forschungsbeiträge, die explizit oder implizit auf die Industriemetropolen Norditaliens fokussiert sind, vgl. Lumley (1990), Revelli (1995); Giachetti (1997); Giachetti/Scavino (1999); De Luna (2009). 34 Eine Ausnahme stellt wiederum die Bewegung von 1977 dar, zu der mit Grispignis essayistischer Darstellung und Del Bellos Interviewband zwei auf Rom zentrierte Studien vorliegen: Grispigni (1997); Del Bello (1997). Jenseits der Bewegung von 1977 beschränken sich die wissenschaftlichen Beiträge zur römischen Bewegungsgeschichte der 1970er Jahre auf einige wenige Aufsätze, vgl. z.B.: Marco Grispigni (1989): Generazione, politica e violenza. Il Sessantotto a Roma, in: Italia contemporanea 175, S. 97-107. Vgl. auch die Beiträge in dem Sammelband: Centro ricerche politiche economiche e sociali Agostino Novella (CRIPES) (1990) (Hg.): Società civile e istituzioni nel Lazio: nuovi bisogni, movimenti, partecipazione, rappresentanze. Rom. 35 Zur Wirtschafts- und Sozialstruktur der italienischen Städte vgl. Ada Becchi: Città e forme di emarginazione, in: Francesco Barbagallo (Hg.): Storia dell’Italia repubblicana. Bd. III / 1 L’Italia nella crisi mondiale. L’ultimo ventennio. Economia e società. Turin 1996. S. 837-910. 36 Vgl. v.a. Vittorio Vidotto (2006): Roma contemporanea. 2. überarbeitete Ausgabe. Rom/Bari, S. 296-344. In anderen Darstellungen soziologischen, urbanistischen und sozialgeographischen Zuschnitts spielen die sozialen Bewegungen eine deutlich untergeordnete Rolle, vgl. Luigi De Rosa u.a. (Hg.) (1999): Roma del Duemila. Rom/Bari; John Agnew (1995): Rome. Chichester u.a. Hinzu kommen wichtige urbanistisch orientierte Darstellungen wie: Italo Insolera (1993): Roma moderna. Un secolo di storia urbanistica 1870-1970. Turin; Alberto Clementi/Francesco Perego (Hg.) (1983): La metropoli ,spontanea‘ / il caso di Roma. Bari.

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storiografici sulle evoluzioni recenti della ‚città eterna‘ […]“.37 Der von Bonomo beklagte Mangel betrifft in besonderem Maße Darstellungen, die die Entwicklung Roms nicht aus der Vogelperspektive in den Blick nehmen, sondern ‚von unten‘, aus der Perspektive der einfachen Bewohner.38 Inzwischen jedoch wächst die Zahl historischer Studien, die die makroskopische Geschichte der italienischen Kapitale durch eine, zumeist in Form spezifischer Lokal- und Stadtteilgeschichten erzählte Geschichte ihrer Bewohner unterfüttern und hinterfragen.39 Dabei geraten auch die sozialen Konflikte im urbanen Raum als Facette der Alltagsrealität der römischen Bevölkerung in den Blick. An diese verstärkte Einbeziehung der Perspektive ‚von unten‘ in die römische Stadtgeschichte wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung angeknüpft. Die sozialen Bewegungen sollen nicht als unabhängige Variable der römischen Stadtgeschichte untersucht werden, sondern als Ausdruck konkreter sozialer Konflikte im urbanen Raum – Stadtgeschichte und Bewegungsgeschichte sind in dieser Perspektive nicht zwei getrennte Disziplinen, sondern als konfliktzentrierte Stadtgeschichte und lokale Bewegungsgeschichte ein und dasselbe. Damit treten die Fragen nach den konkreten Entstehungsbedingungen sozialer Kämpfe, nach ihrer Verortung und Verankerung sowie nach den Resonanzräumen der Bewegungsakteure in den Fokus: Eine Bewegungsforschung, die ihren Gegenstand nicht als vielge-

37 Bruno Bonomo (2003): Dalla borgata di Prato Rotondo al quartiere Magliana. Storia di una comunità di immigranti nella Roma del secondo dopoguerra, in: Giornale di storia contemporanea, 1 (2003), S. 77-99, S. 78. „[…] beklagenswerten Mangel an historiographischen Arbeiten zu den jüngeren Entwicklungen der ‚ewigen Stadt‘ […].“ 38 Wichtige Arbeiten, die versuchen eine solche Perspektive einzunehmen, sind oft soziologischer Provinienz und zeitnah entstanden, vgl. z.B. Franco Ferrarotti (1970): Roma da capitale a periferia. Rom/Bari; Franco Ferrarotti (1974): Vite di baraccati, Neapel; Giovanni Berlinguer/Piero Della Seta (1976): Borgate di Roma. Rom. Welche Möglichkeiten ein Ansatz bietet, der die Darstellung makroskopischer Entwicklungen mit mikroskopischen Fallstudien verbindet, zeigt John Foots Studie zu Mailand, vgl. John Foot (2001): Milan since the Miracle. City, Culture and Identity. Oxford. 39 Vgl. die von Lidia Piccioni herausgegebene Reihe zur Stadtgeschichte, in der in den letzten Jahren eine Reihe von römischen Stadtteilstudien erschienen, die z.T. unter maßgeblichem Einbezug von ‚oral history‘ erstellt wurden und die sozialen Konflikte in und um den städtischen Raum mit einbeziehen: Bruno Bonomo (2007): Il Quartiere delle Valli. Costruire Roma nel secondo dopoguerra, Mailand; Emigliana Camarda (2007): Pietralata. Da campagna a isola di periferia. Mailand; Ulrike Viccaro (2007): Storia di Borgata Gordiani. Dal fascismo agli anni del ‚boom‘. Mailand; Alice Sotgia (2010): Ina Casa Tuscolano. Biografia di un quartiere romano. Mailand. Vgl. auch: Alessandro Portelli/Bruno Bonomo/Alice Sotgia/Ulrike Viccaro (2006): Città di Parole. Storia orale da una periferia romana. Rom; Bruno Bonomo (2009a): „On holiday 365 days a year“ on the outskirts of Rome. Urban Form, Lifestyles, and the Pursuit of Happiness in the Suburbs of Casalpalocco, ca. 1955-1980, in: Arnold Bartetzky/Marc Schalenberg (Hg.): Urban Planning and the Pursuit of Happiness. European Variations on a Universal Theme (18th-21th century). Berlin, S. 168-197; Bruno Bonomo (2009b): From ‚Eternal City‘ to Unfinished Metropolis. The development of Rome’s Urban Space and its Appropriation by City Dwellers from 1945 to the Present, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS) 1, S. 34-46.

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staltiges Ensemble von Prozessen in konkreten Kontexten begreift, läuft Gefahr, die sozialen Bewegungen zu einer abstrakten Reifikation werden zu lassen. Auch unter stadtgeschichtlicher Perspektive verspricht eine Verlagerung des Fokus von den makropolitischen Prozessen der Nachkriegsurbanisierung hin zu subalternen40 Basisakteuren und deren Agieren im städtischen Raum somit interessante Erkenntnisse. Die vorliegende Arbeit kann so nicht nur als Beitrag zu einem bislang weitgehend vernachlässigten Kapitel in der Geschichte der italienischen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre gelesen werden, sondern auch als Beitrag zu einer römischen Stadtgeschichte ‚von unten‘, in der die subalterne Bevölkerung nicht als bloßes Objekt des Regierungshandelns in Erscheinung tritt, sondern in Gestalt sozialer Bewegungen mit ihren Praktiken der Selbstermächtigung, des Protests und des Widerstands aktiv Einfluss auf die Entwicklung der italienischen Hauptstadt nimmt.41

2 METHODISCHER ANSATZ Im Rahmen der vorliegenden Studie soll die Geschichte sozialer Bewegungen im Rom der 1970er Jahre als Geschichte handelnder Akteure erzählt werden. Um den Spezifika der untersuchten Kollektivakteure und ihrer konkreten Umgebungen gerecht zu werden, wird ein mikrohistorischer Ansatz42 gewählt: Anstatt den Versuch zu unternehmen, eine umfassende Geschichte der sozialen Bewegungen im Rom der 1970er Jahre zu schreiben und dabei jenen Tendenzen zur Verallgemeinerung und Entkopplung von konkreten Kontexten zu verfallen, die viele Gesamtdarstellungen charakterisiert, sollen im Rahmen ausgewählter Fallstudien signifikante Ausschnitte en detail in den Blick genommen werden. Giovanni Levi definiert Mikrogeschichte als „[…] practice essentially based on the reduction of the scale of observation, on a microscopic analysis and an intensive

40 Der Begriff ‚subaltern‘ wird hier im Sinne Antonio Gramscis verwendet, um den sozialen Gegenpol zu den hegemonialen Kräften zu bezeichnen. Für den hier behandelten römischen Kontext eignet sich der Begriff insbesondere deshalb, weil angesichts der tertiären Sozialstruktur der Stadt der Begriff ‚Arbeiterklasse‘ nur einen kleinen Ausschnitt der unterprivilegierten Stadtbevölkerung erfassen würde. 41 Zur ‚Geschichte von unten‘, vgl. Jim Sharpe (1992): History from Below, in: Peter Burke (Hg.): New Perspectives on Historical Writing. Pennsylvania, S. 24-41; Eric J. Hobsbawm (1988): History from Below – Some Reflexions, in: Frederick Krantz (Hg.): History from Below. Studies in Popular Protest and Popular Ideology. Oxford/New York, S. 13-27. 42 Für einen Einblick in Genese und Ausrichtung der Mikrogeschichte vgl. Carlo Ginzburg (1993): Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1, S. 169-192; Jürgen Schlumbohm (1998): Mikrogeschichte-Makrogeschichte. Zur Eröffnung einer Debatte, in: Ders. (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte komplementär oder inkommensurabel? Göttingen, S. 7-32.

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study of the documentary material.“43 Die Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs erlaubt es, die Beziehungen zwischen sozialer Realität und kulturellen Deutungssystemen zu beschreiben, ohne deterministischen Reduktionen aufzusitzen.44 Mikrostudien sind geeignet, durch die Reduktion der Untersuchungsdimension neue Erkenntnisse zu generieren und die vermeintlichen Gewissheiten makrohistorischer Darstellungen in Frage zu stellen: „Phenomena previously considered to be sufficiently described and understood assume completely new meanings by altering the scale of observation.“45 Ziel ist es dabei nicht in erster Linie, schlüssige und umfassende Interpretationen zu generieren, sondern eher Widersprüche und Lücken aufzudecken, die die Offenheit historischer Abläufe unterstreichen.46 Dieser Anspruch bezieht sich nicht nur auf den Gegenstand, sondern – wie Carlo Ginzburg unterstrich – auch auf die Form seiner Darstellung: „[…] Hypothesen, Zweifel und Unsicherheiten [werden] Teil der Erzählung; und die Suche nach der Wahrheit […] Bestandteil der Darstellung […].“47 Ausgangspunkt der mikrohistorischen Darstellung ist eine dichte Beschreibung der historischen Abläufe auf Grundlage eines möglichst umfassenden Quellenkorpus. So kann der Versuch unternommen werden, eine ‚Detailgeschichte des Ganzen‘48 zu schreiben: Die Mikrostudien ermöglichen Aufschluss darüber, wie sich die großen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungstendenzen der 1970er Jahre in der konkreten Lebensrealität spezifischer Bevölkerungsteile niederschlugen und welches Akteurshandeln diese an den Tag legten. Voraussetzung für ein Gelingen dieses Unterfangens ist die umfassende Kontextualisierung der mikrohistorischen Detailuntersuchungen, in der Ginzburg eine der grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der italienischen Mikrogeschichte sieht: „Was praktisch alle diese Untersuchungen verbindet, ist die Betonung des jeweiligen Zusammenhangs, in dem sie zu verstehen sind – also genau das Gegenteil der isolierten Betrachtung des Fragments […].“49 Die historische Kontextualisierung der mikrogeschichtlichen Untersuchung bedeutet aber keine Festlegung der Untersuchungsgegenstände auf das Typische oder Serielle: „Die italienischen mikro-historischen Untersuchungen haben die Frage des Vergleichs auf eine andere und, wenn man so will, entgegengesetzte Weise gelöst: nämlich auf der Abweichung aufbauend, nicht der Analogie.“50 Im Zentrum der hier vorgelegten Untersuchung stehen gewissermaßen doppelte Abweichungen: Zum einen widmen sich die Mikrostudien einer von der Bevölkerungs-

43 Giovanni Levi (1992): On Microhistory, in: Peter Burke (Hg.): New Perspectives on Historical Writing. Pennsylvania, S. 93-113, hier: S. 95. 44 Vgl. Ginzburg (1993), S. 181, der sich dabei auf einen Kommentar Roger Chartiers zu seinem Buch Il formaggio e i vermi (1976) bezieht. 45 Levi (1992), S. 98. 46 Levi (1992), S. 107. 47 Ginzburg (1993), S. 183. 48 Vgl. Hans Medick (1997): Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte. 2. durchges. Auflage. Göttingen, S. 23ff. 49 Ginzburg (1993), S. 190f. Vgl. auch: Levi (1992), S. 106ff. Ähnlich zur ‚history from below‘ : Sharpe (1992), S. 33ff. 50 Ginzburg (1993), S. 191. Vgl. auch: Schlumbohm (1998), S. 28.

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mehrheit abweichenden Gruppe subalterner Subjekte51, solchen nämlich, die ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen in widerständiges Handeln übersetzten.52 Zum anderen stehen die untersuchten Kollektivakteure nicht repräsentativ für die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre insgesamt. Die Spezifizität der jeweiligen Kollektivakteure und ihrer Kontexte lässt keine vollmundigen Analogieschlüsse zu: Die hier untersuchten Bewegungen stehen in erster Linie für sich selbst. Jenseits der mikrohistorischen Dimensionierung der Untersuchung soll der Rückgriff auf bestimmte Schlüsselkategorien eine Analyseperspektive gewährleisten, die interessante neue Erkenntnisse über die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre in Rom verspricht. Ziel ist es dabei, die untersuchten sozialen Bewegungen nicht als abstrakte Entitäten vorauszusetzen, die durch bestimmte politische Inhalte definiert sind, sondern jene Prozesse sichtbar zu machen, in denen sie als Kollektivakteure überhaupt erst entstehen. Ausgangspunkt hierfür ist eine praxeologisch inspirierte Lesart der Bewegungen,53 die das – im vorliegenden Fall kollektive und konfliktuale – Agieren der Beteiligten in den Mittelpunkt der Analyse rückt, da hier und nur hier die Bewegungen in praxi entstehen und bestehen. Der zweite Analyseschwerpunkt zielt auf die ‚Verräumlichung‘ der sozialen Konfliktualität, die auf der Annahme beruht, dass der spezifische Raum, in dem sich ein sozialer Konflikt abspielt, wesentlichen Einfluss auf das Handeln und Denken der involvierten Akteure hat und ein zentraler Gegenstand ihres Handelns ist. Die beiden Schlüsselkategorien Praxis und Raum sind eng verbunden: Praktiken vollziehen sich an konkreten Orten, werden von Raumvorstellungen geprägt und konstituieren Räume. Umgekehrt wird Raum in aktuellen Diskussionen als „Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln“54 konzeptualisiert und ist somit a priori immer zum Akteurshandeln rückgebunden. Im Folgenden sollen diese beiden analytischen Achsen eingehender skizziert werden. Der Rückgriff auf praxeologische Konzepte im Rahmen der mikrohistorischen Fallstudien ermöglicht es, sich von der „Fixierung auf das Kognitive“55 zu lösen. Ausgehend von der Annahme, dass „[…] gesellschaftliche Wirklichkeit […] keine ‚objek-

51 Dies ist im Rahmen jedes Versuchs, ‚Geschichte von unten‘ zu schreiben, der Fall, da das ‚Unten‘ schlichtweg nicht existiert, vgl. Sharpe (1992), S. 27. 52 Zum besonderen Interesse der ‚history from below‘ an sozialen Bewegungen – allen voran der Arbeiterbewegung – deren Untersuchung allerdings nicht als repräsentativ für ‚das Volkes insgesamt‘ angesehen werden darf, vgl. Hobsbawm (1988), S. 15f. 53 Zu den sozialen Bewegungen als Untersuchungsgegenstand für eine historische Forschung, die mit Bourdieus Praxistheorie arbeitet, vgl. Sven Reichardt (1997): Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München, S. 71-93, hier: S. 84. 54 Martina Löw (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M., S. 53. 55 Karl H. Hörning (2004): Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem, in: Ders./Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis. Bielefeld, S. 19-39, hier: S. 19

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tive Tatsache‘, sondern eine ‚interaktive Sache des Tuns‘ […]“56 ist, sollen die untersuchten Akteure und ihr Agieren in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt und die Materialität und Körperlichkeit sozialen Handelns betont werden.57 Dabei ermöglichen es praxeologische Theorien, logozentrische Handlungsmodelle zu dekonstruieren, die das Handeln sozialer Akteure stets als intentional, wertgeleitet oder nutzenorientiert erscheinen lassen:58 „Die Experten des Logos möchten, dass die Praxis etwas ausdrückt, was auch durch einen Diskurs ausgedrückt werden kann, am besten durch einen logischen.“59 Pierre Bourdieu unterstrich in seinen grundlegenden Arbeiten zu einer Theorie der Praxis, dass die Logik sozialen Handelns anders strukturiert ist als die theoretische Logik, die sozial- oder kulturwissenschaftlichen Beschreibungen zugrunde liegt: „Man muss der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat. Sonst wäre man dazu verdammt […], ihr eine erzwungene Schlüssigkeit überzustülpen.“60 Während ‚sozialer Sinn‘ Bourdieu zufolge „[…] auf einem nicht reflektierten Eingebundensein in soziale Handlungsgefüge und Lebenswelten […]“ 61 beruht, tendiert die ‚logische Logik‘ der wissenschaftliche Betrachtung dazu, das ‚implizite Wissen‘ der Akteure zu vernachlässigen und sie stattdessen mit expliziten vorgängigen Handlungsmotiven auszustatten. Zugleich wird die Praxis im Zuge ihrer wissenschaftlichen Rekonstruktion ‚entzeitlicht‘ und somit einer wesentlichen Facette ihrer Eigenlogik beraubt: „Die Praxis rollt in der Zeit ab und weist alle entsprechenden Merkmale auf, wie z.B. die Unumkehrbarkeit, die durch Synchronisierung beseitigt wird; ihre zeitliche Struktur, d.h. ihren Rhythmus, ihr Tempo und vor allem ihre Richtung, ist für sie sinnbildend […]. […] Es gibt eine Zeit der Wissenschaft, die nicht die der Praxis ist.“62 Diesen „Theoretisierungseffekt“63 gilt es zu vermeiden, indem man die Praxis der untersuchten Akteure möglichst präzise beschreibt und auf ihren modus operandi64 hin befragt, anstatt politische Verlautbarungen der Akteure als hinreichende Erklärungen für praktische Abläufe zu interpretieren. Statt das Akteurshandeln auf die

56 Karl H. Hörning/Julia Reuter (2004): Doing Culture: Kultur als Praxis, in: Dies. (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis. Bielefeld, S. 9-15, hier: S. 10. 57 Vgl. Sven Reichardt (2007): Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 3, S. 43-65, hier: S. 48. 58 Vgl. Reichardt (2007), S. 51; Hörning (2004), S. 30f.; Lutz Raphael (2004): Habitus und sozialer Sinn. Der Ansatz der Praxistheorie Pierre Bourdieus, in: Friedrich Jäger u.a. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2. Stuttgart/Weimar. S. 266-276, hier: S. 266. 59 Pierre Bourdieu (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M., S. 168f. 60 Bourdieu (1987), S. 157. 61 Raphael (2004), S. 269. 62 Bourdieu (1987), S. 149. 63 Bourdieu (1987), S. 157. 64 Vgl. z.B. Pierre Bourdieu (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M., S. 164; Bourdieu (1987), S. 165.

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Umsetzung vorgängiger rationaler Beschlüsse zu reduzieren, muss der Versuch unternommen werden, die Eigenlogik der Praxis zu entschlüsseln, die Bourdieu mit Begriffen wie ‚Spielsinn‘65 fasst, „[…] verstanden als Eintauchen in die Lebenswelt des jeweiligen Feldes, als Glauben an die Ideale dieses Handlungsfeldes und als praktischer Orientierungssinn in den dort üblichen Alltagsroutinen und Handlungsalternativen […]“66. Dieser Versuch kann aufgrund der fundamentalen Antinomie zwischen der Logik der Praxis und der Logik wissenschaftlicher Analyse immer nur partiell gelingen:67 „Die Idee der praktischen Logik als einer Logik an sich, ohne bewusste Überlegung oder logische Nachprüfung, ist ein Widerspruch in sich, der der logischen Logik trotzt.“68 So fruchtbar der Bourdieu’sche Praxisbegriff für die Analyse der sozialen Bewegungen im Rom der 1970er Jahre erscheint, so deutlich müssen die theoretischmethodischen Grenzen der hier angestrebten Anwendung abgesteckt werden: Eine umfassende Applikation des Bourdieu’schen Theoriegerüsts auf den hier behandelten Gegenstand ist im Rahmen der vorliegenden Studie weder umsetzbar noch angestrebt.69 Bourdieus Praxistheorie soll in den folgenden Mikrostudien also nicht als umfassendes Erklärungsmuster benutzt werden, sondern als eine Art Denkstil, um das oft logozentrische Verständnis sozialer Bewegungen gegen den Strich zu bürsten.70 Auf die Nähe praxeologisch orientierter Geschichtsschreibung zur Erfahrungsgeschichte Edward P. Thompsons hat Sven Reichardt wiederholt hingewiesen.71 Auf

65 Vgl. Bourdieu (1987), S. 122ff. 66 Raphael (2004), S. 272. 67 Vgl. Bourdieu (1987), S. 147-179. Vgl. auch: Gernot Saalmann (2009): ‚Entwurf einer Theorie der Praxis‘, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar. S. 272-279, hier S. 278. 68 Bourdieu (1987), S. 167. 69 Bourdieus Praxistheorie basiert auf ausgesprochen umfangreichen empirischen Untersuchungen zur französischen und kabylischen Gesellschaft. Eine unreflektierte Übertragung der Konzepte auf die italienische Gesellschaft der 1970er Jahre ohne eine entsprechende empirische Fundierung hätte hochgradig spekulativen Charakter. 70 Reichardt will Praxeologie nicht als „[…] kohärenten theoretischen Rahmen […]“, sondern als „[…] theoretische Suchbewegung jenseits strukturalistischer Vorstellungen im Zuge des ‚linguistic turn‘ und der klassischen Sozialgeschichte […]“ verstanden wissen, vgl. Reichardt (2007), S. 63. 71 Vgl. Sven Reichardt (2004): Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis. Bielefeld. S. 129-153, hier: S. 133; Reichardt (2007), S. 58f. Zu Leben und Werk Thompsons vgl. Günther Lottes (2006): Edward Thompson (1924-1993), in: Lutz Raphael (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 2: Von Fernand Braudel bis Nathalie Z. Davis. München, S. 195-213. Zu Thompsons Forschungsansatz vgl. sein Opus magnum: Edward P. Thompson (1987): Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. 2 Bde., Frankfurt a.M. Für eine prägnante Diskussion von Thompsons Hauptwerk als einem ‚politisch-literarischen Ereignis‘ vgl. Thomas Lindenberger (1988): Das „empirische Idiom“: Geschichtsschreibung,

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einige Schlüsselkonzepte dieser Forschungsrichtungen soll im Folgenden zurückgegriffen werden. So wird Thompsons performativer Klassenbegriff, mit dessen Hilfe Klassen nicht als soziologische Essenzen, sondern als Produkte spezifischer Erfahrungen und konkreten ‚Klassenhandelns‘ gefasst werden können, Anwendung finden, um den klassenförmigen Charakter bestimmter Konflikte begreifbar zu machen, ohne dabei Klassen als quasi-transzendente Subjekte zu verdinglichen.72 Thompsons Konzeptualisierung erweist sich dabei als durchaus kompatibel mit dem Klassenbegriff Bourdieus, der Klassen als ‚wahrscheinliche Klassen‘ entwirft, die sich durch ihre Nähe im sozialen Raum definieren, aber keineswegs a priori als kampfbereite Gruppen bestehen, sondern erst durch die subjektive Wahrnehmung – also die ‚Klassifizierung‘ der Beteiligten – handlungsrelevant wurde.73 An dieser Stelle wird ein Grunddilemma zeithistorischer Forschung deutlich: die analytischen Werkzeuge des Historikers und die zeitgenössischen Leitbegriffe der Akteure sind unauflöslich ineinander verflochten. Die von Bourdieu und Thompson entwickelten Begriffe von ‚Klasse‘ entstammen nicht zufällig derselben Epoche wie die Selbstwahrnehmung der hier untersuchten Bewegungsaktivisten als Akteure in Klassenkonflikten – auch wenn manche darunter mit Sicherheit eher essenzielle als performative Entitäten verstanden. Eine trennscharfe Abgrenzung der historischer und analytischer Begriffe erscheint allerdings kaum möglich: Gerade die Verwendung einer alternativen Begrifflichkeit im Zuge der historischen Analyse würde den Eindruck erwecken, hier handle es sich – im Gegensatz zur verzerrten Selbstwahrnehmung der Akteure – um eine objektive Kategorisierung und somit Thompsons zentrale Erkenntnis unterlaufen, dass Klassen gerade nicht objektive, sondern performativ-subjektive Kollektivsubjekte sind. Zugleich verdeutlicht der beständige Rekurs der untersuchten Akteure auf Schlüsselkategorien wie ‚Klasse‘ oder ‚Autonomie‘ die Tatsache, dass bestimmte Deutungsrepertoires wesentlich für die Selbstwahrnehmung der Akteure waren. Deshalb darf die praxeologische Akzentuierung der vorliegenden Studie nicht als Trennung von Handeln und Sprechen missinterpretiert werden: Eine möglichst präzise Analyse der Akteure und ihres Handelns kann nicht ohne den Bezug auf sprachliche Sinngebungsprozesse auskommen, da sich die Interaktion der handelnden Körper stets in einem Kosmos sprechender Subjekte vollzieht.

Theorie und Politik in The Making of the English Working Class, in: Prokla 70, S. 167188. 72 Thompson bündelt seine Überlegungen u.a. in: Edward P. Thompson (1980b): Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse?, in: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./Berlin, S. 247-289; Thompson (1987), S. 7-13 und S. 961-963. Zusammenfassend zu Thompsons Klassenbegriff vgl. Thomas Lindenberger (1995): Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914. Bonn, S. 21f. 73 Vgl. Pierre Bourdieu (1985): Sozialer Raum und ‚Klassen‘, in: Ders.: Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a.M., S. 7-46, hier: S. 12ff.; Pierre Bourdieu (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M., S. 182ff.

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Auch Thompsons Konzept einer ‚moralischen Ökonomie der Armen‘ als Chiffre für einen „[…] volkstümlichen Konsens darüber, was […] legitim und was illegitim sei […]“74 kann an einigen Stellen einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnisproduktion liefern, da Thompsons Überlegungen zur Frage von ‚Legitimationsvorstellungen‘ jene oft ignorierten Traditionen plebejischer politischer Kultur in den Blick rücken, die konstitutiv für viele Formen des Volksprotestes ist.75 Die Anwendung des Konzepts soll allerdings nur punktuell und tentativ erfolgen, da die Differenzen zwischen dem von Thompson ins Auge gefassten England des 18. Jahrhunderts und dem Italien der 1970er Jahre offensichtlich beträchtlich sind und es sich bei den hier zu beschreibenden Auseinandersetzungen auch nicht um „food riots“ handelt, bei deren Analyse Thompsons Konzept vielfach eingesetzt wurde.76 Gerade an Thompsons Begriff der „moral economy“ wird deutlich, dass auch eine praxeologische Lesart sozialer Konflikte die Bedeutung von Sprache für soziales und politisches Handeln keinesfalls ignorieren kann, artikulieren sich die tradierten Legitimationsvorstellungen doch häufig zu allererst sprachlich und bilden so einen Ausgangspunkt kollektiven Handelns. Neben den Thompson’schen Termini soll auch auf ein Schlüsselkonzept von Thomas Lindenberger rekurriert werden. In dem Begriff der ‚Straßenpolitik‘, der „Machtkämpfe auf der Straße und um die Straße“77 bezeichnet, verbinden sich konkretes Akteurshandeln und dessen Verräumlichung höchst produktiv. Lindenberger entwirft die Straße als ‚Politik-Arena‘, in der ein ‚Regime der öffentlichen Ordnung‘, das auf die ‚Respektierung des Eigentums‘ und die ‚Anerkennung des Gewaltmonopols des Staates‘ zielt, mit einem ‚Bündel heterogener Handlungsweisen‘ konfrontiert ist, die von den sanktionierten Modi des politischen Protests über den ‚alltäglichen Kleinkrieg‘ zwischen Polizei und aufgebrachten Menschenmengen bis zu massenhaften ‚direkten Aktionen‘ reicht, die ‚die Straße als Ort der Gegenmacht zur Obrigkeit‘ konstituieren.78 Straßenpolitik bietet für die Beteiligten dabei „[…] die Möglichkeit einer nicht-entfremdeten, eigen-sinnigen Interessenartikulation, die nicht in Distanz, sondern in unmittelbarer Nähe zum Körper und seinen Sinnen stattfindet.“79

74 Edward P. Thompson (1980a): Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Ders: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./Berlin, S. 67130, hier: S. 69. 75 Vgl. Thompson (1980a), S. 70. 76 Zur Diskussion über den Einfluss und die Probleme bei der Übertragung von Thompsons Konzept auf andere Kontexte, vgl. Manfred Gailus/Thomas Lindenberger (1994): Zwanzig Jahre ‚moralische Ökonomie‘. Ein sozialhistorisches Konzept ist volljährig geworden, in: Geschichte und Gesellschaft 20, S. 469-477, hier v.a.: S. 471ff. 77 Lindenberger (1995), S. 13. 78 Vgl. Lindenberger (1995), S. 13-19 bzw. S. 385. 79 Lindenberger (1995), S. 17f.

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Die sozialen Bewegungen sollen im Rahmen der vorliegenden Studie jedoch nicht nur auf ihre praktische Logik hin befragt, ihr Agieren im urbanen Raum soll auch verräumlicht werden, da ihr Handeln sonst trotz praxeologischer Perspektivierung der Untersuchung abstrakt bleiben würde. Dabei wird auf zweierlei raumtheoretische Analysestränge rekurriert: Auf der einen Seite die stadtsoziologischen Studien Manuel Castells und auf der anderen Seite die raumsoziologischen Theorien Martina Löws. Castells entwickelte 1983 mit seiner Studie ‚The City and the Grassroots‘ einen konfliktualen Stadtbegriff, demzufolge Stadt nicht als von Konflikten durchzogenen Raum, sondern als Produkt konfliktualer Interessen zu begreifen ist: „The city is a social product resulting from conflicting social interests and values.“80 Er wendet sich damit gegen einen analytische Trennung von urbanen Räumen und sozialen Bewegungen: „Collective action is usually seen as a reaction to a crisis created by an economically determined structural logic. […] As a result, we are left with urban systems separated from personal experiences; with structures without actors, and actors without structures; with cities without citizens, and citizens without cities.“81 Zentraler Gegenstand der Konflikte um die Stadt ist dabei für Castells die Kategorie des ‚urban meaning‘ – also die Definition dessen, was eine Stadt sein soll.82 Im Hinblick auf die grundsätzliche Ausrichtung urbaner Bewegungen unterscheidet Castells dreierlei Typen: Während ein erster Typus urbaner Bewegungen sich in Bezug auf Fragen des kollektiven Konsums organisiert und eine Erhöhung des Lebensstandards der urbanen Bevölkerung anstrebt, versucht ein zweiter Typus urbaner Bewegungen vor allem das Leben in der Nachbarschaft im Sinne einer lokalen Gemeinschaft zu organisieren und so Formen der urbanen Isolation zu durchbrechen, die unter anderem durch standardisierte Massenkultur bedingt sind. Ein dritter Typus urbaner Bewegungen zielt Castells zufolge auf lokale Selbstverwaltung, Mitbestimmung und Autonomie und wendet sich somit gegen Formen des Autoritarismus und Bürokratismus.83 Die drei von Castells entworfenen Idealtypen vermischen sich in der konkreten Realität urbaner Bewegungen häufig und tatsächliche urbane Bewegungen können nach Castells’ Dafürhalten nur dann ihre maximale Wirkungsmacht entfalten und als ‚urban social movements‘ kategorisiert werden, wenn sie alle drei eben skizzierten Dimensionen umfassen – was laut Castells aber eher selten der Fall ist.84 Trotz einiger interessanter Anstöße, die Castells’ Theorie urbaner Bewegungen zu liefern vermag, muss auf zwei Probleme hingewiesen werden: Zum einen basiert Castells’ urbane Konflikttheorie im Wesentlichen auf den Grundannahmen logozent-

80 Castells (1983), S. 291. Zur Bedeutung von Castells Ansatz für die heutige urbane Bewegungsforschung vgl. Margit Mayer (2006): Manuel Castells’ The City and the Grassroots, in: International Journal of Urban and Regional Research 30.1, S. 202-206. 81 Castells (1983), S. XVI. 82 Aus dem jeweiligen ‚urban meaning‘ leiten sich dann als untergeordnete Kategorien ‚urban function‘ und ‚urban form‘ ab, vgl. Castells (1983), S. 303f. und S. 336. 83 Vgl. Castells (1983), S. 319-321. Zu Castells’ Konzept des kollektiven Konsums vgl. auch: Manuel Castells (1978): City, Class and Power. London, S. 15-36. 84 Vgl. Castells (1983), S. 319 und S. 322f.

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rischer Handlungstheorien – urbane Bewegungen definieren sich bei Castells über klare Handlungsziele, die sie dann in rationalen Handlungsschritten zu erreichen versuchen. Die ‚praktische Logik‘ sozialen Handelns fällt in Castells’ Theorie damit jenem ‚Theoretisierungseffekt‘ zum Opfer, den Bourdieu kritisiert und auch die von Thompson beschriebene Konstitution von Kollektivakteuren in praxi gerät aus dem Blick. Deshalb eignet sich Castells’ Theorie weniger für eine mikroskopische Analyse sozialen Handelns als für eine anschließende Einordnung erzielter Untersuchungsergebnisse in das von Castells entworfene Spektrum urbaner Konfliktualität. Zum anderen kann Castells’ Theorieentwurf auch auf raumtheoretischer Ebene nicht umfassend zufriedenstellen: Während in Castells’ empirischen Untersuchungen der konkrete urbane Raum noch eine relativ prominente Rolle spielt, wird dieser anschließend im Zuge der Generierung eines theoretischen Modells zunehmend marginalisiert. In Castells’ Typologie urbaner Bewegungen erscheint Raum ausschließlich als Ensemble konfligierender Projekte in Bezug auf das, was Stadt sein soll – abstrakte Zielvorstellungen ersetzen damit konkrete Räume.85 Martina Löws raumsoziologische Theorie ermöglicht es demgegenüber, die Mikrologik des Sozialen raumpolitisch zu dechiffrieren: Löw entwickelt einen ‚relationalen Raumbegriff‘86, der Raum als „Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln“87 fasst. Als Aspekte des raumkonstituierenden Akteurshandelns definiert Löw dabei Formen des ‚Spacing‘ – also das Platzieren von sozialen Gütern, Menschen oder Ensembles – und der Syntheseleistung – also der mentalen Konstruktion von Raum durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse – wobei im Alltag ‚Spacing‘ und ‚Syntheseleistung‘ immer verbunden sind.88 Raum erscheint bei Löw somit nicht als Behälter, in dem sich Akteurshandeln vollzieht, sondern ist selbst immer zugleich Produkt und Ausgangspunkt solchen Handelns. Löws theoretischer Entwurf öffnet aber auch den Blick für die Tatsache, dass an ein und demselben Ort eine Vielheit von Räumen bestehen kann: „Verschiedene gesellschaftliche Teilgruppen können […] unterschiedliche Räume auf dem gleichen Grund und Boden entstehen lassen.“89 Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung der sozialen Bewegungen im Rom der 1970er Jahre stehen jene widerspenstigen Praktiken der Raumkonstitution, die institutionalisierte Formen der Raumkonstitutionen aufheben und neue, andere Räume entstehen lassen: „Institutionalisierte Räume sind […] jene, bei denen die (An-)ordnung über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacings nach sich zieht.“90 Aufgehoben werden solche Routinen durch ‚gegenkulturelle‘ Raumkonstitutionen: „[…] [G]egen institutionalisierte (An)Ordnungen gerichtetes Handeln nenne ich gegenkulturell, die in die-

85 86 87 88 89 90

Vgl. Castells (1983), S. 321. Vgl. Martina Löw (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M., S. 67. Löw (2001), S. 53. Vgl. Löw (2001), 158ff. Löw (2001), S. 53. Löw (2001), S. 164.

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sem Prozess konstituierten Räume unabhängig davon, ob es sich um einmalige Aktionen oder um regelmäßige Abweichungen handelt, gegenkulturelle Räume.“91 In die beiden hier skizzierten raumtheoretischen Analysestränge schreiben sich zum Teil gegenläufige Vorstellungen von Raum ein: Während in Castells Raumbegriff trotz einer relativistischen Grundaussage92 noch einige ‚absolutistische‘93 Anteile mitschwingen94, ist die relativistische Ausrichtung bei Löw stringent durchgehalten.95 Die Koexistenz unterschiedlicher – im Alltagsbewusstsein verankerter absolutistischer und theoretisch reflektierter relativistischer – Raumkonzeptionen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird nicht als Mangel an methodischer Kohärenz betrachtet, sondern als Möglichkeitsbedingung einer multiperspektivischen Verräumlichung sozialer Konfliktualität. Letztlich soll dem konkreten Untersuchungsgegenstand Vorrang vor der theoretischen Abstraktion eingeräumt werden: Die raumtheoretisch informierte Analyse soll die konkreten Räume als Terrain, Gegenstand, Vorstellung und Produkt sozialer Kämpfe zum Vorschein bringen und diese nicht hinter komplexen Raumtheorien verschwinden lassen.

91 Löw (2001), S. 185. Löw grenzt dabei ‚gegenkulturelle Räume‘ scharf von Michel Foucaults Konzept der Heterotopie ab: Heterotopien haben für Löw einzig eine „strukturimmamente Illusions- oder Kompensationsaufgabe“, während gegenkulturelle Räume aus „widerständigem Handeln hervorgehen“, vgl. Löw (2001), S. 186. Für Foucaults Heterotopiebegriff vgl.: Michel Foucault (2006): Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., S. 317-327. 92 Vgl. z.B. Castells (1983), S. 311f. 93 Zur Definition des raumtheoretischen ‚Absolutismus‘, vgl. Löw (2001), S. 63ff. 94 Vgl. Löws Kritik an Castells’ Raumbegriff in den 1970er Jahren, die in der hier zentralen Studie Castells’ von 1983 partiell noch mitschwingen, vgl. Löw (2001), S. 48, Anm. 1. Vgl. auch Brenners Kritik an Castells’ Konzept einer ‚urbanen Skala‘, die als empirisches Faktum begriffen wird und deshalb nicht als Produkt sozialer Konstituierungsprozesse und Kämpfe analysiert wird, vgl. Neil Brenner (2000): The Urban Question as a Scale Question: Reflections on Henri Lefebvre, Urban Theory and the Politics of Scale, in: International Journal of Urban and Regional Research 24.2, S. 361-378, hier: S. 364ff. 95 Vgl. Löw (2001), S. 271

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3 AUFBAU UND QUELLENGRUNDLAGE Die Auswahl der hier behandelten Fallstudien erfolgt nach vier Kriterien: Zunächst bildet die ‚Bewegungsförmigkeit‘ des Geschehens eine conditio sine qua non – Mobilisierungen hochgradig institutionalisierter Akteure wie Parteien oder Gewerkschaften scheiden somit aus. Zudem müssen die untersuchten Auseinandersetzungen ein gewisses Maß an Sichtbarkeit und Bekanntheit in Rom erlangt haben, um als relevant erachtet werden zu können. Des Weiteren sollen die einzelnen Fallstudien über die 1970er Jahre verteilt sein, um so Erkenntnisse über möglichst viele Phasen der Bewegungsdekade zu erhalten. Ergänzt werden diese drei Kriterien durch eine weitere praktische Bedingung: Im Zuge der Recherchen muss ein Ausschnitt auszumachen sein, der eine im weitesten Sinne mikrohistorische Untersuchung des Gegenstandes möglich macht und der zugleich eine ausreichend hohe Quellendichte für eine derartige Analyse aufweist. Die Dimensionierung der vier im Zentrum dieser Arbeit stehenden Fallstudien folgt weniger einer Logik der umfassenden Symmetrie als einer Logik des optimalen individuellen Zuschnitts: Räumliche und zeitliche Ausschnitte sind den untersuchten Auseinandersetzungen entsprechend gewählt. Dabei gilt: Je größer der in den Blick genommene Kollektivakteur, umso kleiner müssen die untersuchten Phasen und Räume sein, um noch eine mikrohistorische Untersuchung gewährleisten zu können. Im Zentrum der ersten Fallstudie steht das Stadtteilkomitee der Nuova Magliana, eines Neubauviertels im Süden Roms, das bis zu einem gewissen Grad exemplarischen Charakter für die zahlreichen Stadtteilkomitees hat, die im Rom der 1970er Jahre entstanden. Die Entstehung des Stadtteilkomitees zu Beginn der Dekade wird vor dem Hintergrund der sozialen Struktur des Viertels und der vorangegangenen ‚urbanen Kämpfe‘ in Rom dargestellt und das praktische Repertoire des Stadtteilkomitees wird ausführlich analysiert. Die Studie kann angesichts ihrer engen räumlichen und thematischen Begrenzung ein relativ breites Zeitfenster erfassen und so die Geschichte des Stadtteilkomitees über die 1970er Jahre hinweg nachvollziehen, wobei der Schwerpunkt der Darstellung in den frühen Jahren der Dekade liegt. Im Zuge der zweiten Studie öffnet sich der räumliche Fokus weiter und anhand eines Zyklus von Hausbesetzungen, der Rom im Jahr 1974 in Atem hielt, werden die Kämpfe um Wohnraum in der italienischen Hauptstadt ins Auge gefasst. Der erweiterte räumliche Blickwinkel wird durch die Verengung des Analysezeitraums ausgeglichen, der knapp ein Jahr umfasst. Um eine konkrete Verortung der Besetzungen in ihren jeweiligen sozialräumlichen Kontexten zu gewährleisten, werden vor allem zwei Besetzungen analysiert, die den Auftakt des Zyklus markierten und besonders lange bestanden. Ein spezifisches Augenmerk wird auf das Ende des Besetzungszyklus im September 1974 gelegt, als bei Straßenschlachten um besetze Wohnblocks in der nordöstlichen Peripherie Roms der 19-jährige Demonstrant Fabrizio Ceruso von der Polizei erschossen wurde. Im Mittelpunkt der dritten Fallstudie steht mit der ‚Bewegung von 1977‘ in Rom ein Kollektivakteur von ungleich größerer Dimension als die bisher behandelten. Zudem erscheinen weder die Konzentration auf spezifische Ausschnitte des Bewegungsspektrums noch eine systematische Analyse jenseits konkreter Ereignisse als

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geeignete Mittel zur Bündelung der Darstellung, da sich die Dynamik der Bewegung wesentlich aus ihrem Massencharakter und der ‚zeitlichen Struktur der Praxis‘ 96 erklärt. Um dennoch eine detaillierte Darstellung und Analyse des Gegenstandes zu ermöglichen, sind deshalb radikale räumliche und zeitliche Eingrenzungen notwendig: Der Fokus wird daher auf die viermonatige Hochphase der Bewegung im Frühjahr 1977 gelegt und zugleich weitgehend auf den Campus der römischen Universität als zentralen Aktions- und Interaktionsraum der Bewegung beschränkt. Die vierte Studie widmet sich der Einrichtung einer selbstorganisierten Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik durch Feministinnen und Klinikangestellte im Sommer 1978. Damit wird nicht nur ein Höhepunkt praktischer feministischer Körperpolitik ins Auge gefasst, sondern auch ein Moment produktiver Zusammenarbeit höchst unterschiedlicher Aktivistenspektren in einer Phase des merklichen Abebbens der bewegungspolitischen Dynamik. Um diese in zeitlicher und räumlicher Hinsicht kleinste Mikrostudie umfassend zu kontextualisieren, wird die Vorgeschichte der beiden beteiligten Akteursgruppen dargestellt. Die Genese und Entwicklung eines bedeutenden feministischen Kollektivs und eines wichtigen autonomen Betriebskollektivs werden über weite Teile der 1970er Jahre hinweg nachvollzogen. Im Zentrum der Darstellung stehen somit, der Logik der mikrohistorischen Perspektivierung der einzelnen Studien entsprechend, weniger soziale Bewegungen als vielmehr einzelne soziale Kämpfe. Dabei bildet die Existenz eines breiten Bewegungsspektrums im Italien der 1970er Jahre jedoch immer die Folie, vor der sich die hier untersuchten Auseinandersetzungen vollziehen. Der Fokus auf die konkreten Auseinandersetzungen ist dabei nicht nur Ausdruck der mikrohistorischen Dimensionierung, sondern auch der methodischen Ausrichtung: Thompsons Diktum ‚class is a happening‘97 folgend, sollen soziale Bewegungen ebensowenig als ‚Dinge‘ aufgefasst werden wie Klassen.98 Auch sie existieren nur in und durch die Kämpfe, die sie führen – jenseits der konkreten Auseinandersetzungen bleiben sie ein leeres Konstrukt. Die hier getroffene Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität, geschweige denn auf Vollständigkeit. Andere Konfliktfelder der 1970er Jahre hätten mit guten Argumenten ebenso zum Gegenstand einer Mikrostudie gemacht werden können. Exemplarisch genannt seien etwa die Schülerbewegung, die Gefangenenkämpfe in den römischen Justizvollzugsanstalten, der militante Antifaschismus der das gesamte Jahrzehnt über ein wesentliches Aktionsfeld für die römischen Bewegungsaktivisten darstellte, oder die römische feministische Bewegung, deren umfassendere Untersuchung zweifelsohne ein lohnendes Unterfangen wäre. Da im Folgenden der Versuch unternommen wird, die sozialen Bewegungen Roms von unten darzustellen, wurden der zu untersuchende Quellenkorpus von vornherein auf von den Bewegungen selbst produziertes Material sowie auf jene Quellen be-

96 Bourdieu (1987), S. 196. 97 Edward P. Thompson (1981): The Making of the English Working Class. 3. Auflage, London, S. 939. 98 Vgl. Thompsons Klassenbegriff vgl. Thompson (1980b); Thompson (1987), S. 7ff., S. 961ff.

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schränkt, aus denen sich die Wahrnehmung der Bewegungen in der Öffentlichkeit rekonstruieren lässt. Die Bewegungen waren nicht zuletzt mediale Akteure: Sie produzierten eine große Zahl von Flugblättern, Pamphleten, Plakaten und Zeitschriften und verbreiteten diese so umfassend wie möglich. Außerdem versuchten die sozialen Bewegungen mit einem vielfältigen Repertoire an Praktiken, mehr oder minder explizit Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu generieren. Dennoch stellt sich die Quellenlage keineswegs einfach dar, da viele relevante Dokumente auf verschiedene Archive verstreut sind und die bestehenden Sammlungen oft erhebliche Lücken aufweisen. Während ein Teil der Sammlungen in offiziellen Einrichtungen gut geordnet ist, sind andere Sammlungen in Bewegungs- oder Privatarchiven unzureichend erschlossen.99 Nichtöffentliche Quellen der Sicherheitsorgane hingegen wurden nicht berücksichtigt, da sie vor allem Einblick in deren Sicht und Strategie versprechen, in ihrer Wahrnehmung der Bewegungen als Sicherheitsproblem aber Ausdruck eben jener hegemonialen Deutung sind, die die vorliegende Untersuchung zu widerlegen sucht. Die Fokussierung auf die Quellen der Bewegung birgt selbstverständlich epistemologische Gefahren: Einen historischen Kollektivakteur aus dem von ihm generierten Material rekonstruieren zu wollen, erinnert an einen Biographen, der ausschließlich auf Selbstzeugnisse der zu beschreibenden Person rekurriert. Als Korrektiv dient im vorliegenden Fall die mediale Öffentlichkeit, insbesondere die zeitgenössische Presse, die Aufschluss darüber verspricht, wie die Bewegungen in jenen Bevölkerungskreisen wahrgenommen wurden, die nicht über direkte Kontakt zu den Aktivisten verfügten. Dennoch muss die in der Quellenauswahl angelegte Perspektivierung der Untersuchung vom Lesenden stets mitreflektiert werden: als bewusster Verzicht auf die größtmögliche Objektivität zugunsten einer „sympathetischen Hermeneutik“100 maximaler Nähe. Im konkreten Fall bestand die Herausforderung darin, für die ausgewählten Fallstudien eine möglichst große Anzahl und ein möglichst breites Spektrum von Quellen aufzuspüren, um so eine dichte Beschreibung der zu untersuchenden Akteure und Ereignisse gewährleisten zu können. Dazu zählen neben ‚grauem Material‘ wie Flugblättern und Plakaten sowie ‚offiziellen‘ Druckerzeugnissen wie Zeitungen und Zeitschriften auch Fotografien, Filmaufnahmen und Interviews mit ehemaligen Aktivisten. Zur Sichtung und Auswertung von ‚grauem Material‘ wurde eine Reihe von Archiven in Rom konsultiert: Die wohl umfassendste und sicherlich am besten geordnete Sammlung befindet sich im Istituto Romano per la Storia d’Italia dal Fascismo alla Resistenza (IRSIFAR), wo zahlreiche Aktivistennachlässe den Archivbestand Memoria di Carta bilden. Über einen zweiten großen Archivbestand zu den sozialen Bewegungen im Rom der 1970er Jahre verfügt die anarchistische Buchhandlung Libreria Anomalia in Gestalt des Centro di Documentazione Valerio Verbano. Dieses nach einem 1980 von Faschisten in Rom ermordeten Bewegungsaktivisten be-

99 Unverzichtbar für einen Überblick über die Quellen zur Erforschung der sozialen Bewegungen im Italien der 1970er Jahre: Marco Grispigni/Leonardo Musci (2003): Guida alle fonti per la storia dei movimenti in Italia (1966-1978). Rom. 100 Lottes (2006), S. 204.

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nannte Archiv umfasst zahlreiche relevante thematische Sammlungen, die aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeit aller Beteiligten leider oft nur unzureichend katalogisiert sind. Zudem wurden die relevanten Flugblattsammlungen der Fondazione Istituto Gramsci ausgewertet. Im Hinblick auf die feministische Bewegung Roms bietet das Archiv der Casa Internazionale delle Donne reichhaltiges und gut sortiertes Material. Diese allgemeinen Archivbestände wurden ergänzt durch Material aus dem Archiv des Stadtteilkomitees im Viertel Magliana und Bestände aus dem selbstverwalteten sozialen Zentrum Macchia Rossa in demselben Stadtteil. Außerdem wurde Material aus den Privatarchiven der Feministin Silvia Tozzi, des Stadtteilaktivisten Alfredo Toppi und der Autonomia-Aktivistin Graziella Bastelli ausgewertet. Im Hinblick auf Filmquellen stellte das Archivio Audiovisivo del Movimento Operaio e Democratico (AAMOD) den wesentlichen Referenzpunkt dar. Zahlreiche Fotografien zur Geschichte der römischen Bewegungen finden sich in den Büchern des wichtigsten römischen Bewegungsfotografen Tano D’Amico.101 Diese wurden durch Fotografien ergänzt, die sich in Zeitungen und Zeitschriften oder in Privatarchiven befinden. Neben ‚grauem Material‘, Fotografien und Filmdokumenten spielen Zeitungen und Zeitschriften eine unverzichtbare Rolle: Unter den Tageszeitungen kommt einerseits den Organen der außerparlamentarischen Gruppen wie Lotta Continua und Il Manifesto eine bedeutende Rolle zu, da sie eine zeitnahe Berichterstattung aus der Perspektive wichtiger Bewegungsorganisationen bieten. Ergänzt bzw. kontrastiert werden diese Zeitungen durch die bürgerliche Tagespresse und die Zeitungen der linken Parteien. Durch den stadtgeschichtlichen Zuschnitt sind die römischen Tageszeitungen Il Messaggero, Il Tempo und Paese Sera durch ihre ausführliche Lokalberichterstattung besonders wichtig. Gleiches gilt für die Tageszeitung des PCI L’Unità, die besonders geeignet ist, das oft spannungsreiche Nebeneinander der traditionelle Linken und der sozialen Bewegungen zu beleuchten. Hinzu kommt der Corriere della Sera als wichtigste italienische Tageszeitung sowie ab 1976 das neugegründete linksliberale Blatt La Repubblica. Neben den Tageszeitungen der großen außerparlamentarischen Gruppen bieten vor allem Zeitschriften einen wichtigen Einblick in den diskursiven Kosmos der sozialen Bewegungen: Während in ganz Italien zirkulierende Periodika wie Ombre Rosse, Re Nudo, L’Erba Voglio, Rosso oder Effe den Diskussionsstand in spezifischen Bewegungsspektren weit über die italienische Hauptstadt hinaus wiedergeben, sind dezidiert römische Zeitschriften wie Rivolta di Classe geeignet, um die Positionen bestimmter römischer Spektren zu erfassen. Reduziert man die Maßstabsebene der Untersuchung noch weiter, so geraten Stadtteilzeitungen wie Magliana in Lotta oder Betriebszeitungen wie Il Gruppettaro in den Blick, die im Rahmen einzelner Mikrostudien eine wichtige Rolle spielen. Auf der Ebene der ‚bürgerlichen‘ Medien

101 Vgl. Tano D’Amico (1978): È il ’77. Rom; Tano D’Amico (1998): Gli anni ribelli. 19681980. Rom; Tano D’Amico (2003): Una storia di donne. Il movimento al femminile dal ’70 agli anni non global. Neapel; Tano D’Amico/Sergio Lambiase (Hg.)(2004): Storia fotografica di Roma. Bd. 6: 1963-1974. Dal „boom economico“ alla contestazione. Neapel; Tano D’Amico/Sergio Lambiase (Hg.)(2005): Storia fotografica di Roma. Bd. 7: 19751986. Dalla ‚Estate Romana‘ al dramma di via Fani. Neapel.

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wird die Berichterstattung der Tageszeitungen durch den punktuellen Einbezug von Wochenmagazinen wie L’Espresso ergänzt. Hinzu kommen 19 Interviews, die zwischen dem 27. Oktober 2008 und dem 24. Juni 2009 im Zuge der Recherchen mit Bewegungsaktivisten geführt wurden.102 Obwohl den Interviews keine spezifische Priorität innerhalb des Quellenkorpus zukommt, muss aufgrund ihrer Sonderstellung kurz auf ihre Spezifika eingegangen werden. Mindestens drei Distinktionsmerkmale unterscheiden die Quellen der ‚oral history‘103 von anderen Quellen: die orale Form, das besondere Maß an Subjektivität, das ‚oral history‘-Quellen innewohnt, und die Involviertheit des Historikers in die Produktion seiner Quellen.104 Alessandro Portelli argumentiert, dass gerade die formalen Spezifika der ‚oral history‘ – also die Gestalt als Audio-Quelle – ihre Besonderheit ausmachen, da nur hier Ton, Lautstärke, Rhythmus und andere Charakteristika der gesprochenen Sprache als Träger impliziter Bedeutungen und sozialer Konnotationen adäquat abgebildet sind. Versuche einer umfassenden Transkription seien deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.105 Mit den formalen und stilistischen Charakteristika eng verbunden ist Portelli zufolge die besondere Logik der subjektiven Erzählung in der oral history: „[…] historical, poetical and legendary narratives often become inextricably mixed up.“106 Portelli schlägt als Zugang zu den Quellen der ‚oral history‘ eine Art akustisches ‚close reading‘ der Audioquellen vor, in denen die sich überlagernden vergangenen und gegenwärtigen Sinnstiftungsprozesse der Interview-Partner seziert und untersucht werden und die stilistischen Variationen der gesprochenen Sprache den Ausgangspunkt detektivischer Überlegungen über implizite Motivationen bilden.107 Eine derartig genaue Untersuchung der ‚oral-history‘-Quellen kann und soll im Zuge der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Im Falle eines ‚close readings‘ im Sinne Portellis wäre eine weitaus stärkere Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes und somit eine völlig andere Ausrichtung der Gesamtstudie notwendig gewesen.108 Somit dient die Auswertung der selbstgeführten Interviews ähnlichen

102 Eine Auflistung der Interviews findet sich in Teil 3.2. des Anhangs. 103 Für einen facettenreichen Einblick in den gegenwärtigen Diskussionsstand zur ‚oral history‘, vgl. Robert Perks/Alistair Thomson: The Oral History Reader. 2. Auflage. London/New York 2006. Für einen Einblick in die reichhaltige italienische Tradition der ‚oral history‘, vgl. John Foot (1998): Words, songs and books. Oral history in Italy. A review and discussion, in: Journal of Modern Italian Studies 3 (2), S. 164-174. 104 Alessandro Portelli: What makes oral history different, in: Robert Perks/Alistair Thomson: The Oral History Reader. 2. Auflage. London/New York 2006, S. 32-42. 105 Vgl. Portelli (2006), S. 33-35. Auf eine umfassende Transkription der Interviews im Rahmen der vorliegenden Studie wurde verzichtet. Um dem Leser eine eigene kritische Lektüre der Interviewaussagen zu ermöglichen, sind die Ausschnitte, auf die im Text Bezug genommen wird, stets in den Fußnoten zitiert. 106 Portelli (2006), S. 35. 107 Portelli (2006), S. 33-36. 108 Sowohl die eingeschränkte Fähigkeit des Autors als Nicht-Muttersprachler dialektale, soziolektale und idiolektale Variationen stichhaltig zu interpretieren als auch die nachrangige

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Zwecken wie die der anderen Quellen: „Interviews often reveal unknown events or unknown aspects of known events; they always cast new light on unexplored areas of the daily life of the nonhegemonic classes.“109 Sie dienen dabei vor allem der Anreicherung der Darstellung durch subjektive Zeugnisse und spezifische Details, die sich aus anderen Quellen nicht erschließen ließen. Als subjektive Zeugnisse sind die Interviewaussagen vom Leser stets kritisch zu hinterfragen – allerdings nicht nur sie: Zahlreiche verwendete Quellen, ob veröffentlichte Interviews oder memoirenartige Darstellungen haben als Selbstzeugnisse einen ähnlich komplexen Status wie die selbstgeführten Interviews.110 Ein Spezifikum der ‚oral-history‘ bleibt jedoch auch angesichts der hier praktizierten eher ‚traditionellen‘ Nutzung des Quellentyps bedeutend: Im Gegensatz zu allen anderen im Rahmen der vorliegenden Studie benutzten Quellen war der Autor an der Produktion der Interviews selbst beteiligt. Deshalb muss kurz auf die Besonderheiten der Interviewpartner, den Modus der Interviews und die damit eng verbundene Frage nach der Position des Historikers eingegangen werden. Die Suche nach Interviewpartnern wurde zumeist ausgehend von den oben genannten Bewegungsarchiven geführt, was zur Folge hatte, dass alle interviewten Personen einen mehr oder minder positiven Bezug zu ihrer Vergangenheit als Bewegungsaktivisten hatten. Dieser Umstand war kein Auswahlkriterium, sondern Ausdruck des spezifischen Suchmodus, wurde aber auch nicht als epistemologisches Problem betrachtet, da erinnerungspolitische Fragestellungen nicht im Interessenhorizont der Studie liegen, die Interviews keinerlei Anspruch auf Repräsentativität bezüglich einer gesamten Aktivistengeneration erheben und eine politische Biographie ohne allzu große Brüche durchaus nicht als Basis weniger kohärenter Erinnerung erschien als von entsprechenden Wendungen charakterisierte Lebenswege.111 Der positive Bezug zur eigenen Vergangenheit als Bewegungsaktivisten erklärt vielleicht die Tatsache, dass die meisten Interviewpartner auf Distanzierungsstrategien wie die Ironisierung der eigenen Vergangenheit verzichteten.112 Eher scheint sich in manchen Interviews jener epische Stil einzuschreiben, der Portelli zufolge charakteristisch für Personen ist, die voll in ihrer Vergangenheit aufgehen.113 Im Zuge der Interviews und ihrer Auswertung wurde eine Differenz zwischen jenen Interviewpartnern deutlich,

Bedeutung von Fragen der Erinnerung im Rahmen der Gesamtuntersuchung sprechen gegen ein derartiges Vorgehen. 109 Portelli (2006), S. 36. 110 Zur Relativierung des vermeintlich spezifisch problematischen Status der Oral History vgl. Ute Daniel (2006): Kompendium Kulturgeschichte. Theorie, Praxis, Schlüsselwörter. 5. Auflage. Frankfurt a.M., S. 306f. 111 Dennoch war das Spektrum der Interviewpartner ein sehr weites und reichte hinsichtlich der politischen Verortung der Befragten in den 1970er Jahren von Exponentinnen des pazifistischen Feminismus bis zu militanten Aktivisten der Autonomia Operaia. Auch das Spektrum der gegenwärtigen sozialen Positionen der Interviewpartner war breit – ehemalige Stadträte und gegenwärtige Professoren waren ebenso vertreten, wie Installateure in Rente und militante Basisgewerkschafter. 112 Vgl. Portelli (2006), S. 38. 113 Vgl. Portelli (2006), S. 38.

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die schon des Öfteren interviewt worden waren und ihren Aktivismus eventuell auch zum Gegenstand schriftlicher Abhandlungen gemacht hatten und jenen Befragten, die zum ersten Mal interviewt wurden: Während erstere in die Darstellung ihrer Aktivitäten tendenziell häufiger Verweise auf die gesamtgesellschaftliche Situation der Zeit einbauten und eine umfassende Sinngebung anboten, blieben die Geschichten der zweiten Gruppe oft eher fragmentarisch, subjektiv, detailliert und widersprüchlich. Dieser Umstand machte die Interviews mit den Angehörigen der zweiten Gruppe oft zu den interessanteren Zeugnissen, während die Interviews mit den ‚Erinnerungsexperten‘ der ersten Gruppe häufig auf das beschränkt blieben, was aus anderen Quellen ohnehin in Erfahrung gebracht werden konnte. Die nur sehr eingeschränkt strukturierten Interviews wurden anhand eines individuell zugeschnittenen Fragebogens geführt und umfassten jeweils eine kurze Biographie, den Prozess der individuellen Politisierung und – als Schwerpunkt – den anschließenden Bewegungsaktivismus. Ziel des Vorgehens war es, eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu generieren, in dem der Interviewpartner sich öffnen und selbst Schwerpunkte setzen konnte.114 Wo dies geglückt ist, entstand jene „Sprache der Vertrautheit“115, die laut Bourdieu all das mit Schweigen bedenkt, „[…] was nicht besprochen werden muss, weil es eben selbstverständlich ist […]“ und damit die „[…] Chance [bietet] zu entdecken, worin die Wahrheit der Praxis besteht: in ihrer Blindheit gegenüber ihrer eigenen Wahrheit.“116 Ein solcher Dialog ist nur um den Preis einer partiellen Aufgabe der vermeintlichen Neutralität des Historikers möglich: „Historians might as well recognize this fact and make the best of its advantages, rather than try to eliminate it for the sake of an impossible (and perhaps undesirable) neutrality.“117 Nicht alle Interviews haben Eingang in die Darstellung gefunden, was unter anderem mit der zunehmend engeren Eingrenzung der vorliegenden Fallstudien zu tun hat. Aber alle Interviews haben wesentlich zur Wahrnehmung des Gegenstandes in den Augen des Betrachters beigetragen.

114 Vgl. Portelli (2006), S. 39. 115 Bourdieu (1987), 165. 116 Bourdieu (1987), S. 166. 117 Portelli (2006), S. 39.

I Das Stadtteilkomitee der Magliana

Im folgenden Kapitel soll mit dem Comitato di quartiere1 der Magliana eine Basisorganisation untersucht werden, die in den Augen vieler Beobachter Modellcharakter für die römischen Stadtteilkomitees der 1970er Jahre hatte.2 Um die Dynamiken sozialer Konfliktualität in der Magliana zu erfassen, ist es notwendig diese in ihren Kontext einzubetten. Im Folgenden soll deshalb zunächst kurz auf die urbane Entwicklung Roms in der Nachkriegszeit und die vor diesem Hintergrund entstehenden sozialen und politischen Konfliktlagen eingegangen werden. In einem zweiten Schritt soll dann knapp jener Organisationstypus beschrieben werden, dessen Wirken es in der Magliana en detail nachzuvollziehen gilt: das Stadtteilkomitee. Daraufhin soll das Stadtteilkomitee der Magliana einer genauen Untersuchung unterzogen werden, wobei zunächst der konkrete sozialräumliche Kontext skizziert wird und anschließend die Aktivitäten des Stadtteilkomitees einer eingehenden Analyse unterzogen werden.

1 PROLOG : STADTENTWICKLUNG UND URBANE K ÄMPFE IN R OM Im Gefolge von 1968 entwickelten sich in zahlreichen Ländern Westeuropas „urbane Kämpfe“3, im Zuge derer der städtische Raum zum Gegenstand und Austragungsort sozialer Konflikte wurde.4 Die Auseinandersetzungen drehten sich zumeist um Fragen des ‚kollektiven Konsums‘, wobei jene nach bezahlbarem Wohnraum für unter-

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‚Stadtteilkomitee‘. Vgl. Raffaele De Mucci (1985): La politica dei cittadini. Forme e strumenti di partecipazione politica nei sistemi urbani, Mailand, S. 55. Das Stadtteilkomitee der Magliana war Vorbild für viele andere römische Stadtteilinitiativen in den 1970er Jahren, keinesfalls aber ein repräsentatives Beispiel für diese, vgl. Marco Grispigni (1990b): Tra protagonismo sociale, antagonismo e collaborazione istituzionale: l’esperienza dei comitati di quartiere, in: Centro ricerche politiche economiche e sociali Agostino Novella (CRIPES) (Hg.): Società civile e istituzioni nel Lazio: nuovi bisogni, movimenti, partecipazione, rappresentanze. Rom, S. 1-24, hier: S. 8. Cherki/Mehl/Metaillé (1978), S. 247. Vgl. Cherki/Mehl/Metaillé (1978), S. 257.

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privilegierte Bevölkerungsschichten gewöhnlich im Zentrum stand.5 Diese Kämpfe um Wohnraum – um seine Verfügbarkeit, seinen Preis, seine Qualität und Verortung und in letzter Instanz um seinen Warencharakter – warfen die Frage danach auf, was Stadt ist und was sie sein sollte: sozialer Lebensraum für die Bewohner oder bloße territoriale Verdichtung kapitalistischer Akkumulations- und Reproduktionsprozesse. Ausgehend von den Kämpfen um Wohnraum erweiterte sich die Agenda der urbanen Auseinandersetzungen in Italien bald und schloss nun Fragen der medizinischen Versorgung, der Kinderbetreuung und Bildungseinrichtungen ebenso mit ein wie die kollektive Reduktion der Strom-, Gas- und Telefonpreise durch die Konsumenten.6 In den Augen mancher Beobachter kam den urbanen Bewegungen eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen in Italien zu: „[…] [I] movimenti sociali urbani spontanei possono […] svolgere una funzione cruciale nel passaggio da una democrazia formale alla democrazia economica e sociale.“7 Bevor auf die Kämpfe im römischen Stadtteil Magliana detailliert eingegangen wird, muss zunächst der größere Kontext skizziert werden, in dem sich diese entwickelten: Zum einen gilt es die Stadtentwicklung Roms in der Nachkriegszeit zu beleuchten, um deutlich zu machen, vor welchem Hintergrund sich die Auseinandersetzungen entfalteten. Zum anderen muss die Geschichte der römischen urbanen Protestbewegungen zumindest in groben Strichen nachgezeichnet werden, um das Geschehen der 1970er Jahre in längerfristige Entwicklungen einzuordnen.

1.1 Die Entstehung der „capitale abusiva“ 8 Das konstante Wachstum Roms seit der italienischen Einigung beschleunigte sich in den 1950er Jahren merklich und mündete gegen Ende der Dekade in einen Boom, der sich vor allem aus einer starken Migration aus dem Umland und den angrenzenden Regionen speiste. Rom wurde nun zur italienischen Metropole mit dem stärksten absoluten und relativen Wachstum.9 Die Folge war ein rasantes, regelloses urbanes Wachstum, das eine grundsätzliche stadtplanerische Intervention immer dringlicher werden ließ.10 1962 kam in Rom erstmals eine Mitte-Links-Regierung zustande und verabschiedete noch im gleichen Jahr den ersten Stadtentwicklungsplan der Nach-

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Vgl. Cherki/Mehl/Metaillé (1978), S. 249. Vgl. Cherki/Mehl/Metaillé (1978), S. 255. Franco Ferrarotti (1975): Sviluppo urbano e marginalità sociale, in: Ders. (Hg.): La Città come fenomeno di classe, Mailand, S. 25–37, hier: S. 30. „[…] [Die] spontanen urbanen sozialen Bewegungen können […] eine wesentliche Rolle für den Übergang von einer formalen zu einer ökonomischen und sozialen Demokratie spielen. 8 „Hauptstadt der Schwarzbauten“. 9 Vgl. Bruno Bonomo (2003): Dalla borgata di Prato Rotondo al quartiere Magliana. Storia di una comunità di immigranti nella Roma del secondo dopoguerra, in: Giornale di Storia Contemporanea 1, S. 77-99, hier: S. 77. 10 Vgl. Marco De Nicolò (2000): I problemi della città, le scelte capitoline, in: Luigi De Rosa u.a. (Hg.): Roma del Duemila. Rom, S. 79-117, hier: S. 101.

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kriegszeit, dessen Umsetzung jedoch äußerst lückenhaft blieb.11 Rückblickend muss das Scheitern des Planes als Instrument zur Formung einer neuen Stadt konstatiert werden12 – ein Scheitern, das Roms Gesicht für die Zukunft prägte: Die Stadt sollte auf Jahrzehnte hinaus mit einem dramatischen Mangel an erschwinglichem Wohnraum von zumutbarer Qualität, der chaotischen und oft illegalen Bebauung des Umlandes und der Unterversorgung vieler peripherer proletarischer Stadtteile in Hinblick auf Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen wie Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser zu kämpfen haben. Vor dem Hintergrund des raschen Bevölkerungswachstums stieg die Zahl der Römer, die sich gezwungen sahen in Baracken zu leben, in den 1950er und 1960er Jahren kontinuierlich an und erreichte Ende der 1960er Jahre nach mancher Schätzung bis zu 70.000 Menschen.13 Da zugleich zehntausende Wohnungen in Rom leer standen war offensichtlich, dass das Problem der Baracken ein Resultat der für viele römische Familien unerschwinglichen Marktpreise und keine Folge schlichten Wohnraummangels war.14 Die Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus wäre angesichts dieser Problemlage eine logische Konsequenz gewesen. An dieser Herausforderung aber scheiterten die staatlichen Wohnungsbaugesellschaften ausnahmslos, obwohl ihnen mit dem Gesetz Nr. 167 von 1962 eine gesetzliche Handhabe für den Erwerb von Grund für den öffentlichen Wohnungsbau an die Hand gegeben worden war.15 Den Höhepunkt der Misswirtschaft in Sachen öffentlicher Wohnungsbau markierte wohl die GESCAL (Gestione Case per Lavoratori), die 1963 das Programm INA-Casa ablöste und 1974 aufgelöst wurde, als der Rechnungshof feststellte, dass die GESCAL gigantische Mittel unbenutzt gelassen

11 Vgl. Vittorio Vidotto (2006): Roma contemporanea. 2. überarbeitete Ausgabe. Rom/Bari, S. 300ff. 12 Vgl. Vidotto (2006), S. 296 bzw. 300. 13 Die genaue Zahl der römischen Familien, die in Baracken lebten ist unklar. Italo Insolera geht von etwa 70.000 Barackenbewohnern in Rom im Jahr 1970 aus, vgl. Italo Insolera (1993): Roma moderna. Un secolo di storia urbanistica 1870-1970. Turin, S. 310. De Nicolò (2000, S. 102ff.) geht davon aus, dass ihre Zahl Anfang der 1950er Jahre etwa 30.000 betrug, und bis Ende der 1960er Jahre auf etwa 70.000 anstieg. Tozzetti geht für 1969/70 von 10.000 bis 15.000 römischen Familien aus, die in Barackensiedlungen lebten, vgl. Aldo Tozzetti (1989): La casa e non solo. Lotte popolari a Roma e in Italia dal dopoguerra a oggi. Rom, S. 177 bzw. 202. Diese Schätzung kann aufgrund der großen Familien als etwa deckungsgleich mit den Zahlen von Insolera und De Nicolò angesehen werden. Die Ergebnisse eines von der Kommunalverwaltung in Auftrag gegebenen Zensus Ende 1971 fielen dagegen deutlich geringer aus: Der zuständige Referent Bubbico ging von 8.200 römischen Familien in Baracken aus und bezifferte deren Mitglieder auf 38.000, vgl. Tozzetti (1989), S. 231. 14 Auch der genaue Umfang des Leerstands in Rom ist umstritten: Tozzetti (1989, S. 177) geht für 1969 von 30.000 bis 40.000 leerstehenden Wohnungen aus. Das Studienzentrum Censis setzt die Zahl der leerstehenden Wohnung in Rom für 1971 mit über 32.000 an, vgl. Tozzetti (1989), S. 227. Benevolo schätzt die Zahl der leerstehenden Wohnungen für Mitte der 1970er Jahre auf 64.000, vgl. Leonardo Benevolo (1979): Città in discussione. Venezia e Roma. Rom/Bari, S. 114. Von dieser Zahl geht auch De Nicolò (2000, S. 106) aus. 15 Vgl. De Nicolò (2000), S. 105.

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hatte, die für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen gewesen waren.16 Zeitgleich vergab beispielsweise die staatliche Banca Nazionale del Lavoro (BNL) riesige Kredite an private Immobiliengesellschaften und finanzierte so den privaten Bauboom mit.17 Angesichts dieser Zustände erscheint es nicht verwunderlich, dass Italien um die Mitte der 1970er Jahre in Sachen öffentlicher Wohnungsbau Schlusslicht in Europa war.18 Auf der kommunalen Ebene war das Versagen der Verantwortlichen kaum weniger spektakulär: 1967 hatte die römische Verwaltung einen Plan vorgelegt, demzufolge der Wohnraummangel in der italienischen Hauptstadt durch den Bau von über 600.000 neuen Zimmern in den nächsten Jahren behoben werden sollte. Aber sieben Jahre später waren erst 62.000 Zimmer – also nur gut ein Zehntel der anvisierten Menge – gebaut worden.19 So lebten gegen Mitte der 1970er Jahre zehntausende Römer in elenden Barackensiedlungen20 und Hunderttausende in den von privaten Spekulanten ohne Baugenehmigung billig errichteten borgate abusive21, die seit den 1950er Jahren in der römischen Peripherie entstanden waren und die zumindest in der Anfangsphase häufig über kein fließendes Trinkwasser, keinen Strom und keine funktionierende Kanalisation verfügten.22 Zugleich verstärkten sich im Stadtzentrum die Gentrifizierungstendenzen: In Vierteln wie Trastevere wurden den Mietern für einen ‚freiwilligen‘ Auszug große Summen angeboten, für den Fall der Ablehnung hingegen mit schnellstmöglicher Zwangsräumung gedroht. So kam es, dass sich von Mitte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre die Anzahl der Römer, die in den sechzehn historischen Altstadtvierteln, den ‚rioni‘, lebten, auf weniger als die Hälfte reduzierte.23 Das völlige Scheitern des sozialen Wohnungsbaus verdeutlichen die Zahlen von 1977: Die Wohnsituation von mehr als einer Million Menschen in Rom galt als ‚mangelhaft‘ und die Zahl der fehlenden Wohnungen wurde auf 300.000 bis 400.000 beziffert.24 Die eklatanten Mängel der römischen Stadtentwicklung führten zur Entstehung heftiger sozialer Spannungen, die in einer langen Tradition urbaner Kämpfe ihren Niederschlag fanden. Im Zentrum stand dabei immer die Forderung nach erschwinglichem und zumutbarem Wohnraum für die unterprivilegierten Teile der Bevölkerung.

16 Vgl. De Nicolò (2000), S. 106. Vgl. auch: Insolera (1993), S. 313f. 17 Vgl. Comitato di quartiere (Hg.) (1977): La Magliana. Vita e lotte in un quartiere proletario. Rom, S. 28. 18 Vgl. Il Messaggero vom 15.9.1974, S. 5; Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 1. 19 Vgl. L’Unità vom 11.9.1974, S. 7. Ähnlich auch: Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 7. 20 Vgl. L’Unità vom 15.9.1974, S. 10. 21 ‚Borgate abusive‘ sind unter Verstoß gegen die Bauvorschriften errichtete Stadtteile in der römischen Peripherie. Der Begriff borgata bezeichnet die meist proletarischen Siedlungen der römischen Peripherie, vgl. exemplarisch die Ausführungen zur borgata San Basilio in Kapitel II. 22 Vgl. Insolera (1993), S. 314f.; L’Unità vom 11.9.1974, S. 7. 23 Vgl. Il Messaggero vom 27.9.1974, S. 4. 24 Vgl. De Nicolò (2000), S. 107.

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1.2 Urbane Kämpfe im Rom der Nachkriegszeit Die römischen urbanen Kämpfe der 1970er Jahren standen in einer langen Tradition. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg hatten in Rom soziale Kämpfe um Wohnraum und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen begonnen.25 1949 war das Centro cittadino delle Consulte popolari entstanden, welches den Kampf um bessere Wohnund Lebensbedingungen in der marginalisierten Peripherie organisierte und so den Grundstein für die Entstehung der cintura rossa26 um die italienische Hauptstadt legte.27 Die so genannten Consulte popolari standen ebenso wie die Mietergewerkschaft UNIA (Unione Nazionale Inquilini Assegnatari), die sie ab 1964 ablöste, in enger Verbindung zu den linken Parteien, allen voran dem PCI.28 Diese parteinahen Organisationen sahen sich immer wieder schwer kontrollierbaren spontanen Basisprotesten gegenüber, die jene Grenzen der Legalität überschritten, innerhalb derer sich die Consulte popolari und die UNIA verorteten. Vor allem jene Familien, die gezwungen waren in den zahlreichen Barackensiedlungen der italienischen Hauptstadt zu leben, griffen im Zuge ihrer Proteste immer wieder zu illegalen Mitteln wie Straßenblockaden und Hausbesetzungen. Häufig wurden die Proteste in bestimmten Siedlungen von lokalen Aktivisten der linken Parteien mit organisiert, während Funktionäre derselben Parteien versuchten die Basisaktivisten zu einem Verzicht auf illegale Repertoires zu bewegen.29 Schon lange vor 1968 taten sich so innerhalb der römischen Linken profunde Widersprüche zwischen den oft radikalen Basisprotesten und der offiziellen Linie der linken Parteien auf: Als beispielsweise Ende Mai 1964 Barackenbewohnerfamilien hunderte leer stehende Sozialwohnungen der öffentlichen Wohnungsagentur IACP (Istituto Autonomo Case Popolari) im Stadtteil Tufello besetzten, reagierten die Linksparteien und ihre Mieterorganisationen mit schroffer Ablehnung. Die Parteifunktionäre argumentierten, die Besetzungen würden jene Familien, die auf den Wartelisten des IACP standen, um ihre Chance bringen, eine Wohnung zugewiesen zu bekommen – es drohe so ein ‚Krieg unter den Armen‘.30 Die Besetzer verwiesen demgegenüber auf die berechtigten eigenen Bedürfnisse und den klientelistischen Vergabemodus des IACP, um ihr Handeln zu rechtfertigen.31 Obwohl die Besetzung im Tufello bald von einem Großaufgebot der Polizei brutal geräumt wurde, kam es in der Folge zu einer Serie spontaner Besetzungen in den Stadtteilen Trullo, San Basilio, Primavalle und Cineci-

25 Vgl. Giovanni Berlinguer/Piero Della Seta (1976): Borgate di Roma. Rom, S. 223ff. 26 Cintura rossa bedeutet ‚roter Gürtel‘ und bezeichnet die borgate, die sich in den 1970er Jahre als proletarischer Ring mit linken Wählermehrheiten um die italienische Hauptstadt legten. 27 Vgl. Berlinguer/Della Seta (1976), S. 228 28 Vgl. Francesco Sirleto (1998): Le lotte per il diritto alla casa a Roma. Rom, S. 42. 29 Vgl. Renato Fattorinis Bericht über die Kämpfe in der Barackensiedlung borgata Gordiani: Renato Fattorini (1977): Esperienze di un ‚occupatore di case‘. Intervista raccolta di M. Lelli, in: La Critica Sociologica 42, S. 40-55, hier: 43ff. 30 Vgl. Sirleto (1998), S. 44; Fattorini (1977), S. 48. 31 Vgl. z.B. Fattorini (1977), S. 46.

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ttà.32 In den folgenden Jahren lehnte die UNIA Besetzungen leer stehender Sozialwohnungen durch bedürftige Familien stets mit dem Verweis ab es könne so zu einen ‚Krieg unter den Armen‘ kommen und delegitimierte so all jene spontanen Basisinitiativen, die sich mit dem rechtsstaatlichen Repertoire der Organisation nicht zufrieden geben wollten und den Weg direkter Aneignung statt institutioneller Mediation gingen. Mit dem Einsetzen des Bewegungszyklus ab 1968 kam es zu einer Potenzierung und Ausdifferenzierung der bereits zuvor bestehenden Dynamiken, als in Gestalt der Studentenbewegung erstmals ein Akteur links vom PCI auftrat, der in der Lage war, die spontanen Basisproteste zu organisieren. In der folgenden Phase können drei Akteure auf dem Feld der urbanen Kämpfe unterschieden werden: die PCI-nahe stehende Mietergewerkschaft UNIA, die Gruppen der revolutionären Linken und eine Reihe unabhängiger Basisstrukturen, die weder dem einen noch dem anderen Lager zuzuordnen waren.33 Im tertiär geprägten Rom schlug sich die starke Klassenorientierung der italienischen Studentenbewegung bald in Versuchen nieder, sich in den Stadtviertel zu verankern: ‚Bei den Massen zu sein‘ hieß im römischen 1968 zunächst oft weniger in den Fabriken aktiv zu werden als zu versuchen, die neuen Formen des antiinstitutionellen und basisdemokratischen politischen Aktionismus auf die proletarischen Wohngebieten zu übertragen.34 So kam es im Mai 1968 in Rom zu einer erneuten Serie von Besetzungen in den Stadtteilen San Basilio, Pietralata, Trullo und Montecucco, wobei erstmals Studenten eine wichtige Rolle als Organisatoren und Unterstützer der Barackenbewohner spielten.35 Auf die Besetzungen folgten meist direkt die Räumungen durch große Polizeiaufgebote. PCI und UNIA lehnten die Besetzungen als illegal ab.36 Ab Ende 1968 sah sich die UNIA mit schwindender Zustimmung konfrontiert, die aus dem durch die Studentenbewegung ausgelösten Mentalitätswandel resultierte.37 In der UNIA entwickelte sich vor diesem Hintergrund eine Debatte über den Umgang mit dem wachsenden Wohnraumproblem in Rom und dem steigenden Konkurrenzdruck von links.38 Die Mietergewerkschaft versuchte sich daraufhin wieder als treibende Kraft zu profilieren und organisierte Ende Mai 1969 eine Demonstration mit etwa 25.000 Teilnehmern in Rom, um gegen den dramatischen Mangel an Wohnraum zu protestieren. Doch der Versuch der UNIA, die Dynamiken in institutionelle Bahnen zu lenken, misslang angesichts von zehn-

32 Vgl. Sirleto (1998), S. 44. 33 Vgl. Aldo Musci (1990): Venti anni di lotte per la casa a Roma, in: Centro ricerche politiche economiche e sociali Agostino Novella (CRIPES) (Hg.): Società civile e istituzioni nel Lazio: nuovi bisogni, movimenti, partecipazione, rappresentanze. Rom, S. 25-54, hier: S. 32. 34 Vgl. Grispigni (1990b), S. 5. Zur Beschäftigungsstruktur Roms, vgl. z.B. Vidotto (2006), S. 298. 35 Vgl. Sirleto (1998), S. 50. 36 Vgl. Tozzetti (1989), S. 171f. 37 Vgl. Tozzetti (1989), S. 177. 38 Vgl. Sirleto (1998), S. 50f.

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tausenden leerstehenden Wohnungen in der „capitale delle baracche“:39 Im Juli 1969 besetzten erneut Barackenbewohner Wohnblocks des IACP in den Stadtteilen Pietralata, Tiburtino, San Basilio und Tufello.40 Im August 1969 erreichten die Besetzungen eine neue Qualität: Barackenbewohner besetzten etwa 400 seit langem leerstehende Wohnungen im Stadtteil Celio nahe dem Kolosseum, die zum Großteil im Besitz des IACP waren. Das Novum der Besetzungen lag dabei nicht in der Anzahl der besetzten Wohnungen, sondern in der Tatsache, dass die Beteiligten bald eine autonomen Massenorganisation gründeten: Das Comitato di Agitazione Borgate (CAB)41 bestand aus Basismilitanten linker Parteien und revolutionärer Gruppen, Barackenbewohnern, jungen Linkskatholiken und Studenten und strebte im Gegensatz zu UNIA keine institutionelle Lösung an, sondern versuchte sich vielmehr in der Übertragung neuer Formen der Fabrikmilitanz auf das urbane Terrain.42 Nicht Forderung, Delegierung und Verhandlung, sondern Massenversammlung, gemeinsame Entscheidung und kollektive direkte Aneignung standen im Vordergrund. Mit dem Auftreten des CAB veränderte sich der Charakter der Besetzungen nachhaltig: „È con questa ondata di occupazioni che si comincia a sentir parlare di ,requisizione‘ delle case. l’occupazione non è più ,dimostrativa‘: ‚la casa si occupa, l’occupazione si difende‘, diventa il nuovo slogan.“43 Die klare Argumentation des CAB, die transparenten Verteilungsregeln für den besetzten Wohnraum und vor allem die erfolgreiche Besetzung im Celio sorgten für ein rasch wachsendes Ansehen der Organisation in den Barackensiedlungen der Hauptstadt. Weitere Besetzungen des CAB mit Barackenbewohner folgten. Bei den anschließenden polizeilichen Räumungen kam es teilweise zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.44 Die UNIA distanzierte sich von der Vorgehensweise des CAB und es entwickelte sich rasch eine scharfe Konkurrenz zwischen der außerparlamen-

39 „Ecco la capitale delle baracche“ also „Hier kommt die Hauptstadt der Baracken“ lautete der Titel einer Gegenfeier zu den offiziellen Feierlichkeiten mit denen 1970 der hundertste Jahrestag der Ernennung Roms zur italienischen Hauptstadt begangen wurde, vgl. Tozzetti (1989), S. 204. Auf Deutsch: „Hauptstadt der Baracken“. 40 Vgl. Sirleto (1998), S. 52. Sirleto geht davon aus, dass es sich bei der Besetzung Ende Juli im Tufello bereits um die erste Aktion des CAB gehandelt habe. Marcelloni hingegen sieht die Besetzung vom August 1969 im Celio als Gründungsmoment des CAB und erscheint aufgrund seiner größeren politischen Nähe zum CAB und der Tatsache, dass seine Darstellung deutlich zeitnaher erfolgte verlässlicher, vgl. Maurizio Marcelloni (1974): Roma: momenti della lotta per la casa, in: Andreina Daolio (Hg.): Le lotte per la casa in Italia. Milano, Torino, Roma, Napoli. Mailand, S. 86f. 41 ‚Agitationskomitee Borgate‘. 42 Vgl. Documento proposto dal comitato agitazione borgate per il dibattito al convegno della casa del `70, in: Andreina Daolio (Hg.) (1974): Le lotte per la casa in Italia. Milano, Torino, Roma, Napoli. Mailand, S. 239-250, hier: S. 240; Interview mit Renato Fattorini, in: Tozzetti (1989), S. 184 - 185, hier: S. 184. 43 L’Espresso vom 15.9.1974, S. 14-17, hier: S. 17. „Mit dieser Besetzungswelle beginnt man von ‚Beschlagnahme‘ der Wohnungen zu sprechen. Die Besetzung ist nicht mehr ‚symbolisch‘ : ‚Die Häuser werden besetzt, die Besetzungen verteidigt‘, wird zum neuen Slogan.“ 44 Vgl. Marcelloni (1974), S. 88ff.; Musci (1990), S. 27f.

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tarischen Basisorganisation und der traditionellen Linken.45 Das Projekt des CAB ging allerdings schon 1970 zu Ende. Das Prestige, welches die erfolgreiche Besetzung im Celio dem CAB eingebracht hatte, begann rasch zu bröckeln, als weitere Besetzungen von der Polizei geräumt wurden. Gleichzeitig war das Gros der außerparlamentarischen Linken nach dem ‚heißen Herbst1969 stark auf Kämpfe in Fabriken und im Bildungssystem konzentriert – die Arbeit in den Stadtteilen stand für die meisten vorerst nicht mehr auf der Tagesordnung.46 Dennoch war es dem CAB gelungen, die Auseinandersetzung um Wohnraum in Rom aus der Starre institutioneller Mediation zu befreien und zum Gegenstand einer kämpferischen Massenbewegung zu machen. Die UNIA konnte die zunächst höchst erfolgreiche Offensive des CAB unmöglich unbeantwortet lassen: Ab Herbst 1969 organisierten UNIA-Kader in Rom ihrerseits Besetzungen durch Bewohner verschiedener Barackensiedlungen.47 Allerdings blieb die UNIA trotz der Radikalisierung ihres Handlungsrepertoires ihrer Logik der Mediation treu: Die definitive Aneignung der besetzten Gebäude stand nicht auf der Tagesordnung – Besetzungen wurden als stärkste Form des symbolischen Protests begriffen, nicht aber als Mittel zur unmittelbaren Problemlösung. Eine solche blieb den Institutionen vorbehalten und somit weiterhin nur über den Umweg der Mediation durch die UNIA-Spitze und die linken Parteien erreichbar. Anfang 1970 begann die UNIA zudem mit der Kampfform der autoriduzione48 von Mietzahlungen zu experimentieren, die in den Metropolen des Nordens schon seit einiger Zeit erfolgreich angewandt wurde.49 Innerhalb kürzester Zeit kam es zu einer wahren Explosion der autoriduzione in Rom in Wohnungen öffentlicher Wohnungsgesellschaften:50 Im Juni 1970 beteiligten sich circa 15.000 Familien an der Mietreduktion.51 Auch im Falle der autoriduzione verband die UNIA eine Aktionsform, die sich eigentlich durch die „pratica dell’obiettivo“52 also die ‚Praxis des Kampfziels‘ auszeichnete, mit einer Politik der Mediation: Es wurden Verhandlungen über ein Gesetz gefordert, welches die Miethöhe allgemein regeln sollte.53

45 Vgl. Tozzetti (1989), S. 189f.; Musci (1990), S. 28. 46 Vgl. Marcelloni (1974), S. 93. 47 Vgl. Tozzetti (1989), S. 190ff. Dass es sich bei den Besetzungen der UNIA Anfang Oktober 1969 tatsächlich um die ersten Besetzungen der Organisation handelte geht aus der Darstellung Tozzettis deutlich hervor, auch wenn es nicht explizit festgehalten ist, vgl. Tozzetti (1989), S. 192. 48 Wörtlich: ‚Eigenreduktion‘, gemeint ist die kollektive Mietkürzung. 49 Vgl. Tozzetti (1989), S. 196. 50 Vgl. Sirleto (1998), S. 57f. Die meisten der betroffenen Wohnungen gehörten dem Schatzministerium und dem Versorgungsanstalt für leitende Angestellte der Industrie INPDAI (Istituto Nazionale Previdenza per i Dirigenti di Aziende Industriali). 51 Vgl. Tozzetti (1989), S. 199f. 52 Revelli (1995), S. 450. Vgl. auch: Thomas Sablowski (1998): Italien nach dem Fordismus. Regulation und organische Krise einer kapitalistischen Gesellschaftsformation. Münster, S. 101. 53 Vgl. Sirleto (1998), S. 58. Zur Liberalisierung des Mietmarktes vgl. Sirleto (1998), S. 49.

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Gegen Ende des Jahres 1970 veränderte sich das Klima im Land: Den Gewerkschaften gelang es nach der Explosion des heißen Herbstes 1969 zunehmend, das Ruder in den Fabriken wieder in die Hand zu nehmen und die Agitation der radikalen außerparlamentarischen Gruppen ‚am Fließband‘ zu erschweren. Zudem wurde deutlich, dass die erkämpften Lohnzuwächse auch außerhalb der Fabriken verteidigt werden mussten, wenn sie nicht von steigenden Lebenshaltungskosten aufgefressen werden sollten. Vor diesem Hintergrund veränderte Lotta Continua (LC) als größte der im Gefolge von 1968 entstandenen Gruppen der Neuen Linken Ende 1970 ihre Strategie: „Prendiamoci la città“54 lautet der neue Slogan. Auch anderen Gruppen wie Potere Operaio vollzogen eine Abkehr von der reinen Lehre des Fabrikoperaismus und konzentrierten sich nun auf die Entwicklung von Kämpfen auf dem städtischen Terrain.55 So wuchs 1971 in der außerparlamentarischen Linken die Sensibilität für Miet- und Wohnraumkämpfe und die zuvor vor allem auf Rom beschränkten Hausbesetzungen begannen sich auf andere italienische Großstädte auszuweiten.56 In Zuge dieser zunehmenden Verlagerung der sozialen Konfliktualität auf das metropolitane Terrain wurde auch die Konfrontation zwischen PCI und Gewerkschaften einerseits und außerparlamentarischen Gruppen andererseits von den Fabrikhallen in die Stadtviertel transponiert.57 Die römischen außerparlamentarischen Gruppen Lotta Continua und Potere Operaio organisierten zwischen März und Juni 1971 eine Reihe von Besetzungen in den Stadtteilen Casalbruciato, Centocelle, Pietralata und Magliana. Im Zuge der Räumung kam es zu massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der PCI lehnte die Besetzungen kategorisch ab.58 Im Gegensatz zur Basisorganisierung des CAB blieb der Bezug der außerparlamentarischen Gruppen zur Bewohnerschaft der römischen Barackensiedlungen und ihren Bedürfnissen 1971 aber eher oberflächlich.59 Den Höhepunkt und Abschluss des von der erfolgreichen Aktion des CAB im August 1969 eröffneten Besetzungszyklus bildete eine Aktion der UNIA: Ende Oktober 1971 organisierte die Mietergewerkschaft die spektakuläre Besetzung von über 3000 Wohnungen durch etwa 10.000 Barackenbewohner in einer einzigen Nacht. Die Mietergewerkschaft forderte die sofortige Stellung von 5000 Wohnungen für besonders bedürftige Familien durch die Stadtverwaltung. Nach 30 Stunden wurden die Besetzer ohne Widerstand von einem Großaufgebot der Polizei geräumt.60 Dennoch schien die Massenbesetzung ihr Ziel nicht verfehlt zu haben: Am 5. November 1971 versprach der zuständige städtische Referent einer prominent besetzten Delegation der UNIA, die römische Kommune würde bis Weihnachten 6000 Wohnungen zur Verfügung zu stellen.61 Bald jedoch kehrte Ernüchterung ein: Die privaten Immobiliengesellschaften waren weder bereit an die Stadt zu vermieten noch zu verkau-

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Vgl. Bobbio (1988), S. 80ff. „Nehmen wir uns die Stadt“. Vgl. Grandi (2003), S. 170ff. Vgl. Marcelloni (1974), S. 94ff.; Il Manifesto vom 12.9.1974, S. 3. Vgl. Marcelloni (1974), S. 94ff. Vgl. Marcelloni (1974), S. 96f. und S. 100; Il Manifesto vom 12.9.1974, S. 3. Vgl. Marcelloni (1974), S. 101. Vgl. Tozzetti (1989), S. 227f. Vgl. Tozzetti (1989), S. 229f.

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fen und der Stadtrat lehnte es trotz wütender Proteste mit einer Mehrheit aus DC, PSDI, PRI, PLI und MSI ab, eine Beschlagnahme anzuordnen.62 Die UNIA fand sich damit in einer Sackgasse wieder: Sie hatte mit der spektakulären Massenbesetzung vom Oktober 1971 ihr aktionistisches Potential voll ausgeschöpft, und da eine Konfrontation mit der Staatsgewalt um jeden Preis verhindert werden sollte, erwies sich die Mietergewerkschaft Ende 1971 als unfähig, den Druck auf die Verantwortlichen nochmals zu erhöhen. Rückblickend können die über 3000 besetzten Wohnungen vom 30. Oktober 1971 als Höhe- und Schlusspunkt eines seit August 1969 andauernden Kampfzyklus um Wohnraum in Rom gelten,63 in welchem die UNIA unter dem Druck spontaner Basisdynamiken und der Neuen Linken ihr praktisches Repertoire erweiterte und radikalisierte und ihre Rolle als hegemoniale Kraft in den urbanen Kämpfen in Rom letztlich bewahren konnte.64 Dass aber Ende 1971 trotz der größten Besetzung in der römischen Geschichte das Versprechen der Kommunalverwaltung an die UNIA, 6.000 Wohnungen für besonders bedürftige Familien zu stellen, nicht eingehalten wurde, erschütterte das Vertrauen der Betroffenen in die Mietergewerkschaft nachhaltig. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die UNIA in den folgenden Jahren trotz der weiterhin ungelösten Wohnraumprobleme in Rom seltsam passiv blieb.65

1.3 Die römischen Stadtteilkomitees der 1970er Jahre Ab Anfang der 1970er Jahre trat neben die Kräfte der traditionellen und der neuen Linken ein weiterer Akteur, der sich um die Nöte und Anliegen der römischen Bevölkerung bemühte: Die Stadtteilkomitees. Die Entstehung zahlreicher Stadtteilkomitees in den italienischen Städten der frühen 1970er Jahren kann als Ausdruck einer seit 1968 gewachsenen Nachfrage nach politischer und sozialer Mitbestimmung in der italienischen Gesellschaft interpretiert werden.66 Während sich die oben skizzierten Aktivitäten der Gruppen der Neuen Linken oder die PCI-nahen Mietergewerkschaft UNIA jeweils eindeutig einem politischen Lager zuordnen lassen, fällt eine klare politische Einordnung bei den Stadtteilkomitees deutlich schwerer:67 Einige waren parteinahe oder sogar direkt von Parteien gegründet, andere agierten völlig parteiunabhängig. Die Agenda mancher Stadtteilkomitees war bürgerlich-moderat, die anderer wiederum radikal klassenkämpferisch. 1976 existierten nach Schätzun-

62 Vgl. Tozzetti (1989), S. 231f. 63 Von einem solchen Kampfzyklus von 1969 bis Herbst 1971 geht auch Tozzetti aus. Er bezieht sich dabei aber v.a. von den Aktionen der UNIA und setzt den Beginn des Zyklus deshalb erst im November 1969 an, vgl. Tozzetti (1989), S. 234. 64 Vgl. Marcelloni (1974), S. 85. 65 Vgl. Tozzetti (1989), S. 235 – 252. Die Organisation blieb weiterhin aktiv, konnte aber nicht mehr an die großen öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Vorjahre anknüpfen. 66 Vgl. Romano Bettini (1976): Il decentramento urbano a Roma, Pisa, S. 131 und S. 137; Grispigni (1990b), S. 3f. 67 Vgl. De Mucci (1985), S. 265.

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gen der linkskatholischen Zeitschrift La nostra assemblea über 90 Stadtteilkomitees in Rom.68 Zwei Untersuchungen der römischen Stadtteilkomitees von Mitte der 1970er Jahre ermöglichen es, einige Aussagen über deren räumliche Verteilung, Größe, politische Orientierung und soziale Zusammensetzung zu treffen:69 Stadtteilkomitees existierten in gutbürgerlichen Vierteln wie Balduina oder Prati, in eher kleinbürgerlich geprägten Vierteln wie Monteverde Vecchio, in Vierteln wie Trastevere, die Anfang der 1970er noch über eine sehr heterogene Bevölkerung – von proletarisch bis großbürgerlich – verfügten, in den kleinbürgerlich-proletarisch geprägten großen Stadtteilen der Peripherie wie Primavalle, Magliana oder Garbatella und in den borgate wie Torre Maura oder Monte Spaccato. Führte man die untersuchten Komitees auf die Bevölkerung jener Stadtteile zurück, in denen sie aktiv waren, so ‚repräsentierte‘ jedes Komitee durchschnittlich etwa 36.000 Menschen.70 Real bestanden die Komitees – ebenfalls im Durchschnitt – aus etwa 20 kontinuierlich aktiven Mitgliedern und circa einem Dutzend weiterer Personen, welche die gewöhnlich wöchentlich stattfindenden Treffen des Komitees hin und wieder besuchten. 71 Die durchschnittliche Mobilisierungskraft der Stadtteilkomitees bei öffentlichen Versammlungen oder Demonstrationen lag bei etwa 100 bis 200 Menschen.72 Der Altersdurchschnitt der Aktivisten lag bei etwa 33 Jahren, was sich aus der Tatsache erklärte, dass vor allem zwei Gruppen in den Komitees aktiv waren: Studenten und junge Eltern, die etwa 40 Jahre alt waren.73

68 Vgl. Roberto Morozzo Della Rocca (1976): Inchiesta sui comitati di quartiere a Roma, in: La nostra assemblea speciale (= Beilage zu La nostra assemblea 3/4), S. 1-12, hier: S. 2. Diese Schätzung korrespondiert gut mit derjenigen Bettinis, der Ende 1974 – also etwa eineinhalb Jahre vor der Untersuchung von La nostra assemblea – von ungefähr 80 Stadtteilkomitees in Rom ausgegangen war, vgl. Bettini (1976), S. 134. Zur politischen Zielsetzung der Untersuchung von La nostra assemblea und daher rührenden Interpretationstendenzen, vgl. Grispigni (1990b), S. 10. 69 Zum einen die Untersuchung Bettinis (1976), der gegen Ende des Jahre 1974 53 römische Stadtteilkomitees durch ausführliche Interviews analysierte und zum anderen die Untersuchung von Morozzo Della Rocca (1976) aus dem Frühjahr 1976, die 40 römische Stadtteilkomitees durch einen Fragebogen und direkte Beobachtung in den Blick nahm. Die Ergebnisse einer dritten Untersuchung der römischen Stadtteilkomitees von De Mucci (1985, S. 156ff.) aus dem Jahr 1985 kann nicht einfach als dritte synchrone Quelle hinzugezogen werden, wie dies Grispigni (1990b, S. 9f.) tut, hatte sich der Untersuchungsgegenstand selbst – also die Stadtteilkomitees – zwischen Mitte der 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre doch beträchtlich gewandelt. 70 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 2. 71 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 3; Bettini (1976, S. 140, Tabelle X) geht von deutlich höheren ‚Mitglieder‘-Zahlen aus, wobei sich diese eher auf die maximale Mobilisierungskraft der Stadtteilkomitees als auf deren kontinuierliche Teilnehmerschaft beziehen. 72 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 3; zu diesen Zahlen passen auch die Ergebnissen von Bettini (1976, S. 140, Tabelle XI). 73 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 3f.; Bettini (1976, S. 139) untersuchte nur die ,Leitungsgremien‘ der Stadtteilkomitees auf ihren Alterdurchschnitt, kam aber zu ähnlichen Ergebnissen.

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Der soziale Hintergrund der Aktivisten der Stadtteilkomitees spiegelte nur mit deutlichen Verzerrungen die soziale Komposition der jeweiligen Stadtteile wider: Die bürgerliche Bewohnerschaft war gegenüber der kleinbürgerlichen und proletarischen Bevölkerung gewöhnlich ebenso überrepräsentiert wie die Studenten, die in allen Stadtteilkomitees – außer jenen der borgate – etwa ein Drittel der Aktivisten stellten.74 Obwohl also die Stadtteilkomitees die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung des jeweiligen Viertels nicht unmittelbar wiedergaben, waren die Differenzen untereinander dennoch groß: Während in gutbürgerlichen Vierteln 62% der Aktivisten einen bürgerlichen oder großbürgerlichen Hintergrund hatten und 33% Studenten waren, verfügten in den Stadtteilkomitees der borgate 46% der Mitglieder über einen proletarischen und 35% über einen kleinbürgerlichen Hintergrund.75 Trotz der ausgeprägten Unterschiede hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung gab es eine Reihe von Themen, an denen fast alle Stadtteilkomitees arbeiteten, wie beispielsweise Urbanistik, Schule und Gesundheit.76 Aus Sicht Morozzo Della Roccas beschränkten sich allerdings allzu viele Stadtteilkomitees darauf, Probleme aufzuzeigen und anzuklagen, um anschließend in Zusammenarbeit mit den zuständigen Institutionen nach Wegen zu suchen, um Abhilfe zu schaffen, anstatt eigenständige Initiativen von unten ins Werk zu setzen:77 Das Handlungsrepertoire der Stadtteilkomitees war zumeist von Besprechungen, Petitionen, Versammlungen und Demonstrationen geprägt, wohingegen nur eine Minderheit direkte Interventionsformen wie Besetzungen praktizierte.78 Positive Ausnahmen bildeten hier in Morozzo Della Roccas Augen zum einen jene Stadtteilkomitees, in denen die Kräfte der außerparlamentarischen Linken eine zentrale Rolle spielten, und zum anderen die Komitees, die in den borgate, also in der marginalisierten römischen Peripherie aktiv waren: Während sich erstere durch eine breitere Palette von Forderungen und Interventionsformen auszeichneten, die von Aktionen gegen Preisauftrieb und Wohnraummangel bis zur Teilnahme an gewerkschaftlichen Bildungsprogrammen reichte, wurden letztere angesichts des Ausmaßes der Probleme in den borgate zum organisatorischen Kristallisationspunkt für praktische Solidarität unter den borgatari.79 In manchen bürgerlichen Stadtteilen hingegen bedingte in den Augen der Linkskatholiken gerade die starke Konzentration auf das eigene Viertel eine ‚korporative Tendenz‘, die seltsame Blüten treibe:80 Anstatt für das „diritto alla città“81 aller Römerinnen und Römer einzutreten, forderte beispielsweise das Stadtteilkomitee in der gutbürgerlichen

74 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 3; diese grundsätzliche Tendenz bestätigt auch die Untersuchung Bettinis (1976, S. 138f), sowohl hinsichtlich der Stadtteilkomitees als Ganze als auch hinsichtlich der Mitglieder der ‚Leitungsgremien‘. 75 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 3. 76 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 7 und S. 10. 77 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 7. 78 Vgl. Bettini (1976), S. 143. 79 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 8. Der Begriff borgatari bezeichnet die Bewohner der römischen borgate, also der zumeist proletarisch geprägten Siedlungen der Peripherie. 80 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 11. 81 Morozzo Della Rocca (1976), S. 11. „Recht auf Stadt“.

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Gegend um die Piazza Mazzini eine wissenschaftliche Oberschule für das eigene Viertel, in welchem aber keineswegs eine schulische Unterversorgung herrschte.82 Ein wesentliches Problemfeld für viele Stadtteilkomitees war die Frage nach der Rolle von Parteien. Die Ergebnisse der Untersuchungen weisen diesbezüglich einige Differenzen auf, die teilweise auf Entwicklungen zwischen den Untersuchungen und partiell auch auf begriffliche oder interpretatorische Unterschiede zurückgeführt werden können. Beide Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass in mehr als der Hälfte der jeweils untersuchten Stadtteilkomitees Parteien nicht unmittelbar als solche präsent sind.83 Während aber Bettini diese Stadtteilkomitees als „autonom“ definierte, unterstrich Morozzo Della Rocca die Tatsache, dass in fast all diesen Komitees Parteimitglieder als Privatpersonen beteiligt waren. Besonders groß war die Präsenz der linken Parteien.84 Obwohl die Democrazia Cristiana (DC) im Vergleich zu ihrer gesamtgesellschaftlichen politischen Dominanz eher schwach vertreten war, darf auch die Präsenz katholischer Aktivisten nicht unterschätzt werden: An 30 der von Morozzo Della Rocca untersuchten 40 Stadtteilkomitees waren Mitglieder der lokalen Pfarrgemeinde oder katholische Basisgruppen wie die mystizistische Communione e Liberazione oder die linkskatholischen Cristiani per il Socialismo beteiligt.85 Insgesamt kam Bettini zu dem Ergebnis, dass gut die Hälfte der von ihm Ende 1974 untersuchten Stadtteilkomitees als autonom gelten könnten, während Morozzo Della Rocca davon ausging, dass unter den Anfang 1976 untersuchten Stadtteilkomitees nur gut ein Drittel weitgehend parteiunabhängig agierten.86 Ob diese Unterschiede auf die Entwicklung im Zeitraum zwischen den Untersuchungen zurückzuführen ist oder aber auf den kritischeren Blick Morozzo Della Roccas, was Parteieneinfluss betraf, ist schwer zu bestimmen. Klar ist jedoch, dass die parteipolitische Durchdringung der italienischen Gesellschaft um die Mitte der 1970er Jahre einen Höhepunkt erreichte und die Parteien große Anstrengungen unternahmen, die Stadtteilkomitees zu kooptieren.87 Dort wo die Stadtteilkomitees tatsächlich als parteiunabhängige Basisstrukturen agierten, entwickelte sich deshalb häufig ein Konkurrenzverhältnis zu den Parteien, welches jene Dynamik von Gründung, Spaltung, Fluktuation und Neugründung mit bedingte, die das Bestehen vieler Stadtteilkomitees charakterisierte.88 Allerdings sind die Ergebnisse der beiden Untersuchungen nur Momentaufnahmen: Insgesamt scheinen die meisten Stadtteilkomitees, die bald nach 1968 entstanden, als parteiunabhängige konfliktuale Basisstrukturen gegründet worden zu sein. Ab 1973/4 scheinen die

82 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 8. Damit bewegte sich das lokale Stadtteilkomitee in den Augen der Autoren in einer ähnlichen Logik wie die lokale Sektion des MSI im bürgerlichen Stadteil Balduina, die die gleiche Forderung stellte, vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 8. 83 Vgl. Bettini (1976), S. 135; Morozzo Della Rocca (1976), S. 4. 84 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 4; Bettini (1976), S. 135 bzw. S. 138. 85 Vgl. Morozzo Della Rocca (1976), S. 4. 86 Vgl. Bettini (1976), S. 135; Morozzo Della Rocca (1976), S. 4f. 87 Vgl. Grispigni (1990b), S. 13 und Bettini (1976), S. 132. 88 Vgl. De Mucci (1985), S. 56; Morozzo Della Rocca (1976), S. 5f.

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Parteien – PCI in primis – dann zunehmend versucht zu haben, ihren Einfluss in den Stadtteilstrukturen auszubauen.89

2 LA MAGLIANA – „MODELLO DELLA SPECULAZIONE “90 2.1 Die Entstehung der Magliana Der Stadtteil Magliana Nuova91 entstand spät: Das am westlichen Ufer einer Tiberschleife im Süden Roms gelegene Terrain war nicht Teil des faschistischen Stadtentwicklungsplans von 1931, der die Expansion Roms in Richtung Meer vorsah.92 Als die faschistischen Planer ein Gelände für die Dauerausstellung von 1942 zur Feier des 20. Jahrestages des ‚Marsches auf Rom‘ suchten, wurde das Gebiet, auf dem später die Magliana entstehen sollte, bewusst aus den Planungen ausgeklammert, weil das Gelände aufgrund seiner Lage in einer Senke sehr feucht war. Im Winter 1937 war das Gelände zudem komplett vom Tiber überschwemmt worden und somit war deutlich geworden, dass umfassende Hochwasserschutzarbeiten vor einer Bebauung nötig wären.93 Als das Stadtentwicklungsprojekt des Faschismus allerdings nach Kriegsende weiterverfolgt wurde, entwickelte sich die Magliana zur letzten Freifläche in jenem Bereich der Stadt, der durch die Ausdehnung Richtung Meer eine unmittelbare Wertsteigerung erfuhr. 1949 hatte die römische Kommune auf Anfrage beim Bauministerium zudem die Erlaubnis erhalten, auch Flächen wie jene der Magliana, die im Stadtentwicklungsplan von 1931 nicht zur Bebauung vorgesehen gewesen waren, zur Bebauung freizugeben.94 So präsentierte die römische Kommunalverwaltung im Januar 1950 einen Bebauungsplan für die Magliana, der schließlich nach einigen Veränderungen 1954 angenommen wurde.95 Der Plan sah vor, auf einem 70 ha großen Areal Wohnraum für 40.000 Menschen zu schaffen, wobei die Gebäudehöhe 22 Meter nicht überschreiten sollte. Im Zuge des Annahmeverfahrens wurde zudem eine für die Zukunft der Magliana bedeutende Bestimmung getroffen: Jene 42 ha des Gesamtareals, die zwischen der Via della Magliana und dem Tiber lagen, sollten um sieben Meter aufgeschüttet werden, um sicherzustellen, dass der

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Vgl. Grispigni (1990b), S. 11. „Modell der (Immobilien-)Spekulation“. Im Folgenden einfach Magliana, was dem heutigen römischen Sprachgebrauch entspricht. Vgl. Comitato di quartiere (Hg.): La Magliana. Vita e lotte in un quartiere proletario. Rom 1977. Anmerkung 1, S. 22. 93 Vgl. L’altra Roma 1 (1976), S. 3. 94 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 22f. 95 Der Bebauungsplan der Magliana wurde 1954 als ‚piano particolareggiato 123 bis‘ angenommen.

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Tiber auch bei Hochwasser keine Überschwemmungsgefahr für das Viertel darstellen würde.96 Mit der Annahme des Bebauungsplans brach allerdings keineswegs ein Bauboom in der Magliana aus. Im Gegenteil: Bis zur Annahme des neuen Stadtentwicklungsplans am 18. Dezember 1962 entstand in der Magliana kein einziges Gebäude. Da aber der neue Stadtentwicklungsplan die alten Bebauungspläne für bestimmte Gebiete nicht ablöste, sondern integrierte, wurde die Magliana zum idealen Spekulationsobjekt: Hier konnten die Standards des neuen Stadtentwicklungsplans hinsichtlich der Bebauungsdichte und der notwendigen öffentlichen Flächen durch die Existenz eines alten Bebauungsplans unterlaufen werden. Während der neue Stadtentwicklungsplan beispielsweise höchstens 400 Bewohner pro ha zuließ, waren es nach den Maßgaben des alten Bebauungsplans der Magliana bis zu 600 Bewohner. Kritiker schätzten, dass der Gesamtkostenvorteil bei der Bebauung der Magliana gegenüber einem gleich großen Terrain nach Vorschriften des Stadtentwicklungsplans von 1962 nach Preisen von 1974 etwa 20 Milliarden Lire betrug.97 So war es kaum verwunderlich, dass nach der kurzen Immobilienkrise der Jahre 1964 und 1965 Privatfirmen unter der Führung des Gruppo Condotte von Aladino Minciaroni, finanziert durch Kredite der BNL, die Bebauung der Magliana rasch vorantrieben: Zwischen 1965 und 1969 entstanden circa 2,5 Millionen m3 Wohnraum. 1975 war die Bebauung vollständig abgeschlossen: Auf 43 ha waren 7.800 Wohnungen mit circa 3 Millionen m3 Wohnraum entstanden – 30% mehr als es die Normen des Stadtentwicklungsplans von 1931 für eine entsprechende Fläche erlaubt hatten.98 Die Bevölkerungsdichte in der Magliana lag mit etwa 800 Bewohnern pro ha rund doppelt so hoch wie es der Stadtentwicklungsplan von 1962 vorsah.99 Die Verpflichtung zur Aufschüttung des gesamten Terrains zwischen Via della Magliana und dem Tiber war von den privaten Baugesellschaften nicht nur ignoriert, sondern sogar dazu benutzt worden, die maximale Bauhöhe von 22 Metern auszuhebeln: Die Höhe der Wohnblöcke war mit Zustimmung der Stadt nicht vom Boden aus gemessen worden, sondern erst ab einer Höhe von sieben Metern, da diese sieben Meter durch die bevorstehende Aufschüttung unter der Erde verschwinden sollten. Doch die Aufschüttung erfolgte nie, was dazu führte, dass die Magliana bei Tiberhochwasser stets von Überschwemmungen bedroht war.100

96 Vgl. Marco Spada: Il potere periferico. La Magliana: Un quartiere in lotta per una nuova città. Rom 1976. S. 153ff.; Comitato di quartiere (1977), S. 23; L’altra Roma 1 (1976), S. 3. 97 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 24f.; L’altra Roma 1 (1976), S. 3. 98 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 29. 99 Vgl. La Repubblica vom 30.1.1976, S. 14. Die Schätzungen der Zeitschrift Urbanistica Informazioni waren noch deutlich dramatischer: Sie ging 1974 von 40.000 Einwohnern auf 37 ha aus und damit von einer Einwohnerdichte von 1.080 Einwohnern pro ha, vgl. Urbanistica Informazioni 13 (1974), (= Beilage zu: Urbanistica. Rivista dell’Istituto nazionale di urbanistica), in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 5556. 100 Vgl. Bonomo (2003), S. 88.

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Abb. 1.1 Überschwemmung in der Magliana der 1970er Jahre. Die Bauträger aber hatten durch diesen eklatanten Verstoß gegen die Bauvorschriften zwei Stockwerke gewonnen – ein spektakulärer Fall von abusivismo, der nicht einzelne Bauten, sondern das ganze Viertel betraf.101 Dass die in der Magliana aktiven Bauunternehmen auch alle erdenklichen Infrastrukturleistungen ‚einsparten‘, bildete angesichts dieser Zustände nur noch eine Fußnote des Skandals: Das Viertel verfügte Anfang der 1970er Jahre weder über asphaltierte Straßen noch über eine Straßenbeleuchtung. Das Abwassersystem des Viertels war nicht an das öffentliche Abwassersystem angeschlossen.102 Das Kalkül der Spekulanten war einfach: Der größtmöglich Anteil jener Kosten, die die Errichtung tausender von Wohnungen in der Magliana eigentlich mit sich gebracht hätte, sollte eingespart und so in letzter Instanz der römischen Kommune aufgezwungen werden.

101 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 34. 102 Vgl. Bonomo (2003), S. 88.

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Abb. 1.2 Das Zentrum der Magliana in den frühen 1970er Jahren: Keine asphaltierten Straßen, keine Straßenbeleuchtung, keine Grünflächen.

Doch auch die Versorgung der Magliana mit öffentlichen Dienstleistungen war lange Zeit extrem mangelhaft. Noch 1974 gab es in der Magliana neben einer Grundschule, einer Mittelschule103 und einem Markt keinerlei öffentliche Einrichtungen. Es fehlten beispielsweise Grünflächen, Sportplätze und Institutionen der öffentlichen Gesundheitsversorgung.104 Diese mangelhafte Versorgung schlug sich auch in schlichten Zahlen nieder: In dem Viertel wurden 1974 nur 1,2 ha für öffentliche Einrichtungen genutzt. Nach den urbanistischen Standards des Ministero dei lavori pubblici von 1968 hätten für die etwa 40.000 Einwohner der Magliana jedoch 72 ha für öffentliche Einrichtungen zur Verfügung stehen müssen, nach dem römischen Stadtentwicklungsplan von 1962 immerhin 61 ha. In jedem Fall also Flächen in einer Größenordnung, welche die Gesamtoberfläche des Viertels überschritt.105

103 Zum italienischen Schulsystem vgl. Richard Brütting (Hg.) (1995): Italien-Lexikon. Berlin, S. 730-735. Die achtjährige Schulpflicht teilt sich in Italien auf fünf Jahre Grundschule (‚scuola elementare‘) und drei Jahre Mittelschule (‚scuola media‘) auf. 104 Vgl. Paese Sera vom 29.6.1977, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl.111-113; Urbanistica Informazioni 13 (1974), (= Beilage zu: Urbanistica. Rivista dell’Istituto nazionale di urbanistica), in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 55-56. 105 Vgl. Urbanistica Informazioni 13 (1974), (= Beilage zu: Urbanistica. Rivista dell’Istituto nazionale di urbanistica), in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 55-56.

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Abb. 1.3 Eine Szene aus der Magliana in den frühen 1970er Jahren verdeutlicht den Mangel an öffentlicher Infrastruktur im Stadtteil: Kinder stehen Schlange an einer Rutsche.

Während die staatliche Banca Nazionale del Lavoro den Wohnungsbau großer Privatfirmen jenseits aller urbanistischen Maßgaben finanzierte, gelang es der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft GESCAL im gleichen Zeitraum nicht, die ihr zugewiesenen Mittel zu investieren – sie blieb auf hunderten Milliarden Lire sitzen und wurde schließlich aufgelöst.106 Dass sich auch das Geschäftsgebaren der Banca Nazionale del Lavoro jenseits jedes wirtschaftlichen Sachverstandes vollzog, passt da nur ins Bild: So wurde beispielsweise eine Immobiliengesellschaft Raffaele Straziotas – eines der wichtigsten Immobilienunternehmer in der Magliana – von der staatlichen Bank mit Krediten im Wert von 1.360.000.000 Lire versorgt, obwohl sie nur über Eigenkapital im Wert von 100.000 Lire verfügte. Dass die Geschäftspraxis eines Unternehmens mit einer Eigenkapitalquote von 1:13.000 hochspekulative Züge tragen würde, musste auch für die Kreditgeber absehbar sein.107 Durch die Untätigkeit der GESCAL war die römische Kommune gezwungen, Wohnungen zu hohen Marktpreisen von Privatfirmen zu kaufen oder zu mieten, um Bedürftigen Sozialwohnungen zur Verfügung stellen zu können. Als zweiter öffentlicher Akteur traten daneben die Versicherungsinstitute auf den Plan, die die Einzahlungen ihrer Mitglieder unter anderem in Immobilien investierten: So kaufte die Versorgungsanstalt für leitende Angestellte INPDAI (Istituto Nazionale Previdenza per i Dirigenti di Aziende Industriali) Ende 1970 hunderte Wohnungen in der Magliana. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als 2.500 der bis dato fertiggestellten circa

106 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 28; Sirleto (1998), S. 61; De Nicolò (2000), S. 106. 107 Vgl. La Repubblica vom 30.1.1976, S. 14.

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6.000 Wohnungen in der Magliana an öffentliche Träger übergegangen.108 Auch die anderen Wohnungen wollten die privaten Immobiliengesellschaften möglichst bald en bloc an die römische Kommunalverwaltung verkaufen109 – die Magliana war also ein von privaten Immobiliengesellschaften mit staatlichen Krediten errichtetes Stadtviertel, mit dessen Errichtung darauf abgezielt wurde, jene Nachfrage der öffentlichen Hand nach Wohnraum zu befriedigen, die durch die Passivität der staatlichen Wohnungsbaugesellschaften erzeugt worden war. So konnten private Immobiliengesellschaften praktisch ohne Einsatz von Eigenkapital schnell große Profite aus einem Markt schlagen, den erst die Dysfunktion staatlicher Wohnungsbaugesellschaften wie der GESCAL hatte entstehen lassen. Doch das Kalkül der privaten Immobiliengesellschaften wurde nachhaltig erschüttert, als die Bewohner der Magliana 1971 ihre Kämpfe begannen.

2.2 Die Sozialstruktur der Magliana Zum besseren Verständnis der sozialen Kämpfe in der Magliana erscheint es notwendig, die Bevölkerungsstruktur des Stadtteils genauer zu beschreiben – was allerdings angesichts der mangelhaften Quellenbasis nur eingeschränkt möglich ist.110 Hinsichtlich der Beschäftigungsstruktur liegen keine Untersuchungen vor, die die Bevölkerung der Magliana mit derjenigen Roms insgesamt vergleichen. Eine Untersuchung von 1975, welche die Beschäftigungsstruktur von 437 Familien, die an den Mieterkämpfen in der Magliana teilnahmen, mit den statistischen Daten zu ganz Rom verglich, ergab keine dramatischen Abweichungen: Die Zahl der autoriduttori111-Haushaltsvorstände, die sich in der Industrie oder im Handel verdingten war jeweils 2,5 bis 4% höher als der römische Durchschnitt, die Zahl derer, die als Bauoder Transportarbeiter oder im öffentlichen Dienst beschäftigt waren, war jeweils um

108 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 28. 109 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 34. 110 Dazu stehen die Ergebnisse von drei Untersuchungen in den 1970er Jahren zur Verfügung. Zum einen die Ergebnisse zweier Untersuchungen des Centro Stampa Comunista: Einerseits eine Umfrage von 1971 zur Beschäftigungsstruktur, andererseits eine Untersuchung von 1973 zu Herkunft, Altersstruktur und Familienstruktur der Bevölkerung der Magliana, vgl. Spada (1976), S. 160 – 163. Problematisch ist, dass keinerlei Angaben zu Art und Umfang der Untersuchung gemacht werden. Zum anderen führte das Comitato di quartiere 1975 eine Umfrage unter 437 autoriduttori-Familien durch, die auf Alters- und Beschäftigungsstruktur abzielte, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 35-37. Alle im Folgenden behandelten Daten sind also mit Vorsicht zu genießen, da sie aus statistisch wenig validen Untersuchungen stammen und sicherlich durch das Erkenntnisinteresse der Untersuchenden geprägt sind. Außerdem sind die Daten durch die unterschiedliche Kategorisierung kaum zueinander in Beziehung zu setzen. Als Vergleichbasis dienen jeweils die Daten des gesamtrömischen Zensus von 1961, was durch die zehn Jahre Abstand den Vergleich nochmals erschwert. 111 Partizipant der autoriduzione.

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etwa 2% niedriger als im römischen Durchschnitt, während die Anzahl derjenigen, die in anderen Bereichen der privaten Dienstleistungsbranche arbeiteten, genau im römischen Mittel lag.112 Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die hier verwendeten Kategorien mehr verschleiern, als sie aussagen: Ingenieure und Hilfsarbeiter werden im Beschäftigungszweig der Industrie ebenso zusammengefasst wie Richter und Putzfrauen im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Die zeitgenössische Einschätzung des Stadtteilkomitees zur Beschäftigungsstruktur der Bevölkerung in der Magliana lautet wie folgt: „Nel quartiere rispetto al resto della città notevole è la presenza di operai dell’industria, spiegabile con la vicinanza di poli industriali come Pomezia e la stessa Magliana; di addetti al commercio, la maggioranza dei quali sono baristi, commessi, fattorini, una mano d’opera cioè poco qualificata che lavora fuori dal quartiere. La burocrazia statale, così prevalente a Roma, usufruisce invece sicuramente, anche nei ranghi più bassi, di un reddito che le consente non appena può di abbandonare il quartiere. Quelli che vi restano sono poliziotti e carabinieri […].“113 Zumindest die letzte Aussage erscheint aufgrund der Ergebnisse einer anderen Untersuchung fraglich: Nach den Zahlen des Centro Stampa Comunista von 1971 war nur etwa ein Zehntel der in der Magliana wohnenden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Polizisten und Carabinieri (2,6%).114 Die größte Beschäftigtengruppe in der Magliana stellten nach dieser feiner aufgeschlüsselten Untersuchung mit 21,7% die in Handel und im Dienstleistungsbereich prekär Beschäftigten ohne Berufsausbildung dar.115 Auch die Zahl der Arbeitslosen lag mit knapp 10% Anfang der 1970er Jahre recht hoch.116 Insgesamt scheint Domenico Cecchini, damaliger Aktivist von Lotta Continua und autoriduttore in der Magliana und späterer Stadtentwicklungsreferent, richtig zu liegen, wenn er die Bevölkerung des Neubaugebiets als weitgehend repräsentativen Ausschnitt der römischen Bevölkerung apostrophiert: „Era una popolazione quella

112 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 37. 113 Comitato di quartiere (1977), S. 36f. „Im Stadtteil ist im Vergleich zum Rest der Stadt die Präsenz von Industriearbeitern bemerkenswert, die sich mit der Nähe zu industriellen Zentren wie Pomezia und nicht zuletzt der Magliana selbst erklären lässt. Außerdem ist die Präsenz von Angestellten in Handel und Gewerbe bemerkenswert, die in ihrer Mehrheit als Barmänner, Verkäufer oder Laufburschen, d.h. als geringqualifizierte Arbeitskräfte außerhalb des Viertels arbeiten. Die Staatsbediensteten, die in Rom stark vertreten sind, beziehen hingegen sicher auch auf den unteren Ebenen ein Gehalt, das es ihnen ermöglicht, das Viertel bald zu verlassen. Jene, die dort bleiben, sind Polizisten und Carabinieri […].“ 114 Vgl. Spada (1976), S. 160. Allerdings datieren die Untersuchungen des Centro Stampa Comunista, aus denen diese Zahlen stammen, von 1971 bzw. 1973 und damit eher aus der Anfangszeit der autoriduzione-Bewegung in der Magliana. Ob sie damit geeignet sind, die These des Stadtteilkomitees zu widerlegen, nach der die Vermieter in der Magliana zunehmend Polizisten und Carabinieri als Neumieter vorzogen, um gegen autoriduzione in ihren Wohnblocks gefeit zu sein, ist fraglich. 115 Vgl. Spada (1976), S. 160. 116 Vgl. Spada (1976), S. 160. Die offizielle italienische Arbeitslosenquote lag in den Jahren 1971 bis 1973 zwischen 5,4 und 6,4%, vgl. Ginsborg (1990), S. 450.

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che arrivò in questo nuovo quartiere […] che era fatta sopratutto di impiegati, operai, artigiani: Impiegati di livello (basso), […] bidelli delle scuole, c’erano diverse persone che lavoravano a Fiumicino […] nelle ditte che facevano il movimento dei […] bagagli. Proprio […] popolo romano addetto […] a vari tipi di servizi.“117 Die Altersstruktur der Bevölkerung der Magliana hingegen zeigte deutliche Abweichungen gegenüber dem römischen Durchschnitt: Die Gesamtbevölkerung der Magliana scheint in weit überdurchschnittlichem Maße aus jungen Familien bestanden zu habe. Gerade Kinder zwischen null und 14 Jahren sowie junge Eltern zwischen 25 und 34 Jahren waren in der Magliana deutlich überrepräsentiert.118 Auch die autoriduttori-Familien der Magliana spiegeln diese Abweichung von der römischen Durchschnittsbevölkerung deutlich wieder: Die Altersklasse von 25 bis 44 Jahren ist bei den Familienvorständen mit 69,5% gegenüber dem römischen Durchschnitt (45,1%) deutlich überrepräsentiert.119 Zudem scheinen die Familien in der Magliana häufiger außergewöhnlich groß gewesen zu sein als im römischen Durchschnitt: Familien mit fünf, sechs, sieben und mehr Kindern waren in der Magliana deutlich häufiger vertreten.120 Vergleicht man schließlich den Geburtsort der Familienvorstände in der Magliana mit denen Roms insgesamt, so wird klar, dass fast die Hälfte der Familienväter der Magliana aus Rom stammten, während es im römischen Durchschnitt 1961 nur etwas mehr als ein Drittel waren. Gut ein Viertel der Familienvorstände in der Magliana stammte aus Süditalien, was in etwa dem römischen Durchschnitt von 1961 entsprach. Über 80% der Familien waren aus einem anderen römischen Stadtteil in die Magliana gezogen und kamen nicht direkt von außerhalb – eine Bevölkerung mit metropolitanem Erfahrungsschatz also, die durchaus in der Lage war, die Lebensbedingungen in der Magliana mit denjenigen in anderen römischen Stadtteilen zu vergleichen.121 Zusammenfassend lassen sich trotz der recht schwammigen Quellenbasis einige tentative Aussagen über die Bevölkerung der Magliana im Allgemeinen und die autoriduttori der Magliana im Besonderen treffen: Die Bewohner der Magliana waren gegenüber der römischen Durchschnittsbevölkerung besonders häufig junge und oft sehr große Familien, von denen viele sich nach langen Jahren des Zusammenlebens mit den (Schwieger-)Eltern oder anderen Verwandten mit dem Umzug in die neu erbaute Magliana zum ersten Mal den Traum von einer eigenen Wohnung erfüllten.122 Zugleich handelte es sich bei den jungen Eltern der Magliana um jene Generationenkohorte, deren Mitglieder zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil Erfahrungen mit

117 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 27:15 - 27:50. „Die Bevölkerung, die in diesem neuen Viertel […] ankam, bestand vor allem aus Angestellten, Arbeitern und Handwerkern: Angestellte auf (unterem) Niveau, […] Schulhausmeister, es gab einige Leute, die in Fiumicino arbeiteten […] in den Firmen, die für den Transport des […] Gepäcks zuständig waren. Wirklich […] einfache römische Bevölkerung, die […] in den verschiedenen Dienstleistungssektoren arbeitete.“ 118 Vgl. Spada (1976), S. 162. 119 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 36. 120 Vgl. Spada (1996), S. 163. 121 Vgl. Spada (1976), S. 161f. 122 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 36.

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den sozialen Kämpfen seit 1968 gemacht hatten und diese nun an ihren neuen Wohnort mitbrachten.123 Die Beschäftigungsstruktur der Familienvorstände in der Magliana weist keine besonderen Abweichungen im Vergleich zu den gesamtrömischen Daten auf. Da die Analysekategorien der vorliegenden Untersuchungen aber nur sehr eingeschränkte Aussagen über die tatsächliche Verortung der Untersuchten im sozialen Raum zulassen, ist es kaum möglich, die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung der Magliana präzise zu beurteilen. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass sich die Magliana als gesichtsloses Neubauviertel mit vergleichsweise niedrigen Mieten und hoher Sozialwohnungsquote zu einem Magneten für junge Unterschichtsfamilien entwickelte.124 Es waren anfangs wohl eher die Charakteristika des Stadtteils, die seine Bewohnerschaft determinierten, als umgekehrt: „La mancanza di iniziative pubbliche, i fitti leggermente al di sotto di quelli comuni alle operazioni speculative, la prossimità ad alcuni importanti centri produttivi e al tempo stesso le caratteristiche marcatamente economiche dell’edilizia hanno praticamente selezionato gli abitanti del quartiere in base all’occupazione e al reddito. In pochi mesi si è creata una concentrazione di proletari, operai, e impiegati delle categorie inferiori, trapiantati da tutti i quartieri popolari di Roma […].“125 Die Bevölkerung teilte sich auf jene circa 8.000 Wohnungen in der Magliana auf, die um Mitte der 1970er Jahre folgendermaßen strukturiert waren: Etwa 1.000 Wohnungen waren von der römischen Kommune angemietet und als Sozialwohnungen an bedürftige Familien vergeben. Ungefähr 1.500 Wohnungen waren im Besitz des öffentlichen Versicherungsinstituts INPDAI und wurden von diesem vermietet. Circa 1.000 Wohnungen waren an Familien verkauft worden. Etwa die Hälfte des Wohnungsbestandes der Magliana, also ungefähr 4.000 Wohnungen, war noch in der Hand der Immobilienfirmen, die sie errichtet hatten, und wurden an Familien vermie-

123 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 35. 124 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 35. Da die Magliana kein eigenes quartiere, also kein offizielles Stadtviertel Roms ist, taucht das Viertel nicht gesondert in der von John Agnew aus aggregierten Sozialdaten des Jahres 1981 erstellten social geography der italienischen Hauptstadt auf. Die soziale Position von Portuense, jenem quartiere, zu dem die Magliana zählt, scheint aber recht gut die Position der Magliana selbst widerzuspiegeln: D3 – eine Position in der unteren Hälfte des Spektrums der 38 quartieri und ‚suburbi‘. Es fällt auf, dass kein anderer römischer Stadtteil auf der westlichen Tiberseite mit derart ‚schwacher‘ Sozialstruktur so nahe am Zentrum der Stadt liegt wie Portuense. Im Osten der Stadt hingegen finden sich mit Vierteln wie Tuscolano, Prenestino und Tiburtino vergleichbare quartieri popolari – also Wohnviertel der einfachen Bevölkerung – relativ nahe am Zentrum, vgl. Agnew (1995), S. 114f. 125 Comitato di quartiere (1977), S. 35. „Der Mangel an öffentlichen Dienstleistungen, das Mietniveau leicht unter demjenigen, das bei anderen Spekulationsobjekten üblich war, die Nähe zu einigen wichtigen Produktionsstandorten und die gleichzeitig ausgesprochen billige Bauweise haben die Bewohner des Stadtteils praktisch auf Grundlage ihrer Beschäftigung und ihres Einkommens aussortiert. Innerhalb weniger Monate bildete sich eine Konzentration von Proletariern, Arbeitern und unteren Angestellten, die aus allen einfachen Vierteln Roms kamen […].“

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tet. Hinzu kamen etwa 630 Wohnungen, die im Laufe der Zeit von bedürftigen Familien besetzt worden waren.126

3 LA MAGLIANA – „MODELLO DELLA LOTTA “127 3.1 Der Beginn des Kampfes und die Gründung des Stadtteilkomitees In dem neuen Stadtteil, der sich ab Ende der 1960er Jahre zu bevölkern begann, entstanden bald erste soziale Auseinandersetzungen: 1970 begannen von der UNIA organisierte Mieter in Wohnungen der öffentlichen Versicherungsgesellschaft INPDAI eine 30%ige Reduktion ihrer Mieten.128 Eine solche Mietreduktion war im Rom dieser Jahre nicht außergewöhnlich: 1970 betrieben über 10.000 römische Familien in Wohnungen öffentlicher Versicherungsinstitute eine autoriduzione ihrer Mieten.129 Doch auch bei den Mietern der privaten Immobiliengesellschaften in der Magliana griff die Unzufriedenheit um sich: Ein Gruppe von Frauen, die mit ihren Familien in Gebäuden der privaten Immobiliengesellschaft Lisbona wohnten, überlegte, ob es möglich sei, auch hier die Mieten zu reduzieren. Doch es gab berechtigte Zweifel: „[…] ci chiedevamo: ‚Ma chissà se si può fare anche qui la riduzione dei fitti.‘ Allora molte dicevano: ‚Be’, ma non è un ente previdenziale, questo è un padrone; il padrone ti può cacciar via appena fai qualcosa...‘“.130 Als schließlich eine Gruppe von Mieterinnen privater Immobiliengesellschaften bei der UNIA wegen der Organisation einer autoriduzione ihrer Mieten anfragte, wurden sie abgewiesen: Die Mietreduktion in Gebäuden von privaten Immobilienkonzernen führe – anders als die Reduktion in Wohnungen öffentlicher Vorsorgegesellschaften – unweigerlich zur Zwangsräumung und sei somit unverantwortliches Abenteurertum.131 Damit schien der Traum von einer Mietreduktion in den Privatwohnungen der Magliana geplatzt. Die politische Situation in der Magliana veränderte sich, als im Frühjahr 1971 die soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft einen grundsätzlichen Wandel erfuhr: In den Monaten April und Mai wurden von Seiten der römischen Stadtverwaltung

126 Vgl. Corriere della Sera vom 24.2.1977, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl 110. Zu den letztgenannten besetzten Wohnungen vgl. Kapitel II. 127 „Modell des (Mieter-)Kampfes“. 128 Vgl. Magliana in Lotta 1 (1972), S. 3, in: Memoria di Carta (MC), Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 129 Vgl. Sirleto (1998), S. 57f. 130 Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 177. „[…] wir fragten uns: ‚Wer weiß, ob man auch hier eine Mietreduktion machen kann.‘ Damals sagten viele: ‚Gut, aber das ist keine öffentliche Versorgungsgesellschaft, das ist ein Eigentümer; der Eigentümer kann dich rauswerfen, sobald Du etwas machst….‘“ 131 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 42 bzw. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 177.

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knapp 1.000 Familien aus Barackensiedlungen in Sozialwohnungen in der Magliana untergebracht132 – eine bedeutende Zahl, wenn man von gut 6.000 fertig gestellten Wohnungen in der Magliana zu diesem Zeitpunkt ausgeht.133 Durch den Zuzug der Ex-baraccati134 entstand mit den Sozialwohnungsblöcken zwischen Via Vaiano, Piazza Certaldo und Viale Vicopisano eine subproletarische Aggregation im Zentrum der Magliana,135 welche den proletarischen Charakter des Stadtteils unterstrich. Die Neuankömmlinge verfügten zu einem nicht unbeträchtlichen Teil über eine eigene widerständige Geschichte: Viele von ihnen stammten aus der Barackensiedlung Prato Rotondo136 und die Zuweisung der Wohnungen an sie war Folge eines langen und zähen Kampfes, in welchem der linke Salesianerpriester Gérard ‚Gerardo‘ Lutte eine zentrale Rolle gespielt hatte.137 Lutte und ein von ihm geführter Kreis linkskatholischer und marxistischer Studenten hatten seit etwa 1967 verschiedene soziale und kulturelle Initiativen in Prato Rotondo entwickelt, die von einer Nachmittagsbetreuung für Kinder über eine Abendschule für interessierte Eltern bis hin zu einer von Medizinstudenten der römischen Universität ‚La Sapienza‘ organisierten Medizinstation, einem ambulatorio, reichten, welches über Verhütung aufklärte und der medizinischen Unterversorgung der Bewohnerschaft entgegenwirkte.138 Außerdem war auf Initiative Don Luttes und eines kleinen Kreises lokaler PCI-Aktivisten mit dem Comitato di borgata139 eine politische Basisorganisation geschaffen, im Rahmen derer

132 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 42. 133 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 29. Vittorio Vidotto verwechselt in seinen Ausführungen zur Magliana offensichtlich mehrmals die Zahlen zu Bewohnern und Wohnungen. Er geht fälschlicherweise von 1000 ehemaligen Barackenbewohnern aus, die 1971 in die Magliana zogen, vgl. Vidotto (2006), S. 312. Real handelte es sich um 1.000 Barackenbewohnerfamilien, die 1.000 Wohnungen in der Magliana bezogen, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 42. Ebenso ist falsch, dass 1971 etwa 6.500 Menschen in der Magliana lebten, vgl. Vidotto (2006), S. 311, Anm. 35. Tatsächlich waren 1971 etwa 6.500 Wohnungen in der Magliana fertiggestellt, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 29. 134 Baraccati bedeutet ‚Barackenbewohner‘ und war ein im Rom der 1970er Jahre häufig negativ konnotierter Terminus, da den baraccati kriminelle Neigungen unterstellt wurden. 135 Vgl. Bonomo (2003), S. 89. 136 Nach Schätzungen des Centro cittadino delle Consulte popolari lebten 1968 430 Familien im borghetto Prato Rotondo (vgl. Sirleto (1998), S. 34). Gut zweihundert dieser Familien erhielten Sozialwohnungen in der Magliana, vgl. Gerardo Lutte (1977): Dalla borgata di Prato Rotondo al quartiere della Magliana, in: Critica Sociologica 41, S. 11-29, hier: S. 21. Obwohl also nur etwa ein Viertel der Barackenbewohnerfamilien, die 1971 in der Magliana ankamen, aus Prato Rotondo stammten, bildeten diese aufgrund ihrer guten Organisation und ihrer kämpferischen Vorgeschichte den aktivsten und sichtbarsten Teil. 137 Vgl. Lutte (1977), S. 14-19. Die ehemaligen Barackenbewohner um Lutte setzten ihre Aktivitäten auch in der Magliana fort und organisierten sich im Comitato case comunali und im Centro di Cultura Proletaria, vgl. Lutte (1977), S. 20ff. 138 Vgl. Lutte (1977), S. 15ff.; Bonomo (2003), S. 82ff. Für eine ausführliche Darstellung der Basisinitiativen und Kämpfe in Prato Rotondo vgl. Gérard Lutte (1971): Dalle baracche alla casa. Prato Rotondo. Documenti. Bologna. 139 ‚Borgata-Komitee‘.

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politische Diskussionen geführt und Aktionen wie Demonstrationen und Straßenblockaden organisiert wurden, um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen.140 Das langfristige Ziel der Barackenbewohner war freilich die Zuweisung ‚richtiger‘ Wohnungen. Als sich gegen Ende der 1960er Jahre in Rom eine starke Häuserkampfbewegung entwickelte, nahmen auch Familien aus Prato Rotondo an einigen Besetzungen teil.141 Zugleich wurde Gerardo Lutte aufgrund seines dezidiert politischen Engagements mehr und mehr zur persona non grata in Kirchenkreisen. Der „‚caso Lutte‘“142 wurde zum Gegenstand wachsenden öffentlichen Interesses – vor allem als dieser Anfang 1971 aus der Glaubensgemeinschaft der Salesianer ausgeschlossen wurde und der Suspendierung a divinis anheim fiel, was ihn künftig des Rechtes beraubte, Messen abzuhalten.143 Es erscheint durchaus möglich, dass die Entscheidung des Referenten für sozialen Wohnungsbau Paolo Cabras, eines Exponenten des sozialen Flügels der römischen Christdemokraten, den baraccati von Prato Rotondo 1971 endlich Sozialwohnungen zuzuweisen, in diesem Kontext stand: Man hatte genug von dem umtriebigen Priester und den rebellischen baraccati und wollte das Problem entschärfen, bevor Prato Rotondo bei den anderen etwa 15.000 Familien, die 1971 in Rom in Baracken lebten, Schule machen würde.144 Doch nicht nur die von Lutte organisierten baraccati aus Prato Rotondo waren schon politisch in Erscheinung getreten: Andere Familien ehemaliger Barackenbewohner, die nun eine Sozialwohnung in der Magliana erhielten, hatten beispielsweise 1969 an der vom CAB organisierten Besetzung im Stadtteil Garbatella teilgenommen.145 Die Reaktion der Bevölkerung der Magliana auf die Ankunft der ehemaligen Barackenbewohner als Nachbarn war zunächst oft negativ: Populäre Stereotype über florierende Kriminalität und Prostitution in den Barackensiedlungen schürte bei vielen die Angst vor den Neuankömmlingen. Vor allem aber griff unter den Bewohnern der Magliana das Gefühl um sich, dass man Opfer einer ungerechten Behandlung sei, da die Neuen mit kommunaler Unterstützung die gleichen Wohnungen erhielten, die man sich selbst oft nur mit knapper Not leisten konnte:146 „‚Come? Noi dobbiamo pagare 54.000 Lire, e perché questi, con la stessa casa, devono pagare così poco? Abbiamo gli stessi lavori, le stesse paghe!‘“147 Vor dem Hintergrund dieser Emotionen und der Ablehnung der UNIA-Verantwortlichen, eine autoriduzione der Mieten auch in den Wohnungen der privaten Immobiliengesellschaften der Magliana zu organisieren, kam es im Frühjahr 1971, als die baraccati mit dem Umzug in ihre neuen

140 Vgl. Lutte (1977), S. 14f.; Bonomo (2003), S. 84. 141 Vgl. Lutte (1977), S. 17. 142 Bonomo (2003), S. 86, „‚Fall Lutte‘“. 143 Vgl. Bonomo (2003), S. 86. 144 Vgl. Bonomo (2003), S. 86. Zur Zahl der Baracken in Rom 1971, vgl. Mario Sanfilippo (1994): La costruzione di una capitale. Roma 1945 – 1991. Mailand, S. 18. 145 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 35. 146 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 179. Aus Sicht der Neuankömmlinge vgl. Lutte (1977), S. 19f. 147 Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 179. „‚Wie? Wir müssen 54.000 Lire zahlen und warum müssen die für die gleiche Wohnung so wenig zahlen? Wir haben die gleiche Arbeit und den gleichen Lohn!‘“

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Wohnungen begannen, zu einer spontanen Rebellion unter den Mieterinnen der Gesellschaften Prato und Lisbona. Das Büro der Immobiliengesellschaft Lisbona wurde von zornigen Frauen gestürmt, die eine Mietreduktion forderten.148 Auf einer unmittelbar nach dem spontanen Aufruhr kurzfristig organisierten Versammlung der Mieter der Gesellschaften Prato und Lisbona mit circa 300 – vor allem weiblichen – Teilnehmern auf der Piazza della Magliana lehnte der römische UNIA-Provinzsekretär Gerindi die autoriduzione von Privatmieten abermals als unmöglich ab.149 Stattdessen schlug Gerindi den von ihren Mietzahlungen überforderten Mietern vor, kommunale Unterstützungszahlungen – den so genannten sussidio casa – zu beantragen.150 Trotz dieses Einwands beschloss die Versammlung einstimmig die Reduktion der Mieten um 50% ab Juni.151 Zunächst gaben sich die beteiligten Mieter der beiden Immobiliengesellschaften Prato und Lisbona mit der Gründung von je einem Komitee, welches sich aus den Delegierten jedes Treppenaufgangs der entsprechenden Wohnblocks zusammensetzte, eine engmaschige organisatorische Struktur.152 Daraufhin verfasste eine Gruppe von Mietern einen offenen Brief an die beiden Immobiliengesellschaften, in dem eine 50%ige Mietreduktion und eine schriftliche Antwort von Vermieterseite innerhalb von zehn Tagen gefordert und andernfalls eine autoriduzione angedroht wurde:153 „[…] (N)oi inquilini siamo venuti ad abitare in questo quartiere perché le nostre condizioni economiche sono le stesse di tutti i lavoratori che vivono nelle case popolari. Abbiamo dovuto accettare l’affitto che i padroni chiedevano perché non c’era altra soluzione; a Roma non si costruiscono più case popolari, quindi o pagare o non avere casa. Ora però che siamo uniti ed organizzati vogliamo pagare quello che è giusto per la zona e per le case in cui abitiamo […]. Il nostro obiettivo è la riduzione del 50% sugli affitti attuali. […] (I)n caso di risposta negativa o mancata risposta cominceremo a ridurci gli affitti pagando con vaglia postale il 50% degli affitti attuali. Si precisa infine che qualunque azione di intimidazione a danno anche di singoli inquilini, troverà l’opposizione decisa di tutti i sottoscritti. Comitato Inquilini Immobiliari ‚Prato‘ e ‚Lisbona‘“.154 Die Reso-

148 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 43. 149 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 43 bzw. S. 180. 150 Vgl. Spada (1976), S. 25f. 151 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 43 bzw. S. 180. 152 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 43 bzw. S. 180. 153 Vgl. Spada (1976), S. 26. 154 Zitiert nach Spada (1976), S. 26. „[…] (W)ir Mieter wohnen in diesem Viertel, weil unsere ökonomischen Bedingungen dieselben sind, wie diejenigen aller Arbeiternehmer, die in Sozialwohnungen leben. Wir waren gezwungen, die Miete zu zahlen, die die Eigentümer forderten, weil es keine andere Lösung gab. In Rom werden keine Sozialwohnungen mehr gebaut und so heißt es zahlen oder keine Wohnung haben. Aber jetzt haben wir uns zusammengeschlossen und organisiert und wir wollen das zahlen, was für diese Gegend und für die Wohnungen, in denen wir leben, angemessen ist […]. Unser Ziel ist eine Reduktion der aktuellen Mieten um 50%. […] (I)m Falle einer negativen oder gar keiner Antwort werden wir anfangen unsere Mieten zu reduzieren, indem wir per Postanweisung 50% der aktuellen Mieten zahlen. Zuletzt wollen wir festhalten, dass jede Art der Einschüchterung

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nanz bei den Mietern der beiden Immobiliengesellschaften scheint von Anfang an sehr groß gewesen zu sein: Im Juni 1971 zahlten etwa 500 Familien und damit circa 90% der dort wohnenden Mietparteien nur noch 50% Miete.155 Zugleich bemühten sich die autoriduttori von Anfang an, ihren Kampf möglichst schnell auf die anderen Immobiliengesellschaften auszudehnen: Der an die Immobiliengesellschaften gerichtete Brief wurde in Form eines Flugblatts in der Magliana verteilt, um andere Mieter zu ermuntern es den autoriduttori gleichzutun.156 Diese Propaganda in eigener Sache war offensichtlich sehr erfolgreich: Im Juni und Juli 1971 beschlossen Mieter von sieben anderen Immobiliengesellschaften in der Magliana, ihre Mieten zu reduzieren, und gründeten jeweils eigene comitati di lotta auf Basis von Treppendelegierten.157 Die einzelnen comitati koordinierten sich alsbald auf wöchentlichen Treffen und gewährleisteten so die einheitliche Ausrichtung ihres Vorgehens.158 Es war kein Zufall, dass es gerade Frauen waren, die im Mai 1971 ihrer Wut über die hohen Mieten Luft machten; waren es doch die Frauen, die jeden Monat aufs neue mit der Schwierigkeit konfrontiert waren, welche die knappen Familieneinkommen aufwarfen:159 „Come in tutti i quartieri popolari tocca a noi donne, nel ruolo che la società ci ha imposto di casalinghe e di madri, affrontare il problema di far quadrare il bilancio familiare mese per mese.“160 Für die Auflehnung der Mieterinnen lassen sich verschiedene Ursachen ausmachen: Neben rein ökonomischen Motiven scheint auch die Unzufriedenheit mit der Situation im Stadtteil eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Die Mehrheit der Familien hatte sich für eine Wohnung in der Magliana entschieden, weil die Miete dort vergleichsweise niedrig war und bei einigen Immobiliengesellschaften erst ab dem dritten Monat nach dem Einzug bezahlt werden musste. Viele Familien, deren mangelnder finanzieller Spielraum von Anfang an entscheidend für den Beschluss gewesen war, in die Magliana zu ziehen, waren mit der Zahlung ihrer Miete nach dem dritten Monat oft hoffnungslos überfordert. Für sie war die autoriduzione eine schlichte Notwendigkeit.161 Andere, die sich nicht unmittelbar aufgrund ihrer eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten, sondern beispielsweise aufgrund der Nähe zum Arbeitsplatz für eine Wohnung in der

auch zu Lasten einzelner Mieter auf den entschlossenen Widerspruch aller Unterzeichner stoßen wird. Mieterkomitee der Immobiliengesellschaften ‚Prato‘ und ‚Lisbona‘“. 155 Vgl. Magliana in Lotta 1 (1972), S. 3, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 156 Vgl. Spada (1976), S. 26. 157 Vgl. Magliana in Lotta 1 (1972), S. 4, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 158 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 43f. 159 Allgemein zur zentralen Rolle von Frauen in urbanen Protestbewegungen, vgl. Castells (1983), S. 68. 160 Magliana in Lotta 1 (1972), S. 6, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. „Wie in allen einfachen Wohnvierteln sind es wir Frauen in der Rolle als Hausfrau und Mutter, die uns die Gesellschaft auferlegt hat, die Monat für Monat dafür sorgen müssen, dass das Familieneinkommen ausreicht.“ 161 Vgl. Angela und Vito Zucconi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 153 bzw. 157; Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 177.

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Magliana entschieden hatten, fühlten sich nach dem Umzug betrogen, weil der Stadtteil in einem trostlosen halbfertigen Zustand war und keinerlei Strukturen für ein soziales Leben bereithielt: „[…] (A)ppena arrivato dentro questo quartiere mi sono accorto di aver preso una fregatura, perché c’erano in pratica solo quelle quattro mura che rinchiudevano la casa dove abitavo e basta; fuori, a livello sociale, a livello di servizi, non esisteva niente.“162 Selbst die ehemaligen Barackenbewohner aus Prato Rotondo empfanden den Zustand der Magliana oft als unzumutbar: „Questo quartiere quando siamo venuti qua possiamo dire che… veniva voglia de prende’ e ritornare giù (a Prato Rotondo). Perché era un disastro: non c’erano luci, non c’erano strade, non c’erano fogne […] e praticamente tutto al buio: questi agglomerati di palazzoni alti che non finivano più […] è stato traumatico, proprio traumatico.“163 Einsamkeit wurde von vielen neuen Bewohnern als Schlüsselerfahrung geschildert, die das Leben in der Magliana anfangs prägte: „Ricordo che quando arrivai alla Magliana comincai a sentirmi tanto sola. […] [E]ro sperduta, mi sentivo come in galera, quante lacrime….“164 Zur Unzufriedenheit mit der Situation im Stadtteil trat aber ein weiterer wichtiger Faktor. Die Mieter der privaten Immobiliengesellschaften der Magliana sahen sich in ihrem neuen Stadtteil durch zwei Beispiele für die erfolgreiche Durchsetzung subalterner Interessen inspiriert: der von der UNIA organisierten Mietreduktion in den Gebäuden der öffentlichen Wohnungsgesellschaft INPDAI und dem erfolgreichen Kampf der ehemaligen baraccati um Sozialwohnungen. Agata Lombardi, eine autoriduttrice der ersten Stunde verwies auf diese Vorbildfunktion der ehemaligen Barackenbewohner: „[…] [E]rano proletari che ci hanno insegnato qualcosa; insomma, dalla lotta loro e nata anche un pochino la lotta nostra.“165

162 Vgl. Carlo und Vanda Belli, in: Comitato di quartiere (1977), S. 145. „[…] [S]obald ich in diesem Viertel ankam, habe ich bemerkt, dass ich betrogen worden war, denn es gab praktisch nur diese vier Wände des Hauses, wo ich wohnte, und aus. Draußen, auf sozialer Ebene, im Hinblick auf öffentliche Dienstleistungen existierte nichts.“ 163 Interviewaussage von Domenico Turco, zitiert nach: Bonomo (2003), S. 90. „Als wir in dieses Viertel hier kamen, kann man sagen, dass … wir Lust bekamen auf der Stelle wieder runter (nach Prato Rotondo) zu gehen. Denn es war ein Desaster: Es gab keine Straßenbeleuchtung, es gab keine Straßen, es gab keine Kanalisation […] und praktisch alles (lag) im Dunkeln: Diese endlosen Agglomerate von hohen Wohnblocks […] es war traumatisch, wirklich traumatisch.“ Allerdings muss bei den Aussagen der ehemaligen Barackenbewohner immer das Phänomen der „nostalgia della baracca“, also der nostalgischen Verklärung des Lebens in den Barackensiedlungen durch die ehemaligen Barackenbewohner selbst mit bedacht werden, vgl. Bonomo (2003), S. 94f. Ähnlich: Lutte (1977), S. 20. 164 Aurora Atzeri, in: Comitato di quartiere (1977), S. 140. „Ich erinnere mich, dass ich mich sehr einsam zu fühlen begann, als ich in der Magliana ankam. […] (I)ch war verloren, ich fühlte mich wie im Gefängnis, soviele Tränen….“ Vgl. auch: Angela Zucconi, in: Comitato di quartiere (1977). S. 155; 165 Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 179. „[…] [D]as waren Proletarier, die uns etwas beigebracht haben. Schließlich wurde aus ihrem Kampf auch ein wenig unser Kampf geboren.“

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Die von der Mietreduktion betroffenen Immobilienfirmen versuchten bald ihrerseits in die Offensive zu gehen und die säumigen Mieter einzuschüchtern. Eine zentrale Rolle dabei spielten die Pförtner der betreffenden Wohnblocks, die versuchten die Ängstlichen und Unentschlossenen mit dem Hinweis, ihnen drohe so umgehend die Räumung, von einer Beteiligung an der autoriduzione abzubringen.166 Dass dieses Vorgehen nicht ohne Wirkung blieb, ist einleuchtend – zumal es die Warnungen der UNIA vor der Mietreduktion bei privaten Immobiliengesellschaften zu bestätigen schien. Viele Bewohner der Magliana hatten lange nach einer erschwinglichen Wohnung gesucht und waren oft nach Jahren des unfreiwilligen Zusammenlebens mit Verwandten erstmals stolze Mieter eigener vier Wände. Diese wollten viele nicht leichtfertig riskieren. Eine spätere Aktivistin des Stadtteilkomitees brachte ihre anfängliche Angst rückblickend wie folgt auf den Punkt: „[D]ella riduzione del fitto, sì ne avevo sentito dire, ma per me era una cosa tremenda, pensavo: ‚è robba da matti.‘“167 Eine andere beschrieb ihre Zweifel folgendermaßen: „Io in principio ero contrario alla lotta perché avevo paura, una paura tremenda, ma dentro di me dicevo che era giusta […]“.168 Zur Angst vor einem Rauswurf kam für viele die Angst vor einer möglichen sozialen Ächtung – was als die Kehrseite der oben kurz beschriebenen Vorurteile gegenüber den Barackenbewohner-Familien interpretiert werden kann: „Sinceramente, ripeto, prima non ci avrei avuto il coraggio di cominciare (l’autoriduzione, M.H.), ho incominciato con un po’ di riluttanza perché dicevo: ‚chissà la gente che dirà che semo persone che nun volemo pagà e compagnia bella.‘“169 Angesichts dieser weit verbreiteten Ängste muss es erstaunen, dass die Zahl der autoriduttori in den Privatwohnungen der Magliana innerhalb von nur drei Monaten auf über 1.000 Familien anstieg und somit fast ein Drittel der privaten Mieter in der Magliana umfasste.170 Als sich nach einigen Monaten zeigte, dass Drohungen alleine das ‚Problem‘ nicht lösen würden, erwirkte die Immobiliengesellschaft Porta Medaglia im Septem-

166 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 44. 167 Gemma Busta, in: Comitato di quartiere (1977), S. 201. „[V]on der Mietreduktion hatte ich gehört, aber für mich war das eine ungeheuerliche Sache. Ich dachte: ‚das ist eine Sache für Verrückte.‘“ 168 Vanda Belli, in: Comitato di quartiere (1977), S. 147f. „Ich war anfangs gegen den Kampf, weil ich Angst hatte – eine ungeheure Angst – aber innerlich sagte ich mir, dass es richtig war […].“ 169 Angela Zucconi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 154. „Ehrlich gesagt, ich wiederhole es, hätte ich Anfangs nicht den Mut gehabt (mit der autoriuzione, M.H.) zu beginnen. Ich habe etwas widerstrebend begonnen, denn ich sagte mir: ‚wer weiß, was die Leute sagen werden, dass wir Leute sind, die nicht zahlen wollen, und so weiter.‘“ 170 Zur Zahl der autoriduttori vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 43. Ende 1970 waren mehr als 2.500 der bis dato circa fertiggestellten 6.000 Wohnungen in der Magliana an öffentliche Träger übergegangen, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 28. Wir können im Sommer 1971 also von gut 3.500 fertiggestellten Wohnungen in der Hand privater Immobiliengesellschaften in der Magliana ausgehen. Es ist also realistisch, davon auszugehen, dass mit den gut 1.000 autoriduzione betreibenden Familien fast ein Drittel der Mieter privater Immobiliengesellschaften in der Magliana im Sommer 1971 ihre Miete reduzierte.

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ber 1971 die ersten Räumungsbescheide. Von den 80 Mietparteien der Porta Medaglia betrieben ungefähr 50 autoriduzione. Die Comitati di lotta, welche inzwischen formell von der UNIA unterstützt wurden, veranstalteten Versammlungen in allen an der autoriduzione beteiligten Wohnblocks, um das Vorgehen gegen die Räumungen zu diskutieren und zu organisieren. Am 21.9.1971, einen Tag vor dem ersten Räumungstermin, fand eine Demonstration in der Magliana statt, die auch von den Kräften der traditionellen Linken also PCI, PSI und PSIUP unterstützt wurde und auf der – trotz der anfänglichen Differenzen – Aldo Tozzetti als Vorsitzender der UNIA sprach:171 Über tausend Teilnehmer zogen unter dem Slogan „i fitti dei padroni non li paghiamo più“172 durch das Neubauviertel.173 Die comitati riefen anschließend zur Blockade des räumungsbedrohten Wohnblocks für die folgenden Tage auf. Tags darauf beteiligten sich etwa 300 Menschen an der Blockade, was zur Folge hatte, dass die Überbringung des Räumungsbescheids durch die zuständigen Justizbeamten verschoben wurde.174 Bei den Blockaden im September 1971 wurde die schon in der Organisation der autoriduttori der Magliana angedeutete politische Linie deutlich: Die comitati setzten ihre Priorität auf direkten Massenkampf statt auf Delegation und Vermittlung im Stile der UNIA.175 Im Zuge der Mobilisierung vom September 1971 entwickelte sich unter den autoriduttori der Magliana eine Diskussion über die Gründung eines Stadtteilkomitees. Beteiligt waren an dieser Diskussion neben den Treppendelegierten der einzelnen Wohnblocks, in denen Mietreduktion praktiziert wurde, lokale Aktivisten des PCI und PSI, der UNIA sowie das Comitato case comunali176 der ehemaligen Barackenbewohner von Prato Rotondo. Rasch wurden zwei unterschiedliche Linien deutlich: PCI und UNIA drängten auf die Organisation des Stadtteilkomitees unter der Führung der UNIA und auf die Offenheit der Struktur für Parteien. Die Delegierten der autoriduzione-Komitees hingegen wollten ein autonomes Stadtteilkomitee, in dem alle mitmachen könnten, die sich am gemeinsamen Kampf beteiligten, das aber nicht unter dem Einfluss der linken Parteien stehen sollte. Nach harten Diskussionen plädierte eine große Mehrheit für die Autonomie des Stadtteilkomitees, woraufhin sich der PCI als Partei aus dem Prozess zurückzog. Dieser Schritt der Partei hinderte eine ganze Reihe von Basismilitanten der kommunistischen und der sozialistischen Partei aber nicht daran, im neu gegründeten Stadtteilkomitee mitzuarbeiten.177 Auch Akti-

171 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 45; Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 172 Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. „Die Mieten der Besitzer zahlen wir nicht mehr“. 173 Vgl. Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 174 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 45. 175 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 44f. 176 ‚Sozialwohnungskomitee‘. 177 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 46f. Als exemplarisch für die Mitarbeit von PCIBasisaktivisten im Stadtteilkomitee der Magliana können die Fälle von Remo Mancini, einem römischen Maurer und PCI-Mitglied, und Efisio Atzeri, einem aus Sardinien stammenden Arbeiter, der dort einer PCI-Sektion vorgestanden hatte, gelten, vgl. Remo Manci-

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visten der außerparlamentarischen Gruppen scheinen bei der Entstehung der autoriduzione- Bewegung in der Magliana und bei der Gründung des Stadtteilkomitees zunächst keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Somit kann die Gründung des Stadtteilkomitees als autonomer Basisprozess betrachtet werden, der vor allem von einer so genannten ‚avanguardia interna‘178 vorangetrieben wurde, die sich durch die Studentenbewegung politisiert hatte.179 Die Rebellion vom Mai 1971 war der Anfang eines Kampfes in der Magliana, der über Jahre anhalten sollte und mit dem Stadtteilkomitee der Magliana einen Basisorganismus hervorbrachte, dessen zahlenmäßige Stärke und politische Erfolge ihn zu einem herausragenden Beispiel für die Stadtteilkämpfe im Italien der 1970er Jahre machten und die Magliana zur „,base rossa‘ della capitale“180 werden ließen.181 Gerade die in der Magliana erstmals massenhaft praktizierte Miet-autoriduzione in Wohnungen privater Immobiliengesellschaften machte rasch in anderen römischen Stadtteilen Schule.182

3.2 Das Repertoire der Kampfformen des Stadtteilkomitees Anstatt im Folgenden die Geschichte des Stadtteilkomitees chronologisch nachzuvollziehen, soll hier versucht werden, das praktische Repertoire des Komitees im Zeitraum von 1972 bis 1977 zusammenfassend zu beschreiben und nur einige aus-

ni, in: Comitato di quartiere (1977), S. 124-132 und Efisio und Aurora Atzeri, in: Comitato di quartiere (1977), S. 132-141. 178 ‚Interne Avantgarde‘, mit diesem Begriff wurden häufig besonders engagierte Aktivistenkerne bezeichnet, die aber nicht von außen versuchten eine Bewegung zu steuern, sondern selbst als Betroffene Teil eines Basiskampfes waren. 179 Vgl. Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 25:00 - 25:50: „(I militanti di Lotta Continua erano già coinvolti in questo processo di costituzione (del Comitato di quartiere)?) No, era molto dal basso ed era fatto [...] non da militanti di Lotta Continua. [...] Era un processo di base in cui c’era quello che noi chiavamo allora una sorta di ‚avanguardia interna’. C’era qualche persona che veniva dalle lotte del movimento studentesco di architettura. [...] Uno me lo ricordo in particolare perché ci conoscavamo dalla facoltà di architettura, che si chiama Piergiorgio Rammundo ed era un po’ il fondatore [...] del Comitato di quartiere della Magliana.“ „(Waren Aktivisten von Lotta Continua schon am Entstehungsprozess (des Stadtteilkomitees) beteiligt?) Nein, der vollzog sich sehr von unten her und er wurde […] nicht von Aktivisten von Lotta Continua angestoßen. […] Es war ein Basisprozess in dem es das gab, was wir damals eine Art ‚interne Avantgarde‘ nannten. Es waren ein paar Leute beteiligt, die aus den Kämpfen der Studentenbewegung an der Architekturfakultät kamen. […] An einen erinnere ich mich insbesondere, weil wir uns von der Architekturfakultät kannten. Er hieß Piergiorgio Rammundo und war so ein wenig der Gründer […] des Stadtteilkomitees der Magliana.“ 180 Musci (1990), S. 31. „‚Rote Basis‘ der Hauptstadt“. 181 Vgl. Bonomo (2003), S. 99. 182 Vgl. Tozzetti (1989), S. 217.

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gewählte Ereignisse detailliert zu schildern. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Überblick über die Praxisformen der römischen Stadtteilkämpfe am Beispiel der Magliana zu geben. Um die Darstellung im Folgenden möglichst übersichtlich zu strukturieren, soll eine analytische Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Praxisformen eingeführt werden: Als direkte Praxisformen werden solche definiert, die ihr Handlungsziel im Wesentlichen im Handlungsvollzug vorwegnehmen. Davon werden indirekte Praxisformen unterschieden, die Formen der institutionellen Mediation – juristischer, publizistischer oder administrativer Natur – bedürfen, um ihren Effekt zu erzielen. Diese analytische Unterscheidung birgt neben der Chance auf Erkenntnisgewinn aber auch eine Gefahr: Das komplexe Ineinandergreifen der beiden Praxismodi wird analytisch zerbrochen und so erscheinen direkte und indirekte Praktiken voneinander losgelöst. Deshalb ist stets die Syntheseleistung des Lesenden notwendig, um sich beispielsweise die enge Verflechtung von öffentlichkeitswirksamer Skandalisierung der Zustände im Stadtteil im Rahmen einer Pressekonferenz und deren unmittelbar folgende Aufhebung durch eine kollektive direkte Aktion vor Augen zu halten.

3.2.1 Die direkten Aktionsformen des Stadtteilkomitees 3.2.1.1 Autoriduzione Ausgangspunkt für die Gründung des Stadtteilkomitees war die kollektive direkte Praxis der Mietreduktion. Diese blieb auch in den folgenden Jahren das Kernstück seines Handlungsrepertoires. Im Folgenden soll zunächst kurz auf die Genese der autoriduzione als Kampfform eingegangen werden, um anschließend die konkrete autoriduzione des Stadtteilkomitees der Magliana genauer in den Blick zu nehmen. Im Sommer 1968 führten Pirelli-Arbeiter in Mailand ausgehend von einer Agitation der autonomen Betriebsgruppe Comitato Unitario di Base (CUB)183, eine selbst bestimmte Verlangsamung der Produktion durch und nannten diese Kampfform autoriduzione. In der Folge sollte die Praxis der autoriduzione, welche die Produktion des Unternehmens weit härter traf als die Lohntüten der kämpfenden Arbeiter, eines der beliebtesten Kampfmittel vieler autonomer Fabrikkomitees werden.184 Die Besonderheit der autoriduzione lag in dem Umstand, dass sie eine „Praxis der Kampfziele“185 ermöglichte, da hier das Mittel den Zweck vorwegnahm: Eine Verlangsamung des Arbeitsrhythmus wurde nicht nur eingefordert, sondern direkt umgesetzt – ohne Delegation und Verhandlung. Während die Gewerkschaft die Aktionsform zunächst

183 ‚Basis-Einheitskomitee‘. 184 Vgl. Lumley (1990), S. 185f. 185 Sablowski (1998), S. 101.

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ablehnte und ihren Befürwortern ‚repartismo‘186 vorwarf, sah sie sich im Winter 1968 gezwungen, ihre Position zu ändern, und erteilte der Kampfform nun offiziell ihren Segen187 – wobei diese Akzeptanz im Kontext einer Gesamtsituation gesehen werden muss, in der die Gewerkschaften versuchten die wachsende Basismilitanz zu kontrollieren. Während allerdings die CUB autoriduzione als Ausdruck der antilegalistischen Arbeiterrebellion gegen jede Form der Lohnarbeit sahen, betonten Gewerkschaftsaktivisten die große Disziplin und präzise Organisation, die nötig war, um autoriduzione ins Werk zu setzen und interpretierten die Praxis als eine weitere Kampfform für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen neben dem Streik.188 Bald wurden auch rebellische Praktiken jenseits der Fabrik mit dem Begriff autoriduzione belegt, so beispielsweise als Arbeiter und Studenten 1968/69 in Mailand und Turin spontan ihre Zahlungen für den Nahverkehr reduzierten.189 Damit hatte das Signifikat des Signifikants autoriduzione eine umfassende Metamorphose durchgemacht und war von einer direkten Aktion in der Produktionssphäre zu einer in der Konsumsphäre geworden, die einen Gesetzesverstoß darstellte. Durch diese semantische Öffnung des Begriffs konnte nun auch die Praxis kollektiver Mietreduktion, die in Rom ab Anfang 1970 von der UNIA organisiert wurde, als autoriduzione gefasst werden.190 Im Zuge der ökonomischen Krise und der zunehmenden Defensive der Fabrikkämpfe breitete sich die autoriduzione ab Herbst 1974 aus und wurde zu einer Schlüsseltechnik im Kampf gegen die galoppierende Inflation und den daraus resultierenden Anstieg der Lebenshaltungskosten. Ausgehend von einer Busticket- autoriduzione der Turiner Metallarbeiterföderation FLM im August 1974 und einer 50%igen Strompreisreduktion durch die lokale Gewerkschaftsföderation breitete sich eine Welle der autoriduzione in Italien aus, die jedoch jenseits des Piemont auf keinerlei Unterstützung des Gewerkschaftsapparates zählen konnte.191 In Rom hatte die Kampfform mit der Miet-autoriduzione seit 1970 eine eigene Vorgeschichte.192 Um die Mitte der 1970er Jahre hatte sich die autoriduzione auch in Rom zu einem vielgestaltigen Phänomen entwickelt: Es ging nicht mehr nur um Mieten, sondern auch um Stromrechnungen und Telefongebühren.193 Während die verschiedenen autoriduzione-Varianten im Norden teilweise bei den gewerkschaftsbasierten Zonenräten oder den Fabrikräten lagen, waren es in Rom vor allem die parteiunabhängigen Stadtteilkomitees und Strukturen der außerparlamentarischen Linken wie Lotta Continua und

186 Der Begriff ‚repartismo‘ bezeichnet eine aus Sicht der Gewerkschaften verfehlte Fokussierung der Arbeitermilitanz auf die eigene Abteilung (‚reparto‘) und eine Vernachlässigung anderer Fragen. 187 Vgl. Lumley (1990), S. 187. 188 Vgl. Lumley (1990), S. 189ff.; 189 Lumley (1990), S. 264. 190 Vgl. Sirleto (1998), S. 57f. 191 Vgl. L’Espresso vom 29.9.1974, S. 6-10. 192 L’Espresso vom 24.11.1974, S. 31. 193 L’Espresso vom 24.11.1974, S. 31.

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die wachsende Autonomia Operaia194, die eine breite Palette von autoriduzioneFormen propagierten und organisierten. Dabei stellte die Praxis der autoriduzione stets ein umkämpftes Terrain zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen dar.195 Ihre vielleicht spektakulärste, sicherlich aber konfrontativste Ausprägung erfuhr die autoriduzione mit der kollektiven Preis-Reduktion in Supermärkten. Dario Fo hatte diese Praxis mit seinem Stück „Non si paga, non si paga!“196 von 1974 antizipiert, doch schon im Herbst 1974 wurde sie in der Mailänder Peripherie erstmals Wirklichkeit.197 Bald kristallisierten sich verschiedene Ausprägungen der Aktionsform heraus, die von der Zahlung des halben Preises der Waren – autoriduzione – bis hin zur kollektiven Aneignung der Waren ganz ohne Bezahlung – ‚appropriazione‘ oder ‚spesa proletaria‘ – gingen.198 Die Aktionen sorgten für großes Aufsehen in der Öffentlichkeit und blankes Entsetzen bei den Kräften der traditionellen Linken.199 Im Laufe des Jahres 1975 wurden sieben solcher kollektiven autoriduzione-Aktionen in Supermärkten in Rom alleine von den Comitati Autonomi Operai organisiert. Die Beteiligten füllten hierbei ihre Einkaufswägen und hinterließen an der Kasse der Supermärkte 5000 Lire und ein Flugblatt, während die anderen Einkäufer per Megafon aufgefordert wurden, es ihnen gleichzutun, und einige Aktivisten die Wachleute der Supermärkte in Schach hielten.200 Ziel war es, durch die Entrichtung eines symbolischen Preises und die Beschränkung des ‚Einkaufs‘ auf (Grund-)Nahrungsmittel das eigene Handeln anschlussfähig für die gewöhnlichen Hausfrauen der proletarischen Stadtteile zu machen. Eine jugendkulturelle Variante der autoriduzione, die den Vorstellungen vieler älterer Genossen widersprach, entstand mit der kollektiven Reduktion der Eintrittspreise von Kino- und Konzertbesuchen im Vorfeld und während der Revolte von 1977, wodurch die zu befriedigende Bedürfnispalette auf den kulturellen Konsum erweitert wurde.201 Die autoriduzione der Mieten in der Magliana kann aufgrund dreier Charakteristika als direkte Praxisform interpretiert werden: Erstens wurden die wesentlichen Ent-

194 Als Autonomia Operaia (Arbeiterautonomie) bezeichnete sich eine radikale Strömung innerhalb der außerparlamentarischen Bewegung Italiens, die auf den theoretischen Ansatz des Operaismus rekurrierte. Zur Theoriegeschichte des Operaismus vgl. Steve Wright (2005): Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin/Hamburg. Wrights Kurzdefinition (Wright (2005), S. 13) des Begriffs Autonomie in diesem Kontext lautet folgendermaßen: „‚Autonomie‘ meint hier die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse sowohl von den Vorgaben der organisierten Arbeiterbewegung wie auch von den Diktaten des Kapitals.“ 195 Vgl. Lumley (1990), S. 264f. 196 „Bezahlt wird nicht!“ (1974). 197 Vgl. Lumley (1990), S. 268, Fußnote 31; L’Erba voglio 17 (1974), S. 31. 198 Vgl. Paolo Pozzi (2007): Insurrezione. Rom, S. 30-36. ‚Appropriazione‘ bedeutet ‚Aneignung‘, ‚spesa proletaria‘ heißt ‚proletarischer Einkauf‘. 199 Vgl. L’Erba voglio 17 (1974), S. 31. 200 Vgl. Miliucci/Paccino/Pifano (2007), S. 353. 201 Vgl. Kapitel IV.

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scheidungen auf Basisversammlungen von den Beteiligten selbst getroffen, zweitens waren die Betroffenen selbst unmittelbar und kollektiv an der Umsetzung beteiligt und drittens wurde das Handlungsziel - niedrigere Mieten für all jene, deren Löhne das römische Mietniveau untragbar werden ließen – im Handlungsvollzug direkt umgesetzt.202 Nachdem eine kritische Masse ihre anfänglichen Ängste vor drohenden Räumungen durch die Immobiliengesellschaften überwunden hatte und sich bei der kollektiven Verhinderung der Räumungen im September 1971 erstmals die praktische Stärke des Stadtteilkomitees andeutete, wurde die Mietreduktion ausgeweitet: Am 15.10.1971 beschlossen die autoriduttori einiger privater Immobiliengesellschaften, in Zukunft nur noch 2.500 Lire Miete pro Zimmer und Monat zu zahlen und ihre Miete damit auf das Niveau der kommunalen Sozialwohnungen zu reduzieren. Für den 23.10.1971 wurde von den assemblee di società203 eine assemblea popolare204 anberaumt, auf der es große Zustimmung zu dem Vorschlag gab, die Mietzahlungen auf 2.500 Lire zu reduzieren. Die etwas zögerlichen Mieter der Gesellschaften Porta Medaglia und Malta, die bisher nur eine autoriduzione um 30% praktiziert hatten, erhöhten diese nun im Windschatten dieses Vorstoßes der anderen autoriduttori auf 50%. Die UNIA, die lange nur eine 30%ige Mietreduktion in den Wohnungen öffentlicher Versicherungsgesellschaften wie des INPDAI für möglich gehalten und autoriduzione in Wohnungen privater Immobiliengesellschaften gänzlich abgelehnt hatte, sah sich nun gezwungen, die von ihr organisierte autoriduzione in den Wohnungen des INPDAI auf 50% zu erhöhen, bezeichnete aber weiterhin diejenigen, die sich im Comitato di quartiere für eine Reduktion auf 2.500 Lire stark gemacht hatten, als ‚Verrückte‘ und ‚Extremisten‘.205 Die Mietreduktion ermöglichte den Mietern Einsparungen, die sich im Alltag konkret bemerkbar machten und bald nicht mehr wegzudenken waren: die autoriduttrice Angela Zucchoni berichtete beispielsweise von ihrer dauernden Geldknappheit, als sie noch die volle Miete zahlte, die sie immer wieder dazu gezwungen hatte, Wertgegenstände an die vermietende Immobiliengesellschaft zu verpfänden, wenn sie mit der Miete im Rückstand war. Diese extreme Form der ökonomischen Unsicherheit sei durch die autoriduzione beendet worden.206 Die autoriduttrice Gemma Busta erzählte, dass sie und ihre Familie sich durch die zunächst 50-prozentige Mietreduktion besseres Essen und hin und wieder Wein leisten konnten: „Ci sembravano tante quelle 20.000 lire che avanzavano quando pagavamo il 50%, le spendevamo per mangiare un po’ meglio, un po’ più abbondante, magari per

202 Die ersten beiden dieser Charakteristika (basisdemokratische Entscheidungsfindung und direkte Beteiligung) werden im Sprachgebrauch der italienischen Linken dieser Jahre häufig mit dem Begriff der autogestione (etwa: Selbstverwaltung oder Selbstorganisation) bezeichnet, vgl. z.B. Spada (1976), S. 78ff. 203 Selbstorganisierte Mieterversammlungen in den Wohnblocks der einzelnen Immobiliengesellschaften. 204 ‚Volksversammlung‘: Eine öffentliche Versammlung aller interessierten Bewohner der Magliana, zumeist unter freiem Himmel. 205 Vgl. Spada (1976), S. 29; Comitato di quartiere (1977), S. 49f. 206 Vgl. Angela Zucconi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 157.

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comprare il vino.“207 Als die Reduktion ausgebaut und die Zahlungen auf den Sozialtarif von 2.500 Lire pro Zimmer beschränkt wurden, war es sogar möglich, dass Gemma aufhörte zu arbeiten, was ihr und ihrem Ehemann Antonio gemeinsame Zeit bescherte, die sie aufgrund ihrer divergierenden Arbeitszeiten zuvor nie gehabt hatten.208 Doch aus den Zeugnissen der Aktivisten des Stadtteilkomitees geht auch hervor, dass der spürbare Preisanstieg seit 1971 die Vorteile, die die autoriduzione ihren Partizipanten beschert hatte, schnell wieder relativierte. Um Mitte der 1970er Jahre sahen sich viele autoriduttori gezwungen, ihre Mietzahlungen ganz einzustellen, um noch über die Runden zu kommen. Angela Zucchonis rhetorische Frage, wie man mit den stagnierenden Einkommen die rapide wachsenden Ausgaben decken sollte, stellten sich nun viele italienische Familien: „[C]i troviamo ora nella condizione da non poté pagà nemmeno quello decurtato, Vito non ha avuto aumenti dal 1971, come si fa a campare?“209 Die Nichtzahlung der Miete war allerdings keine politische Zuspitzung der autoriduzione, wie es die Ausweitung der Reduktion auf 2.500 Lire pro Zimmer gewesen war, sondern schlicht Ausdruck eines weit verbreiteten existenziellen Mangels in Zeiten der Krise, der aber keine kollektive Politisierung erfuhr und so ein individuelles Problem blieb, obwohl zahlreiche Familien betroffen waren. Die von der Krise besonders hart getroffenen autoriduttori waren jedoch nicht die ersten, die in der Magliana ihre Mietzahlungen ganz einstellten. Es hatte von Anfang an eine kleine Gruppe Nutznießern gegeben, die im Windschatten der massenhaften autoriduzione ihre Zahlungen ganz eingestellt hatten, ohne am kollektiven Kampf teilzunehmen. Diese Ausdifferenzierung zwischen jenen, die im Stadtteilkomitee organisiert ihre Miete reduzierten und jenen, die individuell gar keine Miete zahlten, war schon früh von Vermieterseite als potentielle Bresche in der Front der rebellischen Mieter erkannt worden, an der es den Hebel anzusetzen galt. Nachdem die von der autoriduzione betroffenen Immobilienfirmen mit ihrer anfänglichen Strategie der Einschüchterung gescheitert waren und offensichtlich wurde, dass auch Räumungen mit Polizeiunterstützung kein Allheilmittel waren, da sich die autoriduttori mit massenhaften Blockaden zur Wehr setzten, versuchten die Besitzer durch eine Doppelstrategie die Oberhand zu erlangen: Zum einen sollte die eigene Position durch Vereinheitlichung gestärkt, zum anderen die der Gegenseite durch Spaltung geschwächt werden. Ersteres erreichten die Immobiliengesellschaften 1972 durch die Vereinigung der Besitzerinteressen unter dem Dach eines Konsortiums.210 Letzteres sollte durch eine Neuzusammensetzung der Mieterschaft und speziell der autoriduttori geschehen, indem für neu fertiggestellte bzw. zwangsgeräumte Wohnungen möglichst ‚vertrauenswürdige‘ Mieter gesucht wurden. Dies konnten entweder Poli-

207 Gemma Busta, in: Comitato di quartiere (1977), S. 201. „Die 20.000 Lire die uns übrig blieben als wir 50% zahlten, kamen uns viel vor. Wir gaben sie aus, um etwas besser, ein bisschen reichhaltiger zu essen und um vielleicht Wein zu kaufen.“ 208 Vgl. Gemma Busta, in: Comitato di quartiere (1977), S. 201. 209 Angela Zucconi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 153. „[W]ir befinden uns jetzt in einer Situation, in der wir nicht mal mehr die reduzierte Miete zahlen können. Vito hat seit 1971 keine Lohnerhöhung mehr bekommen, wie soll man so überleben?“ 210 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 69.

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zisten und Carabinieri oder aber Mitarbeiter der eigenen Firmen sein – Menschen also, die im Falle einer Beteiligung an der autoriduzione nicht nur ihre Wohnung, sondern auch noch ihren Arbeitsplatz riskierten.211 Falls solche ‚vertrauenswürdigen‘ Mieter nicht verfügbar waren, ließen die Immobiliengesellschaften ihre Wohnungen häufig leer stehen, um den Einzug neuer potentieller autoriduttori zu vermeiden.212 Andererseits versuchten die Besitzer zeitweilig die Front der autoriduttori aufzubrechen, indem sie Binnendifferenzierungen zwischen den autoriduttori einführten: So kündigte im Juli 1972 die Immobiliengesellschaft Malta an, nur solche Mieter räumen lassen zu wollen, die gar keine Miete zahlten, nicht aber solche, die autoriduzione betrieben.213 Ziel dieser Differenzierung war offensichtlich, die autoriduttori von einer Solidarisierung mit den Nichtzahlern abzuhalten. Das Stadtteilkomitee war diesem Spaltungsversuch begegnet, indem es die Priorität seiner Argumentation nicht auf die einheitlich reduzierte Mietzahlung, sondern auf den einheitlichen Kampf legte: „Nei confronti di coloro che non hanno la possibilità di pagare niente decidiamo che queste famiglie vanno chiaramente sostenute e che il loro errore consiste nel fatto che non partecipando alla lotta si isolano, aiutando così le divisioni volute dai padroni.“214 Real aber hatte das Ziel der politischen wie praktischen Vereinheitlichung stets oberste Priorität für das Stadtteilkomitee behalten und war ausschlaggebend für die Festsetzung der reduzierten Miete auf die Höhe des Sozialmiettarifs gewesen. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise und der galoppierenden Inflation wurde dieses Ziel nun zunehmend durch die voranschreitende Deklassierung jener autoriduttori-Familien gefährdet, deren Einkommen von nur einem prekär beschäftigten Alleinverdiener abhing. Dementsprechend deutete sich in den Zeugnissen jener autoriduttori, die gar keine Miete mehr zahlen konnten, auch ein Unbehagen mit diesem Zustand an, das bezüglich der kollektiven autoriduzione nach der Überwindung anfänglicher Zweifel nie bestanden hatte und in Aussagen wie derjenigen Efisio Atzeris deutlich durchscheint: „Se lavorassimo io e mio figlio, almeno le 13.000 lire bisognerebbe dargliele. Ma purtroppo, dove le vado a prendere? La volta che mi arriva gas e luce qua non si mangia […].“215 Vor dem Hintergrund des Ölschocks 1973 und des darauf folgenden verschärften Preisauftriebs entwickelte sich im Sommer 1974 im Stadtteilkomitee der Magliana wie in vielen italienischen Basisstrukturen eine Diskussion darüber, wie man dem

211 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 35. 212 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 34f. bzw. S. 99. 213 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 73. 214 Comitato di quartiere (1977), S. 73. „Im Hinblick auf jene Familien, die nicht die Möglichkeit haben, etwas zu zahlen, beschließen wir, dass diese Familien natürlich unterstützt werden und dass ihr Fehler darin besteht, dass sie sich isolieren, weil sie nicht am Kampf teilnehmen und so zu jener Aufspaltung beitragen, die die Besitzer wollen.“ 215 Efisio Atzeri, in: Comitato di quartiere (1977), S. 141. „Wenn ich und mein Sohn arbeiten würden, müssten wir ihnen wenigstens die 13.000 Lire geben. Aber leider weiß ich nicht, woher ich sie nehmen soll. Wenn bei mir die Gas- und Stromrechnung kommt, gibt es hier nichts zu essen […].“

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Anstieg der Lebenshaltungskosten praktisch entgegentreten könne.216 Als Orientierungspunkte dienten dabei zum einen die autoriduzione der Stromrechnungen, wie sie ausgehend von Turin um sich griff, zum anderen aber auch Initiativen radikaler römischer Stadtteil- und Besetzerkomitees wie derjenigen in Trullo und in Ostia, die schon seit über einem Jahr unter dem Slogan „pagare 8 lire kWh come paga Agnelli (e non 45 come vuole l’ENEL)“217 ihre Stromrechnungen auf den Preis für Industriestrom reduzierten. Am 1.8.1974 wurden Vertreter dieser römischen Basisinitiativen auf eine vom Stadtteilkomitee der Magliana einberufenen Versammlung eingeladen, um ihre Erfahrungen vorzustellen.218 Zwischen den verschiedenen Basisinitiativen im Stadtteil entspann sich in den folgenden Monaten eine Debatte über die konkreten Vorgehensweisen. Im September stellte das Comitato di quartiere seinen Diskussionsstand in Sachen Strom-autoriduzione in der siebten Ausgabe von Magliana in Lotta der lokalen Öffentlichkeit vor und schloss mit folgender Aufforderung: „Quindi incominciamo a discutere fra tutti gli abitanti del quartiere i modi per portare avanti tutte le iniziative possibili e di massa contro il carovita e come organizzarci per concretizzare la proposta di autoridurci la bolletta della luce […].“219 Bald kristallisierten sich in der Debatte zwischen den linken Organisationen der Magliana zwei Linien heraus: Während das Stadtteilkomitee und der PdUP (Partito di Unità Proletaria) für eine 50% autoriduzione der Stromrechnungen nach dem Vorbild der Turiner Gewerkschafter eintraten und sich für diese Forderung auch in Rom gewerkschaftliche Unterstützung erhofften, strebten das Comitato di Lotta der Besetzer aus der Via Pescaglia und die Lotta-Continua-Sektion der Magliana eine deutlich radikalere Reduktion auf acht Lire pro Kilowattstunde an.220 Als Ende 1974 die vierteljährlichen Stromrechnungen eintrafen, beschloss das Comitato di quartiere zu einer 50% autoriduzione der Stromrechnungen aufzurufen,221 was ihm bei einigen Kritikern den Vorwurf einbrachte, sich zu sehr auf die Position der Gewerkschaften einzulassen und so seine Autonomie aufzugeben.222 Damit war die Praxis der autori-

216 Zur Entwicklung der Inflationsrate im Italien der 1970er Jahre, vgl. Ginsborg (1990), S. 447. Zur Diskussion im Stadtteilkomitee der Magliana, vgl. Spada (1976), S. 58. 217 Miliucci/Paccino/Pifano (2007), S. 351. „8 Lire pro kWh zahlen wie Agnelli (und nicht 45 wie es die ENEL will).“ Die ENEL (Ente Nazionale Energia Elettrica) war der staatliche Energieversorger. 218 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 94. Vgl. auch ein Flugblatt in dem die autoriduzione in Ostia vorgestellt wird: Flugblatt des Comitato di lotta case comunali, Collettivo proletario di Ostia, Comitato autonomo case popolari vom 24.7.1974, in: Fondazione Istituto Gramsci (FIG), Volantini Vari 1970 – 1976, 1974, Bl. 25. 219 Magliana in Lotta 7 (1974), S.1, in: Fondo Valerio Verbano (FVV), Nr. 269. „Also fangen wir an, gemeinsam mit allen Bewohnern des Stadtteils zu diskutieren, auf welche Weise wir alle möglichen Masseninitiativen gegen die Teuerung vorantreiben können und wie wir uns organisieren müssen, um den Vorschlag der autoriduzione der Stromrechnungen zu konkretisieren […].“ 220 Vgl. Spada (1976), S. 58ff. 221 Vgl. Comitato di quartiere S. 98f. 222 Vgl. Spada (1976), S. 60.

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duzione auf ein weiteres Feld ausgedehnt worden - sie richtete sich nicht mehr nur gegen die Spekulation spezifischer Immobiliengesellschaften, sondern auch gegen die staatliche Abwälzung der Kosten der Krise auf die proletarischen Bevölkerungsschichten: „Lottare contro il continuo aumento dei prezzi, […] non è solo, quindi, una necessità per vivere meglio, ma è la risposta contro il tentativo dei padroni di far pagare la crisi ai lavoratori.“223 Dieser sehr viel generelleren Ausrichtung der neuen autoriduzione-Form entsprach der Versuch, eine breite und homogene Front der Strom-autoriduttori zu schaffen: Das Stadtteilkomitee der Magliana koordinierte sich dabei mit anderen Stadtteilkomitees in Rom und entwickelte eine einheitliche Linie mit den Komitees in den römischen Stadtteilen Primavalle, Tiburtino IV, Trullo, Montecucco, Garbatella, Bufalotta, Valmelaina, San Basilio und Alessandrino.224 Die konkrete Praxis der Strom-autoriduzione ähnelte grundsätzlich derjenigen bei der Miet-autoriduzione – nicht zuletzt, weil wiederum die Verteidigung der betroffenen Wohnblocks durch Blockaden zentrale Bedeutung hatte, da Angestellte der staatlichen Stromwerke dort die Leitungen der autoriduttori abklemmen mussten. Es bestanden aber auch einige wesentliche Unterschiede. Die Initiative zur Reduktion des Strompreises war speziell in Rom nicht von der Konsumentenseite ausgegangen, sondern von der Produzentenseite: Das der römischen Autonomia Operaia zugehörige Comitato politico ENEL, in dem Angestellte der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft organisiert waren, hatte 1972 erstmals eine autoriduzione des Strompreises ins Spiel gebracht. Nun, da die autoriduzione tatsächlich immer mehr um sich griff, solidarisierten sich viele linke ENEL-Arbeiter und taten ihr Möglichstes, die repressive Handhabe des eigenen Arbeitgebers gegen die autoriduttori zu erschweren: Viele Mitarbeiter der ENEL, die den autoriduttori den Strom abstellen sollten, sympathisierten mit diesen und ließen sich deshalb relativ leicht von ihrer Aufgabe abhalten.225 Diese Tatsache markierte einen eklatanten Unterschied zur autoriduzione von Mieten, bei der sich die autoriduttori keinerlei Illusion über eventuelle Sympathien auf der Gegenseite machen konnten. So ist es kaum verwunderlich, dass die Blockaden bei der Strom-autoriduzione häufig weit weniger gut organisiert und groß waren als bei der Mietreduktion. Aus dem Stadtteil Primavalle ist eine konkrete Szene der Strompreisreduktion um Mitte der 1970er Jahre überliefert: „Ecco […] la macchina dell’ENEL […] c’è quello con i baffi che già conosciamo e uno nuovo, mai venuto qui a Primavalle. […] [Q]uello con i baffi si aspettava di vederci ma ci fa capire che oggi si saranno problemi. l’altro sembra quasi spaventato mentre recitiamo la formula di rito, ‚Siamo il Comitato di lotta, paghiamo solo otto lire al chilowattora, come fanno i padroni‘ ; ci sentiamo un po’ ridicoli perché vorremmo essere minacciosi ma siamo soltanto in quattro e malediciamo gli altri che non arrivano. Ci spiegano che l’azienda non tollera più il diffondersi dell’autoriduzione e che gli staccatori tornino indietro a mani vuote; insomma qualche distacco lo devono

223 Vgl. Magliana in Lotta 7 (1974), S. 1, in: FVV, Nr. 269. „Gegen den dauernden Anstieg der Preise zu kämpfen […] ist also nicht nur eine Notwendigkeit, um besser zu leben, sondern es ist die Antwort auf den Versuch der Bosse, die Krise von den Arbeitnehmern zahlen zu lassen.“ 224 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 98f. 225 Vgl. Miliucci/Paccino/Pifano (2007), S. 350f.

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eseguire o almeno far vedere che ci hanno provato davvero. In quel momento arrivano correndo gli altri compagni: la lotta è dura ma c’è una certa cortesia, si presentano i nuovi arrivati agli avversari e poi ognuno rientra nel suo ruolo.“226 In der Magliana, der römischen autoriduttori-Hochburg werden gewöhnlich wohl mehr Aktivisten an derartigen Aktionen teilgenommen haben, aber auch hier wird aufgrund der Sympathien vieler ENEL-Angestellter die Situation bei der Strom-autoriduzione weit weniger angespannt gewesen sein als bei den Miet-autoriduzione.

3.2.1.2 Picchettaggio 227 Die autoriduzione kann zwar schlüssig als direkte Praxisform eingeordnet werden, entspricht aufgrund der ihr eigenen ‚Körperlosigkeit‘ aber nicht dem, was gemeinhin mit einer ‚direkten Aktion‘ assoziiert wird. Allerdings machte die autoriduzione zu ihrer Absicherung den picchettaggio – und damit eine körperliche Praxisform – notwendig: Um die aufgrund der reduzierten Mietzahlungen von Seiten der Immobiliengesellschaften eingeklagten Zwangsräumungen zu verhindern, wurden Blockadeposten um Wohnblöcke mit räumungsbedrohten Wohnungen organisiert. Die in der Magliana gewöhnlich praktizierte Form des picchettaggio kann als Variante des zivilen Ungehorsams beschrieben werden: Stand in einem Wohnblock eine Räumung an, so gingen die Betroffenen zum Sitz des Stadtteilkomitees und ließen dort Datum und Ort der Räumung in eine Tabelle eintragen, die für alle Besucher sichtbar war. Während die praktische Vorbereitung des picchetto vor allem bei den Mietern der betroffenen Wohnblocks selbst lag, wurde das picchetto vom Stadtteilkomitee bei Versammlungen beworben.228 Am entsprechenden Tag wurden dann die Eingänge der betroffenen Wohnblocks durch Menschenansammlungen mit Transparenten und Schildern blockiert, die durch ihre schlichte körperliche Präsenz die Exe-

226 Alessandro Pera (2005): Mario Salvi, in: Paola Staccioli (Hg.): In ordine pubblico. Rom, S. 78 – 90, hier: S. 80. „Da kommt […] das Auto der ENEL […] mit dem Schnauzbärtigen, den wir schon kennen, und einem Neuen, der noch nie hier in Primavalle war. […] [D]er mit dem Schnauzbart rechnete damit, uns zu sehen, aber er gibt uns zu verstehen, dass es heute Probleme geben wird. Der andere scheint fast verängstigt, als wir unsere rituelle Formel aufsagen: ‚Wir sind das Comitato di lotta, wir zahlen nur acht Lire pro Kilowattstunde wie die Bosse.‘ Wir fühlen uns ein wenig lächerlich, weil wir gerne bedrohlich wären, aber nur zu viert sind und wir verfluchen die anderen, die nicht kommen. Sie erklären uns, dass das Unternehmen es nicht mehr duldet, dass sich die autoriduzione ausbreitet und die ‚Abklemmer‘ mit leeren Händen zurückkehren. Kurz und gut, ein paar Abklemmungen müssen sie ausführen oder zumindest vorweisen können, dass sie es wirklich versucht haben. In dem Moment kommen die anderen Genossen angelaufen: Der Kampf ist hart, aber es herrscht ein gewisse Höflichkeit. Die Neuankömmlinge stellen sich den Gegnern vor und dann nimmt jeder wieder seine Rolle ein.“ 227 Picchettaggio oder picchetto wird ins Deutsche meist mit ‚Streikposten‘ übersetzt, verweist im Kontext der autoriduzione und im Zusammenhang mit Hausbesetzungen aber auf die Blockade von Häusern durch Mieter oder Besetzer. 228 Vgl. Spada (1976), S. 83ff.

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kution des Räumungsbescheids zu verhindern suchten. Dies war relativ einfach, falls der Räumungsbescheid durch einen einzelnen Justizangestellten überbracht werden sollte, da dieser gewöhnlich weder Willens noch in der Lage war, ein picchetto zu durchbrechen.229 Das Stadtteilkomitee interpretierte das picchetto als Praxisform, die aus der Fabrik in den Stadtteil importiert worden war und unterstrich so die enge Verbindung zwischen den Fabrikkämpfen und den Stadtteilkämpfen: „Sul posto di lavoro si fanno i picchetti per difendere il salario e contro lo sfruttamento dei padroni; alla Magliana abbiamo fatto i picchetti per difendere il nostro diritto alla casa e contro i fitti rapina.“230 Bei dieser Übertragung von der Produktions- in die Reproduktionssphäre veränderte sich die Akteurszusammensetzung allerdings nachhaltig: Während die Fabrik-picchetti gewöhnlich vor allem von Männern durchgeführt wurden, da diese in der Mehrzahl der Fabriken den Großteil der Arbeiter stellten, waren es in der Magliana gerade am Anfang der autoriduzione vor allem Frauen, die die Blockaden vor den räumungsbedrohten Wohnblocks bildeten.231 Es wäre falsch, die Wirkung eines picchetto einzig auf den intendierten Nutzen zu beschränken: Schon das erste picchetto in der Magliana im September 1971 produzierte neben seinem eigentlichen Ziel - der Verhinderung der Räumung - eine Art sozialen und kommunikativen Überschuss.232 Die Blockade war Ort der Diskussion und des Kennenlernens und bot so in einem Viertel, das durch seinen eklatanten Mangel an öffentlichen Räumen und sozialer Infrastruktur seine Bewohner zu Anonymität und Isolation verdammte, eine Möglichkeit zur sozialen Vernetzung.233 Schlüsselvorstellungen des Kampfes in der Magliana wie Solidarität und Kollektivität wurden bei den picchetti praktisch umgesetzt.234 Da gewöhnlich mit einer extrem frühen Ankunft der ausgesandten Gerichtsvollzieher gerechnet werden musste, wurde oft schon in der Nacht vor dem erwarteten Eintreffen ‚Wache‘ gehalten. Dabei wurden häufig Feuer angezündet und gemeinsam Kampflieder gesungen: „Per esempio quando si sapeva che veniva l’ufficiale giudiziario per sfrattare si facevano i picchetti […]. C’erano i giovani del quartiere che venivano a suonare con la chitarra. Si sta di notte in torno al fuoco sotto al portone per mandare via l’ufficiale giudiziario. […] Erano sempre forme di resistenza passiva. […] C’era grande partecipazione. Una partecipazione più diffusa

229 So z.B. am 22.9.1971, vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 45. 230 Magliana in Lotta 1 (1972), S. 4, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. „Am Arbeitsplatz macht man picchetti, um den Lohn zu verteidigen und gegen die Ausbeutung durch die Bosse. In der Magliana haben wir picchetti gemacht, um unser Recht auf Wohnraum gegen die räuberischen Mieten zu verteidigen.“ 231 Vgl. Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 232 Für Szenen von einem picchetto aus dem Frühjahr 1972 mit diskutierenden Frauen, spielenden Kindern, singenden Jugendlichen und einer Rede Renato Fattorinis vgl. Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 00:20-01:10 und 15:35-21:10, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 233 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 44f. 234 Vgl. Spada (1976), S. 82.

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in tutto il quartiere.“235 Auch wurde die Vorstellung der ‚lotta autogestita‘ im Zuge der picchetti in praxi verständlich: Die physische Teilnahme am picchetto war der konkrete Lackmustest für die Teilnahme am Kampf insgesamt und unterschied jene, die lediglich Solidaritätsbotschaften schickten, von denen, die die Auseinandersetzung tatsächlich führten: „È proprio in questi momenti di impegno e di sacrificio che riusciamo a distinguere i veri amici da quelli falsi: chi lotta al nostro fianco da chi ha saputo solo vendere chiacchiere.“236 Die sich ab September 1971 häufenden picchetti waren der zweite Akt im Bestehen des Stadtteilkomitees mit überwiegend weiblichen Protagonisten: War die Geburtsstunde der autonomen autoriduzione in der Magliana im Mai 1971 eine spontane Rebellion der Frauen gegen die überhöhten Mieten gewesen, so waren die Aufrührerinnen in den Versammlungen der alsbald gegründeten Comitati di lotta rasch zunehmend von ihren Männern abgelöst worden. Nun aber, da es nicht um Diskussionen nach Feierabend, sondern um praktisches Handeln tagsüber ging, waren es wieder die Frauen, die in erster Linie in Erscheinung traten und sich den Exekutanten der Räumungsbescheide entgegenstellten.237 Die wichtige Rolle der Frauen in den Kämpfen des Stadtteilkomitees dürfte kein Zufall gewesen sein: Die Auseinandersetzungen um Wohnraum waren Auseinandersetzungen, die der – in patriarchalischen Gesellschaften – weiblich konnotierten Sphäre der Reproduktion zugeordnet waren. Aus diesem Grund war es nur logisch, dass die Protagonistinnen dieser Kämpfe die genuinen Akteure jenes Feldes waren, in dem die Auseinandersetzung stattfand. Einen Zusammenhang zwischen den hauptsächlich weiblichen Akteuren und dem kommunikativen Überschuss der picchetti zu konstruieren, scheint nicht allzu weit hergeholt: Es waren häufig junge Frauen, die, durch ihre kleinen Kinder an ihre Wohnung und den Stadtteil gefesselt, die Vereinsamung in der Magliana als besonders bedrückend wahrnahmen – und es waren eben diese Frauen, die tagsüber zuhause waren und sich so gegen die Räumungen zur Wehr setzen konnten. Dass diese Frauen die kommunikativen und sozialen Potentiale des gemeinsamen politischen Handelns umfassend ausschöpften, erscheint daher logisch. Aus einem Kampf um die privaten Wohnräume entstand so eine Veränderung der öffentlichen Räume in der Magliana: Im Zuge des selbstbewussten öffentlichen Auftretens der Frauen ge-

235 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 35:25 - 36:15; vgl. auch Spada (1976), S. 81f. „Zum Beispiel wenn wir wussten, dass der Gerichtsvollzieher kam, um Räumungen durchzuführen, machten wir picchetti. […] Da waren die Jugendlichen aus dem Viertel, die kamen und Gitarre spielten. Man steht nachts rund ums Feuer vor der Eingangstüre, um den Gerichtsvollzieher wegzuschicken. […] Es waren immer Formen des passiven Widerstands. […] Es gab eine große Beteiligung. Eine breite Teilnahme im ganzen Viertel.“ Für eine solche Musikeinlage im Zuge eines picchetto vgl. Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 15:50- 18:55, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 236 Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. „Es sind genau diese Momente des Engagements und des Opfers, in denen wir die wahren Freunde von den falschen unterscheiden können: jene, die an unserer Seite kämpfen von jenen, die nur ihre warmen Worte zum Besten zu geben wissen.“ 237 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 181.

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gen die Räumungen, des gegenseitigen Kennenlernens und gemeinsamen Kommunizierens konstituierten die Frauen im Handlungsvollzug jene öffentlichen Räume, deren struktureller Mangel für die Hausfrauen der Magliana Einsamkeit und Anonymität bedeutet hatte.238 Allerdings wäre es falsch, die picchetti im Umkehrschluss als kommunikative Events zu verharmlosen: Sie waren prominentester Schauplatz einer erbitterten Auseinandersetzung, die für die autoriduttori von existenzieller Bedeutung war und auch jene sozialen und kommunikativen Potentiale überformte, die sich bei den picchetti auftaten. Bald wurden die Räumungen zu einer fast alltäglichen Angelegenheit und immer öfter begleiteten dabei starke Polizeikräfte die Justizangestellten mit den Räumungsbescheiden und setzten diese auch direkt um. 239 Von nun an mussten alle an den picchetti Beteiligten mit einer direkten körperlichen Konfrontation mit der Polizei rechnen, was die Hürde zur Teilnahme sicherlich erhöhte. Als Folge dieser Zuspitzung scheint sich dann auch die Zusammensetzung der Teilnehmer an den picchetti verändert zu haben. Im April 1972 konstatierte das Stadtteilkomitee: „Adesso non ci sono solo le donne a formarli (i picchetti, M.H.) ma anche numerosi uomini che, per essere presenti, non vanno a lavorare.“240 Die ersten schwereren Übergriffe von Seiten der Polizei gegen die picchetti in der Magliana scheint es am 28. November 1972 gegeben zu haben, als die Polizei acht Räumungsbescheide in einem Wohnblock der Immobiliengesellschaft Malta durchsetzen sollte: Etwa 200 Polizisten gingen gegen das picchetto vor. Eine Frau musste mit erheblichen Kopfverletzungen behandelt werden. Hier scheint die für die picchetti 1971 und Anfang 1972 mehrmals beschriebene festliche Stimmung zum ersten Mal in kollektive Wut umgeschlagen zu sein.241

238 Zum Raum als Wechselwirkung von Handeln und Struktur vgl. Löw (2001), S. 158ff. 239 Vgl. Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 240 Magliana in Lotta 1 (1972), S. 5, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. „Jetzt sind es nicht nur die Frauen, die sie (die picchetti, M.H.) bilden, sondern auch viele Männer, die nicht in die Arbeit gehen, um präsent zu sein.“ 241 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 74. Spada hingegen ordnet diesen Räumungsversuch Ende November 1972 dem 30. November zu, vgl. Spada (1976), S. 43.

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Abb. 1.4 Ein picchetto vor einem Wohnblock der Magliana in den frühen 1970er Jahren. Transparentaufschrift: „Autoriduzione dei Fitti“. „Autoriduzione der Mieten“.

Abb. 1.5 Das picchetto ist von der Polizei durchbrochen worden. Die Konfrontation verlagert sich in den Wohnblock.

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Neben das picchetto als Blockade aus Menschen traten bald einige Varianten, die ebenfalls der Erschwerung der Räumung dienten: Zusätzlich zur Blockade der Hauseingänge durch Menschen wurde häufig der Zugang zu räumungsbedrohten Wohnungen durch Gegenstände wie alte Möbel verbarrikadiert, um den Ordnungskräften das Eindringen zu erschweren. Da sich dieses Vorgehen bei längeren Phasen der Räumungsdrohung aber als unpraktikabel erwies, weil es die Mobilität der räumungsbedrohten Familien stark einschränkte, wurde Ende 1972 eine ‚professionelle‘ Methode entwickelt: Eine Gruppe von Handwerkern brachte bei räumungsbedrohten Wohnungen Verstärkungen an den Türen an, die der Polizei das Eindringen erschweren sollten.242 Zusätzlich konnten bei einem konkreten Räumungsversuch Barrikaden vor den Eingängen des betroffenen Wohnblocks errichtet werden. Auch erwies sich das spontane picchettaggio angesichts mehrerer Räumungswellen in jedem Jahr, die es oft nötig machten, über mehrere Tage hinweg picchetti mit mehreren hundert Personen aufrechtzuerhalten, als unpraktikabel: Da die polizeiliche Intervention oft nicht angekündigt wurde und bei offenen Räumungsbescheiden potenziell jederzeit erfolgen konnte, organisierte das Stadtteilkomitee Spähtrupps, die vor dem zuständigen Bezirkskommissariat jede Polizeibewegung überwachten und gegebenenfalls meldeten. Sobald sich größere Polizeikontingente vom Kommissariat aus in Bewegung setzten, wurden über ein Alarmsystem die Betroffenen und ihre Unterstützer informiert und das picchetto bildete sich, bevor die Polizei am zu räumenden Objekt eintraf.243 Das zermürbende Dauer-picchettaggio wurde so ersetzt durch ein picchetto auf Abruf, welches den Aufwand für die Aktivisten so gering wie möglich hielt. In dieser Veränderung spiegelte sich aber auch die kaum vermeidbare Wandlung der Bewegung vom enthusiastischen Auftakt hin zur partiellen Institutionalisierung wider: das picchetto als kollektives Fest war dem picchetto als allzu häufig wiederkehrende Notwendigkeit gewichen. Auch das Ziel des picchettaggio veränderte sich: Nachdem sich mit der Zeit auch erste Rückschläge einstellten, zielte das picchettaggio nicht mehr darauf ab, alle Räumungen komplett unmöglich zu machen, sondern vielmehr darauf, den Aufwand für jede einzelne Räumung derart in die Höhe zu treiben, dass die Immobiliengesellschaften schließlich in Verhandlungen mit den autoriduttori der Magliana eintreten würden. Diese Strategie der möglichst weitgehenden Erschwerung der Räumungen ging oft auf: So konnte beispielsweise ein Großaufgebot der Polizei an zwei Tagen im November 1972 nur drei von acht Räumungen durchführen.244 Neben die ‚Rationalisierung‘ des picchettaggio durch Späher und Schichteinteilung und der effektiveren Verbarrikadierung der betroffenen Wohnungen trat schließlich noch eine weitere taktische Neuerung: die Ausweitung der Kampfzone. Die autoriduttori gingen dazu über, nicht mehr nur die Zugänge zu den Wohnblocks mit den räumungsbedrohten Wohnungen zu blockieren, sondern auch den Autoverkehr auf wichtigen Straßen im Viertel.245 Diese sogenannten blocchi stradali verfolg-

242 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 76f. 243 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 76f. 244 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 76f. 245 Erstmals sind Straßenblockaden in der Magliana für den 29.11.1972 belegt, was aber nicht heißt, dass sie nicht schon früher stattfanden, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 75.

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ten mehrere Zwecke: Zum einen verhinderten sie durch eine Blockade der Anfahrtsstraße das Anrücken der motorisierten Polizeikräfte. Zum anderen erhöhten die Straßenblockaden durch das entstehende Chaos den Druck auf die Polizei, möglichst schnell wieder abzuziehen. Zu guter Letzt verlagerten sie den Konflikt vom Objekt der Auseinandersetzung, also den besetzten Wohnungen, weg und machten es so der Polizei unmöglich, sich ganz auf ihre eigentliche Aufgabe, die Räumung, zu konzentrieren. Die Blockade belebter Straßen statt abgelegener Hinterhöfe verlieh der Auseinandersetzung eine veränderte Logik: Die Straße als „[…] Ort relativ unzensierter Wahrnehmung, (als) ‚Massenmedium‘ vor allem für gesellschaftliche Erfahrungen, die auf Vermischungen, Berührungen und Konfrontation zwischen Sphären beruhen, die sonst räumlich voneinander getrennt existieren […]“246 , sollte als „Politik-Arena“247 genutzt werden, wodurch automatisch auch die Bewohner der umliegenden Wohnblocks und das Straßenpublikum in die Auseinandersetzung zwischen Polizei und autoriduttori einbezogen wurden. Auch wenn die Choreographie der Straßenauseinandersetzung gewöhnlich wohl präzise organisiert war, so wurde durch den Wechsel in die Politik-Arena Straße doch auch auf die Solidarisierung Unbeteiligter und die Einbeziehung neuer Akteursgruppen abgezielt, die die Kalkulation des Eskalationsrisikos für die Polizei erschwerten: Die Straße eines proletarischen Stadtteils war immer auch derjenige soziale Raum, den es gerade für junge Männer aus der Unterschicht „[…] anzueignen, zu beherrschen und gegebenenfalls zu verteidigen […]“248 galt, wodurch die Möglichkeit der Überlagerung der dezidiert politischen Aktion des picchetto mit dem ‚alltäglichen Kleinkrieg‘ zwischen Polizei und Publikum geschaffen wurde.249 Diese Form der Ausweitung des Kampfterrains durch die Durchführung von Straßenblockaden scheint sich für das Stadtteilkomitee der Magliana als recht effektiv erwiesen zu haben, jedenfalls wurden bald fast alle picchetti, bei denen mit dem Eingreifen der Polizei gerechnet werden musste, von Straßenblockaden begleitet.250 Die Straßenblockade bildet hinsichtlich der urbanen Kämpfe um Fragen des kollektiven Konsums das Pendant zum Streik in Fabrikkämpfen. Die Straßenblockade unterbricht die kapitalistische Wertschöpfungskette nicht in der Produktions- sondern in der Zirkulationssphäre, um Forderungen Nachdruck zu verleihen, die nicht Produktion und Lohn, sondern Fragen der Reproduktion betreffen.

246 Thomas Lindenberger (1995): Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 – 1914. Bonn, S. 11. Zur Übertragbarkeit von Lindenbergers Konzept der Straßenpolitik auf zeitgenössische Kontexte, vgl. Lindenberger (1995), S. 17. 247 Lindenberger (1995), S. 12. 248 Lindenberger (1995), S. 390. 249 Zum ‚alltäglichen Kleinkriegs‘ vgl. Lindenberger (1995), S. 107ff. 250 Vgl. Spada (1976), S. 85.

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Abb. 1.6 Straßenblockade des Stadtteilkomitees der Magliana auf der Via della Magliana in den 1970er Jahren. Aufschrift der Schilder von links soweit lesbar: „Difendiamo la casa con la lotta“, „Verteidigen wir die Häuser mit dem Kampf“; „Alla Magliana basta con le case. Vogliamo i giardini“, „Es reicht mit dem Wohnungsbau in der Magliana, wir wollen Grünflächen“; „La casa è un diritto di tutti lavoratori“, „Wohnraum ist ein Recht aller Arbeitnehmer“. Nachdem in der ersten Jahreshälfte 1973 immer wieder Räumungsversuche und Räumungen in der Magliana stattgefunden hatten,251 entschloss sich das Stadtteilkomitee Verhandlungen mit den betreffenden Immobiliengesellschaften aufzunehmen. Als diese Verhandlungen im April und Mai 1973 ergebnislos blieben und offensichtlich war, dass die Immobiliengesellschaften mit einer Strategie der Räumungen fortzufahren gedachten,252 formulierten einige autoriduttori eine offizielle Aufforderung an Bürgermeister Darida und den römischen Stadtrat, die Baugenehmigungen für die Magliana zurückzuziehen und keine neuen Baugenehmigungen für das Viertel mehr zu erteilen. Sie verwiesen dabei auf die Ergebnisse der Untersuchungen, die Amtsrichter Cerminara im Zuge seiner Ermittlungsverfahren gegen die Spekulanten in der Magliana in Auftrag gegeben hatte und die unter anderem zu dem Ergebnis gekommen waren, dass in der Magliana weiterhin ein dauerndes Überflutungsrisiko bestand und die hygienische Situation nach wie vor äußerst mangelhaft war. Hintergrund dieser Aufforderung war die Tatsache, dass sich die von der autoriduzione betroffenen Immobilienfirmen unter Hinweis auf ihre gültigen Baugenehmigungen weigerten, in Verhandlungen mit den autoriduttori einzutreten und stattdessen auf der Durchsetzung der Räumungsbescheide bestanden. Der Rückzug der Baugenehmigungen sollte

251 Vgl. Paese Sera vom 22.1.1973; Paese Sera vom 26.1.1973; Paese Sera vom 31.1.1973; Paese Sera vom 27.5.1973, alle in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 24-28. 252 Vgl. Spada (1976), S. 48.

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die Immobilienfirmen – so die Intention der autoriduttori – unter Druck setzen und sie zu Verhandlungen mit den autoriduttori zwingen.253 Doch auch diese Strategie der autoriduttori sollte nicht aufgehen: Im Frühsommer 1973 wurde den Räumungsklagen gegen die Mieter der Immobiliengesellschaft Porta Medaglia stattgegeben. Damit zielten die Immobiliengesellschaften auf eine der Hochburgen der autoriduzione in der Magliana: Die Mieter der Immobiliengesellschaft Porta Medaglia beteiligten sich seit 1971 an der autoriduzione und waren intern sehr gut organisiert.254 Der Räumungstermin wurde von Seiten des Gerichts auf den 5.7.1973 festgelegt. Die Besorgnis unter den Mietern wuchs und ein Teil der autoriduttori und Treppendelegierten schlug vor, erneut in Verhandlungen mit der Immobiliengesellschaft einzutreten und dabei die Zahlung der vollen Mieten sowie die Nachzahlung der Rückstände per Ratenzahlung anzubieten. Obwohl ein solches Angebot der politischen Linie des Stadtteilkomitees diametral entgegenstand, weil es die faktische Aufgabe des zentralen Inhalts seiner Politik implizierte, akzeptierte das Komitee diesen Vorschlag, um die Einheit der kämpfenden Familien nicht zu gefährden, und trat in Verhandlungen mit der Gesellschaft Porta Medaglia.255 Da aber die Gegenseite keine Verhandlungsbereitschaft erkennen ließ, sondern auf der Räumung beharrte, schloss sich die politische Front der kämpfenden Mieter wieder: Nun beschlossen die Mieter der Porta Medaglia auf das bewährte Mittel des picchettaggio zurückzugreifen, mit welchem sich die autoriduttori der Magliana seit 1971 gegen Räumungen zu schützen versuchten. Vor dem 5.7.1973 wurden die Türen der räumungsbedrohten Wohnungen durch Stahlbügel verstärkt, um zu verhindern, dass sie leicht eingeschlagen werden könnten. Material zum Bau von Barrikaden wurde in den Straßen um die räumungsbedrohten Wohnblöcke und in deren Innerem bereitgelegt. Trotz der wachsenden Bereitschaft der Bevölkerung der Magliana zu einer harten Antwort auf den erneuten Räumungsversuch sollte eine direkte Auseinandersetzung mit der Polizei aber vermieden werden.256 Am 5. Juli standen dann ab sechs Uhr früh circa fünfzig Frauen und Männer an der Via della Magliana einige hundert Meter von der räumungsbedrohten Gebäuden entfernt bereit, um beim Eintreffen der Polizei die Straße zu blockieren. Bald darauf begann sich ein ungewöhnlich starkes picchetto mit hunderten von Teilnehmern in der Straße mit den räumungsbedrohten Wohnblocks zu formieren. Als die Späher gegen 8.30 Uhr meldeten, dass der Justizbeamte im zuständigen Kommissariat von S. Paolo angekommen sei und das Ausrücken der Polizei damit unmittelbar bevorzustehen schien, traten wie geplant die ersten Straßenblockaden in Kraft: Während eine Gruppe den Verkehr auf der Via della Magliana stoppte, rollte eine zweite Gruppe in circa zehn Meter Entfernung bereitgelegte Reifen auf die Straße, übergoss diese mit Ben-

253 Vgl. Paese Sera vom 4.7.1973, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 28. 254 Vgl. Spada (1976), S. 49. 255 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 83. 256 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 83.

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zin und zündete sie an.257 Nach wenigen Minuten stand eine schwarze Rauchwolke über dem Viertel, die Polizei und Justiz signalisierte, dass die autoriduttori der Magliana entschlossen waren, sich mit allen Mitteln gegen die Räumung zu verteidigen: „Per chiarire a padroni e polizia la decisione di tutto il quartiere nel difendere le famiglie dagli sfratti, gommoni usati sono stati dati alle fiamme.“258 Der dichte Morgenverkehr auf der Via della Magliana, die als Flughafenzubringer ein hohes Verkehrsaufkommen hatte, brach zusammen. Die Polizeikräfte steckten durch den Stau am Kommissariat von S. Paolo fest und kamen mit ihren Mannschaftswägen nicht vorwärts. Gegen zehn Uhr gelang es der Feuerwehr, die brennenden Barrikaden zu löschen. Wenig später erschien der zuständige Kommissar Cauto mit anderen Verantwortlichen des Polizeipräsidiums am picchetto und informierte die Anwesenden, dass der Anwalt Giove als Vertreter der Immobiliengesellschaft Porta Medaglia mit den Vertretern des Stadtteilkomitees im Kommissariat sprechen wolle. Nach einer kurzen Diskussion beschlossen die Anwesenden eine große Delegation zu der Zusammenkunft zu entsenden. Während die Delegation zum Kommissariat aufbrach, wurde das picchetto nochmals verstärkt und Gruppen von Aktivisten gingen los, um im Stadtteil Plakate zu kleben, die Bevölkerung über den Stand der Dinge zu informieren und nochmals zur Teilnahme am picchetto aufzurufen.259 Als die Delegation im Kommissariat ankam, wurde schnell klar, dass der Anwalt Giove diesmal weit weniger selbstsicher als zuletzt war: Die Straßenblockade und die Informationen des Kommissariats über die Vorbereitungen, die das Stadtteilkomitee in den letzten Tagen getroffen hatte, schienen Eindruck zu machen.260 Der Vertreter der Immobiliengesellschaft Porta Medaglia erklärte sich im Zuge der Verhandlungen bereit, die Räumungen bis zum 25. Juli aufzuschieben und einen weiteren Verhandlungstermin für die nächste Woche zu vereinbaren.261 Im Zuge der Verhandlungen wurde für die autoriduttori deutlich, dass es den Immobiliengesellschaften bei den Räumungen in der Magliana nicht darum ging, die geräumten Wohnungen wieder zu vermieten – denn de facto blieben geräumte Wohnungen leer –, sondern darum, die Bewegung in der Magliana einzuschüchtern und das Prinzip des Privateigentums zu verteidigen. Als die Delegation in die Magliana zurückkehrte und den am picchetto Beteiligten die Verhandlungsergebnisse mitteilte, war allen sofort klar, dass man einen wichtigen Teilerfolg erzielt hatte. Aus dem picchetto formierte sich ein Demonstrationszug durch den Stadtteil, um die Nachricht über die erfolgreiche Verteidigung der räumungsbedrohten Familien zu verbreiten.262 Der Tag endete

257 Vgl. Il Manifesto vom 6.7.1973, S. 3; Lotta Continua vom 7.7.1973, S. 2.; Comitato di quartiere (1977), S. 83f. 258 Vgl. Lotta Continua vom 7.7.1973, S. 2. „Um den Besitzern und der Polizei die Entscheidung des ganzen Viertels klarzumachen, die Familien gegen die Räumungen zu verteidigen, wurden alte Reifen angezündet.“ 259 Vgl. Lotta Continua vom 7.7.1973, S. 2. 260 Vgl. Comitato di Quartiere (1977), S. 83f. 261 Vgl. Lotta Continua vom 7.7.1973, S. 2. 262 Vgl. Lotta Continua vom 7.7.1973, S. 2.

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ohne eine einzige Räumung in der Magliana.263 Eine Woche später kam es zu einer zweiten Verhandlungsrunde zwischen der Delegation des Stadtteilkomitees und den Vertretern der Immobiliengesellschaften, die mit einem faktischen Räumungsstopp endete. So erlebten die Bewohner der Magliana den ersten Sommer seit zwei Jahren ohne Räumungsbescheide, Polizeiinterventionen und picchettaggio.264

3.2.1.3 Besetzungen Neben die autoriduzione und dem damit verbundenen picchettaggio trat in der Magliana bald als weitere Form der direkten Aneignung die occupazione, also die Besetzung.265 Zur ersten Besetzung durch das Stadtteilkomitee kam es, als gegen Ende des Jahre 1971 zunehmend deutlich wurde, dass das Komitee einen festen Sitz als Zentrum seiner Aktivität und als Anlaufstelle für Aktivisten und Interessierte benötigte. So wurden am 6. November leerstehende Räume im Erdgeschoss eines kommunalen Wohnblocks in der Viale Vicopisano 81 an der zentralen Piazza della Magliana als Lokal für das Stadtteilkomitee besetzt. Diese Besetzung verfolgte das Ziel, einen festen Sitz für das comitato zu schaffen, der fortan als Anlaufpunkt im Viertel dienen und gewissermaßen als räumliche Materialisierung dem wachsenden politischen Gewicht des Stadtteilkomitees Rechnung tragen sollte.266 Wie eng der Zusammenhang zwischen Raumaneignung und Ausprägung einer kontinuierlichen Struktur der Selbstermächtigung war, zeigt die Beobachtung Marco Spadas, dass der Begriff Stadtteilkomitee zunehmend nicht mehr als Signifikant für das entsprechende Personenkollektiv, sondern für die besetzten Räumlichkeiten diente: „[…] (I)l termine ‚comitato‘ sta spesso a indicare la sede fisica da dove parte l’organizzazione della lotta del quartiere.“267 Da in diesem Sinne die langfristige Sicherung der Räume Priorität vor der politischen Radikalität der Besetzung hatte, wurde direkt nach der Besetzung ein Telegramm an die Kommune gesandt, in welchem eine Überlassung der Räume an das Stadtteilkomitee und die Festlegung einer symbolischen Miete gefordert wurde. Fortan wurde eine symbolische Miete für die Räume an die Stadt überwiesen, die die Besetzung stillschweigend hinnahm. Das Vorgehen des Komitees oszillierte also zwischen direkter Aneignung und politischer Mediation, zwi-

263 Vgl. Paese Sera vom 6.7.1973, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 29. 264 Vgl. Lotta Continua vom 7.7.1973, S. 2; Comitato di quartiere (1977), S. 84. 265 Im Folgenden werden nur die Besetzungen durch das Stadtteilkomitee der Magliana behandelt, zu anderen Besetzungen in der Magliana, die nicht von Stadtteilkomitee organisiert wurden, vgl. Kapitel II. 266 Vgl. Spada (1976), S. 90; Comitato di Quartiere (1977), S. 50. Für einen Eindruck von der Lage und den Räumen des Stadteilkomitees vgl. Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 32:50-37:30, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 267 Spada (1976), S. 90. „[…] [D]er Begriff ‚Komitee‘ verweist häufig auf den physischen Sitz, an dem der Kampf des Stadtteils organisiert wird.“

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schen dem Bruch geltenden Rechts und dem Versuch, diesen Bruch zu legalisieren oder zumindest zu legitimieren. Versucht man den besetzten Raum weniger als angeeignetes Objekt denn als ständig aus Neue zu konstituierende Raumstruktur zu begreifen, so wird der Blick auf jene routinisierten Praktiken gelenkt, die den Raum hervorbrachten.268 Am Abend der Besetzung fand in den besetzten Räumen ein Fest mit Kuchen und Wein statt: Die Aneignung der Räume folgte also ebenso wie die picchetti vor räumungsbedrohten Wohnblocks nicht einer rein instrumentellen politischen Logik – der Sitz des Komitees war nicht nur Ort notwendiger politischer Arbeit, sondern auch des Zusammenseins, des Feierns und des Vergnügens. Tags darauf wurde die Nachricht von der Besetzung im Viertel verbreitet und die Bewohner waren eingeladen, die Räume für gemeinsam beschlossene Aktivitäten zu nutzen. Außerdem wurden alle aufgefordert, zur Einrichtung der Räume durch alte Möbel beizutragen. Von nun an war der Sitz des Komitees täglich von 18 bis 21 Uhr geöffnet und diente als Anlaufstelle für alle, die sich an den Aktivitäten des Stadtteilkomitees beteiligten wollten. Hierher kam, wer sich entschlossen hatte an der Mietreduktion teilzunehmen, wer einen Räumungsbescheid erhalten hatte oder andere Fragen besprechen wollte.269 Ende 1971 wurde die Palette der verschiedenartigen Besetzungen in der Magliana erweitert: Ein Stück Bauland in Privatbesitz wurde als direkte Aktion gegen den Mangel an Grünflächen im Viertel besetzt und in einen Garten verwandelt. Die Aktion wurde verbunden mit der Aufforderung an die römische Justiz, die Errichtung weiterer Bauten in der Magliana zu verbieten, um die verbleibenden Freiflächen für notwendige soziale Dienstleistungen wie Schulen, Kindergärten, Grünflächen und Sporteinrichtungen zu sichern.270 Die Besetzung von Bauland wurde bald auch von den anderen linken Kräften in der Magliana praktiziert: Am 25. März 1972 organisierte das Centro di cultura proletaria271, unterstützt von den Linksparteien und der UNIA, eine Kundgebung auf der zentralen Piazza der Magliana, um auf den Mangel an Freiflächen und sozialen Dienstleistungen im Stadtteil aufmerksam zu machen. Im Zentrum der Kritik stand der Unternehmer Sonnino, der eine der letzten großen Freiflächen der Magliana in der Via Scarperia mit Lagerhallen bebauen wollte.

268 In etwa so könnte man einer auf einem ‚absolutistischen‘ Raumbegriff basierenden Analyse des Besetzung eine auf einem ‚relativistischen‘ Raumbegriff basierende Lesart entgegenstellen, vgl. Löw (2001). Im konkreten Fall funktionierten Raumaneignung und Raumkonstitution gemeinsam. 269 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 50. Vgl. auch: Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 32:50-37:30 in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 270 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 52f. 271 ‚Proletarisches Kulturzentrum‘. Das Centro di cultura proletaria war im Juli 1971 von den ehemaligen Barackenbewohnern aus Prato Rotondo gegründet worden, die inzwischen im Comitato case comunali organisiert waren. Der linke Priester Don Lutte spielte in beiden Organisationen eine wesentliche Rolle, vgl. Lutte (1977), S. 20f.

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Abb. 1.7 Protest vor der Saferrot Lagerhalle in der Magliana in den frühen 1970er Jahren gegen die Saferrot-Besitzerfamilie Sonnino. Transparentaufschrift: „Sonnino enteignen“.

Nach Reden von Don Gerardo Lutte und anderen, die deutlich machten, dass das Gelände in der Via Scarperia für den Bau einer Schule benötigt wurde, machte sich die Menschenmenge auf den Weg in die Via Scarperia, riss den Bauzaun um und besetzte das Gelände. Während die Besetzer Kampflieder sangen und versuchten, die auf dem Gelände beschäftigten Bauarbeiter von der Richtigkeit ihrer Aktion zu überzeugen, wurde eine Delegation zur Stadtverwaltung geschickt, um dort über eine Beschlagnahme des Geländes für den Bau einer Schule zu verhandeln. Man hatte Erfolg: Kurze Zeit später wurde die Baustelle geschlossen und das Gelände per Gerichtsbeschluss beschlagnahmt.272 Ganz ähnlich verliefen auch im Folgenden derartige Aktionen von Seiten des Stadtteilkomitees: Im Januar 1974 beschloss eine vom Stadtteilkomitee einberufene assemblea popolare auf der Piazza della Magliana die Besetzung einer halblegalen Baustelle am Ende der Via Cutigliano. Eine Woche später erfolgte die Besetzung und in den Tagen darauf wurde das Terrain durch die Bevölkerung der Magliana konkret in Besitz genommen: Frauen, Kinder und Alte waren beteiligt, als nach und nach alle Spuren der Baustelle verschwanden, Baumaterial zerstört, ein Fußballplatz errichtet und Bäume gepflanzt wurden. Am Ende

272 Vgl. Magliana Rossa. Giornale del doposcuola del Centro di cultura proletaria vom April 1972, S.1 -7, in: Centro di Documentazione Valerio Verbano (CDVV), Fondo Magliana, Nr. 168. Zu ähnlichen Erfolgen kam es auch im März 1972 in der Via Lari und Ende 1973 in der Via Impruneta, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 56 bzw. S. 88.

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besiegelten große Graffiti die definitive Aneignung des Raumes: „Questo terreno è nostro, non degli sfruttatori“, „Meno cemento, più verde“.273 Dass derartige Aktionen nicht immer reibungslos abliefen, zeigte sich im März 1976, als Schüler und Lehrer der Mittelschule ‚Salvatore Di Giacomo‘ mit Unterstützung des Stadtteilkomitees eine Lagerhalle in der Via Pian due Torri besetzten, um Druck aufzubauen, damit auf dieser Fläche eine dringend benötigte zweite Mittelschule für die Magliana entstehe. Der Appell an die Stadtverwaltung, das Gelände zu enteignen, um eine Fläche für den Schulbau zu reservieren, blieb ungehört. Stattdessen wurden Einheiten der berüchtigten Bereitschaftspolizei Celere274 gegen die Schüler und Lehrer eingesetzt, die diese mit Schlagstöcken und Gewehrkolbenhieben von dem Gelände vertrieben. Eine Lehrerin und eine Schülerin mussten mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der brutale Polizeieinsatz aber bescherte dem Anliegen der Protestierenden breite Medienresonanz.275 Der PCI distanzierte sich nach der Besetzung kategorisch von der Vorgehensweise des Stadtteilkomitees und seiner Verbündeten und schlug statt direkter Aktionen Verhandlungen mit der Kommunalverwaltung vor.276 Insgesamt scheinen derartige Aktionen des Stadtteilkomitees und der anderen lokalen Basisinitiativen für einen Baustopp in der Magliana aber dennoch erfolgreich gewesen zu sein, wie die Tatsache zeigt, dass seit dem Beginn der autoriduzione durch das Stadtteilkomitee 1971 keine privaten Neubauten im Stadtteil mehr entstanden.277 Eine weitere Besetzung mit dem Ziel der Raumaneignung zur öffentlichen Nutzung, ähnlich der Besetzung der Räume für das Stadtteilkomitee 1971, erfolgte im Mai 1976, als Frauen des Comitato di quartiere, des Centro di cultura proletaria, des Collettivo Femminista della Magliana, der lokalen PSI-Sektion und von Lotta Continua gemeinsam Räume am Marktplatz der Magliana besetzten, um dort in Zusammenarbeit mit dem Nucleo Aborti della Magliana des CRAC (Comitato Romano per la liberalizzazione dell’Aborto e la Contraccezione)278 eine selbstverwaltete Frauenberatungsstelle zur Information in Sachen Verhütung und Schwangerschaftsabbruch einzurichten. Es handelte sich um Räume einer privaten Immobiliengesellschaft, die wie zahlreiche Erdgeschossräume in der Magliana leerstanden, weil sie häufig überschwemmt waren. Ähnlich wie im Falle der Besetzung der Räume des Stadtteilkomitees war auch in diesem Fall die Besetzung kein Selbstzweck, sondern als Ausgangs-

273 Comitato di quartiere (1977). S. 89. „Dieses Grundstück gehört uns und nicht den Ausbeutern“, „Weniger Zement, mehr Grün“. 274 Die 1946 gegründete Celere war eine für ihre Brutalität in den frühen Nachkriegsjahren berüchtigte mobile Bereitschaftspolizei, vgl. Ginsborg (1990), S. 112. Der Ruf der Celere in den 1970er Jahren war immer noch ein ähnlicher, vgl. L’Espresso vom 10.10.1976, S. 30f. 275 Vgl. La Repubblica vom 3.3.1976, Avanti vom 3.3.1976, Paese Sera vom 3.3.1976, Il Manifesto vom 3.3.1976, Il Messaggero vom 3.3.1976, Corriere della Sera vom 4.3.1976, alle in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 89-91. 276 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 106. 277 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 88f. 278 ‚Römisches Komitee für die Legalisierung der Abtreibung und für Verhütung‘. Zur Geschichte des CRAC und der feministischen Beratungsstellen vgl. Kapital IV.

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punkt für den Aufbau einer selbstverwalteten Beratungsstelle im Stadtteil materieller Ausdruck der weiblichen Selbstermächtigung.279

3.2.1.4 Mercati rossi 280 Die autoriduzione der Stromrechnungen war nicht der einzige Versuch der außerparlamentarischen Linken Italiens, die Verteidigung der proletarischen Einkommen in Zeiten der Krise zu organisieren. Auch die inflationsbedingt verteuerten Grundnahrungsmittel gerieten zunehmend in den Fokus der Bewegungsakteure.281 In diesem Kontext entwickelten sich verschiedene Formen der direkten Aktion zur Verteidigung des proletarischen Konsums. Während die radikalsten Teile der Bewegung auf die kollektive autoriduzione von Supermarkteinkäufen setzten, organisierten die weniger radikalen linken Gruppen und Stadtteilkomitees sogenannte mercati rossi, auf denen billige Grundnahrungsmittel verkauft wurden. Da die Produkte ohne Zwischenhändler, Gewinnspanne und Steuern an die Konsumenten weiterverkauft wurden, waren die dort angebotenen Waren weitaus billiger als beim normalen Händler. Die mercati rossi waren für gewöhnlich illegal, da die Betreiber weder eine Geschäftslizenz besaßen noch Steuern für die von ihnen abgesetzten Waren bezahlten. In den ersten Monaten des Jahres 1976 organisierte das Stadtteilkomitee der Magliana gemeinsam mit dem Comitato di lotta per la casa282 und der lokalen Sektion von Lotta Continua eine Reihe von mercati rossi im Stadtteil, um dem starken Preisauftrieb bei Lebensmitteln konkret entgegenzuwirken.283 Dabei wurde durch Großeinkäufe direkt vom Hersteller und den Weiterverkauf in Eigenregie all das ausgeschaltet, was das Stadtteilkomitee als „speculazione e […] parassitismo“284 bezeichnete: „Noi facevamo così: […] [A]vevamo dei compagni nostri che lavoravano ai mercati generali che prendevano le cose e c’avevamo anche una serie di compagni […] che avevano fatto un’occupazione di terre a Lanuvio e che c’avevano anche dei prodotti che facevano loro. […] Facevamo la vendita diretta di questi prodotti alla gente. […] Oltre gli ortaggi vendevamo pure la carne, il latte. Sono stati episodi che

279 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 108. 280 ‚Rote Märkte‘. 281 Dass gerade die Versorgung mit Lebensmitteln zu einem wesentlichen Aspekt der Kämpfe gegen den Preisauftrieb wurden, ist wenig erstaunlich, wenn man sich die Ausgabenstruktur italienischer Familien um Mitte der 1970er Jahre vor Augen führt. L’Espresso versuchte Ende 1974 den Preisanstieg am Beispiel einer bürgerlichen Mailänder Familie darzustellen: Von den 500.000 Lire Monatseinkommen – eine Summe von der die Familien der Magliana nur träumen konnten – wurden 190.000 Lire für Lebensmittel ausgegeben. Miete und Heizung fielen dagegen mit 105.000 ebenso wie Transport und Kleidung deutlich geringer ins Gewicht, vgl. L’Espresso vom 24.11.1974, S. 146-149, hier S. 147. 282 Das ‚Kampfkomitee für Wohnraum‘ war eine Basisorganisation, die 1973 zahlreiche Wohnungen in der Magliana besetzte, vgl. Kapitel II. 283 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 108. 284 Comitato di quartiere (1977), S. 108.

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si rivedevano quasi tutti sabati. […] In genere avveniva o d’avanti al mercato o proprio per le strade cioè che si fermava alle occupazioni. Faceva il giro della Magliana. Andava d’avanti agli asili, alle scuole. Insomma era un mercatino rosso molto vivace. In cui si faceva un po’ di mercatino e si faceva pure un po’ di politica. […] (C’era, M.H.) un bel corteo (dietro il camion, M.H.) di gente che partecipava attivamente a questo evento.“285 Das Ziel derartiger Aktionen umrissen das Stadtteilkomitee und Lotta Continua in einem gemeinsamen Flugblatt im Frühjahr 1976 folgendermaßen: „Sabato 24 Aprile si è tenuta alla Magliana una vendita popolare di generi alimentari; non è stata una vendita alternativa al mercato, né andava contro i piccoli dettaglianti. È stata invece una vendita di protesta contro i veri responsabili dell’aumento dei prezzi: gli speculatori, i grossisti, le grandi aziende, il governo DC.“286 Die Initiatoren zielten mit der Organisation der mercati rossi in der Magliana aber nicht nur darauf ab, durch die punktuelle Aushebelung aller Zwischeninstanzen zwischen Produzenten und Konsumenten einmalige Preisreduktionen für die proletarischen Familien im Stadtteil zu erreichen und die politisch Verantwortlichen für den Preisauftrieb zu benennen, sondern wollten gleichzeitig Druck aufbauen, um die Geschäftsleute in der Magliana zu zwingen, ihre Einkaufsstrukturen zu rationalisieren und ihre Preise zu senken. Zu diesem Zweck luden sie die Händler des Viertels zur Diskussion ein: „Per la lotta al carovita è necessaria una maggiore unità, per questo ai commercianti e ai dettaglianti del quartiere, colpiti anch’essi dalla speculazione, chiediamo un incontro per giovedì 29 alle ore 14 al Comitato di quartiere.“287 Für die

285 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:03:20 - 1:04:55. „Wir machten es so: […] [W]ir hatten Genossen, die am Großmarkt arbeiteten und dort die Sachen besorgten und wir hatten da auch eine Reihe von Genossen […], die eine Landbesetzung bei Lanuvio gemacht hatten und Produkte hatten die sie machten. […] Wir machten einen Direktverkauf dieser Produkte an die Leute. […] Neben Gemüse verkauften wir auch Fleisch und Milch. Das waren Episoden, die sich fast jeden Samstag wiederholten. […] Gewöhnlich fand es entweder vor dem Markt oder auf den Straßen statt, so dass man vor den Besetzungen hielt. Man machte eine Runde durch die Magliana. Man ging vor die Kinderkrippe, den Kindergarten, die Schulen. Kurz gesagt, es war ein sehr lebendiger roter Markt, bei dem man ein bisschen Markt und ein bisschen Politik machte. […] (Das war, M.H.) ein hübscher Umzug (hinter dem Transporter, M.H.) von Leuten, die aktiv an dem Ereignis teilnahmen.“ 286 Flugblatt vom Comitato di quartiere und Lotta Continua vom 28.4.1976, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Am Samstag, den 24. April wurde Volksverkauf von Lebensmitteln in der Magliana durchgeführt. Es war kein alternativer Verkauf zum Markt und er richtete sich nicht gegen die kleinen Einzelhändler. Es war ein Verkauf aus Protest gegen die wahren Verantwortlichen für den Anstieg der Preise: die Spekulanten, die Großhändler, die großen Firmen, die DC-Regierung.“ 287 Flugblatt vom Comitato di quartiere und Lotta Continua vom 28.4.1976, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Für den Kampf gegen die Teuerung ist eine größere Einheit notwendig. Deshalb laden wir die Gewerbetreibenden und Einzelhändler des Stadtteils, die ebenfalls von der Spekulation betroffen sind, zu einem Treffen am Donnerstag, den 29. um 14 Uhr im Stadtteilkomitee ein.“

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Logik des Protest spielten räumliche Aspekte eine zentrale Rolle: Da die öffentliche Verkehrsanbindung der Magliana sehr schlecht war, machten die Bewohner ihre Einkäufe fast ausschließlich im eigenen Stadtteil. Durch diese direkte Beziehung zwischen Konsumenten und Händlern war jene Anonymität moderner Marktverhältnisse partiell ausgehebelt, die in modernen Industriegesellschaften die Vorstellungen einer ‚moralischen Ökonomie‘ überlagern.288 In der Magliana war der Markt ein Ort, an dem sich die Bevölkerung relativ leicht organisieren konnte. Es bestand ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, das es dem Stadtteilkomitee nach der Durchführung einiger mercati rossi in der Magliana ermöglichte eine Versammlung einzuberufen, auf der sich die Hälfte der Händler der Magliana einfand, um mit den Basisaktivisten über das zu diskutieren, was man mit Thompson „vernünftige Preise“289 nennen könnte.290 Ziel war es, durch die Drohung mit einer kontinuierlichen Umgehung der Händler im Viertel durch den selbstorganisierten Direktverkauf von Lebensmitteln im Rahmen der mercati rossi, diese dazu zu zwingen, bei ihrer Preisgestaltung zwischen „‚ökonomischem‘ Preis“ und „‚moralischem‘ Preis“ zu vermitteln.291 In dieser relativ kompromissorientierten Austragung des Konflikts zwischen Konsumenten und Händlern in der Magliana spiegelte sich jener quartierismo292 wider, der wesentlich für die Handlungslogik des Stadtteilkomitees und der anderen Basisinitiativen der Magliana war: Das eigene Viertel wurde als „quartiere organico“293 imaginiert, mit einer relativ homogenen proletarischen und kämpferischen Bevölkerung, die sich zur Durchsetzung ihrer Bedürfnisse in Basisinitiativen organisiert. Da auch die kleinen Händler der Magliana Bewohner des Stadtteils waren, hätte diese frontal zu attackieren bedeutet, die scheinbar homogene subalterne Identität des Viertels durch eine neue Konfliktlinie zu durchkreuzen und so die (angestrebte bzw. imaginierte) Einheit des quartiere popolare294 im Kampf gegen die von außen wirksamen Kräfte der Spekulation zu beschädigen. So wurden die mercati rossi denn auch eher als Versuch entworfen, die Ökonomie des Stadtteils gemeinsam von den Auswüchsen der Profitlogik zu befreien.295 Das vom Stadtteilkomitee hinsichtlich der Händler angestrebte Ideal war dem nicht unähnlich, was die englischen Armen des 18. Jahrhunderts von den Müllern und Bäckern gefordert hatten – dass sie nämlich, wie es Thompson zusammenfasste, „[…] als Diener der Gemeinschaft (handelten), die nicht für Gewinn, sondern für ein faires Entgelt arbeiteten.“296

288 Vgl. Thompson (1980a), S. 128ff. Zu den Übertragungsproblemen des Konzepts der ‚moral economy‘ vgl. Gailus/Lindenberger (1994). 289 Thompson (1980a), S. 128. 290 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 108. 291 Vgl. Thompson (1980a), S. 117f. 292 Quartierismo bezeichnet den ausgeprägten Bezug der Bewohner zu ihrem Stadtteil. Vgl. De Mucci (1985), S. 53ff; Grispigni (1990b), S. 5f. 293 Grispigni (1990b), S. 6. „Organischer Stadtteil“. 294 ‚Quartiere popolare‘ bezeichnet ein einfaches Stadtviertel mit subalterner Bevölkerung. 295 Vgl. De Mucci (1985), S. 55. 296 Thompson (1980a), S. 74.

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3.2.1.5 Feste Neben den in den letzten Abschnitten eingehend untersuchten direkten Aktionsformen, die sich vor allem um die Aneignung von Räumen, Dienstleistungen und Gütern unterhalb ihres Marktpreises drehten, spielten im Repertoire des Stadtteilkomitees der Magliana auch völlig andere politische Praktiken eine wichtige Rolle, die weniger auf äußere Umstände als auf das Innere der Bewegung gerichtet waren. Gemeint sind Kulturveranstaltungen und Feste, die insofern als direkte Aktionen kategorisiert werden können, als sie in der Umsetzung direkt ihren (Selbst)zweck erreichten und gewöhnlich nicht auf Formen der Mediation angewiesen waren. Das kulturelle Leben in dem gesichtslosen Neubauviertel war geprägt von zahlreichen gegenkulturellen Events, auf die im Folgenden nur exemplarisch eingegangen werden soll: Am 4. März 1972 beispielsweise fand am Nachmittag ein vom Stadtteilkomitee organisiertes Kindertheater auf der Piazza Vico Pisano der Magliana vor zahlreichen kleinen Zuschauern statt. Tags darauf stand dann Dario Fos Mailänder Schauspieltruppe La Comune vor hunderten Zuschauern mit Fos Stück „Morte accidentale di un anarchico“ auf der Bühne, das den Tod des Anarchisten Pinelli thematisierte, der im Zuge der Ermittlungen nach dem faschistischen Bombenanschlag auf der Piazza Fontana vom 12.12.1969 aus dem Fenster des Mailänder Polizeipräsidiums in den Tod gestürzt war. Zur musikalischen Abrundung des Programms trug il Canzoniere della Magliana bei – eine Musikgruppe junger Bewohner des Stadtteils, die politische Kampflieder zum Besten gab.297 Am 22. Juni 1974 spielte dann eine zwanzigköpfige französische Pop-Formation auf der Piazza der Magliana. Das Gratiskonzert, dem eine öffentliche Filmvorführung vorausging, stand unter dem Titel „Musica contro Fanfani“298 und richtete sich gegen den christdemokratischen Hardliner, der zu diesem Zeitpunkt mit seinem Versuch, durch ein Referendum das Scheidungsrecht abzuschaffen, zum zentralen Feindbild der italienischen Linken geworden war.299 Am 12. Juli 1975 – kurz nach dem epochalen Erfolg der Linksparteien auf kommunaler, regionaler und provinzieller Ebene bei den Wahlen vom 15.6.1975 – fand in der Magliana ein unter Beteiligung des Stadtteilkomitees organisierter Konzertabend auf der Piazza statt. Diesmal bewarb das Stadtteilkomitee die Veranstaltung ironisch als Fest für die Wahlverlierer der DC: „Sei invitato il 12 luglio alla Magliana a festeggiare il grande successo elettorale dei Premiati Angeli Costruttori – Muu, Pala e Santini […] Li abbiamo già festeggiati con l’autoriduzione degli affitti, con l’occupazione dei terreni tolti alla speculazione, con l’organizzazione autonoma di massa, con l’occupazione delle case. E continueremo a festeggiarli finché non

297 Vgl. Spada (1976), S. 33; Comitato di quartiere (1977). S. 55. Für einen akkustischen Eindruck vgl. Schallplatte des Canzoniere della Magliana di Roma (1978): Cantiamo la lotta, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 298 „Musik gegen Fanfani“. 299 Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 19.6.1974, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168.

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scompariranno completamente dal nostro orizzonte.“300 Bei diesen Gelegenheiten scheint die gesamte Linke der Magliana zusammen gefeiert zu haben, was angesichts zahlreicher Konflikte nicht selbstverständlich war: Im Verlauf des Festes hielten nicht nur Repräsentanten der Linksparteien Reden zum jüngsten Wahlerfolg, sondern es erklärte zum Beispiel auch ein Anwalt des Soccorso Rosso301, warum die jüngsten Erhöhungen der Telefontarife in den Augen der Organisation illegal waren, und forderte die Bewohner der Magliana auf, auch in diesem Bereich autoriduzione zu betreiben.302 Große langfristig geplante Feste wie die oben genannten bildeten sicherlich die Höhepunkte der linken Gegenkultur in der Magliana. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass diese Events in eine Textur kultureller Alltagspraktiken eingewoben waren, die jedoch – weil wenig spektakulär – kaum Niederschlag in den Quellen finden. Der festliche Charakter der frühen picchetti, das Zusammensein bei Wein und Kuchen nach der Besetzung der Räume des Stadtteilkomitees oder die Existenz einer linken Musikformation wie des Canzoniere della Magliana sind Hinweise darauf, dass sich im Rahmen der Auseinandersetzungen ‚Politik‘ und ‚Vergnügen‘ häufig auf das Engste verbanden, ja dass dem umfassenden Politikbegriff vieler Basisaktivisten entsprechend Momente des kollektiven Vergnügens zum integralen Bestandteil des politischen Kampfes erhoben wurden: Ein anderes Leben sollte nicht nur eingefordert, sondern soweit möglich im Hier und Jetzt praktiziert werden. Die kulturellen Veranstaltungen des Stadtteilkomitees hatten dabei durch ihre politische Ausrichtung eine gegenkulturelle Stoßrichtung, dürfen aber nicht als jugendkulturelle Ereignisse missverstanden werden: Protagonisten der obengenannten Kulturevents scheinen immer vor allem Angehörige jener Generationenkohorte gewesen zu sein, die bei den Aktivitäten des Stadtteilkomitees die zentrale Rolle spielten: Es waren junge Eltern zwischen Anfang 20 und Mitte 40, die sich zwar als Träger einer politischen Gegenkultur fassen lassen, nicht aber einer subkulturellen Identität.303 Veranstaltungen dieser Art in logozentrischer Manier nach ihrem Zweck zu befragen, erscheint unangebracht: Offensichtlich standen soziale, kommunikative, festliche und spielerische Aspekte im Vordergrund und somit kann der ‚Zweck‘ solcher Events nicht vom konkreten Handlungsvollzug getrennt werden. Damit kommen die

300 Flugblatt des Comitato di quartiere, zitiert nach Spada (1976), S. 64. „Du bist herzlich eingeladen am 12. Juli in der Magliana den großen Wahlerfolg der prämierten Bauengel Muu, Pala und Santini zu feiern. […] Wir haben sie schon mit der autoriduzione der Mieten gefeiert, mit der Besetzung der Flächen, die wir der Spekulation entzogen, mit der autonomen Massenorganisation, mit der Besetzung der Häuser. Und wir werden sie solange weiter feiern, bis sie ganz aus unserem Blickfeld verschwunden sind.“ 301 Der Soccorso Rosso war eine linke Rechtshilfe- und Gefangenenhilfsorganisation. 302 Vgl. Spada (1976), S. 64. 303 Diese Tatsache schlägt sich auch in der eher sachlich-schlichten Ästhetik der Druckerzeugnisse des Stadtteilkomitees nieder, die mit dem italienischen Underground der 1970er Jahre auf formaler Ebene nichts gemeinsam hat – politisch aber sehr wohl Berührungspunkte aufweist. Als publizistisches Flaggschiff des italienischen Underground der 1970er gilt gemeinhin die Mailänder Zeitschrift Re Nudo, vgl. Attilio Mangano (1998): Le riviste degli anni settanta. Pistoia, S. 248.

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festlichen Momente des Zusammenseins dem recht nahe, was Bourdieu als Ritual definiert: Eine „[…] performative Praxis, die dem was sie tut oder sagt, zum Sein verhelfen will […]“ und somit „[…] allzuoft bloß eine praktische Mimesis des natürlichen Prozesses (ist, M.H.), der gefördert werden soll.“304 Versuchte man ihren ‚Zweck‘ dennoch instrumentalistisch auf den Punkt zu bringen, so könnte man sagen, dass sie ihren Teilnehmern Vergnügen bereiten, den Zusammenhalt der am Kampf Beteiligten stärken, ihre politische Identität vertiefen und auf die restlichen Bewohner des Stadtteils ausstrahlen sollten. Eine solche Interpretation droht aber die ‚praktische Logik‘ der Beteiligten durch die ‚logische Logik‘ des Wissenschaftlers zu ersetzen, dürfte für die Aktivisten doch meist die schlichte Lust am Feiern wichtiger gewesen sein als derlei strategische Überlegungen.305

3.2.1.6 Bildungsinitiativen Neben dem politischen Kampf sorgten nicht nur unregelmäßig wiederkehrende Momente des festlichen Zusammenseins für Zusammenhalt unter den Aktivisten und dem Umfeld des Stadtteilkomitees. Aktivisten des Stadtteilkomitees begannen eine ‚scuola popolare‘306 in der Magliana ins Leben zu rufen, die Arbeitern und Hausfrauen die Möglichkeit geben sollte, ihren Mittelschulabschluss, die sogenannte ‚terza media‘ nachzuholen. Im Juli 1973 bestanden alle Teilnehmer des kleinen ersten Jahrgangs den Abschluss. Die hundertprozentige Erfolgsquote wirkte offensichtlich motivierend auf zahlreiche Zögernde und so kam es, dass sich die Teilnehmerzahl im nächsten Schuljahr vervielfachte.307 Dabei versuchten die Initiatoren die Lerninhalte auf die Arbeitswelt und ihre Konflikte auszurichten.308 Das Stadtteilkomitee war nicht allein bei dem Versuch, Bildungsstand und politisches Bewusstsein der Bevölkerung der Magliana zu heben: Das vom linkskatholischen Priester Don Gerardo Lutte ins Leben gerufene Centro di cultura proletaria in der Via Vaiano 3 bot schon seit 1971 eine Abendschule an, die ebenfalls zum Erwerb des Mittelschulabschlusses qualifizieren sollte. Außerdem bot das Zentrum auch Sprachkurse für Englisch und Französisch und ein Freizeitangebot für Kinder an. Ziel war auch hier nicht einfach nur die Weiterqualifizierung interessierter Bürger aus der Magliana: „Il centro di cultura proletaria è uno strumento della classe operaia. Nel centro non si studia soltanto

304 Pierre Bourdieu (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M., S. 168. 305 Bourdieu bezeichnet diese Tendenz als ‚Theoretisierungseffekt‘ (Bourdieu (1987), S. 157): „Die Überbetonung der Logik im Standpunkt des Objektivisten verleitet dazu, außer Acht zu lassen, dass die wissenschaftliche Konstruktion die Prinzipien der praktischen Logik nur erfassen kann, indem sie diese ihrem Charakter nach verändert […].“ (Bourdieu (1987), S, 164). 306 Wörtlich ‚Volksschule‘, tatsächlich aber handelte es sich um ein Projekt der selbstorganisierten Erwachsenenbildung. 307 Vgl. Spada (1976), S. 41 und S. 49f.; Comitato di quartiere (1977), S. 85. 308 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 85.

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per conquistare un titolo di studio ma sopratutto per prepararsi meglio per combattere il potere borghese e per costruire assieme una società più giusta.“309 Die Besucherzahl der Abendkurse des Stadtteilkomitees und des Centro di cultura proletaria wuchsen bald stark an und im Herbst 1973 schrieben sich fast 100 Bewohner des Stadtteils in die Kurse der beiden Basisinitiativen ein, die zum Erwerb der ‚terza media‘ qualifizieren sollten. Im Juli 1974 lagen dann die Resultate vor: Alle Teilnehmer hatten die Prüfungen bestanden.310 In den folgenden Jahren war die scuola popolare des Stadtteilkomitees der Magliana dann am Aufbau einer Koordination derartiger Projekte in ganz Rom beteiligt, die zum Ziel hatte, allen Menschen adäquaten Zugang zu Bildung zu ermöglichen.311 Diese Koordination integrierte ihre Initiativen bald darauf in das 150-Stunden-Programm312 der Metallarbeitergewerkschaften und versuchte das von Gewerkschaftsseite durchgesetzte 150-Stunden-Programm auf Hausfrauen, Arbeitslose und Marginalisierte auszuweiten, deren Teilnahme eigentlich nicht vorgesehen war. Ziel war es also, die gewerkschaftliche Bildungsarbeit mit den autonomen ‚scuole popolari‘, die durch Basisinitiativen in den einzelnen Stadtteilen entstanden waren, zu verknüpfen. Im Zuge dieses Projekts kam es zu Konflikten mit den zuständigen Gremien der Gewerkschaften über die Zielgruppe des 150Stunden-Programms, das unterrichtende Personal und die Lerninhalte. In der Magliana scheint die Integration der autonomen Erwachsenenbildungsinitiativen in den Rahmen des gewerkschaftlichen 150-Stunden-Programms und die Öffnung des letzteren für neue Personengruppen wie Hausfrauen und Arbeitslose und neue kritische Inhalte phasenweise gut gelungen zu sein.313 Die beiden wichtigsten linken Basisinitiativen in der Magliana, das Comitato di quartiere und das Centro di cultura proletaria, boten zudem eine ganze Reihe von Freizeitangeboten für Kinder an: Das Centro di cultura proletaria organisierte eine Nachmittagsbetreuung für Kinder der Grund- und Mittelschule, ein Kinoforum und einen Treffpunkt für Auszubildende und Jugendliche.314 Auch im Stadtteilkomitee bildete sich eine Gruppe, die Freizeitaktivitäten für Kinder organisierte. In diese Aktivitäten wurden bald auch behinderte Kinder integriert: „[…] [A]vevamo creato anche un gruppo di intervento sui bambini al Comitato, si facevano delle gite, delle

309 Flugblatt des Centro di cultura proletaria vom 6.10.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Das Centro di cultura proletaria ist ein Instrument der Arbeiterklasse. Im Zentrum lernt man nicht nur, um einen Abschluss zu erreichen, sondern vor allem, um besser gewappnet zu sein für den Kampf gegen die bürgerliche Macht und um gemeinsam eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen.“ 310 Vgl. Spada (1976), S. 57f. 311 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 85; vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977). S. 158-195, hier: S. 182. 312 Im Tarifvertrag der Metallarbeiter von 1973 wurde verankert, dass diese zukünftig das Recht auf jährlich 150 Stunden bezahlten Bildungsurlaub hatten, um an gewerkschaftlichen Bildungsprogrammen teilzunehmen. Die Regelung wurde in den folgenden Jahren auf viele andere Branchen ausgeweitet. 313 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 183f.; Spada (1976), S. 57ff. 314 Vgl. Flugblatt des Centro di cultura proletaria vom 6.10.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168.

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attività e quelli dell’ENAIP erano venuti da noi chiedendo se potevano inserire dei ragazzi handicappati in questi gruppi. A me il problema era abbastanza nuovo ma mi interessava moltissimo e abbiamo fatto qualcosa con lo ENAIP e con questo gruppo di ragazzini.“315 Auch hinsichtlich der Schulen in der Magliana blieb das Stadtteilkomitee nicht passiv: Es entwickelten sich langwierige Auseinandersetzungen zwischen PCI, PSI, Stadtteilkomitee und Comitato di lotta per la casa über die Aufstellung einer gemeinsamen Liste für die Wahlen zum Schulbeirat sowohl für die Grund- als auch für die Mittelschule in der Magliana. Letztlich scheint die Rückständigkeit des Bildungssektors die Zusammenarbeit aller linken Kräfte vereinfacht zu haben: „[…] (G)eneralmente ci trovavamo abbastanza d’accordo anche con il PCI sulla piattaforma, perché il mondo della scuola sta così indietro! […] (C)on la didattica si stava così a terra che si è andati abbastanza d’accordo.“316 Allerdings gab es im Stadtteilkomitee auch Stimmen, die dem PCI ein instrumentelles Verhältnis in Sachen Zusammenarbeit unterstellten, da der PCI alleine eine Niederlage bei den Wahlen zum Schulbeirat riskiert hätte.317 Ziel der erfolgreichen linken Liste war eine grundsätzliche Demokratisierung der Schule und ihre Öffnung für die Eltern, die beispielsweise in die Diskussion über die Curricula einbezogen werden sollten.318 Aber neben diesen angestrebten grundsätzlichen Veränderungen ging es auch um kurzfristige konkrete Verbesserungen: So wurden nach Demonstrationen von Schülern, Eltern und Lehrern in der Magliana und vor dem Sitz der Stadtverwaltung sowie unzähligen Interventionen des Schulbeirats bei der Kommune endlich zehn mobile Klassenräume bereitgestellt. Durch die mobilen Klassenräume wurde es möglich, die Klassenstärke von 30 auf 22 Schüler zu reduzieren. Zusätzlich organisierten engagierte Eltern in Zusammenarbeit mit dem Schulbeirat integrative Aktivitäten für die Kinder der ersten Klassen, die aufgrund des Fehlens einer Vorschule in der Magliana reihenweise durchfielen: Es wurde gemeinsam gebastelt, getöpfert und es wurden zusammen Filme angesehen, analysiert und auch selbst gedreht.319 Allerdings blieb die Schularbeit für die Mehrheit im Stadtteilkomitee immer ein Nebenschauplatz und so fiel das Resümee von Agata Lombardi, die als Repräsentantin des Stadtteilkomitees in den Beirat der

315 Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 184. „[…] (W)ir haben im Komitee auch eine Arbeitsgruppe zum Thema Kinder gegründet. Man machte Ausflüge, Aktivitäten und die von der ENAIP waren zu uns gekommen und fragten, ob wir behinderte Kinder in diese Gruppen aufnehmen könnten. Für mich war dieses Problem ziemlich neu, aber es interessierte mich sehr und wir haben etwas gemeinsam mit der ENAIP und diesen Kindern organisiert.“ 316 Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 187. „[…] [G]rundsätzlich stimmten wir hinsichtlich der Plattform weitgehend mit dem PCI überein, denn die Welt der Schule ist so weit hinterher! […] [I]n Sachen Didaktik war man so am Boden, dass wir weitgehend übereinstimmten.“ 317 Vgl. Spada (1976), S. 62. 318 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 189. 319 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 190f.

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Grundschule der Magliana gewählt worden war, kritisch aus: „[C]’è stato un distacco completo tra scuola e Comitato di quartiere. Molto grave secondo me, perché io pensavo di poter avere delle indicazioni dal Comitato di quartiere. Poi ho capito che era un po’ assurdo pretenderlo perché queste esperienze le avevo avute soltanto io e qualcuno del gruppo-scuola, gli altri no.“320

Abb. 1.8 Demonstration in der Via Pescaglia in den 1970er Jahren für eine bessere schulische Versorgung der Magliana. Aufschriften der Schilder von links: „Subito l’esproprio delle aree per le scuole della Magliana“; „Sofortige Enteignung der Freiflächen für Schulen in der Magliana“; „Ci dite che la scuola è un diritto. Poi ci costringete ad andare alle scuole private a pagamento.“; „Ihr sagt, dass die Schule ein Recht ist, dann zwingt ihr uns auf Privatschulen zu gehen und Gebühren zu zahlen“; „Il 50% dei nostri figli va a scuola fuori quartiere perché mancano le scuole“; „Mehr als 50% unserer Kinder gehen außerhalb des Viertels zur Schule, weil die Schulen fehlen“; „Non più bombe ne mortai solo scuole per gli operai“; „Keine Bomben oder Mörser, sondern Schulen für die Arbeiter“.

320 Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 189. „[E]s gab eine völlige Ablösung zwischen dem Thema Schule und dem Stadtteilkomitee. Aus meiner Sicht war das sehr schlimm, denn ich dachte, dass ich Anweisungen des Stadtteilkomitees erhalten könnte. Dann habe ich verstanden, dass es ein wenig absurd war, solche zu erwarten, denn nur ich und einige andere aus der Schularbeitsgruppe hatten diese Erfahrungen gemacht, die anderen nicht.“

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Nichtsdestoweniger scheinen sich die Interventionen der linken Basisinitiativen im Stadtteil durchaus positiv auf den Schulalltag ausgewirkt zu haben. Dabei gingen pädagogische Reformbemühungen und politische Sensibilisierung oft Hand in Hand: Schülerzeitungen aus den Schulen der Magliana machen deutlich, wie weit verbreitet das Bewusstsein über die Probleme des eigenen Stadtteils und die grundlegende soziale Ungerechtigkeit schon bei den Grundschülern war. Dabei waren genau jene Druckerzeugnisse, in denen sich dieses politische Bewusstsein der Kinder in der Magliana manifestierte, selbst Ausdruck einer progressiven Pädagogik, im Zuge derer Frontalunterricht zumindest partiell durch Formen der Projektarbeit ersetzt wurde: Die Schüler der Grundschule ‚Luigi Pirandello‘ machten Interviews zu einem Stadtteillauf für mehr Grünflächen in der Magliana,321 die jungen Autoren einer anderen Schülerzeitung berichteten über die Hepatitisepidemie im Stadtteil und die mangelnde Kanalisation322 und die Kinder aus der Nachmittagsbetreuung des Centro di cultura proletaria verglichen in ihrer Zeitschrift Magliana Rossa323 nach einer Exkursion und eingehender Recherche den Stadtteil EUR mit dem eigenen Viertel und machten deutlich, dass die beiden Stadtteile nicht nur durch den Tiber getrennt waren, sondern Welten zwischen den Lebensbedingungen ihrer Bewohner lagen.324

3.2.2 Die indirekten Aktionsformen des Stadtteilkomitees Von den direkten Aktionsformen können indirekte unterschieden werden, die dadurch charakterisiert sind, dass sie ihr Ziel über eine Form institutioneller Mediation zu erreichen versuchen. Aufgrund der strukturellen Schwäche des Stadtteilkomitees der Magliana hinsichtlich seiner institutionellen Verhandlungsmacht kam der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung häufig eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum ging, Einfluss auf mächtige Akteure auszuüben oder Formen administrativer Intervention zu erreichen. Letztlich liegt aber all diesen Protestformen die Idee zugrunde, dass politische oder juristische Entscheidungen nicht unabhängig von der öffentlichen Meinung fallen und somit die Beeinflussung letzterer die eigene Bewegung stärkt.

321 Vgl. Schülerzeitung der Grundschule ‚Luigi Pirandello‘ in der Via Cutigliano 82 vom 12.03.1977, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 322 Vgl. Schülerzeitung Ricciolino (o.J.), S. 13f., in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 323 ‚Rote Magliana‘. 324 Vgl. Magliana Rossa. Giornale del Centro di cultura proletaria vom August 1972, in: MC, Fondo Grispigni, Nr. 3.

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3.2.2.1 Dialog und Konflikt mit der Stadtverwaltung Das Stadtteilkomitee der Magliana versuchte immer wieder, die Mitverantwortung der städtischen Institutionen für die Situation im Viertel deutlich zu machen und die Kommune für eine Mediation zwischen autoriduttori und Besitzern zu gewinnen, die zu Verhandlungen über die Höhe der Mieten führen und zugleich den Weg für eine umfassende Sanierung des Viertels frei machen sollte. Ein wesentliches Mittel, um Druck auf die Stadtverwaltung aufzubauen, waren Demonstrationen zu den jeweils verantwortlichen Institutionen und (Massen-)Delegationen, die die Forderungen des Stadtteilkomitees den Verantwortlichen nahe brachten. Am 30. Oktober 1971 organisierte das Stadtteilkomitee eine Demonstration zum Sitz der römischen Kommunalverwaltung auf dem Campidoglio. Die Teilnehmer brachen mit Bussen und Privatautos aus der Magliana auf und wurden vor Ort von Polizei- und Carabinieri-Einheiten daran gehindert, in das Rathaus einzudringen. Nach einiger Zeit der kämpferischen Präsenz auf dem Platz wurde schließlich doch eine Delegation der Demonstranten von Vizebürgermeister Merolli empfangen und erhielt Gelegenheit, diesem die Situation in der Magliana zu schildern und die Forderungen des Stadtteilkomitees vorzubringen. Diese zielten in erster Linie auf einen sofortigen Räumungsstopp für die autoriduttori der Magliana und eine Sanierung des Stadtteils. Zudem wurde ein genereller Baustopp im Viertel gefordert, um noch bestehende Baulücken für Grünflächen und soziale Infrastruktur freizuhalten. Merolli erklärte, ihm sei die Situation in der Magliana bisher unbekannt gewesen, woraufhin die Delegierten des Stadtteilkomitees ihn dazu einluden, in die Magliana zu kommen und sich selbst ein Bild von der Situation zu machen.325 Im November 1971 beendete die Kommune ihre Strategie des Wegsehens: Der christdemokratische Vizebürgermeister Merolli stattete der Magliana nach wiederholter Einladung am 12. November 1971 einen Besuch ab und wurde von den Mitgliedern des Stadtteilkomitees durch Straßen geführt, in denen nach einer Überflutung infolge starken Regens der Schlamm zwanzig Zentimeter hoch stand. Anschließend wurde der Rundgang durch das Viertel für zehn Minuten unterbrochen – direkt vor einer der offenen Abwasserleitungen, wo der Gestank kaum zu ertragen war. Zum Abschluss wurde Merolli in das besetzte Lokal des Stadtteilkomitees gebracht, wo er vor Hunderten von Bewohnern versprach, sich für deren Anliegen einzusetzen. Die vagen Versprechungen des Christdemokraten wurden vom Stadtteilkomitee nicht als Erfolg gewertet, wohl aber die Präsenz des Vizebürgermeisters im Viertel und vor allem im Sitz des Komitees: Nicht guter Wille, sondern der durch die Betroffenen aufgebaute politische Druck hatte Merolli zu diesem Besuch gezwungen und die Tatsache, dass er im Sitz des Komitees und nicht vor der Kirche, auf der Piazza oder in den Räumen der DC-Sektion sein Abschlussstatement abgeben musste, verwies darauf, dass das Komitee zunehmend als repräsentative politische Kraft im Stadtteil anerkannt wurde.326 Die Forderungspalette, mit der der Vizebürgermeister und die Kommune im Zuge der Gespräche vom November 1971 konfrontiert wurden, war im

325 Vgl. Spada (1976), S. 28f. 326 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 50f.

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Wesentlichen die Gleiche wie jene, die Ende Oktober 1971 vorgestellt worden war: Räumungsstopp, Baustopp, Mietreduktion und Sanierung des Stadtteils. 327 Mitte Februar 1972 gelang es dem Stadtteilkomitee, den Präfekten Ranalli mit einer kämpferischen Demonstration dazu zu bewegen, sich für Verhandlungen zwischen dem Komitee und den Besitzern über eine Mietreduktion einzusetzen, die aber aufgrund der starren Haltung der Besitzer nicht zustande kommen sollten.328 In Zukunft versuchte das Stadtteilkomitee immer wieder, durch Demonstrationen und Delegationen die Kommune dazu zu bewegen, auf Seiten der autoriduttori in den Konflikt einzugreifen und die Besitzer zu Verhandlungen über eine Mietreduktion und die Sanierung des Viertels zu zwingen.329 Die Auftritte des Stadteilkomitees im Zentrum Roms waren geprägt von der großen Präsenz von Frauen und Kindern, was den Forderungen des Komitees zusätzlichen Nachdruck verlieh.330

Abb. 1.9 Demonstration des Stadtteilkomitees der Magliana zur Stadtverwaltung auf dem Kapitolshügel. Transparentaufschrift im Vordergrund: „Stadtteilkomitee der Magliana“. Die Transparentaufschrift im Hintergrund lautet wohl: „Autoriduzione dei Fitti“. „Autoriduzione der Mieten“.

327 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 51f. 328 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 53f. 329 So z.B. im Juli 1972, vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 71 oder im Oktober 1973, vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 86. 330 Für einen Eindruck von einer solchen Demonstration vgl. Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 05:20-07:05, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa.

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Die Kommune jedoch bewahrte stets ihre Position der scheinbaren Neutralität, die vom Comitato di quartiere als Parteinahme für die Spekulanten gewertet wurde: „La posizione del Comune non è una fuga di responsabilità, ma è un’aperta complicità con gli abusi commessi dagli speculatori.“331 Aber der Druck auf die Besitzer wuchs: Neben dem Ausfall von jährlich etwa 500 Millionen Lire an Mieteinnahmen kam vor allem der vorgesehene Verkauf der Wohnblocks an öffentliche Wohnungsgesellschaften ins Stocken, da diese Träger keine Gebäude kauften, in denen massenhaft autoriduzione betrieben wurde. Durch die Unmöglichkeit des Verkaufs aber gerieten die Immobiliengesellschaften in eine finanzielle Klemme, da die Banca Nazionale del Lavoro, die die Bauvorhaben in der Magliana größtenteils finanziert hatte, auf eine fristgerechte Bedienung ihrer Kredite drängte und ansonsten mit Zwangsenteignung und Verkauf drohte. Die Nervosität der Verantwortlichen bei der Banca Nazionale del Lavoro steigerte sich noch durch die Gefahr, dass die Bauten der Magliana potentiell für illegal erklärt werden konnten und somit ein nachhaltiger Wertverlust unausweichlich wäre.332 Vor diesem Hintergrund signalisierten die inzwischen zu einem Konsortium zusammengefassten Bauträger im März 1973 gegenüber der Stadtverwaltung ihre Bereitschaft zu Verhandlungen mit den Mietern.333 Das Stadtteilkomitee formulierte daraufhin seine Forderungen für Verhandlungen in einem Flugblatt: Als Ausgangsbedingung wurde zunächst ein Räumungsstopp und das Rückkehrrecht aller geräumten Familien verlangt. Darüber hinaus forderte das Stadtteilkomitee den Verzicht der Immobiliengesellschaften auf alle Rückstände, die sich aus der autoriduzione ergeben hatten, die Annullierung aller bisherigen juristischen Schritte von Vermieterseite, einen totalen Baustopp auf allen noch vorhandenen Freiflächen, um Räume für zukünftige Dienstleistungen und Infrastruktur zu erhalten, und die grundlegende Sanierung des Viertels. Angesichts dieser klaren und umfassenden Forderungspalette wirkt es erstaunlich, dass sich die autoriduttori gerade hinsichtlich des zentralen Gegenstands ihrer Mobilisierung merkwürdig zurückhaltend gaben: Sie forderten eine Miethöhe, die nicht marktförmig bestimmt sein sollte, sondern die geringe Qualität der Bausubstanz, den Mangel an grundlegenden Dienstleistungen und die niedrigen Löhne der Bevölkerung der Magliana berücksichtigen müsse – was genau das heißen sollte, blieb allerdings offen.334 Unter diesen Voraussetzungen kam es am 12.4.1973 zu einem ersten Treffen im Amtsgericht, an dem einerseits drei Delegierte des Stadtteilkomitees der Magliana und der PCI-Stadtrat Aldo Tozzetti für die SUNIA (Sindacato Unitario Nazionale Inquilini ed Assegnatari)335 teilnahmen und andererseits die Vertreter des Besitzerkonsortiums. Nach einigen Treffen präsentierte das Besitzerkonsortium schließlich

331 Comitato di quartiere (1977). S. 52. „Die Position der Stadtverwaltung ist keine Flucht aus der Verantwortung, sondern eine offene Parteinahme für die Gesetzesverstöße der Spekulanten.“ 332 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 80. 333 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 81f. 334 Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 25.03.1973, CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 335 Der Ende 1972 gegründete SUNIA war die Nachfolgeorganisation der UNIA, vgl. Tozzetti (1989), S. 249f.

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einen eigenen Vorschlag: Es sollte ein Sanierungsfonds für den Stadtteil eingerichtet werden und die Wohnungen zu einem günstigen Preis an die Mieter verkauft werden. Das Stadtteilkomitee berief daraufhin Versammlungen der autoriduttori in den jeweiligen Immobiliengesellschaften ein und stellte den Vorschlag zur Debatte: Doch die scheinbar verlockende Perspektive, zu relativ geringem Preis selbst Besitzer einer Wohnung zu werden, verfing bei den autoriduttori kaum, sondern wurde von der großen Mehrheit als Versuch der Besitzer interpretiert, die hohen Sanierungskosten für den Stadtteil insgesamt und die ebenfalls hohen Instandhaltungskosten für die schlechte Bausubstanz der Magliana auf die Schultern der Mieter abzuwälzen. Die autoriduttori kamen überein, dass ein Kauf der Wohnungen nur dann im Sinne der Mieter sei, wenn sich die monatlichen Zahlungen unter 20.000 Lire pro Monat bewegten – also weniger als die Hälfte der eigentlichen Monatsmieten ausmachten. Da das Besitzerkonsortium dieser Forderung nicht nachkam, wies das Stadtteilkomitee das Angebot der Besitzer mit dem Hinweis ab, es gehe nicht um den Besitz von Wohnraum, sondern um eine angemessene Miete.336 Während sich die Aufmerksamkeit der meisten autoriduttori noch auf die Verhandlungen mit den Besitzern richtete, kam es am 15. Mai 1973 zu einer größeren polizeilichen Räumungsaktion von autoriduttori-Familien in der Magliana. Das Stadtteilkomitee bewertete dieses Vorgehen während der noch laufenden Verhandlungen als ‚große Provokation der Bosse‘. Bestätigt sahen sich die autoriduttori in ihrer Meinung, als beim nächsten Verhandlungstermin am 21. Mai 1973 die Vermieterseite einfach nicht mehr auftauchte und die Verhandlungen somit abbrach.337 Ende Mai 1974 luden das Comitato di quartiere und die lokale PSI-Sektion zu einer öffentlichen Debatte über die mangelnde Gesundheitsversorgung in der Magliana ein, bei der unter anderem die Nichtexistenz einer Notaufnahme, einer ärztlichen Ambulanz und einer Nachtapotheke beklagt wurden. Anschließend wurde ein Projekt zum Aufbau einer lokalen Gesundheitsstruktur vorgestellt, das von Ärzten und Krankenpflegern aus der Magliana auf Basis einer Umfrage unter der Bevölkerung des Stadtteils entwickelt worden war. Das Projekt sah bei geringen Kosten den Aufbau einer lokalen Gesundheitsstruktur vor, welche die im Stadtteil bestehenden Bedürfnisse der Prävention, Behandlung und Rehabilitation befriedigen sollte. Doch die Initiative wurde von öffentlicher Seite umgehend mit dem Hinweis blockiert, dass die Erdgeschossräume in der Magliana für den Aufbau eines entsprechenden Gesundheitszentrums ungeeignet seien, da eine Aufschüttung des Viertels vorgesehen sei.338 So erhielt der skandalöse baurechtliche Verstoß der Immobilienfirmen in der Magliana eine weitere Facette: Die römische Kommune verzichtete nicht nur darauf, die Verantwortlichen für die unzumutbaren Lebensbedingungen im Stadtteil zur Rechenschaft zu ziehen, sondern der Verstoß der Bauträger wurde von der Stadtverwaltung auch noch als Vorwand genutzt, den Bewohnern des Stadtteils elementare öffentliche Dienstleistungen vorzuenthalten.

336 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 81f.; Spada (1976), S. 48. 337 Vgl. Spada (1976), S. 48. 338 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 89f.

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Ähnliches wiederholte sich mit neu verteilten Rollen im Herbst 1974, als das Schulproblem in der Magliana unumgänglichen Handlungsbedarf schuf. Angesichts der Existenz von nur einer Grundschule mit einer Zweigstelle in einem irregulären Gebäude und einer Mittelschule für ungefähr 10.000 Kinder zwischen einem und dreizehn Jahren in der Magliana, waren viele Kinder gezwungen zur Schule zu pendeln oder sie gingen gar nicht zur Schule. Schuleschwänzen war in der Magliana weitverbreitet und betraf nicht nur die Mittelschüler, sondern auch schon die Grundschüler. Ähnlich problematisch war die Tatsache, dass es keine Kinderkrippe und keinen Kindergarten im Stadtteil gab. Im September 1974 bot die Stadtverwaltung den Bewohnern der Magliana an, als Notlösung Räume in der Via della Scarperia für die Eröffnung eines Kindergartens zur Verfügung zu stellen.339 Auf einer vom Stadtteilkomitee einberufenen Versammlung am 26.9.1974 wurde einer Annahme des Angebots unter einer Reihe von Bedingungen zugestimmt: Der Kindergarten sollte angesichts der untragbaren hygienischen und baulichen Zustände in den vorgesehenen Gebäuden nur Provisoriumscharakter haben und es sollten regelmäßige Kontrollen des Hygienezustands durchgeführt werden. Innerhalb von sechs Monaten nach der Eröffnung des provisorischen Kindergartes sollte der Bau einer dauerhaften Lösung beginnen. Zudem sollte der seit Jahren unterbrochene Schulneubau in der Via Cutigliano endlich fertiggestellt werden. Außerdem sollte ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht der Eltern die emanzipatorische Ausrichtung der Lerninhalte und Methoden garantieren.340 Einerseits machte die Diskussion des städtischen Angebots auf der autonomen Stadtteilversammlung deutlich, wie wenig die Basisbewegung der Magliana von der Delegierung ihrer Probleme an übergeordnete Stellen hielt und wie wenig sie den Verantwortlichen vertraute: Auch wenn die Stadtverwaltung an der konstruktiven Lösung der Probleme der Magliana arbeitete, behielten sich die Bewohner des Stadtteils das Recht vor, die städtischen Interventionen zu akzeptieren oder abzulehnen. Andererseits zeigte die Tatsache, dass das Stadtteilkomitee das städtische Angebot weitgehend akzeptierte, wie drängend die Notlage in der Magliana war - denn eigentlich widersprach es der politischen Linie der Komitees, sich mit ‚minderwertigen‘ öffentlichen Dienstleistungen abspeisen zu lassen. Die Kooperationsbereitschaft des Stadtteilkomitees ermöglichte allerdings keineswegs eine rasche Lösung des Problems: Die Verwaltung des XV. Stadtbezirks intervenierte gegen die städtische Notlösung und warf dem Stadtteilkomitee Verantwortungslosigkeit vor, da es durch das Akzeptieren des kommunalen Vorschlags unkalkulierbare gesundheitliche Risiken für die Schulkinder im Stadtteil in Kauf nehmen würde.341 Als im Juni 1974 die Stadtverwaltung mit den Bauarbeiten an der kommunalen Kanalisation und an der Verstärkung des Hochwasserschutzes für die Magliana begann, sah das Stadtteilkomitee die Zeit gekommen, anstatt der bisher vorgebrachten Forderung der Sanierung und Mietminderung an die Adresse der Stadtverwaltung und jene der Besitzer nun einen umfassenden Sanierungsplan für den Stadtteil zu erarbeiten.342 Mitte Juni wurde dann auf einer öffentlichen Versammlung in der Magli-

339 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 96f. 340 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 97. 341 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 97f. 342 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 90f.

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ana, zu der neben allen Basisorganisationen auch alle demokratischen Parteien und die Gewerkschaften eingeladen worden waren, ein umfassendes Sanierungskonzept vorgestellt, das in Form eines fünfseitigen Flugblattes der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.343 Nach Meinung des Stadtteilkomitees sollte der Sanierungsplan durch die Verabschiedung eines kommunalen Zonenplans für den sozialen Wohnungsbau umgesetzt werden. Während die Bewohner der Magliana das generelle Ziel des Sanierungsplans begrüßten, die Renovierung des Stadtteils mit Basiskontrolle und Mietminderung zu verbinden, und auch die Sektion Lazio des Istituto Nazionale di Urbanistica (INU) den Sanierungsplan unterstützte, war die Reaktion der politischen Parteien eher ablehnend.344 Der Plan sah folgende zentrale Punkte vor: Alle noch bestehenden Freiflächen in der Magliana sollten für den Aufbau notwendiger sozialer Dienstleistungen und Infrastruktur reserviert werden. Die ausstehenden Sanierungsarbeiten hinsichtlich des gesamten Areals sowie an den einzelnen Wohnblocks sollten durchgeführt werden, wobei ein besonderes Gewicht dem Hochwasserschutz zukam. Das Straßennetz sollte reorganisiert und die Anbindung an das Zentrum Roms sollte verbessert werden. Die Familien, die derzeit in besetzten Wohnungen in der Magliana lebten, sollten diese zu Sozialwohnungstarifen zugewiesen bekommen. Mit dem Gesetz Nr. 865 vom 22.10.1971 stand der Kommune ein Instrument zur Verfügung, eine solche Sanierung des Stadtteils auch mit dem Mittel der Enteignung durchzusetzen. Zur Umsetzung dieser Eckpunkte des Sanierungsplanes hielt das Stadtteilkomitee der Magliana keine allgemeine Enteignung für nötig. Stattdessen sollten den Besitzern Geldstrafen in Höhe des Wertes der illegal errichteten Teile der Magliana auferlegt werden, die dann voll und ganz in die Sanierung des Stadtteils fließen sollten. Das Stadtteilkomitee setzte den Wert der fälligen Strafen mit ungefähr einem Drittel des Gesamtwerts der circa 8.000 Wohnungen der Magliana an, was 20 Milliarden Lire entsprach.345 Im nächsten halben Jahr versuchte das Stadtteilkomitee der Magliana immer wieder, der Stadtverwaltung die Vorzüge dieses Sanierungsplans nahezubringen. Doch wie zu erwarten war, zeigten die Verantwortlichen wenig Interesse: Am 4.3.1975 behauptete die selbst von dem Ermittlungsverfahren hinsichtlich der Bauverstöße in der Magliana betroffene Referentin Maria Muu (DC) vor den Bewohnern der Magliana, die auf dem Campidoglio für die Sanierung ihres Stadtteils demonstrierten, dass es in der Magliana weder Verstöße gegen die Bauvorschriften noch zu bestrafende Spekulanten gebe. Deshalb sehe, so Muu, die Stadtverwaltung nur eine Notwendigkeit, nämlich die Räumung der untersten beiden Stockwerke in der Magliana, um die vorgesehene Aufschüttung durchführen zu können.346 Das Urteil des Stadtteilkomitees war deutlich: „Le proposte della Giunta che, se non venissero da un gruppo che ha dominato la città da decenni, sembrerebbero idiote, in realtà

343 Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 17.06.1974, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 344 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 91f. 345 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 92f.; Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 17.06.1974, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 346 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 103.

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esprimono eloquentemente la volontà dell’amministrazione comunale di servire gli interessi della speculazione.“347 Im Frühherbst 1975 erreichte die Bewohner der Magliana die Nachricht, die Regionalregierung Lazios erwäge, dass das römische Institut für sozialen Wohnungsbau IACP die besetzten Gebäude der Magliana miete, um den schwelenden Konflikt zwischen Besitzern und Besetzern zu beenden. In diesem Kontext überlege die Regionalregierung, die Sozialmieten der Besetzer der Magliana durch 700 Millionen Lire im Jahr aus öffentlichen Mitteln zu ergänzen, um so auf eine marktübliche Mietzahlung zu kommen. Alleine das Gerücht über die Existenz derartiger Pläne löste in der Magliana einen Sturm der Entrüstung aus: Nach Jahren des Protestes und der Forderungen von Seiten der Bewohner der Magliana erwachte die Regionalregierung nun endlich aus ihrer langen Apathie – allerdings nur, um die Interessen der ‚Spekulanten‘ mit öffentlichen Geldern zu wahren. Das Stadtteilkomitee der Magliana ging davon aus, dass die SUNIA hinter dem Vorschlag stand. Am 18.10.1975 gab das Istituto Nazionale di Urbanistica (INU) eine Presseerklärung heraus, in der die Initiative als De-facto-Legitimation der begangenen baurechtlichen Verstöße auf Kosten der Allgemeinheit kritisiert wurde.348 Das Comitato di quartiere und das Comitato di lotta per la casa der Magliana beriefen Versammlungen ein und stellten dort den der SUNIA zugeschriebenen Vorschlag sowie den eigenen Sanierungsplan des Stadtteilkomitees zur Diskussion. Obwohl die Perspektive, zügig einen festen Mietvertrag zu erhalten, sicherlich verlockend war, lehnten die Besetzerversammlungen der Magliana den SUNIA-Vorschlag ab und wählten stattdessen den harten Weg: Weiterführung des Kampfes um gerechte Mieten und gegen Spekulation und Ablehnung der Kofinanzierung der Spekulation durch Gelder der Allgemeinheit. Am 27.10.1975 organisierte das Stadtteilkomitee eine Demonstration der Betroffenen vor der Regionalregierung. Mit zehn Bussen und zahlreiche Privatautos erreichten die Besetzer und ihre Unterstützer ihr Ziel und machten lautstark deutlich, was sie vom Vorschlag der SUNIA hielten. Der Präsident der Regionalregierung Palleschi erklärte daraufhin vor Hunderten Demonstranten, dass die SUNIA den Vorschlag tatsächlich gemacht habe, die Regionalregierung aber keinerlei Intention habe ihn umzusetzen. An Palleschi wurde bei dieser Gelegenheit auch ein Exemplar des Sanierungsplans des Stadtteilkomitees übergeben und er wurde gemeinsam mit den Repräsentanten von PCI, PSI und SUNIA zu einer assemblea popolare am 29.10.1975 in der Magliana eingeladen, auf der die verschiedenen Vorschläge diskutiert werden sollten.349

347 Comitato di quartiere (1977), S. 103. „Die Vorschläge der Stadtverwaltung würden idiotisch erscheinen, kämen sie nicht von einer Fraktion, die die Stadt seit Jahrzehnten beherrscht. In Wirklichkeit drücken sie beredt den Willen der Kommunalverwaltung aus, den Interessen der Spekulation zu dienen.“ 348 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 104. 349 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 105.

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3.2.2.2 Juristische Auseinandersetzung und öffentliche Meinung Am 11.10.1971 beraumte das Stadtteilkomitee der Magliana erstmals eine Pressekonferenz an, um die Entstehungsweise und den Zustand ihres Stadtteils einer profunden Kritik zu unterziehen. Die Konferenz war ein Erfolg: In verschiedenen Tageszeitungen erschienen zeitnah zur Pressekonferenz ausführliche Artikel,350 die über die Anklage der Spekulation, die Verstöße gegen die Bauvorschriften und die desaströse Situation in der Magliana berichteten, wobei gerade die PCI-nahe römische Tageszeitung Paese Sera eine wichtige Rolle bei der öffentlichkeitswirksamen Skandalisierung der Zustände in dem Neubauviertel spielte.351 Nach dem erfolgreichen Auftakt vom Oktober 1971 versuchte das Comitato di quartiere immer wieder, seine Kritik an den Zuständen in der Magliana durch Pressearbeit an die Öffentlichkeit zu bringen.352 In enger Verbindung mit der Öffentlichkeitsarbeit des Stadtteilkomitees entspann sich die juristische Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen für die Zustände in der Magliana, welche an zwei Fronten geführt wurde: Auf der einen Seite stand der Abwehrkampf gegen die dauernden Räumungsbescheide, auf der anderen Seite die juristische Offensive angesichts der untragbaren Zustände in der Magliana. An beiden juristischen Fronten ging es dabei nicht nur um juristische Erfolge, sondern auch um die öffentliche Meinung über die Zustände in der Magliana und die eng damit verbundene Berechtigung des Kampfes. Im November 1971 erschien eine große Gruppe von Betroffenen aus der Magliana im römischen Amtsgericht, um die Aussetzung der Räumungsbescheide zu erreichen. Doch der zuständige Amtsrichter Iannelli ließ sich durch die Anwesenheit zahlreicher räumungsbedrohter Frauen und Kinder nicht stören und konstatierte nüchtern „‚(..) che la legge è legge, e chi non paga l’affitto stabilito dal contratto viene sfrattato.‘“353 Anschließend bestätigte er in wenigen Stunden 48 Anträge auf Erteilung eines Räumungsbescheids, von denen 12 Familien aus der Magliana betrafen.354 So musste das Stadtteilkomitee bei seinem ersten Versuch, öffentlichen Druck gegen die juristische Ermöglichung der Räumungen aufzubauen, eine empfindliche Schlappe einstecken.

350 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 49. 351 Vgl. Überschriften von Artikeln zur Situation in der Magliana im Paese Sera: Paese Sera vom 9.10.1971: „Magliana: Tutto un quartiere fuorilegge“ („Magliana: Ein ganzes Viertel schwarz gebaut“); Paese Sera vom 18.10.1971: „I palazzi sono tutti più alti (di 7 metri) di quanto dovrebbero“ („Die Wohnblöcke sind alle (um 7 Meter) höher als sie sein dürften“); Paese Sera vom 22.10.1971: „Magliana: Quarantamila al confino. Meno spazio delle gabbie per i cani“ („Magliana: Vierzigtausend in der Verbannung. Weniger Platz als im Hundezwinger“), alle in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 4-6. 352 Z.B. durch eine Radiosendung über Missstände und Kämpfe in der Magliana am 2.12.1971, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 53. 353 Zitiert nach: Comitato di quartiere (1977), S. 51. „[…] Gesetz bleibt Gesetz und wer nicht die im Vertrag festgesetzte Miete zahlt, wird geräumt.“ 354 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 51.

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Im gleichen Monat aber eröffnete der Richter Cerminara aufgrund der durch die Öffentlichkeitsarbeit des Stadtteilkomitees ausgelösten Pressemeldungen über die Zustände in der Magliana ein Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen für die Verstöße gegen die Bauauflagen. Ab Ende des Jahres 1971 nahm das Stadtteilkomitee die Rolle eines zivilen Nebenklägers in dem Ermittlungsverfahren ein, um stets auf dem neuesten Stand über das Verfahren zu sein und im Erfolgsfall Entschädigungsansprüche geltend machen zu können. Am 9.2.1972 wurde aufgrund der Erkenntnisse Cerminaras ein Ermittlungsverfahren gegen 132 Personen wegen der Missstände in der Magliana eingeleitet. Unter den verdächtigen Unternehmern, Politikern und Architekten waren wichtige Persönlichkeiten wie der ehemalige DCBürgermeister Rinaldo Santini, die zuständigen Referenten Maria Muu (DC), Antonio Pala (PSDI) und Carlo Crescenzi (PSI), die Bauunternehmer Minciaroni, Anzalone, Marchini und der Architekt Del Debbio. Ihnen wurden unter anderem Verstöße gegen die Bauvorschriften vorgeworfen, die dazu führten, dass der Stadtteil regelmäßig überflutet wurde. Das Stadtteilkomitee forderte in seiner Rolle als ziviler Nebenkläger im Namen aller Bewohner des Stadtteils eine Entschädigung durch die Verantwortlichen.355 Im Mai 1972 unterstützte das Stadtteilkomitee Richter Cerminara, der die Erstellung von Gutachten zur Lage in der Magliana in Auftrag gegeben hatte, durch eine Umfrage unter den Bewohnern über die Situation im Viertel und die Stellung eigener Sachverständiger.356 Im Herbst 1973 wurde das Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen für die Missstände in der Magliana vom Amtsgericht an die Staatsanwaltschaft übergeben, da es dessen Kompetenzen überstieg. Dort wurde es anschließend dem zuständigen Staatsanwalt De Nardo entzogen und an den Generalstaatsanwalt Spagnuolo weitergegeben. Die autoriduttori der Magliana werteten diese Entwicklung als Versuch, das Verfahren zu verschleppen, und intervenierten dagegen mit einer lautstarken Protestkundgebung vor der Staatsanwaltschaft, woraufhin das Verfahren an De Nardo zurück überstellt wurde. Episoden wie diese machen deutlich, dass juristisches Vorgehen und Massenmobilisierung für das Stadtteilkomitee der Magliana immer auf das Engste verknüpft waren. Ende 1973 bestätigte Staatsanwalt De Nardo dann die Anklagepunkte des Amtsgerichts und gab das Verfahren an den Richter Trivellini weiter.357 Auf Anraten des römischen Soccorso rosso griff das Stadtteilkomitee angesichts des offensichtlichen Unwillens der römischen Stadtverwaltung, die Verantwortlichen für die Verstöße in der Magliana zur Rechenschaft zu ziehen zu anderen Mitteln: Es reichte im November 1973 anstelle der Kommune eine Klage gegen die Verantwortlichen für die Missstände der Magliana ein.358 Grundlage dieses Vorgehens war die Feststellung, dass die Kommune, obwohl sie über die Rechtsverstöße der Bauträger – vor allem die illegale Errichtung der beiden untersten Stockwerke – im Bilde war, die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen nicht anwendete. Um wirksam zu werden,

355 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 51ff. 356 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 68f. 357 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 85ff. 358 Basis der Klage war die weitgehend unbekannte ‚Legge comunale e provinciale n. 530 del 9. giugno 1947, art. 23‘, die jedem Bürger das Recht einräumte anstelle der Kommune Zivilklagen anzustrengen, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 86.

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musste die Popularklage von Seiten der Kommune autorisiert werden, wofür eine Diskussion im Stadtrat vorgesehen war – für das Stadtteilkomitee eine hervorragende Möglichkeit, die skandalösen Zustände in der Magliana der Öffentlichkeit nahezubringen. Überhaupt waren die juristischen und öffentlichkeitspolitischen Zielsetzungen der Popularklage eng verzahnt. So stellte das Stadtteilkomitee die Popularklage denn auch am 10. November 1973 auf einer gutbesuchten Pressekonferenz der Öffentlichkeit vor und unterstrich, dass sich hier allen demokratischen Kräften nochmals die Chance bot, den absurden Charakter der Aufschüttungspläne klarzustellen und die Spekulanten der Magliana für ihre Verstöße zur Rechenschaft zu ziehen.359 Die mediale Resonanz war gewaltig: Nicht nur die Zeitungen der politischen Linken wie L’Unità und Avanti berichteten ausführlich über die Anliegen des Stadtteilkomitees, sondern mit Il Messaggero und Il Tempo auch die beiden wichtigsten römischen Tageszeitungen und in Gestalt des Corriere della Sera auch die bedeutendste Tageszeitung Italiens.360 Die Berichterstattung war dabei angesichts der elementaren Verstöße der Bauträger der Magliana durchweg von Sympathie für das Anliegen des Stadtteilkomitees geprägt. Antonio Padellaro begann seinen Artikel im Corriere della Sera mit einer Reihe rhetorischer Fragen, deren Antwort angesichts des ‚caso Magliana‘ außer Frage stand: „È possibile costruire un intero quartiere nel disprezzo di ogni più elementare regola urbanistica? È possibile farci abitare quarantamila persone che proprio a causa degli abusi perpetrati vivono continuamente nel pericolo di inondazione e di epidemie? È possibile che un’operazione di questo genere, condotta con ostentata sicurezza da potenti costruttori, sia ritenuta perfettamente legittima dalle autorità politiche e amministrative, da coloro cioè che dovrebbero tutelare l’interesse della collettività?“361 Gut ein Jahr später reichte die Region Lazio die Popularklage des Stadtteilkomitees an die römische Stadtverwaltung weiter. Das Stadtteilkomitee legte derweil mit einer zweiten Popularklage nach, die sich diesmal nicht gegen die Bauträger der Magliana, sondern gegen die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung, wie den DCBürgermeister Darida, die Referenten Pala und Muu und den Verantwortlichen für den Stadtentwicklungsplan Samperi richtete. Ziel dieser zweiten Popularklage war es, die römische Kommune in die Lage zu versetzen, Schadenersatz von jenen zu fordern, die der Stadt in Ausübung ihres Amtes Schaden zugefügt hatten.362 Nach

359 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 86f. 360 vgl. Il Tempo vom 11.11.1973, S. 6; Il Messaggero vom 11.11.1973, L’Unità vom 11.11.1973, Avanti vom 13.11.1973, Corriere della Sera vom 19.11.1973, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 32-37. 361 Corriere della Sera vom 19.11.1973, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 36-37. „Ist es möglich, einen ganzen Stadtteil unter Missachtung jeder noch so elementaren urbanistischen Regel zu bauen? Ist es möglich, dort vierzigtausend Menschen wohnen zu lassen, die aufgrund der Gesetzesverstöße in der ständigen Gefahr von Überschwemmungen und Epidemien leben? Ist es möglich, dass ein solches Unterfangen, das die mächtigen Bauunternehmer mit zur Schau gestellter Sicherheit umsetzen, von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, also von jenen, die die Interessen der Allgemeinheit schützen müssten, für völlig rechtmäßig gehalten wird?“ 362 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 98.

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monatelangem Aufschub beriet der römische Stadtrat am 28. Mai 1975 schließlich über die erste Popularklage des Stadtteilkomitees der Magliana und winkte sie durch. Das Stadtteilkomitee selbst beurteilte den Erfolg sehr nüchtern: Die Verantwortlichen hätten im Wahlkampfendspurt jede größere politische Auseinandersetzung um den inzwischen sehr bekannten Skandal der Magliana vermieden, da die Räume für eine institutionelle Mediation hier sehr gering seien und im Zuge einer solchen Debatte unweigerlich unangenehme Fragen nach der Komplizenschaft der römischen Stadtverwaltung mit Immobilienspekulation und abusivismo ans Licht gekommen wären.363 Schließlich erkannte die römische Kommune die Illegalität der untersten beiden Stockwerke aller illegalen Bauten in der Magliana an und reagierte, indem erste Räumungsbescheide an die Bewohner versandt wurden.364 „In questo modo gli amministratori capitolini pensano di recuperare un minimo di verginità scaricando le responsabilità sulle spalle degli occupanti e dei soli costruttori.“365 Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis die Spekulanten der Magliana für ihre Verstöße gegen die Bauvorschriften zur Kasse gebeten wurden: Erst unter der neuen linken Stadtregierung des PCI-Bürgermeisters Argan wurden die entsprechenden Schritte unternommen. Im Februar 1978 aber war es dann soweit: Die Bauträger der Magliana mussten für 670.000 m3 widerrechtlich erbauten Wohnraums 60 Milliarden Lire Strafe an die römische Kommune bezahlen. Das Geld wurde komplett in die Sanierung des Stadtteils investiert.366 Das Ermittlungsverfahren gegen die 132 Beschuldigten für die Verstöße in der Magliana zog sich über Jahre hin und alleine diese Tatsache war von Vorteil für die autoriduttori, deren Rechtsbruch so immer als eine Art Selbsthilfe gegen die kriminelle Logik der Spekulation erschien. Trotzdem stand am Ende des Verfahrens eine herbe Enttäuschung: Im April 1979, über sieben Jahre nach Erstattung der Anzeige, zu einem Zeitpunkt, da die kämpferischen Basisdynamiken in der Magliana deutlich an Schwung verloren hatten, endete der Prozess gegen die 132 Beschuldigten mit umfassenden Freisprüchen.367 Einen durchschlagenden Erfolg erzielte das Stadteilkomitee der Magliana aber vorerst an der anderen – der defensiven – juristischen Front: Im Sommer 1974 entschied ein Richter der Zivilprätur Roms, einen Räumungsbescheid gegen autoriduttori-Familien in der Magliana nicht zu bestätigen, und gab so erstmals dem Einspruch der Mieter statt. Der Richter erklärte, dass die Situation in der Magliana eine Einzelfallprüfung nötig mache, die im Rahmen der Schnellverfahren nicht möglich sei. Diese Entwicklung lief praktisch auf eine zivilrechtliche Auseinandersetzung

363 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 103f. 364 Vgl. Il Messaggero vom 10.7.1975 und Corriere della Sera vom 13.7.1975, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 81-82. Vgl. auch: L’altra Roma 1 (1976), S. 4. 365 L’altra Roma 1 (1976), S. 4. „Auf diese Weise hofft die Kommunalverwaltung ein Minimum an Unschuld zurückzugewinnen, indem sie die Verantwortung den Bewohnern und den Bauunternehmern alleine in die Schuhe schiebt.“ 366 Vgl. Paese Sera vom 3.2.1978, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 130. 367 Vgl. Il Popolo vom 21.4.1979, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. ohne Nummer.

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zwischen der betroffenen Immobiliengesellschaft und den Mietern hinaus, was zunächst einen Räumungsstopp und perspektivisch eine richterliche Festlegung der Miete unterhalb des bisherigen Niveaus angesichts der Mängel der Stadtteils und seiner Bauten wahrscheinlich machte. Damit war es durch zähe Auseinandersetzungen gelungen, die angeblich neutrale juristische Prozedur der Räumungsbescheide zu durchbrechen, die in den letzten zwei Jahren Hunderte Familien in der Magliana dazu gezwungen hatte, ihre Wohnungen zu verlassen, aber keinen Bauträger der Magliana für seine Verstöße haftbar gemacht hatte.368

3.3 Hegemoniekämpfe in der Magliana Die politischen Auseinandersetzungen in der Magliana der 1970er Jahre bildeten ein multidimensionales Konfliktfeld: Neben der zentralen Konfliktlinie, die zwischen den kämpfenden Mietern und Besetzern einerseits und den Immobiliengesellschaften und Teilen der Stadtverwaltung andererseits verlief, war das Klima im Stadtteil durch einen Kampf um Hegemonie innerhalb der Linken geprägt, bei dem sich traditionelle und Neue Linke gegenüberstanden. Den Auftakt zu dieser langwierigen Auseinandersetzung bildete die Gründung des Stadtteilkomitees der Magliana im September 1971 als parteiunabhängige Basisstruktur, die dem Hegemonialanspruch des PCI zuwider lief.369 Fortan standen sich PCI und UNIA einerseits und das Comitato di quartiere andererseits als Konkurrenten gegenüber. Dabei waren sich die Kontrahenten zumindest hinsichtlich der grundsätzlichen Ziele weitgehend einig: Der PCI strebte – ähnlich wie das Stadtteilkomitee – einen Baustopp in der Magliana an, um die noch verfügbaren Flächen für den Bau sozialer Dienstleistungen und die Einrichtung von Grünflächen freizuhalten. Des Weiteren wurde die Schulsituation in der Magliana auch von der kommunistischen Partei als ausgesprochen problematisch betrachtet und der rasche Bau einer Kinderkrippe, eines Kindergartens und einer weiterführenden Schule sowie der Ausbau der bestehenden Grund- und Mittelschule gefordert. Außerdem wurde auch von den linken Parteien der Bau eines funktionierenden Kanalisationssystems gefordert, um die hygienischen Bedingungen im Stadtteil zu verbessern.370 Hinzu kam die von der UNIA organisierte Mietreduktion in den Wohnungen des INPDAI, die der autoriduzione des Stadtteilkomitees vorangegangen war und durch diese radikalisiert wurde. Trotz dieser Nähe hinsichtlich der jeweiligen Zielsetzungen blieb das Verhältnis zwischen dem Stadtteilkomitee und der PCI-Sektion der Magliana zumindest bis Mitte der 1970er Jahre stets gespannt, was allerdings nicht ausschloss, dass es punktuell zur Kooperation der beiden Fraktionen kam.

368 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 93f. 369 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 46f. 370 Vgl. Unità vom 10.11.1973, S. 10.

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3.3.1 Der ‚Pamphletkrieg‘ vom April 1972 Der schwelende Konflikt zwischen den Kräften der traditionellen und der Neuen Linken in der Magliana eskalierte am 11. April 1972, als eine Reihe von Organisationen der traditionellen Linken die Politik des Stadtteilkomitees mit einem Flugblatt frontal angriff. Da der ‚Pamphletkrieg‘ vom April 1972 wesentliche Konfliktpunkte, die in der innerlinken Auseinandersetzung zwischen Stadtteilkomitee und PCI immer wieder auftraten, sehr gut beleuchtete, soll auf dessen inhaltliche Linien und diskursive Mechanismen genauer eingegangen werden. Das Flugblatt – hinter dem einige Mitglieder des Stadtteilkomitees Don Gerardo Lutte vom Centro di cultura proletaria als Autor vermuteten371 – konstatierte eingangs, dass die gegenwärtige Zurückhaltung der Staatsmacht bei der Vollstreckung der Räumungsbescheide in der Magliana nur die Ruhe vor dem Sturm sei. Nach den Wahlen würden picchetti nicht mehr ausreichen, um die Räumungen aufzuhalten. Notwendig sei deshalb der gemeinsame Kampf der ganzen Stadtteilbevölkerung. Deshalb sei der Separatismus, an dem die Anführer des Stadtteilkomitees festhielten, sehr gefährlich, da die Bevölkerung gespalten und der gemeinsame Kampf geschwächt würde. Da die Magliana aber keine Insel sei, sei es eine Illusion zu glauben, man könne den Kampf um die Mieten in der Magliana gewinnen, ohne ihn in ganz Rom und ganz Italien mit Hilfe der Gewerkschaften und der linken Parteien zu gewinnen. Wer sich also gegen die Parteien der Arbeiterklasse stelle, besiegle seine Niederlage im Kampf um gerechte Mieten. Viele Funktionäre des Stadtteilkomitees der Magliana aber lehnten es ab, mit den Parteien der Arbeiterklasse gemeinsam zu kämpfen, da sie außerparlamentarischen Gruppen wie Lotta Continua und il Manifesto angehörten und so deren politische Linie verfolgten. Weiter wurde in dem Flugblatt ausgeführt, dass es nicht darum gehe, Mitglieder außerparlamentarischer Gruppen vom Kampf auszuschließen. Im Gegenteil: Man habe die Mitglieder der außerparlamentarischen Gruppen stets zum gemeinsamen Kampf eingeladen und tue dies auch jetzt. Die Entscheidungen im Kampf müssten aber die Arbeiter und Angestellten treffen, da sie im Fall der Niederlage dafür gerade stehen müssten und nicht die Freiberufler und jene, die durch ihre reichen Familien im Rücken ohnehin auf der sicheren Seite ständen. Um den Mietkampf gemeinsam zu gewinnen, sollte ein Einheitskomitee mit Delegierten der autoriduttori aus den Wohnblocks der verschiedenen Immobiliengesellschaften des Viertels gegründet werden. Dieses Komitee solle unabhängig von den Parteien sein, aber mit den Gewerkschaften und Arbeiterparteien zusammenarbeiten. Für den 15. April 1972 wurde ein Treffen im Centro di cultura proletaria anberaumt, auf dem dieser Vorschlag diskutiert werden sollte. Unterzeichnet war das Flugblatt von elf Organisationen, darunter PCI, PSIUP, PSI, UNIA und Centro di cultura proletaria.372

371 Vgl. Spada (1976); S. 35. Zur Sicht Luttes auf die Konkurrenz linker Organisationen in der Magliana, vgl. Lutte (1977), S. 23ff. Lutte sieht das Comitato case comunali der ehemaligen Barackenbewohner von Prato Rotondo zwischen dem Stadtteilkomitee und dem PCI. Ob Lutte tatsächlich Autor des hier diskutierten Flugblattes war, geht aus seiner Darstellung nicht hervor. 372 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 58ff.

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Die Antwort des Stadtteilkomitees folgte vier Tage später: Unter der Überschrift „Basta con gli insulti e le provocazioni“ machten die Autoren des Comitato di quartiere ihrem Unmut über die Polemik in einem dreiseitigen Flugblatt Luft.373 Eingeleitet wurde das Flugblatt durch eine Reihe rhetorischer Fragen: Wer schreibt diese gelben Flugblätter, die so viele Unterzeichner tragen? Jemand, der noch nicht lange genug im Stadtteil ist, um über den seit einem Jahr andauernden Kampf der Bevölkerung Bescheid zu wissen? Wenn es sich hingegen um eine gezielte Provokation handle, so könne man die Urheber nur warnen: „Se è qualcuno che vuole insultare e provocare centinaia di abitanti che hanno portato avanti con successo e a proprie spese la lotta di questi mesi, stia attento perché farà le fine che fanno prima o poi tutti i crumiri dichiarati o mascherati.“374 Die Unterzeichner des gelben Flugblattes wurden aufgefordert, dessen Inhalte zu diskutieren und zu verurteilen und die Verfasser zu isolieren. Anschließend wurde ein kurzer Rückblick über den bisherigen Kampf des Stadtteilkomitees geboten, der unterstrich, dass dieses von Anfang an versucht hatte, den Kampf mit größtmöglicher Beteiligung und Einheit zu führen und dabei stets ein breites Programm im Sinne einer umfassenden Sanierung der Magliana im Blick gehabt hatte. Die picchetti seien zur Verhinderung der Räumungen nur Ultima Ratio, da alle anderen juristischen und politischen Mittel versagt hätten. Aber die picchetti seien auch Ausdruck der Stärke des Stadtteilkomitees, die in der massenhaften Beteiligung am Kampf liege – aber wer sich nicht beteilige, verstehe diese Dinge offensichtlich nicht. Anschließend ging das Stadtteilkomitee auf die zentralen Kritikpunkte des Flugblatts ein: Die Einheit im Kampf werde nicht vom Stadtteilkomitee verhindert, das seine Kämpfe stets für alle öffne, sondern von den „[…] burocrati dei vari partiti mandati a posta per dividere e quelli che mascherandosi dietro la parola democrazia agiscono e decidono senza discutere con la gente che dicono di rappresentare.“375 Hinsichtlich der Unterstützung der Gewerkschaften und der linken Parteien unterstrich das Stadtteilkomitee, dass deren Beteiligung nie abgelehnt worden sei. Abgelehnt habe man es nur, deren Befehle ohne Diskussion umzusetzen. Anschließend konnten sich die Autoren des Stadtteilkomitees eine Spitze gegen das Comitato case comunali der ehemaligen Barackenbewohner von Prato Rotondo nicht verkneifen: „È strano però che persone che hanno conquistato la casa con la lotta fatta in un borghetto […] ci vengano a dire che la riduzione dei fitti o si ottiene in tutta Italia o

373 Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168 „Schluss mit den Beleidigungen und den Provokationen“. 374 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Wenn es jemand ist, der hunderte von Bewohnern beleidigen und provozieren will, die seit Monaten mit Erfolg und auf eigene Kosten den Kampf vorantreiben, dann soll er vorsichtig sein, weil er so enden wird, wie früher oder später alle bekennenden oder maskierten Streikbrecher enden.“ 375 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „[…] Bürokraten der verschiedenen Parteien, die geschickt werden, um zu spalten, und jene, die sich hinter dem Wort Demokratie verstecken, aber handeln und entscheiden, ohne mit den Leuten zu diskutieren, die sie zu vertreten vorgeben.“

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non si ottiene.“376 Die nächste Spitze richtete sich gegen die UNIA: Es sei kein Zufall, dass dort, wo die UNIA die autoriduzione leite, die Organisation der Beteiligten – wie im Falle der Immobiliengesellschaft Malta – derart schlecht sei, dass die UNIA-Leitung beim Stadtteilkomitee um Unterstützung für picchetti gegen bevorstehende Räumungen bitten müsse. Den Vorwurf, dass viele Funktionäre des Stadtteilkomitees Mitglieder außerparlamentarischer Gruppen seien und deren Gruppeninteressen verfolgten, konterten die Autoren des Stadtteilkomitees mit der Feststellung, dass es im Stadtteilkomitee keine Funktionäre gebe und dass kein Genosse je im Stadtteilkomitee Propaganda für seine Gruppe gemacht habe noch versucht habe, deren Linie durchzusetzen. Der Forderung der Kritiker, dass die Arbeiter und Angestellten die Entscheidungen im Kampf treffen müssten, stimmte das Stadtteilkomitee zu – allerdings verbunden mit dem signifikanten Zusatz, dass es sich nur um jene Arbeiter und Angestellte handeln könne, die am Kampf teilnehmen. Auf die Anspielung der Kritiker, Freiberufler und Abkömmlinge reicher Familien bestimmten die Politik des Stadtteilkomitees reagierte dieses mit Ironie: „E i professionisti chi sono? Quelli che abitano negli appartamenti dei primi piani, che i padroni hanno affittato come uffici? E le ricche famiglie di cui ciancia il volantino giallo? Sono forse quelle che vanno a prendere l’acqua nel cortile perché non gli arriva in casa o che fanno la lotta con le zanzare?“377 Anschließend wurde auch die Tatsache, dass elf Organisationen das Kritikflugblatt unterzeichnet hatten, beißendem Spott unterzogen. Die vielen Organisationen repräsentierten real nur wenige Bewohner des Stadtteils: „[…] (M)a di queste organizzazioni ne conosciamo meno di 50 facce (alla media di 4,5 persone per organizzazione).“378 Um die Kritiker zu persiflieren, die durch das Aufführen möglichst vieler Organisationen dem eigenen Flugblatt größere Autorität verleihen wollten, listete das Stadtteilkomitee am Ende seiner Flugschrift über vierzig ‚Organisationen‘ auf, die zum Teil offensichtlich bewusst die Grenze zum Absurden überschritten: So trug eine der unterzeichnenden ‚Organisationen‘ den Titel „bambini fino a 10 anni per i giardini pubblici“.379 Allerdings war diese absurde Liste der unterzeichnenden Organisationen nun Auftakt für die abrupte Abschlussvolte: „Invece preferiamo firmarlo col nome dell’unica organizzazione che alla Magliana

376 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Es ist aber seltsam, wenn Leute, die mit dem Kampf in einer Barackensiedlung Wohnungen errungen haben […], zu uns kommen und uns sagen, dass man eine Mietreduktion nur entweder in ganz Italien erreicht oder gar nicht.“ 377 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Und wer sind die Freiberufler? Diejenigen, die in den Wohnungen im ersten Stockwerk wohnen, die die Besitzer als Büros vermietet haben? Und die reichen Familien, von denen das Flugblatt faselt? Sind das vielleicht die, die das Wasser im Hof holen, weil es nicht in ihre Wohnung kommt, oder die einen Kampf gegen die Mücken führen?“ 378 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „[…] [A]ber diesen Organisationen können wir weniger als 50 Gesichter zuordnen (im Durchschnitt 4,5 Personen pro Organisation).“ 379 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Kinder bis 10 Jahre für öffentliche Parks“.

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porta avanti (anche dopo il periodo elettorale) la lotta per i fitti e la sistemazione del quartiere, e cioè il comitato di quartiere.“380 Die wesentlichen diskursiven Operationen, die sich im Flugblatt des Stadtteilkomitees finden, können als gezielte Dekonstruktion des Kritikflugblatts interpretiert werden. Zunächst wurde dabei die gegnerische Sprecherposition auf dreifache Weise unterminiert: Zum einen wurden die konkreten Autoren als unwissend – weil neu im Stadtteil – oder aber als Provokateure und Streikbrecher abqualifiziert. Zum anderen wurden die unterzeichnenden (Massen-)Organisationen als Papiertiger dargestellt, indem man ihre Mitglieder im Stadtteil auf je 4,5 schätzte und das eigene Flugblatt mit einer persiflierenden Unterzeichnerliste beschloss, die 41 Einzelorganisationen auflistete. Außerdem aber wurden die Autoren des gegnerischen Flugblatts auch von den unterzeichnenden Organisationen beziehungsweise deren Basis getrennt, indem die Organisationen aufgefordert wurden, das Flugblatt zu diskutieren und seine Autoren zu isolieren. Anschließend wurde der gegnerischen Definition der zeitlichen und räumlichen Aspekte des Konflikts in der Magliana die eigenen Positionen entgegengehalten: Der Zeitpunkt der Kritik am Stadtteilkomitee wurde implizit mit dem Wahlkampf als Moment verstärkter Parteiaktivitäten erklärt und mit dem kontinuierlichen Kampf des Stadtteilkomitees seit einem Jahr kontrastiert. Der Kritik am Glauben, man könne den Mietkonflikt in der Magliana alleine gewinnen, wurde entgegengehalten, dass mindestens eine der Organisationen, die das Kritikflugblatt mit unterzeichnet hatte, durch eben so einen territorial begrenzten Kampf durchaus konkrete Erfolge erzielt hatte.381 Der polemische Schlagabtausch war damit allerdings noch nicht beendet. Am 15. April 1972 kam es bei der Diskussion im Centro di cultura proletaria unter dem Vorsitz von Don Gerardo Lutte, zu der die Kräfte der traditionellen Linken eingeladen hatten, zum Eklat: Als ein alter Genosse, der seit vielen Jahren dem PCI angehörte und im Stadtteilkomitee der Magliana aktiv war, die Linie der PCI-Sektion in der Magliana kritisierte, wurde er von den anwesenden PCI-Funktionären aufgefordert seinen Mitgliedsausweis vorzuzeigen und in der Parteisektion vorzusprechen, was offensichtlich das Ziel verfolgte, den Kritiker einzuschüchtern.382 Die Ausführungen eines Aktivisten des Stadtteilkomitees, der den auf Delegation und Mediation ausgerichteten Politikstil der traditionellen Linken kritisierte und den Kräften der traditionellen Linken zugleich vorwarf umgekehrt keine politische Kritik zu üben, sondern auf völlig unkorrekte Weise Hetze gegen das Stadtteilkomitee zu betreiben, wurden bald von einem PCI-Funktionär mit folgenden Worten unterbrochen: „Io so-

380 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 15.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Stattdessen ziehen wir vor, es mit dem Namen der einzigen Organisation zu unterzeichnen, die in der Magliana (auch nach den Wahlen) den Mieterkampf und den Kampf für die Instandsetzung des Stadtteils vorantreibt, und zwar demjenigen des Stadtteilkomitees.“ 381 Gemeint ist das von den ehemaligen Barackenbewohner aus Prato Rotondo aufgebaute Centro di cultura proletaria. 382 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 64f. Szenen dieser hitzigen Diskussion finden sich auch in dem zeitgenössischen Dokumentarfilm: Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 07:05-12:05, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa.

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no un grande partito, tu sei un gruppettaro!“383 Als anschließend ein Tumult ausbrach, verließen die Aktivisten des Stadtteilkomitees die Versammlung. Rückblickend übten sie aber Selbstkritik, da sie nicht rechtzeitig durchschaut hätten, dass die lokalen PCI-Funktionäre es gerade darauf angelegt hätten, die Diskussion platzen zu lassen.384 Das Verhältnis zur lokalen PCI-Sektion war mit diesem Streitgespräch dauerhaft zerrüttet, weit problematischer erschien Aktivisten des Stadtteilkomitees aber das eingetrübte Verhältnis zu Don Lutte und dem Comitato case comunali, die das Centro di cultura proletaria organisierten: „Il comitato (di quartiere, M.H.) stesso ritenne in seguito negativo non tanto il tipo di rapporto instaurato con la sezione del PCI, quanto l’atteggiamento del Comitato case comunali che poneva, come condizione per una alleanza, l’accettazione completa della linea del PCI e quindi, un cambiamento drastico nella concezione stessa dell’autonomia se non la sua morte.“385 Eine Woche nach der hitzigen Diskussion im Centro di cultura proletaria begann allerdings die Front der traditionellen Linken gegen die Politik des Stadtteilkomitees zu bröckeln. Das Leitungskomitee der lokalen PSI-Sektion, die als unterzeichnende Organisation auf dem Flugblatt vom 11. April 1972 aufgeführt gewesen war, distanzierte sich nun mit deutlichen Worten von dessen Inhalt und stellte sich auf die Seite des Stadtteilkomitees: „Il comitato di quartiere della Magliana porta avanti da un anno nel quartiere la dura lotta degli abitanti per la riduzione del fitto […] che non può che trovare il più fermo appoggio di un partito della classe operaia come il nostro.“386 Das Flugblatt, dessen Inhalt als ‚Provokation und Beleidigung‘ zurückgewiesen wurde, sei nicht von der PSI-Sektion, sondern nur von einigen unautorisierten Einzelpersonen unterstützt worden.387 Damit war die politische Grundkonstellation in der Magliana für die folgenden Jahre definiert: Auf der einen Seite stand die lokale PCI-Sektion und die PCI-nahe Mietergewerkschaft SUNIA, die über enge Verbindungen zum Centro di cultura proletaria di Don Lutte verfügte und auf der anderen Seite das Stadtteilkomitee der Magliana mit seinen guten Verbindungen zur lokalen PSI-Sektion, den außerparlamentarischen Gruppen und ab Ende 1973 zu den Hausbesetzern vom Comitato di lotta per la casa.

383 Zitiert nach: Comitato di quartiere (1977), S. 65. „Ich bin eine große Partei und Du bist ein Gruppenmitglied!“ Zur vorhergehenden Rede eines Aktivisten des Stadtteilkomitees, der Unterbrechung und dem folgenden Tumult vgl.: Collettivo Videobase: Il fitto dei padroni non lo paghiamo più. Magliana, quartiere popolare di Roma 1972, 08:30-12:00, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 384 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 65. 385 Spada (1976), S. 37. „Das (Stadtteil-)Komitee selbst hält im Nachhinein nicht so sehr das Verhältnis zur PCI-Sektion für negativ, sondern vielmehr die Haltung des Comitato case comunali, welches das völlige Akzeptieren der Linie des PCI und somit eine drastische Veränderung der Konzeption der Autonomie, wenn nicht ihre völlige Aufgabe, zur Vorbedingung für eine Allianz machte.“ 386 Zitiert nach Spada (1976), S. 37f. „Das Stadtteilkomitee der Magliana führt seit einem Jahr im Viertel den harten Kampf der Bewohner für die Reduktion der Mieten […], der von einer Partei der Arbeiterklasse wie der unseren nur entschlossen unterstützt werden kann.“ 387 Vgl. Spada (1976), S. 38.

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3.3.2 Abgrenzung im politischen Alltag Trotz der ähnlichen Zielsetzungen war die Abgrenzung zwischen den Kräften der Neuen und der traditionellen Linken in der Magliana sehr ausgeprägt. Sie spiegelte sich nicht nur in den in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden polemischen Flugblättern wider,388 sondern auch in der Existenz von Doppelstrukturen, die einzig aus der Tatsache erklärt werden können, dass zweierlei Fraktionen innerhalb der Linken in der Magliana koexistierten. Als signifikanter Ausdruck dieses dauerhaften innerlinken Hegemoniekonflikts kann so die Tatsache interpretiert werden, dass zwei linke Strukturen mit einem fast identischen Angebot in Sachen Kultur und Bildung um die Gunst der Bewohner der Magliana buhlten: Sowohl das dem PCI nahestehende Centro di cultura proletaria als auch das Stadtteilkomitee boten Abendschulkurse zum Nachholen des Mittelschulabschlusses und Freizeitangebote für Kinder an.389 Dabei richtete sich das Angebot des Centro di cultura proletaria freilich in erster Linie an die aus Prato Rotondo in die Magliana gezogenen ehemaligen Barackenbewohner, die im Comitato case comunali organisiert waren, während sich die Initiativen des Stadtteilkomitees vor allem an jene circa tausend Familien richteten, die in der Magliana autoriduzione betrieben. Parallelstrukturen gab es aber nicht nur in Sachen Kultur, Bildung und Freizeit. Auch hinsichtlich der im engeren Sinne ‚politischen‘ Belange organisierte die kommunistische Partei bald ein eigenes Gremium, in dessen Zusammensetzung und Politikstil sich freilich die Unterschiede zum Stadtteilkomitee deutlich widerspiegelten: Der PCI hob in der Magliana einen so genannten Consiglio unitario di quartiere390 aus der Taufe, in dem alle demokratischen Parteien des Viertels vertreten waren, und veranstaltete in diesem Rahmen Diskussionsveranstaltungen über die urbanistischen und sozialen Probleme des Stadtteils.391 Während für das Stadtteilkomitee die Democrazia Cristiana kein Partner, sondern Gegner im Kampf gegen die Immobilienspekulation war, verfolgte die lokale PCI-Sektion bereits im Herbst 1973 eine Strategie der Einheit der demokratischen Kräfte, die schon auf jene Idee des ‚historischen Kompromisses‘ 392 verwies, die Berlinguer im Oktober 1973 erstmals skizzierte. Dieses Einschwenken des PCI auf eine moderate Linie gegenüber dem langjährigen politischen Hauptgegner DC dürfte die Zusammenarbeit mit dem Stadtteilkomitee der Magliana kaum vereinfacht haben.393 Hintergrund des oft polemisch ausgetragenen Hegemoniekampfes innerhalb der Linken in der Magliana waren unterschiedliche politische Handlungslogiken bei den beiden zentralen Akteuren. Vom Politikstil des

388 Vgl. z.B. das Flugblatt der PCI-Sektion der Magliana vom 08.02.1975, das die Position der außerparlamentarischen Gruppen polemisch angriff, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 389 Vgl. Flugblatt des Centro di Cultura Proletaria vom 6.10.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168 bzw. Comitato di quartiere (1977), S. 85 und Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 184. 390 ‚Einheitsrat des Stadtteils‘. 391 Vgl. L’Unità vom 9.11.1973, S. 8. 392 Zum ‚historischen Kompromiss‘ vgl. z.B. Ginsborg (1990), S. 354ff. 393 Zur Bedeutung des historischen Kompromisses für die Ausrichtung der Stadtteilkämpfe insgesamt, vgl. Grispigni (1990b), S. 9.

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Stadtteilkomitees unterschied sich derjenige der traditionellen Linken fundamental: „La linea dell’UNIA (e del PCI, M.H.) è molto chiara: per le occupazioni e le autoriduzioni ci si rivolge esclusivamente all’ambito pubblico e previdenziale, risparmiando i privati. Le azioni di lotta hanno un carattere prevalentemente simbolico, sono cioè atti dimostrativi, tesi a evidenziare una protesta e delle rivendicazioni, piuttosto che a danneggiare l’avversario. Gli obiettivi prioritari sono l’individuazione di un interlocutore preciso, l’instaurazione di trattative da condursi a oltranza, la ricerca di soglie di mediazione accettabili, affinché il movimento abbia uno sbocco istituzionale ratificato.“394 Oberstes Ziel für UNIA und PCI war dabei immer die Stärkung der eigenen Organisation: Erfolg oder Misserfolg definierten sich nicht in erster Linie über das unmittelbare Ergebnis einer Auseinandersetzung, sondern darüber, ob die Strukturen der kommunistischen Partei langfristig gestärkt würden. Die Handlungslogik des PCI basierte – wie man unter Rückgriff auf Überlegungen Lindenbergers formulieren könnte – auf einem Politikverständnis, „[…] das Machtkämpfe nur in institutionellen, direkt oder indirekt auf den Staat bezogenen Formen als angestrebten Normalzustand von ‚Politik‘ zuließ. Wichtigstes Merkmal dieser politischen Praxis ist die strikte Begrenzung auf verbale Argumentation und die Anwendung regelgebundener, indirekter Verfahren, sei es der parlamentarischen Geschäftsordnung, bürokratischer Prozeduren oder des Austauschs von Angeboten und Zugeständnissen in Verhandlungen.“395 Diesem ‚bürgerlichen‘ Politikideal stellt Lindenberger seinen Begriff einer „‚Politik von unten‘“ entgegen, die immer dort stattfinde, „[…] wo die ausschließliche Gültigkeit rechtlich geregelter Verhaltensweisen und Konfliktlösungen nicht nur verbal-explizit, sondern körperlich-implizit bestritten […]“396 werde und die in der „direkten Aktion“ und der „[…] meist damit verbundenen, physischen oder symbolischen Gewalt […]“397 ihre typische Ausdrucksweise finde. Lindenbergers Gegenüberstellung lässt sich mit geringen Abstrichen auf die unterschiedlichen Modi des politischen Denkens und Handelns der UNIA und des PCI einerseits, und des Stadtteilkomitees der Magliana andererseits übertragen: Während UNIA und PCI einen indirekten Politikstil pflegten und globale Lösungen durch Verhandlungen und die Vermittlungsleistung parlamentarischer Politik anstrebten, war dem Stadtteilkomitee ein direkter Politikstil zueigen, bei dem

394 Musci (1990), S. 32. „Die Linie der UNIA (und des PCI, M.H.) ist sehr klar: Besetzungen und autoriduzione werden nur bei öffentlichen Trägern und Vorsorgegesellschaften durchgeführt, die privaten werden geschont. Die Kampfaktionen haben einen vornehmlich symbolischen Charakter. Es sind also demonstrative Aktionen, die eher dazu dienen, Protest und Forderungen deutlich zu machen als den Gegner zu schädigen. Die Hauptziele sind es, einen präzisen Ansprechpartner auszumachen, unbefristete Verhandlungen aufzunehmen und eine akzeptable Vermittlungsbasis zu suchen, auf dass die Bewegung in sicheres institutionelles Fahrwasser mündet.“ 395 Lindenberger (1995), S. 16. 396 Lindenberger (1995), S. 16. 397 Lindenberger (1995), S. 17.

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lokale Problemlösung durch direkte Aktionsformen erreicht werden sollten.398 Der direkte Politikstil des Stadtteilkomitees war dabei den Funktionären der kommunistischen Partei nicht nur deshalb ein Dorn im Auge, weil er zu radikal oder zu wenig effizient war. Direkte Politik, die nicht auf die Vermittlungsleistung der Parteien angewiesen war, drohte deren Bedeutung und Funktion grundsätzlich infrage zu stellen und konnte deshalb nicht begrüßt werden. Dieser grundsätzliche Konflikt zwischen dem Stadtteilkomitee und dem PCI verschärfte sich um Mitte der 1970er vor dem Hintergrund der politischen Neuausrichtung der Kommunistischen Partei unter der Führung Berlinguers noch zusätzlich. 1976 konstatierte ein Mitglied des Stadtteilkomitees der Magliana: „Evidentemente nella strategia del compromesso storico non c’è spazio per un tipo di lotta che vede le masse in prima persona e autonomamente impegnate in una lotta che le contrappone al potere privato, alla speculazione ed alle istituzioni che coprono questa speculazione, sottratte al controllo del PCI.“399

3.3.3 Formen der Zusammenarbeit Trotz der oben skizzierten Abgrenzungsdynamik war das Verhältnis zwischen der traditionellen und der Neuen Linken in der Magliana vielschichtiger, als man zunächst annehmen könnte, da sich das Konkurrenzverhältnis weitgehend auf jene Politikbereiche beschränkte, die beide Fraktionen der Linken abzudecken versuchten: die konkrete Politik vor Ort im Stadtteil. In Hinblick auf übergeordnete Politikbereiche hingegen lösten sich die klaren Fronten auf. So kam es, dass das Stadtteilkomitee als parteiunabhängige Basisstruktur seine Anhänger vor den Wahlen 1975 und 1976 jeweils dazu aufrief, ihre Stimmen einer Partei der politischen Linken zu geben, um die regierende Democrazia Cristiana und die mit ihr eng verflochtenen Spekulanten abzustrafen.400 Diese Aufrufe schlossen die Parteien der traditionellen Linken ebenso mit ein wie die Parteigründungen der Neuen Linken. Dafür gab es wohl zweierlei Gründe: Zum einen nahmen die Protagonisten im Stadtteilkomitee dessen Status als parteiunabhängige Basisstruktur offenbar sehr ernst und wollten diese Position jen-

398 Dass die UNIA auch auf direkte Aktionsformen wie autoriduzione und Besetzung zurückgriff, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen, ändert dabei wenig an ihrem in letzter Instanz indirekten Politikstil, waren diese Aktionen doch stets symbolischer Natur: Etwaige politische Erfolge wurden immer durch Verhandlungen auf übergeordneter Ebene erzielt, an denen die Basisaktivisten unbeteiligt waren. 399 Roberto, zitiert nach: Comitato di quartiere (1977), S. 221. „Offensichtlich gibt es in der Strategie des historischen Kompromisses keinen Platz für eine Form des Kampfes, bei der sich die Massen in der ersten Person und parteiunabhängig – also der Kontrolle des PCI entzogen – in einem Kampf engagieren gegen die Macht der Privatwirtschaft, die Spekulation und diejenigen Institutionen, die die Spekulation decken.“ 400 Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 7.6.1975, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168; Flugblatt des Comitato di quartiere vom 10.06.1976, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168.

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seits der Parteien nicht durch eine präzise Wahlempfehlung gefährden. Zum anderen sah das Stadtteilkomitee Fragen der ‚großen Politik‘ tatsächlich nicht als sein Handlungsfeld. Offensichtlich entschloss sich ein Großteil der in den Basisstrukturen der Magliana organisierten Bewohner dafür, die eigene Stimme dem PCI oder dem PSI zu geben, da es trotz der starken autonomen Bewegung im Stadtteil nicht zu einer substanziellen Stärkung der parlamentarischen Formationen der Neuen Linken in der Magliana kam.401 Dieses gespaltene Verhältnis zum PCI, mit dem man im eigenen Stadtteil im Clinch lag, dem man aber bei Wahlen dennoch seine Stimme gab, schlug sich auch in den Aussagen der Mitglieder des Stadtteilkomitees nieder, die häufig explizit oder implizit zwischen dem PCI als Ganzem und der PCI-Sektion der Magliana differenzierten: „Io ho fatto sempre attività al Partito comunista e gliela darò ancora, ma per il momento…è subentrato l’odio e l’astio, pure per me, io mò odio quelli della sezione qui della Magliana e come tanta gente, perciò non si può più ricongiunge’ il comitato e SUNIA.“402 Während der Partei ,an sich‘ durchaus Respekt entgegen gebracht wurde, war die lokale Sektion des PCI Ziel harter Polemik: „Io so’ cresciuta con un padre comunista sfegatato, i miei fratelli comunisti sfegatati […]. Ora loro praticano al Tufello la sezione del partito […]. (Q)uella sezione non ha niente a che vedere con questa della Magliana, lì so’ veramente compagni, questa qui è una sezione di ignoranti, io gliel’ho detto in faccia chi sono: sono fascisti vestiti da comunisti.“403 Eine solche Interpretation ermöglichte es den PCI-Mitgliedern und – Sympathisanten im Stadtteilkomitee der Magliana, im eigenen Viertel Politik links von der kommunistischen Partei zu machen und teils heftige Konflikte mit ihren lokalen Repräsentanten auszutragen, ohne sich grundsätzlich von der Partei lossagen zu müssen, die immer noch als die Repräsentantin der italienischen Arbeiterklasse gesehen wurde. Doch nicht nur anlässlich der Wahlen wurde die Abgrenzungsdynamik zwischen dem Stadtteilkomitee als Basisstruktur und den traditionellen linken Parteien durch-

401 Vgl. z.B. die Regionalwahlen vom 15.6.1975, als der PCI in der Magliana 46% erzielte und so gegenüber den Wahlen von 1972 um 9% zugelegt hatte. Der PSI steigerte sich um 2% auf 9%. Democrazia Proletaria, ein Zusammenschluss von Avanguardia Operaia (AO) und PdUP per il comunismo, erzielte als einzige parlamentarische Repräsentantin der Neuen Linken im Landesdurchschnitt nur 1,4% und auch in der Magliana nur 2%. Insgesamt erzielten die Kräfte der Linken in der Magliana ein Ergebnis von 57% und damit 10% mehr als im Landesdurchschnitt, wobei v.a. die große Stärke des PCI ins Auge stach, vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 104. 402 Remo Mancini, in: Comitato di quartiere (1977), S. 129. „Ich war immer in der Kommunistischen Partei aktiv und ich werden sie weiter unterstützen, aber im Moment … ist auch bei mir Hass und Groll dabei. Ich hasse jetzt die hier von der Sektion der Magliana wie viele andere auch. Deshalb kann man das Komitee und die SUNIA nicht mehr vereinen.“ 403 Angela Zucconi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 155. „Ich bin mit einem Vater aufgewachsen, der leidenschaftlicher Kommunist war, meine Brüder sind leidenschaftliche Kommunisten […]. Jetzt betreiben sie im Tufello die Parteisektion […]. [D]iese Sektion hat nichts mit der von der Magliana zu tun, dort sind sie wirklich Genossen, das hier ist eine Sektion von Ignoranten. Ich hab es ihnen ins Gesicht gesagt was sie sind: Sie sind Faschisten, die sich als Kommunisten verkleiden.“

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brochen: Scharfe Polemiken wechselten ab mit Appellen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit.404 Im Bereich der Schulpolitik beispielsweise scheint eine längerfristige Zusammenarbeit zwischen Stadtteilkomitee und PCI zum einen aufgrund der besonderen ‚Rückständigkeit‘ der betreffenden Institution und der daraus resultierenden relativen Nähe der verschiedenen linken Positionen im Sinne von Mindestforderungen möglich gewesen zu sein.405 Zum anderen spielte sicherlich auch das recht eingeschränkte Interesse der Mehrheit des Stadtteilkomitees an schulinternen Fragestellungen und die daraus resultierende gesteigerte Handlungsfreiheit einzelner Aktivisten eine wichtige Rolle.406 Allerdings gab es auch andere Politikbereiche, die durchaus im Zentrum des Interesses der Organisationen der traditionellen Linken und der linken Basisstrukturen standen und in denen man dennoch gemeinsam agierte.407 Ein Politikfeld, auf dem die Einheit der Linken in der Magliana wohl fast immer gewährleistet war, bildete der Antifaschismus. Als beispielsweise am 23. April 1972 der lokale PCI-Sekretär der Magliana von Faschisten angegriffen wurde, reagierte das Stadtteilkomitee sofort mit einem Flugblatt, das bezugnehmend auf den Angriff vom Vortrag zum antifaschistischen Kampf aufrief und deutlich machte, dass Faschisten nichts in den sozialen Kämpfen im Stadtteil verloren hätten: „[…] (I) fascisti sono dalla parte dei padroni contro chi noi lottiamo.“408 Die antifaschistische Praxis des Stadtteilkomitees blieb allerdings nicht bei Solidaritätsappellen stehen: Als organisierte Faschisten der Avanguardia Nazionale einen Infiltrationsversuch bei einer spontanen Besetzung in der Magliana unternahmen, sorgten PCI, Stadtteilkomitee und Comitato di lotta per casa gemeinsam dafür, dass diese den Stadtteil verließen.409 Nach dem faschistischen Bombenanschlag von Brescia am 28. Mai 1974, bei dem sieben Teilnehmer einer antifaschistischen Gewerkschaftskundgebung getötet und 90 weitere verletzt wurden, rief das Stadtteilkomitee der Magliana noch am gleichen Tag in einem Flugblatt dazu auf ‚die Einheit der Arbeiter im Kampf zu stärken‘ und am Generalstreik am folgenden Tag teilzunehmen, zu dem die Gewerkschaften aufriefen.410 In dieses Politikfeld des Antifaschismus fügten sich prinzipiell auch alljährliche Rituale wie die Befreiungsfeiern am 25. April ein, die nicht unbedingt gemeinsam begangen wurden, aber dennoch in einem Geist der antifaschistischen Solidarität der gesamten Linken.411

404 So z.B. im Juli 1972, wenige Monate nach dem oben skizzierten ‚Pamphletkrieg‘, vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 10.7.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 405 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 187f. 406 Vgl. Agata Lombardi, in: Comitato di quartiere (1977), S. 189. 407 Vgl. Ausführungen von Andrea, einem Aktivisten des Stadtteilkomitees bei einer Diskussion im Stadtteilkomitee der Magliana im Mai 1976, vgl. Transkription der Diskussion in: Comitato di quartiere (1977), S. 211 – 229, hier: S. 220. 408 Flugblatt des Comitato di quartiere vom 24.04.1972, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „[…] [D]ie Faschisten stehen auf der Seite der Bosse, gegen die wir kämpfen.“ 409 Vgl. Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:04:55-1:09:05, vgl. Kapitel II, Anm. 442. 410 Vgl. Flugblatt des Comitato di quartiere vom 28.5.1974, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. 411 Zu den Befreiungsfeiern des Stadtteilkomitees, vgl. Spada (1976), S. 39 bzw. S. 56f.

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Eine ähnliche Einheit der lokalen Linken in der Magliana stellte sich auch angesichts des Pinochet-Putsches in Chile am 11. September 1973 ein, obwohl das jeweilige Objekt der Solidarität durchaus variieren konnte: Während für den PCI Allendes Linksbündnis Unidad Popular im Mittelpunkt des Interesses stand, waren für das Stadtteilkomitee der Magliana die chilenischen Nachbarschaftsorganisationen in den Stadtteilen interessanter als Regierung und Parteien. Kurz nach dem Putsch in Chile wurde vom Stadtteilkomitee eine öffentliche Versammlung in der Magliana einberufen, auf der vor hunderten Bewohnern des Stadtteils Repräsentanten der chilenischen Linken über die derzeitige Situation in ihrer Heimat, aber auch über die Geschichte der Stadtteilorganisationen in Chile sprachen und auf der anschließend Geld für den bewaffneten Widerstand in Chile gesammelt wurde.412

3.4 Epilog: Die Konjunkturen des Stadtteilkampfes und sein Ende Die Stärke des Stadtteilkomitees der Magliana fand vor allem in den Konjunkturen des autoriduzione-Kampfes ihren Ausdruck, die sich stets in zwei Variablen spiegelten: Einerseits in der schlichten Anzahl der an der autoriduzione beteiligten Familien und andererseits in der zahlenmäßige Stärke und Entschlossenheit der picchetti. Die Fähigkeit des Stadtteilkomitees, durch picchetti Räumungen zu verhindern, war dabei wesentlich für die Attraktivität der autoriduzione im Stadtteil. Das picchettaggio stand somit im Zentrum der politischen Ökonomie der autoriduzione, wie sie in der Magliana praktiziert wurde. Nachdem sich im Sommer 1971 über 1000 Mietparteien an der autoriduzione beteiligt hatten und die Motivation zur Teilnahme an den picchetti nach den erfolgreich verhinderten Räumungen im September 1971 zunächst recht groß gewesen war, sah sich das Stadtteilkomitee im Mai 1972, nach einem Jahr autoriduzione, mit einem deutlichen Rückgang der Motivation bei den autoriduttori einiger Immobiliengesellschaften konfrontiert, aktiv am picchettaggio teilzunehmen.413 Die Beschreibung Rosaria Palmas, die als Treppendelegierte an der autoriduzione in der Magliana beteiligt war, macht deutlich, dass man sich die Front der autoriduttori nicht als monolithisches Gebilde vorstellen darf, sondern als ein Kollektivsubjekt, welches in einem ständigen Prozess des making, un-making und re-making begriffen war: „Qui nella mia società dove sto, la partecipazione in principio era alta, in seguito c’è stato un momento nel quale la gente ha cominciato ad avere paura, con l’arrivo della polizia un paio di volte nel quartiere, e parecchi sono andati a pagare. Però in un secondo tempo […] parecchia gente che pagava intero ha ricominciato a rifare il decurto. Qui fluttua un po’.“414

412 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 84f. Den bewaffneten Widerstand in Chile organisierte v.a. der MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria), der nie zur Unidad Popular Allendes gehört hatte. 413 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 69. 414 Rosaria Palma, in: Comitato di quartiere (1977), S. 111-124, hier: 120. „Hier bei der Immobiliengesellschaft in der ich bin, war die Beteiligung am Anfang hoch. Dann kam ein

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Das Stadtteilkomitee versuchte, dem zwischenzeitlichen Abflauen der ‚Kampfmoral‘ entgegenzuwirken, indem es die bisherigen Erfolge des Kampfes hervorhob, aber auch die wahrscheinliche Zuspitzung des Konflikts unterstrich, die eine verstärkte Mobilisierung auf Seiten der autoriduttori notwendig mache.415 Die Zahl der autoriduttori scheint nach den Räumungen in den Wohnblöcken der Immobiliengesellschaft Malta im Februar und März 1973 zwischenzeitlich deutlich abgesunken zu sein.416 Im Frühsommer 1974 schlossen sich dagegen vor dem Hintergrund der juristischen Erfolge des Stadtteilkomitees und zahlreicher Hausbesetzungen in der Magliana circa 200 neue Familien der autoriduzione an.417 Um die Stärke des Stadtteilkomitees der Magliana – jenseits von autoriduzione und picchetti – zu bestimmen, erscheinen die allwöchentlichen Treffen als geeigneter Indikator: Jeden Freitag ab 21 Uhr fand die wöchentliche offene Versammlung des Comitato di quartiere in den besetzten Räumen in der Via Vico Pisano 83 statt, die das Stadtteilkomitee konstituierte. Da die Ablehnung der Delegation, die Offenheit der Struktur und die Abwesenheit von Funktionären grundlegend für die politische Logik des Stadtteilkomitees waren, war die politische Organisation nicht abstrakt definierbar, sondern nur als jene Gruppe von Menschen, die bei den wöchentlichen Treffen erschienen. Im ersten Jahr kamen circa 30 bis 40 Teilnehmer zu diesen wöchentlichen Treffen,418 von denen etwa 25 Personen kontinuierlich präsent waren und so den harten Kern des Stadtteilkomitees konstituierten.419 Hinzu kamen sporadische Teilnehmer, die anlassbezogen zu den Treffen erschienen und die Gesamtzahl der Anwesenden auf bis zu 80 erhöhten.420 Mit den Jahren etablierte sich allerdings eine zunehmende Trennung zwischen der etwa 15 bis 20-köpfigen Kerngruppe von Aktivisten, die sich mittlerweile zu

Moment, an dem die Leute anfingen Angst zu haben, als die Polizei ein paarmal ins Viertel kam und einige haben begonnen zu zahlen. Aber zu einem späteren Zeitpunkt […] haben einige, die voll zahlten, angefangen ihre Miete wieder zu kürzen. Hier schwankt es ein bisschen.“ 415 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 69. 416 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 80, vgl. auch Marcelloni (1974), S. 104, der zum Zeitpunkt des Abfassens seines Artikels von nur mehr gut 500 Familien ausgeht, die im Stadtteilkomitee der Magliana organisiert sind und autoriduzione betreiben. 417 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 90. 418 Vgl. Spada (1976), S. 61. 419 Vgl. Spada (1976), S. 89f. 420 Vgl. Spada (1976), S. 61, S. 89f. Diese Angaben werden bestätigt durch das Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, S. 35:05 – 35:30: „Il Comitato [...] aveva stabilito alcune regole molto semplici: Tutti venerdì sera c’era la riunione del comitato. Alle riunioni in genere non c’erano mai meno di 30, 40 – ma a volte la sala era piena c’erano 60, 70 persone. Era un comitato molto partecipato perché la lotta per l’autoriduzione aveva dei suoi meccanismi.“ „Das Komitee […] hatte einige sehr einfache Regel festgelegt: Jeden Freitagabend war die Versammlung des Komitees. Bei den Versammlungen waren in der Regel nie weniger als 30, 40 – aber manchmal war der Saal voll und es waren 60, 70 Personen. Es war ein Komitee mit großer Teilnahme, denn der Kampf für die autoriduzione hatte seine eigenen Mechanismen.“

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Spezialisten für die urbanistischen Probleme ihres Viertels entwickelt hatten, und ihrem Umfeld. Anstatt alle Interessierten wöchentlich zum Treffen des Stadtteilkomitees zu mobilisieren, wurden nun, immer wenn ein besonderer Anlass bestand, eine so genannte „conferenza-dibattito“421 organisiert, zu der Experten eingeladen wurden und zu der dann gewöhnlich über hundert Teilnehmer erschienen.422 Neben diesen Konferenzen für besonders Interessierte fungierten die assemblee popolare auf der Piazza der Magliana als Forum der Information und Agitation möglichst vieler Bewohner der Magliana: Sie wurden auf Flugblättern und Plakaten sowie mit einem durch das Viertel fahrenden Lautsprecherwagen beworben und konnten, wenn die Situation das Interesse steigerte, bis zu 500 Teilnehmer umfassen.423 Die Spezialisierung einer Kerngruppe von Aktivisten und die schleichende Passivierung des politischen Umfeldes, das nur noch zu besonderen Anlässen mobilisiert wurde, waren begleitet von einer politischen Diskussion unter einem Teil der Aktivisten, ob eine umfassendere politische Positionsbestimmung notwendig sei. Während ein Teil der Aktivisten im Stadtteilkomitee sich selbst als ‚Avantgarde‘ begriff und ab Herbst 1973 eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen zu den aktuellen Themen der ‚großen‘ Politik wie dem historischen Kompromiss, der Wirtschaftskrise oder der Situation in China veranstaltete, zu denen aber in der Regel nicht mehr als zwanzig Teilnehmer erschienen, sahen die anderen Aktivisten derartige Debatten als überflüssig an und wollten sich weiterhin auf die konkreten Belange im Stadtteil konzentrieren.424 Der explizite politische ‚Avantgarde‘ -Anspruch, den ein Teil des Stadtteilkomitees vorübergehend propagierte, verlor zwar bald wieder an Bedeutung, doch das Problem eines wachsenden Spezialistentums einer kleinen Minderheit der Aktivisten wurde immer virulenter und die Beteiligung an den kontinuierlichen Aktivitäten des Stadtteilkomitees war rückläufig.425 Bei einer Diskussion im Stadtteilkomitee im Frühjahr 1976 merkte eine Aktivistin selbstkritisch an: „All’inizio la lotta è andata avanti con iniziative di massa e altre forme di mobilitazione popolare; è poi venuto fuori che per vincere ci volevano altri strumenti che erano in mano a persone specializzate e di cui la gente difficilmente riusciva ad appropriarsi. Così molti hanno cominciato a pensare che non era poi vero che con l’organizzazione delle masse si può ottenere tutto, e che era necessaria una delega a persone più brave […] oggi mi sembra che tutto ruoti intorno al discorso che questi compagni riescono a

421 „Konferenz-Debatte“. 422 Vgl. Spada (1976), S. 61. 423 Vgl. Spada (1976), S. 54, S. 88f. 424 Vgl. Spada (1976), S. 50f. 425 Dass für die rückläufige Beteiligung am Stadtteilkomitee der Magliana eine verstärkte Ideologisierung des Konflikts zwischen der traditionellen und der Neuen Linken im Viertel ausschlaggebend gewesen sei, wie dies Grispigni (1990b), S. 12f. annimmt, lässt sich anhand der Quellen nicht belegen. Der ‚ideologische‘ Konflikt bestand von Anfang an und die punktuelle Zusammenarbeit nahm in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eher zu. Das Abflauen der Beteiligung im Stadtteilkomitee der Magliana war wohl alles andere als untypisch in den Stadtteilorganisationen der Zeit, vgl. Lutte (1977), S. 25ff., der für das Comitato case comunali schon deutlich früher von rückläufigen Teilnehmerzahlen ausgeht.

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sviluppare.“426 Mindestens ebenso wichtig wie die Zunahme technizistischer Diskussionen im Stadtteilkomitee und des damit verbundenen Spezialistentums bei einigen urbanistisch oder juristisch besonders qualifizierten Aktivisten war aber wohl die schlichte Tatsache, dass die erkämpften Räume ihren Bewohnern zunehmend sicher erschienen: „Io credo che la minore partecipazione sia […] dovuta al fatto che la gente si sente sicura di non essere più sfrattata.“427 So konnte man die rückläufige Beteiligung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durchaus auch als Ausdruck des eigenen politischen Erfolges interpretieren: „È chiaro che se oggi non siamo più costretti a fare picchetti contro gli sfratti è perché siamo riusciti ad affermare di fronte ai nostri avversari la nostra forza. […] La minore mobilitazione necessaria oggi per difenderci dalle minacce e dalle provocazioni è quindi un risultato positivo, un successo, non un limite.“428 Diese Argumentation wirkt durchaus plausibel angesichts der extremen Anstrengung, die der Kampf für die Aktivisten des Stadtteilkomitees zeitweise mit sich gebracht hatte. Versammlungen, picchetti, Demonstrationen, Besprechungen und Besetzungen hatten gerade viele junge Eltern jene knappe Zeit nach Feierabend oder an den Wochenenden gekostet, die man eigentlich gerne gemeinsam mit der Familie verbracht hätte. Nun, da die Räumungsdrohung nicht mehr wie ein Damoklesschwert ständig über den autoriduttori schwebte, nutzten sicherlich viele die Möglichkeit, ihre Freizeit wieder auf andere Art und Weise zu verbringen. In den späten 1970er Jahren brachte das Abflauen des italienischen Bewegungszyklus dann grundlegende Verschiebungen der politischen Fronten im Stadtteil mit sich: Ende 1976 löste sich mit Lotta Continua die in der Magliana wohl einflussreichste Gruppe der Neuen Linken auf. Viele ehemalige Militante von Lotta Continua, die zugleich im Stadtteilkomitee oder im Comitato di Lotta per la Casa aktiv waren, traten in der folgenden Zeit den Parteien der traditionellen Linken bei. Zu-

426 Ausführungen von Diana, einer Aktivistin des Stadtteilkomitees bei einer Diskussion im Mai 1976, vgl. Transkription der Diskussion in: Comitato di quartiere (1977), S. 223. „Am Anfang vollzog sich der Kampf über Masseninitiativen und andere Formen der Volksmobilisierung. Dann wurde deutlich, dass man zum Siegen anderer Mittel bedurfte und dass diese Mittel in der Hand spezialisierter Personen lagen und es den Leuten nicht leicht gelang, sich diese anzueignen. So begannen viele zu denken, dass es nicht wahr sei, dass man mit der Organisierung der Massen alles erreichen konnte, und sie meinten, dass eine Delegierung an die erfahrensten Personen nötig sei […]. Heute scheint es mir, dass sich alles um den Diskurs dreht, den diese Genossen entwickeln können.“ 427 Ausführungen von Alvaro, einem Aktivisten des Stadtteilkomitees bei einer Diskussion im Mai 1976, vgl. Transkription der Diskussion in: Comitato di quartiere (1977), S. 225. „Ich denke, dass die geringere Beteiligung […] der Tatsache geschuldet ist, dass die Leute sich sicher vor Räumungen fühlen.“ 428 Ausführungen von Andrea, einem Aktivisten des Stadtteilkomitees bei einer Diskussion im Mai 1976, vgl. Transkription der Diskussion in: Comitato di quartiere (1977), S. 228. „Es ist klar, dass wir heute nicht mehr gezwungen sind, picchetti gegen Räumungen zu machen, weil es uns gelungen ist, unseren Gegnern unsere Stärke zu beweisen. […] Dass heute eine geringere Mobilisierung nötig ist, um uns vor den Drohungen und Provokationen zu verteidigen ist also ein positives Resultat, ein Erfolg und kein Mangel.“

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gleich wuchs eine jüngere Generation von Aktivisten in der Magliana heran, die sich häufig der Autonomia Operaia anschlossen, jener Fraktion also, die in den späten 1970er Jahren eine radikale Alternative zu den inzwischen in die Jahre gekommenen Kräften der Neuen Linken darstellte.429 Insgesamt aber flaute die starke Basisbeteiligung in der Magliana in der zweiten Hälfte der 1970er ab und verschwand in den 1980er Jahren weitgehend. Andere Formen der Devianz traten in der öffentlichen Wahrnehmung an die Stelle des rebellischen Basisaktivismus: In den 1980ern wurde die Magliana zum Sinnbild für Delinquenz und Heroin und die berüchtigte Banda della Magliana zur Chiffre für organisierte Kriminalität in Rom.430 Nichtsdestoweniger endete der Kampf in der Magliana mit einem beachtlichen Erfolg der Basisbewegung. Die Wohnblocks, in denen autoriduttori und Besetzer lebten, waren wie auch viele andere Wohnblocks in der Magliana im Laufe der 1970er Jahre in den Besitz der Banca Nazionale del Lavoro (BNL) übergegangen, da die Immobilienunternehmer aufgrund der durch die Basiskämpfe entstandenen Einkommensausfälle ihre Kredite bei der Bank nicht zurückzahlten. In den frühen 1980er Jahren wollte die BNL ihren Immobilienbesitz in der Magliana peu à peu verkaufen, um so die entstandenen Kreditausfälle zu kompensieren. Um diese Perspektive abzuwenden, in der vor dem Hintergrund einer kaum mehr existierenden Mieterbewegung im Italien der 1980er Jahre Besetzer- oder autoriduttori-Familien gegen Käuferfamilien ausgespielt zu werden drohten, beschlossen die Mitglieder des Stadtteilkomitees und des Comitato di lotta per la casa trotz anfänglicher ideologischer Zweifel, schließlich selbst Verhandlungen mit der BNL über einen Verkauf der Wohnungen an ihre Bewohner aufzunehmen. Die Delegierten des Stadtteilkomitees und der Besetzer konnten zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition dabei immer noch auf die bei zahllosen picchetti unter Beweis gestellte Widerstandskraft der Basisbewegung in der Magliana verweisen: Die etwa 600 Besetzerfamilien und mindestens ebenso vielen autoriduttori-Familien in der Magliana wären gegen ihren Widerstand wohl nicht leicht zu räumen gewesen. Da die Verantwortlichen der BNL im Zuge der Verhandlungen nur darauf bestanden, ihre ausstehenden Kredite zurückzuerhalten, konnten sie die Wohnungen ihren Bewohnern deutlich unter Marktwert anbieten. Für jene Bewohner, die aufgrund ökonomischer Engpässe oder ihres Alters nicht an einem Kauf interessiert waren, handelten die Vertreter der Basisorganisationen ein neunjähriges Mietrecht zum Sozialmiettarif aus. Weit über 90% der Bewohner von BNL-Wohnungen in der Magliana entschlossen sich jedoch zum

429 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:14:45 – 1:15:20: „Calcola che lì già per esempio Lotta Continua [...] si era già sciolta nel ’76. [...] Noi continuavamo. Però noi non essendoci più Lotta Continua alcuni si sono avvicinati al PCI, altri sono andati nell’Autonomia Operaia – però pochi, molto pochi. Però una serie di ragazzi che ci stavano vicino allora sono entrati tutti nell’Autonomia Operaia [...].“ „Du musst bedenken, dass beispielsweise Lotta Continua […] sich schon ’76 aufgelöst hatte. […] Wir machten weiter. Aber einige von uns haben sich, da es Lotta Continua nicht mehr gab an den PCI angenähert, andere sind zur Autonomia Operaia gegangen – aber wenige, sehr wenige. Aber eine Reihe von jungen Leuten, die uns damals nahe standen sind alle zur Autonomia Operaia gegangen […].“ 430 Vgl. Bonomo (2003), S. 99.

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Kauf und so wurden circa 2000 Wohnungen der BNL zu etwa einem Drittel ihres Marktwerts an die Familien verkauft, die in ihnen lebten – gleich ob autoriduttori, Besetzer oder gewöhnliche Mieter.431 In letzter Instanz hatten sich die kämpferischen

431 Vgl. Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 38:25-41:55: „(Era) direi nel ’83. [...] Ormai la lotta era rifluita. [...] C’era il Craxismo. Noi eravamo molto preoccupati [...] perché era passata presso la Banca Nazionale del Lavoro, che era la proprietaria delle case occupate la linea di fare le vendite frazionate, cioè non di vendere in blocco [...] ma di vendere alloggio per alloggio. Allora noi ci rendevamo conto che se l’alloggio numero 22 della scala D [...] veniva venduta al Signor Rossi di Centocelle che comprava la casa per sua figlia che si era sposata e il signor Bianchi che era un occupante – era identico a quell’altro – doveva difendere la sua casa perché sarebbe venuto il Signor Rossi [...] a esigere la casa a lui. E non era più come all’ufficiale giudiziario. Quello aveva pagato la banca – magari poco rispetto al prezzo di mercato – però voleva casa per la sua famiglia. E le due famiglia si sarebbero scontrate in un modo molto segmentato, caso per caso. La prospettiva era agghiacciante in un quadro che mentre quando avevamo cominciato [...] negli primi anni settanta in tutta Italia c’erano grandi lotte per la casa [...]. Nel ’82 ’83 eravamo l’ultimo comitato che esistesse in Italia. Eravamo molto preoccupati. [...] E quindi cominciammo elaborare l’idea: ‚Vabe compriamocele noi allora.’ C’erano problemi ideologici: ‚Ma come diventi proprietario di casa?‘ [...] Noi discutemmo molto al comitato. Dicevamo: ‚[…] Sbarazziamoci di un fatto ideologico superficiale e se otteniamo certe condizioni che vadano bene a tutto il quartiere noi siamo disponibili ad acquistare le case.‘ Anche perché la nostra forza sta nel fatto che tutti sanno che se decidiamo di non farci cacciar via non ci cacceranno via.“ „(Es) war, würde ich sagen ’83. […] Inzwischen war der Kampf angeebbt. Es war die Zeit des Craxismo. Wir waren sehr besorgt […] denn in der Banca Nazionale del Lavoro, die die besetzten Häuser besaß, hatte sich die Linie der Teilverkäufe durchgesetzt, sprich nicht alles zusammen zu verkaufen […], sondern Wohnung für Wohnung. Wir bemerkten also, dass wenn Wohnung Nummer 22 vom Treppenaufgang D […] an Herrn Rossi aus Centocelle verkauft würde, der eine Wohnung für seine Tochter wollte, die geheiratet hatte, dass dann Herr Bianchi, der ein Besetzer und dem gleichgestellt war, gezwungen sein würde, seine Wohnung gegen Herrn Rossi zu verteidigen, der kommen würde um seine Wohnung einzufordern. Das war nicht mehr wie bei einem Gerichtsvollzieher. Der hatte die Bank bezahlt – vielleicht wenig im Vergleich zum Marktpreis – aber er wollte eine Wohnung für seine Familie. Und die zwei Familien wären auf sehr segmentierte Weise aufeinander getroffen, Fall für Fall. Diese Perspektive war entsetzlich angesicht der Gesamtsituation: Als wir in den frühen 1970er Jahren angefangen hatten, gab es große Kämpfe um Wohnraum in ganz Italien […]. ’82, ’83 waren wir das letzte Komitee, das in Italien existierte. Wir waren sehr besorgt. […] So entwickelten wir die Idee: ‚Okay, also kaufen wir sie uns.‘ Es gab ideologische Probleme: ‚Wie? Du wirst Wohnungseigentümer?‘ […] Wir diskutierten viel im Komitee. Wir sagten: ‚[...] Befreien wir uns von dieser oberflächlichen ideologischen Sache und wenn wir bestimmte Bedingungen erreichen, die für das ganze Viertel akzeptabel sind, sind wir bereit, die Wohnungen zu kaufen.‘ Auch weil unsere Kraft in der Tatsache liegt, dass alle wissen, wenn wir entscheiden, uns nicht rauswerfen zu lassen, dann werden sie uns auch nicht rauswerfen.“

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Familien der Magliana somit partiell durchgesetzt: Der Warencharakter des Wohnraums war zwar nicht aufgehoben, aber es war zur Festlegung eines „vernünftigen Preises“432 gekommen, als Vermittlung zwischen dem von den Mietern geforderten ‚moralischen‘ Preis und dem ‚ökonomischen‘ Preis der Marktmechanismen.433 Dennoch wurde anhand der Einigung auch deutlich, dass sich die politischen Koordinaten seit dem Beginn der Auseinandersetzung deutlich verschoben hatten: Ein zumindest in Grundzügen vergleichbares Verkaufsangebot der Vermieterseite im April 1973 hatte das Stadtteilkomitee noch mit dem Hinweis zurückgewiesen, es gehe nicht um das Eigentum an den Wohnungen, sondern um angemessene Mieten. Anfang der 1980er Jahre konnte man sich angesichts des Abflauens der urbanen Kämpfe und der konkreten Bedrohung durch den fraktionierten Verkauf eine derartige Haltung nicht mehr leisten. Nun galt es in Anbetracht der strukturellen Schwäche der italienischen Basisbewegungen vielmehr eine möglichst weitgehende Bestandssicherung dessen vorzunehmen, was man in den inzwischen längst vergangenen bewegten 1970er Jahren erkämpft hatte. Dieser Zielsetzung entsprach die Abkehr vom bisherigen direkten Politikstil und der Rekurs auf eine Leitidee bürgerlichen Denkens – das Privateigentum.

Und: Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 45:30-47:40: „E quindi ci attrezzammo a fare una trattativa con la Banca Nazionale del Lavoro. […] Presidente della Banca Nazionale del Lavoro allora era Nerio Nesi che era socialista e poi andò in Rifondazione (Comunista). [...] Disse: ‚Guardate, per noi l’unico problema è il rientrare del nostro credito.‘ [...] Si fecero dei conti. Noi tiravamo molto. E si scoprì che se la Banca Nazionale del Lavoro veramente voleva solo recuperare il credito [...] ciò che noi avremmo dovuto pagare era un terzo del prezzo di mercato di quelle case. [...] Noi ottenemmo che se qualcuno non avesse per motivi economici ecc aderito all’accordo poteva avere un affitto a canone sociale per nove anni. E ci fu una percentuale di quattro, quattro e mezzo percento delle famiglie – sopratutto anziani che dicevano: ‚Vabe ragazzi io c’ho 75 anni ma che mi metto adesso a compra’ casa.‘ [...] E per tutti questi avemmo il canone sociale. E tutto il quartiere aderì. Nel corso di due anni si fecero qualcosa come più di duemila passaggi di proprietà. Una cosa epica.“ „So bereiteten wir uns auf die Verhandlung mit der Banca Nazionale del Lavoro vor. [...] Der Präsident der Banca Nazionale del Lavoro war damals Nerio Nesi, der Sozialist war und später zur Rifondazione (Comunista) ging. […] Er sagte: ‚Schaut, für uns ist das einzige Problem, unseren Kredit wieder einzutreiben.‘ […] Es wurden Rechnungen gemacht. Wir drückten so gut wir konnten. Wir entdeckten, dass wir nur ein Drittel des Marktpreises der Wohnungen zahlen müssten, wenn die Banca Nazionale del Lavoro wirklich nur ihre Kredite eintreiben wollte. […] Wir erhielten die Zusage, dass Leute, die aus ökonomischen oder anderen Gründen nicht an der Abmachung teilnahmen, für neun Jahre zum Sozialmiettarif in ihren Wohnung bleiben durften. Es gab einen Anteil von vier, viereinhalb Prozent der Mietparteien, vor allem Alte, die sagten: ‚Okay Jungs, ich bin 75 Jahre alt, warum soll ich mir jetzt eine Wohnung kaufen.‘ […] Für all diejenigen erhielten wir den Sozialmiettarif. Das ganze Viertel machte mit. Im Laufe zweier Jahre kam es etwa zu über zweitausend Besitzerwechseln. Eine epische Geschichte.“ 432 Thompson (1980a), S. 128. 433 Vgl. Thompson (1980a), S. 117f.

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4 FAZIT 4.1 Klassenkonstitution und ‚moralische Ökonomie‘ in der Magliana Versucht man den Kampf des Stadtteilkomitees der Magliana in den frühen 1970er Jahren zu analysieren, wird rasch deutlich, dass eine ökonomistische Interpretation des Phänomens alleine kaum weiterhilft.434 Die Magliana war ein deutlich unterprivilegierter Stadtteil Roms, gehörte aber nicht zu den aller ärmsten Vierteln der italienischen Hauptstadt. Nicht nur in den Barackensiedlungen, auch in einigen borgate waren durchschnittliches Familieneinkommen und Sozialstatus der Bewohner niedriger als in der Neubausiedlung am Tiber – und dennoch kam es in kaum einem anderen Viertel Roms zu vergleichbar starken und langanhaltenden Stadtteilkämpfen.435 Interessanter erscheint es, die Klassenzusammensetzung der Magliana nicht am Ausgangspunkt, sondern – unter Rückgriff auf Überlegungen E. P. Thompsons – am Endpunkt der Kausalkette zu platzieren. Thompsons Diktum ‚class is a happening‘ 436 fasst mit synoptischer Prägnanz seine relationale und prozessuale Konzeption von Klasse:437 „Eine Klasse formiert sich, wenn Menschen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen […] die Identität ihrer Interessen empfinden und artikulieren, und zwar sowohl untereinander als auch gegenüber anderen, deren Interessen von ihren eigenen verschieden (und diesen gewöhnlich entgegengesetzt) sind. […] Klassenbewusstsein ist die Art und Weise, wie man diese Erfahrungen kulturell interpretiert und vermittelt: verkörpert in Traditionen, Wertesystemen, Ideen und institutionellen Formen.“438 Lindenberger unterstreicht die Bedeutung der Performanz für Thompsons Konzeption: „‚Klassenkonstitution‘ bezeichnet […] den Moment des Übergangs zum ‚Als-Klasse-Handeln‘.“439 Diesen ‚performativen‘ Klassenbegriff auf die Auseinandersetzungen anzuwenden, welche die Magliana in den 1970er Jahren prägten, heißt, weniger die ‚objektive‘ soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft in den Blick zu nehmen als vielmehr den Konflikt selbst als ‚Ort‘ zu begreifen, an dem sich Klassenkonstitution in praxi vollzog. Geht man von Thompsons performativem und prozessualem Klassenbegriff aus, so wirkt Vittorio Vidottos These, die vom Stadtteilkomitee der Magliana geführte Auseinandersetzung dürfe nicht als Form des Klassenkampfes missinterpretiert werden, sondern müsse schlicht als Konflikt um die Bedürfnisse zahlreicher Kleinfamilien verstanden werden, deplatziert.440 Auch die von Vidotto angeführte Tatsache,

434 Zur Zurückweisung ökonomistischer Interpretationsmuster in der Analyse sozialer Kämpfe vgl. Thompson (1980a), S. 67ff. 435 Zur sozialen Geographie Roms vgl. Agnew (1995), S. 114. 436 Edward P. Thompson (1981): The Making of the English Working Class. 3. Auflage, London, S. 939. 437 Vgl. Lindenberger (1995), S. 21. 438 Thompson (1987), S. 8. 439 Lindenberger (1995), S. 22. 440 Vgl. Vidotto (2006), S. 312f. Angesichts der tertiären Sozialstruktur Roms erscheint aber auch bei Zugrundelegung eines statischen soziologischen Klassenbegriffs fraglich, ob Vidotto Recht hat, wenn er argumentiert, weder die Sozialstruktur des Stadtteils noch die

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dass der Kampf in der Magliana in den späten 1970er Jahren abebbte und in den 1980er Jahren weitgehend einschlief, ist kein Beweis dafür, dass dort in den frühen 1970er Jahre kein erbitterter Klassenkampf ausgetragen wurde441 – die von Thompson entworfene dynamische Definition von Klasse impliziert die grundsätzliche Bedeutung der Zeitlichkeit für jede Beschreibung und grenzt seinen Klassenbegriff kategorial gegen Formen der soziologischen Reifikation ab:442 „(I)m Grunde kann diese Definition (einer Klasse, M.H.) nur im Medium der Zeit vorgenommen werden – Aktion und Reaktion, Veränderung und Kampf.“443 ‚Klasse‘ befindet sich somit ständig in einem Prozess des ‚making‘, ‚un-making‘ und ‚re-making‘, der jede statische Deskription ad absurdum führt: „Klassen existieren nicht als gesonderte Wesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklasse finden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil: Die Menschen finden sich in einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise […] strukturiert ist, machen die Erfahrung, dass sie ausgebeutet werden […], erkennen antagonistische Interessen, beginnen um diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich im Verlauf des Kampfes als Klassen und lernen diese Entdeckung allmählich als Klassenbewusstsein kennen. Klassen und Klassenbewusstsein sind immer die letzte, nicht die erste Stufe im realen historischen Prozess.“444 Nicht so sehr die Frage nach ökonomischen Zuständen, sondern vielmehr die nach ihrer kulturellen Vermittlung ist nach Thompson geeignet, Aufschluss darüber zu geben, wie widerständige Praktiken entstehen.445 Bei den Bewohnern der Magliana bildete offensichtlich das Gefühl, Opfer eklatanter Ungerechtigkeiten geworden zu sein, den Ausgangspunkt für ihr ‚Klassenhandeln‘. Viele Mieter von Privatwohnungen in der Magliana fühlten sich in zweifacher Weise betrogen: Erstens war der Stadtteil, in dem sie leben sollten, offenkundig unfertig und vollkommen mangelhaft in seiner Ausstattung mit Infrastruktur und öffentlichen Dienstleistungen. Zweitens waren sie gezwungen, für die gleiche Wohnung hohe römische Marktpreise zu zahlen, für die ihre Nachbarn niedrige kommunale Sozialmieten entrichteten. Um die Umsetzung der in der Magliana weit verbreiteten Wut in praktische Auflehnung zu begreifen, muss man einen zweiten Faktor einbeziehen: Die Mieter waren im eigenen Stadtteil mit gleich zwei Beispielen erfolgreicher Kämpfe konfrontiert, die ihren Partizipanten im Falle der INPDAI-Mieter eine 30%ige Mietreduktion bescherten und im Falle der Ex-baraccati aus Prato Rotondo sogar Sozialwohnungen eingebracht

Zusammensetzung des Stadtteilkomitees der Magliana sei proletarisch gewesen: „[…] (L)a dimensione sociale del quartiere era tutt’altro che proletaria, così come non era proletaria la composizione del comitato di quartiere.“ (Vidotto (2006), S. 312.) „[…] [D]ie soziale Dimension des Viertels war alles andere als proletarisch, ebenso wie die Zusammensetzung des Stadtteilkomitees nicht proletarisch war.“ Vidotto verweist dabei auf keinerlei spezifische Untersuchungen zur Magliana, sondern nur auf allgemeine Untersuchungen zur sozialen Zusammensetzung der römischen Stadtteilkomitees. 441 Vgl. Vidotto (2006), S. 312f. 442 Vgl. Lindenberger (1995), S. 21. Zu Thompsons Ablehnung eines statischen soziologischen Klassenbegriffs, vgl. Thompson (1980b), S. 264ff. 443 Thompson (1987), S. 963. 444 Thompson (1980b), S. 267. 445 Thompson (1980a), S. 68.

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hatten. Vor diesem Hintergrund erschien es nur logisch, sich gegen die skandalösen Zustände im Stadtteil und die Unmöglichkeit, trotz der eigenen Bedürftigkeit eine Sozialwohnung zu erhalten, offensiv zur Wehr zu setzen. Ausgangspunkt des Kampfes in der Magliana war also die Wut über eine subjektiv erfahrene Ungerechtigkeit eine Ungerechtigkeit mithin, die im Detail steckte und deren Wahrnehmung keine kritische Analyse der Mechanismen des römischen Immobilienmarktes oder gar der Logik kapitalistischer Akkumulation insgesamt voraussetzte. Gegen diese Ungerechtigkeit begannen zahlreiche Mieter der Magliana nun einen Kampf zu führen, der eher von dem geprägt war, was E.P. Thompson als ‚Legitimationsvorstellungen‘446 bezeichnete, als von weitreichenden politischen Analysen und Forderungen: So wurde durch die zentrale Kampfform der autoriduzione der Warencharakter von Wohnraum nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern eher eine alternative Preisfestsetzung im Sinne einer ‚moralischen Ökonomie‘ praktiziert, die sich zunächst an die Mietreduktion in den INPDAI-Wohnungen anlehnte und anschließend an den Sozialmiettarif. Der Regelverstoß der autoriduzione wurde so durch den Bezug auf alternative Regeln entschärft und mit Legitimität versehen. In der Auseinandersetzung mit den Spekulanten nahmen die Aktivisten des Stadtteilkomitees der Magliana häufig etwas Ähnliches für sich in Anspruch, wie die von Thompson untersuchten Volksbewegungen des 18. Jahrhunderts, nämlich „[…] den ‚Gesetzen‘ Geltung (zu) verschaffen […], weil die Behörden dies verweigerten“447 . Thompson verweist im Hinblick auf sein Konzept einer ‚moralischen Ökonomie‘ im England der 18. Jahrhunderts auf den im kollektiven Gedächtnis verankerten „alte(n) Brauch“, der „[…] als Zündstoff für Empörung in den Köpfen der Leute erhalten […]“ blieb.448 Sicherlich können jene Gedankenfiguren, die man als ‚moralische Ökonomie‘ der autoriduttori der Magliana bezeichnen könnte, nicht direkt auf vorkapitalistische Traditionen zurückgeführt werden. Sie knüpften wohl eher an jene Hochphasen sozialer Rebellion in der jüngeren italienischen Geschichte an, deren Andenken in der Linken Italiens nicht umsonst hochgehalten wurde: Unter anderem die massenhaften direkten Aktionen des „biennio rosso“449 1919/1920 dürften zumindest implizit als Bezugspunkt für das eigenen Handeln gedient haben.450 Jene Volksmassen, die 1919 in Italien angesichts von Lebensmittelknappheit und Preisauftrieb Geschäfte plünderten und Rathäuser besetzten verfolgten mit ihrem Handeln jedenfalls ganz ähnliche Ziele wie die Armen im England des 18. Jahrhunderts: „[…] ripristino della legalità contro la prepotenza […] di amministratori e commercianti […]“.451 Deutlich wurde dieser

446 Thompson (1980a), S. 69. 447 So Thompson (1980a, S. 100) in Bezug auf die Hungerunruhen im England des 18. Jahrhunderts. 448 Vgl. Thompson (1980a), S. 76. 449 „Die zwei roten Jahre“. 450 Zum „biennio rosso“ vgl. Fabio Fabbri (2009): Le origini della guerra civile. L’Italia dalla Grande Guerra al fascismo (1918-1921). Turin, hier v.a. S. 60-69; auch: Hans Woller (2010): Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. München, S. 77-86. 451 So Luigi Ponziani in seiner Analyse der Proteste in den Abruzzen, vgl. Luigi Ponziani (1988): Notabili, combattenti e nazionalisti. L’Abruzzo verso il fascismo. Mailand, S. 38. „

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Anspruch des Stadtteilkomitees, demzufolge das eigene Handeln auf die Wiederherstellung der legitimen Ordnung gerichtet war unter anderem, wenn es durch eine Popularklage vor Gericht in die Rolle der römischen Kommune schlüpfte und die Bauträger der Magliana im Namen der Öffentlichkeit auf Schadenersatz verklagte. Einen ähnlichen Anspruch erhoben die Aktivisten aber auch, wenn sie Baustellen in der Magliana besetzten, diese unter Verweis auf die Anforderungen des Stadtentwicklungsplans für illegal erklärten und versuchten, die Kommune durch ihr Handeln dazu zu zwingen, diese zu schließen. Immer wieder erhoben die rebellischen Mieter der Magliana also einen ähnlichen Anspruch wie Thompsons Arme des 18. Jahrhunderts oder die Akteure des „biennio rosso“: „‚[…] das Gesetz zu vollstrecken, da die Behörden es nicht achteten‘.“452 Anknüpfend an solcherlei weit verbreitete Gerechtigkeitsvorstellungen entwickelte das Stadtteilkomitee die praktische Seite des Kampfes: assemblee, autoriduzione, picchetti, Kundgebungen, Demonstrationen. Dabei war die Praxis der Auseinandersetzung – auch aufgrund der mangelnden institutionellen Unterstützung – geprägt von der direkten kollektiven Intervention der Betroffenen selbst. Das Stadtteilkomitee der Magliana griff dabei auf ein Repertoire direkter Politikformen zurück, welches der bürgerlichen politischen Logik diametral entgegenstand und durch die „[…] nicht-entfremdete, eigen-sinnige Interessenartikulation […] in unmittelbarer Nähe zum Körper und seinen Sinnen […]“453 charakterisiert war. An die Stelle der verbalen Argumentation, der indirekten Verfahren, der Repräsentation und des Staatsbezugs im bürgerlichen Politikmodell trat bei direkten Aktionen wie dem picchettaggio oder der Besetzung einer Baustelle der ‚Kurzschluss‘ zwischen Interesse und Person, der sich in der Anwendung identitätsstiftender symbolischer Gewalt äußern konnte.454 Diese Praxis einer direkten Politik gegenüber den Vermietern, den Justizbeamten, der Polizei und der Kommunalverwaltung verband sich auf das Engste mit der inneren Struktur des Stadtteilkomitees. Diese war von den Idealen von 1968 geprägt, die über einige wenige nachhaltig politisierte Aktivisten und die Erfahrungen, die einige andere Bewohner seit 1968 bei Kämpfen am Arbeitsplatz gesammelt hatten, ihren Weg in die Basisorganisierungsprozesse der Magliana fanden: Das Stadtteilkomitee begriff sich als basisdemokratischer Selbstorganisierungsansatz der kämpfenden Mieter der Magliana. Dementsprechend gab es keine Unterscheidung zwischen Funktionären und ‚einfachen‘ Mitgliedern. Zudem gab es keine mit einem Mandat versehenen Delegierten, sondern alle Entscheidungen mussten im Rahmen der Versammlungen des Komitees getroffen werden. Dabei blieb dieser emanzipatorische Anspruch nicht auf die an der autoriduzione beteiligten und so durch praktische Notwendigkeiten eng an das Stadtteilkomitee gebundenen Familien begrenzt: Für wichtige Belange, die das ganze Viertel betrafen, organisierte das Stadtteilkomitee

[…] die Wiederherstellung der Legalität gegen die Arroganz […] der Bürokraten und Händler [...].“ 452 Thompson (1980a), S. 100. 453 So Lindenbergers Definition der Straßenpolitik im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts, vgl. Lindenberger (1995), S. 17f. 454 Vgl. Lindenberger (1995), S. 17f.

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assemblee popolare auf der Piazza der Magliana und stellte seine Vorschläge vor allen interessierten Bewohnern des Stadtteils zur Diskussion. In letzter Instanz ging es also darum, die „democrazia dell’urna“ durch eine „democrazia dell’agorà“ zu ersetzen, und so eine „autogestione collettiva“ anstelle der „rappresentanza elettorale“ zu verwirklichen.455 Das direkte Politikmodell des Stadtteilkomitees im doppelten Sinne der massenhaften basisdemokratischen Beratungen und Entscheidungen und des direkten körperlichen Eingreifens bei Aktionen darf nicht von jenem Raum losgelöst gedacht werden, in dem sich die Aktivitäten verdichteten: Die physische Präsenz und die in der Hochphase der Mobilisierung zur Routine gewordenen politischen Praktiken von circa 1000 autoriduttori-Familien mit ihren abendlichen assemblee und frühmorgendlichen picchetti, ihren Demonstrationen und Initiativen in einem extrem dicht besiedelten Neubauviertel ohne angestammte Identität wie der Magliana führte bald zur Entstehung einer starken lokalen Gegenkultur.456 Ende 1974 beschrieb das Stadtteilkomitee den eigenen Kampf – natürlich in agitatorischer Absicht – als „[…] scontro quotidiano tra i lavoratori di un quartiere di 40 milla abitanti, come è la Magliana, e l’oppressione sociale della città, del capitalismo, dello sfruttamento, della corruzione e della speculazione.“457 Die Stadt Rom erschien hier als eine Unterdrückungsinstanz neben Kapitalismus, Ausbeutung, Korruption und Spekulation oder zumindest als sozialräumliche Verdichtung derselben. Gegen diese Stadt versuchten das Stadtteilkomitee und die anderen Basisinitiativen der Magliana eine lokale Gemeinschaft, eine rote, populäre Magliana zu schaffen. In diesem Kampf schwang immer die Vorstellung eines mythischen ‚quartiere organico‘458 mit, das zugleich als Ausgangspunkt des Kampfes vorausgesetzt und als Ziel angestrebt wurde. Eine angemessene historische Analyse muss sich vor der logozentrischen Verkürzung hüten, die hier beschriebenen Formen der politischen Praxis seien als Mittel ihrem (vermeintlichen) programmatischen Zweck untergeordnet:459 Die Materialität der politischen Alltagspraxis schrieb sich in die Subjektivität der Beteiligten weit tiefer ein als ihre politisch-programmatischen Feinheiten. Die emanzipatorische Eigenlogik direkter Politikformen – die weder aus idealistischen Erwägungen heraus gewählt noch den Zielsetzungen der Akteure instrumentell untergeordnet waren, son-

455 Vgl. De Mucci (1985), S. 278. „Demokratie der Urne“; „Demokratie der Agora“; „kollektive Selbstverwaltung“; „Repräsentation durch Wahlen“. 456 Für einen raumpolitische geschärften Begriff von Gegenkultur vgl. Löw (2001), S. 226f. Auch Grispigni verweist auf die Bedeutung einer ‚lokalen Subkultur‘ für die Stadtteilkomitees, vgl. Grispigni (1990b), S. 10. 457 Lotta Continua vom 22.11.1974, in: Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa, Bl. 68. „[…] alltäglichen Zusammenstoß zwischen den Arbeitnehmern eines Stadtteils mit 40.000 Bewohnern, wie der Magliana und der sozialen Unterdrückung der Stadt, des Kapitalismus, der Ausbeutung, der Korruption und der Spekulation.“ 458 Grispigni (1990b), S. 6, ‚organischer Stadtteil‘. Zur Idee lokaler Gemeinschaften in der Stadtsoziologie vgl. Heinz Reif (2006): Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden. Center for Metropolitan Studies (CMS) Working Papers Series Nr. 1, S. 11f. 459 Vgl. Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 3 (2007), S. 43 – 65, hier: S. 50f.

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dern anfangs schlicht aufgrund praktischer Notwendigkeiten und unter dem Eindruck des gesellschaftlichen Zeitgeists adaptiert wurden – sollten mit der Zeit mehr zum Distinktionsmerkmal des Stadtteilkomitees werden, dessen Politik bald nicht mehr nur auf materielle Verbesserungen abzielte, sondern auf die Selbstermächtigung der Beteiligten. Für viele Aktivisten des Stadtteilkomitees stand rückblickend fest, dass ihr politisches Bewusstsein durch den Kampf entstanden war: „Dalla lotta abbiamo imparato che il nemico di classe ti frega in tutte le maniere, ti frega sulla casa, ti frega sul lavoro, ti frega sui trasporti, ti frega su quello che compri, ti frega dappertutto e quindi è lottando che tu diventi sempre più antagonista del tuo nemico di classe.“460 Vor allem jene, die zuvor noch nie an einer direkten politischen Auseinandersetzung teilgenommen hatten und ohne eine klare politische Identität in die Magliana gezogen waren, erlebten den Aktivismus im Stadtteilkomitee als Geburtsstunde ihres Klassenbewusstseins: „La mia maturità, la coscienza della mia classe, di me come operaia l’ho avuto attraverso la lotta che faccio nel quartiere per la casa, perché solo facendo la lotta ti scontri subito con il nemico di classe con i padroni del potere […].“461 Der Unterschied zu gewerkschaftlichen Kämpfen am Arbeitsplatz erschien vielen Aktivisten der Magliana als enorm: „(S)ono quasi quattro anni che vivo alla Magliana, quello che ho imparato qui in quattro anni non l’ho imparato in venti anni nel sindacato. […] Ecco cosa fa il sindacato: non ti fa fare la lotta, non ti fa crescere.“462 Die Erfahrung, dass politisches Bewusstsein nicht im Zuge abstrakter Debatten, sondern praktischer Auseinandersetzungen entstand, wurde so bald zu einem festen Bestandteil der strategischen Ausrichtung des Kampfes.463 Basierend auf seinem direkten Politikstil erweiterte das Stadtteilkomitee der Magliana seine Interventionsfelder rasch und schloss bald auch Fragen der Bildung und Kultur, der Lebenshaltungskosten und Gesundheitsversorgung ein und strebte so eine umfassende „socializzazione dei bisogni“464 an. Die zu befriedigenden Bedürfnisse wurden dabei stets radikal subjektiv aus der Perspektive der betroffenen Akteure definiert und ihre Befriedigung, wo immer es möglich war, direkt ins Werk gesetzt.

460 Lucia, zitiert nach: Comitato di quartiere (1977), S. 15. „Durch den Kampf haben wir gelernt, dass dich der Klassenfeind auf jede erdenklich Art und Weise bescheißt. Er bescheißt dich bei der Wohnung. Er bescheißt dich bei der Arbeit. Er bescheißt dich bei den Verkehrsmitteln. Er bescheißt dich bei dem, was du kaufst. Er bescheißt dich überall und so stehst du im Lauf des Kampfes deinem Klassenfeind immer unversöhnlicher gegenüber.“ 461 Rosaria Palma, in: Comitato di quartiere (1977),S. 115. „Meine Reifung, mein Klassenbewusstsein als Arbeiterin habe ich durch den Kampf erlangt, den ich im Stadtteil für Wohnraum führe, denn nur wenn du kämpfst kommt es zum Zusammenstoß mit dem Klassenfeind, mit den Herrn der Macht […].“ 462 Rosaria Palma, in: Comitato di quartiere (1977), S. 116. „(S)eit fast vier Jahren wohne ich in der Magliana. Das was ich hier in vier Jahren gelernt habe, habe ich in zwanzig Jahren in der Gewerkschaft nicht gelernt. […] Das ist es, was die Gewerkschaft macht: Sie lässt dich nicht kämpfen, sie lässt dich nicht wachsen.“ 463 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 13ff. 464 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 18. „Sozialisierung der Bedürfnisse“.

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Ordnet man den Kampf des Stadtteilkomitees der Magliana in Castells’ Typologie der urbanen Bewegungen ein, so lässt sich dieses zunächst als Organisation charakterisieren, die im Kampf um Fragen des ‚kollektiven Konsums‘ entstand und auf lokaler Ebene das voranzutreiben versuchte, was man in Anlehnung an Castells als ‚decommodification of the city‘465 bezeichnen könnte – als Versuch den Tauschwert durch den Gebrauchswert als oberstes Prinzip des urbanen Lebens zu ersetzen.466 Allerdings bildete sich im Kampf um die Bedürfnisse der Bewohner der Magliana auch eine starke lokale Gemeinschaft heraus – und das nicht zuletzt, weil die Durchsetzung der Anliegen nicht delegiert, sondern unmittelbar selbst in die Hand genommen wurde. Während also Fragen des kollektiven Konsums eindeutig den Ausgangspunkt der Basisagitation darstellten, scheinen sich die Dimensionen des ‚selfmanagement‘467 im Sinne von Selbstverwaltung, Autonomie und Antiautoritarismus sowie der ‚community‘468 im Sinne einer gegenkulturellen Identitätsstiftung vor allem im Laufe des Kampfes in praxi entwickelt zu haben.469 Der Kampf des Stadtteilkomitees der Magliana umfasste somit alle drei der von Castells skizzierten Dimensionen urbaner Konfliktualität und kann daher Castells folgend als ‚urban social movement‘ definiert werden, das auf eine umfassende Transformation des ‚urban meaning‘ abzielte.470

4.2 Das Ende der Ära der Stadtteilkomitees Um Mitte der 1970er Jahre setzten in vielen anderen Stadtteilen Roms ähnliche Entwicklungen ein wie in der Magliana: Die durch Basisorganisationen wie parteiunabhängige Stadtteilkomitees gebündelte soziale Konfliktualität ließ nach und die von derartigen Basisdynamiken in die Defensive gedrängten Parteien dehnten ihren Einfluss wieder aus.471 Ausschlaggebend für diese Entwicklung war eine ganze Reihe von Faktoren. Zum einen muss die Schwächung der Ansätze zur Organisierung der betroffenen Bevölkerung in den Stadtteilen zur makroökonomischen Entwicklung in Bezug gesetzt werden. Die Zuspitzung der italienischen Wirtschaftskrise, der Ausstieg Italiens aus der europäischen Währungsschlange und die weltweiten Auswirkungen des Ölschocks führten ab 1973 zu einer galoppierenden Inflation, die lokale Basisstrukturen wie das Stadtteilkomitee der Magliana dazu zwang, ihren exklusiven Bezug auf

465 Castells selbst spricht nur von „commodification“ und „recommodification of the city“, gegen die sich die urbanen Bewegungen zur Wehr setzen, vgl. Castells (1983), S. 312 und 316. 466 Vgl. Castells (1983), S. 319. 467 Vgl. Castells (1983), S. 320f. 468 Vgl. Castells (1983), S. 319 und 321. 469 Dieser Umstand ist mit Castells’ Theorie nicht zu fassen, da dieser davon ausgeht, dass das Handeln aller Akteure auf ihre Ziele rückführbar ist, vgl. Castells (1983), S. 320. 470 Vgl. Castells (1983), S. 326f. 471 Vgl. Grispigni (1990b), S. 12.

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das eigene Viertel aufzugeben und sich der staatlichen Krisenpolitik zuzuwenden. Im Falle der Magliana geschah dies – wie auch in vielen anderen Stadtteilen Roms – vor allem durch die autoriduzione von Stromrechnungen. Die Krise zwang so lokale Basisstrukturen dazu, die ausschließliche Fokussierung auf die sozialen Probleme im eigenen Nahraum aufzugeben und sich den großen Themen der nationalen Politik zuzuwenden. Damit aber erfolgte eine Reskalierung472 der Auseinandersetzung, welche die Machtverhältnisse zwischen den lokalen Basisstrukturen und ihren Gegnern nachhaltig modifizierte: Hatte man zuvor vor allem einen Konflikt mit einer Handvoll wichtiger römischer Immobilienspekulanten ausgetragen, so richtete sich das widerständige Handeln nun gegen die staatliche Strompreispolitik und in letzter Instanz die staatliche Krisenpolitik insgesamt. Damit sah man sich jedoch einem ungleich mächtigeren Widerpart gegenüber und musste eine weitgehende Entwertung der wesentlichen eigenen Machtressource, nämlich der Verankerung und Mobilisierungsfähigkeit im Stadtviertel, hinnehmen. Dieser Erkenntnis entsprach das Vorgehen des Stadtteilkomitees der Magliana: Man schloss sich bei der Strompreisreduktion der Turiner Metallarbeiterföderation an, im Vertrauen darauf, dass diese sehr viel eher als ein Stadtteilkomitee in Verhandlungen mit der Gegenseite eine Reduktion der Aufschläge erreichen könne. Damit aber praktizierte das Stadtteilkomitee eine Form der indirekten Politik durch Delegation, Verhandlung und Mediation, die es eigentlich ablehnte. Während so durch die von der Krise erzwungene Reskalierung der Auseinandersetzung im Kampf gegen den carovita der Protagonismus der Stadtteilsstrukturen in Frage gestellt wurde, unterminierten zugleich urbane Entwicklungstendenzen die soziale und kulturelle Basis lokaler Graswurzelpolitik: Nach dem rapiden Wachstum der 1950er und 1960er Jahre kam es in den 1970er Jahren erstmals zu einer Stagnation der römischen Einwohnerzahl, die aber von einer beginnenden Neuzusammensetzung der Stadt überlagert wurde, im Zuge derer sich die proletarische und traditionell links orientierte cintura rossa der Hauptstadt aufzulösen begann. Die schleichende Heterogenisierung der vormals recht homogenen subalternen Stadtteile der römischen Peripherie hinterließ ihre Spuren in der Vorstellungswelt der Bewohnerschaft und hebelte zunehmend die Verankerung jener bewegungsorientierten Basisstrukturen aus, für die ein subalterner „quartierismo“473 stets Ausgangspunkt ihres Handelns gewesen war.474 Die quartieri popolari und die borgate wurde im Zuge der Metropolitanisierung Roms zunehmend zu Teilen einer Peripherie ohne eindeutige Klassenidentität.475 So wurde die Politik der bewegungsorientierten Stadtteilkomitees im Zuge der 1970er Jahre gewissermaßen gleichzeitig von oben und von unten ausgehebelt: Von oben durch eine staatliche Krisenpolitik, die als Generalangriff auf die Lebensqualität der subalternen Bevölkerungsschichten interpretiert wurde und nach

472 Zur ‚Politics of Scale‘-Debatte vgl. z.B. Markus Wissen (2008): Zur räumlichen Dimensionierung sozialer Prozesse. Die Scale-Debatte in der angloamerikanischen Radical Geography – eine Einleitung, in: Ders./Bernd Röttger/Susanne Heeg (Hg.): Politics of Scale. Räume der Globalisierung und Perspektiven emanzipatorischer Politik. Münster, S. 8-32; Brenner (2000). 473 Grispigni (1990b), S. 5. 474 Vgl. Grispigni (1990b), S. 10. 475 Vgl. Grispigni (1990b), S. 21.

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einer Antwort verlangte, zu der die lokalen Initiativen kaum imstande waren, da der Konflikt auf der nationalen Skala verortet war und von unten durch die beginnende Auflösung der politischen Resonanzräume. Neben den Folgen struktureller Veränderungen wie der Wirtschaftskrise und der Rekomposition des urbanen Raumes spielten aber auch ereignishafte Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der zunehmenden Schwächung der italienischen Stadtteilstrukturen ab Mitte der 1970er Jahre. So durchkreuzten die Wahlsiege der Linken bei den Regional- und Kommunalwahlen 1975 und 1976 die bisherige politische Logik der rebellischen Stadtteilinitiativen: Hatten linke Parteien und autonome Basisinitiativen bisher in den christdemokratischen Regional- und Lokalregierungen einen gemeinsamen Gegner und so trotz aller Differenzen häufig zusammen agiert, so fiel dieser Gegner nun häufig weg und wurde durch linke Regional- und Kommunalregierungen ersetzt. So auch in Rom, wo 1976 der für den PCI angetretene parteilose Kunsthistoriker Giulio Carlo Argan eine Mehrheit für die Linke eroberte. Aktivisten der linken Parteien sahen sich nun nicht mehr in der Rolle, auf lokaler Ebene Protest und Widerstand zu organisieren, sondern begriffen sich vielmehr als Organisatoren des Konsenses für ‚ihre‘ Stadtregierung. Auch die parteiunabhängigen Basisorganisationen sahen sich gegenüber den reformorientierten Kommunalregierungen in einer völlig neuen Rolle, die zwischen konstruktiver Mitarbeit und kritischer Distanz changierte. Ein weiterer Faktor für das Abflauen der Basisdynamiken ab Mitte der 1970er Jahre war die fortschreitende Dezentralisierung der Lokalpolitik im Rom dieser Jahre. Ihren Anfang hatte die Entwicklung mit der Einführung der consigli circonscrizionali476 1966 genommen. Anfang der 1970er Jahre war es dann unter dem Eindruck der nach 1968 deutlich anwachsenden Basisdynamiken in den Stadtvierteln zu einer Neueinteilung der circonscrizioni477 und der Erhöhung ihrer Anzahl von 12 auf 20 gekommen, was die ‚Bezirksräte‘ als lokale Gegenentwürfe zu den Graswurzelorganisationen näher an die Bürger und ihre Sorgen bringen sollte.478 Mit dem Sieg der Linken bei den römischen Kommunalwahlen 1976 begann diese die Dezentralisierung der Lokalpolitik von oben voranzutreiben und so die institutionellen Alternativen zu den Prozessen der Basisorganisation zu stärken: Waren die ‚Bezirksräte‘ zunächst entsprechend den Mehrheitsverhältnissen bei der Stadtratswahl proportional besetzt worden, führte die römische Kommunalregierung 1977 ihre Direktwahl ein, was ihnen ein höheres Maß an Legitimität und Bedeutung verschaffen sollte.479 In den Augen der Parteien war Dezentralisierung gleichbedeutend mit Mitbestimmung und so der Königsweg aus jener ‚Krise der Demokratie‘, die viele Beobachter im Italien der 1970er konstatierten.480 Im Zuge dieser Entwicklung wurden viele Stadtteilkomitees zunehmend von konfliktualen Basisorganisationen zu politischen ‚Filtern‘ zwischen Bürgern und Institu-

476 Etwa: ‚Bezirksräte‘. 477 ‚Stadtbezirke‘. 478 Vgl. Grispigni (1990b), S. 8. 479 Vgl. Grispigni (1990b), S. 18. Die erste Direktwahl erfolgte dann 1981, vgl. Grispigni (1990b), S. 19. 480 Vgl. Grispigni (1990b), S. 8.

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tionen. Dieser Domestizierung der Stadtteilkomitees stand dabei aber keineswegs eine emanzipatorische Erneuerung der Parteien von unten gegenüber: „È successo, invece, che i partiti hanno avuto la capacità di ,metabolizzare‘ i fermenti della democrazia urbana e di sviluppare per conseguenza nuove strategie di insediamento negli spazi ‚prepolitici‘ dei quartieri […].“481 So erreichte der Zugriff der Parteien auf die Zivilgesellschaft um Mitte der 1970er Jahre seinen Höhepunkt.482 Auf Dauer konnten wohl nur wenige Stadtteilkomitees dieser ‚tödlichen Umarmung‘ 483 durch die Parteien entkommen und so wurden die Komitees zunehmend von Organen der Basispolitik zu Transmissionsriemen der großen (partei-)politischen Maschine:484 Partizipiert wurde nun – wenn überhaupt – nicht mehr an den, sondern durch die Stadtteilkomitees.485 Mit der zunehmenden Integration der Stadtteilkomitees als nachrangige Funktionsorgane in den Prozess der Dezentralisierung ging auch eine Metamorphose der inneren Strukturen der ehemals parteiunabhängigen Komitees einher: Formen der direkten Demokratie erschienen zunehmend dysfunktional und wurde durch die Herausbildung ‚effizienter‘ Führungsstrukturen abgelöst.486 Doch das Abklingen konfliktualer Basispolitik in den Stadtteilen darf nicht einzig als Folge ökonomischer und urbanistischer Strukturveränderungen und Resultat machiavellistischen Parteikalküls interpretiert werden. Es war auch Ausdruck einer bewegungspolitischen Zeitenwende: Der italienische ‚maggio strisciante‘487 war im ganzen Land im Abklingen begriffen und der lange Atem der Basisakteure – nicht nur in der Magliana – schien erschöpft.

481 De Mucci (1985), S. 279. „Stattdessen hatten die Parteien die Fähigkeit das Ferment der urbanen Demokratie ‚abzubauen‘ und als Konsequenz neue Strategien zu entwickeln, um sich in den ‚vorpolitischen‘ Räume der Stadtteile einzunisten […].“ 482 Vgl. Crainz (2003), S. 420; De Mucci (1985), S. 57; Grispigni (1990b), S. 14. 483 Grispigni (1990b), S. 14. 484 Vgl. Grispigni (1990b), S. 13ff. 485 Grispigni (1990b), S. 16. 486 Vgl. De Mucci (1985), S. 266. 487 ‚Schleichender Mai‘ – Synonym für den langen italienischen Bewegungszyklus nach 1968.

II „La lotta per la casa“1: Der Besetzungszyklus 1973/74

Der eklatanten Mangel an erschwinglichem und zumutbarem Wohnraum in Rom bildete nicht nur den Hintergrund der Mieterkämpfen wie sie anhand der Magliana im Kapitel I dargestellt wurden, sondern führte auch immer wieder zu Versuchen sich Wohnraum durch Besetzung direkt anzueignen und somit die Marktmechanismen nicht nur partiell außer Kraft zu setzen, wie dies im Zuge der autoriduzione der Fall war, sondern sie komplett auszuhebeln.2 Häufig verliefen die Hausbesetzungen in zyklischen Konjunkturen: Verbreitete sich die Kunde von einer anfangs erfolgreichen Besetzung, so zogen bedürftige Familien in anderen Stadtteilen nach und versuchten ihrerseits Wohnraum zu besetzen. Ein solcher Besetzungszyklus, der sich allerdings aufgrund seiner bis dato unbekannten Dimensionen deutlich von seinen Vorläufern unterschied, soll im Folgenden untersucht werden, um die beteiligten Akteure und ihr praktisches Vorgehen genauer zu beleuchten: Im Herbst 1973 besetzen zahlreiche bedürftige Familien zunächst in der borgata San Basilio und bald darauf in der Magliana Wohnblocks. Anfang 1974 vervielfältigten sich die Besetzungen in zahlreichen Vierteln der italienischen Hauptstadt und wurden von staatlicher Seite mit harter Repression beantwortet. Seinen Schlusspunkt fand der Besetzungszyklus mit den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Besetzern und der Polizei im September 1974 in San Basilio. Im Folgenden soll versucht werden, in einer kreisenden Bewegung, ausgehend von einer genauen Analyse der ersten Besetzungen Ende 1973, den Klimax des Besetzungszyklus 1973/4 in den Blick zu nehmen, sein blutiges Ende en detail zu untersuchen und anschließend kurz die Auswirkungen einer erfolgreichen Besetzung für die Mikropolitik in einem ausgewählten Stadtteil darzustellen. Da der römische Besetzungszyklus der Jahre 1973/4 seinen Ausgang in San Basilio, einer borgata im römischen Nordosten, nahm und dort knapp ein Jahr später auch seinen Schlusspunkt finden sollte, erscheint es zunächst notwendig, den konkreten sozialtopographischen Kontext, in dem sich der Konflikt entwickelte und zuspitzte, zu umreißen.3

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„Der Kampf um Wohnraum“. Vgl. Abschnitt I.1.2. dieser Arbeit. Der zweite Stadtteil, der eine herausgehobene Rolle im Zuge des Besetzungszyklus spielte, war die Magliana. Da dieser Stadtteil aber im Kapitel I schon ausführlich betrachtet wurde, ist hier keine gesonderte Einführung mehr nötig.

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1 VORGESCHICHTE : SAN BASILIO – EINE RÖMISCHE BORGATA 1.1 Entstehung und Entwicklung von San Basilio Die borgata San Basilio entstand in den Jahren 1928 bis 1930 zwischen den beiden Ausfallstraßen Via Nomentana und Via Tiburtina im Nordosten Roms, zwölf Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt. Sie diente wie die anderen borgate dieser Jahre als Auffangbecken für jene Teile der städtischen Unterschichten, denen im Zuge der faschistischen Umstrukturierung Roms ihre angestammten Lebensräume durch den Bau repräsentativer Großprojekte oder bürgerlicher Wohnviertel entzogen wurden, und für die neu in die Hauptstadt ziehende Landbevölkerung.4 Die Lebensbedingungen der borgatari5 waren schlecht: Die Bausubstanz der borgata war völlig mangelhaft und es war für die Bevölkerung San Basilios aufgrund der großen Distanz zum Zentrum und der schlechten Anbindung der borgata ausgesprochen schwer, einer Arbeit in Rom nachzugehen. Eine Teilnahme am städtischen Leben war für die borgatari praktisch unmöglich.6 Die in San Basilio angesiedelten Familien lebten zudem höchst beengt: Im Durchschnitt teilten sich 4,5 Menschen einen Raum. Angesichts der elenden Lebensumstände in der borgata wirkte es wie ein Hohn, dass die faschistischen Planer die mangelhaften Häuschen so angeordnet hatten, dass aus dem Flugzeug das Wort DUCE zu lesen war.7 In der Nachkriegszeit wuchs die borgata schrittweise an. 1954 ließ der IACP (Istituto Autonomo Casa Popolari)8 als Erbe der vom Faschismus hinterlassenen Häuschen diese abreißen und ersetzte sie durch größere und modernere Wohnblocks. Zu den bereits in San Basilio lebenden Familien kamen in diesen Jahren Flüchtlingsfamilien aus Julisch Venetien und Dalmatien, Rückkehrer aus den ehemaligen italienischen Kolonien und ausgebombte Familien aus dem römischen Stadtteil San Lorenzo. Im Zuge der olympischen Spiele in Rom 1960 erhielten dann zahlreiche Familien aus Barackensiedlungen Wohnungen in San Basilio. Seit den 1950er Jahren entwickelte sich die borgata zudem zum Zentrum eines lokalen Baubooms, der von privaten Spekulanten getragen wurde, die sich den Wertaufschwung durch die Infrastruktur der borgata zunutze machten. So entstanden ab Mitte der 1950er Jahre neue illegale Siedlungen wie die so genannte borgatella von San Basilio oder die borgata von San Cleto jenseits aller Bauvorschriften und der Maßgaben des Stadtentwicklungsplans. Neben den Großprojekten namhafter Spekulanten wie dem Großgrundbesitzer Anacleto Gianni kauften aber auch zahlreiche zugezogene Familien kleine Flächen, um darauf ohne Baugenehmigung ein Häuschen für sich zu bauen. An der Kommune war es dann, die illegalen Siedlungen mit fundamentaler Infrastruktur und den notwendigen Dienstleistungen wie Straßen, Kanalisation und Schulen zu verse-

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Vgl. Giorgio Carpaneto u.a. (Hg.): I quartieri di Roma. Rom 1997, S. 690f.; Anna Rosa Montani: Le comunità locali urbane. Quartieri e centro di Roma. Rom 1993, S. 86. Begriff, der die Bewohner einer borgata bezeichnet. Vgl. Carpaneto (1997), S. 690f. Vgl. Anna Rosa Montani (1993): Le comunità locali urbane. Quartieri e centro di Roma. Rom, S. 86; Maria Rita Parsi (1976): Animazione in borgata. Rom, S.24f. Der IACP ist die auf kommunaler Ebene angesiedelte Agentur für sozialen Wohnungsbau.

II „L A LOTTA PER LA CASA “: D ER B ESETZUNGSZYKLUS 1973/74

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hen.9 So legte sich mit der Zeit um den Kern San Basilios, der aus Wohnblocks des IACP bestand, ein peripherer Ring aus privaten Bauten.10 1961 wurde San Basilio der Status eines quartiere, also eines offiziellen Stadtviertel Roms zuteil. Unter ‚San Basilio‘ wurde fortan nicht mehr einzig die historische borgata, sondern auch das gesamte Gebiet zwischen Via Casal S. Basilio, Via Nomentana, Raccordo Anulare und Via Tiburtina verstanden. Der Stadtteil umfasste so neben den IACPWohnblocks auf der Fläche der historischen borgata auch den von privaten Trägern illegal erbauten Gürtel.11 Die 1960er Jahre waren für viele Bewohner San Basilios von der Hoffnung geprägt, dass die neue Mitte-Links-Kommunalregierung im Zuge der Umsetzung des neuen Stadtentwicklungsplans von 1962 die private Spekulation zurückdrängen und die borgate mit sozialen Dienstleistungen versorgen würde. Gegen Ende der 1960er machte sich jedoch Enttäuschung breit:12 Polemisch wurde angemerkt, dass die einzige große öffentliche Investition, die im peripheren Nordosten der Stadt getätigt worden war, der Bau des Gefängnisses Rebibbia gewesen sei.13 L’Unità schätze die Bewohnerschaft der borgata Anfang der 1970er Jahre auf über 30.000 Bewohner,14 Il Messaggero ging hingegen davon aus, dass sich die Zahl der Bewohner von 26.000 im Jahr 1961 bis Mitte der 1970er Jahre auf etwa 60-70.000 gesteigert hatte.15 Doch die borgata war nicht nur gewachsen, auch die Bevölkerungszusammensetzung hatte sich verändert: Mittlerweile stellten Migranten aus dem Süden einen wesentlichen Teil der Bewohnerschaft.16 Die Lebensqualität in San Basilio veränderte sich hingegen kaum: 1974 beschrieb Renato Gaita die Situation in L’Unità folgendermaßen: „I palazzi dell’IACP sono stati costruiti all’insegna del risparmio e i risultati si vedono, scale strette e buie, muri scrostati, fogne insufficienti, cortili polverosi d’estate, fangosi d’inverno. Sono tante le famiglie che vivono in dieci, in dodici persone in due o tre stanzette. Né le cose vanno meglio per quanto riguarda la scuola. La situazione è ancora più drammatica, aule e scuole insufficienti, doppi

9 Vgl. Carpaneto (1997), S. 695f. 10 Vgl. Carpaneto (1997), S. 696. Carpaneto geht für die 1990er Jahre von ca. 4.000 Familien in den IACP-Wohnungen des ‚Zentrums‘ von San Basilio und ca. 1.500 Familien in den Wohnungen privater Besitzer in der Peripherie aus. Dabei sei der ‚indice di affollamento‘ (Überbelegungsindex) in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, obwohl in San Basilio das Phänomen der ‚coabitazione‘ (Zusammenwohnen zweier Familien in einer Wohnung) weiterhin existiere. Da seit den 1970er Jahren keine wesentlichen Neubauten in San Basilio zu verzeichnen sind, können wir diese Zahlen für die Mitte der 1970er ansetzen und von ca. 4.000 IACP-Wohnungen in San Basilio ausgehen, die durch ca. 1.500 Wohnungen privater Immobilienbesitzer im Umland ergänzt wurden. 11 Vgl. Montani (1993), S. 86 und S. 91f. 12 Vgl. L’Unità vom 15.9.1974, S. 10. 13 Vgl. Il Manifesto vom 13.9.1974, S. 3. 14 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 7. 15 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 3. Allerdings scheint hier Vorsicht angebracht: Nur eine Seite weiter sind es auch für Il Messaggero wieder nur 40.000 Bewohner, vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 4. 16 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 7; Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 3.

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turni, una scuola elementare (40 aule), 1 media (38 aule), 1 asilo con appena 70 posti, e una nuova scuola media in costruzione. Inutile aggiungere che scuole superiori non esistono. In pratica il 50 per cento degli aventi diritto non frequenta le scuole dell’obbligo o non finisce i corsi, appena il dieci per cento di ragazzi continua a studiare oltre i 14 anni e gli universitari si contano sulle dita di una mano.“17 Il Messaggero schätzte die Arbeitslosigkeit in der borgata auf 20%, ansonsten sei nach wie vor der nur saisonal beschäftigte Hilfsarbeiter die zentrale Figur des lokalen Arbeitsmarktes.18 Für die Jugendlichen der borgata stellte die Straße das Zentrum ihrer Lebenswirklichkeit dar: „Del resto, dove potrebbero andare altrimenti? Manca tutto, inutile parlare di campi sportivi, palestre e di giardini attrezzati. Biblioteche e altri impianti, poi, restano un miraggio. […] La serie di record negativi continua anche nel campo della sanità. Manca il pronto soccorso, niente ambulatori, […] esiste una sola farmacia che di notte è sempre chiusa […]. Tutto questo in una borgata che ha il tasso di mortalità infantile più alto di tutta la città, dove i casi di epatite virale e di tifo sono all’ordine del giorno grazie alle marrane ancora scoperte, alle fogne insufficienti, […] alla sporcizia, alla mancanza di acqua in alcune zone di San Basilio.“19 Auch wenn diese Darstellung reißerisch erscheint, belegen Zahlen die benannten Probleme der borgata eindrücklich: Der Überbelegungsindex in San Basilio war mit 1,44 Personen pro Zimmer einer der höchsten Roms, die Kindersterblichkeit in der borgata war 2,5-mal höher als in der römischen Innenstadt und etwa 30% der Schüler in der borgata schlossen ihre Pflichtschule nicht ab, weil sie zum Familieneinkommen beitragen mussten. Die Einführung eines Drei-Schicht-Systems aufgrund des Mangels an Schulräumen in San Basilio dürfte die Abbrecherquote noch zusätz-

17 L’Unità vom 10.9.1974, S. 7. „Die Wohnblocks des IACP wurden möglichst kostensparend gebaut und das sieht man: enge dunkle Treppen, abgeschabte Wände, unzureichende Kanalisation, Innenhöfe, die im Sommer staubig, im Winter schlammig sind. Viele Familien leben zu zehnt oder zu zwölft in zwei oder drei Zimmern. Auch in Sachen Schule sieht es nicht besser aus. Die Situation ist hier noch dramatischer: Unzureichende Gebäude und Klassenzimmer, doppelte Unterrichtsschichten, eine Grundschule (40 Klassenzimmer), 1 Mittelschule (38 Klassenzimmer), ein Kindergarten mit nur 70 Plätzen und eine neue Mittelschule, die sich im Bau befindet. Unnötig hinzuzufügen, dass keine Oberschule existiert. Tatsächlich gehen 50 Prozent der schulpflichtigen Kinder nicht zur Schule oder schließen die Pflichtschule nicht ab. Nur zehn Prozent der Kinder gehen nach dem 14. Lebensjahr noch zur Schule und die Studenten lassen sich an einer Hand abzählen.“ 18 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 3. 19 L’Unità vom 10.9.1974, S. 7. „Was könnten sie auch anderes tun? Es fehlt an allem: Sportplätzen, Turnhallen und Parks. Bibliotheken und andere Einrichtungen sind ein Wunschtraum. […] Die Serie der Negativrekorde geht in Sachen Gesundheit weiter. Es fehlt eine Notaufnahme, eine Krankenstation […]. Es gibt nur eine Apotheke, die nachts immer geschlossen ist […]. All das in einer borgata, die die höchste Kindersterblichkeit der Stadt hat, wo Hepatitis und Typhus alltäglich sind, weil die Wassergräben immer noch nicht abgedeckt sind, die Kanalisation unzureichend ist, […] wegen dem Schmutz und dem Wassermangel in einigen Teilen San Basilios.“

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lich erhöht haben.20 Zudem blieb die Verkehrsanbindung der borgata an das Zentrum stets mangelhaft, was für die zahlreichen Pendler den Arbeitstag nachhaltig verlängerte.21 San Basilio landete so in der sozialen Topographie der italienischen Hauptstadt zusammen mit drei anderen peripheren Stadtteilen in der untersten Kategorie und gehörte damit zu den am stärksten unterprivilegierten 10% der 38 römischen quartieri und suburbi.22 Ende der 1970er Jahre hatte San Basilio von allen römischen quartieri das mit Abstand niedrigste Pro-Kopf-Einkommen und zugleich den höchsten Anteil an abhängig Beschäftigten.23 Diese objektive Marginalisierung der Bevölkerung der borgata San Basilio verband sich auf das Engste mit einem Stigma, das den borgatari auch anhaftete, wenn sie ihr Viertel hinter sich ließen.24 Die negative Konnotation San Basilios als Hort von Delinquenz führte zu einem Teufelskreis der Marginalisierung, da der Wohnort selbst eine Hürde auf der Suche nach Arbeit und der damit verbundenen sozialen Integration darstellte.25 Tatsächlich war Kleinkriminalität in San Basilio angesichts von Armut und Marginalisierung wohl nicht selten. Die Delinquenz der Peripherie war dabei stets stark symbolisch konnotiert. Il Manifesto versuchte 1974 das Spezifikum des kleinkriminellen borgataro so zu fassen: „[…] (Q)uello che distingue ‚il borgataro‘, il sanbasilese […] è la coscienza profonda […] di una condizione impostagli dal sistema, dallo stato borghese; ha infatti un suo codice morale da cui non transige mai: non toccare un proprio simile o un compagno. E la rabbia esplode sempre contro lo stato e chi lo difende, come la polizia.“26 Mag diese Darstellung auch deutlich vom Standpunkt des Betrachters beeinflusst gewesen sein, so scheinen in den 1970er Jahren in der metropolitanen Peripherie Italiens doch Selbstentwürfe Konjunktur gehabt zu haben, in denen Delinquenz als Praxisform erschien, in der sich Fragen von Notwendigkeit und Gerechtigkeit – von Kriminalität und Politik – überschnitten.27 Hintergrund der Verbindung von Delinquenz und Politik war die ausgeprägte Politisierung der urbanen Peripherie im Rom der 1970er Jahre: San Basilio war ein exemplarischer Ausschnitt dessen, was der römische PCI dieser Jahre als cintura rossa bezeichnete – eine von den städtischen Unterschichten geprägte Peripherie, in

20 Vgl. Parsi (1976), S. 27ff. 21 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 7. 22 Vgl. Agnew (1995), S. 114. Wobei hierbei zu berücksichtigen ist, dass Agnews Zahlen von 1981 stammen. 23 Vgl. De Mucci (1985), S. 87. 24 Vgl. z.B. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 3. 25 Vgl. z.B. Montani (1993), S. 83 und S. 108f. 26 Il Manifesto vom 13.9.1974, S. 3. „[…] [D]as was den Borgataro, den Bewohner San Basilios unterscheidet […], ist das tiefe Bewusstsein darüber […], dass die Bedingungen ihm vom System, vom bürgerlichen Staat aufgezwungen sind. Er hat tatsächlich einen eigenen Moralkodex, von dem er nie abweicht: nie einen Seinesgleichen oder einen Genossen anzurühren. Die Wut richtet sich immer gegen den Staat und die, die ihn verteidigen, wie die Polizei.“ 27 Vgl. Emilio Quadrelli (2004): Andare ai resti. Banditi, rapinatori, guerriglieri nell’Italia degli anni Settanta, Rom.

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der die politische Linke hegemonial war. Als beispielsweise die Democrazia Cristiana 1974 ein Referendum mit dem Ziel durchsetzte, das Scheidungsrecht abzuschaffen, erreichte die Zurückweisung dieses Ansinnens in San Basilio einen Spitzenwert: Während die Ablehnung – großstadttypisch – im römischen Durchschnitt bei 68% lag, stimmten in San Basilio sogar fast 80% der Bevölkerung dagegen.28 Bei den Wahlen Anfang der 1970er Jahre erreichte der PCI in der borgata Stimmenanteile von über 50%.29 Angesichts dieser Fakten wirkt es nicht erstaunlich, dass De Mucci San Basilio in einem soziopolitischen Schema der römischen Stadtteile als das am weitesten links stehende aller Viertel einordnet.30

1.2 Soziale Kämpfe in San Basilio Die Bevölkerung von San Basilio hatte in der Nachkriegsgeschichte Roms immer wieder eine zentrale Rolle in den sozialen Kämpfen inne, die in der Peripherie der italienischen Hauptstadt ausgefochten wurden. In San Basilio und der nahegelegenen borgata Tiburtino III° waren schon in den 1950er Jahren die vom PCI angeführten Kämpfe um bessere Lebensverhältnisse besonders stark gewesen.31 1964 fanden in San Basilio und in den Stadtteilen Tufello, Primavalle, Trullo und Cinecittà erste spontane Besetzungen von Sozialwohnungen des IACP statt. Auch im Kontext der Besetzungswelle, die im Zuge der Studentenproteste ab Mai 1968 losbrach, tauchte der Name San Basilio wieder in den Zeitungen auf: Die außerparlamentarischen Studentenorganisationen propagierten die Besetzung leerstehender IACP-Wohnungen und die bedürftigen Familien in San Basilio schritten zur Tat, ähnlich wie in den Stadtteilen Pietralata, Trullo und Montecucco.32 In diesem Zeitraum wurde auch die Grundlage der Verankerung der außerparlamentarischen Linken in San Basilio gelegt: Engagierte Medizinstudenten entschlossen sich, ihre Kenntnisse den bedürftigen Bewohnern der römischen Peripherie kostenlos zur Verfügung zu stellen und besetzten Räume in San Basilio, um dort ein ambulatorio33 für die Bevölkerung der borgata aufzubauen.34 Diese kontinuierliche Präsenz der außerparlamentarischen Linken in San Basilio wurde bald ergänzt durch eine lokale Sektion von Lotta Continua, deren Augenmerk sich zunächst vor allem auf die Arbeiterschaft der Fabriken an der Via Tiburtina richtete. Mitte Juli 1969 kam es wieder zu Hausbesetzungen in San Basilio: Barackenbewohner aus San Basilio eigneten sich leerstehende IACP-Wohnungen in der borgata an.35 Zudem entwickelte sich in San Basilio Anfang der 1970er Jahre

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Vgl. Vidotto (2006), S. 317. Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 7. Vgl. De Mucci (1985), S. 110. Vgl. Il Manifesto vom 13.9.1974, S. 3. Vgl. Sirleto (1998), S. 44f. und S. 50. Das ambulatorio von San Basilio war eine selbstverwaltete Krankenstation. Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. Vgl. auch: Cristiano Armati (2008): Cuori rossi. Rom, S. 237. 35 Vgl. Sirleto (1998), S. 52.

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wie in vielen anderen römischen borgate eine starke Bewegung für die autoriduzione der Mieten36, die sich 1974 schließlich – ähnlich wie in der Magliana – auch auf die Stromrechnungen ausweitete.37 In den Jahren 1970 und 1971 entwickelte sich aus dem lokalen Consiglio di zona der Metallarbeitergewerkschaft eine starke Bewegung in vielen der Fabriken entlang der Via Tiburtina gegen die Gesundheitsbelastung der Mitarbeiter und die Umweltbelastung der umliegenden Wohnviertel. Die Bewegung, die Fragen der Umwelt und Gesundheit mit Aspekten der sozialen Gerechtigkeit verband, fasste bald auch in nahegelegenen Stadtteilen wie San Basilio Fuß und schuf dort durch die Verbindung zwischen Fabrik- und Stadtteilkämpfen die Voraussetzung für ein solidarisches Verhältnis von lokaler Industriearbeiterschaft und marginalem Subproletariat.38 Anfang der 1970er Jahre konstituierte sich in San Basilio – wie in zahlreichen anderen Stadtteilen Roms – zudem ein Stadtteilkomitee, das Basisinitiativen zu Fragen der Wohnungsknappheit, der mangelhaften Kanalisation und der schulischen Unterversorgung in der borgata entwickelte.39 Nicht immer verliefen die Auseinandersetzungen in geordneten Bahnen: Als beispielsweise 1960 der DC-Bürgermeister Urbano Cioccetti zu einem Wahlkampfauftritt nach San Basilio kam, wurde die borgata von Tumulten erschüttert.40 1971 wiederholten sich ähnliche Szenen, als der christdemokratische Bürgermeister Clelio Darida im Zuge seines Wahlkampfs von der Stadtverwaltung angelegte Gärten in San Basilio einweihen wollte. Als ein von Darida mitgebrachter AstronomieProfessor den Bewohnern von San Basilio zu ihrer guten Luft gratulierte, welche er an seinem Wohnort im gutbürgerlichen Stadtviertel EUR so vermisse, wurde er niedergepfiffen. Als der gekränkte Professor daraufhin die Bewohner San Basilios als ‚africani‘41 titulierte, kam es zur Straßenschlacht: Die Bühne, von welcher aus Darida und Medi gesprochen hatten, wurde gestürmt, zerstört und verbrannt. Die Polizei rückte mit massiven Kräften an und versetzte die borgata für 48 Stunden in einen

36 Vgl. Il Manifesto vom 13.9.1974, S. 3. 37 Vgl. Flugblatt (ohne Datum), das zur 50%igen Reduktion der Stromrechnungen aufruft und vom Comitato di autoriduzione San Basilio sowie fünf weiteren Stadtteilstrukturen und Delegierten von fünf Fabrikkomitees unterzeichnet ist, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187. 38 Vgl. Il Manifesto vom 13.9.1974, S. 3. 39 Vgl. Parsi (1976), S. 30; Montani (1993), S. 90. 40 Vgl. Interview eines Bewohners von San Basilio durch Maurizio Traversari, zitiert nach Montani (1993), S. 107. Der Bürgermeister wollte im Rahmen seines Wahlkampfauftritts den neuen Markt von San Basilio einweihen. Um der Bevölkerung vor Ort seine Fürsorge zu signalisieren, ließ er auch die Zufahrtswege zum Markt asphaltieren. Da diese Arbeit aber erst in der Nacht vor dem Auftritt des Bürgermeisters ausgeführt wurde und so die Lieferwägen am nächsten Morgen im noch weichen Asphalt stecken blieben, wurde die Wahlkampfinszenierung zum Desaster: Es kam zu einer Straßenschlacht und zu Verhaftungen, da die Bewohner der borgata das Chaos auf den Zufahrtsstraßen zum Markt als emblematisch für die Heuchelei des hier ohnehin wenig beliebten DC-Politikers Cioccetti empfanden. 41 ‚Afrikaner‘.

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Belagerungszustand.42 Nicht jede Konfrontation mit der Polizei im Stadtteil hatte dabei einen dezidiert politischen Hintergrund: 1972 kam es beispielsweise zu Auseinandersetzungen, als die Polizei mutmaßliche Diebe in der borgata festnehmen wollte. Aus dem eher banalen Anlass entwickelte sich schnell eine Konfrontation, in deren Verlauf die Polizei zahlreiche Tränengasgranaten verschoss und Schlagstöcke gegen Menschenansammlungen einsetzte. Wiederholte persönliche und kollektive Negativerfahrungen mit der Staatsgewalt scheinen auch die Grundlage dafür gelegt zu haben, dass sich Teile der Bevölkerung der borgata im Sommer 1973 mit den Häftlingen des angrenzenden Gefängnisses Rebibbia solidarisierten, als es dort zu einer Häftlingsrevolte gegen die unzumutbaren Zustände kam.43

2 DER BESETZUNGSZYKLUS 1973/4 2.1 November 1973 – Auftakt des Besetzungszyklus 2.1.1 Startschuss in San Basilio Am Abend des 5. November 1973 kam es zu einer großen Hausbesetzung in San Basilio: 130 Familien besetzten Wohnungen in sechs soeben fertiggestellten, aber noch leerstehenden Wohnblocks des IACP in der Via Montecarotto und einem weiterem Gebäude des IACP in der Via Fabriano.44 Die an der Besetzung beteiligten Familien stammten zum Großteil aus der borgata selbst und lebten dort in völlig überfüllten Wohnungen bei Verwandten.45 Für Unmut hatte in San Basilio die Tatsache gesorgt, dass bei der Vergabe der neuen Sozialwohnungen bedürftige Familien aus der borgata selbst wohl kaum berücksichtigt worden wären.46 Die Besetzung vom 5. Novem-

42 Vgl. Interview mit einem Bewohner San Basilios durch Maurizio Traversari, zitiert nach Montani (1993), S. 107f. Auch Rivolta di Classe nennt das gleiche Ereignis, verlegt es aber fälschlicherweise in das Jahr 1970 zurück, vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi Nr. 65. 43 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 44 Vgl. Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4; L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. 45 Diese Erkenntnisse stammen aus einem von der Präfektur durchgeführten Zensus unter den Besetzerfamilien, vgl. Tozzetti (1989), S. 287. 46 Die Ursache war der Vergabemodus des IACP, durch den es möglich war, dass in einem der unterprivilegiertesten Stadtteile Roms hunderte Sozialwohnungen entstanden, ohne dass die Bevölkerung vor Ort davon profitierte. Die IACP-Wohnungen in San Basilio gehörten zu einer Tranche von ca. 600 Wohnungen des IACP, die gegen Ende 1973 in den Stadtteilen Tiburtino Nord, Pietralata und San Basilio fertiggestellt wurden. Ein Großteil der Wohnungen sollte nicht nach den gewöhnlichen Vergabekriterien der IACP vergeben werden, sondern war für Familien aus der Villa Gordiani und Tiburtino III reserviert, die in IACP-Wohnungen lebten, die nun abgerissen werden sollten. Die verbleibenden 285 Wohnungen sollten dann entsprechend den IACP-Vergabekriterien verteilt werden, vgl. Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5.

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ber war schon der zweite Versuch der beteiligten Familien – ein erster Besetzungsversuch einige Zeit zuvor war rasch durch eine Räumung der Polizei beendet worden. Nach dieser ersten Räumung hatten die Besetzer begonnen sich enger zu organisieren und hatten mit dem Comitato di lotta per la casa von San Basilio eine Basisorganisation gegründet, die der außerparlamentarischen Linken und insbesondere Lotta Continua nahestand.47 Bei ihrem zweiten Anlauf waren die Besetzer besser organisiert und suchten umgehend den Dialog mit dem IACP.48 Scharfe Kritik an den Besetzungen kam von Anfang an von der lokalen Sektion der kommunistischen Partei, die die Besetzung verurteilte, da so anderen bedürftigen Familien die Wohnungen weggenommen würden.49 Tatsächlich war zu Beginn der Besetzung aber wohl nur ein Bruchteil der 136 besetzten Wohnungen schon vergeben. Diese waren jenseits des eigentlichen Vergabemodus des IACP direkt an die Familien vergeben worden, deren IACP-Wohnungen in Tiburtino III und Villa Gordiani abgerissen werden sollten. Zahlreiche dieser Familien hatten den erzwungenen Umzug nach San Basilio aber wohl abgelehnt: Ein IACP-Funktionär erklärte angeblich gegenüber den Besetzern, dass 21 von 29 Familien aus der borgata Tiburtino III, denen Wohnungen in den nun besetzten Wohnblocks zugewiesen worden waren, sich weigerten, nach San Basilio zu ziehen und stattdessen IACPWohnungen im Stadtteil Monti del Pecoraro forderten. Für jene Wohnungen, die entsprechend dem Vergabemodus der IACP verteilt werden sollten, standen hingegen noch gar keine Bezieher fest.50 Nach einem Treffen mit einem IACP-Funktionär beriefen die Besetzer eine Versammlung ein und beschlossen folgenden Vorschlag: 60 der inzwischen 136 besetzten IACP-Wohnungen in San Basilio sollten an bedürftige Familien aus San Basilio selbst vergeben werden. Während die Besetzer also versuchten, die Argumente gegen ihre Aktion zu entkräften und in Dialog mit den zuständigen Institutionen zu treten, erfolgte am Morgen des 8. November die Räumung. Da das Gespräch die Besetzer ihrem Ziel aber nicht wesentlich näher brachte, beschlossen sie daraufhin, die Wohnungen erneut zu besetzen.51 Neu an der Besetzung in San Basilio war weniger der Ablauf an sich, der sich mit seinem Wechsel von Räumungen und beharrlichen Wiederbesetzungen einerseits und der Suche der Besetzer nach dem Dialog mit den verantwortlichen Institutionen andererseits in recht ‚klassischen‘ Bahnen bewegte, als die soziale Zusammensetzung der Besetzerfamilien. Lotta Continua beschrieb diese folgendermaßen: „A San Basilio […] non sono più i baraccati che si rifiutano di pazientare, a passare all’azione diretta. Sono operai, lavoratori che non sono disposti ad accettare di farsi derubare di metà del loro salario. […] Ne sono ormai investiti (nella lotta per la casa, M.H.) strati sempre maggiori di lavoratori, delle fabbriche, dei servizi, dei cantieri; cui si aggiungono artigiani e proletari sfrattati dal centro per la ristrutturazione,

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Vgl. Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4; Tozzetti (1989), S. 286f. Vgl. Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4; Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. Vgl. Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4; Lotta Continua vom 10.11.1973, S. 4. Vgl. Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5; Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4; Lotta Continua vom 10.11.1973, S. 4.

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sempre più massiccia in vista dell’anno santo.“52 Während also der starke Anstieg der Verbraucherpreise im Allgemeinen und der Mietpreise im Besonderen immer breitere Teile der römischen Bevölkerung vor existenzielle Probleme und somit vor radikale Entscheidungen stellte, wurde diese Entwicklung durch die von der Stadtverwaltung forcierte Aufwertung der römischen Innenstadtbezirke noch verstärkt.53

2.1.2 Fortsetzung in der Magliana Wenige Tage nachdem der Besetzungsreigen in San Basilio begonnen hatte, kam es auch in der Magliana zu einer großen Besetzung: Am 9.11.1973 wurden 246 Wohnungen einer privaten Immobiliengesellschaft in der Via Pescaglia 93 durch zunächst 220 Familien besetzt.54 Die Familien waren im Comitato di lotta per la casa der Magliana organisiert, einer Basisorganisation, die maßgeblich von Aktivisten von Lotta Continua und dem PdUP ins Leben gerufen worden war.55 Viele der beteiligten Familien hatten bereits in den letzten Jahren an Kämpfen für Wohnraum teilgenommen und in diesem Kontext auch ihre ersten Erfahrungen mit Besetzungen gemacht.56 Im Frühherbst 1973 hatte ein erster Kern des späteren Besetzerkomitees be-

52 Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4. „In San Basilio [...] sind es nicht mehr die Barackenbewohner, die sich weigern, sich zu gedulden und zur direkten Aktion schreiten. Es sind Arbeiter und abhängig Beschäftigte, die nicht bereit sind, sich die Hälfte ihres Lohnes stehlen zu lassen. […] (An den Hausbesetzungen, M.H.) sind jetzt immer breitere Schichten der Fabrikarbeiter, der Arbeiter im Dienstleistungsbereich, der Bauarbeiter beteiligt, zu denen Handwerker und Proletarier kommen, die aus ihren Wohnungen im Zentrum zwangsgeräumt wurden, um für die Umstrukturierung Platz zu machen, die mit dem näherrückenden Heiligen Jahr immer massiver wird.“ 53 Vgl. Lotta Continua vom 9.11.1973, S. 4. 54 Anfangs standen noch 26 Wohnungen in der Via Pescaglia leer. Diese wurden in den folgenden Tagen an bedürftige Familien vergeben, was angesichts zahlreicher Interessenten aber kein Problem darstellte. Die Zahl der Besetzerfamilien in der Magliana stieg so innerhalb von zwei Tagen auf 246 an – wodurch nun alle Wohnungen im Wohnblock der Via Pescaglia 93 besetzt waren. Anschließend wurde eine Liste für Familien eröffnet, die ebenfalls eine Wohnung besetzen wollten, aber in den Blocks der Via Pescaglia 93 keinen Platz mehr fanden und nun nach anderen Objekten Ausschau hielten, vgl. Lotta Continua vom 13.11.1973, S. 4. Die Besetzung in der Via Pescaglia 93 ist aufgrund der höheren Quellendichte sehr viel besser rekonstruierbar als die Besetzung von San Basilio oder die bald folgenden anderen Besetzungen in der Magliana. Deshalb wird die Besetzung der Via Pescaglia 93 im Folgenden im Mittelpunkt stehen. 55 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 87 und Lotta Continua vom 22.11.1973, S. 3. Dass die Besetzerkomitees in San Basilio und in der Magliana den gleichen Namen trugen, verweist darauf, dass dieselben Kräfte der außerparlamentarischen Bewegung – allen voran Lotta Continua – bei ihrer Gründung Pate standen. Allerdings bedeutet das nicht, dass die beiden Besetzungen von Anfang an eng koordiniert gewesen wären. 56 Vgl. Lotta Continua vom 11.11.1973, S. 1 und Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4.

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gonnen, Versammlungen in verschiedenen Stadtteilen Roms einzuberufen und sich als Comitato di lotta per la casa zu organisieren.57 Bald wuchs das Komitee auf 120 verbindlich organisierte Familien an. Angesichts zahlreicher Besetzungen in Rom im Herbst 1973, die aber rasch wieder geräumt wurden, rechneten die Aktivisten des Komitees mit einem langen Kampf, bei dem es nötig sein würde, nicht nur Wohnungen zu besetzen, sondern auch die Sichtbarkeit der Bewegung in der Öffentlichkeit zu erhöhen, um schließlich Erfolg zu haben. Im Zuge dieser langfristig angelegten Auseinandersetzung sollte eine erste große Besetzung für Öffentlichkeit sorgen und die Einheit der beteiligten Familien stärken.58 Für die Besetzer stand dabei zwar die Aneignung von Wohnraum im Zentrum, zugleich aber waren Besetzungen auch Laboratorien für das Experimentieren mit neuen Formen des Zusammenlebens: „Durante le occupazioni noi organizzavamo anche una sorta di vita in comune con gli occupanti e un idea che l’abitazione […] che si occupava non fosse un bene che si privatizzava subito appena occupato. Perché c’era il concetto che la casa fosse comunque un bene pubblico. Quindi si faceva anche dentro le occupazioni una sorta di scuola di socialismo, di diffusione d’idee comuniste in cui oltre al fatto che le case si tenevano aperte si riunivano anche quotidianamente gli occupanti che mettevano insieme anche i bambini che in quel periodo avevano problemi di portare i bambini a scuola. Allora noi gli facevamo per non farli perdere le lezioni una sorta di scuola ai figli […]. Si faceva una mensa in comune. Questo tipo di ricerca di una vita in comune e di solidarietà tra queste famiglie si interrompeva ovviamente nel momento in cui arrivavano le forze dell'ordine […]. Però […] di quel periodo trascorso insieme rimaneva una sorta di comunanza e di contatto. E quel contatto si continuava a mantenere la dove si creavano altre occasioni di occupazione della casa.“59

57 Vgl. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4; Interview vom 19.6.2009 mit Aldo Polido, der Treppendelegierter in der Besetzung der Via Pescaglia 93 war, 46:50 – 47:45: „Noi le occupazioni le facevamo così [...]: Le organizzavamo nel quartiere. [...] La maggior parte ti ho detto Cinecittà, Quadraro, Borghetto [...], Alberone – tutta quella zona là. Noi (ci) organizzavamo gruppi per gruppi. Cioè facevamo delle riunioni. Per esempio al Quadraro c’andavano due persone e riuscivano a crea’ un gruppo che si interessava dell’occupazione. Si faceva una discussione. Quello che era l’occupazione. Perché [...] si faceva l’occupazione [...].“ „Wir machten die Besetzungen folgendermaßen [...]: Wir organisierten sie im Stadtviertel. […] Zum großen Teil, ich habe es Dir gesagt Cinecittà, Quadraro, Borghetto […], Alberone – diese ganze Gegend dort. Wir organisierten (uns) Gruppe für Gruppe. Das heißt wir machten Treffen, Zum Beispiel gingen zwei Leute ins Quadraro und es gelang ihnen eine Gruppe aufzubauen, die sich für die Besetzung interessierte. Man machte eine Diskussion. Was die Besetzung war. Warum […] man eine Besetzung machte […].“ 58 Vgl. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. 59 Interview vom 19.6.2009 mit dem Arbeiter und Familienvater Franco Moretti, der an der Besetzung der Via Pescaglia 93 als ‚externer‘ LC-Aktivist teilnahm und seit Februar 1975 in dem besetzten Wohnblock der Immobiliengesellschaft Malta in der Magliana wohnte, 03:55 - 06:05. „Während der Besetzungen organisierten wir auch eine Art gemeinsames Leben mit den Besetzern und eine Vorstellung, dass der Wohnraum […], den man besetzte, kein Gut sei, das man privatisierte, sobald man es besetzte. Denn es gab die Vorstel-

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Im Vorfeld der Besetzung in der Magliana hatte sich ein Komitee der Familienvorstände gebildet, das die beteiligten Familien repräsentierte und die Durchführung der Besetzung organisierte.60 Dabei achtete das Comitato di lotta per la casa sehr genau auf die Zusammensetzung der Besetzerfamilien: „Noi facevamo un censimento che era quasi elitario […] nel senso che preferivamo che all’occupazione partecipassero operai o disoccupati però che avevano una prospettiva di lavoro o sottoproletari ma con una idea ben precisa della vita in comune. […] Era un’organizzazione molto meticolosa che una volta che partiva poi l’occupazione vera e propria […] l’organizzazione era un punto di forza di questa occupazione che dava più garanzie e della coesione delle famiglie che occupavano e anche della possibilità di rintuzzare gli attacchi esterni, che in quel periodo erano tanti e venivano dalla stessa sinistra con il partito comunista in primo luogo.“61 Die kommunistische Partei stellte aber nicht nur einen wichtiger Gegner der Besetzung dar, sondern bildete als Organisation auch ein Reservoir an Basismilitanten, aus welchem sich die Besetzung zu nicht unwesentlichen Teilen speiste: „Era un’occupazione con un livello di coscienza di classe molto forte perché si basava anche sull’esperienze fatte sui posti di lavoro. Molti erano delegati sindacali, alcuni erano lavoratori che avevano subito licenziamenti […]. La maggior parte aveva la tessera del partito comunista in tasca o del partito socialista.“62

lung, dass Wohnraum letztlich ein öffentliches Gut sei. Also wurden auch die Besetzungen zu einer Art Schule für den Sozialismus, einem Ort an dem kommunistische Ideen verbreitet wurden. Bei den Besetzungen blieben nicht nur die Häuser offen, die Besetzer versammelten sich auch täglich und passten gemeinsam auf die Kinder auf, die sie in dieser Phase nicht in die Schule bringen konnten. Um zu verhindern, dass die Kinder den Unterricht verpassten, machten wir eine Art Unterricht […]. Es gab eine Art Kantine. Dieser Versuch eines gemeinschaftlichen Lebens und der Solidarität wurde freilich unterbrochen in dem Moment, wenn die Ordnungskräfte kamen […]. Aber […] von dieser gemeinsam verbrachten Phase blieb eine Art Gemeinschaftssinn und Kontakt. Und dieser Kontakt blieb bestehen, dort wo sich neue Möglichkeiten der Hausbesetzung ergaben.“ 60 Vgl. Lotta Continua vom 11.11.1973, S. 1. 61 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 10:10 – 12:15. „Wir machten einen Zensus, der quasi elitär war [...] in dem Sinn, dass wir es vorzogen, dass an der Besetzung Arbeiter teilnahmen oder Arbeitslose, die Beschäftigungsaussichten hatten oder Subproletarier, die aber eine klare Vorstellung von einem gemeinschaftlichen Leben hatten. […] Es war eine sehr akribische Organisation, denn wenn einmal die Besetzung selbst losging, war die Organisation die Stärke dieser Besetzung und garantierte den Zusammenhalt der Besetzerfamilien und die Möglichkeit, Angriffe von außen zurückzuschlagen, die in dieser Phase zahlreich waren und auch aus der Linken kamen – vor allem von der Kommunistischen Partei.“ 62 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 27:25 – 27:55 „Es war eine Besetzung mit einem hohen Niveau von Klassenbewusstsein, denn sie basierte auch auf Erfahrungen, die am Arbeitsplatz gemacht worden waren. Viele waren Gewerkschaftsdelegierte, manche hatten Entlassungen hinter sich […]. Die Mehrheit hatte den Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei oder den der Sozialisten in der Tasche.“

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Dem Versuch, die Besetzung im Stadtteil Magliana durchzuführen, lagen sorgfältige Abwägungen zugrunde: „[…] (E)vitavamo di occupare case che erano già destinate per esempio ad altri lavoratori […] non occupavamo case popolari, ma andavamo alla ricerca di situazioni in cui le proprietà avevano in accordo con le istituzioni operato degli abusi o costruito in maniera difforme […] alla stessa legalità borghese […] a finché quello diventasse un punto di forza dove poter radicare poi l’occupazione.“63 Neben diesen grundsätzlichen politischen Erwägungen gab es eine Reihe praktischer Gründe, die für eine Besetzung in der Magliana sprachen: Zum einen bestanden Kontakte zwischen den Besetzerfamilien und Aktivisten des Stadtteilkomitees der Magliana64 und es war zu erwarten, dass eine Besetzung in der Magliana durch die starke und erfolgreiche Basisbewegung der autoriduttori solidarisch aufgenommen werden würde. Zum anderen boten sich die großen leerstehenden Wohnblocks in der Magliana geradezu zur Besetzung an, da es so möglich war, hunderte Besetzerfamilien auf engstem Raum zu konzentrieren, was eine Räumung erschwerte. Als konkretes Objekt wählten die Besetzer die fünf Wohnblocks in der Via Pescaglia 93, die der Immobilienunternehmer und DC-Politiker Straziota hatte errichten lassen, die aber seit ihrer Fertigstellung vor sechs Jahren leerstanden. Die Gebäude waren inzwischen aufgrund nicht bedienter Kredite bei der Banca nazionale del lavoro gepfändet worden.65 Die Wohnblocks der Via Pescaglia waren im Herbst 1973 nicht zum ersten Mal Objekt einer Besetzung. Für die Besetzer war deshalb klar, dass dieser erneute Versuch besser organisiert sein müsste: „Queste case già erano state occupate parecchie volte […] però sempre sgombrate. Tanto è vero

63 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 08:50 – 09:45 „[...] (W)ir vermieden es Wohnungen zu besetzen, die schon für andere Arbeiter vorgesehen waren […] und wir besetzten keine Sozialwohnungen, sondern wir suchten Situationen, in denen die Besitzer im Einvernehmen mit den Institutionen Verstöße begangen hatten oder auf eine Art gebaut hatten […], die sogar dem bürgerlichen Recht widersprach […], damit dies zur Stärkung und Verankerung der Besetzung beitragen würde.“ 64 Vgl. Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 30:15 – 33:15: „Quindi siamo arrivati alla Magliana. Abbiamo preso parte alla lotta per l’autoriduzione. Entrammo nel comitato di quartiere io e mia moglie. Poi avevamo contatti con altre persone nella città. E era un periodo in cui c’era un movimento di lotta anche attraverso le occupazioni di case. E c’erano alcuni miei amici che erano interni a questi movimenti. [...] La Magliana era già noto nella città perché c’era questo comitato di quartiere forte. E quindi un gruppo di famiglie [...] che si stavano organizzando per occupazioni [...] vennero nella Magliana per occupare le case. E fu la famosa occupazione di Via Pescaglia.“ „Wir sind also in der Magliana angekommen. Wir haben an dem Kampf für die autoriduzione teilgenommen. Ich und meine Frau traten dem Stadtteilkomitee bei. Dann nahmen wir Kontakt mit anderen Leuten in der Stadt auf. Es war eine Phase in der es auch eine Bewegung gab, die mithilfe von Besetzungen (um Wohnraum) kämpfte. Einige meiner Freunde nahmen an diesen Bewegungen teil. […] Die Magliana war in der Stadt schon bekannt, weil es dieses starke Stadtteilkomitee gab. So kam es, dass eine Gruppe von Familien […], die sich für Besetzungen organisierte […] in die Magliana kam, um Wohnungen zu besetzen. Das war die berühmte Besetzung der Via Pescaglia.“ 65 Vgl. Lotta Continua vom 11.11.1973, S. 1.

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che quando si sono occupate queste case si è pensato insomma di fare una cosettina fatta bene. […] È quindi si è fatta questa occupazione con un tipo di organizzazione abbastanza più organizzata di quelle che erano state fatte in precedenza. […] Quest’organizzazione ha lavorato molto bene perché si è subito radicata nella città.“66 Das politische Ziel und die grundlegenden Regeln der Besetzung waren durch Diskussionen des Besetzerkomitees präzise bestimmt und in acht Grundsätzen festgehalten worden.67 Diese besagten unter anderem, dass der Kampf solange fortgesetzt werden solle, bis man Wohnraum für alle Beteiligten zu einem ‚politischen Preis‘68 erhalten habe. All diejenigen, die versuchen würden, eine individuelle Lösung für sich zu erreichen, sollten aus der Besetzung ausgeschlossen werden.69 Der besetzte Wohnraum solle den beteiligten und anderen bedürftigen Familien zur Verfügung gestellt werden – einzig Faschisten waren von vornherein ausgeschlossen, da sie als Feinde der arbeitenden Bevölkerung betrachtet wurden.70 Trotz der eingehenden vorherigen Planungen war die Besetzung für viele Beteiligte mit großen Ängsten verbunden. Eine Besetzerin beschrieb ihre Anspannung in den Tagen vor der Besetzung so: „Ho cominciato cinque giorni prima dell’occupazione a non mangiare e a non dormire più; stavo sempre al telefono con mia sorella e qualche amica che hanno occupato con noi o pure parlavamo con mio marito mentre i bambini dormivano.“71 Am 9. November 1973 war es dann soweit: Um Mitternacht trafen sich die im Besetzerkomitee organisierten Familien aus den verschiedensten Teilen Roms vor den Wohnblocks in der Via Pescaglia 93 und drangen in die Gebäude ein.

66 Interview mit Aldo Polido am 19.6.2009, 38:12 – 40:40. „Diese Wohnblocks waren schon mehrmals besetzt worden, [...] wurden aber immer geräumt. Als man diese Wohnblocks also besetzt hat, hat man dafür gesorgt, dass man es ordentlich macht. […] Und so hat man diese Besetzung mit einer deutlich besseren Organisation gemacht als der, die es zuvor gegeben hatte. […] Diese Organisation hat sehr gut funktioniert, weil sie sich sofort in der Stadt verankerte.“ 67 Vgl. Lotta Continua vom 16.11.1973, S. 3. 68 Mit dem Terminus ‚prezzo politico‘ (‚politischer Preis‘) war ein Preis gemeint, der sich nicht an Marktmechanismen orientiert, sondern an der Bedürftigkeit und dem kämpferischen Engagement. Eine solche Art der Preisfestlegung setzte freilich die Intervention der politischen Autoritäten zur Vermittlung zwischen Besitzer und Besetzern voraus. 69 Vgl. Lotta Continua vom 11.11.1973, S. 1. 70 Vgl. Lotta Continua vom 13.11.1973, S. 4. 71 Lotta Continua vom 23.11.1973, S. 3. „Ich habe fünf Tage vor der Besetzung begonnen nicht mehr zu essen und nicht mehr zu schlafen; ich war dauernd am Telefon mit meiner Schwester und einer Freundin, die mit uns besetzten oder wir sprachen mit meinem Mann, wenn die Kinder schliefen.“

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Abb. 2.1 Szene der nächtlichen Besetzung der Via Pescaglia 93 in der Magliana am 9.11.1973.

Trotz des relativ präzise geplanten Ablaufs brach in den riesigen Wohnblocks ohne Strom aufgrund der Dunkelheit zunächst Chaos aus.72 Nachdem die Wohnungen verteilt waren, wählten die Besetzer jedes der zehn Treppenaufgänge einen Verantwortlichen, der von nun an dafür zu sorgen hatte, dass alle Wohnungen an seinem Treppenaufgang effektiv besetzt waren, und dass die Besetzerfamilien sich aktiv an den notwendigen Aufgaben der Besetzung beteiligten.73 Die wichtigste dieser Aufgaben bestand anfangs in der Teilnahme am picchettaggio vor den Eingängen der Wohnblocks: Das picchettaggio wurde jeweils für 24 Stunden von den Bewohnern von einem der zehn Treppenaufgänge übernommen und rotierte täglich.74 Dabei übernahmen die Frauen des betreffenden Treppenaufgangs die Tagschichten und die Männer die Nachtschichten. Diese Form des lückenlosen picchetto verfolgte zweierlei Ziele: Zum einen wollten die Besetzer gegen eine etwaige Intervention der Polizei gewappnet sein,75 wobei zum Zweck der Verteidigung in den angrenzenden Straßen Material

72 Vgl. Lotta Continua vom 23.11.1973, S. 3. 73 Es galt zu gewährleisten, dass die an der Besetzung beteiligten Familien tatsächlich in den besetzten Wohnungen wohnten und schliefen, um zu verhindern, dass Familien nur zu Beginn einer Besetzung eine Wohnung in Beschlag nahmen, sich dann für die heiße (räumungsbedrohte) Phase zurückzogen und nur wiederkamen, falls die Besetzung die gefährlichste Phase überstand, da ein solches Verhalten die Besetzung im Fall eines Räumungsversuches stark geschwächt hätte. 74 Vgl. Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4. Auch in San Basilio hielt rund um die Uhr ein picchetto-Posten Wache in den besetzten Wohnblocks vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1 und S. 4. 75 Dabei geben die Zeitdokumente verständlicherweise keinen Aufschluss darüber, wie die Besetzer auf eine polizeiliche Räumung reagieren wollten. Aus Interviews mit Beteiligten lässt sich aber schließen, dass schon bei vorherigen Besetzungsversuchen durchaus konfrontative Taktiken angewandt worden waren und diese auch für die Besetzung in der

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zur Errichtung von brennenden Barrikaden bereitgelegt worden war.76 Zum anderen zielte das picchettaggio aber auch darauf ab zu kontrollieren, dass nur an der Besetzung beteiligte Personen in die besetzten Wohnblocks gelangten. Die Eingangskontrollen waren dabei ausgesprochen streng: Alle Mitglieder der Besetzerfamilien verfügten über Ausweise des Comitato di lotta per la casa. Freunde und Verwandte mussten an den Eingangskontrollen warten, bis sie von Besetzern abgeholt wurden, die die Verantwortung für ihre Anwesenheit in dem besetzten Wohnblock übernahmen.77 Die genauen Kontrollen an den Eingängen waren auch insbesondere deshalb notwendig, weil Immobilieneigner Straziota alle Türen aus den leer stehenden Wohnblöcken hatte entfernen lassen, um potentielle Besetzer abzuschrecken.78 Am Morgen nach der Besetzung versuchten die Beteiligten umgehend eine möglichst große Öffentlichkeit für ihre Aktion herzustellen – was auch deshalb nötig erschien, weil die bürgerliche Presse die Besetzung zunächst ignorierte.79 Zu diesem Zweck klebten die Besetzer tausende vorbereitete Plakate in ganz Rom. Außerdem versuchten sie in direkten Kontakt mit den Besitzern der Wohnblocks zu treten. Da diese gepfändet worden waren, war allerdings nicht mehr Straziota, sondern die italienische Justiz der Ansprechpartner. So schickten die Besetzer am ersten Tag ihrer Besetzung eine Delegation zum zuständigen Richter D’Ovidio, der für die Beschlagnahme der Bauten Straziotas verantwortlich war, um diesem das Anliegen der Besetzer zu erklären.80 Zudem wurde die Öffentlichkeitsarbeit fortgesetzt: Am Sonntagmorgen, dem zweiten Tag der Besetzung in der Via Pescaglia, verteilten Besetzer tausende Flugblätter an der Porta Portese, Roms größtem Flohmarkt, wo ihr Anliegen auf viel Verständnis gestoßen zu sein scheint.81 Während die Besetzer also von Anfang an großen Wert darauf legten, ihrem Handeln Öffentlichkeit zu verschaffen, um die eigene Praxis zu legitimieren und So-

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Magliana nicht ausgeschlossen wurden. Aldo Polido beschreibt beispielsweise die militante Gegenwehr bei einer Räumung im Zuge einer früheren Besetzung in der Viale dei Romanisti im Stadtteil Centocelle, vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 51:50 – 52:27: „Certo facevi un minimo di resistenza […]. Le porte (erano) tutte sopra i balconi in modo che questi quando venivano tu gli tiravi giù una porta. [...] E quindi ci pensavano due volte a veni’.“ „Sicher leistete man ein wenig Widerstand [...]. Die Türen (waren) alle auf den Balkonen, so dass man, wenn sie kamen, eine Türe auf sie runterwarf. […] So dachten sie zweimal darüber nach zu kommen.“ Vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 50:25 – 50:45: „Noi in questa via qua sopra e qua sotto avevamo dei posti dove bastava tirare fuori le gomme, le incendiavi e quindi cercavi di creare un po’ di cosa.“ „Wir hatten in dieser Straße dort oben und da unten Stellen, wo man nur die Reifen rausholen musste; man zündete sie an und schon ging es los.“ Vgl. Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1 und S. 4. Diese Aussage von Lotta Continua wird durch eine Durchsicht der römischen Tagespresse in den Wochen nach den Besetzungen bestätigt. Vgl. Lotta Continua vom 11.11.1973, S. 1. Vgl. Lotta Continua vom 13.11.1973, S. 4.

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lidarität zu generieren, machte auch die innere Organisation der Besetzung deutliche Fortschritte: Eine der ersten Notwendigkeiten nach der Besetzung war es, die Wohnblocks, in denen seit der Fertigstellung niemand gelebt hatte, komplett zu reinigen. Die Grundreinigung hatte durchaus auch eine symbolische Qualität: Sie stellte ein Aneignungsritual dar, mit dem die Inbesitznahme der Wohnungen vollzogen wurde.82 Symbolisch war die Grundreinigung auch deshalb, weil das Besetzerkomitee davon ausging, dass sie schon Anfang der Woche durch ein massives Polizeiaufgebot geräumt werden würden.83 Die Aufgabe der Reinigung wurde zumindest in der Magliana ausschließlich von den Frauen der Besetzerfamilien übernommen.84 Hier deuteten sich die Ambivalenzen hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses unter den Besetzerfamilien an: Während die separate Einteilung von Frauen und Männern beim picchetto an den Eingängen der Via Pescaglia 93 durchaus emanzipatorische Potenziale besaß, da die Frauen tagsüber selbstbestimmt die Sicherheit der Besetzung gewährleisteten, behielt hinsichtlich der Reinigungsarbeiten die Aufgabenverteilung entlang traditioneller Rollenmuster offensichtlich ihre Gültigkeit.

Abb. 2.2 Legitimationsstrategie: Kinder von Besetzerfamilien lassen sich kurz nach der Besetzung im November 1973 vor dem Eingang der Via Pescaglia 93 für die Tageszeitung Lotta Continua fotografieren. Transparentaufschrift: „Von den Arbeitnehmern beschlagnahmte Häuser. Comitato di lotta per la casa“. Text des Schildes rechts im Bild: „Nur der Kampf wird uns Wohnraum bringen“.

82 Zur Besetzung in der Magliana vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1. Zur Besetzung in San Basilio vgl. Lotta Continua vom 18.11.1973, S. 3. 83 Vgl. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. 84 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1.

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2.1.3 Ausnahmezustand auf Dauer gestellt Die für Montagmorgen erwartete Räumung durch die Polizei erfolgte nicht, die Staatsmacht blieb unsichtbar.85 So machte sich eine große Delegation der Besetzer der Via Pescaglia zum Referenten für öffentlichen Wohnungsbau Cabras (DC) auf. Nach zwei Stunden des Wartens drang die Delegation mit Gewalt in sein Büro ein und setzte durch, dass sie empfangen wurde. Schließlich wurden vier Delegierte von einem Sekretär des Referenten empfangen, der versuchte, die Besetzer zu besänftigen. Diese verwiesen auf einen Präzedenzfall, der ähnlich gelagert war wie die Besetzung der Via Pescaglia: In der Via Prati di Papa waren schon vor zwei Jahren Häuser besetzt worden, die von der Justiz gepfändet waren, und die Besetzer wohnten dort immer noch. Während die Delegierten aus der Via Pescaglia versuchten, den kommunalen Verantwortlichen ihr Anliegen mit sanftem Druck nahe zubringen, dehnten andere Besetzer die politische Propaganda auf ihre Arbeitsplätze aus.86 Zudem brachten viele an der Besetzung beteiligte Basismilitante des PCI das Thema in den nächsten Tagen in ihren Parteisektionen zur Sprache.87 Ähnliches vollzog sich auch im Nordosten der Stadt: Die Besetzer von San Basilio verteilten Flugblätter vor und in den Fabriken entlang der Via Tiburtina, um ihrer Besetzung Öffentlichkeit zu verschaffen und Solidarität zu generieren.88 Auch in den folgenden Tagen erschien kein polizeiliches Großaufgebot, um die 246 Familien zu räumen, und so standen die Besetzer vor einer unerwarteten Situation: „Ora invece diventa necessario cominciare a vivere in queste case.“89 Die Besetzer versuchten nun, ihre innere Organisation zu festigen und ihre Öffentlichkeitsarbeit zu verstärken: Zu diesem Zweck führten sie einen Zensus der Besetzerfamilien durch. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass kein Missbrauch geschah und keine Familien Wohnungen besetzten, obwohl sie schon über eine Sozialwohnung verfügten. Die dahingehende Überprüfung wurde von einer eigens gebildeten Kommission durchgeführt.90 Ein Teil der Ergebnisse war dabei für die Öffentlichkeit bestimmt: Von den 216 untersuchten Besetzerfamilienvorständen in der Via Pescaglia 93 waren 51 Bauarbeiter, 48 arbeiteten im Dienstleistungsbereich, 30 waren Handwerker, 26 Industriearbeiter, 23 verdingten sich in Handel und Gastronomie, 14 waren arbeits-

85 86 87 88 89

Vgl. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 13.11.1973, S. 4, Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 18.11.1973, S. 3. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. „Jetzt hingegen wird es nötig anzufangen, in diesen Wohnungen zu leben.“ 90 Vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:14:05 – 1:14:50: „[...] (P)er arriva’ a questo c’era una commissione che faceva questo lavoro: andava a controlla’ [...] famiglia per famiglia da dove eri venuto [...], chi sei non sei, se c’hai casa [...]. [...] Noi arrivavamo a questo punto a sape’ tutte queste cose.“ „[...] (U)m das herauszufinden, gab es eine Kommission, die diese Arbeit machte: Sie kontrollierte […] Familie für Familie, woher du kamst […], wer du warst oder nicht warst, ob du eine Wohnung hattest […]. […] Schließlich wussten wir all diese Dinge.“

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los, 12 Pensionäre, 9 Hausfrauen und 3 Invaliden.91 Erstaunlich an der Herkunft der Besetzer war die relativ ausgeglichene Verteilung über alle Teile der Stadt mit der einzigen Ausnahme der Magliana, die mit 36 Besetzerfamilien deutlich überrepräsentiert war. Ausgangspunkt der Besetzung war somit nicht ein bestimmter Stadtteil Roms, in dem die späteren Besetzer sich zusammengetan hatten, sondern vielmehr die politische Entscheidung der einzelnen Familien. Interessant war weiterhin die Tatsache, dass von 238 auf ihre Herkunft hin untersuchten Familien nur drei von außerhalb Roms kamen und nur zwei die letzte Zeit vor der Besetzung in einer kommunalen Pension verbracht hatten.92 Während mit einem Teil der gewonnenen Erkenntnisse an die Öffentlichkeit gegangen wurde, nutzten die Besetzer einen anderen Teil der Informationen, um jene Familien aus der Besetzung zu entfernen, die in ihren Augen kein Anrecht auf eine besetzte Wohnung hatten, weil sie zum Beispiel schon im Besitz einer Sozialwohnung waren, die sie untervermieteten: „C’erano le regole abbastanza rigide rispetto ai comportamenti che bisognava tenere all’interno dell’occupazione. Li si fecero ottanta sgomberi coatti fatti dal Comitato di lotta per la casa di gente che erano dei professionisti dell’occupazione. […] Episodi anche in cui bisognava praticare un’operazione di servizio d’ordine avanzato nel senso che c’era anche il rischio che questi ti sparassero addosso. […] Però tu non potevi contrapporre una violenza alla violenza perché […] assolutamente non sarebbe stato vincente. Allora […] il comitato si riuniva. Si prendeva una decisione. Si sentivano le persone interessate – una sorta di processo. E poi si decideva l’allontanamento dell’occupazione. L’allontanamento dell’occupazione si faceva prima con un gruppo ristretto. Se questo usciva con le buone allora finiva là. Se non usciva con le buone tutta l’occupazione – tutta! – era obbligata d’andare da questo e farlo uscire. Quindi molte volte si è trovato di fronte a qualcuno col fucile che voleva sparare e di fronte c’aveva i ragazzini e le donne. E si faceva capire: ‚Guarda tu spari però poi ti ammazziamo, perché dove vai?‘“93

91 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1. Warum die Beschäftigungsverhältnisse der restlichen 30 Familienvorstände nicht erfasst wurden, geht aus den Quellen nicht hervor. 92 Vgl. Lotta Continua vom 16.11.1973, S. 3. 93 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 29:10 – 31:15. „Es gab recht strenge Regeln, welche Verhaltensweisen es innerhalb der Besetzung einzuhalten galt. Es gab dort achtzig Räumungen durch das Comitato di lotta per la casa von Leuten, die professionelle Besetzer waren. […] Episoden, in denen es nötig war, eine Operation im Stile eines Ordnerdienstes durchzuführen in dem Sinn, dass auch das Risiko bestand, dass die auf dich schossen. […] Aber du konntest nicht Gewalt gegen Gewalt setzen, denn das […] wäre definitiv nicht Erfolg versprechend gewesen. Also […] trat das Komitee zusammen. Man traf einen Beschluss. Man hörte die betroffenen Personen an – eine Art Prozess. Und dann beschloss man die Entfernung aus der Besetzung. Die Entfernung aus der Besetzung wurde zunächst mit einer kleinen Gruppe gemacht. Wenn der Betreffende im Guten ging, war die Sache erledigt. Wenn er nicht im Guten ging, waren alle Besetzer – alle! – verpflichtet, ihn zum Gehen zu zwingen. So hat man sich oft jemandem mit einem Gewehr gegenüber gesehen, der schießen wollte und der vor sich Frauen und Kinder hatte. Und man machte ihm klar: ‚Schau, Du schießt, aber dann machen wir Dich fertig, denn wie kommst Du hier weg?‘“

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Für die Besetzer aus San Basilio stellte sich die Situation völlig anders dar: Da sie IACP-Wohnungen besetzt hatten und so die Legitimität der Besitzerseite nicht grundsätzlich ablehnten, versuchten sie zunächst den IACP aufzufordern einen Zensus der Besetzerfamilien durchzuführen und deren Bedürftigkeit zu prüfen. Ziel dieser Forderung war es, durch eine Bestätigung der Bedürftigkeit durch den IACP vom Status illegaler Besetzer in denjenigen legitimer IACP-Mieter hinüberzuwechseln. In diesem Zusammenhang wurde gegenüber den Besetzern in San Basilio auch der Vorwurf laut, zahlreiche Besetzer hätten die Besetzung zur persönlichen Bereicherung genutzt, indem sie die besetzte Wohnung weiterverkauft hätten.94 Das Besetzerkomitee von San Basilio gab zu, dass 12 Familien ihre Wohnungen gegen Geld an andere weitergegeben und so aus der Besetzung Profit geschlagen hatten. Die Namen dieser Familien waren vom Besetzerkomitee an den IACP weitergegeben worden, um die Wiederholung eines ähnlichen Vorgangs in Zukunft zu vermeiden. Die Besetzer betonten aber auch, dass es derartige Vorfälle in Rom zu Hunderten gebe – und zwar vor allem unter regulären Sozialmietern des IACP. Alle nun verbliebenen Besetzerfamilien seien absolut bedürftig.95 Da sich der IACP aber taub stellte und keinerlei Anstalten machte, die Besetzer tatsächlich zu überprüfen, führten bald darauf die Besetzer von Basilio selbst einen internen Zensus durch96 – offensichtlich nach dem Vorbild der Genossen aus der Magliana. Die Ergebnisse wurden in der Tageszeitung Lotta Continua veröffentlicht und sollten anschließend der IACP, der Kommune, der Region und allen weiteren zuständigen Institutionen vorgelegt werden: Von 125 befragten Familienvorständen waren 39 Bauarbeiter, 20 Arbeiter im öffentlichen Dienst, 19 Fabrikarbeiter, 12 Arbeitslose, 11 Handwerker, 10 verdingten sich im Handel, 8 waren Heimarbeiter, 4 waren durch Arbeitsunfälle berufsunfähig und 2 waren Straßenhändler.97 Die proportional höhere Anzahl der Bauarbeiter, Arbeitslosen und Versehrten legt nahe, dass die soziale Zusammensetzung der Besetzer stärker (sub-)proletarischen Charakter hatte als in der Magliana. Neben den Angaben zum Beruf der Familienvorstände wurde auch die Wohnsituation benannt, aus der heraus 131 der beteiligten Familien an der Besetzung teilgenommen hatten: 48 Familien hatten mit ihren Eltern gemeinsam in Sozialwohnungen gelebt, 44 kamen aus zu

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Aldo Polido geht hingegen davon aus, dass es bei der Besetzung der Via Pescaglia 93 ‚nur‘ 35 Räumungen durch das Comitato di lotta per la casa gegeben hat, vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:09:30 – 1:09:45: „Noi abbiamo cacciato via [...] 35 famiglie da qua.“ „Wir haben […] 35 Familien hier rausgeworfen.“ Ob sich die Differenz daraus ergibt, dass Franco Moretti sich auf alle in der Magliana vom Comitato di lotta per la casa durchgeführten ‚Räumungen‘ bezieht, während Aldo Polido sich nur auf jene bei der Besetzung der Via Pescaglia 93 bezieht oder ob sich die Differenz schlicht aus mangelnder Erinnerung bzw. Über- oder Untertreibung ergibt, ist unklar. Vgl. Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. Vgl. Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5. Dass das illegale Weitervermieten von Sozialwohnungen tatsächlich weit verbreitet war, zeigt z.B. Don Luttes Bericht über derartige Praktiken in den kommunalen Sozialwohnungsblöcken der Magliana, vgl. Lutte (1977), S. 25. Vgl. auch: Fattorini (1977), S. 53f. Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 4. Vgl. Lotta Continua vom 18.11.1973, S. 3

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teuren Wohnungen vom privaten Mietmarkt, 31 Familien hatten vor der Besetzung in Baracken oder Kellern gehaust und 8 hatten sich zuvor mit Verwandten eine Privatwohnung geteilt.98 Was das konkret bedeutete, können einige Einzelfälle verdeutlichen: Die Besetzerfamilie Giraldi aus San Basilio, hatte bei den Schwiegereltern gewohnt – 16 Menschen in drei Zimmern, bis sich das Paar entschlossen hatte, mit ihren drei Kindern eine Wohnung zu besetzen. Ähnlich war es der Besetzerfamilie Santolucci gegangen, die zu fünft in einem Zimmer bei der Schwiegermutter gewohnt hatten. Rosetta Pieristé hingegen, Mutter von vier Kindern im Alter zwischen 3 und 13 Jahren, war Witwe, nachdem ihr Mann bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war. Angesichts einer Witwenrente von 104.000 Lire im Monat für eine fünfköpfige Familie blieb ihr kaum eine andere Wahl, als eine Wohnung zu besetzen.99 Der interne Zensus und die Öffentlichkeitsarbeit der Besetzerkomitees standen in einem engen Zusammenhang: Die Besetzer versuchten, mit den erhobenen Daten einerseits nachzuweisen, dass sie tatsächlich bedürftig waren, andererseits, dass es sich bei ihnen um ‚gewöhnliche‘ Proletarier in Lohnarbeit handelte und größtenteils nicht um Exponenten einer vermeintlich anrüchigen Sonderkategorie wie baraccati oder senzatetto. Mit dem internen Zensus wollte man jene Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse unterstreichen, die den Besetzern gerade vom PCI-Parteiorgan L’Unità abgesprochen wurde: In der ohnehin spärlichen Berichterstattung des PCI- Sprachrohrs wurden die Besetzer als ‚Obdachlose‘ bezeichnet.100 Dass laut dem internen Zensus der Besetzer aus der Via Pescaglia gerade einmal zwei von 238 untersuchten Familien aus einer kommunalen Pension für obdachlose Familien stammten, spielte für die PCI-Presse dabei keine Rolle. Durch die Zuschreibung von L’Unità sollte die Praxis der Besetzung als verzweifelte Handlungsoption einer marginalen Minderheit erscheinen und so eine Ausbreitung verhindert werden. Diametral entgegengesetzt war die mit den Besetzerumfragen verfolgte Stoßrichtung: Das Besetzerkomitee der Magliana hob hervor, dass 77 der 216 befragten Familienvorstände auf Baustellen und in Fabriken arbeiteten – in San Basilio waren es sogar 58 von 125 – und unterstrich so die starke Verankerung der Besetzergemeinschaft in der proportional schwachen römischen Arbeiterklasse. Außerdem sollte deutlich werden, dass die Besetzer insgesamt einen relativ repräsentativen Ausschnitt des römischen ceto popolare101 darstellten. Diese Selbstbeschreibung wurde vom Besetzer-Sprachrohr Lotta Continua auch nach außen getragen: Am 15.11.1973 titelte das Blatt, die Besetzer der Via Pescaglia zitierend: „‚Non siamo baraccati, siamo tutti salariati‘“102 . Diese Feststellung sollte verhindern, dass die radikale Praxis der Besetzung von der gemä-

98 Vgl. Lotta Continua vom 18.11.1973, S. 3 99 Vgl. Il Manifesto vom 11.9.1974, S. 2. 100 Vgl. z.B. L’Unità vom 25.11.1973, S. 10. 101 Ceto popolare heißt in etwa ‚einfache Bevölkerung‘ und bezeichnet im tertiär geprägten Rom die subalterne Mehrheitsbevölkerung aus unterprivilegiertem Kleinbürgertum, Arbeiterklasse und Subproletariat. 102 Zitiert nach: Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. „‚Wir sind keine Barackenbewohner, wir sind alle Lohnarbeiter‘“. Diese Feststellung war freilich nicht logisch, da durchaus auch Barackenbewohner einer Lohnarbeit nachgingen.

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ßigten Linken auf die extreme Marginalität der Beteiligten zurückgeführt und so an den Rand gerückt würde. Dem entgegen galt es aus Sicht des Besetzerkomitees der Magliana zu unterstreichen, dass Besetzungen nicht mehr bloß zum Handlungsrepertoire weniger Verzweifelter gehörten, sondern als Antwort der lohnabhängigen Klasse auf die Einschränkung ihrer Kaufkraft in Zeiten der ökonomischen Krise Relevanz für breite Teile der Bevölkerung hatten. So schrieben sich im Fall der Magliana in die Argumentation beider Seiten unterschwellig tradierte Negativstereotype über Barackenbewohner und Obdachlose als das ‚Andere‘ der Arbeiterklasse ein. In San Basilio sah die Argumentationslogik vor dem Hintergrund der heikleren politischen Situation etwas anders aus: Da die Besetzung hier Wohnungen der öffentlichen Wohnungsbauagentur IACP zum Ziel hatte und die Besetzer somit in Konkurrenz zu anderen bedürftigen Familien traten, scheint hier vor allem die besondere Bedürftigkeit der Besetzerfamilien unterstrichen worden zu sein. Hier war dementsprechend durchaus auch von Baracken als vorherige Wohnorte der Besetzerfamilien die Rede. Jenseits der jeweils spezifischen Argumentationslinien scheinen sich in den Zensusergebnissen und in gewissen Unterschieden im Ablauf der Besetzungen auch reale Differenzen hinsichtlich der sozialen und politischen Zusammensetzung der beiden Besetzungen widerzuspiegeln: Das Besetzerkomitee der Magliana war weniger stark (sub-)proletarisch geprägt als jenes von San Basilio. Außerdem scheint die politischen Stoßrichtung ihres Handelns den Besetzern der Via Pescaglia 93 wichtiger gewesen zu sein als jenen aus San Basilio, die wohl vor allem ihr unmittelbares Bedürfnis nach Wohnraum im Auge hatten und deshalb auch bereit waren, sich mit der Besetzung der IACP-Wohnungen in eine politisch äußerst delikate Situation zu begeben.

2.1.4 Lokale Verankerung als Ziel Neben der allgemeinen Öffentlichkeitsarbeit versuchten die Besetzer sich insbesondere in den jeweiligen Stadtvierteln zu verankern: Die Besetzer der IACPWohnungen in San Basilio verteilten Flugblätter in der borgata und versuchten zu vermitteln, dass sich ihre Besetzung keineswegs gegen die Interessen derjenigen Proletarier richtete, die auf den Wartelisten für IACP-Wohnungen standen. Außerdem gab das Besetzerkomitee bekannt, dass all jene Familien umgehend aus der Besetzung ausgeschlossen würden, die schon einmal eine Wohnung besessen und diese verkauft oder untervermietet hatten.103 Außerdem trafen sich die Besetzer in den ersten Wochen der Besetzung abends täglich in den Räumen der lokalen LC-Sektion. Bei den Versammlungen, an denen etwa 50 bis 60 Personen teilnahmen, wurden die internen Probleme der Besetzung und das weitere Vorgehen diskutiert. Im Zuge dieser Treffen kam es immer häufiger auch zu Anfragen von Familien, die ebenfalls eine Wohnung benötigten und auf Hilfe des Besetzerkomitees hofften. Bei diesen Anfragen ging es oft weniger um politische Überzeugungen als um Befriedigung existenzieller Bedürfnisse, wie die Tatsache verdeutlichte, dass viele Familien einen Antrag auf eine Sozialwohnung bei der IACP stellten und beim Besetzerkomitee anfrag-

103 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 4.

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ten, ob demnächst wieder eine Besetzung geplant sei.104 Dem Besetzerkomitee von San Basilio scheint es also durch seine Größe und die faktische Dauer der Besetzung gelungen zu sein, sich für die Bevölkerung des Stadtteils als lokale Autorität in Sachen Wohnraum zu etablieren. So konnte ein zweigleisiges Vorgehen für bedürftige Familien durchaus logisch erscheinen. Außerdem wurde im Zuge der Treffen beschlossen, sich künftig enger mit den Besetzern der Magliana zu koordinieren.105 Die Besetzer der Via Pescaglia agierten auf einem anders strukturierten Terrain: Die lokale Verankerung des Besetzerkomitees der Magliana war aufgrund der ausnehmend starken außerparlamentarischen Basisorganisierung im Stadtteil einfacher zu bewerkstelligen. Schon am dritten Tag der Besetzung in der Via Pescaglia fand ein erstes formelles Treffen zwischen dem Comitato di lotta per la casa der Besetzer und dem Stadtteilkomitee der Magliana statt.106 Im Zuge der Versammlung wurde festgehalten, dass die beiden Kampfformen – autoriduzione und Besetzung – zwar unterschiedlich seien, das Ziel aber ein gemeinsames: Wohnungen für alle Lohnabhängigen zu einem ‚politischen Preis‘. Auf Basis dieses gemeinsamen politischen Zieles entwickelte sich eine praktische Solidarität, die sich unter anderem darin manifestierte, dass zahlreiche autoriduttrice nach der gemeinsamen Diskussion am nächsten Morgen auf dem Weg zum Markt Flugblätter am picchetto der Besetzer abholten, um diese im Viertel zu verteilen und damit kursierende Stereotype über die Besetzer als vermeintliche baraccati zu zerstreuen.107 Aber die proklamierte Gemeinsamkeit schlug sich auch auf anderer Ebene nieder: Sowohl autoriduttori als auch die Besetzer der Via Pescaglia 93 zahlten – wie bald auch die Besetzer in San Basilio108 – 2.500 Lire pro Zimmer und Monat, also jenen ‚politischen Preis‘, den sie einforderten.109 Allerdings muss die Mietzahlung der Besetzer vor allem als symbolisches Handeln gesehen werden, schickte doch der für die Via Pescaglia zuständige Konkursverwalter die Überweisungen der Besetzer immer wieder zurück.110 Es wäre allerdings verkürzt, die Solidarisierung zwischen den beiden parteiunabhängigen Basisstrukturen im Stadtteil als reibungslosen Prozess zu sehen. Anfangs war durchaus die moderierende Intervention von Figuren wie Domenico Cecchini notwendig, der

104 Vgl. Lotta Continua vom 28.11.1973, S. 3. 105 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 4. 106 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1. Es erscheint zwar sehr wahrscheinlich, dass es schon zuvor persönliche Kontakte zwischen den beiden Organisationen gegeben hatte – zumal in beiden Militante von Lotta Continua aktiv waren – aber diese Zusammenkunft scheint der erste formelle Austausch zwischen den Organisationen als Ganze gewesen zu sein. 107 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 1. 108 Vgl. Tozzetti (1989), S. 287. 109 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 87. 110 Vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:01:05 – 1:01:25: „Noi spedivamo la pigione alla custode giudiziaria che poi invece lei ci rimandava indietro. Cioè ogni tanto ci provammo ma lei ci rimandava i soldi indietro.“ „Wir schickten die Miete der Verwaltung, die sie uns dann zurückschickte. Sprich, wir haben es ab und zu probiert, aber sie schickten uns das Geld zurück.“

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als LC-Aktivist und Mitglied des Stadtteilkomitees eine Mittlerposition zwischen den Organisationen einnahm: „C’era il Comitato di quartiere e poi c’era il Comitato di lotta per la casa che era il comitato di Via Pescaglia. Allora io mi adoperai molto per un anno o due perché si superassero i pregiudizi. Inizialmente c’erano un po’ di pregiudizi. Perché gli occupanti si ritenevano più proletari di quanto non fossero […] quelli dell’autoriduzione.“111 Allerdings war die Annahme einer unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung von Comitato di lotta per la casa und Stadtteilkomitee nicht aus der Luft gegriffen. Domenico Cecchini sah die soziale Basis folgendermaßen unterschieden: „Più proletariato tradizionale delle borgate romane nel Comitato di lotta per la casa. Più misto il Comitato di quartiere perché lei trovava anche un impiegato di medio livello nel Comitato di quartiere. Trovava persone laureate e così via.“112 Wesentlicher aber als die objektiven sozialen Unterschiede der beiden Organisationen waren ihre unterschiedlichen Arten der Organisation und Verankerung: „Erano due stili diversi: più reticolare quello del Comitato di quartiere, più monolitico quello del Comitato di lotta per la casa.“113 Die von Cecchini getroffene Unterscheidung zwischen netzförmig und monolithisch bezog sich dabei zum einen auf die unterschiedlichen räumlichen Einzugsbereiche der beiden Organisationen: Während sich im Comitato di quartiere Bewohner aus allen Teilen der Magliana fanden, war das Comitato di lotta per la casa auf die Besetzerfamilien beschränkt.114 Der ‚monolithische‘ Politikstil des Comitato di lotta per la casa war zum anderen aber wohl auch ein Erbe der politischen Sozialisation vieler seiner Schlüsselfiguren: „C’erano moltissimi del PCI, ed era più compatto, si facevano meno dibattiti nel Comitato di lotta per la casa. […] C’erano quadri, alcuni militanti del PCI anche in opposizione al loro partito, però hanno deciso di partecipare ed

111 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 33:45 – 34:15. „Es gab das Stadtteilkomitee und dann gab es das Comitato di lotta per la casa, das das Komitee der Via Pescaglia war. Ich habe also für ein oder zwei Jahre lang daran gearbeitet, dass man die Vorurteile überwand. Anfangs gab es ein paar Vorurteile. Denn die Besetzer hielten sich für proletarischer als […] diejenigen, die Mietreduktion betrieben.“ 112 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 51:20 – 51:40. „Mehr traditionelles Proletariat aus den römischen borgate im Comitato di lotta per la casa. Stärker gemischt das Stadtteilkomitee, denn Sie trafen auch einen mittleren Angestellten im Stadtteilkomitee. Sie trafen Personen mit Hochschulabschluss usw.“ 113 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 37:50 – 38:05. „Es waren zwei unterschiedliche Stile: Eher netzförmig der des Stadtteilkomitees, eher monolithisch derjenige des Comitato di lotta per la casa.“ 114 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 36:15 – 36:50: „Nel comitato di lotta era una partecipazione meno diffusa perché era concentrato in quei palazzi [...]. Le riunioni del comitato non erano così sistematiche, periodiche [...] ma c’era una partecipazione popolare più forte. (Che vuole dire più o meno?) Ah, tutti, no tutti!“ „Im Besetzerkomitee war die Teilnahme weniger verbreitet, denn sie konzentrierte sich auf diese Wohnblocks […]. Die Treffen des Komitees waren nicht so systematisch, periodisch […] aber die Beteiligung war stärker. (Was heißt das in etwa?) Alle, ja alle!“

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erano le avanguardie interne, erano quelli su cui si reggeva un po’ il comitato.“115 Mit der Zeit allerdings schliff sich das anfängliche Distinktionsbedürfnis zwischen den beiden Basisstrukturen ab: „Via via queste differenze si ridussero, ci fu un certo amalgama perché vivendo lì ci si vedeva la mattina a fa’ la spesa al mercato. La domenica se volevi andare fuori ad Ostia, dicevi ‚mi si è rotta la macchina, vengo con te‘. Ci si conosceva via via.“116 Der solidarische Dialog, den die parteinunabhängigen Basisstrukturen in der Magliana schon wenige Tage nach der Besetzung der Via Pescaglia 93 aufgenommen hatten, fand seine Fortsetzung einige Tage später, als am Samstagabend das Comitato di lotta per la casa, das Stadtteilkomitee und das Centro di Cultura Proletaria zu einer offenen Stadtteilversammlung vor den besetzten Wohnblocks der Via Pescaglia 93 einluden,117 zu der etwa 400 Interessierte kamen: Besetzer, autoriduttori und andere Bewohner des Stadtteils. Eine autoriduttrice unterstrich die Gemeinsamkeit zwischen den Besetzern und den Aktivisten des Stadtteilkomitees: „‚(I)o, la casa me la sto lottando, per questo sto con voi, perché anche voi ve la state lottando. Ed è la stessa lotta.‘“118 Nicht die spezifische Praxis – Besetzung oder autoriduzione – stand also für viele im Vordergrund, sondern die den Kampfformen gemeinsame praktische Aneignung von Wohnraum unterhalb der Marktpreise. Doch die Versuche des Besetzerkomitees der Via Pescaglia 93, die Verankerung ihrer Besetzung im Stadtteil zu stärken, richtete sich nicht nur an vermeintlich ‚starke‘ Bündnispartner – gerade auch offensichtlich ‚schwachen‘ Akteuren sollte die Besetzung nahe gebracht werden, die so auch als Raum alltäglicher Emanzipation entworfen wurde: Noch in der ersten Woche der Besetzung lud man beispielsweise die Kinder aus einem Behindertenzentrum ein, um ihnen die Besetzung zu zeigen und zu erklären.119

2.1.5 Öffentlichkeitsarbeit und Schneeballeffekt Doch es war nicht damit getan, Netzwerke der Solidarität im Nahraum aufzubauen. Wollte man den Druck auf die römische Stadtverwaltung erhöhen, so mussten die 115 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 51:45 – 52:10. „Viele waren im PCI und es war kompakter, es wurden weniger Debatten im Comitato di lotta per la casa geführt. […] Es waren Kader, einige Aktivisten des PCI, die in Opposition zu ihrer Partei waren, aber beschlossen hatten teilzunehmen, und sie waren die interne Avantgarde. Das waren diejenigen, auf die sich das Komitee ein wenig stützte.“ 116 Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009, 38:00 – 38:20. „Mit der Zeit nahmen die Differenzen ab. Es entstand eine Art Amalgam, denn weil man dort lebte, sah man sich morgens beim Einkaufen auf dem Markt. Sonntags, wenn du nach Ostia rausfahren wolltest, sagtest du ‚mein Auto ist kaputt, ich fahr bei dir mit‘. Man lernte sich mit der Zeit kennen.“ 117 Vgl. Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4. 118 Zitiert nach: Lotta Continua vom 18.11.1973, S. 3. „(I)ch kämpfe um meine Wohnung und deshalb bin ich auf eurer Seite, denn auch ihr kämpft darum. Das ist derselbe Kampf.“ 119 Vgl. Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4.

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eigenen Forderungen einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Aus diesem Grund veranstaltete das Comitato di lotta per la casa am Dienstag, den 13.11.1973, eine Pressekonferenz und präsentierte seinen Lösungsvorschlag: Die Kommune sollte die besetzten Wohnblocks mieten und die von den Besetzern bezahlte Sozialmiete von 2.500 Lire pro Zimmer durch eine Zuzahlung ergänzen, um die Kosten für die Anmietung zu decken. Die Summe, die die Kommune in Ergänzung zur Sozialmiete der Bewohner aufbringen müsse, sei dabei relativ gering, wenn man die niedrigen Baukosten in der Magliana in Betracht ziehe und vor allem wenn die Kommune die Bauträger wegen ihrer eklatanten Verstöße gegen die Bauvorschriften verklage und die Strafzahlungen zur Deckung der Mietkosten einsetze.120 Letztlich sei diese Lösung auch ein finanzieller Gewinn für die Kommune, wenn man die aufzubringende Summe mit jener vergleiche, die Stadt jedes Jahr für Wohngeld und die Pensionsunterbringung obdachloser Familien aufbringe. Die für diese beiden Posten ausgegebene Summe würde – so die Berechnung des Comitato di lotta per la casa – jährlich für den Bau von 500 Wohnungen reichen, doch die Kommune sei nicht gewillt, das klientelistische Manöver der Herbergsunterbringung zu beenden.121 Durch die Pressekonferenz gelangte die Besetzung in der Via Pescaglia erstmals in die römische Tagespresse.122 Obwohl der Erfolg der Besetzung in der Via Pescaglia 93 zu diesem Zeitpunkt ungewiss erscheinen musste, wirkte ihre Größe und die Entschlossenheit der Beteiligten offensichtlich ausgesprochen motivierend auf viele Familien, die dringend eine eigene Wohnung zu einem erschwinglichen Preis suchten: Nur sechs Tage nach der Besetzung in der Via Pescaglia 93 zogen 72 weitere Familien nach und besetzten spontan zwei kleinere Wohnblocks in der nahegelegenen Via Pieve Fosciana, die der Immobiliengesellschaft Impruneta gehörten und aufgrund von Zahlungsverzug inzwischen ähnlich wie der Wohnblock in der Via Pescaglia von der Bank gepfändet waren.123 Die Zahl der besetzten Wohnungen in der Magliana erhöhte sich damit schon innerhalb der ersten Woche auf über 300. Derweil fand die erste Phase der Besetzung der Via Pescaglia 93 ihren Abschluss, als die Familien nach den ersten Tagen der Ungewissheit Möbel und Hausrat in ihre neuen Wohnungen brachten und so die Grundlage für eine Normalisierung des Alltagslebens legten.124 Allerdings war dieser Schritt nicht unproblematisch: De facto entzündeten sich dramatische Konflikte an der Frage, wann die Besetzerfamilien wirklich komplett in die besetzten Wohnungen umziehen müssten, da es viele Familien vorzogen, ihren Hausrat in ihrer alten Bleibe zu lassen, solange die Situation der Besetzung unsicher erschien. „Molte persone per esempio sono state buttate fuori perché non procedevano a fare il trasloco […]. Perché per rendersi forte l’occupazione aveva necessità che […] l’unica dimora era quella che si era occupato. Allora noi chiedevamo alle persone di

120 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 4. Für die genauen Zahlen vgl. Lotta Continua vom 22.11.1973, S. 3. 121 Vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 4. 122 Vgl. Lotta Continua vom 15.11.1973, S. 4. 123 Vgl. Lotta Continua vom 17.11.1973, S. 4; Comitato di quartiere (1977), S. 87. 124 Zur Besetzung in San Basilio vgl. Lotta Continua vom 14.11.1973, S. 4;

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fare entro un certo numero di giorni […] il trasloco.“125 Während die Besetzer der Via Pescaglia eine Woche nach der Besetzung mit ihrem ‚Umzug‘ beschäftigt waren, kam es in der Magliana zu einer weiteren Besetzung: Am 17.11.1973 wurden weitere 154 Wohnungen durch bedürftige Familien besetzt – womit sich die Zahl der besetzten Wohnungen in der Magliana auf 472 erhöhte.126 Diesmal traf es den ehemaligen Präsidenten des AS Rom und PCI-Sympathisanten Alvaro Marchini, der die seit über einem Jahr fertiggestellten Wohnungen aus Angst vor autoriduzione hatte leerstehen lassen.127 Diese Besetzung scheint im Wesentlichen von Kadern des PCI und der SUNIA organisiert worden zu sein, was angesichts der ablehnenden Haltung der Partei gegenüber Besetzungen erstaunlich war.128 Eventuell aber kann diese Besetzung aus dem Umfeld des PCI als eine Art praktische Antwort der Partei auf die Herausforderung durch die Besetzungen der außerparlamentarischen Linken gesehen werden. Das Risiko einer Räumung dürfte sich angesichts der guten Kontakte zum Besitzer Marchini zudem in Grenzen gehalten haben. Allerdings darf daraus kein profunder politischer Gegensatz zwischen dem Comitato di lotta per la casa und der Besetzung der Marchini-Wohnblocks abgeleitet werden: In den ersten Tagen nach der Besetzung unterstützten die Besetzer der Via Pescaglia ihre neuen Kampfgefährten direkt129 und mit der Zeit schliffen sich die politischen Widersprüche zwischen den Besetzergruppen auch deshalb ab, weil auch in der Besetzung des MarchiniWohnblocks der Einfluss der Neuen Linken wuchs.130

125 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 31:25 – 31:55. „Viele Leute sind zum Beispiel rausgeworfen worden, weil sie mit dem Umzug nicht vorankamen [...]. Denn damit die Besetzung stark war, musste die einzige Bleibe diejenige sein, die man besetzt hatte. Deshalb forderten wir die Leute auf, in einem bestimmten Zeitraum […] den Umzug zu machen.“ 126 Vgl. Lotta Continua vom 20.11.1973, S. 4; Lotta Continua vom 21.11.1973, S. 4; Comitato di quartiere (1977), S. 87f. 127 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 88. Zur Person Marchinis vgl. La Repubblica vom 30.1.1976, S. 14. 128 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:00:20 – 1:00:45: „Poi qui c’erano anche altre occupazioni [...]. Questa qui che c’abbiamo a ridosso della piazza era organizzata dal partito comunista [...] dal SUNIA direttamente. Perché [...] la proprietà di questi palazzi era (di) un costruttore legato al partito comunista – molto famoso: [...] Marchini.“ „Dann gab es hier auch andere Besetzungen […]. Diese hier, die unmittelbar hinter dem Platz liegt war von der Kommunistischen Partei organisiert […] direkt von der SUNIA. Denn […] diese Wohnblocks gehörten einem sehr bekannten Bauunternehmer, der mit der Kommunistischen Partei verbunden war: […] Marchini.“ 129 Vgl. Lotta Continua vom 20.11.1973, S. 4. 130 Vgl. Interview mit Franco Moretti, 1:01:05 - 1:02:30: „(Questa occupazione) aveva delle contraddizioni non risolte all’interno [...]. Non c’era una forte organizzazione. Era abbastanza controllata dal SUNIA. Solo che pure loro poi nel corso degli anni hanno aderito a quelli che erano le rivendicazioni generali del movimento del quartiere. Pure essendo un’occupazione dentro la quale noi non siamo mai entrati. Un occupazione che [...] poi nel corso del tempo ha trovato una gestione più simile a [...] le altre occupazioni attraverso una formazione a sinistra del partito comunista che era il PdUP, che c’aveva un

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2.1.6 Den Alltag organisieren Zehn Tag nach der Besetzung der Via Pescaglia 93 brach eine etwa sechzigköpfige Delegation der beiden Besetzungen in der Magliana mit einem Bus zur ACEA (Azienda Comunale Elettricità e Acque) auf, um dort den Wasser- und Stromanschluss für alle Besetzer der Magliana zu erreichen. Die Verantwortlichen der ACEA verwiesen zunächst darauf, dass der Eigentümer den Wasseranschluss beantragen müsse – im Falle der besetzten Wohnblocks der Magliana also der für die Pfändung zuständige Richter. Wenig später jedoch waren sie dennoch bereit, Verträge mit den Besetzern abzuschließen. Für den Stromanschluss erklärten sich die ACEA-Verantwortlichen grundsätzlich nicht zuständig und verwiesen an den staatlichen Stromversorger ENEL (Ente Nazionale Energia Elettrica). So fuhr die Delegation anschließend zur ENEL, wo die Besetzer Verträge zur Stromversorgung abschließen konnten. Auch die Besetzer in San Basilio erreichten noch in dieser Woche den Wasseranschluss für ihre Wohnungen und eine Woche später konnten die Treppendelegierten aus San Basilio auch die Verträge für den Stromanschluss unterzeichnen.131 Luciano Palazzi, ein 25-jähriger Besetzer aus San Basilio beschrieb die Entwicklung folgendermaßen: „Il primo mese […] siamo rimasti al buio; ma non potevamo andare avanti in quel modo, con la gente che ogni sera cadeva sulle scale. Allora abbiamo fatto domanda all’ACEA perché ci allacciasse la luce. Alla presenza di una delegazione di donne, un funzionario dell’azienda ha telefonato all’IACP – senza il permesso dell’istituto non potevano effettuare l’allaccio – e qualche giorno dopo abbiamo avuto la luce. E subito dopo è arrivato il gas, e poi anche il telefono.“132 Der Wasser- und Strom-, später auch der Gas- und Telefonanschluss war für die Besetzerfamilien aber nicht nur ein entscheidender materieller Fortschritt, sondern wurde

esponente molto bravo [...] che si chiamava Renato Fattorini. [...] Non era [...] del Comitato di lotta per la casa però lui [...] da noi era stimato. [...] (Lui) è stato dentro pure in parte anche all’occupazione di Via Pescaglia 93.“ „(Diese Besetzung) hatte mit einigen ungelösten internen Widersprüche zu kämpfen […]. Es gab keine starke Organisation. Sie war weitgehend von der SUNIA kontrolliert. Nur dass dann auch sie sich im Laufe der Jahre den generellen Forderungen der Stadtteilbewegung angeschlossen haben. Auch wenn es eine Besetzung war, in die wir nie intervenierten. Eine Besetzung, die […] dann im Laufe der Jahre eine Form gefunden hat, die den anderen Besetzungen ähnlicher war […] durch eine Formation, die links vom PCI stand und sich PdUP nannte. Sie hatte einen sehr fähigen Exponenten […] er hieß Renato Fattorini. […] Er war nicht […] im Comitato di lotta per la casa, aber er [...] wurde sehr von uns geschätzt. […] (Er) war teilweise auch in die Besetzung der Via Pescaglia 93 involviert.“ 131 Vgl. Lotta Continua vom 20.11.1973, S. 4; Lotta Continua vom 28.11.1973, S. 3. 132 Zitiert nach L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. „Den ersten Monat [...] lebten wir im Dunklen. Aber wir konnten so nicht weitermachen mit den Leuten, die jeden Abend auf den Treppen stürzten. Also haben wir bei der ACEA einen Stromanschluss beantragt. In Anwesenheit einer Delegation von Frauen hat ein Funktionär die IACP angerufen – ohne Erlaubnis des Instituts konnten sie keinen Anschluss ausführen – und ein paar Tage später haben wir Strom bekommen. Und sofort danach ist das Gas gekommen und schließlich auch der Telefonanschluss.“

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auch als erster Schritt zur Anerkennung ihrer Besetzung von offizieller Seite gewertet: „È il primo riconoscimento, sia pure sotto forma di servizio, che gli enti pubblici sono stati costretti a fare agli occupanti. […] Queste cose rafforzano l’organizzazione e la fiducia, ma sopratutto rafforzano la determinazione dei proletari a tenersi queste case.“133 Während die Besetzer ihren Erfolg feierten und ihre Position konsolidiert sahen, betrachtete die PCI-nahe Mietergewerkschaft SUNIA die direkte Aneignung leer stehenden öffentlichen Wohnraums in San Basilio als völlig inakzeptabel. SUNIA-Sekretär Tozzetti erinnerte sich an die Entwicklung noch Jahre später mit Grauen: „Più i mesi passavano più la situazione si aggravava. Le famiglie ottenevano i servizi (luce, gas, acqua e anche il telefono).“134 Ab Januar 1974 bezahlten auch die Besetzer von San Basilio den regulären Sozialmiettarif von 2.500 Lire pro Zimmer. Nach drei Monaten regulärer Zahlungen erhielten die Besetzer ihr Geld jedoch mit dem Hinweis zurück, dass kein regulärer Mietvertrag vorliege. Die Rechnungen für Gas, Wasser, Strom und Telefon wurden von den Besetzern hingegen weiterhin regulär bezahlt.135

2.1.7 Verbreiterung des Kampfes Derweil versuchte das Comitato di lotta per la casa eine grundsätzliche Debatte in der außerparlamentarischen Linken Roms über den Kampf um Wohnraum anzustoßen:136 Am 22.11.1973 veröffentlichte Lotta Continua das Programm des Besetzerkomitees auf einer ganzen Seite. Ausgehend von den Besetzungen in der Magliana wurde hier eine Strategie entwickelt, die auf eine Vereinigung der römischen Kämpfe um Wohnraum auf Basis eines umfassenden und radikalen Ansatzes abzielte: Autoriduzione und Besetzungen wurden dabei als zwei Praxisformen theoretisiert, die es erlaubten, die Kräfteverhältnisse auf dem Mietmarkt im Sinne der proletarischen Bevölkerungsschichten zu verändern und eine umfassende Neuordnung des Mietmarktes von Seiten der Kommune zu ermöglichen: „Con questa occupazione (alla Magliana, M.H.), in base ai rapporti di forza che ha creato, si sta lottando perché le case non vengano pagate secondo il prezzo di mercato. È un primo passo per poi imporre, sempre in base a un rapporto di forza, che gli stessi soldi non vengano usati

133 Lotta Continua vom 28.11.1973, S. 3. „Das ist die erste Anerkennung, wenn auch in Form einer Dienstleistung, die die öffentlichen Einrichtungen den Besetzern zugestehen mussten. […] Diese Dinge stärken die Organisation und das Vertrauen. Aber vor allem stärken sie die Entschlossenheit der Proletarier, diese Wohnungen zu behalten.“ 134 Tozzetti (1989), S. 287. „Die Monate vergingen und die Situation verschlechterte sich. Die Familien erhielten die Dienstleistungen (Strom, Gas, Wasser und auch Telefon).“ 135 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. 136 Das Comitato di lotta per la casa beruhte als Basisstruktur im Wesentlichen auf den beiden Besetzungen in der Via Pescaglia in der Magliana und der Via Montecarotto in San Basilio. Trotz ihrer losen Koordinierung im Comitato di lotta per la casa scheinen beide Besetzungen über eine weitgehende politische Autonomie verfügt zu haben, die der lokalen Besetzerversammlung die Möglichkeit gab, den jeweiligen Kampf in Eigenregie zu lenken.

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per premiare un’altra speculazione, ma che vengano usati per i bisogni proletari (altre case, scuole, asili ecc.), e sotto il loro controllo.“137 Die ‚Logik der Spekulation‘, derzufolge die öffentliche Hand eigene Mittel zur Schaffung billigen Wohnraums nicht nutzte und stattdessen minderwertigen Wohnraum von privaten Immobiliengesellschaften zu hohen Marktpreisen kaufte, sollte durchbrochen werden – unter anderem durch die direkte Reduktion des Marktwertes von Spekulationsobjekten durch ihre Besetzung oder die in ihnen praktizierte autoriduzione. Zur Vereinheitlichung von Besetzungen und autoriduzione sollte die ‚Praxis des Kampfziels‘138 beitragen: die – überall gleiche – Zahlung einer politischen Miete von 2.500 Lire pro Zimmer. Um eine Entwicklung der Kämpfe in diese Richtung zu gewährleisten, sei es allerdings nötig, die künstliche Spaltung zwischen so genannten baraccati und anderen Proletariern zu überwinden und jene Form des ‚Reformismus‘ hinter sich zu lassen, wie er von der SUNIA praktiziert werde, die letztlich völlig der ‚Logik der Spekulation‘ unterworfen sei.139 Der wesentliche Unterschied zwischen diesem neuen Kampfzyklus um Wohnraum und den vorangegangenen liege in den Auswirkungen der Wirtschaftskrise: „Che cosa c’è di nuovo oggi nella lotta per la casa che riprende a Roma? L’elemento centrale che la determina è che questo nuovo ciclo di lotte parte dal salario: dalla consapevolezza maturata sotto i colpi della crisi e dell’inflazione […]: uno dei problemi cruciali del proletariato romano, la casa, è vissuto essenzialmente oggi come un problema di salario, e la lotta è diretta dalla classe operaia, da edili, metalmeccanici, operai di servizi.“140 Damit wurde der Kampfzyklus 1973/4 deutlich von vorangegangenen Kämpfen wie jenen des CAB (Comitato Agitazione Borgate) 1969/70 abgegrenzt, das seine Besetzungen ausschließlich für und mit baraccati durchgeführt hatte.141 Die Deklassierungstendenz im Zuge von Wirtschaftskrise und Inflation führte in den Augen des Comitato di lotta per la casa zu einer Neuzusammensetzung jener Bevölkerungssegmente, die bereit waren, den Kampf um die Befriedigung ihrer Bedürfnisse auch in der Konsumsphäre zu führen.

137 Lotta Continua vom 22.11.1973, S. 3. „Mit dieser Besetzung (in der Magliana, M.H.) wird durch die Kräfteverhältnisse, die sie geschaffen hat, dafür gekämpft, dass für die Wohnungen nicht der Marktpreis gezahlt wird. Das ist ein erster Schritt, um dann auf Grundlage eines Kräfteverhältnisses durchzusetzen, dass das Geld nicht benutzt wird, um eine weitere Spekulation zu belohnen, sondern dass es für die proletarischen Bedürfnisse (neuer Wohnraum, Schulen, Kindergärten etc.) benutzt wird und zwar unter proletarischer Kontrolle.“ 138 Vgl. Revelli (1995), S. 450. 139 Vgl. Lotta Continua vom 22.11.1973, S. 3. 140 Lotta Continua vom 22.11.1973, S. 3. „Was ist heute neu an dem Kampf um Wohnraum, der in Rom wieder aufflammt? Das zentrale Element, das ihn bestimmt, ist, dass dieser neue Kampfzyklus vom Lohn ausgeht: Von der unter den Schlägen der Krise und der Inflation gereiften Einsicht […]: Eines der wesentlichen Probleme des römischen Proletariats, der Wohnraum, wird heute essenziell als Problem des Lohnes begriffen und der Kampf wird von der Arbeiterklasse, von Bauarbeitern, von Metallarbeitern, von Arbeitern im Dienstleistungsbereich angeführt.“ 141 Vgl. Kapitel I.

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2.2 Februar 1974 – Höhepunkt des Besetzungszyklus 2.2.1 Klimax Anfang 1974 standen die sozio-urbanistischen Probleme Roms im Zentrum zahlreicher Initiativen: Die katholische Kirche organisierte Mitte Februar 1974 den weithin wahrgenommenen „Convegno sui mali di Roma“142 mit tausenden Besuchern, in dessen Rahmen Korruption, Spekulation und die Fortexistenz der Barackensiedlungen als wesentliche Problemkomplexe der ‚ewigen Stadt‘ gegeißelt wurden. 149 Kirchenmänner und –Frauen spitzten diese allgemeine Kritik noch weiter zu und forderten eine „aufrichtige Selbstkritik“ der Kirche,143 die ihre Reichtümer wieder in den Dienst der Bedürftigen stellen sollte, statt sich abzuschotten: „‚Gli istituti, i parchi appartenenti alle congregazioni religiose debbono essere aperti ai servizi sociali necessari al quartiere.‘“144 Schließlich rang sich sogar Papst Paul VI zu einer öffentlichen Verurteilung der Immobilienspekulation durch.145 Währenddessen mobilisierten die linken Parteien gemeinsam mit Gewerkschaften und parteinnahen Mieterorganisationen, aber auch einigen radikalen Basisorganisationen wie dem Comitato di lotta per la casa am 19. Februar Tausende auf die Piazza del Campidoglio, um vor dem römischen Rathaus ihrer Forderung nach Wohnraum zu einem erschwinglichen Preis Nachdruck zu verleihen.146 Eine Delegation der Demonstranten wurde anschließend vom römischen Bürgermeister Darida (DC) empfangen, der wenige Tage später ankündigte, sich nun bei der Regierung für eine umfassende gesetzliche Regelung der Miethöhe einzusetzen – und so einer der Kernforderungen parteinaher Mieterorganisationen wie der SUNIA nachkam.147 Eng mit diesem spezifisch römischen Problem des knappen und kaum erschwinglichen Wohnraums verband sich Anfang 1974 die Thematik des galoppierenden Preisauftriebs: Für den 27.2.1974 riefen die Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL zu einem 24-stündigen nationalen Generalstreik gegen die Krisenpolitik der Regierung und für „Kaufkraft, Fortschritt und Reformen“148 auf. Zu einer Gewerkschaftskundgebung auf der Piazza San Giovanni im Rahmen des Generalstreiks kamen 150.000 Teilnehmer.149

142 „Tagung über die Übel Roms“. Der Kongress fand vom 12. bis zum 15. Februar 1974 statt und beschäftigte sich mit einer Reihe sozialer, urbanistischer und religiöser Probleme der italienischen Hauptstadt, vgl. Vidotto (2006), S. 315f. 143 Vgl. Sirleto (1998), S. 76. 144 Zitiert nach Sirleto (1998); S. 76. „‚Die Institute, die den religiösen Kongregationen gehörenden Parks müssen für die sozialen Dienstleistungen offen stehen, die die Stadtteile brauchen.‘“ 145 Vgl. L’Unità vom 3.3.1974, S. 9. 146 Vgl. L’Unità vom 20.2.1974, S. 8. Zur Beteiligung des Comitato di Lotta per la Casa und des Comitato Unitario per la Casa vgl. Tozzetti (1989), S. 271. 147 Vgl. Tozzetti (1989), S. 271f. 148 L’Unità vom 26.2.1974, S. 1. 149 Vgl. L’Unità vom 28.2.1974, S. 10.

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Indessen erreichte der von den Besetzungen in San Basilio und in der Magliana eingeleitete Besetzungszyklus im Februar 1974 seinen Höhepunkt, als er sich unter dem Slogan „fitto proletario, 10% del salario“150 in der Peripherie Roms ausbreitete. Die politische Argumentation der verschiedenen involvierten Bewegungsorganisationen war dabei recht ähnlich. Die Comitati autonomi operai als zentrale Kraft der römischen Autonomia Operaia beschrieben die politische Zielsetzung Ende Januar folgendermaßen: „Al nuovo aumento dello zucchero, tabacchi, francobolli, canone, all’aumento continuo dei prezzi, all’accordo truffa sulle tariffe elettriche, alla rapina dei fitti, alla razzia delle tasse sul salario rispondiamo estendendo e rafforzando l’autoriduzione delle bollette, organizzando l’occupazione di case e l’autoriduzione dei fitti, praticando l’autoriduzione e il controllo dei prezzi.“151 Il Manifesto als eher gemäßigte Gruppe der Neuen Linken bewertete die Situation in Rom Anfang Februar ähnlich: „Compagni, Lavoratori, Studenti, il movimento di lotta per la casa è ripartito con forza e dimensioni senza precedenti […]. La […] lotta è per la difesa del salario taglieggiato dal carovita e dall’inflazione galoppante voluta dalla Democrazia Cristiana e dai padroni. Tutti prezzi sono spaventosamente aumentati e i salari non bastano più. La risposta degli operai e dei lavoratori si esprime con l’autoriduzione dei fitti ed ora con l’occupazione di case per recuperare parte del salario.“152 Die grundlegende Idee war einfach auf den Punkt gebracht: „[…] lottando per la casa,

150 Tozzetti (1989), S. 275. „Proletarische Miete, 10% des Lohns“. Die verschiedenen Besetzerorganisationen hatten eine weitgehend einheitliche Position: Ein politischer Mietpreis in Höhe von 10% des jeweiligen Lohnes bzw. 2.500 Lire pro Zimmer wurde gefordert und als Antwort auf die enormen Preissteigerungen im Zeichen der Krise begriffen. Die umfassendste und ausgefeilteste Argumentation kam von Seiten des Comitato di lotta per la casa (vgl. Flugblatt des Comitato di lotta per la casa vom 16.2.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 – 1976, 1974 Bl. 4.), aber die Grundzüge der politischen Linie wurden auch von den anderen in den Besetzungszyklus involvierten Kräften, wie z.B. dem der Autonomia nahestehenden Comitato occupazione case oder Il Manifesto, geteilt. 151 Flugblatt der Assemblea cittadina die Comitati autonomi operai e di quartiere vom 21.1.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 - 1976, 1974 Bl. 1. „Auf die Verteuerung des Zuckers, des Tabaks, der Briefmarken, der Mieten, auf das kontinuierliche Ansteigen der Preise, auf den Betrug bei den Strompreisen, auf den Raub bei den Mieten, auf den Raubzug bei den Lohnsteuern antworten wir mit der Ausweitung und Verstärkung der autoriduzione der Rechnungen, mit der Organisation der Hausbesetzungen und der autoriduzione der Mieten und indem wir die autoriduzione und die Kontrolle der Preise praktizieren.“ 152 Flugblatt von Il Manifesto vom 5.2.1974, in: FIG, Volantini del movimento studentesco 1970 – 1976, 1974 Bl. 13. „Genossen, Arbeiter, Studenten, die Bewegung der Hausbesetzungen ist mit ungekannter Kraft und in ungekannter Dimension wieder losgegangen […]. Der […] Kampf dreht sich um die Verteidigung des Lohnes, der von der Teuerung und der galoppierenden Inflation geschmälert wird, die die Christdemokraten und die Bosse wollen. Alle Preise sind beängstigend gestiegen und die Einkommen reichen nicht mehr. Die Antwort der Arbeiter und der Lohnabhängigen drückt sich in der autoriduzione der Mieten und jetzt in den Hausbesetzungen aus, um so einen Teil des Lohnes wiederzugewinnen.“

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lottiamo anche contro l’aumento dei prezzi.“153 Damit platzierten die Kräfte der außerparlamentarischen Bewegung die Besetzungen am Schnittpunkt zweier Themen, die die römische Öffentlichkeit in Atem hielten – dem Problem der Wohnungsknappheit und Immobilienspekulation in Rom und dem Problem des starken Preisauftriebs im Kontext der profunden Wirtschaftskrise in ganz Italien. Wie erfolgreich die außerparlamentarische Bewegung in Rom mit ihrem Versuch war, die Frage des Kaufkraftverfalls mit jener des Wohnraummangels zu verbinden und durch Besetzungen praktisch zu beantworten, zeigt die Dimension des Besetzungszyklus: Besetzungen fanden unter anderem in den Stadtteilen Casal Bruciato, Tiburtino, Cinecittà, Decima, Portonaccio, Nuovo Salario, EUR, Garbatella, Casal Bertone, Val Melaina, Trullo, Corviale, Prati Fiscali, Talenti, Casalotti, Pineta Sacchetti und Primavalle statt.154 Grundlage der Besetzungen war dabei zumeist eine Mischung aus spontanen Basisinitiativen und Organisierungsversuchen von Gruppen der Neuen Linken. Anfang Februar waren etwa 2.400 Wohnungen in Rom besetzt, gegen Ende des Monats waren es etwa 4.000.155 Da es sich bei den Besetzern allesamt um Familien handelte, ging Ferrarotti in dieser Phase davon aus, dass etwa 15.000 Personen direkt an den Besetzungen beteiligt waren. Hinzu kam ein nicht direkt beteiligtes solidarisches Netzwerk von mehreren zehntausend Menschen.156 Damit waren die Besetzer in Ferrarottis Augen zwar eine ‚Avantgarde‘, aber keineswegs marginal: „[…] (I)l movimento delle occupazioni si presenta come un movimento di avanguardia, (ma, M.H.) non può essere inteso come espressione di gruppi sociali limitati, chiusi in se stessi, autosufficienti ed autoemarginatisi.“157 Durch die Einfügung der Besetzungen in eine grundsätzliche politische Perspektive – den Kampf gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf die unteren Bevölkerungssegmente – wurden sie zum Orientierungspunkt für die gesamte außerparlamentarische Bewegung in Rom. An römischen Schulen propagierten beispielsweise linke Schülerkollektive die Besetzungen als richtige Antwort auf Krise und Preisauftrieb und mobilisierten zu Demonstrationen für die Unterstützung der Besetzer: „Compagni, studenti, rispetto al meccanismo di aumento dei prezzi […] la classe operaia ha scatenato una serie di lotte […] e i 3.000 appartamenti occupati a

153 Flugblatt des Comitato di lotta per la casa vom 16.2.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 – 1976, 1974 Bl. 4. „[…] um Wohnraum kämpfend, kämpfen wir auch gegen den Anstieg der Preise.“ 154 Vgl. Tozzetti (1989), S. 275f. und Flugblatt des Comitato occupazione case Trullo – Corviale – Prati Fiscali – Valmelaina – Talenti – Casalotti – Pineta Sacchetti – Primavalle vom 25.2.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 – 1976, 1974 Bl. 8. 155 Vgl. Il Tempo vom 1.2.1974, S. 5 und Il Tempo vom Il Tempo vom 26.2.1974, S. 5. Die römischen Vermieter gingen Anfang März von 3.800 besetzten Wohnungen aus, vgl. L’Unità vom 3.3.1974, S. 9. 156 Vgl. Ferrarotti (1975), S. 32f. 157 Ferrarotti (1975), S. 33. „[...] [D]ie Bewegung der Besetzungen stellt sich als Avantgardebewegung dar (aber, M.H.) kann nicht als Ausdruck begrenzter sozialer Gruppen begriffen werden, die in sich selbst verschlossen sind, selbstgenügsam und marginalisiert.“

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Roma ne sono le punte, che riaffermano che la classe operaia non ha nessuna intenzione di pagare i costi di questa crisi.“158

2.2.2 Akteure und Politikstile Trotz der oben beschriebenen grundlegenden Ähnlichkeit hinsichtlich der politischen Stoßrichtung unterschieden sich die verschiedenen Spektren der außerparlamentarischen Bewegung in ihrem Politikstil aber nachhaltig. Auf der einen Seite stand als tonangebende Kraft das Comitato di lotta per la casa, das Lotta Continua nahestand und nach außen einen sachlich argumentierenden und zurückhaltenden Stil pflegte. Mit seinem richtungsweisenden Flugblatt vom 16. Februar 1974 versuchte das Comitato di lotta per la casa in der Hochphase des Besetzungszyklus mit vielen Zahlen und Fakten die Besetzungen gegen Unterstellungen zu verteidigen und deren politisches Ziel zu vermitteln. Dabei wurden neben der DC-Stadtregierung auch öffentliche Gesellschaften wie die IACP dafür angegriffen, dass sie die Immobilienspekulation förderten, dem PCI aber – obwohl er die Besetzungen kategorisch abgelehnt hatte – direkte Kritik erspart. Außerdem wurde deutlich gemacht, dass das Comitato di lotta per la casa keinerlei Eskalation anstrebte: „[…] (N)on abbiamo alcuna intenzione, lottando per un nostro diritto: la casa a prezzo popolare, di provocare risse o scontri con le forze dell’ordine. Non è questo il nostro scopo, non sono questi i nostri mezzi.“159

158 Flugblatt des Collettivo Politico Manara vom 27.2.1974, in: FIG, Volantini del movimento studentesco 1970 – 1976, 1974 Bl. 5. „Genossen, Schüler, gegen den Mechanismus des Preisauftriebs […] hat die Arbeiterklasse eine Reihe von Kämpfen entwickelt [...] und die 3.000 besetzten Wohnungen in Rom sind nur die Spitze, die unterstreichen, dass die Arbeiterklasse keinerlei Intention hat, die Kosten dieser Krise zu zahlen.“ Das offensichtlich der Autonomia nahestehende Collettivo Politico Manara am gleichnamigen Gymnasium mobilisierte in diesem Fall zu einer separaten Demonstration der römischen Autonomia im Rahmen des Generalstreiks vom 27.2.1974. 159 Flugblatt des Comitato di lotta per la casa vom 16.2.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 – 1976, 1974 Bl. 4. „[...] (W)ir haben keinerlei Intention, im Kampf für unser Recht auf eine Wohnung zum Sozialtarif, Schlägereien oder Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften zu provozieren. Das ist nicht unser Ziel, das sind nicht unsere Mittel.“ Die zurückhaltende Rhetorik schloss allerdings keineswegs aus, dass die Besetzer bei den konkreten Aktionen des Comitato di lotta per la casa eine Konfrontation mit den Sicherheitskräften in Kauf nahmen, vgl. z.B. einige Ausschnitte aus dem Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, in denen er geplanten und umgesetzten Widerstand anlässlich von Räumungen beschreibt, 50:25– 50:45: „Noi in questa via qua sopra e qua sotto avevamo dei posti dove bastava tirare fuori le gomme, le incendiavi e quindi cercavi di creare un po’ di cosa.“ „Wir hatten hier in dieser Straße da oben und da unten Plätze, wo man nur die Reifen rausziehen und anzünden musste und schon war ein bisschen was los.“ 51:50 – 52:27: „Certo facevi un minimo di resistenza. [...] Le porte tutte sopra i balconi in modo che questi quando venivano tu gli tiravi giù una porta. [...] E quindi ci pensavano due volte a veni’.“ „Natür-

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Zur anderen prägenden Kraft in der italienischen Hauptstadt wurde im Zuge der Kämpfe um Wohnraum 1973/4 die römische Autonomia Operaia in Gestalt der Comitati autonomi operai. Im Februar 1974 koordinierte das der Autonomia Operaia zuzurechnende Comitato occupazione case Besetzungen in acht römischen Stadtteilen und schlug deutlich andere Töne an: „Prefetto, non ci fai paura!! La nostra lotta è più dura! Compagni, lavoratori, studenti, in tutti i quartieri di Roma non si contano più le occupazioni di case da parte dei lavoratori. Il significato politico di questa lotta è ormai chiaro: non solo non è un movimento di sbandati o di speculatori, come dicono il PCI e i sindacati, ma è la risposta, la prima che i lavoratori e gli operai danno alla continua rapina che i padroni e lo stato fanno sui loro salari. […] Compagni, il prefetto ci ha lanciato la sua sfida, ha detto che interverrà la polizia. Noi l’aspetteremo! Non abbiamo occupato le case per simbolica protesta, come intendono fare altri, ma per prenderci la casa; non solo risponderemo duramente ad ogni attacco poliziesco e fascista in ogni occupazione, ma scenderemo in piazza nelle vie del centro: risponderemo colpo su colpo, duramente, alla repressione del padrone.“160 Die Konfrontation mit der Polizei wurde hier als Herausforderung aufgefasst, die man gegebenenfalls anzunehmen gedachte, und die Position des PCI und der Gewerkschaften wurde frontal angegriffen. Die Polizei ging immer wieder massiv gegen einzelne Besetzungen vor. Dabei zeigte sich schnell, dass sich der Widerstand der Besetzer nicht in Verbalradikalismus erschöpfte: In den Abendstunden des 14. Februar 1974 eskalierte die Situation in Casal Bruciato, wo schon seit Beginn des Monats ein Kampf um Wohnblocks des als Spekulanten verrufenen römischen Immobilienunternehmers Caltagirone entbrannt war, der in einem ständigen Wechsel von Besetzungen und Räumungen seinen Ausdruck fand. Polizeifahrzeuge wurden mit Molotowcocktails angegriffen und

lich leistete man ein bisschen Widerstand. [...] Die Türen alle auf den Balkonen, so konnte man ihnen, wenn sie kamen, eine Türe draufwerfen. [...] So dachten sie zweimal drüber nach zu kommen.“ 58:00- 59:00: „Io so che noi qui della Magliana partivamo perché ci stava lo sgombero a San Basilio. [...] Noi facevamo le barricate coi lampioni.“ „Ich weiß noch, dass wir hier aus der Magliana losfuhren, weil die Räumung in San Basilio war. […] Wir machten Barrikaden aus den Straßenlaternen.“ 160 Flugblatt des Comitato occupazione case Trullo – Corviale – Prati Fiscali – Valmelaina – Talenti – Casalotti – Pineta Sacchetti – Primavalle vom 25.2.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 – 1976, 1974 Bl. 8. „Präfekt, Du machts uns keine Angst!! Unser Kampf ist härter! Genossen, Arbeiter, Studenten, in allen Vierteln Roms gibt es unzählige Hausbesetzungen durch Arbeiter. Die politische Bedeutung dieses Kampfes ist mittlerweile klar: Es ist nicht nur keine Bewegung von Orientierungslosen und Spekulanten, wie der PCI und die Gewerkschaften sagen, sondern es ist die erste Antwort der Lohnabhängigen und der Arbeiter auf den dauernden Lohnraub durch die Bosse und den Staat. […] Genossen, der Präfekt hat uns den Fehdehandschuh hingeworfen, hat gedroht, dass die Polizei eingreifen wird. Wir werden sie erwarten! Wir haben die Häuser nicht aus symbolischem Protest besetzt, wie es andere machen, sondern um uns Wohnraum anzueignen. Wir werden nicht nur hart auf jeden Angriff der Polizei und der Faschisten reagieren, sondern auch im Zentrum auf die Straßen gehen: Wir werden Schlag auf Schlag mit aller Härte auf die Repression der Bosse antworten.“

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Polizisten, die versuchten in die besetzen Wohnblocks einzudringen, mithilfe von Schleudern mit Stahlmuttern beschossen. Während die Verteidiger Möbel aus den Fenstern stürzten, um die Räumung zu verhindern, schoss die Polizei mit Tränengasgranaten und versuchte, sich mit Schlagstöcken Zugang zu den Wohnblocks zu verschaffen.161 So war es nicht nur die spezifische politische Ausrichtung, die besondere Aufmerksamkeit auf die Besetzungen lenkte, die sich seit Anfang Januar 1974 in der italienischen Hauptstadt vervielfachten. Auch die praktische Härte, mit der die Auseinandersetzungen geführt wurden, rückte sie in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.162 Neben Besetzern und Staatsgewalt trat bald noch ein dritter Akteur auf: die Immobilienbesitzer. Sie begannen, Wachen für leer stehende oder kurz vor der Fertigstellung stehende Wohnblocks anzuwerben, die sich dann teilweise heftige Auseinandersetzungen mit potentiellen Besetzern und ihren Unterstützern lieferten.163 Aber auch mancher Immobilienbesitzer selbst scheute nicht davor zurück sich die Finger schmutzig zu machen: Im nahe der Magliana gelegenen Stadtteil Portuense schoss ein Immobilienbesitzer mit seinem Gewehr mehrmals auf eine Menschenmenge die offensichtlich vor hatte eine Besetzung durchzuführen.164 Besondere Aufmerksamkeit zog in diesem Zusammenhang ein Fall auf sich, der im Krankenhaus Nuovo Regina Margherita seinen Ausgang nahm und geeignet war, die enge Verflechtung zwischen privater Immobilienspekulation, Klientelismus im öffentlichen Dienst, dem rechten Flügel der DC und der faschistischen Straßengewalt165 zu beleuchten: In dem Krankenhaus hatte allem Anschein nach der mit guten Kontakten ins faschistische Lager ausgestattete Krankenhauspräsident und DC-Regionalrat Pompei gemeinsam mit seinem Sekretär Nardi unter den Angestellten Schlägertrupps organisiert, die vom Krankenhausdienst freigestellt und gegen eine Bezahlung von 30.000 Lire am Tag mithilfe eines Busses dorthin geschickt wurden, wo es potentielle Besetzungen zu verhindern oder Besetzer zu vertreiben galt.166 Dabei handelte es sich nicht einfach um die Initiative einzelner Immobilienbesitzer: Die ACER (Associazione Costruttori Edili Romani) als Vertretung der römischen Bauunternehmer bekannte sich offen dazu, ‚geeignete Leute‘ gegen die Besetzer einzusetzen.167 Außerdem versuchte die ACER Konflikte zwischen Besetzern und Bauarbeitern zu schüren: Vertreter der römischen Bauunternehmer erklärten öffentlich, dass von den 55 Besetzungen in Rom 49 Wohnblocks betroffen hätten, bei denen die Bauarbeiten noch im Gange gewesen seien. Deshalb habe man sich gezwungen gesehen, für 2000 Bauar-

161 Vgl. Tozzetti (1989), S. 277f. Vgl. auch: Il Tempo vom 14.2.1974, S. 7. 162 Vgl. z.B. die umfassende Berichterstattung im römischen Lokalteil von Zeitungen wie Il Tempo, die im Februar 1974 fast täglich über den Fortgang der Besetzungen berichtete. 163 Vgl. z.B. Il Tempo vom 6.2.1974, S. 4. Tozzetti (1989), S. 275ff. 164 Vgl. Il Tempo vom 16.2.1974, S. 6. Verletzt wurde durch die Schüsse niemand. 165 Ein Blick in den Lokalteil römischer Tageszeitungen von Anfang 1974 genügt, um sich vor Augen zu führen, wie präsent die faschistische Straßengewalt in dieser Zeit war: Es kam regelmäßig zu gewalttätigen Übergriffen auf linke Schüler vor römischen Schulen und auf PCI-Parteilokale. 166 Vgl. L’Unità vom 15.2.1974, S. 8. 167 Zitiert nach Tozzetti (1989), S. 278.

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beiter Kurzarbeit anzuordnen oder diese direkt zu entlassen.168 Das Ziel war klar: „(L’)ACER ha teso a porre contro gli occupanti gli edili […].“169 Die Strategie der Bauunternehmer und Immobilienbesitzer blieb nicht ohne Erfolg: Bauarbeiter begannen teilweise ‚ihre‘ Baustellen zu bewachen, um Besetzungen zu verhindern.170 Zugleich nahmen die Bauunternehmer die traditionelle Linke – angesichts ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Besetzungen – von jeder Kritik aus und versuchten so, die Spaltung zwischen der traditionellen und der Neuen Linken noch zu vertiefen.171 Die Besetzer aus der Magliana und aus San Basilio blieben in dieser heißen Phase des von ihnen eingeleiteten Besetzungszyklus keineswegs passiv: Das Comitato di lotta per la casa trug mit seinen Flugblättern wesentlich zur politischen Ausrichtung des Besetzungszyklus bei und rief gemeinsam mit anderen Basisstrukturen zu Demonstrationen zur Unterstützung der Besetzungen auf.172

168 Vgl. Ferrarotti (1975), S. 35. 169 Ferrarotti (1975), S. 35. „[D]ie ACER hat versucht die Bauarbeiter gegen die Besetzer in Stellung zu bringen […].“ 170 Vgl. Il Tempo vom 6.2.1974, S. 4; Il Tempo vom 17.2.1974, S. 7. 171 Vgl. Ferrarotti (1975), S. 35. 172 Zur politischen Ausrichtung der Besetzungen, vgl. z.B. Flugblatt des Comitato di lotta per la casa vom 16.2.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970 – 1976, 1974 Bl. 4. Zur konkreten Unterstützung der Besetzungen, vgl. z.B. Flugblatt des Comitato di lotta per la casa San Basilio und des Comitato unitario per la casa Valmelaina-Tufello vom 16.2.1974, in: MC, Fondo Lipparini/Raspini, Nr. 112, Fasz. 187.

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2.2.3 Repression Doch die Hochkonjunktur der Hausbesetzungen in Rom sollte nicht lange anhalten: Ab Ende Februar begann die Polizei massive Räumungsaktionen durchzuführen.173 Bis Mitte März waren trotz des teilweise erbitterten Widerstands die meisten Besetzungen von der Polizei geräumt worden.174 Diese hatte dabei unter anderem Rückendeckung vom PCI-Organ L’Unità erhalten, welches die Besetzungen als „[…] occupazioni promosse provocatoriamente dai ‚gruppi‘ extra-parlamentari […]“175 verurteilte. Einige Besetzungen aber, wie diejenigen vom November 1973 in San Basilio und der Magliana, überdauerten das bewegte Frühjahr 1974 und schienen zunehmend akzeptiert zu sein. Der harte Einsatz der Staatsgewalt gegen die Besetzungswelle im Frühjahr 1974 erklärte sich wohl nicht nur aus dem jeder Besetzung innewohnenden Gesetzesverstoß, sondern auch aus dem fundamentalen Eingriff in den Immobilienmarkt, welcher im tertiär geprägten Rom besondere Bedeutung hatte, da die Grundrente wesentliche Basis des Reichtums zahlreicher bedeutender römischer Familien war.176 Die Besetzungen hatten einen neuralgischen Punkt im Stadtgefüge berührten, den Armati rückblickend folgendermaßen beschreibt: „Le sgradite presenze degli occupanti […] scoperchiano pentoloni ribollenti di accordi sottobanco e bustarelle, violazioni del piano regolatore e concessioni di edificabilità quantomeno sospette. Per questo le occupazioni, rispetto ad altre scelte altrettanto illegali, vengono affrontate con un dispiegamento di forze dell’ordine senza precedenti.“177 Doch auch nachdem der Großteil der Besetzungen geräumt worden war, verschwand die Frage nach erschwinglichem Wohnraum in Rom nicht von der Tagesordnung. Der Bewegungszyklus setzte sich fort, auch wenn der Konflikt in den folgenden Wochen und Monaten nur noch in wenigen Momenten jene öffentliche Sichtbarkeit erlangte, die er im Februar 1974 gehabt hatte: Am 15. März 1974 führte das Comitato di lotta per la casa eine Demonstration mit 5.000 Teilnehmern durch, um seiner Forderung nach einer Miethöhe von 10% des Einkommens Nachdruck zu verleihen. Zehn Tage später veranstalteten zahlreiche römische Stadtteilinitiativen ein großes Treffen im römischen Rathaus, um gemeinsam Perspektiven einer

173 Vgl. Il Tempo vom 26.2.1974, S. 5; Il Tempo vom 27.2.1974, S. 5. 174 Vgl. die fast tägliche Berichterstattung im Lokalteil von Il Tempo vom 1.3.1974 bis zum 16.3.1974. Zu den Auseinandersetzungen im Zuge der Räumungen vgl. auch Sirleto (1998), S. 75. 175 L’Unità vom 1.3.1974, S. 8. „[…] Besetzungen, die von den außerparlamentarischen ‚Gruppen‘ als Provokation angestoßen wurden […].“ 176 Vgl. Agnew (1995), S. 109. Zur grundsätzlichen Bedeutung der Urbanisierung als Feld der Mehrwertinvestition und Mehrwertgenerierung, vgl. Harvey (2009), S. 216-284 und 315331. 177 Armati (2008), S. 236f. „Die unangenehme Präsenz der Besetzer [...] öffnet gärende Töpfe voll inoffizieller Absprachen, Schmiergeldzahlungen, Verstößen gegen den Stadtentwicklungsplan und zumindest verdächtiger Baugenehmigungen. Deshalb wird den Besetzungen im Gegensatz zu anderen ebenso illegalen Vorgehensweisen mit einem Einsatz von Sicherheitskräften ohnegleichen begegnet.“

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‚menschlichen Stadt‘ zu diskutieren. Im Zuge des Treffens kam es zu Reibungen zwischen den anwesenden Exponenten der außerparlamentarischen Gruppen und den Vertretern von SUNIA und PCI. Eine Woche darauf führten linke Parteien und Gewerkschaften sowie die Mietergewerkschaft SUNIA eine Großdemonstration zum Thema Wohnraum durch. Über zehntausend Teilnehmer lauschten nach Angaben der Veranstalter dabei den Reden von Lokalpolitikern des PCI, PSI und der DC178 – für die außerparlamentarische Linke ein Hohn, machte die Linke doch gerade die Politik der DC für Wohnraummangel und Spekulation in Rom verantwortlich. Im August 1974 erzielte die parlamentarische Linke einen Etappensieg: Mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 351 wurde die gesetzliche Begrenzung der Mietsteigerungen bis zum 30.6.1975 verlängert. Durch eine breit angelegte Kampagne der SUNIA für die Anwendung des Gesetzes Nr. 351 gelang es der PCI-nahen Mietergewerkschaft, ihre Mitgliederzahl deutlich zu steigern und ihre Position gegenüber der radikaleren außerparlamentarischen Bewegung wieder zu stärken.179 Aldo Tozzetti, der Vorsitzende der SUNIA, beschrieb die Entwicklung folgendermaßen: „La mobilitazione per l’applicazione della legge 351 fu di grande importanza per rafforzare il movimento degli inquilini. […] Fu un periodo di enorme crescita degli inscritti al SUNIA e cioè consentì anche il recupero alla lotta per la casa di gente che, particolarmente a Roma, per la drammaticità dei problemi, aveva attraversato un periodo di disorientamento.“180 Mit dem Ende der spektakulären Neubesetzungen ab März 1974 verschwanden die Kämpfe um Wohnraum aus den Medien. Das Feld der Wohnraumpolitik wurde in der öffentlichen Wahrnehmung wieder von der institutionellen Politik der traditionellen Linken und ihren Gegenspielern von der DC kontrolliert. Dies sollte sich erst im Herbst 1974 wieder ändern, als sich die Verantwortlichen angesichts des Abflauens der Kämpfe daran machen wollten, die ‚Altlasten zu bereinigen‘, und auf unerwartet erbitterten Widerstand stießen.

178 Vgl. Tozzetti (1989), S. 280ff. 179 Vgl. Tozzetti (1989), S. 283ff. 180 Tozzetti (1989), S. 284f. „Die Mobilisierung für die Anwendung des Gesetzes Nr. 351 war sehr wichtig für die Stärkung der Mieterbewegung. […] Es war eine Phase des enormen Wachstums der Mitgliederzahlen der SUNIA und dies gestattete es auch, jene Leute für den Kampf um Wohnraum wieder zu gewinnen, die gerade in Rom aufgrund der Dramatik der Probleme eine Phase der Desorientierung durchgemacht hatten.“

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2.3 September 1974 – Schlusspunkt des Besetzungszyklus 2.3.1 Chronologie der Ereignisse 2.3.1.1 „La battaglia di San Basilio“ 181 Am Donnerstag, den 5. September 1974, tauchten gegen 8.00 Uhr morgens ohne Ankündigung mehrere Hundertschaften der Polizei in San Basilio auf, um die 147 seit November des vorhergehenden Jahres besetzten Wohnungen der öffentlichen Agentur für sozialen Wohnungsbau IACP zu räumen. Sie umstellten den besetzten Wohnblock in der Via Fabriano und die sechs besetzten Wohnblocks in der Via Montecarotto. Die völlig überraschten Besetzerinnen182 bildeten, so schnell sie konnten, ein picchetto vor dem Eingang des besetzten Wohnblocks in der Via Fabriano und es gelang ihnen zunächst, den Polizisten den Zugang zu ihren Wohnungen zu verwehren. Als aber eine der Frauen die Nerven verlor und in ihrer Verzweiflung vom Balkon ihrer Wohnung herab damit drohte, eine Gasflasche zur Explosion zu bringen, nutzten die Polizisten die entstehende Aufregung, überwanden die Blockade am Eingang und drangen in das Gebäude ein.183 Sobald die Polizisten sich Zugang zu den besetzten Wohnungen verschafft hatten, begannen sie damit, die Möbel der Besetzerfamilien in die wartenden Umzugswägen zu tragen, welche diese in die kommunalen Lager an der Porta Portese transportieren sollten.184 Es kam zu dramatischen Situationen. Verzweifelte Frauen standen Polizisten in Kampfmontur gegenüber: „Volevano che la polizia dicesse dove sarebbero andati a dormire i bambini. Ma la polizia si stringeva nelle spalle: ‚da dove siete venuti là tornate‘ rispondevano. ‚Ma noi siamo qua da un anno, dicevano esasperate le donne. Non abbiamo dove andare.‘ Tutti gridavano. Correvano insulti e spintoni e i bambini piangevano terrorizzati.“185 Gegen 14.00 Uhr fand eine Vollversammlung der 147 Besetzerfamilien statt, bei der die Verteidigung der besetzten Häuser beschlossen wurde. Im Laufe des Nachmittags sammelten sich hunderte Anwohner an den Polizeiabsperrungen in San Basilio – die Stimmung war angespannt.186

181 „Die Schlacht von San Basilio“, so die gängige Bezeichnung der römische Presse für die Auseinandersetzungen in San Basilio am 8.9.1974, vgl. z.B. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 1. 182 Die Familienväter waren, als die Polizei eintraf, größtenteils schon zur Arbeit aufgebrochen. 183 Vgl. Il Manifesto vom 6.9.1974, S. 3; Lotta Continua vom 6.9.1974, S. 4; Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. 184 Vgl. Il Manifesto vom 6.9.1974, S. 3. 185 Il Manifesto vom 6.9.1974, S. 3. „Sie wollten von der Polizei wissen, wo ihre Kinder schlafen sollten. Aber die Polizisten zuckten mit den Schultern: ‚Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid‘ antworteten sie. ‚Aber wir sind seit einem Jahr hier, sagten die Frauen verzweifelt. Wir haben keinen Ort, wo wir hingehen können.‘ Alle schrien. Es kam zu Beleidigungen und Stößen, die Kinder weinten verängstigt.“ 186 Vgl. Lotta Continua vom 6.9.1974, S. 4; Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4.

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Abb. 2.3 Frauen mit etwas Hausrat harren im September 1974 hinter den geräumten Häusern in San Basilio aus und werden von Polizisten in Kampfmontur in Schach gehalten. Hintergrund des plötzlichen und äußerst massiven Eingreifens der Staatsmacht in San Basilio waren wohl Proteste einige Tag zuvor gewesen, bei denen Familien, denen Wohnungen in San Basilio zugewiesen worden waren, die sich in der Hand von Besetzern befanden, mit Unterstützung des SUNIA bei dem IACP vorstellig geworden waren.187 Daraufhin hatten die zuständigen IACP-Funktionäre gerichtliche Räumungsbefehle erwirkt, die nun umgesetzt werden sollten.188 Für die Verantwortlichen des IACP war die Sache klar: „Da febbraio questi appartamenti erano stati assegnati a delle famiglie in base alle graduatorie stabilite dalle commissioni; non è colpa nostra se la polizia è intervenuta solo ora a più di dieci mesi dalle occupazioni.“189 Für die Besetzer stellte sich die Situation freilich in einem anderen Licht dar: Sie hatten im November 1973 leer stehende Wohnungen besetzt.190 Ein Teil dieser Wohnungen war für Familien reserviert, die in IACP Wohnungen in der Villa Gordiani oder Tiburtino III lebten, die abgerissen werden sollten – Familien also, die ein Dach über dem Kopf hatten. Ein anderer Teil sollte entsprechend dem Vergabemodus des IACP bedürftigen Familien zugewiesen werden. Diese Zuweisung war allerdings zum Zeitpunkt der Besetzung noch nicht erfolgt. Der Widerspruch zu den Ansprüchen anderer bedürftiger Familien war also in den Augen der Besetzer erst dadurch entstanden, dass der IACP die längst besetzten Wohnungen anderen Familien zugewiesen hatte.191 Die Kommunistische Partei und die ihr nahestehende Mietergewerkschaft SUNIA unterstützten die Ansprüche derjenigen Familien, denen die Wohnungen vom IACP zugewiesen worden waren und plädierten somit für die Räumung. Dieser Linie entsprach, dass die lokale PCI-Sektion ihr Parteilokal am Donnerstag

187 Vgl. Fattorini (1977), S. 51f.; Il Manifesto vom 6.9.1974, S. 3. 188 Vgl. Il Manifesto vom 6.9.1974, S. 3. 189 Zitiert nach: L’Espresso vom 15.9.1974, S. 14-17, hier S. 14. „Seit Februar wurden diese Wohnungen auf Grundlage der von den Kommissionen festgelegten Ranglisten Familien zugeteilt. Es ist nicht unsere Schuld, wenn die Polizei erst jetzt, nach zehn Monaten Besetzung eingreift.“ 190 Vgl. auch Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 1. 191 Vgl. Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5.

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während der Räumungen geschlossen hielt192 – was von den Besetzern und ihren Unterstützern aus der außerparlamentarischen Linken als deutliches Zeichen der Entsolidarisierung interpretiert wurde. Heikel war diese Haltung für den PCI auch deshalb, weil sich unter den Besetzern PCI-Mitglieder befanden, die sich die Solidarität ihrer Partei erhofft hatten.193 Auch die legitimen Ansprüche derjenigen Familien, die auf den ihnen zugewiesenen Wohnungen bestanden, zogen die Besetzer in Zweifel: Angesichts des undurchschaubaren Vergabemodus des IACP und des Filzes zwischen SUNIA und dem IACP handelte es sich aus Sicht der Besetzer weniger um die viel beschworenen „legittimi assegnatari“, als vielmehr um eine „cricca clientelare del SUNIA“.194 Die Besetzer von San Basilio sahen nach dem Räumungsversuch vom 5. September voraus, dass die Polizei am nächsten Morgen mit noch stärkeren Kräften anrücken würde. So begann man sich schon in der Nacht auf eine erneute Polizeiintervention vorzubereiten.195 In den frühen Morgenstunden des 6. September erreichte die Besetzer von San Basilio dann die Nachricht, dass die Polizei die Räumungen tatsächlich fortsetzen wolle. Gruppen von Besetzern und Unterstützer aus San Basilio begannen gegen 6.00 Uhr morgens, Barrikaden aus Autoreifen und anderem Material auf der Via Tiburtina und der Via del Casal di San Basilio auf der Höhe der Via Nomentana zu errichten – um das Eindringen der Polizeikräfte in die borgata von den beiden großen Ausfallstraßen zu unterbinden. Zudem wurden Barrikaden rund um die besetzen Häuser errichtet.196 Die Frauen blieben in den Wohnungen zurück, während die Männer an den Barrikaden die Polizei erwarteten. Die Polizei sperrte zunächst die beiden großen nordöstlichen Zufahrtsstraßen nach Rom, die Via Tiburtina und die Via Nomentana, und schnitt die borgata damit weitestgehend von der Außenwelt ab.197 Anschließend begannen gegen 7.00 Uhr früh die Auseinandersetzungen an der Via Tiburtina: Die Besetzer und ihre Unterstützer zündeten die Barrikade an, um der Polizei den Weg zu versperren. Diese ließ den Brand von der Feuerwehr löschen und drang anschließend in die borgata ein: Die Polizei fuhr mit Jeeps in die Menschenmengen und versuchte, die Protestierer auseinander zu treiben, indem sie zahlreiche Tränengasgranaten verschoss.198 Die Besetzer und ihre Unterstützer setzten sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr: Ein Hagel aus Steinen, Molotowcocktails und mit Steinschleudern verschossenen Murmeln prasselte auf die Polizisten nieder.199

192 Vgl. Il Manifesto vom 6.9.1974, S. 3. 193 Vgl. Il Manifesto vom 15.9.1974, S. 2. 194 Fattorini (1977), S. 51, „legitimen Empfänger“, „klientelistischer Klüngel des SUNIA“. 195 Vgl. Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. 196 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 2, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65; Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1; Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. 197 Vgl. Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1. 198 Vgl. Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. 199 Vgl. Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5.

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Abb. 2.4 Die Auseinandersetzungen in San Basilio im September 1974. Bald brodelte die Gerüchteküche unter den Protestierenden: Von mehr als 3.000 in San Basilio eingesetzten Polizisten und Carabinieri war die Rede und davon, dass ein Kind durch eine Tränengasgranate am Kopf getroffen und getötet worden sei. Während der übergroße Anteil der Protestierer in Auseinandersetzungen mit der Polizei an der Via Tiburtina verwickelt war, drangen zahlreiche Hundertschaften von der Via Nomentana aus in die borgata vor und umringten die besetzten Häuser in der Via Montecarotto.200 So verlagerten sich die Auseinandersetzungen teilweise in die direkte Umgebung der besetzten Wohnblocks, wo die Polizei ebenfalls massiv Tränengas einsetzte. Viele Frauen aus den Besetzerfamilien standen auf den Balkonen ihrer Häuser und riefen den Verteidigern Ermutigungen zu, unterstützten diese aber auch praktisch, unter anderem indem sie Wasser aus Eimern von den Balkonen schütteten, damit sich die unten Stehenden Erleichterung von den Folgen des Tränengases verschaffen konnten. Die Einsatzkräfte reagierten, indem sie Tränengasgranaten auf die Balkone und in die besetzten Häuser schoss, wodurch ein Brand in einem der Gebäude ausbrach. Anschließend griff die Polizei die Besetzer, die entschlossen waren ihre Häuser zu verteidigen, mit Knüppeln an.201 Bilder zeigen wilde Schlachtenszenen vom Aufeinandertreffen der Polizeieinheiten und der Protestierer: Mit hochgezogenen Halstüchern vermummte Männer versuchen mit langen Holzlatten knüppelschwingende Polizisten in voller Kampfmontur zurückzuschlagen.202

200 Vgl. Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. 201 Vgl. Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1; Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. 202 Vgl. Foto in Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5.

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Abb. 2.5 Auseinandersetzungen in San Basilio am 6.9.1974 Schließlich gelang es der Polizei, sich Zugang zu den besetzten Wohnblocks zu verschaffen: „Mentre il fumo acceca tutti, la polizia si butta all’assalto: conquista gli appartamenti uno per uno, manganella tutti quelli che ci trova dentro e spacca tutto quello che le viene sottomano.“203 Die Polizisten gingen bei den Räumungen oft sehr brutal gegen die in den Häusern verbliebenen Frauen vor: „Ci hanno trattato come cani, non avevano rispetto nemmeno delle donne incinte.“204 Im Laufe des Tages kam es so zu Dutzenden Leichtverletzten auf beiden Seiten.205 Der häufig während der Räumungen zerstörte Hausrat der Besetzer wurde derweil in Umzugswägen geladen und anschließend in die kommunalen Lager an der Porta Portese transportiert. Dabei erhielten die betroffenen Familien aber keine Listen der abtransportierten Gegenstände ausgehändigt, die die Beschlagnahme bestätigten und es ihnen ermöglicht hätten, diese in den entsprechenden Lagern wieder abzuholen.206 Unterdessen waren viele Bewohner des Viertels zur Unterstützung der Besetzer herbeigeeilt: Kinder brachten Wasser und Limonen gegen den Effekt des Tränengases, Männer meldeten nachrückende Polizeieinheiten und die Frauen versorgten in den umliegenden Häusern Verletzte.207 Angesichts dieser spontanen Solidarität von Seiten der Bevölkerung der borgata gingen die Redakteure von Il Manifesto davon aus, dass zwischen Donnerstag und Freitag ein Umdenkprozess bei vielen Bewohnern der borgata eingesetzt hatte: War die Argumentation von IACP, PCI und SUNIA, man müsse jenen Familien zu ihrem Recht verhelfen, die legitimen Anspruch auf die Wohnungen hätten, vielen Bewohnern von San Basilio vor Beginn der Räumungen wohl nachvollziehbar erschienen, so wurde am Donnerstag angesichts der Verzweiflung der Beset-

203 Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. „Während das Tränengas alle erblinden lässt, greift die Polizei an: Sie erobert die Wohnungen eine nach der anderen, prügelt mit dem Schlagstock auf alle ein, die darin sind, schlägt alles kurz und klein, was ihr unter die Finger kommt.“ 204 Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1. „Sie behandelten uns wie Hunde, sie hatten nicht einmal vor den schwangeren Frauen Respekt.“ 205 Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. 206 Vgl. Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. 207 Vgl. Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1; Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4.

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zerfamilien offensichtlich, dass die Umsetzung dieser Maxime im konkreten Fall höchst ungerecht wäre.208 Auch die quasi-militärische Besetzung der borgata durch die Polizei im Zuge der Räumung dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich viele borgatari schließlich mit den Besetzerfamilien solidarisierten. Il Manifesto ging davon aus, dass nun auch viele PCI-Parteimitglieder die Besetzer unterstützten: „Non solo tutta la borgata era in piazza contro la polizia a difesa degli ‚occupanti‘, ma ho sentito […] i compagni del PCI di S. Basilio, che dicevano agli altri: ‚Compagni, il comportamento del PCI e del SUNIA è cosa discutibile e ne discuteremo, ma non in questo momento che abbiamo la polizia di fronte.‘“209 Im Laufe des Tages gelang es den Polizeikräften zwar trotz des erbitterten Widerstands zahlreiche Wohnungen zu räumen, aber keineswegs die Räumung der sechs Wohnblocks in der Via Montecarotto abzuschließen.210 Am Nachmittag brach die Polizei die Räumungen dann ab und ließ es sogar zu, dass die Besetzer in ihre schon geräumten Häuser zurückkehrten. Offensichtlich gingen die Polizisten davon aus, dass es doch noch zu Verhandlungen der IACP mit den Besetzern kommen würde.211 Das Resümee von Lotta Continua zu den Auseinandersetzungen am Freitagabend fiel dementsprechend positiv aus: „I padroni della città hanno tentato un’opera di ‚polizia preventiva‘, un attacco di sorpresa che mettesse sulla difensiva il movimento di lotta per la casa che, dopo l’esplosione di questo inverno, non si è ritirato sconfitto ma sta già organizzando la sua ripresa, una ripresa che ha le sue basi materiali inevitabili nel peggioramento feroce delle condizioni di vita delle masse, di cui il problema della casa e dell’affitto (che a Roma ha raggiunto livelli inconcepibili) è uno degli elementi principali. l’operazione non è andata liscia, e a Roma si è aperto un fronte di lotta che può diventare esplosivo.“212 Nach dem Abzug der Polizei fand eine große

208 Vgl. Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 1. 209 Il Manifesto vom 7.9.1974, S. 1. „Es war nicht nur die ganze borgata gegen die Polizei auf der Straße, um die Besetzer zu verteidigen, sondern ich habe […] die Genossen des PCI von San Basilio gehört, die zu den anderen sagten: ‚Genossen, das Verhalten des PCI und des SUNIA ist fragwürdig und wir werden darüber diskutieren, aber nicht jetzt, wo wir der Polizei gegenüberstehen.‘“ 210 Lotta Continua ging zunächst davon aus, dass die Polizei am 6.9.1974 nur zwei der sechs noch besetzten Wohnblocks in der Via Montecarotto räumte, vgl. Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1. Einige Tage später war in derselben Zeitung dann nur noch von einem an diesem Tag geräumten Gebäude die Rede, vgl. Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4. Il Messaggero berichtete hingegen, dass am Nachmittag des 6.9.1974 nur noch zwei Wohnblocks in der Hand der Besetzer waren und damit im Laufe des Tages vier Wohnblocks geräumt worden waren, vgl. Il Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. 211 Vgl. Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1; Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4; Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5. 212 Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1. „Die Bosse der Stadt haben eine ‚präventive Polizeioperation‘ versucht, einen Überraschungsangriff, der die Hausbesetzerbewegung in die Defensive drängen sollte, die sich nach der Explosion dieses Winters nicht geschlagen zurückzog, sondern die schon ihr Wiederaufflammen organisiert – ein Wiederaufflammen, das seine unausweichlichen materiellen Wurzeln in der brutalen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Massen hat, von denen das Problem des Wohnraums und der Miete

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assemblea des Comitato di lotta per la casa statt, bei der beschlossen wurde, die Häuser um jeden Preis weiter zu verteidigen und am nächsten Morgen Delegationen zum Amtsgericht, zur Präfektur und zu den Gewerkschaften zu schicken, um in Verhandlungen einzutreten. Zeitgleich zur assemblea zog eine große Delegation der Besetzer durch die borgata und berichtete der Bevölkerung über die jüngsten Entwicklungen.213 Am Morgen des nächsten Tages begab sich gegen 11.00 Uhr eine Delegation der Besetzer zum Amtsgericht, um dort mit dem zuständigen Richter zu verhandeln. Während die Besetzerdelegation im Zentrum Roms versuchte, auf dem Verhandlungsweg Druck für ihr Anliegen zu machen, verstrich ein Ultimatum der Polizeikräfte für die freiwillige Räumung der besetzten Häuser, woraufhin sich diese anschickten, die Räumungen fortzusetzen.214 Allerdings sahen sich die Einsatzkräfte nun einer anderen Situation gegenüber als an den beiden Tage zuvor: „Da tutte le zone di Roma una grossa mobilitazione militante e proletaria è affluita a San Basilio per fare corpo unico con gli occupanti. Lo schieramento proletario se da un punto di vista numerico è poco inferiore a quello della polizia, dal punto di vista della determinazione è nettamente superiore.“215 Auch Il Messaggero sah bei den Protestaktionen neben den Besetzern selbst noch eine Vielzahl anderer Akteure am Werk: „[…] molti abitanti della borgata, giovani extraparlamentari e aderenti a consigli di fabbrica e aziende della zona […].“216. Angesichts dieses Widerstandspotentials gelang es den Polizeikräften weder bei ihrem morgendlichen Angriff noch bei einem erneuten Versuch gegen 15.00 Uhr einen durchschlagenden Erfolg zu erzielen.217

(die in Rom ein unglaubliche Niveau erreicht hat) eines der prinzipiellen Elemente ist. Die Operation ist nicht glatt gegangen. In Rom hat sich eine Front des Kampfes geöffnet, die explosiv werden kann.“ 213 Lotta Continua vom 8.9.1974, S. 1. 214 Vgl. Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5; Lotta Continua vom 8.9.1974, S. 1. 215 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „Aus allen Teilen Roms kam es zu einer großen militanten und proletarischen Mobilisierung nach San Basilio, um an der Seite der Besetzer zu stehen. Wenn das proletarische Aufgebot unter numerischen Gesichtspunkten dem der Polizei kaum nachsteht, so ist es ihm in Sachen Entschlossenheit deutlich überlegen.“ 216 Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5. „[...] viele Bewohner der borgata, junge außerparlamentarische Aktivisten und Angehörige der Fabrikräte und Firmen der Gegend [...].“ 217 Vgl. Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4.

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Abb. 2.6 Auseinandersetzungen in San Basilio am 7.9.1974 Die Delegation der Besetzer präsentierte währenddessen mit Unterstützung ihrer Anwälte den vier zuständigen Amtsrichtern einen Einspruch gegen den Räumungsbefehl. Aufgrund der langen Dauer der Besetzung, des Mangels an alternativen Lösungsvorschlägen und der Gefährdung der Familien durch eine gewaltsame Räumung solle der Räumungsbefehl außer Kraft gesetzt und eine andere Lösung gesucht werden.218 Das Dokument des Comitato di lotta per la casa schloss mit einer deutlichen Warnung: „‚Se il minacciato sgombero verrà attuato potranno esservi conseguenze dolorosissime in una situazione ormai assolutamente incontrollabile.‘“219 Nach einigen Ausflüchten hinsichtlich ihrer Kompetenz im Falle San Basilio versprachen die Amtsrichter, dass das Comitato di lotta per la casa eine endgültige Antwort am Montag erhalten werde, weil sie zuerst mit dem Polizeipräsidium Rücksprache halten müssten. Anschließend erfolgte eine kurze Debatte darüber, was die Polizei bis Montag zu tun gedenke: „‚Cosa succederà sino a lunedì mattina?‘ chiedevano gli occupanti. ‚Cosa è successo stamattina?‘ replicava il pretore. ‚Eh; niente!‘ gli occupanti. ‚Allora così continuerà sino a lunedì‘, concludeva il pretore davanti ai giornalisti.“220 Diese Aussage der Amtsrichter wurde von Seiten der Besetzer und ihrer Unterstützer als verbindliche Zusage gewertet, die Räumung bis Montag auszusetzen.221 Wie ernst die Besetzer und ihre Unterstützer

218 Vgl. Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5; Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. 219 Zitiert nach: Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5. „‚Wenn die angedrohte Räumung durchgeführt werden sollte, könnte dies in einer mittlerweile völlig unkontrollierbaren Situation sehr schmerzliche Folgen haben.‘“ 220 Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. „‚Was wird bis Montagmorgen geschehen‘, fragten die Besetzer. ‚Was ist heute Morgen geschehen‘, fragte der Amtsrichter. ‚Naja; nichts‘, erwiderten die Besetzer. ‚Also wird es bis Montag so weitergehen‘, schloss der Amtsrichter vor den Journalisten.“ Tatsächlich aber hatte die Polizei die Räumungsversuche wieder aufgenommen, nachdem die Besetzer-Delegation San Basilio verlassen hatte – was diese aber nicht wusste, als sie mit den Amtsrichtern verhandelte. 221 Vgl. Lotta Continua vom 8.9.1974, S. 1 und Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4.

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dieses Versprechen der Amtsrichter nahmen, spiegelte die Schlagzeile von Lotta Continua am Sonntag, dem 8.9.1974, deutlich wider: „Tregua fino a lunedì tra polizia e occupanti“.222 Auch in den Augen der bürgerlichen Presse standen die Zeichen auf Entspannung: „S. Basilio: Tutto come prima“223 titelte Il Messaggero und verwies auf einen ‚Waffenstillstand‘ zwischen Besetzern und Polizei. Als Zeichen für ein vorläufiges Ende der Räumungsversuche konnte auch der Abzug der von der IACP bestellten Umzugswagen gewertet werden und die Verringerung der Polizeipräsenz in der borgata auf circa 300 Mann. Auf den Abbruch der polizeilichen Räumungsversuche reagierte das Comitato di lotta per la casa mit einer Demonstration der eigenen Stärke: Mehrere tausend Menschen zogen im Rahmen einer kurzfristig organisierten Demonstration durch die Straßen der borgata und feierten den Etappensieg.224 Lotta Continua sah den Grund für den Verhandlungserfolg im starken Widerstand an den Vortagen und der großen Solidarität, die den Besetzern von San Basilio von Seiten der Bevölkerung der borgata zuteil geworden war. Besonders wichtig erschien die rasche Solidarisierung der Arbeiter in den nahegelegenen Fabriken an der Tiburtina, in welchen zahlreiche Bewohner San Basilios arbeiteten: So hatten Delegierte der Fabriken Romanazzi, Voxson, Peroni, SISTE, Selenia, Mes und Irme an den Versammlungen der Besetzer teilgenommen und Druck auf ihre jeweiligen consigli di fabbrica ausgeübt, sich für den sofortigen Abzug der Polizeikräfte aus San Basilio einzusetzen. Zudem hatten sie sich für eine entsprechende Erklärung des consiglio di zona eingesetzt, der am kommenden Montag tagen würde.225 Auch die 240 Besetzerfamilien der Via Pescaglia in der Magliana hatten den Besetzern von San Basilio politische und materielle Unterstützung zugesagt, obwohl es bei den Besetzern der Magliana durchaus Kritik an dem Umstand gab, dass in San Basilio IACPWohnungen besetzt worden waren.226 Der Sonntagmorgen begann für die Besetzer von San Basilio mit einer bösen Überraschung: Um 7.00 Uhr morgens drangen circa tausend Polizisten und Carabinieri in die borgata ein und begannen – entgegen der Zusage des verantwortlichen Amtsrichters vom Vortag – mit der Räumung. Dabei wurden Möbel und Hausrat der

222 Lotta Continua vom 8.9.1974, S. 1. „Waffenstillstand zwischen Polizei und Besetzern bis Montag“. 223 Vgl. Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5. „San Basilio: Alles wie gehabt“ 224 Vgl. Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4; Il Messaggero vom 8.9.1974, S. 5. 225 Vgl. Lotta Continua vom 8.9.1974, S. 1. 226 Vgl. Fattorini (1977), S. 50ff.; Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 58:00 – 59:55: „Io so che noi qui della Magliana partivamo perché ci stava lo sgombero a San Basilio. [...] Noi come Comitato di lotta per la casa eravamo un pochettino contrari. Eravamo contrari perché a noi mai ci saltava in mente di occupare le case degli enti – una cosa che il PCI all’inizio ha fatto.“ „Ich weiß, dass wie hier aus der Magliana losgefahren sind, weil die Räumung in San Basilio war. […] Wir als Comitato di lotta per la casa waren ein wenig dagegen (gegen die Besetzung, M.H.) gewesen. Wir waren dagegen, denn uns wäre es nicht im Traum eingefallen, Sozialwohnungen zu besetzen – eine Sache, die der PCI anfangs gemacht hat.“

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Besetzer einfach aus den Fenstern geworfen.227 Scheinbar setzten die Besetzerfamilien dem massiven Polizeiaufgebot zunächst nur passiven Widerstand entgegen228 – was vor dem Hintergrund ihres ausgesprochen militanten Agierens an den Vortagen wohl als Zeichen dafür gewertet werden darf, dass sie die Wiederaufnahme der Räumungen zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht erwartet hatten.229 Trotz der anfänglichen Überraschung organisierten sich die Besetzer und ihre Unterstützer aus dem Stadtteil recht schnell wieder und es gelang ihnen durch Telefonketten zahlreiche Unterstützer aus anderen Stadtteilen Roms zu mobilisieren.230 Gerade das Moment der Überraschung, das die Besetzer zunächst eher hilflos hatte reagieren lassen, war anschließend ein wesentlicher Faktor für die Eskalation: Man fühlte sich betrogen und sah den eigenen Widerstand nun auch als Protest gegen den Wortbruch der Amtsrichter: „‚Almeno ci avessero avvisato, ci avessero detto che proprio dovevamo andarcene. Invece niente. Soltanto la beffa di un rinvio degli sfratti fino a lunedì. È stato un inganno troppo crudele.‘“231 Gegen acht Uhr morgens wurde schlagartig klar, wie explosiv die Situation in San Basilio tatsächlich war: Aus dem Fenster eines Wohnblocks neben den besetzten Gebäuden wurde auf die Polizei geschossen. Vizepolizeipräsident Cioppa und zwei weitere Polizisten wurden durch Streifschüsse verletzt. Anschließend wurde die 24-jährige Arbeiterin Anna Maria Alfonsi in ihrer Wohnung festgenommen und ein Jagdgewehr sichergestellt.232 Etwa eine Stunde nach dem Vorfall hatte die Polizei die Lage in der direkten Umgebung der besetzten Wohnblocks soweit unter Kontrolle, dass sie Möbelwagen vorfahren lassen konnte, um das Hab und Gut der Besetzerfamilien aus den Wohnungen schaffen zu lassen. Währenddessen eskalierten die Auseinandersetzungen in anderen Teilen der borgata jedoch immer mehr: Ein Fahrzeug der Müllabfuhr wurde in der Via del Casale di San Basilio gestoppt und die Besatzung zum Aussteigen gezwungen. Anschließend wurde das Fahrzeug umgekippt und angezündet, um das Nachrücken weiterer Polizeieinheiten in die borgata von der Via Tiburtina her unmöglich zu machen. Gegen 9.25 Uhr wurde ein Löschfahrzeug der Feuerwehr, das anrückte, um das brennende Müllfahrzeug in der Via del Casale di San Basilio zu löschen, von etwa hundert mit Knüppel bewaffneten Protestierern gezwungen anzuhalten. Die Besatzung musste aussteigen. Anschließend kaperten einige der Protestierer das Fahrzeug und began-

227 Vgl. Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. 228 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. 229 Dass die Besetzer von der sonntäglichen Räumung tatsächlich völlig überrascht waren, zeigte sich u.a. auch daran, dass in den ersten beiden Stunden der Räumung keinerlei präparierte Mittel – wie Molotowcocktails – gegen die Polizeikräfte eingesetzt wurden, vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. 230 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 2, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 231 So eine Besetzerin während der morgendlichen Räumung, zitiert nach Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. „‚Wenn sie uns wenigstens informiert hätte, wenn sie uns gesagt hätten, dass wir unbedingt gehen müssen. Aber nichts dergleichen. Nur der Spott eines Aufschubs der Räumungen bis Montag. Es war eine allzu grausame Täuschung.‘“ 232 Vgl. Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4; L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. Anna-Maria Alfonsi wurde einige Tage später wieder freigelassen, da ballistische Untersuchungen Zweifel an ihrer Täterschaft aufkommen ließen, vgl. Il Manifesto vom 15.9.1974, S. 2.

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nen eine wilde Fahrt mit dem Feuerwehrfahrzeug durch die Straßen der borgata. Als das Fahrzeug später von der Polizei aufgefunden wurde, war es geplündert, wobei den Demonstranten neben Helmen und Gasmasken auch Funkgeräte in die Hände gefallen waren, mit denen sie den Polizeifunk mithören konnten.233 Bald darauf hielt eine Gruppe von Protestierern auf der Via Tiburtina auf Höhe der Ringautobahn einen vollbesetzten Nahverkehrsbus an, zwang Fahrer und Fahrgäste auszusteigen und stellte diesen als Barrikade quer, um die Via Tiburtina zu blockieren. Danach griffen die Protestierer die nahegelegene Carabinierestation mit Molotowcocktails an. Die wenigen Carabinieri, die während der Räumungen dort verblieben waren, gaben Maschinenpistolensalven in die Luft ab, um die Angreifer auf Distanz zu halten.234 Anschließend dehnten sich die Auseinandersetzungen auf den ganzen Stadtteil aus: Laternen- und Telefonmasten aus Stahlbeton wurden umgerissen, um die Straßen für die Polizeifahrzeuge unpassierbar zu machen und ein weiteres Fahrzeug der Müllabfuhr wurde aufgehalten und ging als Barrikade ebenso in Flammen auf wie zwei Polizeijeeps.235 Die Polizisten versuchten, die Protestierer in die Flucht zu schlagen, indem sie hunderte Tränengasgranaten verschossen und mit Jeeps in die Menschenmenge fuhren. Außerdem schossen Angehörige der Sicherheitskräfte laut Lotta Continua immer wieder auch mit scharfer Munition. Gegen zehn Uhr verlagerten sich die Auseinandersetzungen zunehmend näher an die von der Polizei umstellten besetzten Wohnblocks. In den umliegenden Straßen kam es zu heftigen Kämpfen: Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Demonstranten auf Distanz zu halten, und diese reagierten mit Steinwürfen.236 Gegen 14.00 Uhr unterbrach die Polizei, der es bis dato gelungen war, 24 Wohnungen zu räumen, ihre Aktion. Es kehrte relative Ruhe in San Basilio ein.237 Am Nachmittag berief das Comitato di lotta per la casa für 18.00 Uhr eine assemblea popolare auf der Piazza von San Basilio ein, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Delegierte der Besetzer versuchten indessen in Verhandlungen mit der Polizei zu erreichen, dass die geräumten Familien über Nacht wieder in ihre Wohnungen zurückkehren könnten.238 Gegen 18.00 Uhr versammelten sich gut zweihundert Unterstützer der Besetzer auf dem Platz vor der Kirche der borgata: Wegen des Tränengasnebels hatten sie Halstücher vor den Mund gezogen, viele hatten Motorradhelme bei sich und waren mit Knüppeln, Steinschleudern und Molotowcocktails bewaffnet.239 Unter ihnen befand sich eine Gruppe junger Aktivisten aus Tivoli, die erst kurz zuvor in der borgata eingetroffen waren. Einer von ihnen war Fabrizio Ceruso, ein 19-jähriger prekär beschäftigter Kellner, der im Collettivo politico von Tivoli, einer

233 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 4. 234 Vgl. Il Messaggero vom 9.8.1974, S. 4. 235 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1; L’Unità vom 10.9.1974, S. 1; Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. 236 Vgl. Il Messaggero vom 9.8.1974, S. 4; Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. 237 Vgl. Lotta Continua vom 18.9.1974, S. 2. 238 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 2, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65; Lotta Continua vom 18.9.1974, S. 4. 239 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5.

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lokalen Ausprägung der römischen Autonomia Operaia organisiert war. Fabrizio war der Sohn eines kommunistischen Straßenkehrers und kannte das Wohnungsproblem aus eigener Erfahrung: Drei Jahre hatte seine Familie darauf warten müssen, in eine ihr zugewiesene Sozialwohnung einziehen zu können, da die Wohnung von einem Eisenbahnangestellten, der im Besitz zweier Wohnungen war, illegal in Beschlag genommen und weitervermietet worden war. Als die Wohnung schließlich übergeben wurde, sahen sich die Mitglieder der Familie Ceruso in den Tagen bis zu ihrem Einzug gezwungen, abwechselnd Wache zu halten, um zu verhindern, dass die Wohnung wiederum besetzt würde. Den Vormittag des 8. September hatte Fabrizio Ceruso damit zugebracht, Flugblätter in Tivoli zu verteilen, die zu einer Demonstration zum Jahrestag des Pinochet-Putsches in Chile aufriefen. Am Nachmittag waren er und seine Genossen dann nach San Basilio aufgebrochen, um dort die Besetzer in ihrem Kampf gegen die Räumung zu unterstützen.240 Kurz nach 18.00 Uhr entwickelten sich kleine Auseinandersetzungen in der Via Corridonia, die schließlich gegen 19.00 Uhr erneut in heftige Straßenschlachten mündeten. Auf mindestens fünf Straßenzügen gleichzeitig toben nun die Auseinandersetzungen.241 Schließlich neigten sich die Tränengasvorräte der vorgelagerten Polizeieinheit in der Fiuminata dem Ende zu und sie traten den taktischen Rückzug in Richtung Via Montecarotto an, wo der Großteil der Polizisten postiert war und sie sich mit Nachschub versorgen wollten. In der Via Fiuminata befanden sich zu diesem Zeitpunkt circa dreißig Mann der Celere. Sie zogen sich ungeordnet zurück und versuchten die Protestierer mit den zur Neige gehenden Tränengasgranaten und Steinwürfen auf Distanz zu halten, bis ein Jeep mit Nachschub eintraf. Die Situation für die Polizisten war angespannt und die Nerven lagen offensichtlich blank. Einer Frau, die das Geschehen auf der Straße vom Balkon ihrer Wohnung aus beobachtete, drohte einer der Polizisten, das Gewehr mit der aufgepflanzten Tränengasgranate in der Hand: „Te lo tiro nella pancia“.242 Die Protestierer kamen immer näher.243 Gegen 19.15 Uhr fiel ein Schuss. Fabrizio Ceruso brach in die Brust getroffen zusammen und blieb in der Via Fiuminata auf Höhe der Via Fabriano liegen.244 Der Schwerverletzte wurde von drei seiner Genossen, darunter seinem Bruder Enzo, in ein Taxi geladen und in die römische Poliklinik gefahren. Als das Taxi dort eintraf, war Fabrizio Ceruso bereits tot.245 Die Nachricht, dass ein Demonstrant durch einen Schuss aus der Dienstwaffe eines Polizisten schwer verletzt worden war, verbreitete sich schnell unter den Demonstranten.246 Ein LC-Aktivist erinnerte sich Jahre später: „Ogni volta che ripenso a quel momento […] rimango stupito dal fatto che le pallottole non ci avevano fatto

240 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. 241 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. 242 Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 5. „Ich schieße sie Dir in den Bauch.“ 243 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5; Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 5. 244 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5; Lotta Continua vom 18.9.1974, S. 2; ähnlich auch: Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 245 Vgl. Lotta Continua vom 18.9.1974, S. 2. 246 Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4; ähnlich auch: L’Unità vom 9.9.1974, S. 12; Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5.

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paura. Capisci? C’era un compagno ferito gravemente ma noi pensammo solo a riorganizzarci. Non solo per difenderci ma perché eravamo decisi a vincere. Si era sparsa la notizia dell’arrivo da Napoli di un’altra colonna della celere. Per impedire che ci accerchiassero abbattemmo tutti pali della luce. San Basilio era al buio.“247 Als gegen 20.00 Uhr in San Basilio bekannt wurde, dass Fabrizio Ceruso seinen Verletzungen erlegen war, explodierte die Wut in der borgata: „Appena si è sparsa la notizia della uccisione del compagno, la rabbia dei proletari di San Basilio si è espressa con la piena coscienza che nel quartiere la polizia, che mai vi aveva messo piede, se non a caro prezzo, aveva ucciso uno di loro.“248 Die Auseinandersetzungen spitzten sich zu: „La confusione cresce. I giovani extraparlamentari avanzano al grido di ,polizia assassina‘. Il fragore delle bombe carta supera il secco rumore del fucile che spara i candelotti. E poi due, tre, molte fiammate di bottiglie molotov. Nelle forze dell’ordine c’è panico. I candelotti prima partivano con lanci parabolici; adesso la traiettoria è dritta, ad altezza d’uomo. All’angolo con Via Senigallia, ormai si sparano candelotti in tre direzioni. Uno finisce nell’appartamento di Salvatore Lai […] che prende immediatamente fuoco.“249 Um 20.50 Uhr, weniger als zwei Stunden nach dem Tod Fabrizio Cerusos, während die Auseinandersetzung in San Basilio in vollem Gange war, meldete sich Vizepolizeipräsident Vitali mit einer Nachricht zu Wort, die auch die den Sicherheitskräften gegenüber wohlgesinnten Teile der Öffentlichkeit nur mit einem Kopfschütteln quittieren konnten: Alle auf Seiten der Staatsmacht in San Basilio eingesetzten Waffen seien inspiziert worden und man habe festgestellt, dass kein einziger Schuss aus ihnen abgegeben worden sei.250 Für die

247 Massimo Carlotto (2003): San Basilio, in: Paola Staccioli (Hg.): In ordine pubblico. Rom, S. 45 – 53, hier: S. 51. „Jedes Mal wenn ich an diesen Moment denke, […] bin ich wieder verwundert darüber, dass uns die Kugeln keine Angst gemacht hatten. Verstehst Du? Da war ein Genosse schwer verletzt worden, aber wir dachten nur daran, uns zu reorganisieren. Nicht nur, um uns zu verteidigen, sondern weil wir entschlossen waren zu gewinnen. Es wurde bekannt, dass aus Neapel eine andere Kolonne der Celere kommen sollte. Um zu verhindern, dass sie uns einkreisten, rissen wir alle Straßenlaternen um. San Basilio lag im Dunklen.“ 248 Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. „Kaum wurde die Nachricht von der Tötung des Genossen bekannt, schon drückte sich die Wut der Proletarier von San Basilio in dem Bewusstsein aus, dass die Polizei, die immer einen hohen Preis zahlen musste, wenn sie das Viertel betreten hatte, einen der ihren getötet hatte.“ 249 Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. „Das Chaos wächst. Die jungen außerparlamentarischen Aktivisten dringen unter dem Ruf ,Polizisten sind Mörder‘ vor. Das Getöse der selbstgebauten Knaller überdeckt das trockene Knallen des Gewehrs, das Tränengasgranaten verschießt. Dann flackern zwei, drei, viele Molotowcocktails auf. Unter den Ordnungskräften herrscht Panik. Die Tränengasgranaten, die vorher mit parabolischer Flugbahn abgefeuert wurden, werden nun auf Körperhöhe abgefeuert. An der Kreuzung der Via Senigallia werden inzwischen Tränengasgranaten in drei Richtungen abgeschossen. Eine landet in der Wohnung von Salvatore Lai, die sofort Feuer fängt.“ 250 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 6.

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Polizei war deshalb klar: „Si sono sparati fra di loro.“251 Selbst L’Unità, den Sicherheitskräften im Kontext der Räumungen durchaus wohlgesonnen, musste angesichts MP-Salven, welche Carabinieri schon vormittags vor der lokalen Kaserne abgegeben hatten, konstatieren: „C’è da dire che la polizia è stata troppo rapida a escludere che si sia sparato dalla sua parte.“252 Während die Polizei rasch alle Schuld am Tod Fabrizio Cerusos von sich wies, intervenierte CGIL-Sekretär Scheda bei Innenminister Taviani und forderte diesen auf, die Polizeikräfte aus San Basilio abzuziehen, um eine Normalisierung der Situation zu ermöglichen und anschließend Verhandlungen mit den Besetzern aufzunehmen.253 Die Staatsmacht jedoch setzte weiterhin auf ihre Strategie der militärischen Stärke und so wurden zwei weitere Hundertschaften der Celere aus Nettuno und Caserta in die borgata beordert.254 Gegen 22.00 Uhr sahen die Polizeikräfte vor Ort sich gezwungen, Scheinwerfer in der Via Corridonia aufzubauen, da die Protestierer hier die gesamte Straßenbeleuchtung zerstört hatten und so für die Ordnungskräfte praktisch unsichtbar waren. Plötzlich fielen erste Schüsse.255 Polizeihauptmann Pizzinelli schrie in das Mikrophon seines Funkgeräts: „Qui stanno sparando contro le forze dell’ordine.“256 Die Polizei reagierte mit zahlreichen Tränengasgranaten in Richtung der Demonstranten, doch der Wind hatte gedreht und trieb den scharfen Qualm zu den Ordnungskräften zurück. Außerdem prasselten Steine, Molotowcocktails und selbstgebaute Knallkörper auf die Beamten nieder. Immer wieder waren auch Pistolenschüsse zu hören.257 Ein Aktivist von Lotta Continua beschrieb die Zuspitzung der Konfrontation Jahre später folgendermaßen: „La polizia era a corto di lacrimogeni ma sempre pronta a sparare. All’improvviso spuntarono – non so bene come definirli – diciamo dei ,gruppi di resistenza‘ armati di pistola che risposero al fuoco.“258 Gegen 22.20 Uhr bot Polizeihauptmann Pizzinelli Pressefotografen an, sie zu einem kleinen Brand in der Via Fiuminata zu begleiten, den ein Molotowcocktail ausgelöst hatte. An der Straßenecke forderte der Hauptmann die Fotografen auf, in Deckung zu bleiben, während er eine Gruppe von Polizisten zur Ruhe ermahnen wollte, die sich heftigen Angriffen ausgesetzt sah. Doch kaum um die Ecke, brach Pizzinelli, von einem Schuss im Gesicht getroffen, zusammen. Gleich darauf wurde ein weiterer Polizist von einem Schuss in die Brust getroffen.259 „La notizia del ferimento del loro

251 So der Vizepolizeipräsident Vitali, zitiert nach: Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. „Sie haben sich untereinander erschossen.“ 252 L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. „Man muss sagen, dass die Polizei allzu schnell ausschloss, dass von ihrer Seite aus geschossen wurde.“ 253 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 12. 254 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. 255 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. 256 Zitiert nach: Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. „Hier wird auf die Ordnungskräfte geschossen.“ 257 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. 258 Carlotto (2003), S. 51. „Der Polizei ging das Tränengas aus, aber sie war immer bereit zu schießen. Auf einmal tauchten – ich weiß nicht recht wie ich sie nennen soll – sagen wir ‚Widerstandsgruppen‘ auf, die mit Pistolen bewaffnet waren und erwiderten das Feuer.“ 259 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5; Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 5.

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capitano, disorienta il reparto, che adesso è praticamente solo. […] Gli agenti vogliono sparare. Si ritirano disordinati, perché ‚non vogliamo morire come carne da macello‘. In fondo a Via Fiuminata, un gruppo si ribella agli ordini dell’ufficiale e alla minaccia della galera rispondono con male parole. Sono momenti di grande tensione, una sparatoria all’impazzata. I colpi arrivano da ogni parte, non si riesce a distinguere nulla perché è tutto un fumo di lacrimogeni. Si sentono interi caricatori vuotarsi con un rumore secco.“260 Unter den Demonstranten kursieren wilde Gerüchte: „I funzionari di P.S., per frenare lo sbandamento dei plotoni promettono che è in arrivo un camion con mitra e bombe a mano […].“261 Unter den Polizisten hielten viele der Anspannung nicht stand: „I poliziotti che arrivavano (30 circa, colpiti da malore) al Policlinico erano molto eccitati e spesso fuori di se. Secondo una voce raccolta a caldo da alcuni agenti, Pizzinelli (il capitano colpito nella faccia, M.H.) sarebbe stato ferito proprio mentre impediva a un poliziotto, con due pistole in mano, di sparare contro una finestra […].“262 Gegen 23.10 Uhr traf eine weitere Verstärkung der Ordnungskräfte in San Basilio ein und es gelang der Polizei, die Protestierer auseinanderzutreiben. Die Polizei entschied anschließend, sich zurückzuziehen und mit vierhundert Mann rund um die geräumten Häuser Stellung zu beziehen. Gegen Mitternacht kehrte Ruhe in San Basilio ein.263 Die Tatsache, dass die Polizei im Laufe des Sonntags ganze vier Protestierer festgenommen hatte, machte deutlich, dass sie die Kontrolle über die Ereignisse in San Basilio weitgehend verloren hatte und sich vor allem am Abend auf den Selbstschutz hatte konzentrieren müssen.264 Die Bilanz der Ordnungskräfte am Sonntagabend bewies, dass die kriegerische Rhetorik, die die Berichterstattungen prägte, durchaus nicht deplatziert war: Ein Beamter der Celere mit einer Schusswunde in der Brust, ein Polizeihauptmann mit einem Projektil im Kiefer und ein weiterer Polizist mit einem Bauchschuss wurden in

260 Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. „Die Nachricht von der Verletzung ihres Hauptmanns verunsichert die Einheit, die nun praktisch alleine ist. […] Die Beamten wollen schießen. Sie ziehen sich ungeordnet zurück, weil ‚wir nicht wie Schlachtvieh sterben wollen‘. Am Ende der Via Fiuminata rebelliert eine Gruppe gegen die Befehle ihres Vorgesetzten und erwidert mit Beleidigungen auf die Drohung mit dem Gefängnis. Es sind Augenblicke großer Anspannung, eine irre Schießerei. Die Kugeln kommen aus allen Richtungen, man kann durch den Tränengasqualm nichts sehen. Man hört wie ganze Magazine mit einem trockenen Geräusch leergeschossen werden.“ 261 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „Die Polizeifunktionäre versprechen, dass ein Lastwagen mit Maschinenpistolen und Handgranaten geschickt wird, um die Auflösung der Einheiten zu stoppen […].“ 262 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. „Die Polizisten, die in der Poliklinik ankamen (etwa 30, denen übel war) waren sehr erregt und oft außer sich. Einem Gerücht zufolge, das einige Beamte brühwarm erzählten, soll Pizzinelli (der im Gesicht getroffene Hauptmann, M.H.) verletzt worden sein, gerade als er einen Polizisten mit zwei Pistolen in der Hand daran hinderte, auf ein Fenster zu schießen […].“ 263 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 5. 264 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1.

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kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert.265 Lotta Continua berichtete von insgesamt neun Polizisten, die mit Schussverletzungen in das Krankenhaus am Celio eingeliefert worden waren, L’Unità hingegen ging von fünf durch Schüsse verletzten Polizisten aus.266 Il Messaggero schätzte die Anzahl der verletzten Polizisten auf circa 30, von denen ‚viele‘ von Schüssen getroffen worden seien.267 Verletzte Demonstranten tauchten in keiner Statistik auf, da sie aus Angst vor Verhaftung nicht in Krankenhäuser gingen.268

2.3.1.2 Nach der Schlacht Am Montag, den 9. September 1974, befand sich San Basilio in einem seltsamen Schwebezustand: Das Alltagsleben war ausgesetzt. Der öffentliche Nahverkehr war unterbrochen, der Markt, die Geschäfte, die Post und die lokale Bankfiliale waren geschlossen, die Straßen waren unpassierbar durch die Barrikaden des Vortags und übersät mit den Resten der Schlacht.269 An dem Ort, wo Fabrizio Ceruso erschossen worden war, waren inzwischen unzählige rote Nelken niedergelegt worden.270 Über ihnen prangte ein großer plakatierter Schriftzug: „Qui è morto il compagno di 19 anni Fabrizio Ceruso assassinato dalla Polizia“.271 Die Situation der Besetzerfamilien war unübersichtlich: Einige Familien waren nach der Räumung bei Verwandten untergekommen und nicht mehr vor Ort, andere hatten die Nacht mitsamt ihrer Möbel in den Hinterhöfen der IACP-Wohnblocks oder auf den nahegelegenen Wiesen verbracht. Wieder anderen war gestattet worden, vorübergehend in die Wohnungen zurückzukehren, bis die Räumungen endgültig abgeschlossen würden.272 In zwölf der geräumten Wohnungen waren inzwischen jene Familien eingezogen, denen der IACP sie zugewiesen hatte.273 Der Einzug dieser 12 Empfängerfamilien scheint nicht zu einer Konfrontation mit den Besetzern ge-

265 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 12. 266 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 1; Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. Die Comitati autonomi operai gingen von acht angeschossenen Polizisten aus, vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 267 Vgl. Il Messaggero vom 9.8.1974, S. 1. 268 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. 269 Vgl. Messaggero vom 10.9.1974, S. 1 und S. 4. 270 Vgl. Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 1. 271 Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 4. „Hier starb der 19-jährige Genosse Fabrizio Ceruso, ermordet von der Polizei“. 272 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 4. 273 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 1. Viele Familien, denen die Wohnungen in San Basilio vom IACP zugewiesen worden waren, waren unter den gegebenen Umständen wohl nicht bereit, diese zu beziehen, vgl. Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 1.

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führt zu haben, Il Manifesto berichtet vielmehr von gegenseitiger Unterstützung und Solidarität.274 Die Besetzer schickten am Montag nach der Schlacht erneut eine Delegation mit Anwälten ins Amtsgericht, wo ihnen der zuständige Richter Zanobini mitteilte, dass er den am Samstag eingelegten Einspruch gegen die Räumung abweise.275 Il Messaggero fragte angesichts des Zeitpunktes dieser Mitteilung: „Ma allora chi ha dato sabato notte l’ordine di sgombero prima ancora che si conoscesse la decisione del magistrato?”276 Auch ein erneuter Einspruch der Besetzeranwälte wurde vom Amtsgericht abgewiesen, wodurch der Räumungsbefehl in Kraft blieb.277 Die Polizei begann derweil tatsächlich erneut mit der Räumung immer noch besetzter Wohnungen, die jedoch durch die Besetzerfamilien soweit wie möglich verzögert wurde.278 Am Tag nach den dramatischen Auseinandersetzungen in San Basilio meldeten sich auch Parteien, Kirche und Gewerkschaften zu Wort. Die Meinung war weitgehend einhellig: Zur ‚Schlacht von San Basilio‘ war es nur gekommen, weil von Seiten der Institutionen viel zu spät gehandelt worden war und bei den Besetzern von San Basilio so das Gefühl aufgekommen war, dass ihr Handeln geduldet würde. Hinter der Tragödie aber stehe das grundsätzliche Problem des völlig unzureichenden öffentlichen Wohnungsbaus. Zudem sahen die politischen Kräfte vom Vatikan bis zum PCI die außerparlamentarischen Gruppen als mitverantwortlich für die Eskalation in der borgata an.279 Deutliche Kritik am Vorgehen der Polizei äußerte hingegen neben den Gruppen der Neuen Linken einzig der PSI.280 Die Gewerkschaften gaben sich damit zufrieden, eine rasche Intervention der öffentlichen Institutionen in Sachen Wohnraumknappheit anzumahnen und die arbeitende Bevölkerung aufzurufen, „jede Form der Provokation zu isolieren“281 , womit sie – ähnlich wie der PCI – eine klare Frontstellung gegen die außerparlamentarische Linke bezogen, die die Besetzer in ihrem Kampf unterstützte.282 Tags darauf normalisierte sich die Situation in der borgata allmählich: Während etwa hundert Besetzer nach wie vor in den Wohnungen geduldet wurden und andere in den Treppenhäusern der Wohnblocks ausharrten, nahm die Straßenreinigung ihren Dienst wieder auf und öffneten die Geschäfte nach und nach. Am Nachmittag begann auch der öffentliche Nahverkehr zwischen der borgata und dem Rest der Stadt wieder zu funktionieren. Rund um die ehemals besetzten Wohnblocks in der Via Montecarotto waren nach wie vor Einheiten der Carabinieri und der Polizei postiert, die die

274 Vgl. Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 1. 275 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 4. 276 Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 4. „Aber wer hat dann Samstagnacht den Befehl zu Räumung gegeben, noch bevor der Beschluss des Richters bekannt gegeben wurde?“ 277 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 4; Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 6. 278 Vgl. Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4. 279 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 5. 280 Vgl. Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 5. 281 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. 282 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 7.

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Zufahrtsstraßen absperrten.283 Am Nachmittag fand eine gemeinsame Versammlung der Besetzer und derjenigen Familien statt, die die Wohnungen erhalten sollten. Bei der Versammlung einigten sich die beiden Fraktionen auf eine Reihe gemeinsamer Forderungen: Abzug der Polizei aus San Basilio, Anerkennung des Rechts auf Wohnraum der Familien, denen der IACP die Wohnungen in San Basilio zugewiesen hatte, und der Besetzerfamilien sowie Verurteilung der Polizeiaggression.284 Für die Gruppen der Neuen Linken stand damit fest, das jener Konflikt, den der PCI und die SUNIA stets als zentrales Problem dargestellt hatten real so nie existiert hatte: „(N)on c’è e non c’è mai stata una rissa tra baraccati per gli appartamenti.“285 Eine Besetzerin fasste ihre Sicht der Dinge so zusammen: „‚Noi si che non vogliamo la lotta tra i poveri […] non il SUNIA che nel febbraio del ’74, insieme all’IACP, faceva parte della commissione che ha assegnato ad altri lavoratori questi alloggi che noi avevamo già occupato fin dal novembre ’73 e, nel febbraio, quando è stata fatta questa bella porcheria, avevamo già i contratti per la luce e per il gas.‘“286 Ein anderer Besetzer pflichtete ihr bei: „‚È che il SUNIA ormai è diventato come un usciere del ministero: si occupa solo di tenere buona e in ordine la fila di quelli che hanno diritto alla casa, controlla che tutti abbiano il numero giusto e che nessuno passi avanti nella fila.‘“287 Am Nachmittag verlagerte sich die Auseinandersetzung um die besetzten Häuser in San Basilio zeitweilig von der Peripherie ins Zentrum Roms: Eine Demonstration mit tausenden Teilnehmern zog hinter einem Fronttransparent mit der Aufschrift „Compagno Ceruso sarai vendicato“288 von der Piazza Esedra zur Piazza Santi Apostoli. Organisiert war der Protest vom Comitato di lotta per la casa von San Basilio und dem Collettivo politico di Tivoli, dem Fabrizio Ceruso angehört hatte.289 Auf der Demonstration machten die Teilnehmer ihrer unversöhnlichen Wut auf die Polizei Luft: „Polizia assassina“, „PS – SS“, „Ogni polizziotto preso lo massacriamo“ waren

283 Vgl. L’Unità vom 11.9.1974, S. 1; Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 7. 284 Vgl. Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4. 285 Il Manifesto vom 11.9.1974, S. 2. „(E)s gibt keinen und es gab nie Zoff zwischen den Barackenbewohnern um die Wohnungen.“ 286 Zitiert nach: Il Manifesto vom 15.9.1974, S. 2. „Wir wollen wirklich keinen Kampf zwischen den Armen [...] nicht wie der SUNIA, die im Februar ’74 gemeinsam mit dem IACP in der Kommission saß, die diese Wohnungen anderen Arbeitern zugeteilt hat, die wir schon seit November ’73 besetzt hatten und für die wir im Februar – als diese schöne Schweinerei angerichtet wurde – schon Verträge für Strom und Gas hatten.“ 287 Zitiert nach: Il Manifesto vom 15.9.1974, S. 2. „‚Der SUNIA ist inzwischen wie ein Türsteher des Ministeriums: Er beschäftigt sich nur damit, dass diejenigen, die eine Recht auf eine Wohnung haben, sich schön anstellen. Er kontrolliert, dass alle die richtige Nummer haben und dass sich niemand vordrängelt.‘“ 288 Vgl. Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 6. „Genosse Ceruso, Du wirst gerächt werden“. Il Messaggero ging von 5000 Teilnehmern aus. Lotta Continua hingegen ging von 15.000 Demonstranten aus, vgl. Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 2. 289 Vgl. Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 2.

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lautstark skandierte Slogans.290 Die Demonstranten forderten den Abzug der Polizei aus San Basilio, die Rücknahme der Räumungen, die Freilassung der festgenommenen Genossen und die Bestrafung der Verantwortlichen für den Tod Fabrizio Cerusos. Die Besetzer aus San Basilio selbst konnten nur mit einer Delegation anwesend sein, da der Großteil der Aktivisten noch immer in der borgata ausharrte, um einen eventuellen erneuten Räumungsversuch abzuwehren.291 Während die Demonstranten ihrem Anliegen auf den Straßen Roms Nachdruck verliehen, trafen sich der römische Bürgermeister Darida (DC), der Präfekt, die Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien im römischen Stadtrat und Vertreter der Gewerkschaften und versuchten, eine mögliche Lösung für die Besetzerfamilien von San Basilio zu erarbeiten. Dem römischen Präfekten wurde schließlich die Aufgabe übertragen, schnellstmöglich 500 Wohnungen für besonders bedürftige Familien zu beschaffen.292 Währenddessen gab Innenminister Taviani seinen Lösungsvorschlag für das Problem zum Besten: Er bot jeder Besetzerfamilie, die bereit war, ihre Wohnung ‚freiwillig‘ zu verlassen, 500.000 Lire an.293 Die Besetzer wiesen das Angebot verächtlich zurück: „‚Ma che ce devono dà, nun cianno una lira, semo indebitati co’ mezzo mondo.‘“294 Auch Lotta Continua verurteilte den Vorschlag als Geste des Zynismus: „‚Questa è la somma con cui Taviani vuole riscattare il sangue che ha fatto versare a San Basilio.“295 Taviani versuchte anschließend, die Ambiguität seines Angebots dadurch zu entschärfen, dass er die Summe als eine Entschädigung für die durch den Polizeieinsatz entstandenen Schäden bezeichnete.296 Am Mittwoch, den 11. September 1974, folgte der letzte Akt der direkten Konfrontation: Um sieben Uhr früh begannen mehr als 1.000 Polizisten und Carabinieri, unterstützt von zwei Helikoptern und Dutzenden Jeeps, die borgata zu besetzen.297 Ziel der Polizeiaktion war es, nach mehr als 48 Stunden ‚Waffenstillstand‘ die Räumungen endgültig abzuschließen. Die Besetzerfamilien beriefen sofort eine Versammlung ein und beschlossen einhellig, den Widerstand fortzusetzen: „‚Dopo quarantotto ore di sospensione degli sgomberi questi riprendono: vogliono la guerra!‘“298 Wäh-

290 Vgl. Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 6. „Polizisten sind Mörder“; „PS (Staatspolizei) – SS“; „Jeden Polizisten, den wir kriegen, massakrieren wir“. 291 Vgl. Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 6; Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 2. 292 Vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 10. 293 Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 1 294 Aussage eines Besetzers, zitiert nach Lotta Continua vom 12.9.1974, S.1. „‚Was sollen die uns geben; sie haben keine Lira, wir stehen bei der halben Welt in der Kreide.‘“ 295 Lotta Continua vom 12.9.1974, S.1 „Das ist die Summe mit der Taviani das Blut abgelten will, das er in San Basilio vergießen ließ.“ 296 Vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 6. 297 Vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 1 und S. 6. L’Unità bewegt sich damit zwischen den Einschätzungen von Lotta Continua und Il Messaggero, vgl. Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 1 und Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4 bzw. Il Messaggero vom 12.9.1974, S. 5. 298 Aussage eines Besetzers, zitiert nach Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 1. „‚Nach achtundvierzig Stunden Unterbrechung der Räumungen fangen sie wieder an: Sie wollen Krieg!‘“

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rend die Besetzer und ihre Unterstützer erneut ihren Widerstand organisierten, gelang es den anwesenden Ordnungskräften nur, einige Möbelstücke aus den besetzten Wohnungen zu tragen. Gegen elf Uhr vormittags stiegen die Polizisten dann völlig überraschend in ihre Mannschaftswägen und zogen ab.299 Vom Comitato di lotta per la casa wurde daraufhin eine große Versammlung einberufen, um den Sieg der Besetzer zu feiern: Die Polizei hatte nach Tagen der Belagerung endlich das Viertel verlassen.300 Während sich Polizei und IACP gegenseitig die Schuld für den erfolglosen Abbruch der Räumung zuschoben, atmete die römische Öffentlichkeit angesichts des Endes der Konfrontation auf.301 Aber nicht nur das polizeiliche Vorgehen wirkte chaotisch – das Krisenmanagement der öffentlichen Institutionen war insgesamt von extremer Ineffizienz geprägt: Die für die vorläufige Versorgung der Familien zuständige ECA (Ente Comunale di Assistenza) erschien nur kurz in Gestalt eines einzelnen Funktionärs vor Ort, bot den Besetzerfamilien aber keinerlei alternative Unterkunft an, obwohl das Innenministerium 200 Millionen Lire Soforthilfe zu diesem Zweck bereitgestellt hatte. So war es kaum verwunderlich, dass sich die Zahl der Besetzerfamilien, die ihre Wohnungen in der Via Montecarotto wieder in Beschlag nahmen, gegen Abend auf etwa 80 erhöhte. Da die Möbel der meisten Familien inzwischen abtransportiert worden waren, schliefen viele Familien die dritte Nacht hintereinander auf dem blanken Fußboden.302 Nach dem Abbruch der Räumung verlagerte sich das Zentrum des Geschehens endgültig weg von den besetzten Häusern in San Basilio ins Herz der Stadt, wo die zuständigen Institutionen versuchten, den Konflikt zu regeln. Damit einher ging die Veränderung des Modus der politischen Auseinandersetzung: Die direkte Politik der unmittelbar Betroffenen mit ihrem von der ‚Nähe zur Notwendigkeit‘303 geprägten handgreiflichen Politikstil der praktischen Aneignung wurde nun wieder von der indirekten und körperlosen Politik der Verhandlungen, Anträge, Vermittlungen und Kompromisse überlagert.304 Gegen Mittag begann der zuständige Regionalausschuss im Beisein des römischen Bürgermeisters Darida (DC) und in Anwesenheit zahlreicher Vertreter der demokratischen Parteien und der Gewerkschaften, einen Gesetzentwurf zu diskutieren, welcher folgende Maßnahmen vorsah: Aufwendung von über einer Milliarde Lire für die nächsten zwei Jahre, um die Mietzahlungen bedürftiger Familien zu ergänzen, sofortige Bereitstellung von 500 Wohnungen für besonders

299 Vgl. L’Unità vom 12.9. 1974, S. 1 und S. 6. 300 Vgl. Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 1. 301 Vgl. Il Messaggero vom 12.9.1974, S. 5; L’Unità vom 12.9.1974, S. 1. 302 Vgl. Il Messaggero vom 12.9.1974, S. 5. 303 Vgl. Bourdieus Überlegungen zum Habitus der Arbeiterklasse, den er wesentlich durch die Nähe zur Notwendigkeit geprägt sieht, vgl. Pierre Bourdieu (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M., S. 585ff. Auch: Pierre Bourdieu (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M., S. 32f. 304 Zur Unterscheidung von ‚offizieller Politik‘ und ‚Alltagspolitik‘ bzw. ‚Straßenpolitik‘ vgl. Lindenberger (1995), S. 16f.

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bedürftige Familien,305 Teilung der Mietkosten nach folgendem Schlüssel: 5.000 Lire pro Zimmer für die Ex-Besetzer, der Rest wird von der Region übernommen; Wiedereröffnung des Bewerbungsverfahrens für die IACP-Wohnungen in San Basilio, wobei nun auch die Besetzerfamilien – nach einer entsprechenden Überprüfung ihrer Bedürftigkeit – einbezogen werden sollten. Dieser Gesetzentwurf wurde schließlich angenommen und von den linken Parteien als Schritt zur Lösung der besonders akuten Probleme begrüßt. 306 Vier Tage nach seinem Tod fand am Donnerstag, den 12. September, die Beerdigung Fabrizio Cerusos statt, für die die Besetzerfamilien in kürzester Zeit 300.000 Lire gesammelt hatten.307 Vorausgegangen war dem Begräbnis die Obduktion des Leichnams, welche allerdings keine abschließende Klarheit darüber brachte, wer den jungen Mann getötet hatte: Ceruso war durch ein Projektil des Kalibers 7,65 getötet worden.308 Da die italienische Polizei mit einer Waffe dieses Kalibers ausgestattet war, kamen Polizisten als Schützen ebenso in Frage wie private Waffenbesitzer, unter denen Waffen dieses Kalibers, laut Polizeiangaben, ebenfalls verbreitet waren. Nach vorläufiger Einschätzung des Obduzenten war Ceruso aus circa 15 Metern Entfernung erschossen worden, was bedeutete, dass sich der Schütze unmittelbar in der Via Fiuminata befunden haben musste.309 Das Klima, in dem sich das Begräbnis vollzog, war charakteristisch für die politische Atmosphäre im Rom dieser Tage und verdeutlichte die tiefen Gräben, die sich innerhalb der römischen Linken aufgetan hatten. Der PCI hatte mithilfe seines Parteiorgans versucht, das Begräbnis seiner politischen Qualität zu berauben: „I funerali di Fabrizio Ceruso […] si svolgeranno oggi pomeriggio a Tivoli in forma privata […]“.310 Tatsächlich jedoch war das Begräbnis durchaus ein politischer Akt, bei dem die familiäre Trauerfeier in Tivoli von einer Reihe öffentlicher Symbolhandlungen eingerahmt wurde: Am frühen Nachmittag des 12. September nahm die Beerdingung ihren Ausgangspunkt vor der römischen Poliklinik, wo die Obduktion stattgefunden hatte. Vor der Klinik zogen einige hundert Genossen – darunter zahlreiche Bewohner San Basilios und der Magliana – am offenen Sarg vorbei und brachten Fabrizio Ceruso einen letzten Gruß dar. Zudem waren Kränze der Besetzerfamilien von San Basilio und der Bevölkerung der borgata, des Collettivo politico di Tivoli, von Lotta Continua und den Comitati autonomi operai aufgestellt. Anschließend wurde der Sarg in einem großen Autokorso auf der Via Tiburtina stadtauswärts geleitet.311 In

305 Diese Wohnungen waren freilich nicht alleine für die 147 Besetzerfamilien von San Basilio bestimmt, es ging in den Verhandlungen auch um 30 Besetzerfamilien aus Casalbruciato, 40 Besetzerfamilien aus Bagni di Tivoli usw., vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 306 Vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 10; Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 1. 307 Vgl. Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 1. 308 Vgl. Il Messaggero vom11.9.1974, S. 6. 309 Vgl. Il Messaggero vom 11.9.1974, S. 6. 310 L’Unità vom 12.9.1974, S. 10. „Das Begräbnis von Fabrizio Ceruso [...] wird heute Nachmittag in Tivoli im privaten Rahmen stattfinden […].“ 311 Vgl. Lotta Continua vom 13.9.1974, S. 1.

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San Basilio wurde ein Halt eingelegt, um der Bevölkerung der borgata die Möglichkeit zu geben, Abschied von dem Toten zu nehmen. „Appena arrivato all’altezza di San Basilio, la vita nella borgata s’è fermata. Il carro funebre ha percorso le strade della borgata nel più assoluto silenzio; dalle finestre e dai balconi sono stati lanciati centinaia di garofani rossi.“312 Schließlich hielt der Trauerzug in der Via Fiuminata an jener Stelle, an der Fabrizio Ceruso getötet worden war. Hier stieg sein Vater aus dem Auto, um das dort angebrachte Foto seines Sohnes zu küssen, während die Umstehenden zu Hunderten die Faust erhoben und die Internationale anstimmten. Einige der Besetzer von San Basilio drängten sich nach vorne, um den Vater Fabrizio Cerusos zu umarmen, während eine Gruppe von Frauen beim örtlichen Pfarrer protestierte, weil dieser die Totenglocken nicht läutete. Trotz der Spannungen der vorangegangenen Tage ließ es sich auch die lokale Sektion des PCI nicht nehmen, mit einer Delegation Präsenz zu zeigen, bekannte Vertreter der Partei oder der parteinahen Mietergewerkschaft SUNIA aber waren nicht anwesend.313 Nach dem Zwischenstopp an jenem Ort, wo Fabrizio Ceruso getötet worden war, zog der Trauerzug an den besetzten Häusern vorbei und ließ San Basilio schließlich hinter sich, um in Richtung Tivoli aufzubrechen. An der Kreuzung der Via Casale di San Basilio und der Via Tiburtina erwarteten zahlreiche Arbeiter der umliegenden Fabriken den Trauerzug und die Trauernden erfuhren, dass die Verantwortlichen der Gemeinde Tivoli über Nacht die Graffiti im Gedenken an Fabrizio Ceruso hatten übermalen lassen. Auch die Totenplakate für Fabrizio Ceruso, auf denen zu lesen gewesen war, dass dieser „feige getötet“ worden sei, waren abgerissen worden, wohingegen jene unversehrt hängen geblieben waren, auf denen von einem „tragischen Unfall“ die Rede war.314 Von San Basilio nach Tivoli wurde der Sarg Fabrizio Cerusos schließlich wiederum von einem Autokorso mit rund 1.500 Teilnehmern begleitet. In Tivoli angekommen wurde der Sarg von Besetzern aus San Basilio durch die Straßen des Ortes getragen.315 Die Trauerfeier fand in der örtlichen Kirche im engsten Kreis statt, während auf dem Vorplatz die Genossen des Toten mit roten Fahnen warteten.316 Seine Genossen vom Collettivo Politico di Tivoli gedachten des Verstorbenen in einer Rede und erinnerten an seinen „[…] radicalismo, talvolta ingenuo ma sempre gioviale sano e spontaneo, che lo rendeva insofferente di qualsiasi disciplina. […] Il comunismo era per lui l’insofferenza a vivere in una condizione che sotto tutti i riguardi gli pesava: come proletario, come lavoratore, come militante e come uomo; era la volontà ottimista e creativa di cambiare la società e la speranza in un mondo migliore.“317

312 Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 5. „Kaum war die Höhe San Basilios erreicht, kehrte Ruhe in der borgata ein. Der Leichenwagen fuhr in absoluter Stille durch die Straßen der borgata. Von den Fenstern und den Balkonen wurden hunderte rote Nelken geworfen.“ 313 Vgl. L’Unità vom 13.9.1974, S. 9. 314 Zitiert nach: Lotta Continua vom 13.9.1974, S. 1. 315 Lotta Continua vom 13.9.1974, S. 1. 316 Vgl. Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 5. 317 Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 2. „[...] bisweilen unschuldiger aber immer jovialer, gesunder und spontaner Radikalismus, der ihn unduldsam gegenüber jeder Disziplin sein ließ. […] Der Kommunismus war für ihn die Unversöhnlichkeit gegenüber Lebensbedingungen,

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Nach dem Ende der Trauerfeier in der Kirche von Tivoli bildete sich ein Demonstrationszug aus den Reihen der vor der Kirche Wartenden. Im Zuge der Demonstration wurde die lokale DC-Parteisektion ebenso beschädigt wie eine Plakatwand der lokalen PCI-Sektion zu den Ereignissen von San Basilio.318 Der Zorn der Demonstranten richtete sich gegen das – in ihren Augen – strategische Schweigen des PCI im Hinblick auf den Tod Fabrizio Cerusos: „(I)l ruolo del PCI è chiaro: […] (U)n compagno assassinato dalla polizia perché si batteva per il diritto alla casa di tutti i proletari per i sostenitori del compromesso storico dev’essere seppellito come una vittima della ‚guerra tra i poveri‘.“319 L’Unità verurteilte die Aktionen der Demonstranten mit großer Schärfe und verglich sie mit denen von Faschisten: „Episodi di teppismo come quelli compiuti ieri sera da alcuni gruppi a Tivoli fanno il paio con gesti analoghi messi in atto dai fascisti.“320 Die Reaktion von Lotta Continua auf den Vergleich der wütenden außerparlamentarischen Aktivisten mit Faschisten und den ebenfalls von L’Unità bemühten Vergleich der Ereignisse von San Basilio mit der deutlich faschistisch beeinflussten Revolte von Reggio Calabria einige Jahre zuvor fiel deutlich aus:321 „È un gioco rischioso, questo, e costoso: Comporta di correre il rischio che non a Reggio Calabria, dove strumentalizzazione fascista c’era davvero, ma in un quartiere operaio e antifascista come San Basilio, nel momento in cui i proletari sono impegnati in una lotta contemporaneamente molto dura e molto seria, alla quale partecipano e con la quale solidarizzano molti proletari della base del PCI, la locale sezione del partito revisionista che chiude settariamente la propria porta alla lotta venga considerata come un obiettivo della reazione proletaria. Insistendo in questa logica suicida, non sarà sempre possibile che il senso della responsabilità e la volontà unitaria […] dei militanti rivoluzionari riesca a controllare ed evitare questa reazione.“322 Auch die Besetzer von San Basilio stimmten in den Chor der Kritik am

die ihn in jeder Hinsicht belasteten: Als Proletarier, als Arbeiter, als Militanten und als Menschen; es war der optimistische und kreative Wille, die Gesellschaft zu verändern und an eine bessere Zukunft zu glauben.“ 318 Vgl. L’Unità vom 13.9.1974, S. 9. 319 Lotta Continua vom 12.9.1974, S. 1. „[D]ie Rolle des PCI ist klar: [...] (E)in Genosse, der von der Polizei ermordet wird, weil er für das Recht aller Proletarier auf eine Wohnung kämpfte, muss für die Unterstützer des historischen Kompromisses als Opfer des ‚Krieges unter den Armen‘ beerdigt werden.“ 320 L’Unità vom 13.9.1974, S. 9. „Episoden von Rowdytum, wie die, die gestern Abend von einigen Gruppen in Tivoli begangen wurden, passen zu analogen Aktionen der Faschisten.“ 321 Zur Revolte in Reggio Calabria 1970/71, vgl. Crainz (2003), S. 470-474. 322 Lotta Continua vom 13.9.1974, S. 4. „Das ist ein riskantes und teures Spiel: Es birgt die Gefahr, dass nicht in Reggio Calabria, wo es wirklich eine faschistische Instrumentalisierung gab, sondern in einem antifaschistischen Arbeiterviertel wie San Basilio in einer Situation, in der die Proletarier einen sehr harten und ernsthaften Kampf führen, an dem viele Proletarier der PCI-Basis teilnehmen oder mit dem sie sich solidarisieren, die lokale Sektion der revisionistischen Partei, die auf sektiererische Weise die Türe vor dem Kampf verschließt, als ein Ziel der proletarischen Reaktion gesehen wird. Wenn (der PCI) auf dieser selbstmörderischen Logik besteht, wird es nicht immer gelingen, dass der Verantwortungs-

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PCI ein: Das Comitato di lotta per la casa wies den Versuch der SUNIA, die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung im Namen der Besetzer zu führen, kategorisch zurück und unterstrich, dass die SUNIA in den Augen der Besetzer nur ein Instrument der Mediation, aber kein Akteur im Klassenkampf sei.323 Dass die Besetzerbewegung in Rom trotz dieser Abgrenzung der Kommunistischen Partei keineswegs isoliert war, machte eine Umfrage deutlich, die im Auftrag von Il Messaggero erstellt worden war und die Haltung der römischen Bevölkerung gegenüber den Besetzungen eruieren sollte:324 „Per ottenere la casa occorre occuparla rispondono 71 su 100“325, fasste das Blatt ein zentrales Ergebnis der Umfrage auf seiner Titelseite zusammen. Laut der Unfrage stimmten 41% der römischen Bevölkerung der Aussage vollkommen zu, dass Besetzungen das einzige Mittel seien, um die Verantwortlichen dazu zu zwingen, den sozialen Wohnungsbau anzukurbeln. Weitere 31% stimmten der Aussage weitgehend zu.326 Fast die gesamte römische Bevölkerung – ganze 85% nämlich – sahen in Besetzungen „die logische Konsequenz eines nie gelösten Problems“327, wobei zugleich 58% der Befragten die illegale Besetzung von Wohnungen für „nicht richtig“ hielten, während 42% diesen unter gewissen Umständen zustimmten.328 Erhöhte Zustimmungswerte erzielten Besetzungen bei bestimmten Altersklassen und sozialen Gruppen: So waren es bei jungen Erwachsenen zwischen 20 und 24 Jahren 56%, die Besetzungen in gewissen Situationen für richtig hielten. Unter Studenten waren es 57% und unter Arbeitern sogar 67%. Auf besondere Ablehnung trafen die Besetzungen hingegen bei Hausfrauen (69%) und Rentnern (76%). Über die Hälfte der Befragten ging davon aus, dass die Auseinandersetzungen in San Basilio vermeidbar gewesen wären, wenn die Ordnungskräfte nicht interve-

sinn und der Einheitswille […] der revolutionären Militanten diese Reaktion kontrolliert und verhindert.“ In den Tagen nach dem Tod Cerusos entwickelte sich ein Schlagabtausch zwischen PCI und den Gruppen der Neuen Linken, in dem es um die Gleichssetzung der außerparlamentarischen Linken mit Faschisten durch den PCI und um die marginalen Versuche römischer Faschisten ging, tatsächlich in die Kämpfe um Wohnraum in Rom zu intervenieren. Dieser soll hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Zur Position des PCI vgl. hierzu: L’Unità vom 11.9.1974, S. 7; L’Unità vom 12.9.1974, S. 1; L’Unità vom 13.9.1974, S. 1; L’Unità vom 14.9.1974, S. 10; L’Unità vom 15.9.1974, S. 10. Zur Gegenposition der Gruppen der Neuen Linken vgl. Il Manifesto vom 12.9.1974, S. 1; Il Manifesto vom 15.9.1974, S. 2; Lotta Continua vom 13.9.1974, S. 4; Lotta Continua vom 14.9.1974, S. 4. 323 Vgl. Lotta Continua vom 17.9.1974, S. 1. 324 Zu diesem Zweck waren am Mittwoch, den 11.9.1974, also am dritten Tag nach dem Tod Fabrizio Cerusos, 304 Interviews in verschiedensten Stadtteilen Roms geführt worden, vgl. Il Messaggero vom 13.9.9174, S. 5. 325 Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 1. „Um eine Wohnung zu erhalten muss man sie besetzen sagen 71 von 100.“ 326 Vgl. Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 1. 327 Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 1. Im Original heißt es: „[...] la conseguenza logica di un problema lasciato sempre irrisolto [...]“ 328 Vgl. Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 1 und S. 5.

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niert hätten, wobei zugleich 76% der Meinung waren, dass die Ordnungskräfte mit der Intervention ihrer Pflicht nachgekommen seien, das Recht derjenigen Familien zu verteidigen, denen die Wohnungen rechtmäßig zugewiesen worden waren. Die Hauptverantwortung für die Auseinandersetzungen sahen die befragten Römer also an anderer Stelle: 72% der römischen Bevölkerung gingen davon aus, dass sich die Auseinandersetzungen in San Basilio ereignet hatten, weil die außerparlamentarischen Gruppen interveniert hatten.329 Die Widersprüchlichkeiten der Umfrageergebnisse fassten die Redakteure des Messaggero folgendermaßen zusammen: „I romani, dunque, condannano le occupazioni ma le comprendono, le giustificano e, in fondo, solidarizzano con i protagonisti.“330 Auf die Frage, was eine angemessene Miethöhe sei, antworteten 52% der befragten Römer, dass 11%-20% des Einkommens ‚gerecht‘ seien, die durchschnittliche Angabe lag bei 16,2% des Familieneinkommens331 - einer Höhe also, die in nicht allzu großer Ferne von jenen 10% des Einkommens lag, welche die außerparlamentarische Linke als ‚proletarische Miete‘ einforderte. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen der Neuen Linken und dem PCI um die ‚Schlacht von San Basilio‘ und den Tod Fabrizio Cerusos werden nicht vollständig verständlich, wenn man den Fortgang der Untersuchungen zu Cerusos Tod außer Acht lässt: Die absurde Verlautbarung des Vizepolizeipräsident Vitali, der weniger als zwei Stunden nach dem Tod des 19-Jährigen jedwede Verantwortung der Polizeikräfte ausgeschlossen hatte,332 fand ihre Fortsetzung in Ermittlungen, die der kritischen Öffentlichkeit schnell klar machten, dass bei den Verantwortlichen kein echtes Interesse an einer Aufklärung des Todes Fabrizio Cerusos bestand. Nachdem Vitali mit seiner Aussage Kritik von allen Seiten auf sich gezogen hatte, wies einige Tage später auch der zuständige Ermittlungsrichter Cavallari den eingegangenen Polizeibericht als ‚nicht erschöpfend‘ zurück. Daraufhin präzisierte ein hochrangiger Beamter des römischen Polizeipräsidiums, dass die Aussage des Vizepolizeipräsidenten sich nur auf den Zeitraum von 18.30 Uhr bis 20.30 Uhr bezogen habe – also jenen Zeitraum in dem Ceruso zu Tode gekommen war – nicht aber auf die Zeit zuvor oder danach.333 Wie man diese angebliche zweistündige Unterbrechung des Schusswaffengebrauchs von Seiten der Polizei durch eine Überprüfung ihrer Waffen hatte feststellen können, blieb ein Geheimnis des römischen Polizeipräsidiums. Allerdings bestätigte diese Aussage indirekt, dass die Polizisten am Abend des 8.9.1974 in San Basilio durchaus Gebrauch von ihren Dienstwaffen gemacht hatten.334 Eine Woche nach den tödlichen Schüssen versuchten die Anwälte der Besetzer, die als Nebenkläger auftraten, durch eine Eingabe bei Cavallari, die Ermittlungen in Fahrt zu bringen,

329 Vgl. Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 5. 330 Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 5. „Die Römer verurteilen die Besetzungen also, aber sie verstehen sie auch, sie rechtfertigen sie und solidarisieren sich im Grunde mit ihren Protagonisten.“ 331 Vgl. Il Messaggero vom 15.9.1974, S. 5. 332 Vgl. L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. 333 Vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 1 und S. 6 334 So auch L’Unità vom 15.9.1974, S. 10.

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hatten damit aber keinen Erfolg.335 Die weitverbreiteten Zweifel am Aufklärungswillen der öffentlichen Institutionen müssen vor dem Hintergrund der italienischen Geschichte der frühen 1970er Jahre gesehen werden. Die ‚Strategie der Spannung‘ hatte mit dem Anschlag von Brescia im Mai und dem Anschlag auf den Zug Italicus im August 1974 erst in jüngster Zeit wieder zahlreiche Opfer gefordert, während sich hinsichtlich ihres blutigen Auftakts – dem Anschlag von der Mailänder Piazza Fontana vom 12.12.1969 – schon seit geraumer Zeit die Indizien verdichteten, die darauf hindeuteten, dass Teile des italienischen Staatsapparates für den Anschlag mitverantwortlich gewesen waren. Das Schlagwort der ‚strage di stato‘336, das nach dem Anschlag von der Piazza Fontana die Runde machte, sollte in der folgenden Dekade emblematisch werden für das fundamentale Misstrauen, mit dem nicht nur die außerparlamentarische Linke Italiens Polizei und Justiz gegenüberstand.337 Gerade vor diesem Hintergrund war es für die außerparlamentarischen Aktivisten unerträglich zuzusehen, wie der PCI angesichts des Todes von Fabrizio Ceruso abwiegelte. Während Fabrizio Ceruso zu Grabe getragen wurde und sich die Konfrontation zwischen der traditionellen und der Neuen Linken nochmals verschärfte, entwickelten sich erstmals konkrete Aussichten für die Besetzerfamilien auf eine gesicherte Wohnperspektive: Der Referent für Stadtentwicklung Santarelli (PSI) hatte durch seine Intervention 150 Wohnungen der ENASARCO (Ente Nazionale di Assistenza per gli Agenti e Rappresentati di Commercio) für die Besetzerfamilien von San Basilio aufgetan. Die Wohnungen lagen im Viertel Casal Bruciato und sollten für 5.000

335 Vgl. Il Messaggero vom 15.9.1974, S. 5. Die Skeptiker sollten Recht behalten: Ein Jahr nach dem tödlichen Schuss auf Fabrizio Ceruso war in den Augen der LC-Redaktion offensichtlicher denn je, dass die Verantwortlichen kein Interesse an einer Aufklärung hatten: Der Kommandant der römischen Celere erklärte, er könne nicht einmal sagen, wer in San Basilio eingesetzt gewesen sei, da seine Männer beim Verlassen der Kaserne nicht registriert worden seien. Hinsichtlich jener Polizeieinheit, aus deren Reihen den Zeugenaussagen zufolge der Täter stammen musste, sah die Situation nicht besser aus: An zahlreichen Dienstwaffen der aus Caserta stammenden Polizisten der PS waren die Läufe ausgewechselt worden, was ballistische Untersuchungen sinnlos werden ließ. Einer der Polizisten aus Caserta meldete seine Dienstwaffe schlicht als gestohlen. Angesichts dieser offensichtlichen Verschleierungstaktiken auf Seiten der Polizei führte auch die Tatsache nicht weiter, dass die ballistischen Untersuchungen des tödlichen Projektils durchaus aufschlussreiche Ergebnisse erbracht hatte: Die tödliche Kugel war violet lackiert und vernickelt und entsprach so genau jenem Typ Projektil, welches das italienische Innenministerium bis 1959 von der Firma Piocchi bezogen hatte. Zahlreiche der Projektile, die die Polizisten aus Caserta dem Ermittlungsrichter übergeben hatten, waren identisch mit der tödlichen Kugel. Ein Ermittlungsverfahren gegen die inzwischen z.T. namentlich bekannten Polizisten, die zum Tatzeitpunkt an der Kreuzung der Via Fiuminata und der Via Fabriano postiert waren, wurde dennoch nicht eingeleitet, vgl. Lotta Continua vom 6.9.1975, S. 3. 336 ‚Strage di stato‘ bedeutet ‚staatliches Massaker‘, vgl. auch: Eduardo M. Di Giovanni/Marco Ligini/Edgardo Pellegrini (1970): La strage di stato. Controinchiesta. Rom. Das von linken Aktivisten verfasste Buch fand rasch weite Verbreitung. Alleine vom ersten Erscheinen im Juni 1970 bis Oktober 1971 wurden 100.000 Exemplare verkauft. 337 Vgl. z.B. De Luna (2009), S. 30-55.

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Lire pro Monat und Zimmer an die Familien vermietet werden, wobei die IACP die Miete um 15.000 Lire pro Zimmer und Monat ergänzen würde.338 Die entsprechenden Verträge zwischen IACP und ENASARCO wurden am Freitag, den 13.9.1974, unterzeichnet und anschließend wurde umgehend eine Kommission mit der Überprüfung der Bedürftigkeit der Besetzerfamilien und mit der Vergabe der Wohnungen beauftragt.339 Am 17. September erzielte das Comitato di lotta per la casa von San Basilio in seinen Verhandlungen mit der Sozialwohnungsbehörde dann den Durchbruch: Nach langem Hin und Her willigten die Repräsentanten des IACP ein, den Besetzern unbefristete Verträge zu geben. Außerdem akzeptierten sie das Comitato di lotta per la casa als einziges Repräsentationsorgan der Besetzerfamilien von San Basilio und wiesen ihm eine beratende Funktion bei der Wohnungsvergabe zu.340 Damit war jener soziale Konflikt, der Anlass zu den Auseinandersetzungen von San Basilio gegeben hatte, aus Sicht der Besetzerfamilien gelöst. Was blieb, war der Name Fabrizio Ceruso, der in der kollektiven Erinnerung der außerparlamentarischen Linken Roms fortan für den ungesühnten Todesschuss eines Polizisten auf einen jungen linken Aktivisten stand, und die Assoziationen, die der Name San Basilio von nun an hervorrufen sollte, als Schauplatz einer blutigen Rebellion gegen die Arroganz der Staatsmacht. Auf das als politische Zeremonie inszenierte Begräbnis Fabrizio Cerusos folgte die Aufstellung einer Gedenktafel am Ort seines Todes, auf der zu lesen stand: „Qui è caduto assassinato dalla polizia Fabrizio Ceruso comunista rivoluzionario di 19 anni accorso a fianco dei proletari di S. Basilio in lotta per la casa. La popolazione di San Basilio 8.9.1974”.341 Über diesen Zeilen war ein Bild in das Metall der Tafel eingraviert, auf dem Szenen der ‚battaglia di San Basilio‘ zu sehen waren: eine Menschenmenge vor den umkämpften Häusern, durch eine Barrikade aus umgeworfenen Autos und umgerissenen Straßenlaternen getrennt von den herannahenden Polizeieinheiten. Daneben eine proletarische Vaterfigur mit Schiebermütze und nacktem Oberkörper, die den sterbenden Fabrizio im Arm trägt und in Richtung des Betrachters blickt.342

338 Vgl. Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 5. 339 Vgl. Il Messaggero vom 13.9.1974, S. 5; L’Unità vom 14.9.1974, S. 10. Der Kommission sollten neben dem Präsidenten der IACP je ein Repräsentant der Region der SUNIA, der Gewerkschaften und des Bezirks angehören. 340 Vgl. Lotta Continua vom 20.9.1974, S. 3. 341 Abbildung der Gedenktafel in: Parsi (1976), S. 39. „Hier fiel, ermordet von der Polizei, der 19-jährige revolutionäre Kommunist Fabrizio Ceruso, der den Proletariern von San Basilio zur Hilfe geeilt war, die um Wohnraum kämpften. Die Bevölkerung von San Basilio 8.9.1974“ 342 Vgl. Abbildungen der Gedenktafel in: Parsi (1976), S. 39 und in: Rivolta di Classe 2 (1975), S. 6, in: FVV, Nr. 431. Die Gedenktafel hängt auch im Juni 2009 noch in San Basilio, wobei der Bildteil nicht mehr existiert, sondern einzig die Schrift. Ein Antrag der Besetzer, die Straße, in der Ceruso erschossen worden war, nach ihm benennen zu lassen, scheiterte am Widerstand der Kommunalverwaltung, vgl. Lotta Continua vom 14.9.1974, S. 4.

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Abb. 2.7 Die Gedenktafel für Fabrizio Ceruso in der Via Fiuminata in San Basilio. Die Aufschrift ist im Text wiedergegeben.

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Abb. 2.8 „Dieser Gedenkstein wurde zum zweiten Mal von den Polizeikräften geschändet. Das proletarische Blut ruft nach Rache. Ihr werdet für alles bezahlen. Samstag 24. um 10 Uhr in San Basilio Anbringung der neuen Gedenktafel. Veranstalter: Comitato Proletario von Tivoli, Lotta ContinuaSektion von San Basilio, Stadtversammlung der Comitati autonomi operai e di quartiere.“

Das politische Gedenken an Fabrizio Ceruso war von Anfang an umkämpft. Mehrmals wurde die Gedenktafel für Ceruso von Polizisten zerstört und von Bewegungsaktivisten erneuert. In den folgenden Jahren schrieben sich die jeweils aktuellen politischen Konjunkturen in das Totengedenken ein. Es wurden Lieder gedichtet, Graffiti an Wände gemalt und Gedenkdemonstrationen veranstaltet.343 Ein cantautore der

343 Armati zitiert die Texte von zwei Songs, die im Andenken an Fabrizio Ceruso verfasst wurden und verweist auf Graffiti, vgl. Armati (2008), S. 239f. Zur Gedenkdemonstration 1975 vgl. z.B. Lotta Continua vom 3.9.1975, S. 1; Lotta Continua vom 6.9.1975, S. 3; Lotta Continua vom 10.9.1975, S. 1. Vgl. auch Carlotto (2003), S.52.

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Autonomia Operaia verfasste bald nach Cerusos Tod ein Lied, an dessen Text sich viele der damaligen Aktivisten noch Jahrzehnte später erinnerten:344 „‚La casa compagni si prende / l’abbiamo gridato tante volte / e dopo la si difende / da padroni e polizia / come quei giorni giù a San Basilio / […] / Ma ad un tratto da una barricata / si sentono degli spari / un compagno è caduto a terra / un compagno con il casco rosso / ha una pozza di sangue sul petto / hanno detto si chiama Fabrizio / un compagno dei nostri di Tivoli / uno dei Comitati operai / non era un eroe né un santo / era solo un bravo comunista / che lottava da anni ed è morto per il comunismo / non dobbiamo piangere compagni / lo dobbiamo soltanto vendicare / alla difesa dello Stato rispondiamo ‚proletariato armato!‘ / Noi non abbiamo paura / non abbiamo soltanto bandiere / e oggi abbiamo risposto / questa volta a scappar siete voi / e tutti compagni hanno visto / quel capitano PS / cadere a terra mani in faccia / gridare ‚oddio sparano anche loro‘ […].‘“345 Gerade für die Besetzer von San Basilio, die Aktivisten der römischen Autonomia Operaia und Anhänger von Lotta Continua blieb das Gedenken an Fabrizio Ceruso bis Ende der 1970er Jahre ein jährlich wiederkehrendes Ritual, das mit einer Demonstration in San Basilio begangen wurde.346 1975 und 1976 folgten mit Pietro Bruno und Mario Salvi zwei weitere Aktivisten der römischen außerparlamentarischen Bewegung, die im Zuge von Auseinandersetzungen von den Sicherheitskräften erschossen wurden und so ‚erfand‘ die außerparlamentarische Linke Roms noch vor Beginn der Gewalteskalation der späten 1970er Jahre eine eigene Tradition des politischen Totengedenkens, das sich in alljährlich wiederkehrenden Demonstrationen anlässlich der Todestage der erschossenen Genossen äußerte.347

344 Vgl. Carlotto (2003), S. 50. 345 Zitiert nach Armati (2008), S. 239f. „‚Die Häuser Genossen nimmt man / das haben wir oft gerufen / und dann verteidigt man sie / gegen die Besitzer und die Polizei / wie in diesen Tagen unten in San Basilio / […] / Aber plötzlich von einer Barrikade / hört man Schüsse / ein Genosse ist zu Boden gefallen / ein Genosse mit einem roten Helm / er hat eine Blutlache auf der Brust / sie sagten, er heißt Fabrizio / ein Genosse von uns aus Tivoli / einer der Comitati operai / er war weder ein Held noch ein Heiliger / er war nur ein mutiger Kommunist / der seit Jahren kämpfte und für den Kommunismus starb / wir dürfen nicht weinen Genossen / wir müssen ihn nur rächen / gegen die Verteidigung des Staates antworten wir ‚bewaffnetes Proletariat!‘ / Wir haben keine Angst / wir haben nicht nur Fahnen / und heute haben wir geantwortet / diesmal wart ihr es, die geflohen seid / und alle Genossen haben gesehen / wie dieser Polizeihauptmann / zusammenbrach, die Hände im Gesicht / und schrie ‚Oh Gott, jetzt schießen auch sie‘ […].‘“ 346 Vgl. z.B. Lotta Continua vom 10.9.1975, S. 1. 347 Zum Konzept der ‚invention of tradition‘ vgl. Eric J. Hobsbawm: Introduction: Inventing Traditions, in: Ders./Terence Ranger (Hg.)(1993): The Invention of Tradition. Cambridge u.a., S. 1-14. Besonders ausgeprägt ist die Gedenktradition in Bezug auf jene Bewegungsaktivisten, die von Faschisten ermordet wurden, vgl. z.B. die Gedenkdemonstration am 22.2.2011 für den 1980 ermordeten Valerio Verbano: http://www.youtube.com/watch? v=aBxEjijWx4M (Stand 18.5.2011).

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Abb. 2.9 Aufruf zu Gedenkdemonstrationen für Mario Salvi und Fabrizio Ceruso 1976: „Für den Kommunismus bis zum Sieg. Ehre für Mario Salvi und Fabrizio Ceruso. 7. September: Anbringung der Gedenktafel an dem Ort wo Mario vor 5 Monaten ermordet wurde. 17 Uhr Campo de’ Fiori. 8. September: 2 Jahre nach der Ermordung von Fabrizio. 11 Uhr Kundgebung in San Basilio, Via Fabrizio Ceruso. 17.30 Uhr Demonstration Piazza S. Croce in Tivoli. Stadtversammlung der Comitati autonomi operai e di quartiere.“

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Als sieben Jahre nach Cerusos Tod nur noch einige hundert Teilnehmer zu der Gedenkdemonstration in San Basilio am 8. September 1981 kamen, war dies ein Sinnbild für das Abebben eines Bewegungszyklus und den Anbruch einer neuen Epoche: „‚Un corteo triste. Eravamo tutti consapevoli che i tempi stavano cambiando. E poi di Fabrizio Ceruso non ho più sentito parlare.‘“348

2.3.2 Akteure und Motive Jeder Versuch, die Auseinandersetzungen von San Basilio im Herbst 1974 in die römische Bewegungsgeschichte der 1970er Jahre einzuordnen, muss zunächst den absoluten Ausnahmecharakter unterstreichen, den die Ereignisse für alle Beteiligten durch den Tod Fabrizio Cerusos und die bis dato unbekannte Härte der Konfrontation zwischen Protestierern und Polizei hatten. Dennoch wäre es falsch, San Basilio einzig als Novum zu betrachten, denn die Straßenschlachten vom September 1974 waren von dreierlei Kontinuitätslinien durchzogen: Die offensichtlichste bildete die Kette der Auseinandersetzungen zwischen der Neuen Linken und der Polizei, die seit der Straßenschlacht in der römischen Valle Giulia 1968 nicht abgerissen war.349 Zudem fügten sich die Ereignisse in die Kontinuität der Auseinandersetzungen um Wohnraum in der italienischen Hauptstadt ein, die sich im Gefolge von 1968 ebenfalls verbreitet hatten; und schließlich stand das Geschehen von San Basilio in der langen Tradition der scheinbar ‚unpolitischen‘ Auseinandersetzungen zwischen proletarischer Bevölkerung und Staatsgewalt in der römischen Peripherie, die meist in Form des ‚alltäglichen Kleinkriegs‘350 verlief. Jeder dieser Kontinuitätslinien kann eine Akteursgruppe zugeordnet werden, die an den Auseinandersetzungen von San Basilio beteiligt war: Die politischen Aktivisten, deren Handeln in der Straßenkampftradition der Neuen Linken verankert war, die Besetzerfamilien, die sich gegen die Räumung zur Wehr setzten, und jene Teile der lokalen Bevölkerung, die sich an der Konfrontation beteiligten, weil sie sich mit den Besetzern solidarisierten oder die Präsenz der Polizei in ‚ihrem‘ Viertel nicht akzeptieren wollten. Jede dieser Gruppen verfügte über spezifische Sinngebungsmuster und muss deshalb gesondert betrachtet werden. Zugleich aber werden die Ereignisse von San Basilio erst dann begreifbar, wenn man das praktische Zusammenwirken der verschiedenen Akteure berücksichtigt. Als Erklärungsmodell für die Auseinandersetzungen von San Basilio soll hier auf Lindenbergers Konzept der ‚Straßenpolitik‘ zurückgegriffen werden, das sich auf

348 Zitiert nach Carlotto (2003), S. 52. „Eine traurige Demonstration. Uns war allen bewusst, dass sich die Zeiten änderten. Und dann habe ich niemanden mehr von Fabrizio Ceruso sprechen gehört.“ 349 Zur ‚Schlacht der Valle Giulia‘, vgl. Kurz (2001), S. 216-230; Vidotto (2006), S. 307f. 350 Lindenberger (1995), S. 17. Zu vermeintlich ‚unpolitischen‘ Auseinandersetzungen in San Basilio vgl. Abschnitt 1.2. dieses Kapitels.

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alle „Machtkämpfe auf der Straße und um die Straße“351 bezieht. Während Lindenberger Straßenpolitik aus einer doppelten Perspektive von oben und von unten analysiert,352 soll hier die Perspektive von unten – also jene der drei genannten Akteursgruppen – im Zentrum stehen. Während Straßenpolitik von oben – in Lindenbergers Definition wie auch im konkreten Fall der Auseinandersetzungen von San Basilio – darauf abzielt, die Respektierung des Eigentums und die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols durch ein Regime der öffentlichen Ordnung unter Androhung und Anwendung polizeilicher Gewalt als ultima ratio durchzusetzen,353 definiert Lindenberger Straßenpolitik von unten als „ein Bündel vergleichsweise heterogener Handlungsweisen“354, in welchem politische, aber auch vermeintlich ‚unpolitische‘ Praktiken ihren Platz haben.355 Im Folgenden soll versucht werden, die spezifischen Sinngebungsmuster jeder der drei Akteursgruppen zu analysieren.

2.3.2.1 Die Besetzerfamilien Hinsichtlich der Besetzerfamilien lassen sich problemlos einige Hypothesen aufstellen: Die erwachsenen Familienmitglieder waren wohl zum allergrößten Teil an den Auseinandersetzungen beteiligt. Allerdings mit klar verteilten Rollen: Bei dem Versuch Räumungen zu verhindern, blieben weibliche Angehörige der Besetzerfamilien gewöhnlich mit den Kindern in den Wohnungen, während die Männer rund um die Häuser an den Barrikaden präsent waren und versuchten, die Polizei auf Distanz zu halten.356 Der Verbleib eines Elternteils in den Wohnungen war meist wohl durch praktische Notwendigkeiten bedingt, da der Großteil der Familien kleine Kinder hatten. Dass es sich bei diesem Elternteil aber stets um die Frauen handelte verweist deutlich auf die fortgesetzte Wirkungskraft patriarchaler Rollenmuster hinsichtlich der öffentlichen Ausübung von Gewalt. Lindenberger stellt im Rahmen seiner Untersuchung zur Straßenpolitik im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts fest: „[…] Gewalt […] in der Öffentlichkeit auszuüben blieb […] weitestgehend den Männern vorbehalten und war zudem ein fester und selbstverständlicher Bestandteil ihrer Sozialisa-

351 Lindenberger (1995), S. 13. Lindenbergers Überlegungen beziehen sich allesamt auf seine Untersuchung zu Berlin vor dem Ersten Weltkrieg. Trotz der großen zeitlichen und räumlichen Distanz lassen sich die von Lindenberger entworfenen Konzepte erstaunlich gut auf die Auseinandersetzungen im Rom der 1970er Jahre anwenden. Bei den folgenden Verweisen auf Lindenberger wird nicht jedesmal auf die bedeutenden Unterschiede zwischen seinem und dem hier behandelten Untersuchungsgegenstand eingegangen – dieser muss aber immer mitbedacht werden. 352 Vgl. Lindenberger (1995), S. 13. 353 Vgl. Lindenberger (1995), S. 14. 354 Lindenberger (1995), S. 15. 355 Lindenberger (1995, S. 15ff.) wendet sich dezidiert gegen eine ‚teleologische Verengung‘ des Politikbegriffs. 356 Vgl. Lotta Continua vom 7.9.1974, S. 1.

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tion.“357 Dies scheint auch im Rom der 1970er Jahre noch weitgehend zugetroffen zu haben.358 Die ‚praktische Logik‘ der Besetzer kann wohl vor allem aus ihrer spezifischen ‚Nähe zur Notwendigkeit‘359 erklärt werden. Die Besetzung in San Basilio war von Anfang an durch die extreme Bedürftigkeit der Besetzerfamilien geprägt gewesen, die politische Feinheiten in den Hintergrund treten ließ.360 Es erscheint also durchaus legitim, die konkrete Befriedigung des Bedürfnisses nach Wohnraum als oberste Priorität des Handelns der Besetzer zu sehen. Die Verteidigung der Besetzung und die ständigen Versuche, eine Verhandlungslösung mit dem IACP herbeizuführen, waren aus Sicht der Besetzer zwei Seiten einer Medaille: Die besetzten Wohnungen waren das Faustpfand, mit dem man die IACP dazu zwingen wollte, die Bedürfnisse der Besetzerfamilien nicht zu übergehen. Die Gewalttätigkeit im Zuge der Auseinandersetzung war aus der Perspektive der Besetzer wohl vor allem praktische Notwendigkeit, um eine Räumung zu verhindern oder zumindest zu verzögern und so die eigene Machtposition in den Verhandlungen mit dem IACP nicht einzubüßen. Da Notwendigkeit die Handlungslogik der Besetzerfamilien weitgehend dominierte, waren Formen der indirekten und der direkten Politik in ihrem praktischen Repertoire nicht geschieden, sondern im Gegenteil stets eng verzahnt: „verbale Argumentation und die Anwendung regelgebundener, indirekter Verfahren“361, die dem bürgerlichen Politikideal entsprechen, koexistierten mit „körperlich-impliziten“362 Formen der direkten plebejischen Politik, die unter anderem auf physischer Gewalt basieren.363 Die dabei

357 Vgl. Lindenberger (1995), S. 391. 358 Allerdings gab es mindestens zweierlei Ausnahmen: Zum einen spontane, weiblich dominierte Proteste in der Reproduktionssphäre, in deren Verlauf es durchaus auch zu Handgreiflichkeiten kommen konnte und zum anderen bestimmte hochgradig politisierte Sondergruppen von Frauen, die sich im Zuge ihrer politischen Sozialisation nach 1968 ein Recht auf die öffentliche Ausübung von politischer Gewalt angeeignet hatten. 359 Vgl. Bourdieu (1982), S. 585ff. 360 Vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 58:00- 59:55: „Io so che noi qui della Magliana partivamo perché ci stava lo sgombero a San Basilio. [...] Lì ci stava un livello alto di scontro perché San Basilio era San Basilio insomma. Era una zona che ci stavano parecchie case popolari quindi tutta gente che c’aveva li stessi problemi. Quindi un pocchetino quasi come la Magliana ma li c’era gente un pocchettino più bisognosa.[...] Noi come Comitato di lotta per la casa eravamo un pochettino contrari. Eravamo contrari perché a noi mai ci saltava in mente di occupare le case degli enti [...].“ „Ich weiß, dass wir von hier aufbrachen, weil die Räumung in San Basilio war. […] Dort war das Konfrontationsniveau hoch, denn San Basilio war eben San Basilio. Es war eine Gegend in der es viele Sozialwohnungen gab und somit lauter Leute die das gleiche Problem hatten. Also ein wenig wie in der Magliana, aber dort (in San Basilio) waren die Leute noch etwas bedürftiger. […] Wir als Comitato di lotta per la casa hatten ja unsere Zweifel gehabt. Wir waren dagegen, denn uns wäre nicht im Traum eingefallen Sozialwohnungen zu besetzen.“ 361 Lindenberger (1995), S. 16. 362 Lindenberger (1995), S. 16. 363 Lindenberger (1995), S. 17.

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im Falle der Besetzung von San Basilio in Kauf genommene Eskalation kann mit den Worten Hobsbawms als „collective bargaining by riot“364 bezeichnet werden. Dabei wurde aber im Gegensatz zu Hobsbawms Maschinenstürmern nicht in erster Linie materieller Schaden angerichtet, um die Gegenseite zum Einlenken zu bewegen. Vielmehr versuchten die Besetzer, den politischen Preis einer Räumung in die Höhe zu treiben: Je mehr Polizei zur Durchführung einer Räumung nötig war, je höher das Eskalationsniveau, je hartnäckiger die Wiederbesetzungen nach einer Räumung, desto größer erschien die Wahrscheinlichkeit, dass IACP und Stadtverwaltung die Besetzung akzeptieren oder für eine Alternativlösung sorgen würden. Einer relativ ähnlichen Handlungslogik dürften die Besetzer aus anderen Teilen Roms gefolgt sein, die sich an den Auseinandersetzungen in San Basilio beteiligten. Für die Besetzer der Via Pescaglia in der Magliana etwa war wohl klar, dass ihre eigene Besetzung äußerst gefährdet wäre, wenn die Räumung in San Basilio erfolgreich abgeschlossen würde. Die Verteidigung der Besetzung war für die Besetzer der Via Pescaglia also nicht nur ein Akt abstrakter politischer Solidarität, sondern eine praktische Notwendigkeit, die auf der eigenen Betroffenheit beruhte.365

2.3.2.2 Die Bevölkerung von San Basilio Hinsichtlich der lokalen Bevölkerung und ihrer Beteiligung an den Auseinandersetzungen war die Sachlage weit weniger klar. Die Einschätzungen hinsichtlich der Beteiligung der Bewohner von San Basilio an den Auseinandersetzungen gingen deutlich auseinander: Während die außerparlamentarischen Gruppen die ganze borgata bei der Unterstützung der Besetzer am Werk sahen, bestritten die Funktionäre des PCI dies kategorisch. L’Unità lobte die Zurückhaltung der lokalen Bevölkerung bei den Auseinandersetzungen: „(È) fallita comunque la manovra di coinvolgere gli abitanti della borgata che, al contrario, come rileva un volantino distribuito più tardi dalla sezione del PCI, hanno isolato completamente le iniziative avventuristiche e senza sbocco, dimostrando una grande maturità politica e democratica.“366 Dass eine derartige Darstellung aber eher Wunschdenken als Tatsachenbericht war, wussten auch die Redakteure von L’Unità, wie die Kritik am Vorgehen der Polizei tags darauf deutlich machte: „Si sa che S. Basilio è una delle borgate più popolose e

364 Eric Hobsbawm (1952): The machine breakers, in: Past & Present 1, S. 57-70, hier S. 59. Ein ähnliches Konzept findet sich bei Thompson (1980a), S. 117f. 365 Vgl. Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 32.00 – 32:20: “E poi c’è stato anche il momento cruciale della difesa. Nel senso che l’attacco che poi avevano portato a San Basilio doveva essere portato su larga scala su tutta Roma.“ „Und dann gab es auch den entscheidenden Moment der Verteidigung. In dem Sinn, dass der Angriff, den sie in San Basilio durchführten, dann im großen Stil auf ganz Rom übertragen werden sollte.“ 366 L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. „Der Versuch die Bewohner der borgata einzubeziehen (ist) jedenfalls gescheitert – im Gegenteil, diese haben, wie ein später von der PCI-Sektion verteiltes Flugblatt deutlich macht, die abenteuerlichen und verzweifelten Initiativen völlig isoliert und so ihre große politische und demokratische Reife unter Beweis gestellt.“

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insieme più difficili della capitale: ci sono, a fianco della stragrande maggioranza di onesti lavoratori che vivono una tragica vita di povertà e di sacrifici, elementi emarginati, essi stessi vittime di un ambiente degradato ma certo disponibili per avventure irresponsabili.“367 Diese Trennung der Bevölkerung von San Basilio in eine unbeteiligte ,große Mehrheit‘ und eine kleine Minderheit ,marginalisierter Elemente‘, die sich an den Auseinandersetzungen beteiligte, war dagegen für die außerparlamentarische Linke blanker Hohn: „I giornali borghesi hanno fatto grande scandalo perché alla lotta per la casa hanno partecipato anche compagni che sono stati in prigione. A San Basilio uno ‚scandalo‘ di questo genere fa solo ridere, perché è verissimo che questa è una borgata particolare; la maggior parte della gente ha fatto dure esperienze di vita, non solo quelli che sono stati in prigione per furto, ma tutti quelli che già negli anni lontani hanno lottato per la casa e sono stati baraccati.“368 Für eine genaue Analyse des konkreten Handelns dieser Akteursgruppe ist die Quellenlage schlecht, aber es steht wohl fest, dass Teile der lokalen Bevölkerung durchaus an den Auseinandersetzungen teilnahmen.369 Für die Aktivisten der außerparlamentarischen Linken war klar, dass die Staatsmacht bei ihrem Eingreifen in San Basilio die besondere soziale und politische Komposition der borgata unterschätzt hatte: „Ma lì (a San Basilio, M.H.) c’è stata una guerriglia urbana di due giorni nel corso dei quali la polizia alla fine ha dovuto desistere perché […] s’è inserita su un tessuto di coscienza di quel quartiere specifico perché quello è un quartiere nato dall’allontanamento della gente da parte di Mussolini […] quindi c’è un concetto di solidarietà rispetto a chi lotta per i diritti molto diffuso. E quindi

367 L’Unità vom 10.9.1974, S. 6. „Man weiß, dass S. Basilio eine der bevölkerungsreichsten und zugleich schwierigsten borgate der Hauptstadt ist: Dort gibt es neben der übergroßen Mehrheit der ehrlichen Arbeiter, die ein tragisches Leben voll Armut und Opfern leben, auch marginalisierte Elemente, die selbst Opfer ihrer verfallenden Umgebung, aber sicherlich für unverantwortliche Abenteuer offen sind.“ 368 Il Manifesto vom 11.9.1974, S. 2. „Die bürgerlichen Zeitungen haben es zum Skandal gemacht, dass am Kampf um Wohnraum auch Genossen teilgenommen haben, die im Gefängnis waren. In San Basilio löst ein solcher ‚Skandal‘ nur Lachen aus, denn dies ist wirklich eine besondere borgata. Der Großteil der Leute hat harte Erfahrungen im Leben gemacht, nicht nur die, die wegen Diebstahl im Gefängnis waren, sondern all jene, die schon vor vielen Jahren um Wohnungen kämpften und in Baracken lebten.“ 369 Zur Beteiligung von Bewohnern San Basilios an den Ausschreitungen, vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. Vgl. auch die Interviewaussagen von Beteiligten wie Aldo Polido, die zwar vage sind, aber doch deutlich machen, dass gerade die Situierung der Konfrontation zu ihrer Härte beitrug: Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 58:00- 58:45: „Lì (a San Basilio, M.H.) ci stava un livello alto di scontro perché San Basilio era San Basilio insomma. Era una zona che ci stavano parecchie case popolari quindi tutta gente che c’aveva li stessi problemi. Quindi un pocchetino quasi come la Magliana ma lì c’era gente un pocchettino più bisognosa.“ „Dort (in San Basilio, M.H.) war das Konfrontationsniveau hoch, denn San Basilio war eben San Basilio. Es war eine Gegend in der es viele Sozialwohnungen gab und somit lauter Leute die das gleiche Problem hatten. Also ein wenig wie in der Magliana, aber dort (in San Basilio) waren die Leute noch etwas bedürftiger.“

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quella battaglia alla fine non è stata più solo la battaglia dei senza casa. È stata un po’ una rivolta in generale contro tutte le ingiustizie […].“370 Die einzigen drei Festnahmen, die der Polizei am Vormittag des 8. September 1974 in San Basilio gelangen, gaben einen vagen Hinweis darauf, welche Teile der lokalen Bevölkerung sich direkt an den Auseinandersetzungen beteiligten: Bei den Festgenommenen handelte es sich um drei junge Männer aus San Basilio zwischen 22 und 26 Jahren, von denen zwei wegen Diebstahls vorbestraft waren.371 Auch wenn die Zahl der Festnahmen viel zu niedrig war, um aus dem vorhandenen ‚sample‘ Rückschlüsse auf die Gesamtstruktur dieser Akteursgruppe zu ziehen, so ist es doch auffällig, dass die Verhafteten perfekt in das von Lindenberger entworfene Schema der typischen Akteure des ‚alltäglichen Kleinkriegs‘ passen:372 „Junge alleinstehende Männer, die in ihrer gemeinsam verbrachten Freizeit die staatliche Autorität herausforderten bzw. sich gegen deren disziplinierende Eingriffe zur Wehr setzten.“373 Die Identitätsentwürfe vieler junger borgatari schlossen die Ablehnung der Staatsgewalt unmittelbar mit ein, die als Verkörperung eines Systems begriffen wurde, das für die Unterschichtsjugendlichen der urbanen Peripherie einzig sozialen Ausschluss bedeutete: „‚Quando vediamo la polizia […] è come vedessimo rosso. Per noi la ‚madama‘ rappresenta il potere, il governo. Ed il potere ed il governo non hanno mai fatto niente per noi. È per questo che noi non facciamo niente per la polizia. Quando vedo ‚i piedipiatti‘ correre dietro a qualcuno, uno qualsiasi, è come se l’inseguito fosse io; quando vedo che arrestano uno e lo picchiano […] mi sento come se picchiassero me.‘“374 Es erscheint durchaus begründet, davon auszugehen,

370 Interview mit Franco Moretti vom 11.9.2009, 32:25 – 33:10. „Aber dort (in San Basilio, MH.) hatte für zwei Tage eine Art Stadtguerilla getobt, im Zuge derer die Polizei aufgeben musste, denn […] sie sie war mit dem besonderen Bewusstsein in diesem Stadtteil konfrontiert, denn das Viertel ist durch die Vertreibung der Leute durch Mussolini entstanden […] deshalb gibt es eine weit verbreitete Vorstellung von Solidarität mit denen, die für ihr Recht kämpfen. Und so war diese Schlacht am Ende nicht mehr nur die Schlacht der Obdachlosen. Es war eine Art generelle Revolte gegen alle Ungerechtigkeiten […].“ 371 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. 372 Die Presse berichtet von nur insgesamt vier Festnahmen über den ganzen Sonntag den 8.9.1974, vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. 373 Lindenberger (1995), S. 390. In diese Definition passen neben großen Teilen der an den Ausschreitungen beteiligten lokalen Bevölkerung natürlich auch viele der politischen Aktivisten, wie z.B. der erschossene Fabrizio Ceruso und sein Bruder Enzo. Allerdings dürfte die Handlungslogik organisierter Politaktivisten wie der Brüder Ceruso zumindest teilweise von derjenigen sich spontan beteiligender Jugendlicher abgewichen sein. 374 Aussage eines Jugendlichen aus San Basilio, zitiert nach: Il Messaggero vom 10.9.1974, S. 3. „‚Wenn wir die Polizei sehen [...] sehen wir rot. Für uns repräsentiert die ‚Polente‘ die Macht, die Regierung. Und die Macht und die Regierung haben nie etwas für uns getan. Und deshalb machen wir nichts für die Polizei. Wenn ich ‚die Plattfüße‘ hinter jemandem herlaufen sehe, hinter irgendwem, ist es, als wenn ich der Verfolgte wäre. Wenn ich sehe, dass sie jemanden festnehmen und ihn schlagen, […] fühle ich mich als ob sie mich schlagen würden.‘“

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dass auch im Rom der 1970er Jahre – ähnlich wie in dem von Lindenberger analysierten Berlin der Jahrhundertwende – diese Ablehnung der staatlichen Autoritäten durch die proletarischen Jugendlichen ihren Niederschlag in einem ‚alltäglichen Kleinkrieg‘ um die Straßen der proletarischen Wohnviertel fand.375 Das ohnehin höchst konfliktträchtige Verhältnis zwischen staatlichen Autoritäten und subalternen männlichen Jugendlichen erhielt im hier behandelten Fall zusätzliche Aufladung durch den Ort der Auseinandersetzung: Viele Bewohner San Basilios verfügten über ein „tiefes Zugehörigkeitsgefühl“376 zu ihrem Stadtteil und seinen Bewohnern. Der konkrete Bezug zum eigenen Stadtteil funktionierte bei den Jugendlichen dabei vor allem über die kollektive Freizeitgestaltung, die – angesichts mangelnder Freizeitangebote und überfüllter Wohnungen – auf den Straßen der borgata stattfand: „(T)radizionalmente la strada si proponeva come maestra di vita per intere generazioni […].“377 Auf der Straße wurden die Praktiken des ‚alltäglichen Kleinkriegs‘ eingeübt: „Dieses Konfliktverhalten (der alltägliche Kleinkrieg der jungen Männer gegen die Polizei; M.H.) war Teil einer geschlechts- und schichtspezifischen Sozialisation, in der die Straße als sozialer Raum, den es sich anzueignen, zu beherrschen und gegebenenfalls zu verteidigen galt, eine zentrale Rolle spielte, da sie für Menschen dieser Schicht einen unentbehrlichen Bestandteil ihrer Lebensweise darstellte.“378 Wesentlich für die Handlungslogik der jungen borgatari im Zuge der Auseinandersetzungen vom September 1974 dürfte also ihr Erfahrungshintergrund des ‚alltäglichen Kleinkriegs‘ mit der Polizei gewesen sein. Das im Straßenalltag angeeignete praktische Repertoire konnte nun in den Tagen der Auseinandersetzungen um die Besetzungen in der borgata reaktiviert und adaptiert werden.379 Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen dem ‚unpolitischen‘ alltäglichen Kleinkrieg und der praktischen Logik der Solidarität angesichts der Räumungen verwunderte es kaum, dass es im Zuge der Auseinandersetzungen trotz des dezidiert politischen Anlasses zu Akten des scheinbar ‚sinnlosen‘ Vandalismus380 kam: Aktionen wie die Kaperung eines Feuerwehrfahrzeugs, mit dem einige Protestierer daraufhin durch die borgata rasten, scheinen, eben jener Akteursgruppe zuordenbar, welche

375 Lindenberger verweist explizit auf die ‚historische Kontinuität der Straßenpolitik bis in unsere Tage‘, vgl. Lindenberger (1995), S. 17. 376 Montani (1993), S. 101. Montani spricht von einem ‚profondo senso di appartenenza‘. 377 Montani (1993), S. 101. „(T)raditionell wurde die Straße für ganze Generationen zur Schule des Lebens […].“ 378 Lindenberger (1995), S. 392. 379 Lindenberger verweist explizit darauf, dass es ohne den Einbezug des Erfahrungshintergrunds des alltäglichen Kleinkriegs unmöglich ist, die Logik von Konflikten anlässlich von Streiks oder Straßendemonstrationen nachzuvollziehen – dass also scheinbar ‚unpolitische‘ Konfliktformen das praktische Repertoire der Akteure anlässlich von dezidiert politischen Konflikten (mit-)prägen, vgl. Lindenberger (1995), S. 17. Am ersten Tag der Räumung scheint sich die Intervention der borgatari noch auf kritisches Beobachten der Polizeiaktion beschränkt zu haben. In den Tagen darauf soll die Solidarität der lokalen Bevölkerung mit den Besetzern dann aber deutlich gewachsen sein – u.a. wohl katalysiert durch die immer massivere Polizeiintervention in der borgata, vgl. Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 1. 380 Vgl. Lindenberger (1995), S. 17f.

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die „scripts“381 für die Straßenschlacht im Zuge der Räumung aus alltäglichen ‚unpolitischen‘ Konflikten mit der Staatsmacht übernahm. Dass sich im Auto der drei jungen borgatari, die am Sonntagvormittag festgenommen wurden, Gegenstände aus eben jenem Feuerwehrfahrzeug fanden,382 überrascht also kaum, entsprachen diese doch geradezu idealtypisch jener Akteursgruppe der jungen proletarischen Männer, die durch den ‚alltäglichen Kleinkrieg‘ mit der Polizei sozialisiert waren. Der Identifikation mit der eigenen borgata als Beweggrund für die Teilnahme an den Ausschreitungen entsprach ein Gefühl des Stolzes bei vielen Bewohnern San Basilios, das Lotta Continua nach den Auseinandersetzungen konstatierte: Bei der Bevölkerung von San Basilio sei durch die Auseinandersetzungen ein neues Bewusstsein der eigenen Stärke entstanden. Dieses Gefühl erlaube es den Bewohnern der borgata, sich nun über jene rassistischen Zuschreibungen hinwegzusetzen, unter denen sie seit Jahrzehnten litten:383 „‚Nun me vergogno che so’ de San Basilio, anzi glielo dico io, così capisce con chi ci ha a che fare!‘“384 Dieses Gefühl der Ermächtigung korrespondierte mit einer Aufwertung der borgata im Milieu außerparlamentarischen Bewegungen Roms.385

2.3.2.3 Die politischen Aktivisten Während das Handeln der Besetzer einer praktischen Logik der Notwendigkeit folgte und jenes der an den Ausschreitungen beteiligten jungen Männer aus San Basilio wohl vor allem die praktische Logik des alltäglichen Kleinkriegs auf ein neues Eskalationsniveau transponierte, war das Handeln der politischen Aktivisten der außerparlamentarischen Linken386 kontinuierlich Gegenstand politischer Sinngebung.387

381 Zum Begriff vgl. z.B. Andreas Reckwitz (2004): Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis. Bielefeld, S. 40-54, hier: S. 44. 382 Vgl. L’Unità vom 9.9.1974, S. 1. 383 Vgl. Lotta Continua vom 14.9.1974, S. 4. 384 Ein Bewohner San Basilios, zitiert nach: Lotta Continua vom 14.9.1974, S. 4. „‚Ich schäm’ mich nicht, dass ich aus San Basilio komm‘. Im Gegenteil: Ich sag es ihnen selbst, damit sie wissen, mit wem sie es zu tun haben.‘“ 385 So führten etwa die Besetzer aus San Basilio und ihre Unterstützer die Solidaritätsdemonstration für Chile ein Jahr nach dem Pinochet-Putsch an, die am 14.9.1974 in Rom stattfand, vgl. Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 1. 386 Eigentlich müssten die politischen Akteure in zwei Gruppen unterteilt werden: Die Aktivisten der außerparlamentarischen Linken, die die Besetzung unterstützten und die traditionelle Linke, die die Ereignisse von San Basilio durch ihre ‚Anti-Mobilisierung‘ beeinflusste. Die traditionelle Linke versuchte v.a. in Gestalt des PCI die Besetzer durch Formen der organisierten Nichtintervention zu schwächen: Sie schlossen das Parteilokal in San Basilio während der Auseinandersetzungen in der borgata und verurteilten über das Parteiorgan L’Unità die Auseinandersetzungen als Provokation und Abenteurertum. Diese Haltung

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Vor allem zwei Organisationen der römischen linken Bewegung waren stark in die Auseinandersetzungen von San Basilio eingebunden: Die Gruppe Lotta Continua, die bei der Gründung des Comitato di lotta per la casa von San Basilio Pate gestanden hatte und mit einer eigenen Sektion in San Basilio präsent war, und die Comitati autonomi operai, die als dominante Kraft der römischen Autonomia Operaia eine wichtige Rolle im Besetzungszyklus 1973/74 gespielt hatten und mit Fabrizio Ceruso einen Toten in ihren Reihen zu beklagen hatten.388 Für beide Organisationen hatte die Verteidigung der Besetzung von San Basilio oberste Priorität, da in der außerparlamentarischen Linken Roms Einigkeit darüber herrschte, dass der Angriff auf die Besetzung von San Basilio als staatlicher Versuch gesehen werden musste, einem Anwachsen der sozialen Kämpfe im Zeichen der Wirtschaftskrise zuvorzukommen und die Bewegung durch harte Repression in die Defensive zu drängen.389 Lotta Continua sah in den Auseinandersetzungen von San Basilio einen massiven staatlichen Angriff auf die eigentlich wenig bedeutende Besetzung in der römischen borgata, der darauf abgezielt habe, einen vermeintlich schwachen Sektor des italienischen Proletariats anzugreifen, um dieses insgesamt einzuschüchtern.390 Dieser Lesart zufolge war der Angriff von San Basilio militärisch von langer Hand vorbereitet und seine diskursive Legitimation genau koordiniert. Diesem Ziel habe die Propaganda von IACP und SUNIA gedient, man müsse den Rechten der legitimen Wohnungsbezieher gegenüber den Besetzern zur Geltung verhelfen.391 Als das Wunschdenken von einer schnellen polizeilichen Lösung am heftigen Widerstand der Besetzer und ihrer Unterstützer gescheitert war, seien dann andere Argumentationsfiguren nachgereicht worden, um dem Widerstand seine Legitimität abzusprechen: „Si è tentato di coprire politicamente l’operazione […] mettendo all’opera i più stupidi espedienti della sociologia borghese, scoprendo il sottoproletariato e il ‚terzo mondo‘ nei quartieri di Roma. Non potendo inventare

fand ihre Fortsetzung in dem Hinweis von L’Unità, das Begräbnis Cerusos sei ein rein ‚privater‘ Akt, der offensichtlich dem Ziel diente, die Leserschaft von einer Teilnahme abzuhalten. Schließlich sagte der PCI auch seine Teilnahme an einer Gewerkschaftsdemonstration zur Wohnraumfrage in San Basilio am 16.9.1974 ab. Dabei schloss diese Haltung der Partei aber keineswegs aus, dass einzelne Parteimitglieder sich an der Besetzung oder den Auseinandersetzungen beteiligten. 387 Dieser explizit politischen Sinnstiftung entspricht die weit höhere Quellendichte zu den Motiven und Einschätzungen der politischen Aktivisten. 388 Die anderen beiden auf nationaler Ebene präsenten Gruppen der außerparlamentarischen Linken Il Manifesto und Avanguardia Operaia spielten in den Auseinandersetzungen um Wohnraum in Rom insgesamt und auch in San Basilio eine weniger wichtige Rolle. 389 Vgl. Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 1 und S. 4; Rosso 11 (1974), S. 3-5. 390 Vgl. Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 1 und S. 4. San Basilio könne somit als historische Parallele zum Massaker von Avola begriffen werden, bei dem im Dezember 1968 in Zeiten zunehmender sozialer Kämpfe v.a. in den großen Städten des Nordens im fernen sizilianischen Avola die Polizei das Feuer gegen protestierende Landarbeiter eröffnet und zwei von ihnen getötet hatte. Zu Avola vgl. Ginsborg (1990), S. 337. 391 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 1, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65 und Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 1 und S. 4.

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l’infiltrazione fascista in un quartiere dove i fascisti non sono mai riusciti a mettere piede […] si è fermati davanti all’invenzione laida di ‚infiltrazioni‘ di rapinatori, delinquenti e teppisti.“392 Dass dieser staatliche Versuch, die Auseinandersetzungen von San Basilio als Werk verzweifelter Subproletarier und unpolitischer Delinquenten darzustellen, nicht aufging, sei vor allem der Tatsache geschuldet gewesen, dass der Staat in San Basilio real einem neu zusammengesetzten Klassensubjekt gegenübergetreten sei: Durch die sich zuspitzende Wirtschaftskrise seien inzwischen nicht mehr nur besonders marginalisierte proletarische Sektoren, sondern auch völlig ‚normale‘ römische Arbeiterfamilien in die Wohnraumkämpfe seit Ende 1973 hineingezogen worden.393 Während diese Einschätzungen über die gesamtpolitische Bedeutung der staatlichen Repression in San Basilio und die Neuzusammensetzung der Hausbesetzungsbewegung in Rom im Zeichen der Krise von Lotta Continua und den Comitati autonomi operai geteilt wurden, ging deren Einschätzung über die Hintergründe der Auseinandersetzung und die zu ziehenden Schlussfolgerungen deutlich auseinander: Die Comitati autonomi operai begriffen die vier Tage dauernden Straßenschlachten in der Peripherie Roms nicht nur wie Lotta Continua als Ereignis von nationaler Bedeutung, sondern verorteten diese auch in der spezifischen Geschichte der römischen borgate zwischen Marginalisierung und Widerstand: „Il territorio proletario di Roma si è sempre presentato al nemico di classe come un assetto ostile, all’interno del quale è vietato o pericoloso esercitare le funzioni repressive.“394 Dass die Staatsmacht die eigene ‚Unterlegenheit‘ durch den Einsatz eines enormen Polizeiaufgebots bei den ‚Strafexpeditionen gegen die proletarischen Viertel‘ zu kompensieren versuche, sei keineswegs ein neues Phänomen, sondern immer wiederkehrender Usus.395 Die Antwort der Bewohner sei in solchen Fällen oft massenhaft und gewaltförmig gewesen – die polizeiliche Besetzung des eigenen Stadtviertels sei als Angriff begriffen worden und habe kollektive militante Gegenwehr nach sich gezogen. Die Presse der linken Parteien habe diese Art der Auseinandersetzung stets als ‚Verzweiflungstaten‘ eines marginalisierten Subproletariats dargestellt, das nichts mit der Tradition der Arbeiterbewegung zu tun habe.396 Für die Comitati autonomi operai jedoch war klar, dass es sich bei diesen Ausschreitungen um einen Moment der Klassenkonstitution handelte: „Il filo rosso che corre dentro questa tradizione è al contempo l’elemento di

392 Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 4. „Man hat versucht die Operation politisch zu decken [...] indem man sich der dümmsten Notbehelfe der bürgerlichen Soziologie bediente und das Subproletariat und die ‚dritte Welt‘ in den Wohnvierteln Roms ausfindig machte. Da man in einem Stadtteil, in den die Faschisten nie einen Fuß setzen konnten, keine faschistische Unterwanderung erfinden konnte […], hat man sich mit der widerlichen Erfindung einer Unterwanderung durch Räuber, Delinquenten und Rowdys begnügt.“ Ähnlich auch die Argumentation in: Rivolta di Classe 2 (1974), S. 1, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 393 Vgl. Lotta Continua vom 20.9.1974, S. 2 und Rosso 11 (1974), S. 3-5. 394 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „Das proletarische Territorium von Rom hat sich dem Klassenfeind stets als feindselige Umgebung dargeboten, in dessen Innerem es verboten oder gefährlich ist, die repressiven Funktionen auszuüben.“ 395 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 396 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65.

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forza che la caratterizza: la riunificazione politica degli strati proletari attorno ad un unico e compatto comportamento di classe, che si esprime in maniera violenta […].“397 Neben dem Hinweis auf diese performative Dimension der Klassenkonstitution, die sich wesentlich über kollektive Widerstandspraktiken vollziehe, unterstrichen die Comitati autonomi operai die strategische Bedeutung der Stadtteil- und Wohnraumkämpfe für den Klassenkampf in Rom: „Queste lotte partendo, in una situazione di classe particolare, da bisogni di massa costituiscono ormai un importante canale di riunificazione politica dei diversi strati proletari […].“398 Die spezifische Qualität der Kämpfe von San Basilio hätte sich gerade aus der Verbindung zwischen lokalem Proletariat und revolutionären Aktivisten ergeben: „Ancora una volta hanno fatto male i loro conti: perché risposta proletaria e direzione rivoluzionaria si sono fuse e hanno potuto dimostrare sul campo che si può combattere e si può vincere.“399 Während die Comitati autonomi operai als eine der radikalsten Strömungen der römischen Linken die Konstitution einer kämpferischen Arbeiterklasse als Produkt spontaner kollektiver Widerstandspraktiken im Kampf proletarischer Bevölkerungsgruppen um ihre elementaren Bedürfnisse begriff und die Ereignisse von San Basilio als gelungenes Beispiel für eben diese Dynamik betrachtete, konnte Il Manifesto als gemäßigte Kraft der römischen Neuen Linken ein gewisses Unbehagen nicht verbergen: Ziel müsse eine Verbreiterung des Kampfes um erschwinglichen Wohnraum unter dem Dach der Gewerkschaften sein, um so die Isolation des Kampfes durch die traditionelle Linke aufzubrechen.400 Als Modell könne dabei Turin dienen, wo die piemontesische Gewerkschaftsföderation zu einer 50%igen Reduktion der Jahresstromrechnungen und zur autoriduzione der Nahverkehrstarife aufgerufen hatte.401 Letztlich schwang in der Einschätzung von Il Manifesto noch die Hoffnung mit, früher oder später auch den PCI wieder für einen Kampf gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen gewinnen und von der Annäherung an die Democrazia Cristiana abbringen zu können.402 Die Lesart der Comitati autonomi operai war eine völlig andere: Sie sahen in den Auseinandersetzungen von San Basilio eine Vorstufe zukünftiger Entwicklungstendenzen hin zu einem bewaffneten Kampf, der sich auf das Engste mit den proletarischen Kämpfen verbinden sollte: „La risposta proletaria di San Basilio ha fatto […] vivere un primo,

397 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „Der rote Faden, der sich durch diese Tradition zieht, ist zugleich das Element der Stärke, das sie charakterisiert: die politische Bündelung der proletarischen Schichten um ein einziges kompaktes Klassenverhalten, das sich auf gewalttätige Weise ausdrückt […].“ 398 Rosso 11 (1974), S. 4. „Diese Kämpfe, die in einer spezifischen Klassensituation von den Bedürfnissen der Massen ausgehen, stellen mittlerweile einen wichtigen Kanal der politischen Wiedervereinigung der verschiedenen proletarischen Schichten dar […].“ 399 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 1, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „Ein weiteres Mal ist ihre Rechnung nicht aufgegangen: Denn proletarische Antwort und revolutionäre Strategie haben sich verbunden und auf dem Schlachtfeld demonstriert, dass man kämpfen und gewinnen kann.“ 400 Vgl. Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 1; Cherki/Mehl/Metaillé (1978), S. 271. 401 Vgl. Il Manifesto vom 15.9.1974, S. 1f. 402 Vgl. Il Manifesto vom 10.9.1974, S. 2.

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embrionale e spontaneo episodio di lotta armata, voluto e praticato dalle masse perché organico alla conquista di un loro obiettivo di lotta.“403 Diese Differenzen zwischen den Strömungen der außerparlamentarischen Linken führten zu Reibungen: Die Comitati autonomi operai warfen Lotta Continua Opportunismus vor, da Lotta Continua im Zuge der Räumungen Anfang 1974 die militante Verteidigung von Besetzungen stets abgelehnt habe. In San Basilio sei die Strategie von Lotta Continua und den anderen Gruppen der Neuen Linken durch den Willen der Besetzer durchkreuzt worden, ihre Häuser zu verteidigen: „La risposta proletaria ha infine fatto giustizia di buona parte dell’opportunismo dei gruppi come Lotta Continua […]. […] Lotta Continua fu l’organizzazione che maggiormente criticò la scelta dell’autonomia operaia di garantire l’obiettivo della casa, difendendolo dagli sfratti della polizia e dall’intervento delle squadre bianche pagate dai padroni, e scelse invece, insieme agli altri gruppi, di praticare il terreno consumato della protesta e della pressione sui riformisti. A San Basilio questa questione non si è neanche posta. Gli occupanti hanno subito messo in pratica la loro decisione di difendere fino in fondo la loro lotta. L.C. ne ha dovuto, volente o nolente, prendere atto. […] l’autonomia operaia organizzata è stata da parte sua totalmente interna ed omogenea a questa risposta proletaria.“404 Auch der von Lotta Continua am Samstag, den 7. September 1974, mitinitiierte Versuch, in Verhandlungen über einen ‚Waffenstillstand‘ einzutreten, wurden von den Comitati autonomi operai im Rückblick negativ bewertet: Es sei absehbar gewesen, dass es sich bei den Verhandlungen nur um ein Täuschungsmanöver handelte, das aus Sicht der Polizei nur dazu gedient habe, die Mobilisierung gegen die Räumung zu schwächen.405 Die Polemik der Comitati autonomi operai, auf die Lotta Continua nicht schriftlich reagierte, verweist auf einen schwelenden Hegemoniekampf innerhalb der Neuen Linken Roms, in dem die

403 Rivolta di Classe 2 (1974), S. 4, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „Die proletarische Antwort von San Basilio hat […] eine erste, embryonale und spontane Episode bewaffneten Kampfes zum Leben erweckt, die von den Massen gewollt und praktiziert wurde, weil sie organisch verbunden war mit der Eroberung eines ihrer Kampfziele.“ 404 Rosso 11 (1974), S. 5. „Die proletarische Antwort hat schließlich auch mit einem Gutteil des Opportunismus von Gruppen wie Lotta Continua kurzen Prozess gemacht […]. […] Lotta Continua war diejenige Organisation gewesen, die am lautesten die Entscheidung der Autonomia Operaia kritisiert hatte, den Wohnraum zu garantieren, indem man ihn gegen die Räumungen durch die Polizei und die Intervention der weißen Schlägertrupps verteidigte. Lotta Continua entschied stattdessen, gemeinsam mit den anderen Gruppen sich weiterhin auf dem abgenutzten Terrain des Protests und des Drucks auf die Reformisten zu bewegen. In San Basilio hat sich diese Frage nicht einmal gestellt. Die Besetzer haben ihre Entscheidung, ihren Kampf bis zum Ende zu verteidigen, sofort in die Praxis umgesetzt. Lotta Continua hat dies – willentlich oder nicht – zur Kenntnis nehmen müssen. […] Die organisierte Autonomia Operaia war ihrerseits vollkommen homogener Teil dieser proletarischen Antwort.“ 405 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 2, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65.

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radikale Autonomia Operaia wohl zunehmend Punkte gegenüber den traditionellen außerparlamentarischen Gruppen sammelte.406

2.3.3 Praktische Logik und Klassenkonstitution Während also die Handlungslogik der Besetzerfamilien offenkundig zu sein scheint und jene der an den Ausschreitungen beteiligten lokalen Bevölkerung aufgrund der schlechten Quellenlage nur thesenhaft skizziert werden kann, ist diejenige der außerparlamentarischen Aktivisten in den schriftlichen Einschätzungen der einzelnen Organisationen ausführlich dokumentiert. Doch wo im Fall der jungen ‚unpolitischen‘ borgatari die mangelnde Quellendichte zur Spekulation zwingt, scheint im Fall der außerparlamentarischen Aktivisten die überbordende Quellenfülle einige wesentliche Aspekte eher zu verdecken als zu beleuchten: Folgt man der Darstellung der politischen Aktivisten, scheint ihr Handeln völlig rational und zielgerichtet gewesen zu sein – die Eigenlogik und Eigendynamik der praktischen Auseinandersetzung sind aus den politischen Einschätzungen aber vollkommen getilgt. Real jedoch scheint genau hier der springende Punkt für die Amalgamierung der verschiedenen Akteursgruppen in actu gelegen zu haben. Was sich in den Septembertagen 1974 in San Basilio ereignete, war eine Collage sich überlagernder direkter Aktionen gegen die Räumungen der besetzten Häuser und die Polizeipräsenz in der borgata, die von eskalierender physischer Gewalt geprägt waren. Um die Handlungslogik der Akteure zu begreifen, genügt es nicht, deren anschließende Bewertungen zu kolportieren, denen allesamt eine Art Rationalisierung ex post zugrunde liegt.407 Die zeitliche Dichte der Ereignisse,408 die extreme Härte der Auseinandersetzung, gepaart mit der jeweiligen direkten körperlichen Involviertheit des Einzelnen und der Euphorie des massenhaften Agierens generierten noch eine andere als nur jene ‚logische Logik‘ ,409 die sich in die anschließenden Einschätzungen der politischen Aktivisten

406 L’Unità berichtete wenige Tage nach den Ausschreitungen in San Basilio, dass die Comitati autonomi operai gegen den Widerstand der anderen Gruppen die Führung der Häuserkampfbewegung in Rom übernommen hätten, vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 6. Diese Aussage muss kritisch hinterfragt werden, da die Comitati autonomi operai für den römischen PCI mehr noch als Lotta Continua ein rotes Tuch darstellten. Wollte der PCI die Besetzungsbewegung also als Sammelsurium von ‚Provokateuren‘ und ‚Abenteurern‘ darstellen, schien es zweckmäßig eine Führungsrolle der Comitati autonomi operai zu unterstellen. 407 Wobei hier außerdem das Problem besteht, dass nur die politischen Aktivisten Bewertungen abgaben, die Besetzerfamilien und v.a. die beteiligte lokale Bevölkerung aber fast völlig ‚stumm‘ blieben. 408 Zur Entzeitlichung der Praxis durch wissenschaftliche Analyse vgl. Bourdieu (1987), S. 149: „Die wissenschaftliche Praxis ist derart entzeitlicht, dass sie gern sogar den bloßen Gedanken an das Verdrängte verdrängt: weil sie nur in einem Verhältnis zur Zeit möglich ist, das dem der Praxis diametral entgegengesetzt ist, trachtet sie die Zeit zu ignorieren und damit die Praxis zu entzeitlichen.“ 409 Bourdieu (1987), S. 167.

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so dominant einschrieb. Sie produzierten bei den Partizipanten aller drei hier unterschiedenen Akteursgruppen eine ‚praktische Logik‘410, die nicht in den Bahnen des politischen Kalküls verlief: „Man muss der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat. Sonst wäre man dazu verdammt […] ihr eine erzwungene Schlüssigkeit überzustülpen.“411 Es war die praktische Logik der Straßenpolitik, der das konkrete Handeln der Bewegungsakteure während der Auseinandersetzungen von San Basilio folgte und die die politischen Erwägungen und eigentlichen Zielsetzungen der Partizipanten in den Hintergrund rücken ließ: „Straßenpolitik bietet […] die Möglichkeit einer nicht-entfremdeten, eigen-sinnigen Interessenartikulation, die nicht in Distanz, sondern in unmittelbarer Nähe zum Körper und seinen Sinnen stattfindet. Die Eigendynamik dieses kulturellen und identitätsstiftenden Elements kann die konkreten veranlassenden Konflikte bis zur Unkenntlichkeit verdecken und zur Nebensächlichkeit oder zum Vorwand degradieren.“412 Zum Vorwand scheint die Verteidigung der Besetzungen von San Basilio für die Mehrheit der an den Ausschreitungen Beteiligten nicht geworden zu sein, aber dennoch wäre es falsch, ihrem Handeln stets strikte Zweckorientierung zu unterstellen. Vielmehr wurden die jeweiligen Motivlagen der drei skizzierten Akteursgruppen überlagert und vereinheitlicht durch die Logik des kollektiven direkten Handelns auf der Straße: „Die direkte Aktion ist immer auch Selbstzweck, indem sie die Praktizierung von Einstellungen und Werthaltungen ermöglicht, die den Beteiligten unmittelbar zugehörig sind […]. […] Zu den konkreten Interessen, die auf anderem Wege nicht hinreichend artikulierbar sind, tritt das Bedürfnis, die Trennung von Person und Interesse, wie sie durch die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft tagtäglich zugemutet wird, in direkter Aktion ‚kurzzuschließen‘.“413 Erst die Interpretation der Auseinandersetzungen von San Basilio als eine Serie kollektiver direkter Aktionen, die einer spezifischen praktischen Logik folgten, macht es nachvollziehbar, wie sich in den Tagen der Ausschreitungen drei unterschiedliche Akteursgruppen verbanden und die „battaglia di San Basilio“ so zu einem Moment der Klassenkonstitution im Sinne E.P. Thompsons werden konnte. Thompson grenzt seinen Klassenbegriff von der Statik des ‚soziologischen Positivismus‘ und des ‚marxistisch-strukturalistischen Idealismus‘ ab414 und rückt die Kämpfe in den Mittelpunkt, da hier Klasse überhaupt erst entstehe: „[…] Klasse selbst ist kein Ding, sondern ein Geschehen.“415 Die ‚Schlacht von San Basilio‘ lässt sich als ein solcher Moment der Klassenkonstitution fassen – als explosionsartiges, punktuelles ‚making‘ eines kämpferischen römischen Klassensubjekts im Zuge einer harten Konfrontation mit der Staatsgewalt, das sich im kollektiven Gedächtnis sedimentierte und das trotzig-rebellische Selbstbewusstsein der beteiligten borgatari ebenso stärkte wie die antagonistische Identität der politischen Unterstützer.

410 Bourdieu (1987), S. 25ff. 411 Bourdieu (1987), S. 157. 412 Lindenberger (1995), S. 17f. 413 Lindenberger (1995), S. 17f. 414 Vgl. Thompson (1980b), S. 268. 415 Thompson (1987), S. 963.

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Dabei entfaltete der performative Charakter der Klassenkonstitution seine Wirksamkeit nicht nur hinter dem Rücken der Beteiligten: Die Politik der römischen Autonomia Operaia bewegte sich recht explizit in dieser Logik. Intellektualistische Analysen der Klassenzusammensetzung der Besetzerbewegung waren in den Augen ihrer Protagonisten Zeitverschwendung.416 Es müsse vielmehr darum gehen, durch den konkreten Kampf um die Bedürfnisse der Massen in den einzelnen Stadtvierteln den Zusammenhalt der verschiedenen proletarischen Klassensegmente zu gewährleisten.417 Klassen waren in dieser Lesart nicht a priori existierende Wesenheiten, sondern in konkreten Kämpfen entstehende Formationen. Aus der Perspektive der praktischen Logik wird es einfacher, die extreme Eskalation der Auseinandersetzungen am Abend des 8. September 1974 zu begreifen: Die Frage nach dem Ziel der Schüsse auf die Polizei in San Basilio scheint ebenso wenig geeignet, die Logik des Geschehens zu erhellen, wie diejenige nach der ZweckMittel-Relation. Real scheint es eher darum gegangen zu sein, auf die als extremste Form der ‚Herausforderung‘ begriffene Ermordung eines Genossen durch die Polizei ‚adäquat‘ zu reagieren.418 Die Notwendigkeit eine ‚angemessenen‘ Reaktion auf die für alle Beteiligten vollkommen neue und höchst verstörende Tatsache zu entwickeln, dass ein Genosse von der Polizei erschossen worden war, wog dabei wohl weit schwerer als die Fragen nach dem Sinn und den möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns.419

416 Vgl. Rivolta di Classe 2 (1974), S. 2, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. 417 Vgl. Rosso 11 (1974), S. 3-5. 418 Bourdieu entwickelt aus seiner Analyse der kabylischen Gesellschaft ein Schema des ‚Spiels der Ehre‘, in dem das ‚Nichtparieren‘ einer ‚Herausforderung‘ die ‚Entehrung‘ nach sich zieht. Deshalb reagieren ‚Ehrenmänner‘, die über einen entsprechenden ‚Spielsinn‘ verfügen, auf die Herausforderung mit ‚Parieren‘ bzw. ‚Erwiderung‘, vgl. Bourdieu (1987), S. 180 – 204, hier: v.a. S. 184. Die direkte Applikation dieser Termini auf die tödliche Auseinandersetzung von San Basilio erscheint unangemessen. Dennoch kann der Rückgriff auf Bourdieus Schema des ‚Spiels der Ehre‘ helfen, die praktische Logik der Konfrontation besser zu verstehen. 419 Vgl. L’Unità vom 13.9.1974, S. 1. Fabrizio Ceruso war der erste linke Aktivist, der in Rom seit den unmittelbaren Nachkriegsjahren bei Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet wurde. Allerdings war die römische Linke durchaus nicht von tödlichen Übergriffen verschont geblieben. Dabei waren aber bis zum Tod Fabrizio Cerusos stets andere Täter am Werk gewesen: Faschistische Schläger hatten am 27.4.1966 Paolo Rossi in der römischen Universität La Sapienza ermordet und Domenico Congedos war bei einem weiteren faschistischen Angriff auf eine besetzte Fakultät der römischen Universität am 27.2.1969 zu Tode gekommen, vgl. Armati (2008), S. 140-158. In den nächsten Jahren sollten mehrere Aktivisten der außerparlamentarischen Linken in Rom durch Polizeikugeln den Tod finden.

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2.3.4 Exkurs: Hypothesen zur Schießerei vom 8. September 1974 Neben den drei oben skizzierten Akteursgruppen, gab es eine Sondergruppe, die durch die Anwendung einer bis dato in der linken Bewegung Italiens unbekannten Praxis charakterisiert war: Den Einsatz von Schusswaffen gegen die Polizei. Da es diese Schüsse auf die Polizei waren, die gemeinsam mit dem Tod Fabrizio Cerusos den absoluten Ausnahmecharakter der Ereignisse von San Basilio ausmachten, erscheint es lohnenswert, einige Hypothesen über die Zusammensetzung dieser Akteursgruppe zu entwickeln. Obwohl die Quellenlage hinsichtlich der Schüsse auf die Polizei ausgesprochen schlecht ist, besteht Grund zu der Annahme, dass die Schützen sich aus drei verschiedenen Akteursgruppen rekrutierten. Einen ersten Hinweis auf eine der Gruppen bietet die Aussage von Antonio Savasta, der zu diesem Zeitpunkt Aktivist des Comitato comunista Centocelle420 war, später Kolonnenchef der Roten Brigaden im Veneto und nach seiner Festnahme ein höchst aussagewilliger Kronzeuge. Savasta gab viele Jahre nach den Ereignissen von San Basilio einen Hinweis auf die Herkunft der bewaffneten Kleingruppen, die nach dem Tod Fabrizio Cerusos die Polizei ins Visier nahmen: „‚[…] [L]a sera e poi la notte c’è stata una sparatoria incredibile perché quelli della sezione sono ritornati, non solo quelli della sezione ma in genere tutti sono ritornati armati e hanno fatto l’ira di Dio, cioè scontro a fuoco con la polizia […].‘“421 Savastas Aussage könnte durchaus zutreffen, denn es ist belegt, dass Mitglieder von Potere Operaio schon Anfang der 1970er Jahre den Aufbau einer internen militärischen Organisation vorantrieben und mit Waffen hantierten.422 Auch in den Reihen der Comitati autonomi operai gab es schon in den frühen 1970er Jahren wohl durchaus Aktivisten, die über Schusswaffen verfügten.423

420 Das Comitato comunista Centocelle war aus der lokalen Sektion der 1973 aufgelösten Gruppe Potere Operaio hervorgegangenen, vgl. Interview mit Antonio Savasta, in: Raimondo Catanzaro/Luigi Manconi (Hg.) (1995): Storie di Lotta Armata. Bologna, S. 409470, hier: S. 432ff. 421 Interview mit Antonio Savasta, in: Catanzaro/Manconi (1995), S. 434. „‚[…] [A]m Abend und dann in der Nacht kam es zu einer unglaublichen Schießerei, denn die von unserer Sektion sind zurückgekommen – nicht nur die von unserer Sektion, alle sind bewaffnet zurückgekommen und haben den Weltuntergang veranstaltet, das heißt: Feuergefecht mit der Polizei […].‘“ Angesichts von Savastas schillernder Rolle sind seine Aussagen mit großer Vorsicht zu behandeln. 422 Vgl. Grandi (2003), v.a. S. 162ff. und S. 186f. 423 Interview mit Vincenzo Miliucci, einem der ‚leader‘ der römischen Comitati Autonomi Operai vom 25.11.2008, 32:15 – 33:50: „Giravamo armati perché in tutto quel periodo fino sicuramente al 1977/78 o venivi ucciso dalla polizia o venivi ucciso dai fascisti. [...] Nel 1972, forse inizio 1973 hanno tentato di rapire mia figlia dalle mani della madre [...]. Ci seguivano. [...] Nella casetta delle poste avevano messo più volte uno, due, tre, quattro, cinque proiettili, tutte le sigle dei fascisti pesanti - Avanguardia nazionale, Ordine nero. [...] Una notte un commando è arrivato [...]. Gliel’avevano già strappato dalle braccia. Lei con uno scatto da madre [...] gliela ha ripreso. Lei aveva la fortuna di avere gli portoni aperti e così si è difesa [...] Da quel giorni io ho dato una pistola pure a lei. Qui la

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Von staatlicher Seite wurde einige Tage nach der ‚Schlacht von San Basilio‘ eine andere Hypothese ins Spiel gebracht: Ein hochrangiger Beamter der römischen Polizei erklärte, dass wohl auch bewaffnete Kleinkriminelle sich an der Schießerei beteiligt hätten.424 Die Definition einer derartigen Akteursgruppe als traditionelle Kleinkriminelle erscheint jedoch unpräzise: Es entsprach nicht dem modus operandi der traditionellen malavita,425 sich ohne Notwendigkeit auf ein Feuergefecht mit der Polizei einzulassen. Sehr viel eher passt eine solche Praxis zu den Exponenten jener neuen Bandenkriminalität der 1970er Jahre, die Quadrelli folgendermaßen beschreibt: „Sul finire degli anni sessanta alcuni appartenenti alle gang di quartiere […] che la città legittima liquida, tra disprezzo e paura, come teppisti si trasformano nelle ‚batterie‘: la forma amicale-organizzativa tipica dei rapinatori degli anni Settanta.“426 Das Auftreten dieser „nuova criminalità“427 hatte erhebliche Auswirkungen: Die Zahl der bewaffneten Raubüberfälle in Italien vervierfachte sich zwischen 1970 und 1974 und erreichte knapp 4000 Fälle pro Jahr. Auch die Zahl der

situazione era pesantissima insomma. [...] Perché il progetto golpista c’era, non è che non c’era.“ „Wir waren bewaffnet unterwegs, denn in der ganzen Phase sicherlich bis 1977/78 wurdest du entweder von der Polizei oder von den Faschisten umgebracht. […] 1972, vielleicht Anfang 1973 haben sie versucht meine Tochter aus den Armen der Mutter zu entführen […]. Sie beobachteten uns. […] Die ganzen üblen faschistischen Gruppen wie Avanguardia nazionale, Ordine Nero haben uns mehrmals ein, zwei, drei, vier, fünf Projektile in den Briefkasten geworfen. […] Eines Nachts ist ein Kommando gekommen […]. Sie hatten sie ihr schon aus dem Arm gerissen. Sie hat sie mit einem Mutterreflex […] zurückgeholt. Sie hatte das Glück, dass die Haustüre offen war und so konnte sie sich verteidigen […]. Von diesem Tag an gab ich ihr auch eine Pistole. Die Situation hier war wirklich schlimm. […] Denn das Projekt eines Putsches existierte, es ist nicht so, dass es nicht existiert hätte.“ 424 Vgl. L’Unità vom 12.9.1974, S. 6. 425 ‚Malavita‘ bedeutet ‚Unterwelt‘. Zu der v.a. auf materielle Gewinne und stilles Einvernehmen mit den staatlichen Autoritäten ausgerichteten Handlungslogik der traditionellen malavita vgl. z.B. Quadrelli (2004), S. 30f. Allerdings sollte die kategoriale Trennung, die Quadrelli zwischen traditioneller malavita und ‚neuen Banditen‘ aufmacht, wohl nicht überstrapaziert werden. 426 Vgl. Quadrelli (2004), S. 13. „Gegen Ende der Sechzigerjahre verwandelten sich einige Angehörige der Stadtteilgangs […] die die gesetzestreuen Bürger, zwischen Verachtung und Angst als Rowdys abstempelten, in ‚batterie‘: die auf Basis von Freundschaften organisierten typischen Räuber der Siebzigerjahre.“ Quadrellis Untersuchung ist auf industrialisierten Nordwesten Italiens fokussiert. Allerdings scheinen die Ergebnisse seiner Untersuchung durchaus auch auf andere metropolitane Kontexte im Italien der 1970er übertragbar zu sein, da die untersuchten Akteure keineswegs mehrheitlich einen Industriearbeiterhintergrund aufweisen, vgl. z.B. Quadrelli (2004) S. 26. Die Anzahl der Raubüberfälle jedenfalls stieg auch im Rom der 1970er deutlich an: Hatte die Zahl der Raubüberfälle, Erpressungen und Entführungen in Rom 1972 noch bei 265 gelegen, so waren es 1974 schon 857, vgl. ISTAT zitiert nach Franco Ferrarotti (1979): Alle radici della violenza, Mailand, S. 134f. 427 L’Espresso vom 15.12.1974, S. 32. „Neuen Kriminalität“.

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Feuergefechte und der dabei Getöteten waren seit Anfang des Jahrzehnts dramatisch in die Höhe geschnellt.428 Zugleich wurde die wachsende Gewaltkriminalität zum Gegenstand massenkultureller Repräsentation, die sich beispielsweise im Genre des brutalen und düsteren italienischen Polizeifilms der 1970er Jahre niederschlug. Filme wie Marino Girolamis „Roma violenta“ (1975) waren häufig an realen Ereignissen angelehnte Kassenschlager und inszenierten die italienischen Metropolen als Räume allgegenwärtiger Gewalt.429 Die Attraktivität des Genres basierte zwar auf der konfliktgeladenen Atmosphäre der italienischen 1970er Jahre, zugleich aber wirkten derartige Filme auf das kollektive Imaginäre insbesondere der jungen Generationen zurück und prägten deren Wahrnehmung ihrer Umgebung. Die meist sehr jungen ‚neuen Banditen‘ waren, wie ein erfahrener Strafverteidiger in L’Espresso erklärte, von einer Art Rachebedürfnis gegenüber einer als ungerecht empfundenen Gesellschaft getrieben: „‚Hanno alle spalle un’adolescenza che non gli ha dato nulla e davanti agli occhi un esercito di persone che ha avuto tutto e può permettersi di trasgredire la legge senza pagare nulla. Politici corrotti, truffatori, speculatori.‘“430 Für diese Akteure war gerade der Konflikt mit der Polizei identitätsstiftend und die starke Verankerung im eigenen Stadtviertel sowie ihr auf unbedingte Solidarität ausgerichteter Ehrenkodex charakteristisch.431 Diese Spezifika sprechen dafür, dass es gerade solche Akteure gewesen sein könnten, die in eine Auseinandersetzung wie diejenige in San Basilio eingriffen, bei der kein materieller Gewinn zu erzielen war, sondern alleine um Macht und Prestige gerungen wurde. Die Mitglieder dieser vor allem auf Raubüberfälle spezialisierten Banden stellten ihr Tun zum Teil durchaus in den Kontext staatlicher Repression gegen subalterne Bevölkerungssektoren, ohne es deshalb aber als politisches Handeln zu begreifen: „No, non c’è niente di politico, magari ribellione, incazzatura. Però è vero che, a modo nostro, quello che facciamo non è solo per i soldi, è un modo per riscattare noi e la nostra gente. […] È comodo (per la Polizia, M.H.) sgomberare a manganellate, a lacrimogeni e colpi di moschetto sulla testa le case occupate da donne, vecchi e bambini, oppure fare i malandrini quando arrivi dentro il quartiere con i cellulari in 200, 300 e ti metti a rastrellare tutta la zona. Allora si sentono forti, ti attaccano ai muri, fanno le battute […]. Ma quando ti trovi chi ha il pezzo in mano e non ci pensa due volte a farlo cantare allora ci si pensa non una, ma cento volte prima di fare gli eroi, quelli uomini di merda.“432

428 Vgl. L’Espresso vom 15.12.1974, S. 32. Freilich kann keineswegs der gesamte Anstieg den ‚neuen Banditen‘ zugerechnet werden. 429 Vgl. Douglas Mortimer (2006): Possibilmente freddi. Come l’Italia esporta cultura (19641980). Rom, S. 22ff. 430 L’Espresso vom 15.12.1974, S. 32. „‚Sie haben eine Jugend hinter sich, die ihnen nichts gegeben hat und ein Heer von Personen vor Augen, die alles gehabt haben und es sich leisten können das Gesetz zu überschreiten ohne dafür zu zahlen. Korrupte Politiker, Betrüger, Spekulanten.‘“ 431 Vgl. Quadrelli (2004), S. 9 – 38. 432 Interview mit G., einem Mailänder Alfa Romeo-Arbeiter und Südmigranten, der in den 1970er Jahren zahlreiche bewaffnete Raubüberfälle beging, zitiert nach: Quadrelli (2004), S. 19. „Nein, da ist nichts Politisches, vielleicht Rebellion, Wut. Aber es stimmt, dass wir

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In der extrem aufgeheizten Atmosphäre nach dem Bekanntwerden des Todes Fabrizio Cerusos bildeten allerdings weder ideologische Gewissheiten noch ein ausgeprägter krimineller Erfahrungshintergrund die zentrale Möglichkeitsbedingung für den Einsatz einer Schusswaffe gegen die Polizei, sondern die schlichte Verfügbarkeit einer solchen. Im Italien der frühen 1970er Jahre war es allerdings kein großes Problem, zumindest an kleinkalibrige Schusswaffen zu kommen: Revolver des Kalibers 22, wie sie – neben anderen Waffen – in San Basilio gegen die Polizei eingesetzt worden waren,433 wurden in Jugendmagazinen beworben und waren – entgegen den gesetzlichen Vorschriften – im Versandhandel ohne Waffenschein erhältlich.434 Vor diesem Hintergrund erscheint es schlüssig, die oben skizzierten politischen und kriminellen Akteursgruppen zu ergänzen um Jugendliche aus der borgata, deren Einordnung als Politaktivisten oder Kriminelle sich verbietet, die aber über Kleinkaliberwaffen verfügten und in der Ausnahmesituation nach dem Tod Fabrizio Cerusos von ihnen Gebrauch machten. Alle drei hier skizzierten potenziellen Akteursgruppen müssen dabei im Kontext der italienischen Gesellschaft der 1970er Jahre gesehen werden, die von einer deutlichen Zunahme der Gewaltkriminalität und einer wachsenden Bedeutung der Gewalt in der Massenkultur geprägt war.435 Keine der aufgestellten Hypothesen lässt sich abschließend belegen oder ausschließen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass real alle drei hier skizzierten Akteursgruppen und eventuell noch andere Bewaffnete am Abend des 8. September 1974 in der nordöstlichen Peripherie Roms Polizeibeamte ins Visier nahmen. Die Genugtuung angesichts des Umschlagens der Arroganz der Macht in Ohnmacht und Todesangst dürften sie jedenfalls geteilt haben – waren Polizei und Carabinieri doch für alle Objekt der Verachtung und des Hasses.

auf unsere Weise das, was wir tun, nicht nur für das Geld tun, sondern weil es eine Art ist, uns und unsere Leute zu befreien. […] Es ist bequem (für die Polizei, M.H.) mit Schlagstöcken, Tränengas und Gewehrkolbenhieben auf den Kopf die besetzten Häuser von Frauen, Alten und Kindern zu räumen, oder die harten Jungs zu spielen, wenn man mit Streifenwägen und 200 oder 300 Mann in ein Viertel kommt, um die ganze Gegend zu durchkämmen. Dann fühlen sie sich stark, stellen dich an die Wand, machen Witze […]. Aber wenn man vor jemandem steht, der eine Knarre in der Hand hat und nicht zweimal überlegt, bevor er abdrückt, dann denken sie nicht ein Mal, sondern hundert Mal nach, bevor sie die Helden spielen, diese Scheißtypen.“ 433 Vgl. Il Messaggero vom 9.9.1974, S. 4 und L’Unità vom 12.9.1974, S. 10. 434 Vgl. Il Messaggero vom 9.5.1973, S. 4: „Pistole in vendita per posta. Costano poco e possono uccidere. La pubblicità di queste armi viene inserita nei giornali per ragazzi e addirittura sul retro delle schedine del totocalcio [...].“ „Pistolen per Post im Verkauf. Sie kosten wenig und können töten. Die Werbung für diese Waffen ist in Jugendmagazinen oder sogar auf der Rückseite der Fussballtoto-Karten […].“ 435 Zur wachsenden Gewalt im Italien der 1970er vgl. Franco Ferrarotti (1977): Ordine e violenza: in primo luogo ragionare, in: La Critica Sociologica 44, S. 3-6. Für eine umfassendere Diskussion vgl. Ferrarotti (1979). Zur Gewalt in den italienischen Großstädten vgl. Francesco Bartolini (2006): Rivali d’Italia. Roma e Milano dal Settecento a oggi. Rom/Bari, S. 272ff. Zur Gewalt auf Italiens Kinoleinwänden vgl. Mortimer (2006), S. 22ff.

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2.4 Epilog: Via Pescaglia 93 – eine Besetzung besteht weiter In jenen Stadtvierteln, in denen sich Besetzungen gehalten hatten, bildeten diese oft einen wesentlichen Faktor für die lokale Mikropolitik, da die Besetzerfamilien häufig vielseitig aktiv blieben. Anlass für die politische Intervention gaben dabei zu Beginn häufig noch die spezifischen Schwierigkeiten der Besetzerfamilien in ihrem neuen Umfeld, mit der Zeit aber richtete sich der Aktivismus der Besetzer immer häufiger gegen die grundsätzlichen Probleme im Stadtteil und verband sich so auf das Engste mit der Politik anderer lokaler Basisinitiativen. Aufgrund der Quellenlage werden diese Prozesse im Folgenden am Beispiel der Besetzung in der Via Pescaglia 93 in der Magliana beschrieben.436

2.4.1 Stadtteilpolitik Die Besetzerfamilien in der Magliana sahen sich anfangs einer spezifischen Diskriminierung durch die lokalen Schulen ausgesetzt: Da die Schulen der Magliana stets völlig überfüllt waren, versuchten die Verantwortlichen, die Zahl der Einschreibungen zu verringern, indem sie die Vorlage eines Mietvertrags für eine Wohnung in der Magliana verlangten. Die Besetzer der Magliana verfügten freilich nicht über solche und sahen sich so durch diese Auflage daran gehindert, ihre Kinder auf die lokalen Schulen zu schicken. Die Reaktion der Besetzer entsprach ihrem direkten Politikstil: Die Mütter der Besetzerfamilien bildeten bei dem allgemeinen Einschreibungstermin der lokalen Schulen picchetti und erzwangen so schließlich den Zugang für ihren Nachwuchs.437 Doch schon bald erweiterte sich das Interventionsspektrum der Besetzer deutlich: Die Familien der Via Pescaglia 93 griffen beispielsweise aktiv in den Kampf gegen die weitere Verdichtung der Bebauung des Stadtteils ein und partizipierten damit an einer Auseinandersetzung, die bis dato vor allem das Stadtteilkomitee ausgefochten hatte. Während allerdings das Stadtteilkomitee vor allem durch Besetzungen versuchte, die letzten Freiflächen im Stadtteil vor der Bebauung zu bewahren und so Flächen zu erhalten, auf denen die Stadtverwaltung in Zukunft soziale Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Parks und Sportplätze schaffen könnte, gingen die Besetzer der Via Pescaglia 93 mit einem deutlich konfrontativeren Politikstil zu Werke.438

436 Die besondere Quellendichte zur Besetzung in der Via Pescaglia 93 lag zum Teil im hohen Organisations- und Politisierungsgrad der Beteiligten begründet. Eben deshalb dürfen die hier dargestellten Entwicklungen nicht unkritisch verallgemeinert werden. 437 Vgl. Lotta Continua vom 10.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 66. 438 Franco Moretti berichtet, dass die Besetzer Baustellen zerstörten, um Neubauten zu verhindern; vgl. Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 38:25 - 39:50: „[...] (I) spazi vuoti che vedi nel quartiere sono spazi che sono stati recuperati dai cittadini in lotta alla speculazione. Qui su questa piazza c’era un mercato. Perché dove sta adesso il mercato [...]

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Aldo Polido beschreibt, wie es dazu kam, dass das Grundstück in der Via dell'Impruneta 51 nicht mit Wohnblocks bebaut wurde und hier so später eine Schule entstehen konnte: „Dovevano fare sette piani là. Noi siamo andati là. Abbiamo detto: Senti, […] qui alla Magliana ormai non se ne può più. Fai fino a tre piani. Dopo tre piani non devi fa’ più. Tu chiudi a tre piani e noi ti fammo fa’. Se no, vai in mezzo i pasticci perché non ti fammo fa’ di più. Invece questo forte perché c’aveva ‘sta licenza. Forte perché diceva ma che mi metto paura di quelli? […] Allora a quel punto lui invece ha fatto l’armatura al quarto piano. […] La notte siamo andati là. Gliel’abbiamo smantellato tutto il quarto piano […]. Gliel’abbiamo buttato tutto di sotto. Gliel’abbiamo dato fuoco a tutta la roba. […] Qualche tentativo di rifa’ ogni tanto lo faceva. Ma noi andavamo la e gli bruciavamo tutto quanto.“439 Als schließlich der Mangel an Schulräumen in der Magliana immer dramatischer wurde und die Kinder in mehreren Schichten in provisorischen Containern unterrichtet werden mussten, wurde die Kommune auf die seit langem unfertige Baustelle in Via dell’Impruneta 51 aufmerksam: „Il comune poi ha barattato un pochettino l’edificabilità. […] Gli ha dato l’edificabilità su 3000 metri di terra. E (lui) ha lasciato questo. […] Il comune ci ha fatto la scuola. Quando è venuto il comune che cosa ha fatto? Ha fatto ancora altri piani. E noi siamo stati zitti perché ci doveva fa’ le scuole. […] E ci ha fatto le scuole.“440 Die gleiche Taktik wendeten die Besetzer

c’era un cantiere e lì chi aveva occupato le case ha distrutto quel cantiere per dire ,qui basta‘. Poi il cantiere non è andato avanti. Lo stesso dove sta la scuola ,8 marzo‘ [...] lì c’era un cantiere. [...] Ci dovevano venire altri palazzi. Dove sta la chiesa. Dove sta questo parcheggio [...]. Dove sta il giardinetto lì di via Greve. [...] Quelli dovevano essere tutti palazzi. [...] Quella fu una battaglia importantissima.“ „[...] (Die) leeren Flächen, die Du im Viertel siehst, sind Flächen, die von den kämpfenden Bewohnern vor der Spekulation gerettet wurden. Hier auf diesem Platz war ein Markt. Denn dort, wo jetzt der Markt ist, […] war eine Baustelle und dort haben die Leute, die die Häuser besetzt hatten, die Baustelle zerstört, um zu sagen ‚es reicht hier‘. Danach ging die Baustelle nicht weiter. Dasselbe dort, wo die Schule ‚8. März‘ ist […] dort war eine Baustelle. […] Dort sollten andere Wohnblock gebaut werden. Wo die Kirche ist. Wo der Parkplatz ist […]. Wo der kleine Park dort in der Via Greve ist. […] Das sollten alles Wohnblocks werden. […] Das war ein extrem wichtiger Kampf.“ 439 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:26:55 – 1:29:50. „Sie wollten dort sieben Stockwerke bauen. Wir sind dorthin gegangen. Wir haben gesagt: Hör zu, […] hier in der Magliana geht das nicht mehr. Mach bis zu drei Stockwerke. Mehr als drei Stockwerke darfst Du nicht machen. Wenn Du nur drei Stockwerke baust, lassen wir Dich machen. Wenn nicht, bekommst Du Probleme, weil wir Dich nicht mehr machen lassen. Aber der fühlte sich stark, weil er diese Lizenz hatte. Stark, weil er sagte, ach was, soll ich etwa Angst vor denen haben? […] Also hat er das Gerüst für den vierten Stock gemacht. […] Nachts sind wir hingegangen. Wir haben ihm den ganzen vierten Stock abgebaut […]. Wir haben ihm alles runtergeworfen. Wir haben ihm das ganze Zeug angezündet. […] Hin und wieder versuchte er es nochmal. Aber wir sind hingegangen und haben ihm alles verbrannt.“ 440 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:30:30 – 1:31:15. „Die Stadtverwaltung hat dann etwas mit den Baulizenzen gedreht. […] Sie hat ihm eine Baugenehmigung für 3000

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der Via Pescaglia 93 auch bei anderen Grundstücken in der Magliana an – mit Erfolg: Auf einer der so freigehaltenen Flächen entstand zum Beispiel eine Kinderkrippe.441 Neben dieser Form der militanten ‚Urbanistik von unten‘ waren die Besetzer der Magliana aber auch am politischen Alltag in der Magliana beteiligt. Eines der Felder, auf denen die Linke trotz der Spannungen zwischen dem PCI und den außerparlamentarischen Gruppen und Bewegungen gemeinsam agierte, war der Antifaschismus: „Poi qui […] si è maturata pure una forte coscienza antifascista. […] Ci sono anche stati degli episodi abbastanza complicati […]. A un certo punto a un occupazione incontrollata che è sorta spontanea di una trentina di appartamenti che stavano all’inizio di Via dell’Impruneta […] sono stati riconosciuti che

Quadratmeter gegeben. Und (er) hat das (der Kommune) überlassen. […] Die Stadt hat eine Schule daraus gemacht. Als die Kommune kam, was hat sie wohl gemacht? Sie hat noch mehr Stockwerke gebaut. Und wir waren still, weil sie uns die Schulen baute. […] Und sie hat uns die Schulen gebaut.“ Dass genau die in der Via dell’Impruneta 51 entstandene Schule im Jahr 2009 – nachdem sie als Schulgebäude schon vor Jahren geschlossen wurde – besetzt ist und hier neben einigen Aktivisten der römischen Besetzerbewegung dutzende Migrantenfamilien wohnen, erscheint mehr zu sein als nur ein Zufall, wenn man sich die persönlichen und politischen Kontinuitäten der sozialen Kämpfe in der Magliana bis in die jüngste Gegenwart vor Augen führt. Zur heutigen Besetzung vgl. http:// occupa.noblogs.org/ (10.9.2009). 441 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:33:05 – 1:35:45: „Di qua è uguale. Di qua [...] dopo la strada ci sta un grande spazio che ci sta l’asilo nido [...]. La sotto [...] ci stanno le fondamenta per dodici scale, per dodici palazzine. [...] A quello abbiamo fatto lo stesso discorso: ‚Guarda qui queste dodici scale non si fanno. Cerca di ridurre un pochettino. [...] Ci fai vedere un nuovo progetto a noi. [...] Ci fai vede’ a noi!‘ [...] E questo che ha fatto: ‚Oh, andate via mò chiamo la polizia.‘ [...] Quello andava avanti così. Quando abbiamo visto che ha messo l’impalcatura per il primo piano siamo andati là. Glie abbiamo bruciato tutto [...] e gli abbiamo detto: ‚Adesso non fai più niente. Tu fai la fine di quell’altro. [...] Ogni volta che metti un chiodo qua nella mattina non te lo trovi.‘ [...] Alla fine ha dovuto ammolla’. Pure questo ha barattato un pochettino con altri territori che c’aveva fuori al raccordo anulare e gliel’hanno dati edificabili. [...] Questo terreno è passato al comune e c’hanno fatto l’asilo nido.“ „Dort drüben genauso. Dort drüben [...] hinter der Straße ist eine große Fläche, auf der die Kinderkrippe steht […]. Darunter […] sind die Fundamente für 12 Treppenaufgänge, für zwölf Wohnblocks. […] Dem haben wir das gleiche erzählt: ‚Schau, hier baust Du keine zwölf Treppenaufgänge. Versuche es ein bisschen zu reduzieren. […] Zeig uns ein neues Projekt. […] Du zeigst es uns!‘ Und der sagte: ‚Haut jetzt ab oder ich rufe die Polizei.‘ […] Der hat so weitergemacht. Als wir gesehen haben, dass er das Gerüst für den ersten Stock gebaut hat, sind wir hingegangen. Wir haben ihm alles abgebrannt […] und wir haben ihm gesagt: ‚Jetzt machst Du nichts mehr. Du endest so wie der andere. […] Jedes Mal wenn Du einen Nagel einschlägst, findest Du ihn am nächsten Morgen nicht mehr.‘ […] Am Ende hat er aufgegeben. Auch der hat ein wenig getauscht mit anderen Flächen, die er außerhalb der Ringautobahn hatte, für die sie ihm eine Baugenehmigung gaben. […] Diese Fläche ging an die Stadt und die hat uns die Kinderkrippe gebaut.“

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frequentavano quell’occupazione degli elementi di Avanguardia Nazionale. […] Era una cosa che noi non potevamo tollerare dentro questo quartiere. […] Questi sono stati cacciati. Si è diffuso a un certo punto questo tamtam che c’erano questi fascisti all’interno di questa occupazione […]. Noi eravamo organizzati anche per dare una risposta di forza. Però la cosa più bella è che ad un certo punto sono scesi tutti. Tutti gli occupanti. Hanno letteralmente circondato quel posto. E poi […] sono andati il segretario della sezione del PCI […], Cecchini e un esponente del comitato di quartiere. […] Sono entrati dentro, hanno detto che se ne dovevano anda’. […] Questi sono scesi, se ne sono andati accompagnati dalla gente […]. Sono stati spintonati fuori dal quartiere.“442 Doch die Präsenz der Besetzerfamilien der Via Pescaglia 93 in der Magliana war nicht nur in kämpferischen Momenten von Bedeutung, sondern trug auch zum sozialen und kulturellen Leben im Stadtteil bei: Anfang November 1974 – also knapp zwei Monate nach den blutigen Auseinandersetzungen in San Basilio – fand in der Magliana ein ‚Volksfest‘ statt, mit dem die Besetzer der Via Pescaglia 93 das einjährige Bestehen ihrer Besetzung feierten.443 Das Stadtteilkomitee der Magliana, das an der Vorbereitung und Durchführung des Festes beteiligt war, beschrieb das Ziel der Veranstaltung in politischen Termini: „[…] fare della ‚festa‘ un momento di unità e di forza delle masse popolari del quartiere nella prospettiva di allargare la lotta contro il caro-vita, l’aumento delle tariffe, l’attacco alle conquiste operaie in fabbrica e nella città.“444 Für Franco Moretti vom Comitato di lotta per la casa waren Ereignisse wie dieses Fest integraler Bestandteil des Kampfes im Stadtteil: „Poi all’interno […] di questa lotta c’è stata una serie di episodi, anche di tentativi di socializzazione della vita in comune. Ad un anno dalla lotta fu fatta una festa

442 Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:04:55 – 1:09:05. „Dann ist hier […] auch ein starkes antifaschistisches Bewusstsein gereift. […] Es gab auch recht komplizierte Episoden […]. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurden in einer unkontrollierten, spontanen Besetzung von dreißig Wohnungen am Anfang der Via Impruneta Anhänger von Avanguardia Nazionale erkannt. […] Das war eine Sache, die wir in diesem Viertel nicht tolerieren konnten. […] Die wurden verjagt. An einem bestimmten Punkt hat sich diese Nachricht verbreitet, dass diese Faschisten in dieser Besetzung waren […]. Wir waren auch entsprechend organisiert um eine gewaltsame Lösung herbeizuführen. Aber die schönste Sache war, dass auf einmal alle runter kamen. Alle Besetzer. Sie haben den Wohnblock regelrecht umstellt. Und dann […] sind der Sekretär der PCI-Sektion […], Cecchini und ein Exponent des Stadtteilkomitees reingegangen. Sie sind reingegangen, haben gesagt, dass sie gehen müssen. […] Die (Faschisten) sind runtergekommen und sind gegangen, begleitet von den Leuten […]. Sie wurde unter Stößen aus dem Viertel vertrieben.“ 443 Vgl. Lotta Continua vom 10.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 66; Spada (1976), S. 59. 444 Lotta Continua vom 22.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 68. „[...] aus dem ,Fest‘ einen Moment der Einheit und der Stärke der Volksmassen des Stadtteils machen mit der Perspektive, den Kampf gegen die Teuerung, die Tariferhöhungen, gegen den Angriff auf das, was die Arbeiter in den Fabriken und den Städten erobert haben, zu verbreitern.“

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grandissima a cui parteciparono anche nomi importanti della cultura italiana, del mondo dello spettacolo. […] E ne parlarono i giornali. […] Insomma tutto il quartiere era invaso da questa festa. […] Fu una cosa anche quella molto importante perché creò un cemento dalla gente che oltre ai problemi ci si divertiva pure insieme. […] Si cambiava un po‘ il modello di vita generale.“445 Für das Fest, welches ein ganzes Wochenende dauerte, wurde ein großes Zirkuszelt aufgebaut, um trotz der herbstlichen Witterung eine gemütliche Zusammenkunft zu ermöglichen. Es traten unter anderem der bekannte linke cantautore Enzo Del Re sowie die Formation Canzoniere di Salerno auf. Hinzu kamen Bands wie der Canzoniere della Magliana, der Canzoniere del Lazio und die 25-köpfige Banda di Centocelle.446 Außerdem führte eine Theatergruppe der Besetzer ein Stück über ihren Kampf auf. Der LC-Journalist Luigi Manconi war begeistert: „Non è vero […] che ‚interpretavano solo se stessi‘ […]. Sul palcoscenico era altro che volevano fare; la ‚rappresentazione‘ […] come gioco grottesco e ridicolo, gioioso e caricaturale. È per questo che gli occupanti facevano la parte degli occupanti, come fosse altra cosa da se stessi, personaggi buffi di cui ridere e per cui commuoversi […]. Questo ha consentito […] quel superamento totale della separatezza tra ‚palcoscenico‘ e ‚platea‘, e tra ‚attori‘ e ‚pubblico‘, che rimane l’aspirazione, pressoché irrisolta, di ogni uomo di teatro, e di chi fa teatro politico, in particolare. Se questo, nella più rigorosa semplicità, è diventato possibile alla Magliana lo si è dovuto, esclusivamente, al fatto che qui la ‚comunità‘ era preesistente, che l’integrazione tra attore e ‚popolo‘ era un dato acquisito e precedente, che l’attore era il popolo, perché il popolo (questo pezzo di popolo) era l’autore; e l’attore non era parte del popolo semplicemente per […] analisi scientifica, lucida passione, ma per […] l’estrazione sociale, la base materiale e le condizioni di classe […] l’identità di comportamento e di militanza politica (la lotta per l’occupazione delle case).“447 Am Samstag wurde

445 Interview mit Franco Moretti vom 19.06.2009, 35:30 – 36:30. „Dann gab es im Inneren […] dieses Kampfes eine Reihe von Episoden, auch von Versuchen, das gemeinsame Leben kollektiv zu gestalten. Ein Jahr nach der Besetzung wurde ein riesiges Fest gemacht an dem auch bekannte Exponenten der italienischen Kultur und des Showbusiness teilnahmen. […] Die Zeitungen berichteten darüber. […] Kurz und gut, das ganze Viertel wurde von diesem Fest eingenommen. […] Auch das war eine sehr wichtige Sache, denn es schuf Zusammenhalt unter den Leuten, dass man jenseits der Probleme sich auch gemeinsam vergnügte. […] Man veränderte ein wenig den generellen Lebensentwurf.“ 446 Vgl. Lotta Continua vom 13.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 67/68. 447 Luigi Manconi (1975): Il teatro, la festa, le case occupate, in: Ombre Rosse 8, S. 67-73. „Es stimmt nicht […], dass sie ‚nur sich selbst spielten‘. Auf der Bühne wollten sie etwas anderes machen; die ‚Darstellung‘ […] als groteskes und lächerliches, fröhliches und karikaturenhaftes Spiel. Deshalb spielten die Besetzer die Rolle der Besetzer, als ob dies etwas anderes wäre als sie selbst, komische Figuren, über die man lachen und mit denen man mitfühlen konnte […]. Das hat es erlaubt […], die Trennung zwischen ‚Bühne‘ und ‚Zuschauerraum‘, zwischen ‚Schauspielern‘ und ‚Publikum‘ völlig aufzuheben, die das fast immer unerreichte Ziel jedes Theatermachers bleibt, und derer, die politisches Theater machen insbesondere. Wenn das in allergrößter Einfachheit in der Magliana möglich wurde,

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als Teil der Festlichkeiten eine Demonstration mit musikalischer Begleitung durch das Viertel veranstaltet.448 Alles in allem also: „Una festa come si deve: con la banda musicale, le canzoni, i balli, lo spettacolo teatrale, l’albero della cuccagna e la lotteria finale. Una festa popolare all’antica, insomma […]. […] (Era) un ritorno alle feste di paese di una volta, in mezzo a un mostruoso quartiere di una mostruosa città […].“ 449 Die Besetzer und autoriduttori der Magliana bildeten um die Mitte der 1970er Jahre eine lokale Gegenkultur, die im Zuge einer gemeinsamen Feier eine festliche ‚Heterotopie‘ 450 konstituierte, die selbst den Dynamiken der audiovisuellen Massenkultur widerstehen konnte: „Domenica sera, alla TV c’era Canzonissima; nel tendone della Magliana c’erano 1.500 persone, e non s’è mosso nessuno.“451 Das Comitato di lotta per la casa begnügte sich nicht damit, die erstrittenen Erfolge zu konsolidieren, sondern versuchte weiterhin, neue Besetzungen zu organisieren. So besetzten am 1. Februar 1975 110 vom Comitato di lotta per la casa organisierte Familien weitere Wohnungen in der Magliana: Diesmal traf es die Immobiliengesellschaft Malta des stadtbekannten Immobilienmagnaten Piperno, die eben jene nun besetzten Wohnblöcke zwei Jahre zuvor mit Polizeigewalt hatte räumen lassen, um dem Phänomen der autoriduzione Herr zu werden, und die Wohnungen seitdem aus Angst vor erneuter autoriduzione hatte leer stehen lassen.452 Die Verantwortlichen der Immobiliengesellschaft Malta waren ausgesprochen gründlich vorgegangen:

so war dies ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass hier die ‚Gemeinschaft‘ schon vorher bestand, dass die Einheit von Schauspieler und ‚Volk‘ von vornherein gegeben war, dass der Schauspieler das Volk war, weil das Volk (dieser Teil des Volkes) der Autor war; und der Schauspieler war nicht einfach nur aufgrund […] wissenschaftlicher Analyse (und) kluger Leidenschaft, sondern aufgrund […] seines sozialen Hintergrundes, der materiellen Basis und der Klassenzugehörigkeit […] der Identität des Verhaltens und der politischen Militanz (der Hausbesetzungen) Teil des Volkes.“ 448 Vgl. Lotta Continua vom 13.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 67/68. 449 Lotta Continua vom 13.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 67/68. „Ein Fest, wie es sich gehört: mit Musikanten, Gesängen, Tänzen und Theatervorstellung, Spielen und Lotterie am Ende. Ein Volksfest der alten Art also […]. (E)s war eine Rückkehr zu den Dorffesten von einst inmitten eines monströsen Viertels in einer monströsen Stadt […].“ 450 Zum Begriff, vgl. Michel Foucault (2006): Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., S. 317-327. Löw nennt explizit das Fest als Form der Heterotopie, (Löw (2001), S. 165) aber ihre Festlegung gegenkultureller Heterotopien auf Illusions- oder Kompensationsfunktionen (Löw (2001), S. 227) erscheint als reduktiv. 451 Lotta Continua vom 13.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 67/68. „Sonntagabend kam im Fernsehen Canzonissima; im Zelt in der Magliana waren 1.500 Menschen und keiner machte Anstalten zu gehen.“ 452 Vgl. Flugblatt des Comitato di lotta per la casa und des Comitato di quartiere vom 01.02.1975 und Flugblatt des Comitato di lotta per la casa und des Comitato di quartiere vom 06.02.1975, beide in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168; Comitato di quartiere (1977). S. 99f.

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Küchen und Bäder der leer stehenden Wohnungen waren zerstört, Türen und Fenster abtransportiert worden, um einer Besetzung vorzubeugen.453 Das Comitato di lotta per la casa und Stadtteilkomitee der Magliana informierten noch am Tag der Besetzung die Bevölkerung des Viertels mit einem Flugblatt über die Beweggründe der Besetzer und stellten deren Aktion von Anfang an in den Kontext der anderen Kämpfe im Stadtteil: „La lotta degli occupanti è la stessa lotta degli altri abitanti della Magliana contro i fitti rapina, per il risanamento del quartiere, per l’esproprio degli edifici abusivi.“454 Die Mieter der Immobiliengesellschaft Malta scheinen solidarisch auf die Besetzung reagiert zu haben.455 Fünf Tage später beschworen Comitato di lotta per la casa und Stadtteilkomitee die Einheit der arbeitenden Bevölkerung der Magliana in einem zweiten Flugblatt nochmals. Diesmal jedoch machten sie auch deutlich, wer diesem Ziel in ihren Augen im Wege stand: „Qualche esponente della sezione comunista della Magliana ha pensato che fosse necessario attaccare i lavoratori che occupano le case sfitte di Piperno, pensando che la lotta contro Piperno fosse una ‚guerra tra poveri‘, come dicono i padroni.“456 Nachdem sich die Besetzer mit Improvisation durch den kalten Februar gequält hatten, fanden sie durch Recherchen heraus, wo die Gesellschaft die Türen und Fenster der besetzten Wohnblocks eingelagert hatte, und so startete Anfang März ein LKW- und Auto-Korso von der Magliana und holte in einer geplanten Massenaktion die Türen und Fenster aus dem Lagerraum der Immobilienfirma Malta, transportierte sie in die Magliana und führte sie wieder ihrem Bestimmungszweck zu.457

2.4.2 Die politische Ausrichtung der Besetzung Im Oktober 1975 intervenierte die SUNIA bei der Regionalverwaltung, um einen Lösungsvorschlag für die Besetzungen in der Magliana zu unterbreiten. Dieser sah vor, die Mietzahlungen der Besetzer von 2.500 Lire pro Zimmer und Monat durch Zuzahlungen der Region zu ergänzen, um so ein marktübliches Mietniveau und somit die Legalisierung der Besetzungen zu erreichen.458 Die SUNIA hatte es dabei allerdings offensichtlich versäumt, die Besetzer selbst in die Entwicklung ihres Lösungsvorschlags einzubinden. Unter den Besetzern der Magliana jedenfalls war die

453 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 102f. 454 Vgl. Flugblatt des Comitato di lotta per la casa und des Comitato di quartiere vom 01.02.1975, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Der Kampf der Besetzer ist der gleiche Kampf wie derjenige der anderen Bewohner der Magliana gegen die räuberischen Mieten, für die Sanierung des Viertels, für die Enteignung der illegalen Gebäude.“ 455 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 99. 456 Flugblatt des Comitato di lotta per la casa und des Comitato di quartiere vom 06.02.1975, in: CDVV, Fondo Magliana, Nr. 168. „Irgendein Exponent der Sektion des PCI in der Magliana dachte, es sei notwendig die Arbeiter anzugreifen, die die leerstehenden Wohnungen Pipernos besetzen, weil er der Meinung war, der Kampf gegen Piperno sei ein ‚Krieg unter den Armen‘, wie die Bosse sagen.“ 457 Vgl. Comitato di quartiere (1977). S. 102f. 458 Vgl. Il Messaggero vom 24.10.1975, S. 6.

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Überraschung über den Vorschlag groß. Zahlreiche Familien zeigten sich für den SUNIA-Vorschlag offen, da sie in ihm eine Chance erblickten, ihre höchst prekäre Wohnsituation dauerhaft abzusichern.459 Der harte politische Kern des Besetzerkomitees sah dies allerdings anders: Um eine Zustimmung zu dem SUNIA- Vorschlag zu verhindern, entwickelte diese ‚interne Avantgarde‘ im Comitato di lotta per la casa, bestehend aus LC-Aktivisten und Treppendelegierten, in aller Eile einen Gegenvorschlag, der auf die Unterstützung des Stadtteilkomitees zählen konnte, und stellten diesen bei einer Vollversammlung der über fünfhundert Besetzerfamilien der Magliana am 23.10.1975 zur Diskussion.460 Nach eingehender Diskussion beschlossen die Besetzerfamilien, den Vorschlag des Comitato di lotta per la casa bei der Region einzubringen und dieser vom Vorschlag der SUNIA abzuraten.461 Statt die Spekulanten durch kommunale Zuzahlungen zu belohnen, sollte die Kommune auf jene Instrumente zurückgreifen, die mit den Gesetzen Nr. 167 und Nr. 865 zur Verfügung standen: Enteignung der besetzten Wohnblocks in der Magliana und Vermietung dieser zum Sozialmiettarif von 2.500 Lire pro Zimmer und Monat an die Besetzerfamilien.462 Dieser Vorschlag wurde der Regionalregierung am 27.10.1975 durch eine Massendelegation überbracht: Mit zehn Bussen und zahlreichen Autos waren die Besetzer und autoriduttori aus der Neubausiedlung am Tiberufer aufgebrochen, um den Verantwortlichen ihre Meinung unmissverständlich nahezubringen.463 Im Zentrum der Kritik der Betroffenen standen die Vorteile, die eine Annahme des SUNIAVorschlags für jene Immobilienfirmen bedeuten würden, die in der Magliana jenseits aller Vorschriften gebaut hatten: Durch die Zuzahlung von Seiten der Region würden die Spekulanten in Zukunft normale Mieteinnahmen erhalten. Um derartige Zuzahlungen leisten zu können, wäre die Kommune außerdem gezwungen, den Firmen die Bewohnbarkeit der Gebäude zu bestätigen, was sie bislang aufgrund der massiven Bauverstöße verweigerte. Diese Bestätigung und die damit verbundenen kommunalen Sanierungsmaßnahmen würden letztlich eine beträchtliche Wertsteigerung der Bauten in der Magliana mit sich bringen und die Spekulanten so noch zusätzlich belohnen.464 Das Fazit der Besetzer fiel deshalb eindeutig aus: „(Q)uesta soluzione si risolverebbe in un premio per gli speculatori che hanno costruito la Magliana fuori da ogni regola.“465 Mit ihrer Kritik scheinen die Besetzer bei der Regionalregierung auf offene Ohren gestoßen zu sein: Regionalpräsident Palleschi (PSI) jedenfalls erklärte, die Region habe nicht vor, den SUNIA-Vorschlag anzunehmen.466

459 Vgl. L’altra Roma 1 (1976), S. 5. 460 Vgl. L’altra Roma 1 (1976), S. 5; Comitato di quartiere (1977), S. 105. 461 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 105. 462 Vgl. Il Messaggero vom 24.10.1975, S. 6. Der Vorschlag sah des Weiteren vor, dass Familien mit einem Einkommen von mehr als sechs Millionen Lire pro Jahr 30% ihres Einkommens als Miete zahlen sollten, vgl. Il Messaggero vom 24.10.1975, S. 6. 463 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 105. 464 Vgl. Il Messaggero vom 24.10.1975, .S. 6 465 Il Messaggero vom 24.10.1975, S. 6. „[D]iese Lösung würde die Spekulanten belohnen, die die Magliana jenseits aller Regeln gebaut haben.“ 466 Vgl. Comitato di quartiere (1977), S. 105.

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Da wohl auch die Besetzer der Magliana nicht wirklich daran glaubten, dass die Regionalregierung juristisches Neuland betreten und die Gesetze Nr. 167 und 865 dazu benutzen würde, nicht Freiflächen, sondern existierende Bauten zu enteignen, muss der Gegenvorschlag der Besetzer in erster Linie als politisches Manöver betrachtet werden. Der SUNIA-Initiative sollte ein Vorschlag entgegengestellt werden, der eine Wahrung der Interessen der Allgemeinheit und eine harte Bestrafung der Spekulanten der Magliana vorsah.467 Angesichts der großen Delegation, die den Vorschlag der Regionalverwaltung überbrachte, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Besetzer in der Magliana den Überlegungen der ‚internen Avantgarde‘ im Besetzerkomitee folgte und der Bestrafung der Spekulanten Priorität vor ihrem Interesse an der Absicherung ihrer höchst prekären Wohnverhältnisse einräumte.468

2.4.3 Rekomposition der Besetzergemeinschaft Die durch die Besetzungen des Comitato di lotta per la casa der Magliana konstituierten gegenkulturellen Räume469 waren nicht durch einmalige Aneignung geschaffen, sondern in einem ständigen Prozess des ‚un-making‘ und ‚re-making‘ begriffen. Es kam zu heftigen politischen Spannungen innerhalb der keineswegs homogenen Besetzergemeinschaft und so veränderte sich die Zusammensetzung der Familien immer wieder: „‚Così come all’inizio bisognava venire decisamente qui con l’intenzione di starci, adesso si tratta di rispettare le regole che ci siamo dati e quindi niente pasticci, niente sotterfugi, niente cessione di presunti diritti di occupazione della casa. Altrimenti si sloggia.‘“470 Dabei konnten die Gründe für ein Eingreifen gegenüber bestimmten Besetzerfamilien vielfältig sein. Verstöße gegen die Regeln der Besetzung konnten ebenso Anlass zur Intervention des Kollektivs geben wie die Missachtung ungeschriebener Grundregeln des solidarischen Miteinanders. Aldo Polido, Treppendelegierter in der Via Pescaglia 93, schildert eine derartige Intervention der Besetzergemeinschaft: „[…] Ci stava uno che […] menava […] alla moglie con

467 Zu den Zweifeln an der Umsetzbarkeit des Vorschlags des Comitato di lotta per la casa in den Reihen der Besetzer vgl. L’altra Roma 1 (1976), S. 5. Zur vollkommenen Neuheit einer Enteignung bereits errichteter Bauten, vgl. Il Messaggero vom 24.10.1975, S. 6. 468 Die Ablehnung des IACP-Vorschlags aufgrund ‚moralischer‘ Erwägungen trug Züge jener Logik, die Thompson (1980a, S. 104f.) beschreibt und die die Armen im England des 18. Jahrhunderts dazu trieb, im Zuge von Hungerrevolten oft der Bestrafung der Schuldigen Priorität vor der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse einzuräumen und so z.B. Getreidelager nicht zu plündern, sondern anzuzünden. 469 Für eine Definition ‚gegenkultureller Räume‘ vgl. Löw (2001), S. 185f.. 470 So die Linie der Besetzer der Via Pescaglia 93 ein Jahr nach ihrer Besetzung, zitiert nach: Lotta Continua vom 10.11.1974, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 66. „‚So, wie es am Anfang notwendig war, entschlossen hierher zu kommen mit der Intention zu bleiben, so geht es jetzt darum, die Regeln zu respektieren, die wir uns gegeben haben. Also: Keine Pfuschereien, keine Tricks, keine Abtretung vermeintlicher Rechte an den besetzten Wohnungen. Sonst zieht man Leine.‘“

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la cinta. […] Quel giorno sono sceso io, sono andato a chiama’ un pocchettino di […] gente qua: ‚Guarda quello così così.‘ Insomma gli abbiamo fatto perdere il vizio di mena’ la moglie. […] Poi per ultimo l’abbiamo dovuto caccia’ via.“471 Offensichtlich erschien der Beteiligten eine Intervention in ‚familieninterne Angelegenheiten‘ nicht seltsam, wenn es sich um derart gravierende Vorkommnisse handelte. Wer seine Frau schlug, musste damit rechnen, vom Besetzerkollektiv zur Rechenschaft gezogen zu werden – und das, wie trotz Polidos euphemistischer Andeutung klar wird, durchaus handgreiflich. Wer auf Dauer gegen die Regeln der Besetzergemeinschaft verstieß, musste dagegen damit rechnen, seine Wohnung zu verlieren. Die innere Zusammensetzung der Besetzung in der Via Pescaglia 93 war deshalb auch nach dem anfänglichen Ausschluss derjenigen Familien, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen an der Besetzung teilgenommen hatten, keineswegs statisch, sondern Gegenstand ständiger, oft höchst konfliktträchtiger Veränderungen. Welche Qualität diese internen Auseinandersetzungen annehmen konnten, verdeutlichen Ereignisse aus dem Jahr 1976. Ida Bucarelli, eine Bewohnerin der Via Pescaglia 93, war den anderen Besetzerfamilien mehr und mehr ein Dorn im Auge: Sie schien ihre minderjährigen Töchter zu prostituieren und mit Drogen zu handeln. Die Besetzer der Via Pescaglia 93 unterrichteten die Polizei vom Treiben der Frau, diese schritt jedoch nicht ein. Am Sonntag, den 28. November 1976, kam es schließlich zu einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem zuständigen Treppendelegierten Polido und seiner Ehefrau einerseits und Bucarelli, ihren Töchtern und einer Gruppe junger Männer, die sich in Bucarellis Wohnung aufhielten, andererseits. 472

471 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:12:00 – 1:12:40. „[…] Es gab einen, der […] seine Frau […] mit dem Gürtel schlug. […] An diesem Tag bin ich runtergegangen, ich habe ein paar Leute zusammengerufen: ‚Schau der und so weiter.‘ Kurz und gut, wir haben ihm die Unsitte ausgetrieben, seine Frau zu schlagen. […] Dann am Ende haben wir ihn rauswerfen müssen.“ 472 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:15:00 – 1:20:40: „Qua sopra noi [...] è stato un episodio abbastanza grosso: [...] c’era una che utilizzava le figlie che erano piccoline [...] tredici anni, quattordici anni. Lei si era lasciata col marito e utilizzava ‘ste figlie per adescare questi ragazzetti che poi gli vendeva la droga. [...] Un giorno noi eravamo un pochettino sazi di questa questione perché non la sopportavamo più. [...] Era tossica pure lei. [...] Un giorno [...] m’affaccio di sopra, ci stavano [...] sei ragazzetti che c’erano là. [...] Facevano i malandrini questi ragazzetti – ragazzetti, poi era gente di vent’anni, ventidue, ventiquattro. [...] Mi sono messo prima a parla’ così: ‚piantatela!‘ così. Poi [...] sono andato su [...] Quando hanno aperto la porta [...] è successo un patatrac. Tre di loro sono andati a finì all’ospedale. A uno avevo dato un morsico qua – gli avevo staccato un pezzo di carne. [...] Da quel giorno ho deciso: Questa deve anda’ via! Perché spaccia la droga. Già avevamo fatto delle denuncie al commissariato che spacciava. Al Commissariato sai che c’hanno detto: ,Lei è una confidente‘. [...] È una confidente vabe’ ma qua sta a ruina’ la Magliana. Che confidente? Abbiamo fatto una serie di riunioni. [...] Viene un ragazzino di quelli che andavano su (da lei). Lì era la prima volta che mi sono messo paura. [...] Viene da me e mi dice: ‚Se tu cacci fuori Ida – si chiamava Ida – io a te te sparo.‘ [...] Una bella sera stavamo a fare la riunione [...] stavamo a uscì tutti quanti [...] dove stavo io hanno [...] colpito. Tutto uno scaricatore [...]. Due signore e un uomo che stavano d’avanti a me (sono

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Im Zuge der Auseinandersetzung drohte einer der Freunde Bucarellis dem Treppendelegierten Polido „‚Se tu cacci fuori Ida […] io a te te sparo.’“473 Die Schlägerei verlagerte sich in den Innenhof des Wohnblocks und scheint erhebliche Dimensionen angenommen zu haben: Als schließlich mehrere Streifenwägen eintrafen, gaben die Polizisten Warnschüsse in die Luft ab, um die Konfliktparteien zu trennen. Während die ‚Kunden‘ der Bucarelli das Weite suchten, baten die Besetzer die Polizisten in den Sitz des Comitato di lotta per la casa und versuchten, diesen die Lage zu erklären. Als die Besprechung vorüber war und die anwesenden Besetzer und Polizisten das Lokal im Erdgeschoss der Via Pescaglia 93 wieder verließen, wurde plötzlich auf die Menge geschossen. Drei der Besetzer wurden von Schüssen getroffen. Obwohl allen Anwesenden klar war, dass es die Freunde von Ida Bucarelli waren, sah sich die Polizei nicht in der Lage, etwas gegen diese zu unternehmen.474 Die Besetzer aber zögerten nun nicht mehr lange: „Ci siamo organizzati, siamo andati su […] e l’abbiamo buttata fuori.“475 Anschließend versuchten die Besetzer mithilfe eines

stati colpiti). Se non prendevano loro me prendevano a me in pancia. [...] Ci siamo organizzati, siamo andati su [...] e l’abbiamo buttata fuori.“ „Hier über uns […] gab es eine recht große Geschichte: […] da war eine, die ihre kleinen Töchter benutzte […] dreizehn Jahre, vierzehn Jahre. Sie und ihr Mann hatten sich getrennt und sie benutzte diese Mädchen um diese Jungs anzulocken, denen sie dann Drogen verkaufte. […] Eines Tages waren wir dieser Geschichte überdrüssig, weil wir sie nicht mehr aushielten. […] Sie war auch drogenabhängig. […] Eines Tages […] schaue ich hoch, da waren […] sechs Jungs. […] Sie machten Blödsinn – Jungs, die waren zwanzig, zweiundzwanzig, vierundzwanzig. […] Erst habe ich es so versucht: ‚Hört auf!‘ und so weiter. Dann […] bin ich hoch gegangen […] Als sie die Tür aufmachten, hat es geknallt. Drei von ihnen sind im Krankenhaus geendet. Einen habe ich hier gebissen – ich hab ihm ein Stück Fleisch rausgebissen. […] Von diesem Tag an habe ich beschlossen: Die muss gehen! Denn sie verkauft Drogen. Wir hatten sie schon beim Kommissariat angezeigt, weil sie dealte. Weißt Du was sie uns beim Kommissariat sagten: ‚Sie ist eine Informantin‘. […] Sie ist eine Informantin, ja gut, aber die macht die Magliana kaputt. Was für eine Informantin? Wir haben eine Reihe von Treffen gemacht. […] Es kam einer der Jungs, die zu ihr hoch gingen. Das war das erste Mal, dass ich Angst bekommen habe. […] Er kam zu mir und sagte mir: ‚Wenn Du Ida rauswirfst – sie hieß Ida – knall ich Dich ab.‘ […] Eines schönen Abends machten wir ein Treffen […] wir waren alle da […] sie haben dorthin geschossen […] wo ich stand. Ein ganzes Magazin […]. Zwei Frauen und ein Mann, die vor mir standen (wurden getroffen). Wenn sie nicht die getroffen hätten, hätten sie mich in den Bauch getroffen. […] Wir haben uns organisiert, wir sind hoch gegangen […] und wir haben sie rausgeworfen.“ Diese Erzählung deckt sich mit derjenigen von Franco Moretti, vgl. Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:11:25 – 1:14:30. Zu einigen Details und dem genauen Zeitpunkt der Auseinandersetzung vgl. Paese Sera vom 2.12.1976, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 109. 473 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:15:00 – 1:20:40, vgl. Anm. 472. „Wenn Du Ida rauswirfst […] knall ich Dich ab.“ 474 Vgl. Paese Sera vom 2.12.1976, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 109. 475 Inteview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:15:00 – 1:20:40, vgl. Anm. 472. „Wir haben uns organisiert, wir sind hoch gegangen […] und wir haben sie rausgeworfen.“

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Flugblatts, die Bevölkerung der Magliana über die Hintergründe des Vorfalls aufzuklären: „‚La Magliana non è terra di nessuno. […] La Magliana è un quartiere di lavoratori in lotta. Fuori dalla Magliana chi spaccia droga, impediamo a chiunque, speculatori o criminali, di attaccare la nostra vita e la nostra lotta.‘“476 Auch erhoben die Besetzer Vorwürfe gegen die Polizei. Anstatt zu versuchen in der Magliana – wie in jedem gewöhnlichen Viertel Roms – Drogenhandel und Kriminalität einzudämmen, habe sich die Polizei im Falle der Magliana zum strategischen Wegsehen entschlossen, um ein Viertel mit starken Basiskämpfen in der Öffentlichkeit zu diskreditieren: „‚È impossibile che la polizia non sappia queste cose […]. Se non intervengono è perché preferiscono che l’immagine del quartiere all’esterno sia quella di una zona di teppisti, drogati e delinquenti […]. All’interno delle occupazioni siamo riusciti a mantenere l’ordine, ad impedire le speculazioni avvenute in altri posti. Nessuno si è venduto la casa, tutti partecipano alle spese di manutenzione, di riscaldamento. Ci siamo organizzati e riusciamo a vivere anche senza il padrone di casa, e questo evidentemente dà fastidio a molti.‘“477 Die Schüsse auf die Besetzer vom 28.11.1976 markierten einen blutigen Höhepunkt des konfliktualen Nebeneinanders von sozialen Bewegungen und einem kriminellen Milieu, für welches der Name der Magliana schon bald zur Chiffre werden sollte.478 Abgesehen von der oben beschriebenen Episode aber scheint keine der beiden Seiten diese Auseinandersetzung gesucht zu haben, und so koexistierten diese beiden Subkulturen anscheinend relativ unabhängig voneinander in ein und demselben Stadtteil,479 wobei

476 Flugblatt des Comitato di lotta per la casa, zitiert nach: Paese Sera vom 2.12.1976, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 109. „‚Die Magliana ist kein Niemandsland. […] Die Magliana ist ein Viertel kämpfender Arbeiter. Raus aus der Magliana wer mit Drogen dealt, verhindern wir, dass irgendjemand, Spekulanten oder Kriminelle unser Leben und unseren Kampf angreift.‘“ 477 Angehörige des Comitato di lotta per la casa, zitiert nach: Paese Sera vom 2.12.1976, in: Pressesammlung des Comitato di quartiere, Bl. 109. „‚Es ist unmöglich, dass die Polizei diese Dinge nicht weiß [...]. Wenn sie nicht eingreift, dann, weil sie vorzieht, dass das Bild des Viertels nach außen, das einer Gegend von Rowdys, Drogenabhängigen und Delinquenten ist […]. Im Inneren der Besetzungen ist es uns gelungen Ordnung zu wahren und die Spekulationen zu verhindern, die es anderswo gab. Niemand hat seine Wohnung verkauft, alle beteiligen sich an den Instandhaltungskosten und den Heizkosten. Wir haben uns organisiert und wir schaffen es, auch ohne Hausbesitzer zu leben und genau das ist offensichtlich vielen ein Dorn im Auge.‘“ 478 Gemeint ist die berüchtigte Banda della Magliana, zu der die vom Comitato di lotta per la casa vor die Tür gesetzte Dealerin und ihre Kundschaft wohl Verbindungen hatten, vgl. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 1:24:45 – 1:25:05: „Poi a distanza di tempo abbiamo saputo che qualcuno di questi era collegato con la Banda della Magliana. [...] (T)utto sommato [...] a me poi m’hanno lasciato perde’.“ „Nach einiger Zeit haben wir dann erfahren, dass einige von denen Kontakte zur Banda della Magliana hatten. […] [A]lles in allem […] haben sie es, was mich betrifft dann dabei bewenden lassen.“ 479 Vgl. Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009, 1:10:35 – 1:11:25: „Poi ci sono tanti altri episodi. Ad esempio la convivenza [...] con la criminalità organizzata. Perché qui in contemporanea in questo quartiere cresceva la Banda della Magliana – dei delinquenti

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zunächst die Basisbewegungen und ab Ende der 1970er Jahre zunehmend organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Drogenkonsum und Delinquenz die Außenwahrnehmung der Magliana prägten.

3 FAZIT : DER BESETZUNGSZYKLUS 1973/4 IM KONTEXT DER 1970ER JAHRE Ähnlich wie der Kampf des Stadtteilkomitees der Magliana kann der römische Hausbesetzungszyklus von 1973/4 der Castells’ schen Typologie folgend als urbane Bewegung charakterisiert werden, die auf Fragen des kollektiven Konsums fokussiert war: Wohnraum wurde massenhaft direkt angeeignet und die grundsätzliche Aufhebung der Marktmechanismen durch die Durchsetzung eines ‚politischen Preises‘ für Wohnraum als Ziel propagiert.480 Während auch der Kampf der Besetzerfamilien wesentlich durch die Praxis der Selbstorganisation und Basisdemokratie im Sinne von Castells’ Dimension des ‚self-management‘481 geprägt war, die aber weniger als Zielorientierung sondern eher als modus operandi des Kampfes eingeordnet werden muss, blieb die gemeinschaftsbildende Wirkung der Besetzungen als dritte Dimension urbaner Bewegungen im Zuge der längerfristig bestehenden Hausbesetzungen kontextabhängig:482 In der Magliana, wo die Besetzerfamilien auf ein bewegungspolitisch vorstrukturiertes Terrain trafen, wurden sie bald selbst zu einem integralen Bestandteil einer lokalen Gegenkultur. In San Basilio hingegen scheint die gemeinschaftsbildende Wirkung der Besetzung im Hinblick auf den urbanen Nahraum in den ersten Monaten ihres Bestehens eher gering geblieben zu sein. Eine zweite Facette der Dimension der ‚community‘ war die Gemeinschaftsbildung innerhalb der jeweiligen Besetzungen. Auch hier fällt das Fazit ambivalent aus: Während in einer ausgesprochen politischen Besetzung, wie jener in der Via Pescaglia 93 intensive, aber auch höchst konfliktuale Prozesse der Identitätsbildung zu beobachten waren, muss davon ausgegangen werden, dass in vielen anderen Beset-

veramente duri – che però [...] nei confronti della lotta organizzata non hanno mai tentato sopraffazioni. Perché c’era un rapporto di reciproco rispetto nel senso che loro poi sapevano che noi comunque eravamo gente che [...] li potevamo pure tollerare, ma rispetto alle lotte non tolleravamo nessun tipo di aggressione.“ „Es gibt noch viele andere Episoden. Zum Beispiel das Zusammenleben […] mit der organisierten Kriminalität. Denn hier wuchs gleichzeitig mit dem Viertel die Banda della Magliana – wirklich üble Kriminelle – die aber […] nie versucht haben, den organisierten Kampf zu unterdrücken. Denn es gab ein Verhältnis gegenseitigen Respekts in dem Sinn, dass sie wussten, dass wir Leute waren […], die sie dulden konnten, aber dass wir hinsichtlich der Kämpfe keinerlei Aggression duldeten.“ 480 Vgl. Castells (1983), S. 321. 481 Vgl. Castells (1983), S. 320f. 482 Zur Dimension der ‚community‘, vgl. Castells (1983), S. 319 und 321. Dass die gemeinschaftsbildende Wirkung der Besetzerbewegung im Falle rascher Räumungen gering blieb, versteht sich von selbst.

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zungen, die weniger durch die politische Identität der Beteiligten, sondern vor allem durch ihre extreme Bedürftigkeit charakterisiert waren, die Prozesse der Gemeinschaftsbildung eher begrenzt blieben. Die Einordnung der Besetzerbewegung bleibt somit ambivalent: Sie generierte zwar ein alternatives ‚urban meaning‘, das radikal mit der Logik des Immobilienmarktes als integralem Bestandteil der römischen Ökonomie brach, war aber nur selten in der Lage, lokale Gemeinschaften zu entwickeln, die Castells zufolge konstitutiv für jede urbane soziale Bewegung sind.483 Doch für eine adäquate Einordnung des Besetzungszyklus von 1973/4 in die Geschichte der römischen sozialen Bewegungen der 1970er Jahren genügt der Rückgriff auf Castells’ Typologie alleine nicht. Erst durch den diachronen Vergleich wird deutlich welche Dynamiken konstitutiv für den Besetzungszyklus waren und welche Folgen dieser hatte. Dabei könnte man den 8. September 1974 als politischen Mittelpunkt der römischen Bewegungsgeschichte der 1970er Jahre bezeichnen – als Punkt, an dem sich die Entwicklungsdynamiken der frühen 1970er Jahre mit denen der späten 1970er Jahre überlagerten und verbanden. Wendet man den Blick vom 8. September 1974 aus zurück, so werden signifikante Unterschiede zwischen dem Besetzungszyklus von 1973/1974 und jenem von 1969 bis 1971 deutlich.484 Im Zuge der Besetzungen der Jahre 1969 bis 1971 hatten tausende Familien aus Barackensiedlungen leer stehende Wohnungen in Rom besetzt. Als drei Jahre später wiederum tausende Wohnungen in Rom besetzt wurden, hatte sich die soziale Zusammensetzung der Besetzer fundamental verändert: Die Besetzer waren diesmal gewöhnliche, meist junge Arbeitnehmerfamilien mit Nähe zur außerparlamentarischen Linken, die durch den starken Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht mehr in der Lage waren, adäquate Wohnungen zu mieten.485 Die Eintrübung der ökonomischen Situation bedingte darüber hinaus eine veränderte soziale ‚Flugbahn‘486 der Akteure: War der Besetzungszyklus der Barackenbewohner 1969/71 noch von einer Vorstellung des ‚Aufholens‘ geprägt gewesen, so gab während des Besetzungszyklus 1973/4 die Angst vor dem drohenden sozialen Abstieg Anlass zur kämpferischen Eigeninitiative. Die soziale Neuzusammensetzung der Besetzungsbewegung und die damit einhergehende Vervielfachung der potentiell Betroffenen verlieh derselben Praxisform – der Besetzung leer stehender Wohnungen durch bedürftige Familien – eine völlig andere politische Semantik: 1969/71 war es ‚nur‘ um 10-15.000 Familien gegangen, die in Rom noch immer in Baracken wohnten. 1973/4 hingegen ging es potentiell um hunderttausende Familien, die angesichts der zwanzigprozentigen Inflation ihren Lebensunterhalt kaum noch bestreiten konnten.487 Hatte die römische Öffentlichkeit die Beset-

483 Vgl. Castells (1983), S. 326f. 484 Zum Besetzungszyklus von 1969 bis 1971 vgl. Kapitel I. 485 Vgl. Fattorini (1977), S. 53, wobei Fattorini die Veränderung eher schon im Jahr 1969 ansetzt. Ferrarotti verweist zwar auf den Mangel an Untersuchungen zum sozialen Hintergrund der Besetzer von 1973/74, hält deren Selbstbeschreibungen aber grundsätzlich für stichhaltig, vgl. Ferrarotti (1975), S. 37. 486 Zum Konzept vgl. Bourdieu (1982), S. 187-193 und S. 707-719. Vgl. auch: Fröhlich/Rehbein (2009), S. 163ff. 487 Zur Veränderung der Akteursgruppen vgl. L’altra Roma 1 (1976), S. 4. Grundlegend für diese Verschiebung war die Eintrübung des gesamtwirtschaftlichen Klimas und der nach-

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zungsbewegung der Barackenbewohner 1969/71 angesichts ihres oft eher symbolischen Charakters und des Elends, dem die Beteiligten zu entgehen suchten, mit etwas Wohlwollen noch als illegalen, aber legitimen Protest gegen den Skandal der Baracken in der italienischen Hauptstadt sehen können, so bedeutete der Besetzungszyklus von 1973/4 eine praktische Infragestellung des Privateigentums an Wohnraum und damit letztlich der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Diese Verschiebung fand ihre Entsprechung in der grundlegenden Umgruppierung der politischen Allianzen: Der PCI, der die Besetzungen 1969/71 noch angeführt hatte, lehnte diejenigen von 1973/4 kategorisch ab. Maurizio Marcelloni zog für Il Manifesto eine Bilanz, die, gemessen an den Urteilen der anderen außerparlamentarischen Gruppen, noch gemäßigt ausfiel, aber nichtsdestoweniger einen epochalen Bruch konstatierte: „(A) sostenere le lotte delle borgate non ci sono più, ormai, il SUNIA ed il PCI. […] Per la sinistra tradizionale […] il movimento ormai deve essere deciso dall’alto per poter ottenere, come forza politica, un maggior livello di contrattazione; le lotte cioè devono restare chiuse nei limiti precedentemente decisi e finalizzati alle mediazioni su cui ci si vuole attestare […]. Tutto il resto è solo oggetto di dibattito fra tecnici e politici, di incontri tra i vertici delle forze politiche, di contrattazioni ristrette.“488 Dieser Seitenwechsel der dominanten Kraft der parlamentarischen Linken Italiens hatte seine Ursache nicht nur in der gesteigerten politischen Sprengkraft, die die Besetzungen von 1973/4 gegenüber jenen von 1969/71 aufwiesen – in den veränderten Umgang der römischen PCI mit den Besetzungen schrieb sich auch der übergeordnete Strategiewechsel des ‚historischen Kompromisses‘ ein, der von den Akteuren der Besetzerbewegung sehr genau registriert wurde. Aldo Polido, einer der Besetzer des Via Pescaglia 93 konstatierte rückblickend: „Il PCI ormai aveva preso un altra strada.

haltige Kaufkraftverlust: Laut ISTAT stiegen die Konsumpreise in Italien vom August 1973 bis zum August 1974 um 21,2%, vgl. Lotta Continua vom 18.9.1974, S. 1. Zur Inflationsentwicklung allg. vgl. auch: Ginsborg (1990), S. 447. Die Veränderung der sozialen Zusammensetzung der (potentiellen) Besetzer musste auch der PCI anerkennen: „Dall’attuale situazione, che non investe solo i baraccati, ma decine di migliaia di altri cittadini colpiti dagli aumenti dei fitti, non si esce se non con una nuova politca nel settore dell’edilizia pubblica”, vgl. L’Unità vom 15.9.1974, S. 10. „Aus der aktuellen Situation, die nicht nur Barackenbewohner betrifft, sondern Zehntausende anderer Bewohner der Stadt, die von den Mietsteigerungen betroffen sind, gibt es keinen Ausweg außer durch eine neue Politik im Bereich des öffentlichen Wohnungsbaus.“ 488 Il Manifesto vom 13. 9.1974, S. 3. „[D]ie Kämpfe in den borgate werden von SUNIA und PCI inzwischen nicht mehr unterstützt. […] Für die traditionelle Linke […] muss die Bewegung inzwischen von oben entschieden werden, um so als politische Kraft eine bessere Verhandlungsposition erlangen zu können. Die Kämpfe müssen sich also in vorher bestimmten Grenzen bewegen und auf Vermittlungen abzielen, die angestrebt werden […]. Der ganze Rest ist nur noch Gegenstand von Debatten von Fachleuten und Politikern, von Zusammenkünften der Spitzen politischer Parteien, von begrenzten Verhandlungen.“

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Era diventato un partito che voleva governare. Quindi ci ha insegnato l’occupazione […]. […] Pero poi dopo si è scordato di queste cose.“489 Die Distanzierung des PCI und die Radikalisierung der Wohnraumkämpfe bedingten sich dabei gegenseitig: Der Wegfall des PCI als hegemoniale Kraft im Kontext der Besetzungen von 1973/4 eröffnete den außerparlamentarischen Organisationen neue Handlungsspielräume.490 Hatte der PCI mithilfe seiner Massenorganisationen stets versucht, spontane Basisdynamiken zu kanalisieren und zu zügeln, um diese in die Bahnen institutionalisierter Politik zu lenken, so versuchten nun die handlungsfähigsten Strömungen der römischen Neuen Linken – allen voran Lotta Continua und die Comitati autonomi operai – dem Besetzungszyklus ihren Stempel aufzudrücken und forcierten die Radikalisierung der politischen Agenda der Besetzungen: Statt um menschenwürdige Unterkunft für einige tausend marginalisierte baraccati-Familien wie im Zuge der Wohnraumkämpfe von 1969/71 ging es nun um die Durchsetzung einer ‚politischen Miete‘ für alle Arbeitnehmerfamilien, die 10% des Lohnes betragen sollte. Eine von solchen Forderungen geprägte Bewegung wiederum musste der PCI ablehnen, wollte er seine zunehmende Integration ins politische System nicht gefährden. Die Radikalisierung der politischen Agenda während des Besetzungszyklus 1973/4 ging einher mir einer Veränderung des politischen modus operandi: Eine vom PCI geprägte Politik, bei der Massenaktionen – egal ob Besetzungen oder Demonstrationen – immer nur Teil einer umfassenden Strategie waren, in deren Zentrum Verhandlungen standen, wurde durch eine Politik der direkten Aneignung ersetzt, bei der Verhandlungen nur noch eine nachgeordnete Rolle spielten. Die Ursachen für diese Veränderung der Politikform durch die außerparlamentarischen Gruppen war vielfältig: Zum einen verfügten sie über keine Machtpotentiale in den politischen Institutionen, was dazu führte, dass sie alles daran setzten, die Straße zur prioritären Politikarena und somit Formen der direkten Straßenpolitik zum dominanten Modus des politischen Handelns zu machen. Zum anderen verorteten sich gerade die radikalen Teile der Bewegung, wie die römische Autonomia Operaia, in der basisdemokratischen Tradition von 1968 und lehnten deshalb Formen der Delegation grundsätzlich ab. Eng damit verbunden war die Kritik an der institutionsimmanenten Politik der Parteien, die im Rufe der Mauscheleien und des Klientelismus stand. Die scharfe Verurteilung der Besetzungsbewegung durch den PCI war umgekehrt nicht nur in der neuen Parteilinie und der objektiven Radikalität der Besetzungsbewegung begründet, sondern verwies auch auf die wachsende Entfremdung zwischen Partei und bestimmten Bevölkerungssegmenten in Zeiten der Krise. Der Soziologe Franco Ferrarotti konstatierte 1975: „Critiche e accuse più pesanti sono state rivolte

489 Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009, 44:15 – 44:40. „Der PCI hatte inzwischen einen anderen Weg eingeschlagen. Er war eine Partei geworden, die regieren wollte. Er hatte uns also die Hausbesetzung beigebracht […]. […] Aber danach hat er diese Dinge vergessen.“ 490 Während die gemäßigteren Organisationen der Neuen Linken, wie Il Manifesto, zwar Kritik an der ablehnenden Haltung des PCI gegenüber den Besetzungen äußerte, aber letztlich dennoch auf eine baldige Kehrtwende der großen Partei hofften, bot in den Augen der radikaleren Gruppen, wie der Comitati autonomi operai, die Absenz des PCI eine Chance, die spontanen Basisdynamiken ungehindert voranzutreiben.

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agli organizzatori delle occupazioni dalle forze di sinistra. In verità c’è in esse la consapevolezza che le occupazioni sottolineano un certo ‚scollamento‘ tra la loro iniziativa politica e di massa e quelli ampi strati della popolazione romana sui quali incide con durezza crescente la situazione economica.“491 Mit der hegemonialen Stellung in den sozialen Kämpfen büßte der PCI aber auch zunehmend seine Position als Anwalt subalterner Interessen ein: Gerade hinsichtlich der im Zuge der Wirtschaftskrise zunehmend deklassierten Jugendlichen der urbanen Peripherie scheinen die Bindekräfte des Parteikommunismus nachgelassen zu haben.492 Hier avancierten radikalere Akteure zu role-models: einerseits die außerparlamentarischen Organisationen, die mit ihrem direkten handgreiflichen Politikstil eher den Nerv vieler marginalisierter Jugendlicher trafen als der zunehmend in Italiens partitocrazia493 integrierte PCI, andererseits dürften aber auch die neuen Formen der urbanen Bandenkriminalität, die im Italien der 1970er Jahre die Staatsgewalt herausforderten, viele Jugendliche in der metropolitanen Peripherie fasziniert haben. Egal ob die einzelnen Akteure dabei auf ‚politische‘ oder auf ‚kriminelle‘ Repertoires zurückgriffen, gemeinsam war diesen beiden rebellischen Lebensstilen ihre Verankerung in der Kultur und Weltsicht einer Generation, die durch Ungeduld und die Ablehnung jeder Mediation charakterisiert war und die wenige Jahre später in der Jugendrevolte von 1977 ihren deutlichsten Ausdruck finden sollte.494 Während die Aktivisten der außerparlamentarischen Linken den Kurswechsel des PCI auf dessen neue Gesamtstrategie zurückführen konnten, zerbrach an den Ereignissen von San Basilio das Weltbild manches alten Kommunisten. Die Worte, mit denen Fabrizio Cerusos Vater Luigi zitiert wird, sind von seiner persönlichen Betroffenheit geprägt, dürften in weniger drastischer Form aber für viele alte Parteimitglieder zugetroffen haben, die nicht begreifen konnten, warum Dinge, die man vor wenigen Jahren noch mit der Partei verbunden hatte, nun auf das Schärfste von dieser verurteilt wurden: „‚Ai nostri figli abbiamo insegnato l’onestà e li abbiamo tirati su con tanti sacrifici, e loro sono più progrediti di noi: questo era quello che una volta voleva il PCI; e cioè che la gente fosse più matura e cosciente. Quando noi prima scendevamo nelle piazze e prendevamo botte dalla polizia ai miei figli non potevo dire che la polizia mi aveva dato un mazzo di fiori: dunque loro hanno rifatto quello che abbiamo fatto noi ed hanno voluto vendicare tutto quello che hanno fatto a noi. Ci sono compagni che dicono che questi ragazzi sono fuorilegge, mascalzoni. Per me non sono mascalzoni ma sono figli nostri e vanno protetti e vanno aiutati nelle loro manifestazioni, come quando le facevamo noi con Terracini e tanti altri compagni del

491 Ferrarotti (1975), S. 35. „Die härtesten Kritiken und Anschuldigungen sind von den Kräften der Linken gegen die Organisatoren der Besetzungen erhoben worden. In Wahrheit wissen sie, dass die Besetzungen eine gewisse ‚Ablösung‘ zwischen ihren Initiativen sowohl auf dem politischen Parkett als auch hinsichtlich der Massen und jener breiten Schichten der römischen Bevölkerung deutlich machen, die die wirtschaftliche Situation mit wachsender Härte trifft.“ 492 Vgl. auch Armati (2008), S. 242. 493 ‚Parteienherrschaft‘. Zur zunehmenden Integration des PCI in das italienische System der Parteienpolitik um Mitte der 1970er Jahre, vgl. Crainz (2003), S. 532-541, v.a. S. 536 494 Vgl. Quadrelli (2004), S. 9f.

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PCI. Non capisco perché ora devono dire che sono delinquenti, o che tra loro ci sono delinquenti. Non è vero, io li conosco e sono tutti bravi, tutti lavoratori e non hanno niente a che spartire con la delinquenza.‘“495

495 Zitiert nach: Armati (2008), S. 242. „‚Unseren Kindern haben wir Ehrlichkeit beigebracht und wir haben sie unter großen Opfern aufgezogen und sie sind weiter fortgeschritten als wir: Das war es, was der PCI einst wollte, nämlich, dass die Menschen reifer werden und ihr Bewusstsein wächst. Als wir früher auf die Straße gingen und von der Polizei verprügelt wurden, konnte ich meinen Kindern nicht sagen, dass mir die Polizei einen Blumenstrauß gegeben hatte: Also haben sie es genauso gemacht wie wir und sie haben versucht all das zu rächen, was man uns angetan hat. Es gibt Genossen, die sagen, dass diese Jungen Gesetzlose und Dreckskerle sind. Für mich sind es keine Dreckskerle, sondern unsere Kinder, die es zu schützen und zu unterstützen gilt bei ihren Demonstrationen, so wie damals als wir sie mit Terracini und vielen anderen Genossen vom PCI machten. Ich verstehe nicht, warum sie jetzt sagen müssen, dass sie Kriminelle sind oder dass unter ihnen Kriminelle sind. Das ist nicht wahr, ich kenne sie und sie sind alle anständig, alle Arbeiter und sie haben nichts mit der Delinquenz zu tun.‘“

III Die Bewegung von 1977

1 1977 – ANFÄNGE EINER BEWEGUNG Soziale Bewegungen verfügen in ihrer Genese selten über einen eindeutigen Anfang. Meist werden Ausgangspunkte erst in der Rückschau von Beteiligten oder Angehörigen der historischen Zunft konstruiert, um dem, was später als gesellschaftlich relevanter Kollektivakteur auftritt, einen Ursprung zuzuweisen. Für jene Bewegung, die in der italienischen Zeitgeschichte mit dem Jahr 1977 ähnlich eng verbunden ist wie in den meisten Ländern Westeuropas die Studentenbewegung mit dem Jahr 1968, gilt diese Aussage zumindest auf den zweiten Blick ebenso sehr wie für ihre große transnationale Schwester.1 Um die Anfänge einer Bewegung zu bestimmen, kann man nach dem ersten Auftreten jener Subjekte fragen, welche später die zentralen Akteure der Bewegung darstellten, nach jenen Geschehnissen suchen, die für eine breitere Öffentlichkeit das Auftreten einer neuen Bewegung markierten oder aber untersuchen, wann zum ersten Mal jene Inhalte und Forderungen zum Gegenstand öffentlicher Diskussion wurden, die später für die Bewegung charakteristisch waren. Die Antworten auf diese Fragen werden unterschiedlich ausfallen und dennoch jenen Zeitraum einrahmen, in dem sich die Bewegung zu entwickeln begann. Zeit ist jedoch nur eine der beiden relevanten Dimensionen. Von einer Bewegung zu sprechen, ohne jene Räume zu benennen, in denen sie sich entwickelte, hieße, die Materialität sozialen Handelns zu ignorieren. Bewegungen agieren an konkreten Orten und so sind Fragen der Periodisierung und der Verräumlichung immer auf das engste verknüpft.

1.1 Der 20. Juni 1976 und die neue Jugendbewegung Im Herbst 1976 schien sich der lange italienische Bewegungszyklus seit 1968 seinem Ende zuzuneigen – ‚riflusso‘2 wurde zum Schlüsselbegriff, um die Entwicklung zu

1 2

Zu den Anfängen von 1968 vgl. Norbert Frei (2008): 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. Bonn, S. 31ff. ‚Abebben‘.

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beschreiben.3 Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 20. Juni 1976 hatten die wichtigsten außerparlamentarischen Gruppen LC, PdUP und AO, die gemeinsam unter dem Banner Democrazia Proletaria (DP) angetreten waren, eine bittere Niederlage einstecken müssen und nur 1,5% der Stimmen erhalten. In der Folge dieses Desasters und wachsender innerer Divergenzen kam es im Dezember 1976 zur formellen Auflösung von Lotta Continua, der größten Gruppe der italienischen Neuen Linken.4 Die tiefe Sinnkrise der italienischen Neuen Linken war Ausdruck struktureller Veränderungen: Um die Mitte der 1970er Jahre ging auch in Italien eine Phase zu Ende, in welcher die Arbeiterbewegung alle Formen der sozialen Konfliktualität geprägt hatte.5 Dementsprechend trübe erschien die Gesamtsituation der außerparlamentarischen Bewegung zur Jahreswende 1976/77: Viele jener Potentiale, die im Zuge der sozialen Kämpfe seit 1968 gerade unter Jugendlichen entstanden waren, hatten die Kräfte der traditionellen Linken – allen voran der PCI – absorbiert.6 Die kommunistische Partei hatte bei den Parlamentswahlen mit 34,4% mehr Stimmen als je zuvor in ihrer Geschichte erhalten und war dennoch deutlich an ihrem Ziel gescheitert, die Christdemokraten als stärkste Partei abzulösen, da die DC mit 38,7% unverändert stark geblieben war.7 In den Augen des PCI-Vorsitzenden Berlinguer galt es trotz der Niederlage gegen den alten christdemokratischen Rivalen jene Politik der Annäherung an die DC weiterzuführen, die er seit 1973 verfolgte. So kam es, dass sich der PCI nach den Wahlen 1976 erstmals in seiner Geschichte bereit fand, eine Minderheitsregierung der Christdemokraten gemeinsam mit PSI, PSDI und PRI zu dulden. Damit waren die Träume der Neuen Linken auf ganzer Linie gescheitert: Anstelle der von ihnen ersehnten Linkskoalition war nun eine christdemokratische Minderheitsregierung mit Duldung durch genau jene Kraft getreten, auf die sich trotz aller Kritik ihre Hoffnung gerichtet hatte – den PCI. Den DC-Granden oblag es daraufhin, die Bildung der angekündigten ‚Regierung neuen Typs‘ in eine vollendete „Tragikomödie“ (Crainz) zu verwandeln, indem sie ausgerechnet den skandalbelasteten und keineswegs ‚neuen‘ Giulio Andreotti mit der Regierungsbildung beauftragten, der sich nicht scheute, eine Regierungsmannschaft voller altbekannter DC-Politiker von zweifelhaftem Ruf zu präsentieren. Selbst die ausgeprägten Realisten unter den politischen Kommentatoren zeigten sich überrascht von so viel Kaltschnäuzigkeit.8 Schon

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Vgl. z.B. L’Espresso vom 10.10.1976, S. 131-141; L’Espresso vom 14.11.1976, S. 6-10. Aus Sicht der Protagonisten vgl. z.B. Quaderni Piacentini 60/61 (1976), S. 3. Vgl. z.B. Monicelli (1978), S. 48ff. Für eine ausführliche Darstellung von Lotta Continua aus Sicht eines ehemaligen Protagonisten, vgl. Bobbio (1988), S. 169ff. Vgl. Lumley (1990), S. 266f. Vgl. Grispigni (1997), S. 12. Vgl. auch Ginsborg (1990), S. 376: Ein wesentlicher Grund für den Wahlerfolg des PCI 1976 dürfte z.B. die Herabsetzung des Wahlalters von 22 auf 18 Jahre in Verbindung mit der breiten Politisierung der jungen Generation seit 1968 gewesen sein. Für eine ausführlichen Analyse des Wahlverhaltens der Jugendlichen 1976, vgl. Enzo D’Arcangelo (1976): Il 20 giugno e il voto dei giovani, in: Ombre Rosse 17 (1976), S. 91- 102. Vgl. Crainz (2003), S. 541 Vgl. Crainz (2003), S. 543.

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wenige Monate, nachdem die Minderheitsregierung Andreotti ihre Arbeit aufgenommen hatte, stand für den kritischen Journalisten Giorgio Bocca fest, dass die Regierungsnähe des PCI nichts verändert hatte: „[…] [N]on pare proprio che il voto del 20 giugno e l’apparizione dei comunisti nell’area del potere abbiano cambiato le parti e il copione.“9 Doch Bocca übersah etwas Wesentliches: Hatte Andreotti als Regierungschef einer Mitte-Rechts-Koalition 1972 noch versucht mit einer ‚politica delle mance‘10 für die verschiedensten Interessengruppen zu punkten, so war seine Politik nun angesichts der sich immer weiter zuspitzenden italienischen Wirtschaftskrise und der durch die neuen politischen Allianzen eröffneten Spielräume sehr viel präziser ausgerichtet.11 Während viele Unternehmen mit substanziellen staatlichen Hilfen bedacht wurden, die keinerlei wirksamer Kontrolle unterlagen, traf die Bevölkerungsmehrheit eine Reihe harter Sparmaßnahmen: Die Regierung ließ die in den letzten Jahren ohnehin stark gestiegenen Preise für Benzin, Diesel und Strom sowie die Telefongebühren deutlich erhöhen und steigerte zugleich die Arbeitszeit aller italienischen Beschäftigten radikal, indem sie sieben Feiertage auf einen Schlag abschaffte.12 Derart harte Einschnitte waren nicht trotz der Duldung der DC-Minderheitsregierung durch den PCI, sondern gerade wegen dieser möglich: Wollte sich Berlinguer, der sich nach Jahren der innerparteilichen Überzeugungsarbeit nun endlich seinem Ziel einer Regierung unter Beteiligung des PCI ein großes Stück näher wähnte, nicht auf absehbare Zeit von seinen Plänen verabschieden, so war er gezwungen, die eigene Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen und Andreottis Krisenpolitik mit zutragen. So hielt Berlinguer an seiner These fest, dass die rigide Sparpolitik dazu genutzt werden könne, durch die Opfer der Arbeiterklasse gesamtgesellschaftliche Reformen in Gang zu setzen und so den Umbau von Staat und Gesellschaft voranzutreiben.13 Tatsächlich aber sollten nur jene Opfer Realität werden, die Andreotti der Bevölkerungsmehrheit aufbürdete, und der PCI wurde zunehmend in die Rolle eines Feigenblattes für die einseitige Sparpolitik der DC gedrängt.14 Angesichts des Abklingens des Bewegungszyklus seit 1968 und der herben Niederlage der Neuen Linken bei den Wahlen im Juni 1976 konstatierte Carlo Donolo im Herbst 1976 in den Quaderni Piacentini, dass ’68 unwiederbringlich vorbei sei.15 Was Donolo einzig als Auflösungserscheinungen wahrnahm, waren in den Augen optimistischerer Zeitgenossen jedoch Tendenzen einer sozialen, kulturellen und politischen Neuzusammensetzung des italienischen Bewegungsspektrums.16 Lumley

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La Repubblica vom 3.2.1977, S. 6. „[…] (E)s scheint nicht so, als hätten die Wahl vom 20. Juni und das Auftauchen der Kommunisten im Bereich der Macht die Rollen und das Drehbuch verändert.“ ‚Politik der Trinkgelder‘. Vgl. Crainz (2003), S. 545. Vgl. Crainz (2003), S. 545f. Vgl. Ginsborg (1990), S. 379. Vgl. Crainz (2003), S. 548f. Vgl. Quaderni Piacentini 60/61 (1976), S. 3. Vgl. z.B. Nino Vento (1976): I giovani proletari, l’ideologie, il tempo libero, in: Ombre Rosse 15/16 (1976), S. 24 – 29, hier: S. 24; Sergio Bologna (1980): Der Stamm der

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konstatiert in der Rückschau treffend: „[…] [T]he fringes of the earlier movement now came to occupy a central place in the new cycle of protest.“17 Vor allem die feministische Bewegung schien von der generellen Inversion der Bewegungsdynamiken ausgenommen zu sein und erreichte 1976 mit der breiten gesellschaftlichen Kampagne für die Legalisierung der Abtreibung ihren Höhepunkt.18 Dabei standen das Abflauen des linken Bewegungszyklus und das Anwachsen der feministischen Bewegung nicht unvermittelt nebeneinander, sondern bedingten sich gegenseitig: Der italienische Neofeminismus wurzelte zwar in den antiautoritären Studentenprotesten von 1968, hatte seinen Klimax aber erst mit einiger Verzögerung erreicht und war im Laufe der Jahre zunehmend auf Distanz zu jenen Formen der Politik gegangen, die auch in der Neuen Linken der 1970er Jahre hegemonial wurden. Unter dem Motto ‚il personale è politico‘19 wurde die Aufhebung der Trennung zwischen ‚privater‘ Unterdrückung und ‚politischem‘ öffentlichem Handeln eingefordert und zugleich auf eine positive Neubewertung von Differenz und Subjektivität gedrängt.20 Der zunehmenden Verknöcherung des Politikstils der Neuen Linken, der in wachsendem Maße von Ideen der Objektivität, Opferbereitschaft und Zweckrationalität geprägt war, setzten die Feministinnen eine politische Formensprache der Subjektivität und Körperlichkeit entgegen, die auch spielerische und selbst zweckhafte Aspekte umfasste. Politik sollte nicht mehr notwendige Pflichterfüllung sein, sondern der Versuch, die eigenen Bedürfnisse und das eigene Begehren zu erkunden und zu befriedigen, und Momente der Selbstermächtigung und des Glücks zu produzieren.21 Die neue feministische Politik des ‚partire da se‘22 und ihre Kritik der ‚alten Art Politik zu machen‘ hatten einen nicht unwesentlichen Anteil an jener Krise, mit der sich die außerparlamentarischen Gruppen gegen Mitte der 1970er Jahre konfrontiert sahen. Ausgehend von der feministischen Bewegung breitete sich auch bei der heranwachsenden Generation bewegungsorientierter Jugendlicher, die sich erst nach 1968 politisiert hatten, eine neue politische Kultur aus, die nicht mehr in der oft zunehmend parteiförmigen politischen Praxis der Neuen Linken aufging. Bei der Genese dieser neuen Aktivistengeneration waren ökonomische und politische Faktoren eng verzahnt mit der Entwicklung neuer Mentalitäten: Im Zuge der italienischen Wirtschaftskrise der 1970er Jahre wurde es für viele junge Menschen zunehmend schwieriger, jene materiellen und kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen, die im Laufe des Wirtschaftsaufschwungs der 1960er Jahre zu einer Selbstverständlichkeit für breite Schichten der urbanen Bevölkerung geworden waren. Nun, da für viele bewegungsorientierte Jugendliche der Post-68-Generation keine Beschäftigung jenseits prekärer, schlecht bezahlter Jobs in Sicht war und die Einkommen der proletarischen und

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Maulwürfe, in: Mai-Gruppe/Theoriefraktion (Hg.): Wissenschaft kaputt. Münster, S. 251 – 301, hier: S. 280ff. Lumley (1990), S. 296. Vgl. Lumley (1990), S. 321. ‚Das Persönliche ist politisch‘. Vgl. Crainz (2003), S. 509f.; Lumley (1990), S. 313 – 336. Vgl. Lumley (1990), S. 313 – 336. Wörtlich: ‚von sich ausgehen‘.

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kleinbürgerlichen Familien zunehmend durch steigende Lebenshaltungskosten aufgezehrt wurden, machten viele von ihnen ihre Bedürfnisse zum Gegenstand direkter Aneignungskämpfe.23 Gruppen von radikal-alternativen Jugendlichen praktizierten ab etwa Mitte der 1970er Jahre immer häufiger eine neue Form der autoriduzione bei Konzerten und Festivals, um so ihren kulturellen Konsum in Krisenzeiten zu verteidigen: Sie überkletterten massenhaft Zäune oder versuchten, einen niedrigeren Eintrittspreis auszuhandeln, und verschafften sich, wenn dies nicht gelang, oft gewaltsam Zutritt zu den Veranstaltungen.24 Diese radikal-alternative Fraktion innerhalb der italienischen Jugendkultur war nicht völlig neu, wuchs aber Mitte der 1970er Jahre beträchtlich an25 und wurde von Underground-Zeitschriften wie Re Nudo in Mailand oder Stampa Alternativa in Rom repräsentiert, die harte Kritik an Kommerzialisierungstendenzen innerhalb der Musikszene übten und die spontane militante Eigeninitiative der Betroffenen begrüßten.26 Da sich bei kommerziellen Konzerten auch Übergriffe auf die Bands häuften, waren bald immer weniger bekannte ausländische Bands bereit, in Italien aufzutreten.27 Zugleich wuchsen dezidiert alternative Festivals auf eine Dimension an, die einige Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre: Im Juni 1974 kamen 50.000 Teilnehmer zum Festival im Mailänder Parco Lambro, das von der Zeitschrift Re Nudo mit Hilfe von Lotta Continua organisiert wurde.28 Ein Jahr später waren es genauso viele in Rom, als Stampa Alternativa und die linksalternative Musikzeitschrift Muzak ein Konzert auf der Piazza Navona für die Legalisierung von Marihuana veranstalteten.29 Bald schon suchten kommerzielle Veranstalter die Kooperation mit linken Gruppen, um ihre Konzerte störungsfrei durchführen zu können.30 Es schien, als hätten die Aktionen einer wachsenden Zahl radikalalternativer Jugendlicher über Umwege dazu beigetragen, der italienischen Jugend-

23 Die Bedeutung der eigenen Bedürfnisse in der politischen Agenda der jungen Aktivistengeneration wurde bald auch zum Gegenstand einer intellektuellen Debatte in der Neuen Linken, vgl. Sandro D’Alessandro (1976): Bisogni e movimento reale, in: Ombre Rosse 14 (1976), S. 7- 19; Giovanni Jervis (1976): Quali bisogni? Alcune note, in: Ombre Rosse 17 (1976), S. 5-11; Furio di Paola (1976): Il bisogno di comunismo. I, in: Ombre Rosse 17 (1976), S.12 – 35. 24 Erstmals war Derartiges zwar schon 1970 bei einem überteuerten Konzert der Rolling Stones in Mailand geschehen, um die Mitte der 1970er Jahre aber wurden autoriduzioneAktionen zum Alltag bei großen Konzertveranstaltungen in Italiens Metropolen, vgl. Giordano Casiraghi (2005): Anni 70. Generazione Rock, Rom, S. 289ff. 25 Für eine Darstellung der ‚langen Welle‘ der italienischen Jugendsubkultur seit den 1960er Jahren vgl. Diego Giachetti (2002): Anni sessanta comincia la danza. Giovani, capelloni, studenti ed estremisti negli anni della contestazione. Pisa. Für eine Darstellung des radikalen subkulturellen Spektrums der 1970er Jahre vgl. Pablo Echaurren/Claudia Salaris (1999): La Controcultura in Italia 1967 -1977. Viaggio nell’underground. Turin. S. 158 – 211. 26 Vgl Casiraghi (2005), S. 289ff. 27 Vgl. Casiraghi (2005), S. 315. 28 Vgl. Casiraghi (2005), S. 309. 29 Vgl. Casiraghi (2005), S. 315. 30 Vgl. Casiraghi (2005), S. 317.

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kultur insgesamt einen politischen Stempel aufzudrücken: Entweder eine MusikVeranstaltung hatte eindeutig linksalternatives Gepräge und entsprechende Preise oder aber sie drohte zum Gegenstand wütender Proteste und autoriduzione-Aktionen zu werden.

1.2 Zeitenwende: Parco Lambro 1976 Gerade das bekannteste der alternativen Festivals, das ‚festival del proletariato giovanile‘31 der Underground-Zeitschrift Re Nudo im Mailänder Parco Lambro 1976 sollte einen dramatischen Bruch in dieser Entwicklung offen legen und heftige Widersprüche innerhalb der linken Bewegung zutage fördern.32 Kurz nach der Niederlage der linken Gruppen bei den Parlamentswahlen vom 20. Juni 1976 häuften sich im Parco Lambro Szenen, wie man sie in den Jahren zuvor so nicht gekannt hatte: Es kam zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Fraktionen der Festivalteilnehmer und zur Plünderung der Essensstände auf dem Festivalgelände, die von den an der Organisation des Festivals beteiligten linken Gruppen betrieben wurden.33 Während diese heftigen internen Konflikte ein Novum waren, standen die Auseinandersetzungen mit der Polizei am Rande des Festivals zwar in einer längeren Tradition, waren aber von einer deutlichen Radikalisierung charakterisiert: Die Jugendlichen versuchten nun nicht mehr nur, sich kostenlos Zugang zum Konzert zu verschaffen, sondern einen Supermarkt in der Umgebung des Festivalgeländes zu plündern, und wurden von Polizeikräften mit Tränengas und Warnschüssen zurückgetrieben.34 Oberflächlich betrachtet konnte die chaotische Situation im Parco Lambro als ein Resultat des enormen Anwachsens des Festival-Publikums von etwa 50.000 Besuchern 1974 auf circa 200.000 1976 und der gleichzeitigen Schwächung der Gruppen der Neuen Linken interpretiert werden, deren Ordnerdienste den reibungslosen Ablauf des Festivals garantieren sollten.35 Tatsächlich jedoch lagen die Gründe des Desasters vom Parco Lambro 1976 tiefer: Auf der einen Seite standen die zunehmend realpolitisch agierenden Gruppen der Neuen Linken mit ihrem vergeblichen Hoffen auf die ihrerseits immer moderatere Kommunistische Partei und ihrer Unfähigkeit, die Glückssuche einer neuen Generation bewegungsorientierter Jugendlicher anders als politisch-ideologisch zu interpretieren.36 Auf der anderen Seite stand eine neue Generation alternativer Jugendlicher, unter denen sich – katalysiert durch die feministische Bewegung – Vorstellungen von einer neuen Form der Politik ausbreiteten, und die die subjektive Suche nach Glück im Hier und Jetzt mit Ideen gesellschaftlicher Veränderung verband, aber wenig Interesse an

31 ‚Festival des jugendlichen Proletariats‘. 32 Vgl. Marcello Sarno: I giovani dopo le feste, in: Ombre Rosse 17 (1976), S. 41 – 49, hier: S. 43. 33 Vgl. Crainz (2003), S. 556; Casiraghi (2005), S. 323f. 34 Vgl. Crainz (2003), S. 556; Pozzi (2007), S. 81; Casiraghi (2005), S. 323. 35 Vgl. Pozzi (2007), S. 80. 36 Vgl. Manfredi (1976), S. 4 – 10.

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langfristigen Strategien und komplizierten Taktiken hatte. Neben einem veränderten Politikbegriff war es auch existenzielle Ungeduld, die die Mentalität der jungen Generation charakterisierte, die eine völlig andere ‚soziale Flugbahn‘37 hatte als ihre ‚großen Geschwister‘ von 1968: Anfang 1976 gingen soziologische Untersuchungen von 1,2 Millionen Italienern zwischen 14 und 29 Jahren aus, die entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt waren. Ein Jahr später gingen die Teilnehmer einer Regierungskonferenz zum Thema schon von 2 Millionen Betroffenen in dieser Altersklasse aus und konstatierten zudem, dass knapp die Hälfte davon über Abitur oder gar einen Hochschulabschluss verfügte.38 Jene Subjekte, denen auf dem Arbeitsmarkt immer weniger Chancen offen standen, besaßen durch die Bildungsreformen der 1960er Jahre also eine weitaus bessere Schulbildung als die Exponenten der vorherigen Generationen. Zudem änderte sich durch die längere Verweildauer der Jugendlichen in den Bildungsinstitutionen deren Selbstwahrnehmung: Wer studierte fühlte sich als Jugendlicher – und da immer mehr junge Menschen studierten, wuchs die Gruppe der Jugendlichen im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft an. Der Generationenwiderspruch innerhalb der italienischen Gesellschaft wurde so zu einem immer virulenteren Problem, weil er mehr Menschen betraf und zugleich eine immer stärkere generationelle Segmentierung auf dem Arbeitsmarkt spürbar wurde.39 Zugleich ließ die gesamtgesellschaftliche Bildungsausweitung bei gleichzeitiger Eintrübung der generationenspezifischen Zukunftsaussichten die sozialen Unterschiede zwischen Jugendlichen aus Mittelschichtsfamilien und jenen mit einem proletarischen Hintergrund tendenziell erodieren40 und verlieh einer neuen Selbstbeschreibung Auftrieb, in der sozialer Status und Generationenzugehörigkeit verschmolzen: Immer mehr Jugendliche fühlten sich als Teil des ‚proletariato giovanile‘41 – als Angehörige einer sozial und generationell marginalisierten Gruppe also. Nach den Ereignissen vom Parco Lambro versuchten die radikalen Teile der neuen Jugendbewegung, ihre Praktiken des Protests und der Aneignung im Alltagsleben zu verankern: Im Herbst 1976 wurde die autoriduzione in Kinos zunächst in Mailand, dann auch in Rom und vielen kleineren Städten zu einem sonntäglichen Ritual, an dem sich bald tausende Jugendliche beteiligten.42 Sowohl die politische Reichweite der Aktionen als auch das Konfrontationsniveau wuchsen schnell: Es wurden bald nicht mehr nur niedrigere Ticketpreise durchgesetzt, sondern auch ein anderes Programm gerade in den Kinos der Peripherie gefordert, in denen bislang drittklassiger

37 Zum Begriff vgl. Bourdieu (1982), S. 187-193 und 707-719. Zur Übersetzung vgl. Fröhlich/Rehbein (2009), S. 163. 38 Vgl. Crainz (2003), S. 555f. 39 Vgl. Sarno (1976), S. 41 – 49; Lumley (1990), S. 298f. 40 Vgl. Lumley (1990), S. 298. 41 ‚Jugendliches Proletariat‘. Zur zeitgenössischen bewegungsinternen Kritik des höchst unscharfen Terminus, vgl. Gianfranco Manfredi: Miti, riti e detriti di Parco Lambro, in: L’Erba Voglio 27 (1976), S. 4 – 10. 42 L’Espresso vom 12.12.1976, S. 70-81; L’Espresso vom 12.12.1976, S. 12f.; Cappellini (2007), S. 4ff.

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Sex and Crime über die Leinwände flimmerte. Zugleich kam es rasch zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.43 Währenddessen kam auf nationaler Ebene etwas hinzu, was man als politischinhaltlichen Anfang der ‚Bewegung von 1977‘ im engeren Sinne fassen könnte: Am 3. Dezember 1976 sandte DC-Bildungsminister Franco Maria Malfatti ein Rundschreiben an die italienischen Universitäten, das die Möglichkeit zur Prüfungswiederholung einschränkte. Diese Verschärfung der Studienbedingungen sollte allerdings nur der erste Schritt einer umfassende Universitätsreform sein, die unter anderem eine Anhebung der Studiengebühren, die Schaffung dreier unterschiedlicher Abschlusslevels, Zugangsbeschränkungen für bestimmte Studiengänge, genauere Kontrolle der Studienpläne, eine hierarchische Restrukturierung der Fakultäten durch Einführung so genannter ‚dipartimenti‘ und eine Aufteilung der Dozenten in Festangestellte und prekär Beschäftigte vorsah.44 An vielen Universitäten begann sich Protest zu regen, denn es wurde schnell klar, dass die Malfatti-Reform im Falle ihrer Umsetzung von der italienischen Massenuniversität, die in der letzten Dekade einer rasch wachsenden Anzahl Jugendlicher das Studium ermöglicht hatte, wenig übriglassen würde. An der römischen Universität, deren Studierendenzahlen sich in den neun Jahren seit 1968 von 70.000 auf knapp 150.000 verdoppelt hatten,45 bezeichneten die protestierenden Studenten das Reformprojekt als „‚progetto Sahara‘“46. Ziel sei es, tausende Studenten aus den Universitäten zu drängen, und diese so zu einer ‚Wüste‘ zu machen, in der eine neue Führungselite herangezüchtet werden könne.47 Anders als 1968 waren es dabei nicht die norditalienischen Universitäten, die zu Beginn die Proteste anführten: Am 24.1.1977 machten die protestierenden Studenten auf Sizilien den Anfang, besetzten die geisteswissenschaftliche Fakultät in Palermo und stellten damit die bewegungspolitische Raumordnung von 1968 auf den Kopf.48 Innerhalb weniger Tage verbreiteten sich die Proteste in fast allen italienischen Universitätsstädten: Es kam zu Fakultätsbesetzungen, Demonstrationen, Blockaden der Lehrveranstaltungen und Versammlungen. Offensichtlich überrascht von den heftigen Reaktionen auf seinen Vorstoß, zog Bildungsminister Malfatti sein Rundschreiben mit der Neuregelung der Prüfungswiederholungen daraufhin am 1.2.1977 zurück49 – ohne Erfolg, die Proteste hatten Fahrt aufgenommen und es hatte sich schnell eine so breite politische Agenda entwickelt, dass es mit der Rücknahme einzelner Verschärfungen in den Augen der Studenten nicht mehr getan war.50

43 L’Espresso vom 12.12.1976, S. 70-81; Cappellini (2007), S. 4ff. 44 Vgl. Diego Giachetti (1998): Oltre il `68. Pisa, S. 142. 45 Vgl. Revelli (1995), S. 401 zu den Zahlen von 1968 und Woller (2010), S. 315 zu 1977. Vidotto (2006), S. 328 geht von etwa 130.000 Studierenden an der römischen Universität 1977 aus. 46 Zitiert nach: Luigi Manconi/Marino Sinibaldi (1977): Uno strano movimento di strani studenti, in: Ombre Rosse 20, S. 3-27, hier: S. 7. „‚Projekt Sahara‘“. 47 Vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 7. 48 Vgl. Giachetti (1998), S. 142. 49 Vgl. Lotta Continua vom 2.2.1977, S. 1. 50 Vgl. Giachetti (1998), S. 142.

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Versucht man den Beginn der Bewegung von 1977 anhand der oben aufgeworfenen Fragen nach dem ersten Auftreten der später zentralen Subjekte, den Ereignissen, die einer entstehenden Bewegung erstmals öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen, und dem Auftauchen für die Bewegung charakteristischer Inhalte und Forderungen zu bestimmen, so ergeben sich verschiedene Antworten: Ein zentrales Subjekt, welches das bewegungspolitische Jahr 1977 in den italienischen Metropolen prägen sollte, betrat in Gestalt der rebellischen Jugendlichen ab etwa Mitte der 1970er Jahre die urbanen Bühnen Italiens.51 Auf nationaler Ebene sichtbar wurden sie spätestens im Sommer 1976 beim ebenso gigantischen wie chaotischen Festival im Mailänder Parco Lambro – allerdings weniger als politische Akteure denn als wachsende Masse diffus politisierter Individuen. Als politische Akteure traten die neuen Subjekte spätestens im Herbst 1976 anlässlich der massenhaften autoriduzione-Aktionen in Kinos in Mailand und Rom auf. Im Zuge der Proteste gegen die Malfatti-Reform ab Ende 1976 wurden die rebellischen Jugendlichen durch die Studenten als zweite wesentliche Komponente der Bewegung ergänzt, wobei die Trennlinie zwischen den Gruppen alles andere als scharf war. Durch die studentischen Proteste wurde die entstehende Bewegung ab Anfang 1977 erstmals auf nationaler Ebene sichtbar und fand mit den Universitäten ihren zentralen Aggregations- und Aktionsraum. Mit den beiden zentralen Akteursgruppen waren auch jene inhaltlichen Kernpunkte gesetzt, die die Bewegung zu Beginn charakterisieren sollten: Der Kampf um die Bedürfnisse des proletariato giovanile in Zeiten der Krise und Konsumeinschränkung sowie der Kampf gegen die Universitätsreform. In Mailand erfolgte der ereignisgeschichtliche Paukenschlag, der das lombardische 1977 einleitete, noch bevor die Studentenproteste gegen die Malfatti-Reform überhaupt richtig begonnen hatten: Am 7. Dezember 1976 versuchten die proletarischen Jugendzirkel die Premiere der Scala zu stören und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. In Rom und den anderen italienischen Großstädten musste man auf ein derart augenfälliges Auftaktereignis derweil noch warten.

2 1977 IN ROM Im Folgenden soll die Bewegung von 1977 in Rom genauer untersucht werden. Eine Darstellung des bewegten Frühjahrs 1977 ist dabei nicht nur ein unverzichtbares Element einer römischen Bewegungsgeschichte der 1970er Jahre, sondern ermöglicht aufgrund der zentralen Stellung Roms für die Bewegung von 1977 wesentliche Erkenntnisse über die Bewegung insgesamt.52 Hier soll allerdings kein Versuch unternommen werden, die römische Bewegung von 1977 umfassend darzustellen. Stattdessen wird im Sinne einer aufschlussreichen Detailanalyse der Untersuchungsausschnitt zeitlich und räumlich möglichst eng begrenzt. Im Zentrum der Ausführungen steht das Frühjahr 1977 – genauer die Monate Februar bis Mai. Der räumliche

51 Vgl. Lumley (1990), S. 295. 52 Zur Zentralität Roms für die Bewegung von 1977, vgl. Del Bello (1997), S. III. Vgl. auch: Giachetti (1998), S. 169f.

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Fokus liegt dabei in erster Linie auf dem römischen Campus der Universität La Sapienza mit ihren knapp 150.000 eingeschriebenen Studenten,53 wo sich die Bewegung konstituierte und in dessen räumlicher Umgebung sich die Mehrzahl der prägenden Ereignisse zutrug. Die Darstellung folgt in weiten Teilen der Chronologie der Abläufe, da gerade im Falle der Bewegung von 1977 die Berücksichtigung des Faktors Zeit im Sinne einer praxeologischen Untersuchung unverzichtbar erscheint: Die geballten Ereignisse des römischen Frühjahrs 1977 in eine systematische Darstellung der beteiligten Akteursgruppen und ihrer praktischen Repertoires sowie der politischen Konstellationen und Konflikte zu überführen, würde die Abläufe entzeitlichen, die Kontingenz des Geschehens tilgen und seine praktische Logik so hinter der logischen Logik der historischen Analyse verschwinden lassen.54 Im Sinne der Übersichtlichkeit der folgenden Darstellung wurden die Ereignisse in drei Phasen eingeteilt: eine Phase der Bewegungskonstitution ab Anfang Februar, eine Phase der Radikalisierung, die durch den Bruch der Bewegung mit der traditionellen Linken charakterisiert ist, und in eine Phase der Eskalation, in der ein immer härterer Schlagabtausch zwischen der Bewegung und der Staatsmacht die politischen Spielräume nachhaltig verengte.

2.1 Konstituierung 2.1.1 Studentenproteste und faschistische Aggression Am Vormittag des 1. Februar 1977 tagten in verschiedenen Fakultäten der römischen Universität Versammlungen, auf denen über die Proteste gegen die Malfatti-Reform diskutiert wurde, als gegen 10.25 Uhr eine etwa hundertköpfige Gruppe bewaffneter Faschisten den Universitätscampus betrat.55 Die jungen Rechtsextremisten waren aus einem Parteilokal der MSI-Studentenorganisation FUAN (Fronte Universitario di Azione Nazionale) in der nahe gelegenen Via Siena losgezogen, um die linken Studenten anzugreifen, die die Proteste gegen die Malfatti-Reform organisierten.56 Auf dem Campus vermummten sich die Faschisten und zogen zur juristischen Fakultät. In der Fakultät brach Panik aus, als die Faschisten anwesende Studenten vor und in dem Gebäude mit Hakenstielen angriffen, Steine und selbstgebauten Sprengsätze warfen und eine regelrechte Hetzjagd auf linke Studenten veranstalteten, während sie

53 Vgl. Vidotto (2006), S. 328; Woller (2010), S. 315. 54 Zur besonders hohen Entwicklungsgeschwindigkeit der Bewegung von 1977, vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 4f. Zur Bedeutung des Faktors Zeit in der praxeologischen Analyse, vgl. Bourdieu (1987), S. 180ff. 55 Vgl. Lotta Continua vom 2.2.1977, S. 1; Piero Bernocchi u.a. (1979): Movimento settantasette. Storia di una lotta. Turin, S. 96; vgl. Dario Paccino (Hg.) (1977): Sceemi. Il rifiuto di una generazione. Rom, S. 20. 56 Vgl. L’Unità vom 2.2.1977, S. 1 und S. 9; Lotta Continua vom 2.2.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 96f.

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Slogans wie „‚Morte ai rossi!‘“57 skandierten. Anschließend griffen die Faschisten die Fakultäten für Politikwissenschaft und Statistik an und setzten dabei auch Schusswaffen ein. Inzwischen kamen – alarmiert durch Explosionen, Schüsse und Schreie – immer mehr Studenten aus den nahe gelegenen Fakultäten, um die Aggressoren vom Campus zu vertreiben. Auf dem Platz hinter dem Rektoratsgebäude starteten die Faschisten dann einen erneuten Angriff auf die Menschenmenge, die sich inzwischen zusammengefunden hatte, um sie zurückzudrängen. Diesmal schossen sie gezielt auf ihre Opponenten.58 Guido Bellachioma, ein 22-jähriger Aktivist des Komitees gegen die Malfatti-Reform der Fakultät für Geisteswissenschaften, wurde von einer Kugel lebensgefährlich am Kopf getroffen. Ein weiterer Student wurde am Bein angeschossen. Zwei Polizisten, die versuchten einzugreifen, wurden von den Faschisten mit einem Steinhagel empfangen und ebenso wie zahlreiche Studenten verletzt.59 Anschließend zogen sich die faschistischen Angreifer zurück, während sie weiter um sich schossen.60 Der offensichtlich gut geplante Überfall hatte nicht länger als 20 Minuten gedauert. Die Nachricht von dem Angriff machte rasch die Runde auf dem weitläufigen römischen Campus. Während der schwer verletzte Guido Bellachioma in die nahe gelegene Poliklinik gebracht wurde, versammelten sich immer mehr Studenten.61 Schließlich bildeten etwa 1500 Studenten eine spontane Demonstration, die den Campus in Richtung Via Siena verließ, um die Angreifer dorthin zurückzuverfolgen, wo sie hergekommen waren. Im Zuge der Demonstration wurde ein Parteilokal des MSI in der Via Livorno angegriffen.62 Auf der Piazza Bologna kam es anschließend zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Studenten unter Einsatz von Tränengas zur Rückkehr auf den Campus zwang.63 Obwohl die Ermittlungen der politischen Polizei gegen die Aggressoren nicht nur durch die Tatsache erleichtert wurden, dass diese Flugblätter mit der Anschrift ihres Parteilokals hinterlassen hatten, sondern auch durch den Umstand, dass einer der Angreifer beim Rückzug seinen Personalausweis verloren hatte, kam es nur zu einigen Hausdurchsuchungen, die aber keine greifbaren Ergebnisse brachten.64 Auch einen Monat später waren die Ermittlungen noch keinen Schritt vorangekommen.65 Doch nicht nur diese Tatsache brachte viele Studenten gegen die Ordnungskräfte auf. Es wurde auch kritisiert, dass der faschistische Überfall keineswegs aus heiterem Himmel geschehen, sondern im Gegenteil die Eskalation absehbar gewesen sei: Einige Tage vor dem Angriff war es bereits zu einem faschistischen Überfall auf ein Studentenwohnheim gekommen, das auch als Treffpunkt linker Studenten diente.

57 Zitiert nach: L’Unità vom 2.2.1977, S. 1. „‚Tod den Roten‘“. Vgl. auch: Lotta Continua vom 2.2.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 96f. 58 Vgl. L’Unità vom 2.2.1977, S. 9. 59 Vgl. Lotta Continua vom 2.2.1977, S. 1. 60 Vgl. L’Unità vom 2.2.1977, S. 9. 61 Vgl. L’Unità vom 2.2.1977, S. 1. 62 Vgl. La Repubblica vom 2.2.1977, S. 2. 63 Vgl. Lotta Continua vom 2.2.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 97. 64 Vgl. Lotta Continua vom 3.2.1977, S. 1; Lotta Continua vom 4.2.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 97. 65 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5.

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Dieser Angriff war von Beobachtern als Zeichen dafür gewertet worden, dass sich nach dem MSI-Kongress im Januar 1977 in Rom eine Radikalisierung der Strategie des MSI abzeichnete, in deren Zentrum eine Reaktivierung der ‚squadristischen‘ Tradition der Parteijugendorganisationen stand. Dennoch hatte die Polizei keinerlei Präventionsmaßnahmen ergriffen, was ihr nicht nur Vorwürfe von Seiten der linken Bewegung, sondern auch von Teilen der Presse einbrachte. Der Überfall auf die römische Universität am 1. Februar 1977 machte deutlich, dass der MSI tatsächlich eine neue Eskalationsstrategie verfolgte: Zum ersten Mal seit 1969 hinterließen die Faschisten bei einem Überfall von solchem Ausmaß Flugblätter, die sie eindeutig als Angehörige einer MSI-Jugendorganisation auswiesen.66 Nur gut zwei Stunden nach dem Überfall versammelten sich gegen 13 Uhr Studenten des Komitees gegen die Malfatti-Reform und der verschiedenen Fakultätskollektive in einer Aula der geisteswissenschaftlichen Fakultät, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Schnell wurde klar, dass die große Mehrheit der Anwesenden für eine Besetzung der Fakultät plädierte. Die Aktivisten der moderaten Gruppen der Neuen Linken wie PdUP und AO brachten den Einwand vor, dass eine Besetzung verfrüht sei, doch bei der anschließenden Abstimmung sahen sie sich von einer großen Mehrheit überstimmt. Daraufhin wurden die Nebeneingänge der Fakultät blockiert damit der Zugang nur noch durch den von den Besetzern kontrollierten Haupteingang möglich war. Die Konstituierung der besetzten Fakultät als gegenkultureller Raum innerhalb und gegen den institutionalisierten Raum der Città Universitaria vollzog sich somit unmittelbar durch die Durchsetzung von Macht, die ihren augenfälligsten Ausdruck in den Eingangskontrollen der Besetzer fand.67 Für 18 Uhr wurde eine erneute Versammlung angesetzt.68 Währenddessen bezogen auch die offiziellen politischen Kräfte Position zu dem vormittäglichen Überfall: Die römische Gewerkschaftsföderation beraumte für den nächsten Tag eine Versammlung in der Aula des Rektorats an, zu der auch die demokratischen Parteien und der Rektor der römischen Universität Ruberti aufriefen.69 Bei der Vollversammlung in der geisteswissenschaftlichen Fakultät um 18 Uhr wurde deutlich, wie groß das Protestpotential der Studenten war: Die Versammlung wuchs rasch auf etwa tausend Teilnehmer an und füllte die große Aula komplett.70 Dabei wurde die Bildung des kontinuierlich arbeitenden Comitato di occupazione di Lettere71 beschlossen, welches die Besetzung der Fakultät koordinierte und in den nächsten Wochen zu einer der wichtigsten organisatorischen Strukturen innerhalb der römischen Bewegung werden sollte.72 Außerdem entschieden sich die Anwesenden, den nächsten Tag zum antifaschistischen Kampftag zu machen. Anschließend wurden Wachschichten für die Nacht eingeteilt, um die Sicherheit der besetzten Fakultät

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Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 1 und S. 3. Vgl. Löw (2001), S. 150 und 185f. Vgl. Bernocchi (1979), S. 97f. Vgl. Bernocchi (1979), S. 98. Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 74; vgl. Bernocchi (1979), S. 98. 71 ‚Besetzungskomitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät‘. 72 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 74.

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zu gewährleisten. Die Fakultät blieb nachts geöffnet und zahlreiche Studenten bereiteten die Proteste des kommenden Tages vor. Neben die Vorbereitung der klassischen Protestutensilien trat in dieser ersten Nacht der Besetzung schon eine Praxis, die die Außenwirkung der entstehenden Bewegung nachhaltig prägen sollte: die massenhafte Anbringung von Graffiti in der besetzten geisteswissenschaftlichen Fakultät und auf dem gesamten Campus.73 Die faschistische Aggression und die darauf folgende Besetzung der geisteswissenschaftlichen Fakultät musste bei allen Beobachtern, deren Erinnerung ein Jahrzehnt zurückreichte, vielfältige Assoziationen wecken: Am 27. April 1966 war bei einem der zahlreichen faschistischen Überfälle auf linke Studenten in der römischen Universität der 19-jährige sozialistische Student Paolo Rossi zusammengeschlagen worden. Als Folge des Angriffs war Rossi fünf Meter in die Tiefe gestürzt und seinen schweren Kopfverletzungen erlegen. Daraufhin waren aus Protest gegen die immer wiederkehrenden faschistischen Aggressionen in der römischen Universität zunächst die geisteswissenschaftliche Fakultät und anschließend acht weitere Fakultäten besetzt worden und schließlich der Rektor der Universität Giuseppe Ugo Papi wegen seiner Untätigkeit gegenüber den faschistischen Übergriffen zum Rücktritt gezwungen worden. Die Besetzung von 1966 galt als wesentlicher Faktor für die Radikalisierung der römischen Studentenschaft, die die Proteste von 1968 vorbereitete.74

2.1.2 Militanter Antifaschismus und Konfrontation mit der Staatsgewalt Am Morgen des 2. Februar 1977 bildeten sich zwei Zentren des Protests auf dem römischen Campus: Während gegen 9.30 Uhr eine Versammlung der Besetzer in der geisteswissenschaftlichen Fakultät zusammentrat, begann im Rektoratsgebäude eine Gewerkschaftskundgebung unter Beteiligung der demokratischen Parteien, der kommunistischen und sozialistischen Jugendorganisationen sowie von PdUP und AO als moderatere Gruppen der Neuen Linken.75 Die versammelten Besetzer beschlossen, nicht an der Gewerkschaftskundgebung teilzunehmen und stattdessen eine Demonstration durchzuführen. Während sich gegen 10 Uhr die Demonstration der Besetzer zu formieren begann, verlagerte sich auch die Gewerkschaftskundgebung ins Freie hinaus, da die Räumlichkeiten nicht mehr für die große Anzahl der Teilnehmer ausreichten.76 Schon auf der Piazzale della Minerva kam es zu ersten Spannungen zwischen den beiden Fraktionen, als Studenten aus dem Spektrum der Fakultätsbesetzer einen Faschisten erkannten und diesen angreifen wollten, daran aber zunächst von PCI-Mitgliedern und anschließend von Zivilpolizisten mit gezogenen Dienstwaffen gehindert wurden.77 Schließlich zog die Demonstration los, während lautstark

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Vgl. Bernocchi (1979), S. 99. Vgl. Vidotto (2006), S. 305; Armati (2008), S. 141ff. Vgl. L’Unità vom 2.2.1977, S. 8; Bernocchi (1979), S. 99. Vgl. Bernocchi (1979), S. 99. Vgl. Paccino (1977), S. 20; L’Unità vom 3.2.1977, S. 1.

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kundgetan wurde, wo es hingehen sollte: „‚A Sommacampagna, a bruciare il covo dei fascisti‘“.78 Ein Aktivist der römischen Autonomia79 beschrieb den Anfang der Demonstration folgendermaßen: „‚Si parte, in testa uno striscione, poi nel corteo nessuna sigla di organizzazione. Usciamo, siamo 7-8.000, è da anni che dall’Università non partiva un corteo così numeroso e combattivo, andiamo verso Via Sommacampagna dove c’è la sede omonima del MSI, che sono almeno 4 anni che proclamiamo ‚brucerà‘ e che ancora, ad onta di tante buone intenzioni, è uno dei punti di forza dei fasci.‘“80 Die Demonstration vom 2.2.1977 hatte ein anderes Erscheinungsbild als die Demonstrationen der letzten Jahre: Die traditionellen Organisationen der Neuen Linken waren entweder – wie PdUP und AO – aufgrund politischer Differenzen abwesend oder – wie LC – nicht als Organisation präsent. Mit den Gruppen der Neuen Linken waren auch deren Ordnerdienste verschwunden, die in den vergangenen Jahren nicht nur versucht hatten, den Schutz der Demonstranten vor Polizeiaggressionen zu gewährleisten, sondern häufig auch die Disziplinierung besonders radikaler Demonstra-

78 Zitiert nach: La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2. „‚Auf zur Via Sommacampagna, den Schlupfwinkel der Faschisten niederbrennen.‘“ Derartige Slogans waren keineswegs neu: In der römischen linken Szene existierte sogar ein Lied darüber, wie man den berüchtigten Sitz der MSI-Jugendorganisation „Fronte della gioventù“ in der Nähe der Universität niederbrennen würde. 79 In der Literatur zur Bewegung von 1977 wird z.T. zwischen der angeblich stets leninistisch orientierten ‚Autonomia Operaia (Organizzata)‘ (‚(organisierten) Arbeiterautonomie‘) und der undogmatischen ‚area dell’autonomia‘ (‚Strömung der Autonomie‘) unterschieden, wobei erstere oft groß, letzte hingegen klein geschrieben wird. In der vorliegenden Arbeit wird bewusst nicht auf diese Begriffe rekurriert, da der durch sie generierbare Erkenntnisgewinn fraglich erscheint: Einerseits bleibt oft unklar, wodurch die ‚area dell’autonomia‘ (‚Strömung der Autonomie‘) und die Bewegung von 1977 unterschieden sind; zum anderen verfolgen wesentliche organisierte Strukturen der römischen Autonomia Operaia wie die Comitati Autonomi Operai eine deutlich bewegungsorientiertere politische Linie als die oft stärker leninistisch beeinflussten norditalienischen Ableger der Autonomia Operaia. Im Folgenden werden die beiden Begriffe Autonomia und Autonomia Operaia verwendet, wobei ersterer eher für eine breitere Strömung, zweiterer eher für die organisierten Strukturen benutzt wird. 80 Ein Aktivist der römischen Autonomia, zitiert nach: Paccino (1977), S. 21. „‚Man geht los, an der Spitze ein Transparent, dann in der Demonstration keine Fahnen von Organisationen. Wir gehen raus und sind 7-8.000. Seit Jahren ist von der Universität keine so große und kämpferische Demonstration mehr losgegangen. Wir gehen Richtung Via Sommacampagna, wo das gleichnamige Lokal des MSI ist, von dem wir seit mindestens 4 Jahren proklamieren, dass es ‚brennen wird‘ und das immer noch – vielen guten Vorhaben zum Trotz – Machtbasis der Faschisten ist.‘“ Die Angaben über die Anzahl der Beteiligten variieren stark – die meisten Darstellungen gehen von einigen Tausend Demonstranten aus, vgl. z.B. Dokumentarfilm Filmando in Città, in: AAMOD, 00:00 - 07:00, in dem von 5.000-6.000 Teilnehmern auf der Demonstration ausgegangen wird. L’Unità ging von etwa 2.000 Teilnehmern aus, vgl. L’Unità vom 3.2.1977, S. 1.

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tionsteilnehmer übernommen hatten.81 Derartige Strukturen fehlten am 2.2.1977 und wurden ersetzt durch eine kaum organisierte, jedoch sehr entschlossene Masse an alten und neuen politischen Aktivisten.82 Aber nicht nur die linke Bewegung präsentierte sich an diesem Tag anders, als man es aus den letzten Monaten und Jahren gewohnt gewesen war – auch die Ordnungskräfte schienen eine besondere Taktik zu verfolgen: Anstatt uniformierter Einsatzhundertschaften prägten Zivilpolizisten das Bild, die teilweise als Bewegungsaktivisten verkleidet waren.83 Als die Demonstration auf der Via San Martino della Battaglia die Via Sommacampagna kreuzte, konnten die Teilnehmer aus etwa 100 Metern Entfernung sehen, wie MSI-Mitglieder in den Fenstern des Parteilokals den faschistischen Gruß in Richtung der Demonstration machten.84 Die einzige sichtbare Präsenz der Polizei zu diesem Zeitpunkt waren zwei Fahrzeuge und sieben Uniformierte. Es lag auf der Hand, dass diese keine effektive Trennung der beiden Lager gewährleisten konnten. 85 So löste sich aus dem hinteren Teil der Demonstration eine Gruppe von fünfzig bis hundert Demonstranten und griff das MSI-Lokal mit Molotowcocktails an.86 Die Brandflaschen trafen ihr Ziel und sofort stieg eine dichte schwarze Rauchsäule über der Via Sommacampagna auf.87 Anschließend schloss das ausgescherte Kommando im Laufschritt wieder zur Demonstration auf, die sich inzwischen in Richtung Piazza Indipendenza weiterbewegt hatte.88 Die Polizeieinheiten, die die Demonstration seit der Universität in einiger Distanz begleitet hatten, griffen diese nun an. Chaos brach aus: Die Demonstration wurde gespalten und während ein kleiner Teil des Zuges zur Universität zurückkehrte, setzte der Großteil seinen Weg zur Piazza Indipendenza fort. Gleichzeitig scheinen auch die zuvor in ihrem Parteilokal verbarrikadierten Faschisten dem Angriff auf ihr Parteilokal nicht tatenlos zugesehen zu haben: Zahlreiche Studenten berichteten von Schüssen auf die Demonstration – sowohl aus dem MSI-Parteilokal selbst als auch aus anschließend durch das Viertel fahrenden Autos.89 Als der Zug die Piazza Indipendenza erreichte, war die Situation angespannt und unübersichtlich. Eine Gruppe von Demonstranten blockierte den Verkehr auf der Piazza in Richtung Via Castelfidardo, wohl um den Demonstrationsteilnehmern ein

81 Vgl. Paccino (1977), S. 29. 82 Dennoch gab es durchaus Gruppen und Strömungen, die auf der Demonstration vom 2.2.1977 besonders präsent waren: Die Aktivisten der Comitato Autonomi Operai, der wichtigsten Organisation der römischen Autonomia beispielsweise, und die ehemalige Mitglieder der inzwischen offiziell aufgelösten, aber de facto zumindest z.T. weiterexistierenden Gruppe Lotta Continua, vgl. L’Unità vom 3.2.1977, S. 1; La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2. 83 Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2. 84 Vgl. Paccino (1977), S. 21; Bernocchi (1979), S. 99. 85 Vgl. L’Unità vom 3.2.1977, S. 6. 86 Vgl. Paccino (1977), S. 21; Bernocchi (1979), S. 99. 87 Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2. 88 Vgl. L’Unità vom 3.2.1977, S. 6. 89 Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2.

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zügiges Passieren des Platzes zu ermöglichen.90 Plötzlich fuhr ein weißer Fiat 127 mit dem Nummernschild S 48856 mit quietschenden Reifen in die Blockade. Vielen Demonstrationsteilnehmern war zu diesem Zeitpunkt wohl unklar, um wen es sich bei der Besatzung des Fahrzeugs handelte: Faschisten oder Zivilpolizisten.91 Militante Demonstranten umringten das Fahrzeug, bewarfen es mit Steine und traktierten es mit Knüppelschlägen.92 Tatsächlich waren die Insassen des Fahrzeugs drei Zivilpolizisten, die der politischen Abteilung der römischen Polizei angehörten. Der Beifahrer und Chef der Patrouille, Domenico Arboletti, reagierte als Erster auf den Angriff: Er öffnete die Türe und sprang mit gezogener Dienstwaffe in der Hand aus dem Wagen. Daraufhin kam es zu einer wilden Schießerei auf der Piazza Indipendenza, in deren Verlauf der 24-jährige Arboletti am Kopf getroffen zusammenbrach. Anschließend eröffnete sein Kollege Rocco Burtone das Feuer mit einer Maschinenpistole und schoss Salven auf die vermeintlichen Angreifer und die auseinander laufende Menschenmenge auf dem Platz.93 Aus dieser Phase der Auseinandersetzungen stammt eine erst Jahre später veröffentlichte Fotoserie des Fotografen Tano D’Amico, die Leonardo ‚Daddo‘ Fortuna und Paolo Tomassini, zwei Studenten, die den Comitati Comunisti angehörten, bei dem Versuch zeigt, sich in Sicherheit zu bringen: Während Tomassini, schon getroffen, strauchelnd zu laufen versuchte, stützte ihn Fortuna mit der Linken während er zwei Pistolen in seiner rechten Hand hielt.94 Wenig später wurde auch Fortuna getroffen und schließlich wurden beide schwer verletzt unter dem Vorwurf des Mordversuches an Arboletti verhaftet.95 Neben Arboletti, Tomassini und Fortuna wurden im Zuge der Schießerei auf der Piazza Indipendenza auch ein Verkehrspolizist und ein Lastwagenfahrer angeschossen.96

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Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2. Vgl. Cappellini (2007), S. 145. Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2. Vgl. Bernocchi (1979), S. 100. Vgl. Cappellini (2007), Bildteil in der Buchmitte ohne Seitenzahlen. Zum politischen Hintergrund der beiden Verhafteten, vgl. Lotta Continua vom 5.2.1977, S. 2. 95 Vgl. Bernocchi (1979), S. 102. 96 Vgl. Lotta Continua vom 3.2.1977, S. 1. Für Fotos vom 2.2.1977 vgl. http://www. complessoperforma.it/77WEB/fotopiazzaindipendenza.htm (Stand 18.5.2011)

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Abb. 3.1 Paolo Tomassini und Leonardo ‚Daddo‘ Fortuna auf der Piazza Indipendenza am 2.2.1977.

Der Demonstration gelang es nach der Schießerei auf der Piazza Indipendenza zum Campus zurückzukehren, wo kurz zuvor die Gewerkschaftskundgebung zu Ende gegangen war.97 Am Eingang der Universität kam es zu Reibereien zwischen den zurückkehrenden Demonstranten und Mitgliedern des PCI, die versuchten, der Demonstration den Zugang zum Campus zu verwehren, was ihnen aber nicht gelang.98 Die Demonstration fand ihren Abschluss vor der besetzten geisteswissenschaftlichen Fakultät und mündete anschließend in eine Versammlung mit etwa 2.000 Teilnehmern.99 Diese verabschiedeten eine Erklärung, in der das Vorgehen der Polizei auf der Piazza Indipendenza als Falle verurteilt wurde.100 Außerdem unterstrichen die Anwesenden ihren Willen, die Besetzung der Fakultät fortzusetzen und diese durch die Aufstellung eines Ordnerdienstes gegen weitere faschistische Provokationen abzusichern.101 Was genau auf der Piazza Indipendenza passiert war, sollte nie vollständig aufgeklärt werden: Wer das Feuer eröffnet hatte und wer Arboletti angeschossen hatte, blieb stets umstritten. Es gab zahllose und oft widersprüchliche Zeugenaussagen und jene Aussagen, denen ein besonders hohes Maß an Glaubwürdigkeit zukam, bezogen sich nur auf Teile des Geschehens, aber nicht auf die gesamte Schießerei.102 Die Po-

97 Vgl. Bernocchi (1979), S. 100. 98 Vgl. Paccino (1977), S. 23. 99 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 74; Bernocchi (1979), S. 100. 100 Vgl. Bernocchi (1979), S. 100. 101 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 74. 102 Eine Sonderstellung in diesem Zusammenhang nimmt die kollektive Zeugenaussage der Redaktionsmitglieder der Zeitung La Repubblica ein, die aus den Fenstern ihrer Redaktionsräume an der Piazza Indipendenza jene Teile des Geschehens, die in ihrem Blickfeld lagen, sehr gut sehen konnten und als Unbeteiligte einen neutralen Blick auf das Geschehen hatten, vgl. La Repubblica vom 5.2.1977, S. 1. Die Darstellung begann mit der

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lizisten sagten aus, Arboletti sei von den Demonstrationsteilnehmern Tommasini und Fortuna angeschossen worden. Diese Version wurde anschließend von der Regierung übernommen und von einem Staatssekretär des Innenministers Francesco Cossiga dem Senat vorgestellt.103 Viele Demonstranten sagten demgegenüber aus, dass Arboletti selbst das Feuer eröffnet habe und anschließend in der unübersichtlichen Situation auf der Piazza von anderen Zivilpolizisten angeschossen worden sei.104 Bald aber war klar, dass die offizielle Version, nach der neben den beiden verhafteten Studenten Tommasini und Fortuna nur der Zivilpolizist Burtone geschossen habe,105 falsch sein musste, waren die auf dem Platz sichergestellten Projektile inzwischen doch zahlreichen verschiedenen Waffen zugeordnet worden.106 Es konnte also nicht verwundern, dass nicht nur die linke Bewegung die offizielle Version als Lüge zurückwies, sondern auch die kritische Presse deutliche Zweifel an ihr erkennen ließ: „A tre giorni dalla tragica sparatoria di piazza Indipendenza, nessun nodo, dubbio e interrogativo è stato ancora sciolto dalle indagine […]. […] Mai è stato tanto difficile entrare in possesso di dati obiettivi e facilmente riscontrabili come in questa occasione, e ciò alimenta i sospetti.“107 Auch über einen Monat nach der Schießerei war unklar, welches Kaliber die Kugel hatte, die Arboletti verletzt hatte, und wie viele Zivilpolizisten welcher Einheiten zum Zeitpunkt der Schießerei auf dem Platz waren.108 Im Zentrum der Kritik von Seiten der Bewegung, aber auch der kritischen Presse, stand der Einsatz der zivilen Spezialkommandos, die in den Jahren zuvor immer wieder in Skandale verstrickt gewesen waren.109 Die Reaktion der Universitätsleitung auf die Besetzung der geisteswissenschaftlichen Fakultät und die gewaltsamen Auseinandersetzungen ließ nicht lange auf sich warten: Am späten Nachmittag des 2. Februar berief der Universitätsrektor Ruberti ein Treffen ein, an dem Vertreter aller demokratischen Parteien teilnahmen. Ruberti machte im Anschluss deutlich, dass die Frage der Besetzung für ihn längst keine uni-

Feststellung, dass die offizielle Version der Schießerei auf der Piazza Indipendenza ungenau sei, und endete mit den Worten: „Siamo dunque in grado di testimoniare che, per tutto il tempo che sono stati sotto i nostri occhi, Paolo Tomassini e Leonardo Fortuna non hanno sparato.“ „Wir sind also in der Lage zu bezeugen, dass Paolo Tomassini und Leonardo Fortuna während des ganzen Zeitraums, in dem wir sie sehen konnten, nicht geschossen haben.“ 103 Vgl. La Repubblica vom 4.2.1977, S. 1. 104 Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 2; L’Unità vom 3.2.1977, S. 6; Il Messaggero vom 4.2.1977, S. 4; L’Unità vom 5.2.1977, S. 12. 105 Vgl. La Repubblica vom 4.2.1977, S. 1 und 6.2.1977, S. 3. 106 Vgl. La Repubblica vom 5.2.1977, S. 3. 107 La Repubblica vom 5.2.1977, S. 3. „Drei Tage nach der tragischen Schießerei der Piazza Indipendenza wurde noch kein Knoten durch die Ermittlungen aufgelöst, kein Zweifel ausgeräumt, keine Frage beantwortet […]. […] Nie war es so schwierig in den Besitz von objektiven und leicht feststellbaren Daten zu gelangen wie in diesem Fall und das nährt den Verdacht, dass etwas faul sein könnte.“ 108 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5; La Repubblica vom 2.3.1977, S. 5; La Repubblica vom 9.3.1977, S. 5. 109 Vgl. La Repubblica vom 3.2.1977, S. 3; Il Messaggero vom 4.2.1977, S. 4.

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versitätsinterne Angelegenheit mehr war: „‚Questa mattina la decisione se chiamare la polizia o meno, è spettata soltanto a me. Ma non deve più ripetersi. Quello che avviene all’Università si ripercuote sulla città ed è doveroso che siano i rappresentanti della città, insieme a noi, a dare una risposta…‘“110 Damit wurden die Studentenproteste auf dem römischen Campus als Problem der öffentlichen Ordnung in der italienischen Hauptstadt definiert. Zeitgleich zeigte sich, dass die Auseinandersetzung zwischen MSI und militanten Antifaschisten mit dem Angriff auf das MSI-Lokal der Via Sommacampagna keineswegs beendet war: Am Nachmittag des 2. Februar kam es in der Via Assarotti in der Gegend von Monte Mario zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und militanten Antifaschisten, die einen Auftritt des MSI-Parteivorsitzenden Almirante in dem dort gelegenen Parteilokal des MSI verhindern wollten. Im Zuge der Auseinandersetzungen wurden nicht nur Steine und Molotowcocktails geworfen, sondern auch Pistolenschüsse aus den Reihen der Gegendemonstranten und der anwesenden Faschisten abgegeben. Zeitgleich wurde auch im Stadtteil EUR ein MSI-Parteilokal von Unbekannten angegriffen, verwüstet und angezündet.111

2.1.3 Eine Bewegung entsteht Tags darauf fanden die politischen Widersprüche innerhalb der Linken hinsichtlich der Ereignisse auf der Piazza Indipendenza ihren publizistischen Niederschlag: Die wichtigste bewegungsnahe Tageszeitung Lotta Continua machte sich die Lesart der Versammlung in der geisteswissenschaftlichen Fakultät vom Vortag zu eigen und titelte: „Il governo continua l’opera dei fascisti: raffiche di mitra contro un corteo di studenti a Roma“.112 Auf der anderen Seite war es vor allem der PCI, der den Ton gegenüber der entstehenden Bewegung deutlich verschärfte. Senator Ugo Pecchioli, Schatteninnenminister des PCI, wurde auf der Titelseite von L’Unità mit einer Erklärung zitiert, die keinen Raum für einen Dialog zwischen der neuen Bewegung und der traditionellen Linken ließ: „‚Il raid dei fascisti del MSI all’Università e le violenze dei provocatori cosidetti ,autonomi‘ sono due volti della stessa realtà. […] La matrice fascista è comune, analoghe sono le finalità. Occorre che i corpi preposti alla sicurezza delle istituzioni e dei cittadini, la polizia e la magistratura, facciano il loro

110 Zitiert nach Bernocchi (1979), S. 100f. „‚Heute morgen blieb mir die Entscheidung, die Polizei zu rufen oder nicht, alleine überlassen. Aber das darf sich nicht mehr wiederholen. Das was in der Universität geschieht, findet seinen Niederschlag in der Stadt und es ist somit notwendig, dass die Repräsentanten der Stadt mit uns gemeinsam eine Antwort geben….‘“ 111 Vgl. Il Messaggero vom 3.2.1977, S. 3. 112 Lotta Continua vom 3.2.1977, S. 1. „Die Regierung setzt das Werk der Faschisten fort: MP-Salven gegen eine Studentendemonstration in Rom“.

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dovere e sappiano prevenire e mettere in condizione di non fare nuocere queste bande. Incomincino col chiudere i loro covi.‘“113 Während die besetzte geisteswissenschaftliche Fakultät zum Zentrum der neuen Bewegung wurde,114 versammelten sich die Kräfte der traditionellen Linken und die moderaten Kräfte der Neuen Linken, die die Besetzung und die militante Demonstration vom 2.2.1977 kritisierten, in den nächsten Tagen in der juristischen Fakultät. Vor dem Hintergrund dieser räumlichen Polarisierung entspann sich in der Folge ein Hegemoniekampf, bei dem beide Seiten versuchten, die Versammlungen der Gegenseite für sich zu vereinnahmen oder zu stören. So versuchten PCI, PSI, PdUP und AO am 3.2.1977 bei der Versammlung in der juristischen Fakultät eine Verurteilung der Auseinandersetzungen vom Vortag durchzusetzen, scheiterten aber, da bald eine große Anzahl Bewegungsaktivisten auftauchte, die die moderaten Redner immer wieder mit Sprechchören unterbrachen und sie als ‚scemi‘115 titulierten – einem Schimpfwort, das bald emblematisch für die Bewegung von 1977 werden sollte.116 Am nächsten Tag wiederholten sich ähnliche Szenen in der Jurafakultät und wieder unterlagen die Kräfte der traditionellen Linken – diesmal in Gestalt der Gewerkschaft CGIL – ihren radikalen Antipoden.117 Die neue Bewegung befand sich im Aufwind: Die Teilnehmerzahl der Versammlungen wuchs stetig und es stießen immer mehr neue, junge Aktivisten dazu. Ein Teilnehmer beschrieb den Eindruck beim Betreten einer der Versammlungen in der geisteswissenschaftlichen Fakultät folgendermaßen: „‘Quando arrivo a Lettere l’assemblea è già cominciata, l’aula è piena, un bello spettacolo […] ma come al solito, prima di entrare nel vivo dell’assemblea do un’occhiata per vedere quanti compagni conosco. Ci sono un sacco di facce nuove, ,quando c’è il momento grosso vengono, poi chi li rivede più‘, penso tra me, ma mi sbaglio, saranno proprio i ,nuovi‘ i protagonisti del ’77.‘“118 Auch in der Berichter-

113 Ugo Pecchioli, zitiert nach: L’Unità vom 3.2.1977, S. 1. „‚Der Überfall der Faschisten an der Universität und die Gewalttaten der Provokateure, der sogenannten ‚Autonomen‘ sind zwei Facetten des gleichen Phänomens. […] Beide tragen den faschistischen Stempel und die Zielsetzungen stimmen überein. Es ist nun erforderlich, dass die für die Sicherheit der Institutionen und der Bürger zuständigen Organe ihre Pflicht tun und dafür sorgen, dass diese Banden keinen Schaden mehr anrichten können. Sie sollten damit beginnen, ihre Schlupfwinkel zu schließen.‘“ 114 Vgl. Bernocchi (1979), S. 101 115 ‚Dummköpfe‘, vgl. Bernocchi (1979), S. 101. 116 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 76f.; Bernocchi (1979), S. 101 117 Vgl. Paccino (1977), S. 27f.; Bernocchi (1979), S. 102; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 80. 118 Ein Aktivist der römischen Autonomia, zitiert nach: Paccino (1977), S. 25f. „‚Als ich in der geisteswissenschaftlichen Fakultät ankomme, hat die Versammlung schon begonnen. Die Aula ist voll – ein schönes Spektakel […] aber ich schaue mich wie immer erstmal um, bevor ich richtig in die Versammlung eintauche, um zu sehen wieviele Genossen ich kenne. Es sind viele neue Gesichter. Ich denke: ‚Wenn etwas Großes passiert, kommen sie,

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stattung von Lotta Continua spiegelte sich die Empfindung der Beteiligten, eine Phase der Erneuerung und des ungeahnten Aufschwungs zu erleben: „Una partecipazione alle assemblee come non si vedeva da anni. […] l’occupazione è un eccezionale punto di riferimento. Per tutta la mattina vi giungono compagni e studenti, molti giovanissimi, ‚matricole‘ o addirittura studenti medi […]. In effetti c’è un clima che non si vedeva da anni: il servizio d’ordine di massa che controlla gli ingressi, la sottoscrizione per finanziare l’occupazione, un grande manifesto con una specie di ‚rassegna stampa‘ sui fatti di mercoledì. Gli studenti si fermano, leggono con attenzione commentano con calma ma anche con rabbia.“119 Eine neue Welle der Politisierung schien die römische Universität erfasst zu haben und so war es nur logisch, dass sich die Besetzungen am zweiten Tag nach der Schießerei auf der Piazza Indipendenza deutlich ausweiteten: Nach Versammlungen in vielen Fakultäten wurden neben den schon bisher besetzten Fakultäten für Geisteswissenschaften und Lehramt nun auch die Fakultäten für Politikwissenschaften, Architektur, Medizin, Physik und Ingenieurswissenschaften besetzt. Außerdem beschlossen die Studentenversammlungen, in mehreren anderen Fakultäten die akademische Lehre zu blockieren.120 So wurde in den Tagen nach der Schießerei von der Piazza Indipendenza etwas zur Tatsache, was noch eine Woche zuvor kaum ein Beobachter für möglich gehalten hätte: Die Kräfte der traditionellen Linken – allen voran PCI und Gewerkschaften – hatten ihre Hegemonialstellung auf dem römischen Campus schlagartig eingebüßt.121 Am 4. Februar kündigten die Fakultätsbesetzer für den nächsten Tag eine Demonstration gegen die Malfatti-Reform an, die vom Campus zur Piazza Navona gehen sollte.122 Zur Vorbereitung der Demonstration trat erstmals eine allgemeine Vollversammlung zusammen, die für sich in Anspruch nahm, im Namen aller Studenten der römischen Universität zu sprechen. Die Agenda der Bewegung wurde im Aufruf zu ihrer ersten geplanten Demonstration ausgesprochen breit gefasst: „‚Contro una ristrutturazione dell’università funzionale soltanto al mercato del lavoro capitalistico. Contro le aggressioni fasciste e le criminali sparatorie della polizia. Contro la legge Reale e il disegno di Cossiga di imporre l’ordine pubblico con le squadre speciali.

aber dann sieht man sie nicht mehr‘. Aber ich irre mich, gerade die ‚Neuen‘ werden die Protagonisten von ’77 sein.‘“ 119 Vgl. Lotta Continua vom 4.2.1977, S. 1. „Eine Beteiligung an der Versammlungen, wie man sie seit Jahren nicht gesehen hat. […] Die Besetzung ist ein außergewöhnlicher Referenzpunkt. Den ganzen Vormittag über kommen Genossen und Studenten an, viele sind sehr jung, ‚Erstsemester‘ oder gar Schüler […]. Tatsächlich herrscht ein Klima, das es seit Jahren so nicht gab: Der massenhafte Ordnerdienst, der die Eingänge kontrolliert, die Spendensammlung, um die Besetzung zu finanzieren, ein großes Plakat mit einer ‚Art Presseschau‘ über die Ereignisse vom Mittwoch. Die Studenten bleiben stehen, lesen aufmerksam und kommentieren gelassen aber auch wütend.“ 120 Vgl. Bernocchi (1979), S. 102; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 80. 121 Vgl. La Repubblica vom 5.2.1977, S. 3 und La Repubblica vom 6.2.1977, S. 3. 122 Vgl. Paccino (1977), S. 27f.; Bernocchi (1979), S. 102; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 80.

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Contro la politica antioperaia del governo Andreotti e la tregua sociale dei partiti della astensione.‘“123 Am nächsten Tag jedoch stellte sich die Situation völlig anders dar, als es die Protestierer erwartet hatten: Das römische Polizeipräsidium hatte die Demonstration verboten und die gesamte Città universitaria124 von der Polizei umstellen lassen – eine Belagerung ohnegleichen.125 Alle Passanten im Umkreis von etwa einem Kilometer um den Campus mussten sich einer Leibesvisitation unterziehen und ihr Studienbuch vorzeigen, um auf den Campus zu gelangen.126 Dieses Vorgehen der Polizei schreckte viele potentielle Demonstrationsteilnehmer ab. Dennoch waren bald etwa 5.000 Studenten auf dem Campus versammelt. Den Anwesenden war klar, dass ein Versuch, die Demonstration trotz Einkesselung durchzusetzen, unweigerlich zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei führen würde. Schließlich kamen die Studenten überein, die Demonstration auf kommenden Mittwoch zu verschieben, um eine Konfrontation mit der Polizei zu vermeiden und stattdessen die Città universitaria insgesamt auf unbestimmte Zeit zu besetzen.127 Zudem wurde die Schaffung von sechs permanenten Kommissionen beschlossen, die neben den Fakultätskomitees die Politik der Bewegung strukturieren sollten: Die ‚Gegeninformationskommission‘, die ‚Schülerkommission‘, die ‚Kommission für Fabrik und Stadtteil‘, die ‚Frauenkommission‘, die ‚Kommission für Universitätsreform‘ und die ‚Kommission der Marginalisierten‘.128 Während die Bewegung so ihren Aktionsradius erweiterte und sich langfristig arbeitende Strukturen gab, übte sich die in der ersten Phase des Hegemoniekonflikts unterlegene traditionelle Linke in Gegenpropaganda: Über die Besetzung des Campus berichtete das kommunistische Parteiorgan L’Unità tags darauf höchst einseitig. Unter der Überschrift „Indetta dagli ‚autonomi‘ l’occupazione dell’ateneo“129 , welche die Besetzung offensichtlich als Aktion einer kleinen radika-

123 Aufruf zur Demonstration am 5.2.1977, zitiert nach: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 84f. „‚Gegen eine Restrukturierung der Universität, die nur dem kapitalistischen Arbeitsmarkt dient. Gegen die faschistischen Aggressionen und die kriminellen Schießereien der Polizei. Gegen die ‚Legge Reale‘ und den Plan Cossigas, die öffentliche Ordnung mit Sonderkommandos durchzusetzen. Gegen die Politik der Regierung Andreotti, die sich gegen die Arbeiterklasse richtet und gegen den sozialen Frieden der Parteien der Enthaltung.‘“ Die ‚Legge Reale‘ aus dem Jahr 1975 erweiterte die Spielräume der Sicherheitskräfte beim Einsatz von Schusswaffen. Mit ‚Enthaltung‘, war die Duldung der Andreotti-Regierung durch den PCI gemeint. 124 Bezeichnung des weitläufigen Campus der römischen Universität La Sapienza. 125 Vgl. La Repubblica vom 6.2.1977, S. 1. 126 Vgl. La Repubblica vom 6.2.1977, S. 1. 127 Vgl. Paccino (1977), S. 29f; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 82; Bernocchi (1979), S. 103f. 128 Vgl. Bernocchi (1979), S. 104 und Paccino (1977), S. 31, wobei beide Darstellungen nur fünf Kommissionen angeben. Bernocchi (1979) nennt die ‚Frauenkommission‘ nicht, Paccino (1977) die nennt die ‚Schülerkommission‘ nicht. 129 L’Unità vom 6.2.1977, S. 8. „‚Autonome‘ verkünden Campusbesetzung“.

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len Minderheit erscheinen lassen sollte, wurde erklärt, bei den Besetzern handle es sich nur um wenige Dutzend Personen.130

2.1.4 Raumaneignung und Hegemoniekampf Den Auftakt zur Besetzung der gesamten Città universitaria bildete ein von den Besetzern organisiertes ‚Volksfest‘ am Sonntag, dem 6.2.1977. Damit traten neben die bisherigen Aktionsformen wie die Fakultäts- und Campusbesetzung, die Blockade der akademischen Lehre, die Versammlungen, Demonstrationen und selbst organisierten Gegenkurse, die seit 1968 fester Bestandteil des studentischen Protestrepertoires waren, nun popkulturelle Praxisformen wie das Fest und das Popkonzert – die in den letzten Jahren eine zunehmende Politisierung erfahren hatten.131 Damit einher ging ein grundsätzlich veränderter Bezug zur Körperlichkeit im Frühjahr 1977: Jene Tendenzen, die in den letzten Jahren zuerst in der feministischen Bewegung und anschließend in der subkulturellen Jugendbewegung Fuß gefasst hatten, standen nun im Zentrum der gemischtgeschlechtlichen und dezidiert politischen Bewegung von 1977. Sinnbild eines gerade auch in körperpolitischer Hinsicht veränderten Politikbegriffs, welcher Begehren und Vergnügen einschloss, war das von den Feministinnen übernommene Ritual der ‚girotondi‘, massenhafter Rundtänze, denen man als einzigen Zweck unterstellen kann, den Beteiligten Freude durch die kollektive Bewegung und intensiv erlebte Körperlichkeit zu verschaffen und diese zugleich zur Schau zu stellen.132

130 Vgl. L’Unità vom 6.2.1977, S. 8. 131 Vgl. La Repubblica vom 6.2.1977, S. 3. 132 Zum Begriff des Rituals oder Ritus, vgl. Bourdieu (1987), S. 39: „Riten als Praktiken sind sich Selbstzweck und finden schon in ihrer Ausführung ihre Erfüllung. Sie sind Akte, die man ausführt, […] ‚weil das halt so gemacht wird‘ […]. Dabei braucht man nicht zu wissen, warum und für wen man sie ausführt […].“

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Abb. 3.2 Festliche Stimmung auf dem römischen Campus: Ein ‚girotondo‘ (Ringelreihen) im Frühjahr 1977 Neben dieser Form des festlichen und spielerischen Auslebens von Körperlichkeit bildete im Frühjahr 1977 von Anfang an die eskalierende politische Gewalt die zweite dezidiert körperpolitische Komponente im Repertoire der Bewegung. Diese beiden Tendenzen mit einem Bild der janusköpfigen Körperlichkeit der Bewegung von 1977 zu fassen, die über kreative und destruktive, lebensbejahende und potentiell tödliche Ausprägungen verfügt, könnte den Umstand unterschlagen, dass beide Repertoires wohl häufig von ein und denselben Aktivisten praktiziert wurden. Tatsächlich scheint nur eine Minderheit der beteiligten Aktivisten dezidiert auf eine der beiden entgegen gesetzten Spielarten der Körperlichkeit festgelegt gewesen zu sein. Die Mehrheit hingegen scheint ihre Praxis situationsbedingt gewählt zu haben und also den ‚girotondo‘ und die Straßenschlacht gleichermaßen als integralen Bestandteil des Bewegungsrepertoires gesehen zu haben. Das ‚Volksfest‘ auf dem Campus zielte auf eine Öffnung der besetzten Universität nach außen ab und ging zugleich einher mit der konkreten Aneignung der nun vollständig besetzten Città universitaria durch die Besetzer: Ab Sonntagmorgen kontrollierte und durchsuchte ein Ordnerdienst der Besetzer alle Besucher an den Eingängen des Campus.133 Wie schon im Fall der besetzten geisteswissenschaftlichen Fakultät einige Tage zuvor vollzog sich die von der Bewegung betriebene Raumkonstitution also wiederum durch zweierlei Praktiken: Die Zugangskontrolle an den Eingängen des angeeigneten Ortes und die damit verbundene Machtdurchsetzung sowie die gegenkulturelle Raumkonstitution am angeeigneten Ort durch dessen veränderte Nutzung.134 Nur war die Dimension diesmal weitaus größer: Die „[…] auf Dauer gestellte Regelmäßigkeit sozialen Handelns […]“135, die die Institution Universität charak-

133 Vgl. Paccino (1977), S. 30. 134 Vgl. Löw (2001), S. 150 und S. 183ff. 135 Löw (2001), S. 169, die sich hierbei auf Überlegungen von Anthony Giddens bezieht.

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terisierte, wurde aufgehoben und die gesamte Città universitaria wurde in einen gegenkulturellen Raum verwandelt. Gegen Nachmittag befanden sich nach Einschätzung der Organisatoren etwa 10.000 Menschen auf dem Campus. Es fanden Theatervorstellungen, Filmvorführungen, Konzerte und Diskussionen statt und überall sah man Menschen, die ihre Meinungen, Ideen und Slogans auf die Wände der Universitätsgebäude schrieben.136 Großveranstaltungen auf dem Campus dienten der Bewegung auch dazu, ihren Massencharakter zu demonstrieren und jener negativen Berichterstattung gerade auch der traditionellen Linken entgegenzuwirken, die das Ziel verfolgte, die Bewegung als marginales Phänomen abzutun. Diesem Ziel diente auch ein ‚Gruppenfoto der römischen Bewegung‘ das Tano D’Amico im Zuge der Campusbesetzung aufnahm, der hier offensichtlich seinen künstlerischen Anspruch der ebenso einfachen wie machtvollen Aussage unterordnete, dass die neue Bewegung tatsächlich ein Massenphänomen war.

Abb. 3.3 Eine Massenbewegung beim Gruppenfoto. Das Foto entstand auf dem Campus der römischen Universität während der Campusbesetzung vom 6. bis zum 17.2.1977.

Doch der Campus war nun nicht mehr nur Schauplatz politischen Treibens – vielerorts lagen junge Menschen im Gras und genossen die ersten warmen Sonnenstrahlen des römischen Vorfrühlings, lasen, unterhielten sich, konsumierten leichte Drogen oder tauschten Zärtlichkeiten aus.137 Auch hatte sich die Zusammensetzung der Anwesenden innerhalb der ersten Februarwoche deutlich verändert. Die Universität war kein Ort des reinen Studentenprotests mehr, sondern einer entstehenden Bewegung, die sowohl hinsichtlich ihrer politischen Agenda als auch ihrer sozialen Zusammensetzung weit über das studentische Milieu hinausreichte: Unter den Anwesenden waren offensichtlich zahlreiche Schüler, deren Interesse durch die spektakulären Ereig-

136 Vgl. Bernocchi (1979), 105f.; Paccino (1977), S. 30. 137 Vgl. Paccino (1977), S. 31.

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nisse der letzten Tage geweckt worden war.138 Hinzu kamen viele marginalisierte Jugendliche aus der römischen Peripherie, die sich mit prekären Jobs durchschlugen oder arbeitslos waren und den besetzten Campus als kulturellen und politischen Freiraum sahen.139 Viele dieser marginalisierten Jugendlichen hatten einen völlig anderen Politikbegriff als jene ihrer studentischen Altersgenossen, die schon seit Jahren aktiv waren. Der zwanzigjährige Pino aus der römischen Peripherie, der sich mit Gelegenheitsjobs und Diebstählen über Wasser hielt, erklärte ‚sein‘ 1977 zwei Jahre später folgendermaßen: „‚Nel ’77 scoppia la contestazione ed io mi ci sono trovato in mezzo, ma più che politicamente ci partecipai come liberazione, come rabbia. È stato un periodo in cui ho frequentato l’università, anche se non avevo motivo perché non ero inscritto […]. Eravamo sempre presenti alle assemblee. Ci andavo con l’unico scopo di creare casino. Seguivamo il dibattito politico e ci schieravamo sempre sulle posizioni più intransigenti.‘“140 Eine weitere Komponente der Bewegung waren die prekär beschäftigten Universitätsangestellten, die seit geraumer Zeit um langfristige Verträge kämpften: Am Vormittag des 6.2.1977 hatte auf dem besetzten römischen Campus ein seit Längerem anberaumtes Treffen von Vertretern der prekär beschäftigten Dozenten aus ganz Italien stattgefunden, und bald bildeten die prekär beschäftigten Dozenten in Rom einen festen Bestandteil des Bewegungsspektrums.141 Nach dem festlichen Auftakt der Campusbesetzung am 6.2.1977 prägten wieder die politischen Auseinandersetzungen das Geschehen: In den folgenden Tagen fanden auf dem Campus zahlreiche Versammlungen statt, die häufig von dem grundsätzlichen Konflikt zwischen moderaten und radikalen Kräften geprägt waren, wobei es letzteren zunehmend gelang, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.142 Dabei standen sich bezüglich des zentralen bildungspolitischen Konfliktfeldes zwei Positionen diametral gegenüber: einerseits das Eintreten der moderaten Kräfte unter dem Banner von Unità democratica als Zusammenschluss der Studentenorganisationen der linken Parteien für eine Reform des Universitätssystems entlang der Reformpläne

138 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 85. 139 Zur Präsenz nicht-studentischer Jugendlicher auf dem besetzten Campus vgl. u.a.: Piattaforma elaborata dalla Commissione Inchiesta sulla Facoltà dell’occupazione di Lettere e approvata nelle linee generali dall’Assemblea di facoltà del 14 febbraio 1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 108 – 112, hier S. 111f. Vgl. auch: Roberto De Angelis (1981): Droga e controcultura. Storie di vita della marginalità giovanile. Rom. 140 Zitiert nach: De Angelis (1981), S. 132. „‚Im Jahr ’77 explodiert der Protest und ich bin mittendrin, aber ich nahm weniger aus politischen Motiven teil, denn aus einem Gefühl der Befreiung und der Wut. Es war eine Phase, in der ich in die Universität gegangen bin, auch wenn ich keinen Grund hatte, denn ich war nicht eingeschrieben […]. Wir waren immer in den Versammlungen anwesend. Wir gingen mit dem einzigen Ziel hin, die Sau rauszulassen. Wir verfolgten die politische Debatte und unterstützten immer die radikalsten Positionen.‘“ 141 Vgl. Lotta Continua vom 9.2.1977, S. 2; Bernocchi (1979), S. 106. 142 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 86ff.; L’Unità vom 8.2.1977, S. 1.

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des PCI und für die schnellstmögliche Wiederaufnahme der akademischen Lehre und auf der anderen Seite das Eintreten der radikalen Bewegung für eine Fortdauer der Campus-Besetzung und eine völlige Blockade der akademischen Lehre bis zur Rücknahme aller Reformpläne – auch jener des PCI.143 Zwischen diesen beiden Blöcken standen die beiden großen noch existierenden Gruppen der Neuen Linken PdUP und AO und sahen sich mehr und mehr ihrer politischen Spielräume beraubt: Beide Organisationen distanzierten sich offiziell von den radikalen Positionen der Besetzer, waren aber gleichzeitig mit der Tatsache konfrontiert, dass viele ihrer Basisaktivisten durchaus an den Initiativen der Bewegung teilnahmen.144 So wurden PdUP und AO von Seiten der Besetzer für ihre Nähe zu den Linksparteien als ‚Opportunisten‘ gebrandmarkt,145 während der PCI selbst sie als unsichere Kantonisten betrachtete, da man durchaus registrierte, dass die Basis der beiden Gruppen nicht selten entgegen den Vorgaben ihrer Führung handelte und an den Aktivitäten der Bewegung partizipierte.146 Die Dimension der Versammlungen an der besetzten Universität variierte beträchtlich: Unter den Fakultätsversammlungen war die der geisteswissenschaftlichen Fakultät mit ihren etwa 1.000 Teilnehmern wohl die größte. In den Schatten gestellt wurde sie allerdings von der Universitätsvollversammlung am Montag, den 7. Februar, mit etwa 3.000 Teilnehmern, die nicht zufällig im Rektoratsgebäude stattfand und so auch auf symbolischer Ebene die Autorität für sich in Anspruch nahm, über alle Fragen zu entscheiden, die die Campus-Besetzung insgesamt betrafen. Hier wurde auch jenes Vorhaben zur Abstimmung gestellt und angenommen, das die Besetzer schon am Samstag als Ersatz für die von der Polizei verhinderte Demonstration anvisiert hatten: eine große Demonstration am Mittwoch, den 9. Februar.147 Mit dem Beschluss, die Demonstration zu veranstalten, hatte sich ein weiteres Mal die Bewegungsmehrheit gegen die moderaten parteinahen Kräfte an der römischen Universität durchgesetzt, die sich nun gezwungen sahen, eine eigene Demonstration am Tag darauf zu organisieren: Für Donnerstag, den 10.2.1977 planten die von FGCI und FGSI dominierten Comitati Unitari als größter Zusammenschluss linker Schüler in Rom eine Demonstration gegen Gewalt, für eine Bildungsreform und für bessere Beschäftigungsperspektiven für Jugendliche, mit der sie die moderaten linken Studenten unterstützen wollten.148 Damit war das Terrain im Kampf um die kulturelle und politi-

143 Vgl. L’Unità vom 8.2.1977, S. 1; Flugblatt der Sezioni Universitaria PCI-PSI, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 91; Transkription eines Diskussionsausschnitts in der Aula I der geisteswissenschaftlichen Fakultät am Montag des 7.2.1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 87. 144 Vgl. L’Unità vom 8.2.1977, S. 1 und S. 11. 145 Vgl. Flugblatt des Comitato di lotta contro le riforme vom 7.2.1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 88. 146 Vgl. L’Unità vom 6.2.1977, S. 8 und L’Unità vom 8.2.1977, S. 1 und S. 11. 147 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 86ff. 148 Vgl. L’Unità vom 8.2.1977, S. 1. Die Comitati Unitari hatten sich schon zuvor mit einer scharfen Kritik an den radikalen Teilen der neuen Studentenbewegung zu Wort gemeldet, mit dem Aufruf zu einer eigenen Konkurrenzdemonstration aber intervenierten sie erstmals

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sche Hegemonie unter den linken römischen Jugendlichen von der Universität schlagartig auf die römischen Schulen erweitert worden, die seit Ende der 1960er Jahre zu den hochgradig politisierten Sektoren der italienischen Gesellschaft gehörten.149 Auch die Universitätsbesetzer versuchten nun die bisher informellen Kontakte zu den zahlreichen radikalen Schülerkollektiven Roms zu intensivieren. Einen ersten greifbaren Erfolg dieser Strategie stellte eine Versammlung der Schüler in der geisteswissenschaftlichen Fakultät am 8. Februar dar, bei der über die beiden anstehenden Demonstrationen diskutiert wurde. Für die Universitätsbesetzer und ihre Sympathisanten unter den Schülern war das Vorgehen der moderaten Kräfte von taktischem Kalkül geprägt: „‚[…] [L]a manifestazione di giovedì è una manovra del PCI, che essendo più presente tra i medi, indice lo sciopero nelle scuole, porta in piazza 15.000 persone, e tenta di contrapporsi all’occupazione dell’Università dimostrando che anche la FGCI lotta.‘“150 Im Zuge der Versammlung begann sich abzuzeichnen, dass trotz der Gegenpropaganda der traditionellen Linken, die für den kommenden Tag ein Verbot der Demonstration und Ausschreitungen prophezeiten, viele römische Schüler die Besetzer am kommenden Tag unterstützen würden und so schätzten einige Anwesenden das Mobilisierungspotential auf etwa 15.000-20.000 Teilnehmer.151 Der folgende Tag brachte eine Demonstration, deren Dimension selbst die Optimisten unter den Besetzern überraschte: Über 30.000 folgten dem Aufruf der Bewegung und strömten auf die Straßen Roms.152 Der Aufzug brach, wie schon die antifaschistische Demonstration der Vorwoche, mit jener Choreographie, die in den letzten Jah-

konkret, vgl. Flugblatt der Comitati Unitari vom 3.2.1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 79. 149 Zum politischen Aktivismus an römischen Schulen vgl. z.B. Paolo Ghione/Mauro Morbidelli (1991): Rosso di Lusso. I primi anni della contestazione nel liceo Mamiani, Rom, das allerdings nur 1968 und die frühen 1970er Jahre abdeckt, oder die entsprechenden Teile in: Filippo Mazzonis (Hg.) (2001): Un liceo per la Capitale. Storia del liceo Tasso (18872000), Rom, v.a. S. 87 – 103 und 286 - 300. 150 Ein Teilnehmer der Debatte am 8.2.1977, zitiert nach: Paccino (1977), S. 37f. „‚[…] [D]ie Demonstration vom Donnerstag ist ein Schachzug des PCI. Weil der PCI unter der Schülern besser verankert ist, ruft er zu einem Schulstreik auf, bringt 15.000 Leute auf die Straße und versucht, sich gegen die Besetzung der Universität zu stellen und zugleich zu zeigen, dass auch die FGCI kämpft.‘“ 151 Vgl. Paccino (1977), S. 37f.; Lotta Continua vom 10.2.1977, S. 1. 152 Die Teilnehmerzahlen zu der Demonstration vom 9.2.1977 variieren wie gewöhnlich stark, aber pendeln um etwa 30.000, vgl. Il Messaggero vom 10.2.1977, S. 1 und La Repubblica vom 10.2.1977, S. 1. Auch aus Sicht der Bewegungsakteure lag die Teilnehmerzahl bei mindestens 30.000, vgl. Lotta Continua vom 10.2.1977, S. 1; Paccino (1977), S. 39; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 92. L’Unità verzichtete angesichts des großen Mobilisierungserfolges der Bewegung bezeichnenderweise auf Zahlenangaben oder Fotos zu der Demonstration der politischen Widersacher, musste aber widerwillig eingestehen, dass es sich um eine ‚sehr große Demonstration‘ gehandelt hatte, vgl. L’Unità vom 10.2.1977, S. 1.

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ren allen Demonstrationen der Neuen Linken ihre Form verliehen hatte: Die Organisationsblöcke, -fahnen und -transparente, die in den Vorjahren das Bild bei derartigen Anlässen bestimmt hatten, waren verschwunden.153 An die Stelle der Organisationsblöcke traten nun soziale Sektoren, die die Zusammensetzung der Bewegung spiegelten: Studenten bildeten die Spitze der Demonstration, anschließend kamen die Universitätsangestellten, dann die Feministinnen, die arbeitenden Studenten, die auswärtigen Studenten, die nicht aus Rom stammten, aber dort studierten und schließlich die Schüler, die zahlenmäßig einen wesentlichen Teil der Demonstration ausmachten.154 Dieser zunächst scheinbar formale Wandel verwies auf einen eminent wichtigen Umstand: Die zuvor ständig wiederkehrenden Versuche, das Bewegungsganze für die eigene Organisation zu vereinnahmen, waren vorerst an ein Ende gelangt – die Bewegung bestand aus verschiedenen offenen Organisierungsnuklei, wie den Versammlungen, Fakultätskomitees und den inhaltlich arbeitenden Kommissionen, aber kaum mehr aus monolithischen Organisationen, die versuchten, die Bewegung zu führen oder sich einzuverleiben. Dieser Entwicklungstendenz entsprach auch die veränderte Organisation des Ordnerdienstes, die am Vormittag bei einer Versammlung in der Universität beschlossen worden war: Der Ordnerdienst sollte keine separate Struktur mehr darstellen, sondern alle Mitglieder der Besetzungskomitees der verschiedenen Fakultäten sollten sich als Teil des Ordnerdienstes begreifen.155 Auch in dieser Hinsicht also war die Sonderstellung der organisierten Gruppen und Miniparteien an ein Ende gelangt: Das Gewaltmonopol der Gruppen war damit ausgehebelt und auf offene Strukturen verlagert worden, an denen alle partizipieren konnten. Dass diese Demokratisierung keine Eskalation bedingen musste, zeigte sich im Zuge der Demonstration: Die Polizei war zwar massiv präsent, hielt sich aber im Hintergrund und so entwickelte sich ein relativ entspannter Protestmarsch ohne größere Reibereien.156 Trotz der veränderten Atmosphäre waren die Ereignisse der Vorwoche äußerst präsent: Auf dem Fronttransparent forderten die Protestierer Freiheit für die auf der Piazza Indipendenza verhafteten Genossen Paolo und ‚Daddo‘. Auch jenseits der Solidarisierung mit den Verhafteten war der militante Antifaschismus ein zentrales Thema der Demonstration. Es wurden Slogans gerufen wie: „‚Non abbiamo fiducia nello stato, l’antifascismo è rosso e non va delegato!‘“157 Ein separater Frauenblock mit etwa 3.000 Teilnehmerinnen rückte mit seinen Slogans neben frauenpolitischen Forderungen auch die Frage der Demokratie innerhalb

153 Vgl. Bernocchi (1979), S. 108. 154 Vgl. Bernocchi (1979), S. 108f.. Nach Einschätzung von Lotta Continua waren etwa die Hälfte der Demonstranten Schüler, was verdeutlichte, dass die Bemühungen, die Bewegung auf diese neue ‚Zielgruppe‘ auszuweiten Erfolg hatte, vgl. Lotta Continua vom 10.2.1977, S. 1. 155 Vgl. Bernocchi (1979), S. 108. 156 Vgl. Bernocchi (1979), S. 109. Am Rande der Demonstration kam es wohl zu zwei ‚Enteignungsaktionen‘ in einem Kleidungsgeschäft und einem Farbengeschäft, die aber kein größeres Echo nach sich zogen, vgl. Bernocchi (1979), S. 109. 157 Zitiert nach: Lotta Continua vom 10.2.1977, S. 1. „‚Wir haben kein Vertrauen in den Staat, der Antifaschismus ist rot und wird nicht delegiert!‘“

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der entstehenden Bewegung in den Mittelpunkt: „‚Il ’68 è morto e noi lo rifacciamo ma questa volta noi non deleghiamo‘“.158 Militante Antifaschisten und Feministinnen einte der Anspruch, keinen Aspekt ihres politischen Handelns mehr zu delegieren: Vom basisdemokratischen Entscheidungsfindungsprozess bis zur militanten Praxis sollte alles in der Hand der Bewegungsakteure selbst bleiben – keine politische ‚Avantgarde‘, keine Organisationskader oder Ordnerdienste sollten sich mehr das Recht anmaßen, der Bewegung ihren Willen aufzuoktroyieren. Außerdem kam auch in den Slogans, wie schon in den Graffiti auf dem Campus, immer wieder Ironie als Mittel der politischen Rhetorik zum Einsatz:159 „‚Poche decine – scrive L’Unità – stanno occupando l’università!‘“160 , riefen die Demonstranten und verhöhnten so die oft vollkommen verzerrte Darstellung der Bewegung durch die Medien gerade auch der traditionellen Linken. Die ironisch-kritische Auseinandersetzung mit der traditionellen Linken und ihrem reformistischen Kurs war überhaupt eines der wesentlichen Themen des Tages. Ein weiterer beliebter Slogan lautete: „‚Pecchioli scemo, guarda quanti semo‘“161 – ein Spruch, in dem die ,Volksnähe‘ der Demonstrierenden nicht nur durch die umgangssprachliche Beschimpfung des politischen Gegners, sondern auch durch den römisch-dialektalen Endreim unterstrichen wurde. Doch der PCI blieb nicht die einzige Kraft der Linken, die verhöhnt wurde. Auch als die Demonstration am Sitz des PdUP vorbeikam, war wieder jener Slogan zu hören, der schon in den Versammlungen der Vortage häufig zu vernehmen gewesen war, wenn die moderaten Kräfte das Wort ergriffen: „‚scemi, scemi‘“.162 Der mit den Stimmen der Neuen Linken unter dem Banner von Democrazia Proletaria ins Parlament gewählte AvanguardiaOperaia-Politiker Silverio Corvisieri, der sich in der Demonstration aufhielt, wurde umringt, mit Hilfe von Spraydosen vielfarbig angemalt und mit Spottgesängen bedacht: „‚Corvisieri, ladrone, aridacce il milione...‘“.163 Tags darauf folgte die Antwort der traditionellen Linken: Eine mehrere zehntausend Teilnehmer umfassende Demonstration von Schülern und den Linksparteien nahestehenden Studenten zog vor das Bildungsministerium, um ihrer Forderung nach einer Reform des Bildungssystems Nachdruck zu verleihen.164 Nach dem erstaunli-

158 Zitiert nach: Lotta Continua vom 12.2.1977, S. 2. „‚’68 ist tot und wir wiederholen es, aber diesmal delegieren wir nichts mehr‘“. 159 Zur Ironie als Charakteristikum der Bewegung von 1977, vgl. Patrick Gun Cunninghame: ‚A Laughter That Will Bury You All‘: Irony as Protest and Language as Struggle in the Italian 1977 Movement, in: International Review of Social History 52 (2007), S. 153-168. 160 Zitiert nach: Lotta Continua vom 10.2.1977, S. 1. „‚Wenige Dutzend – so schreibt L’Unità – besetzen gerade die Universität‘“. 161 Zitiert nach: Lotta Continua vom 11.2.1977, S. 1. „‚Pecchioli, Dummkopf, schau wie viele wir sind‘“. 162 Zitiert nach: Lotta Continua vom 11.2.1977, S. 1. „‚Dummköpfe, Dummköpfe‘“. 163 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 109. „‚Corvisieri, du Räuber, gib uns die Million zurück…‘“. 164 Die bürgerlichen Tageszeitungen gingen von etwa 40.000 Teilnehmern aus, vgl. Il Messaggero vom 11.2.1977, S. 1; La Repubblica vom 11.2.1977, S. 1. Lotta Continua ging von 15.000-20.000 Teilnehmern aus, vgl. Lotta Continua vom 11.2.1977, S. 1. Andere bewe-

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chen Erfolg der Bewegungsdemonstration vom Vortag waren gerade vom PCI alle Hebel in Bewegung gesetzt worden, um der eigenen Demonstration eine größtmögliche Teilnehmerzahl zu garantieren: So wurden die Jugendlichen aus den Parteisektionen in der römischen Provinz extra mit Bussen abgeholt, um sie zur Demonstration zu bringen.165 Auch Arbeiterdelegationen aus zahlreichen römischen Fabriken waren zu der Demonstration mobilisiert worden.166 Die Struktur der Demonstration war völlig anders als diejenige des Aufzugs vom Vortag. Die Präsenz der politischen Organisationen war erdrückend: Die parteinahen Comitati Unitari, die Parteijugendorganisationen FGCI, FGSI, FGR, die Gruppierungen des katholischen Dissenses wie Febbraio ’74, die katholische Jugendorganisation Gioventù Aclista sowie PdUP und AO als moderate Gruppen der Neuen Linken waren allesamt darauf bedacht, ihre Präsenz sichtbar zu machen und so dem Protestmarsch ihren Stempel aufzudrücken.167 Dennoch waren auch viele Schüler anwesend, die ihre Sympathie für die radikale Bewegung an der römischen Universität nicht verhehlten.168 Der Kampf um die Hegemonie an den römischen Schulen war mit den Demonstrationen vom 9. und 10. Februar 1977 voll entbrannt. Seine Fortsetzung fand er bald in kapillarischer Form an den Schulen selbst: Ab dem 15. Februar begannen Schüler an zahlreichen römischen Schulen, eine autogestione169 zu praktizieren, im Zuge derer die Schüler den gewöhnlichen Unterricht kollektiv verweigerten und stattdessen Kurse in Eigenregie organisierten. An einigen Schulen kam es darüber hinaus zu Besetzungen.170 Nun standen sich auch an den einzelnen Schulen die verschiedenen politischen Strömungen der Linken gegenüber: einerseits die bewegungsorientierten Jugendlichen, die sich in basisdemokratischen, offenen Strukturen organisierten und radikale Veränderungen in Schule und Gesellschaft einforderten, andererseits jene Jugendlichen, die den linken Parteien nahe standen und auf ein begrenztes Reformprogramm abzielten.171

2.1.5 Die Campus-Besetzung als Problem der öffentlichen Ordnung Während die Besetzer am Nachmittag des 10. Februars auf dem Campus erneut ein Fest mit Filmen, Theatervorstellungen, Konzerten und preiswertem Essen feierten,172

gungsnahe Schätzungen lagen bei etwa 30.000 Teilnehmern, vgl. Bernocchi (1979), S. 110; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 86. 165 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 93. 166 Vgl. Il Messaggero vom 11.2.1977, S. 5. 167 Vgl. Bernocchi (1979), S. 110. 168 Vgl. Il Messaggero vom 11.2.1977, S. 5; Bernocchi (1979), S. 110. 169 Etwa: ‚Selbstverwaltung‘, ‚Selbstorganisation‘. 170 Vgl. La Repubblica vom 16.2.1977, S. 5; Del Bello (1997), S. 309. 171 Vgl. auch Dokumentarfilmmaterial Autogestione nella scuola, 00:08:10 - 00:23:00, VHS 2256, in: AAMOD. 172 Vgl. Programm des Festes auf einem Flugblatt des Coordinamento circoli culturali di Roma vom 10.2.1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 95.

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entstand aus einer Debatte in der Aula I der geisteswissenschaftlichen Fakultät ein spontaner ‚Prozess‘ gegen drei anwesende Journalisten: Lucia Visca vom PCI-nahen Paese Sera, Giulio Benedetti vom bürgerlichen Corriere della Sera und Duccio Trombadori vom PCI-Parteiorgan L’Unità wurden aufgefordert, sich der Auseinandersetzung mit den Besetzern zu stellen.173 Es entspann sich eine harte Diskussion mit durchaus polemischen Tönen und vielen wütenden Zwischenrufen, in deren Zentrum das stand, was die Bewegungsaktivisten als die mediale Meinungsproduktion im Zeichen der Staatsräson kritisierten. Am Ende wurde der Unità-Journalist Trombadori für seine ‚absurden Behauptungen‘ ‚verurteilt‘ und des Campus verwiesen.174 Die Atmosphäre während der Diskussion scheint zwar aufgeladen, aber nicht bedrohlich gewesen zu sein, wie Trombadoris amüsierter Artikel am nächsten Tag nahe legt.175 Allerdings zeichnete sich während der Diskussion über die Rolle der Medien ab, dass es unter den Besetzern zwei Lager gab: einerseits eine moderatere Bewegungsströmung, die hoffte, durch die positive Einflussnahme auf offene Journalisten die Repräsentation der Bewegung in den Medien positiv beeinflussen zu können. Auf der anderen Seite stand die radikale Strömung der Autonomia, die eine klare Positionierung von Journalisten erwartete und diejenigen ausschließen wollte, die sich nicht auf die Seite der Bewegung stellten. Da keine eindeutige Festlegung der Versammlung zum weiteren Umgang mit Journalisten erreicht wurde, handelten im Folgenden Aktivisten beider Strömungen nach eigenem Gutdünken.176 So kam es, dass Trombadori drei Tage später von radikalen Bewegungsaktivisten vom Campus geworfen wurde, was nicht nur einen Aufschrei in L’Unità, sondern auch eine Verurteilung des Vorgehens der Besetzer durch den nationalen Presseverband nach sich zog177 und das ohnehin angespannte Verhältnis von Bewegung und Medienvertretern weiter in Mitleidenschaft zog.178 Der Rauswurf Trombadoris blieb aber nicht die einzige Episode dieser Tage, die das Bild der Bewegung in der römischen Öffentlichkeit negativ beeinflusste: Die der traditionellen Linken nahestehenden Professoren Alberto Asor Rosa und Franco Ferrarotti sahen sich in den besetzten Fakultäten Anfeindungen und körperlichen Aggressionen ausgesetzt, die Ferrarotti bald darauf ausführlich in der Presse darstellte.179 Die PCI-nahe Presse wertete die Ereignisse als Versuche der Einschüchterung und Bedrohung und verurteilte sie scharf. Mit Franco Ferrarotti, der sich angesichts der körperlichen Aggression der protestierenden Studenten, die ihn zur Teilnahme an einer Fakultätsversammlung zwingen wollten, dem „Neo-Faschismus“180 Auge in Auge gegenüber zu sehen glaubte, solidarisierten sich 55 Dozenten des Soziologiein-

173 Vgl. Bernocchi (1979), S. 111. 174 Vgl. Il Messaggero vom 11.2.1977, S. 5; Bernocchi (1979), S. 111. Zum Verlauf des Diskussion zwischen Trombadori und den Besetzern vgl. den transkribierten Diskussionsausschnitt in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 96f. 175 Vgl. L’Unità vom 11.2.1977, S. 8. 176 Vgl. Bernocchi (1979), S. 111f. 177 Vgl. L’Unità vom 15.2.1977, S. 10. 178 Vgl. Bernocchi (1979), S. 112. 179 Vgl. Corriere della Sera vom 25.2.1977, S. 3. 180 Corriere della Sera vom 25.2.1977, S. 3.

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stituts.181 Zu den Aktionen gegen einzelne Professoren kam das, was in der Öffentlichkeit als Vandalismus der neuen Bewegung gebrandmarkt wurde. Anfangs waren es vor allem die zahlreichen Graffiti auf dem Campus gewesen, doch nun kamen andere Episoden wie der Diebstahl zahlreicher Mikroskope oder die Zerstörung einiger Fensterscheiben auf dem Campus hinzu.182 Mit diesen Ereignissen wurden in der öffentlichen Diskussion jene Stimmen immer lauter, die die Campus-Besetzung und die Bewegung insgesamt als Problem der öffentlichen Sicherheit betrachteten. Im Zentrum stand dabei die Auswirkung der erstarkenden Bewegung auf die italienische Hauptstadt: Am 11.2.1977 fand ein Treffen des römischen Bürgermeisters Argan mit dem Polizeipräsidenten, Parteienvertretern und Gewerkschaftsfunktionären statt, bei dem über das Problem der öffentlichen Ordnung in Rom diskutiert wurde. Eine von allen Teilnehmern unterzeichnete Lageeinschätzung las sich dramatisch: „‚Questa non è più la strategia della tensione ma quella del terrore. […] Quasi ogni giorno in numerose zone della città assistiamo ad azioni di guerriglia urbana. È un piano eversivo che mira a distruggere le istituzioni democratiche.‘“183 Eine zentrale Forderung an den Polizeipräsidenten war bei der Zusammenkunft einmal mehr die vom PCI-Innenpolitiker Pecchioli schon eine Woche zuvor angemahnte Schließung der ‚Zentren der Subversion‘.184 Wenige Tage später folgte eine Unterredung des Universitätsrektors Ruberti mit Innenminister Cossiga, bei der es um Ordnung und Sicherheit auf dem besetzten Campus und in der Stadt insgesamt ging.185 Ruberti schloss sich bei dem Treffen jener Sorge an, welcher der akademische Senat bei seiner Sitzung am 12.2.1977 Ausdruck verliehen hatte: Auf dem Campus könne ein „‚[…] imponente problema di ordine pubblico […]‘“186 entstehen. Allerdings lehnte Cossiga gegenüber Ruberti eine Räumung des besetzten Campus zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab.187 So blieb Ruberti im Anschluss an das Treffen nichts anderes übrig, als die Besetzer einmal mehr zu einer ‚zivilen Form der Auseinandersetzung‘ aufzurufen und zu verlangen, dass die Besetzer auf ihre Eingangskontrollen verzichteten und die Città universitaria frei zugänglich machten.188 Dennoch: Die Möglichkeit einer polizeilichen Räumung lag nun im Bereich des Vorstellbaren.

181 Vgl. L’Unità vom 15.2.1977, S. 1 und S. 10; L’Unità vom 16.2.1977, S. 2; Del Bello (1997), S. 309. 182 Vgl. Lotta Continua vom 15.2.1977, S. 1; L’Unità vom 16.2.1977, S. 2. Vgl. auch: Bernocchi (1979), S. 115; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 106. 183 Zitiert nach: Il Messaggero vom 12.2.1977, S. 5. „‚Das ist nicht mehr die Strategie der Spannung, sondern die des Terrors. […] Praktisch jeden Tag werden wir in zahlreichen Gegenden der Stadt Zeugen von Aktionen im Stile der Stadtguerilla. Das ist ein Umsturzplan, der darauf abzielt, die demokratischen Institutionen zu zerstören.‘“ 184 Vgl. Il Messaggero vom 12.2.1977, S. 5. 185 Vgl. L’Unità vom 15.2.1977, S. 1. 186 Ruberti zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 114. „‚[…] gewaltiges Problem der öffentlichen Ordnung […]‘“. 187 Vgl. Lotta Continua vom 15.2.1977, S. 1. 188 Vgl. L’Unità vom 15.2.1977, S. 1. Zuvor hatte Ruberti dies schon mehrmals getan, vgl. z.B. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 100.

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Während die Verantwortlichen einerseits Stimmung gegen die Bewegung machten, bemühten sie sich andererseits, jene Komponenten aus der Bewegungsfront herauszulösen, die durch ihre relativ privilegierte Stellung und ihre begrenzte politische Agenda integrierbar erschienen: Am 11.2.1977 traf sich Bildungsminister Malfatti mit Gewerkschaftsvertretern, um Abstriche an seinem Reformprojekt im Hinblick auf die prekär beschäftigten Universitätsangestellten zu diskutieren, deren radikalere Teile sich inzwischen im Coordinamento nazionale dei precari189 zusammengeschlossen hatten und eng mit der neu entstandenen Studentenbewegung kooperierten.190 Malfatti versprach den Gewerkschaften die Schaffung von über 11.000 Stellen für die bisher prekär Beschäftigten.191 Die Zahl relativierte sich in den Augen der Kritiker allerdings bei genauerem Hinsehen nachhaltig und das Coordinamento nazionale dei precari lehnte Malfattis Angebot ab.192 Die Gewerkschaftsdelegation beurteilte den Vorschlag des Ministers hingegen positiv.193 In den Augen vieler Bewegungsaktivisten stellte Malfattis Entgegenkommen im Hinblick auf die prekären Dozenten das ‚Zuckerbrot‘ dar, welches Cossigas ‚Peitschenschwingen‘ in Form einer möglichen Campus-Räumung ergänzte. Bald schon wurde deutlich, dass den Gewerkschaften im Hinblick auf die prekären Dozenten mehr Erfolg beschieden sein würde als hinsichtlich der studentischen und jugendlichen Bewegungsakteure: „Nonostante l’opposizione del coordinamento nazionale dei precari la manovra congiunta dei sindacati e di Malfatti finisce per cogliere nel segno: la presenza dei precari nel movimento diminuisce e diventa sempre più contrastata. Il movimento di fatto perde una sua componente almeno come apporto di massa.“194

2.1.6 Das ‚Neue‘ einer Bewegung Hatten in den ersten Tagen der Besetzung vor allem der faschistische Überfall und die Malfatti-Reform die Agenda der Bewegung bestimmt, so wurde bald deutlich, wie breit jene Themenpalette aufgefächert war, die in der Bewegung Platz fand: In Versammlungen wurde ausführlich das Für und Wider des Konsums weicher Drogen diskutiert,195 der Zusammenschluss von Schwulenaktivisten ‚Fuori‘196 meldete sich

189 ‚Nationale Koordination der prekären Universitätsangestellten‘. 190 Vgl. Bernocchi (1979), S. 112f. 191 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 100; Bernocchi (1979), S. 112f. 192 Vgl. Bernocchi (1979), S. 112f. 193 Vgl. Bernocchi (1979), S. 113. 194 Vgl. Bernocchi (1979), S. 113. „Trotz der Opposition der ‚Nationalen Koordination der prekären Universitätsangestellten‘ hat der gemeinsame Schachzug der Gewerkschaften und Malfattis sein Ziel nicht verfehlt: Die Präsenz der Prekären in der Bewegung geht zurück und wird immer umstrittener. Die Bewegung verliert de facto eine ihrer Komponenten, zumindest was die massenhafte Teilnahme anbelangt.“ 195 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 89f. und 100f. 196 ‚Raus‘.

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mit einer radikalen Kritik der Rollenbilder in der Bewegung zu Wort und forderte einen Raum für Schwule in der besetzten Universität ein und Feministinnen diskutierten über eine eigene autonome Besetzung innerhalb des besetzten Campus. In der ‚Kommission der Marginalisierten‘ diskutierten Jugendliche über Konkurrenzdruck, Identitätskrisen und das Bedürfnis nach Liebe als Teil der eigenen Suche nach Kommunismus und die ‚Stadtindianer‘197 riefen zu einem Karneval in der geisteswissenschaftlichen Fakultät auf.198 Einher ging diese Entgrenzung des Politischen mit einer Veränderung der Formensprache, mit der das Aufbegehren transportiert wurde. Das Flugblatt der ‚Stadtindianer‘ vom 12.2.1977 wäre wohl den meisten römischen Studenten noch zwei Wochen vorher absurd erschienen: „‚AUGH!! La stagione delle grandi piogge sta finendo: i colori della natura stanno emergendo, per spazzare via il grigio e la noia, il freddo e la paura dei nostri corpi. […] È ora che il popolo degli uomini scenda nelle vallate a riprendersi tutto ciò che le giacche blu ci hanno negato... FUORI DALLE RISERVE!! INTONIAMO IL NOSTRO GRIDO DI GUERRA.‘“199 Eine ähnliche Ablehnung der bisherigen politischen Rhetorik schlug sich auch in einem Flugblatt der Schülerkommission vom selben Tag nieder, dessen erste Zeilen sich folgendermaßen lasen: „‚Blablabla serietà disciplinablablabla… serietà negli studi… questi perdigiorno non vogliono studiare... blablabla selezione!!!!‘“200 Besonders spektakulär wurde der Bruch mit der tradierten politischen Rhetorik immer dort, wo er sich, wie im Falle der ‚Stadtindianer‘ mit neuen und oft ironischen Formen der Selbstinszenierung verband. Attribute wie geschminkte Gesichter, Federschmuck im Haar und Phantasienamen in ‚indianischer‘ Tradition markierten diese fluktuierende Akteursgruppe, die im Februar und März 1977 rasch anwuchs und als kreativer Flügel die Außenwirkung der Bewegung wesentlich beeinflusste. Wenig später aber waren die ‚Stadtindianer‘ schon wieder weitgehend von der Bildfläche verschwunden – nicht unbedingt weil die Aktivisten selbst sich zurückgezogen hatten, sondern eher weil sie nicht mehr als ‚Indianer‘ auftraten.

197 ‚Indiani metropolitani‘. 198 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 98ff. 199 Flugblatt der ‚Stadtindianer‘ vom 12.2.1977, zitiert nach: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 103. „‚HUGH!! Die Jahreszeit des großen Regens geht zu Ende: Die Farben der Natur kommen hervor, um das Grau und die Langeweile wegzufegen, die Kälte und die Angst vor unseren Körpern. […] Es ist Zeit, dass das Volk der Menschen in die Täler hinabsteigt und sich all das zurückholt, was uns die Blaujacken verweigert haben… RAUS AUS DEN RESERVATEN!! STIMMEN WIR UNSEREN KRIEGSGESANG AN.‘“ 200 Flugblatt der Commissione studenti medi vom 12.2.1977, zitiert nach: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 103f. „‚Blablabla Ernsthaftigkeit Disziplinblablabla… Ernsthaftigkeit beim Studium… diese Taugenichtse wollen nicht studieren… blablabla Selektion!!!!‘“

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Abb. 3.4 Die im Comic auftauchenden Slogans sind zum Großteil ironische Abwandlungen altbekannter Bewegungsslogans, die zum Teil auf den Kopf gestellt und zum Teil in Nonsens aufgelöst wurden. „Es ist Zeit, es ist Zeit, die Peitsche für die arbeitende Bevölkerung“. „Amendola Beat“. „Dromedarsmacht“. „35 Lire, 5000 Stunden“, „Oask“.201 „Machen wir die dunklen Läden hell“.202 „Mehr Opfer, weniger Zahnpasta“. „Lama oder nicht Lama? Niemand lamat (bzw. liebt ihn) mehr“.203 „Mehr Kirchen, weniger Häuser“.

Eine weitere Form der bewegungsinternen Kommunikation neben den Versammlungen und Flugblättern waren die omnipräsenten Graffiti, die – von politischen Parolen über persönliche Statements bis hin zu Witzen – alle auf dem Campus zirkulierenden Diskurse auf die Wände der Institutsgebäude bannten. Ein besonders häufig rekurrierendes Thema war auch hier der Machtkampf innerhalb der Linken und die Abgrenzung der Bewegung von jenen Kräften, die reformistische Positionen vertraten.204

201 OASK?! war eine Zeitschrift der römischen Stadtindianer. 202 Gemeint ist die PCI-Zentrale, die in der Via delle Botteghe Oscure (‚Straße der dunklen Läden‘) lag. 203 Zum Verständnis dieses Slogans sind die Ereignisse vom 17. Februar zentral, vgl. Abschnitt 2.2.1. 204 Da die traditionelle Linke selbst die Graffiti als ‚Rowdytum‘ ablehnte, spiegelte sich allerdings nur eine Seite der Auseinandersetzung auf den Wänden des römischen Campus – die

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Zwei der zahllosen Graffiti, die durch ihre mediale Zirkulation besondere Prominenz erlangten und denen deshalb eine besondere Wirkungsmächtigkeit unterstellt werden kann, waren die folgenden:205 „Facoltà occupata. Fuori i baroni rossi, bianchi, neri o a pallini“206 , das am Eingang der geisteswissenschaftlichen Fakultät prangte und mit Hammer und Sichel signiert war. Das Graffito unterstrich die Weigerung der Bewegung, die Unterscheidung zwischen den linken Professoren und ihren bürgerlichen oder rechten Kollegen gelten zu lassen, und lehnte stattdessen die professorale Machtposition grundsätzlich ab. Auch andere Graffiti auf dem besetzten Campus stellten die Unversöhnlichkeit zwischen der Bewegung und ihren Gegnern gerade auch aus den Reihen der traditionellen Linken heraus. Eines der bekanntesten, lautete: „Baroni, padroni, pompieri, aspiranti dirigenti / topi di sezione, oscuri burocrati, gente con la linea in tasca / Forse tra qualche giorno ce ne andremo / e proverete a dimenticare / tornando con: bacheche, circolari / processo democratico, giornali / registri, libri mastri, orpelli / specchietti, proposte in positivo / ma azioni costruttive, delegati e mozioni / (ma non rompete i coglioni) / Direte: era un fuoco di paglia / un’oscura marmaglia / senza proposizioni / (ma non rompete i coglioni) / Ma tutto questo non è stato invano / noi non dimentichiamo... / Per il vostro potere fondato sulla merda / per il vostro squallore odioso, sporco e brutto / Pagherete caro, pagherete tutto!!”207

moderate Gegenposition fand ihren Niederschlag in traditionellen Druckerzeugnissen, wie Flugblättern und parteinahen Tageszeitungen. 205 Für einen Eindruck von der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der Graffiti des römischen Frühjahrs 1977 vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 161-174; Del Bello (1997), S. 291-301; mit genauen Ortsangaben der Graffiti auf dem römischen Campus und einigen Fotos: Franco Ferrarotti (2008): Il ’68. Quarant’anni dopo. Rom, S. 82-138. Für zahlreiche Fotografien von den Graffiti von 1977, vgl. Pino Meledandri (2007): Le scritte sui muri del ’77. Rom. 206 Vgl. Foto in: Lotta Continua vom 9.2.1977, S. 8. „Besetzte Fakultät. Raus mit den Baronen – egal ob rot, weiß, schwarz oder gepunktet“. 207 Ein Foto des Graffito findet sich in: Sergio Bianchi/Lanfranco Caminiti (Hg.) (2008): Gli autonomi. Le storie, le lotte, le teorie. Bd. III. Rom, beiliegende DVD: D:\scritte_e_slogan\ scritte murali\mural22.jpg. Zitiert auch in: Grispigni (1997), S. 27; Del Bello (1997), S. 293; Vidotto (2006), S. 329. „Barone, Bosse, Feuerwehrleute, Führungsaspiranten / Sektionsmäuse, finstere Bürokraten, Leute mit der Linie in der Tasche / Vielleicht werden wir in ein paar Tagen gehen / und ihr werdet versuchen zu vergessen / und zurückkommen mit: Aushängen, Rundschreiben / dem demokratischen Prozess, Zeitungen / Registern, Hauptbüchern, Blendwerk / Spiegelchen, gut gemeinten Vorschlägen / aber konstruktiven Aktionen, Delegierten und Anträgen / (ach geht uns nicht auf die Eier) / Ihr werdet sagen: Es war ein Strohfeuer / eine finstere Mischpoke / ohne Thesen / (ach geht uns nicht auf die Eier) / Aber all das war nicht umsonst / wir vergessen nicht… / Für eure Macht die auf Scheiße gebaut ist / für eure gehässige, dreckige, hässliche Abscheulichkeit / Für all das werdet ihr teuer bezahlen!!“ Das genaue Entstehungsdatum dieses Graffito ist nicht rekonstruierbar. Es könnte auch erst zu einem späteren Zeitpunkt im Frühjahr 1977 entstanden sein.

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In diesen Graffiti spiegelten sich einige jener Charakteristika, die der Bewegung von 1977 einen Teil ihrer Besonderheit verliehen: Im ersten Fall war es die Ironie, mit der das Durchdeklinieren der politischen Farbenlehre in Nonsens übergeleitet wurde und damit auf das Verschwimmen der politischen Gegensätze angesichts der Annäherung von PCI und DC verwiesen wurde. Im zweiten Fall war es das Persönliche und Existenzielle im Diskurs einer Bewegung, die sich nicht mit der Propagierung alternativer politischer Wahrheiten begnügte, sondern einen subjektiven und entgrenzten Politikbegriff zum Ausgangspunkt des eigenen Handelns machte, der alle Aspekte des eigenen Gefühlslebens mit einschloss und die erste Person sowohl im Singular als auch im Plural in das politische Lexikon aufnahm. Hinzu kam die unbändige Wut einer Generation, die in Zeiten der Krise aufgewachsen war und sich um ihre Zukunftschancen betrogen fühlte. Auch in jenen Bewegungsorganismen, die sich vermeintlich altbekannten Themen wie der Hochschulpolitik oder den Arbeitskämpfen widmeten, waren die neuen Züge der Bewegung von 1977 unübersehbar. Eine Kommission, die sich mit der Struktur der geisteswissenschaftlichen Fakultät auseinandersetzte, forderte, die Trennung zwischen Schule und Gesellschaft, Studium und Arbeit aufzuheben. Da die Universitäten von allen Mitgliedern der arbeitenden Bevölkerung finanziert würden, müssten sie auch allen dienen. Deshalb sollten all jene, die mindestens fünf Jahre in ihrem Beruf gearbeitet hatten, ein Universitätsstudium aufnehmen können – unabhängig davon, ob sie über einen entsprechenden Oberschulabschluss verfügten oder nicht. Doch nicht nur die akademischen Institutionen, sondern auch die materiellen Räume der Universität sollten für alle geöffnet werden: „‚(l’)università deve essere il più possibile usata da tutti. I giovani dei circoli […] in questi giorni erano qui dentro a lottare con noi. Ci devono restare: sopratutto quelli che non possono neanche permettersi il lusso di fare gli ‚studenti di serie B‘. Noi proponiamo che il sabato e la domenica pomeriggio la facoltà sia aperta ai giovani della città, per il loro bisogno di stare insieme, divertirsi, fare l’amore, riunioni, musica, cinema, teatro e tutto quanto. Tutti insieme ci impegniamo per due cose: 1) ripulire tutto per lunedì mattina in modo da non caricare di straordinari domenicali i lavoratori della Facoltà; 2) Rompere il culo, ma davvero, ai trafficanti di eroina e ai fascisti, qualora li prendessimo nella Facoltà.‘“208 Ausgehend von der Forderung nach gleichberechtig-

208 Vgl. Piattaforma elaborata dalla Commissione Inchiesta sulla Facoltà dell’occupazione di Lettere e approvata nelle linee generali dall’Assemblea di facoltà dell 14 febbraio 1977, zitiert in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 108 – 112, hier S. 111f. „‚[D]ie Universität muss soweit möglich von allen genutzt werden. Die Jugendlichen von den proletarischen Jugendzirkeln […] waren in diesen Tagen hier drinnen, um mit uns zu kämpfen. Sie müssen hierbleiben: Vor allem diejenigen, die sich nicht einmal den Luxus leisten können, die ‚Studenten der zweiten Klassen‘ zu spielen. Wir schlagen vor, dass Samstag und Sonntagnachmittag die Fakultät für die Jugendlichen der Stadt geöffnet ist, für ihr Bedürfnis zusammen zu sein, sich zu vergnügen, Liebe zu machen, Treffen, Musik, Kino, Theater und so weiter. Alle gemeinsam engagieren wir uns für zwei Sachen: 1) Alles für Montagmorgen wieder sauber zu machen, so dass wir den Arbeitnehmern der Fakultät keine sonntäglichen Extraschichten aufladen; 2) Den Heroindealern und den Faschisten, wenn wir sie in der Fakultät erwischen, den Arsch aufzureißen – und zwar richtig.‘“

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tem Zugang zu Bildung für alle wurde die Universität als sozialer Raum vollkommen neu entworfen und versucht, dieses Kampfziel direkt zu praktizieren: Die Feste auf dem besetzten Campus waren insofern nicht nur Momente des fröhlichen Miteinanders, sondern die konkrete Umsetzung eines Teils der Bewegungsagenda. Auch in die auf den ersten Blick recht klassische Argumentation der ‚Kommission für Fabrik und Stadtteil‘ schrieben sich Aspekte ein, die auf die ‚neuen‘ Spezifika der Bewegung verwiesen. Die Kommission forderte, die Malfatti-Reform müsse als ein Element der staatlichen Krisenpolitik begriffen werden, die zum Ziel habe, die Produktivität auf Kosten des Lebensstandards der lohnabhängigen Bevölkerung zu steigern. Die Bewegung wurde dabei jenseits der Gruppen der Neuen Linken verortet und die traditionelle Dichotomie zwischen Studenten und Arbeitern durch den Bezug auf die neuen Figuren aufgebrochen. Aus Sicht der Kommission erlangte der besetzte Campus seine wesentliche Bedeutung als Aggregationsraum der widerständigen gesellschaftlichen Sektoren, die nicht aufgrund von abstrakten Solidaritätserwägungen, sondern aufgrund der konkreten gemeinsamen Betroffenheit geeint seien: „‚l’Università è diventata uno spazio di confronto sui temi delle lotte e della crisi: spazio che ci era stato negato all’interno dei sindacati, dei partiti della sinistra, anche nei gruppi. […] La riforma Malfatti si batte solo se riusciamo a battere anche e sopratutto le altre e più gravi riconversioni produttive. l’Unità operai e studenti quindi non a partire dalla solidarietà, ma dalla unità di lotta, dal coordinamento comune, dall’autorganizzazione. Quando abbiamo aperto l’Università, essa non si è riempita di ‚giovani professori‘, ma di disoccupati, di emarginati […].‘“209 Zu diesen neuen politischen Inhalten und Formen trat eine gesteigerte Gewaltsamkeit der politischen Praxis, die zwar gerade im Hinblick auf den militanten Antifaschismus eine lange Vorgeschichte hatte, aber im Frühjahr 1977 in Rom dennoch ein neues Niveau erreichte. Katalysiert durch die Eskalationsstrategie faschistischer Kreise210 wurden neue Formen linker Straßengewalt Usus, die zuvor absolute Aus-

209 Vgl. Un documento della commissione fabbriche e quartiere dell’università occupata di Roma. Dalla rivolta studentesca contro Malfatti alla lotta contro la disoccupazione giovanile, zitiert in: Lotta Continua vom 16.2.1977, S. 2. „‚Die Universität ist zu einem Raum der Auseinandersetzung über die Themen der Kämpfe und der Krise geworden: Ein Raum, der uns innerhalb der Gewerkschaften, der linken Parteien und auch der Gruppen verweigert wurde. […] Die Malfatti-Reform verhindert man nur, wenn es uns auch und vor allem gelingt, die anderen und schwerwiegenderen Umstrukturierungen im Bereich der Produktion zu verhindern. Die Einheit der Arbeiter und Studenten soll daher nicht ausgehen von der Solidarität, sondern von der Einheit des Kampfes, von der gemeinsamen Koordination, von der Selbstorganisation. Als wir die Universität geöffnet haben, hat sich diese nicht mit ‚jungen Professoren‘ gefüllt, sondern mit Arbeitslosen und Marginalisierten […].‘“ 210 Die am 1. Februar eingeläutete Welle faschistischer Gewalt fand ihre Fortsetzung am 6. Februar, als im römischen Bahnhof Tiburtino in einem Zug nach Hinweisen eines Geheimdienstinformanten eine Bombe gefunden und entschärft wurde, die bei ihrer Detonation zahlreiche Insassen des vollbesetzten Zuges in den Tod gerissen hätte. In der Nähe der Bombe wurden Flugblätter der neofaschistischen Organisation Ordine Nuovo gefunden, was alle Beobachter sofort an den faschistischen Bombenanschlag auf den Zug Italicus im

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nahmen gewesen waren: Nach der Schießerei auf der Piazza Indipendenza am 2. Februar erreichte der Konflikt am 10. Februar einen neuen Höhepunkt, als einige hundert Antifaschisten versuchten, ein MSI-Lokal im Stadtteil Monte Mario anzugreifen, weil dort Gerüchten zufolge der MSI-Chef Almirante erwartet wurde. Es entwickelte sich eine heftige Auseinandersetzung, in deren Verlauf es zu einer längere Zeit andauernden Schießerei zwischen Antifaschisten, Polizei und Faschisten kam. Im Zuge des Feuergefechts wurden zwei unbeteiligte Passanten und ein MSI-Aktivist durch Kugeln verletzt und mindestens 200 Schüsse abgegeben.211 Auch diese Formen potentiell tödlicher Gewalt fanden im Februar 1977 Eingang in die Folklore der Bewegung: Ein Graffito auf dem römischen Campus fasste den Rückgriff militanter Bewegungsaktivisten auf Schusswaffen als neues Mittel der politischen Massenmilitanz in einen Reim: „‚Con le spranghe nel ’68 / nel ’77 con le P 38‘“212. Das veränderte Eskalationsniveau der politischen Auseinandersetzung in Rom führte zu einer Aufrüstungsoffensive der Polizei: Mitte Februar traten erstmals Polizisten in neuen kugelsicheren Westen und mit kugelsicheren Helmen auf.213

2.1.7 Vorspiel: Kampf um den Campus Die Aneignung des Campus durch die Besetzer und die Konstitution eines gegenkulturellen Raumes in der Città universitaria blieb stets prekär und umkämpft. War die traditionelle Linke in den ersten Tagen der Besetzung weitgehend vom Campus verdrängt worden, so versuchte sie am Anfang der zweiten Woche der Besetzung, ihre Präsenz an der Universität gezielt zu erhöhen: Am Montag, den 14. Februar, fand ein Treffen der CGIL-Sektion in der Geographie-Fakultät statt.214 Tags darauf gingen die moderaten Kräfte einen Schritt weiter: Nachdem am frühen Morgen des 15.2.1977 einige Dutzend PCI-Mitglieder beim Flugblattverteilen mit dem Ordnerdienst der Besetzer aneinander geraten waren, rückten wenig später etwa 300 mit Knüppeln bewaffnete Mitglieder des Ordnerdienstes des römischen PCI und der Gewerkschaf-

August 1974 denken ließ, bei dem 12 Menschen getötet worden waren. Auch die diffuse Straßengewalt von Seiten militanter MSI-Anhänger blieb in Rom an der Tagesordnung: Am 12. Februar schossen beispielsweise Faschisten von einer Vespa aus auf eine Gruppe linker Schüler vor einem Liceo im Stadtteil EUR, vgl. Il Messaggero vom 7.2.1977, S. 1; L’Unità vom 13.2.1977, S. 8. 211 Vgl. Il Messaggero vom 11.2.1977, S. 5; La Repubblica vom 11.2.1977, S. 1; Lotta Continua vom 11.2.1977, S. 1; Il Messaggero vom 12.2.1977, S. 5; La Repubblica vom 12.2.1977, S. 5. 212 Zitiert nach Ferrarotti (2008), S. 93. „‚Mit den Knüppeln ’68 / ’77 mit den P 38‘“. Die Walther P 38 war nicht nur – wie in diesem Fall – Synonym für jede Art von Pistolen, sondern in der Presse bald auch für jenen Teil der Bewegung von 1977, der Schusswaffen einsetzte. 213 Vgl. Il Messaggero vom 13.2.1977, S. 6. 214 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 106.

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ten an und verschafften sich gewaltsam Zugang zur Città universitaria.215 Dieses Vorgehen von PCI und Gewerkschaften wurde anschließend in mehreren Fakultätsversammlungen verurteilt:216 In den Augen der Campusbesetzer stellte es deutlich unter Beweis, wie wenig ernst es der traditionellen Linken tatsächlich mit der immer wieder eingeforderten ‚zivilisierten Auseinandersetzung‘ war.217 Der Ordnertrupp des PCI und der Gewerkschaften veranstaltete anschließend eine Versammlung in der juristischen Fakultät, bei der unter anderen der römische FGCI-Vorsitzende Walter Veltroni sprach.218 Die Versammlung der moderaten Kräfte verurteilte die Aggressionen gegen demokratische Dozenten und den ‚Vandalismus‘ der Besetzer und forderte die Wiederaufnahme der akademischen Lehre. Außerdem wurde angekündigt, dass am Donnerstag, dem 17.2.1977 eine Gewerkschaftskundgebung auf dem römischen Campus stattfinden würde, bei der CGILChef Luciano Lama sprechen sollte.219 Viele Bewegungsaktivisten konnten ihren Ohren kaum trauen: Dem PCI war die Besetzung der römischen Universität derart unerträglich, dass sie mit Luciano Lama den wichtigsten Gewerkschaftsfunktionär des Landes schickte, um den Studenten die Leviten zu lesen.220 Mit dieser Nachricht war die politische Agenda für den kommenden Tag bestimmt: Am Mittwoch, dem 16. Februar, wurde auf zwei großen Versammlungen über den Umgang mit der Gewerkschaftskundgebung in der besetzten Universität beraten. Am Vormittag fand eine Versammlung der bewegungsnahen Universitätsangestellten und der prekär Beschäftigten in der Chemie-Fakultät statt, zu der auch noch die Arbeitslosenkomitees stießen.221 Angesichts der Aggression des PCI-Ordnerdienstes am Eingang der Città universitaria am Vortag machten sich die Teilnehmer keinerlei Illusionen: Der Auftritt Lamas wurde als Versuch bewertet, die Situation auf dem besetzen Campus zu ‚normalisieren‘ und damit die Besetzung de facto zu beenden. Die Mehrheit der Anwesenden lehnte eine körperliche Konfrontation mit den Teilnehmern der Gewerkschaftskundgebung ab und plädierte für eine politische Auseinandersetzung.222 Bei der weitaus größeren nachmittäglichen Versammlung in der geisteswissenschaftlichen Fakultät mit etwa 1.000 Teilnehmern waren die grundsätzlichen Einschätzungen ähnlich.223 Dennoch war die Diskussion konträr und es kam zu Rangeleien unter

215 Vgl. Lotta Continua vom 16.2.1977, S. 1; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 112; Bernocchi (1979), S. 116. 216 Vgl. Lotta Continua vom 16.2.1977, S. 1. 217 Vgl. Paccino (1977), S. 42, wo das Ereignis aber wohl fälschlicherweise auf den 14.2.1977 statt auf den 15.2.1977 datiert ist. 218 Einige Beobachter aus der Bewegung gingen von etwa 500 Teilnehmern bei der Versammlung aus, vgl. Lotta Continua vom 16.2.1977, S. 1; Del Bello (Hg.) (1997), S. 309. Andere Beobachter schätzten die Besucherzahlen der moderaten Versammlung in der Jura-Fakultät höher ein und gingen von 1.000 Teilnehmern aus, vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 112. 219 Vgl. Bernocchi (1979), S. 116. 220 Vgl. Paccino (1977), S. 44. 221 Vgl. Lotta Continua vom 16.2.1977, S. 1. 222 Vgl. Bernocchi (1979), S. 116. 223 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 113f.

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den Anwesenden, da radikale, der Autonomia nahestehende Kräfte dafür eintraten, sich das Heft nicht von der Gewerkschaft aus der Hand nehmen zu lassen, während die Mehrheit der Anwesenden für eine politische Auseinandersetzung plädierte und jede körperliche Konfrontation vermeiden wollte.224 Irgendwo zwischen diesen Positionen bewegten sich die ‚Stadtindianer‘, die für eine Auseinandersetzung im Zeichen der Ironie eintraten – also weder für eine ernsthafte politische Diskussion noch für eine körperliche Konfrontation.225 Sie hatten schon am Nachmittag ein Kommuniqué veröffentlicht, in dem sie ankündigten: „‚l’area creativa affronterà con le armi dell’ironia il Lama proveniente dal Tibet.‘“226 Nach einer etwa sechsstündigen hitzigen Diskussion stimmte die Mehrheit der Anwesenden einem Beschlussantrag zu, der vorsah, bei den Veranstaltern der Gewerkschaftskundgebung ein Rederecht für Vertreter der Bewegung während der Kundgebung einzufordern.227 Der verabschiedete Text beinhaltete eine Grundsatzkritik an der gegenwärtigen Gewerkschaftspolitik: „‚Le direzioni sindacali quindi fungono da veicolo che porta all’interno della classe un lento e strisciante processo di restaurazione, di ritorno ai livelli di prima dell’autunno caldo.‘“228 Für den nächsten Tag wurde folgende Vorgehensweise festgelegt: „‚Se Lama crede di venire all’università per fare un’operazione di polizia il movimento saprà rispondergli in modo adeguato... Nel caso contrario sfidiamo Lama a rendere conto della linea del compromesso sindacale, agli studenti in lotta.‘“229 Anschließend wurde dazu aufgerufen, sich am morgigen Donnerstag, dem 17. Februar, um 9 Uhr auf der Piazza della Minerva auf dem römischen Campus einzufinden.230 Mit diesem Beschluss hatten sich die moderateren Kräfte in der Bewegung durchgesetzt, zugleich aber war die Bestimmung des gemeinsamen Vorgehens so vage, dass jede Strömung an ihren eigenen Aktionsideen festhalten konnte: Die von der Mehrheit der Versammlung verabschiedete Erklärung ließ offen, wann das Verhalten der Gewerkschafter als ‚Polizeioperation‘ zu klassifizieren und was dann die ‚angemessene

224 Vgl. Bernocchi (1979), S. 117; Paccino (1977), S. 45; Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 114. 225 Vgl. Paccino (1977), S. 45. 226 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 117. „‚Die kreative Strömung wird dem Lama, der aus Tibet stammt, mit den Waffen der Ironie entgegentreten.‘“ 227 Vgl. Bernocchi (1979), S. 117; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 114. 228 Dokument der Assemblea occupante dell’Ateneo vom 16.2.1977, in: Froio (1977), S. 58. „‚Die Gewerkschaftsführungen fungieren also als Vehikel, das einen langsamen und schleichenden Prozess der Restauration in das Innere der Klasse trägt, der zurückführt zu dem Niveau vor dem heißen Herbst.‘“ 229 Dokument der Assemblea occupante dell’Ateneo vom 16.2.1977, zitiert in: Froio (1977), S. 58. „‚Wenn Lama glaubt in die Universität zu kommen, um eine Polizeioperation durchzuführen, wird die Bewegung ihm auf angemessene Weise zu antworten wissen… Im gegenteiligen Fall fordern wir Lama auf, den kämpfenden Studenten Rede und Antwort zu stehen über die Linie des gewerkschaftlichen Kompromisses.‘“ 230 Vgl. Dokument der Assemblea occupante dell’Ateneo vom 16.2.1977, in: Froio (1977), S. 58.

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Antwort‘ sei. Die italienische Öffentlichkeit erwartete derweil gespannt den folgenden Tag: Mancher Kommentator prognostizierte schon das bevorstehende Ende der Bewegung: „[…] (S)iamo vicini all’epilogo dell’occupazione, scontato, inevitabile: gli sprinter del Movimento hanno esaurito le riserve di ossigeno, i maratoneti del PCI avanzano con passo rotondo e regolare, si apprestano a celebrare il trionfo.“231

2.2 Radikalisierung 2.2.1 17. Februar: Der Kampf um den Campus Der römische Campus war am 17. Februar bereits seit den frühen Morgenstunden Schauplatz geschäftigen Treibens. Schon gegen acht Uhr tauchten etwa 300 Mitglieder des Ordnerdienstes der Gewerkschaften auf, der an diesem Tag de facto in erster Linie aus Mitgliedern des PCI bestand, und machten rasch deutlich, wer an diesem Vormittag das Sagen auf dem Campus haben sollte: Die Ordner übermalten Graffiti, die sich gegen die Politik des PCI, der Gewerkschaften oder die Person Lamas richteten oder ersetzten sie durch gegenteilige Slogans.232 Gegen 8.30 Uhr kam es zu einer kleinen Episode, die den Fortgang der Ereignisse wesentlich bestimmen sollte: Vier Delegierte der Bewegung warteten auf Aurelio Misti, den römischen Sekretär der CGIL-scuola, mit dem am Vorabend ein Treffen vereinbart worden war, um die letzten Einzelheiten für die Redebeiträge von Seiten der Bewegungsaktivisten zu klären. Die vier warteten umsonst: Misti erschien nicht und die vier zogen nach einer halben Stunde frustriert ab.233 Auf dem Platz sammelten sich inzwischen neben dem massiven Ordnerdienst der Gewerkschaften und den kurzfristig mobilisierten Gewerkschaftsmitgliedern auch immer mehr Bewegungsaktivisten. Ins Auge stach dabei ein Pulk von ‚Stadtindianern‘ vor der geisteswissenschaftlichen Fakultät, die aus einer Bibliotheksleiter, die auf einer Plattform mit Rollen verankert war, eine Art mittelalterlichen Fahnenwagen bastelten, wobei auf der oberen Plattform der Leiter eine Puppe stand, die Lama darstellte. Vor der Puppe prangte ein Schild mit der Aufschrift „Nessuno l’AMA“234 – dem vielleicht beliebtesten Spruch des kreativ-ironischen Flügels der Bewegung an diesem Tag.235 Derweil ging die ‚Rückeroberung des Campus‘ durch die Gewerkschaftsordner in die nächste Runde: Ordnerketten umgrenzten gegen neun Uhr die

231 Vgl. Corriere della Sera vom 16.2.1977, S. 3. „[…] (W)ir sind dem absehbaren, unvermeidlichen Epilog der Besetzung nahe: Die Sprinter der Bewegung haben ihre Sauerstoffreserven aufgebraucht. Die Marathonläufer des PCI kommen mit rundem elegantem Schritt heran und bereiten sich darauf vor ihren Triumph zu feiern.“ 232 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 116; Paccino (1977), S. 47. 233 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1-2. 234 Etwa: „Niemand LIEBT IHN“ wobei die Wendung „liebt ihn“ („l’ama“) den Namen ‚Lama‘ ergibt. 235 Vgl. Foto von Tano D’Amico vom Wagen der Stadtindianer, in: Cappellini (2007), unpaginierter Bildteil in der Buchmitte.

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Piazza della Minerva, um missliebige Bewegungsanhänger vom Zentrum des Platzes fernzuhalten, wo die Kundgebung stattfinden sollte.236 Die Polemik zwischen ‚Stadtindianern‘ und Gewerkschaftsordnern spitzte sich zu. Während die ‚Indianer‘ und viele andere Bewegungsaktivisten Slogans wie „‚Ti prego Lama, non andare via, vogliamo ancora tanta polizia‘“237 und „‚Via via la nuova polizia‘“238 skandierten, setzten ihnen die Ordner Sprüche wie „‚Via, Via la nuova borghesia‘“239 und „‚Pariolini, Pariolini‘“240 entgegen. Die Slogans dienten zwar der gegenseitigen Provokation, waren aber auch Ausdruck der Konfliktwahrnehmung auf beiden Seiten: Für zahlreiche Bewegungsaktivisten war, wohl schon bevor Lama überhaupt den Campus betrat, durch die Form des Auftretens des Ordnerdienstes klar, dass die Kundgebung eine Art Polizeioperation zur ‚Normalisierung‘ der Situation an den Universitäten und zur ‚Enteignung‘ des von der Bewegung angeeigneten Campus darstellte und somit, wie am Vorabend beschlossen, eine ‚angemessene Antwort‘ nötig war. Die Slogans der Gewerkschaftsordner machten hingegen eine Sicht deutlich, derzufolge man es nicht mit einer radikalen Bewegung zu tun hatte, die die Parteien der traditionellen Linken und die Gewerkschaften ‚von links‘ kritisierte, sondern mit einer Ansammlung bürgerlicher Provokateure. Gegen zehn Uhr traf Lama ein und wurde von einer Gruppe von Ordnern zum inzwischen aufgestellten Bühnen-LKW geleitet.241 Als Lama die Bühne bestieg, fand die Reorganisation des Campus-Raumes im Zeichen seiner Aneignung durch die traditionelle Linke ihren Abschluss: Lama bestieg ein zentrales Podium, das unmittelbar jene frontale Form der Kommunikation implementierte, die die Bewegung nicht nur im akademischen, sondern auch im politischen Kontext aufzuheben angetreten war. Die Raumpolitik der Gewerkschaftsordner und -funktionäre transportierte implizit die gesamte Ideologie der traditionellen Linken in Italien: ihren Hegemonie- und Alleinvertretungsanspruch, ihren Zentralismus und ihre Hierarchie.242 Diese Raumorganisation musste mit dem fluiden, dezentralisierten Gegenentwurf der Bewegung ebenso in Konflikt geraten wie der Monologismus Lamas mit der kakophonischen Debattenkultur der Bewegungsaktivisten.

236 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 116; Bernocchi (1979), S. 118. 237 Zitiert nach: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1-2. „‚Bitte Lama geh’ nicht weg, wir wollen noch mehr Polizei‘“. 238 Zitiert nach: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1-2. „‚Weg, weg mit der neuen Polizei‘“. 239 Zitiert nach: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1-2. „‚Weg, weg mit der neuen Bourgeoisie‘“. 240 Zitiert nach: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1-2. ‚Pariolini‘ sind Bewohner des großbürgerlichen römischen Stadtteils Parioli. 241 Während Carlo Rivolta (in: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f.) beschreibt, dass Lama von zehn Arbeitern im Blaumann zur Bühne geleitet worden sei, schreibt Bernocchi (1979, S. 118), Lama sei von hundert PCI-Ordnern begleitet worden. Die Unterschiede verweisen wohl nicht nur auf die Ungenauigkeiten einzelner Darstellungen, sondern auch auf grundlegende Differenzen bei der Wahrnehmung des Geschehens. In jedem Fall machen sie eine präzise Rekonstruktion des Ereignisses schwierig. 242 Vgl. hierzu auch die Überlegungen Umberto Ecos in: L’Espresso vom 29.5.1977, S. 14f.

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Während Lama seine Rede begann, wurden aus den Reihen der ‚Stadtindianer‘ zwei mit Farbe und Wasser gefüllte Bälle auf die immer aggressiver auftretenden PCIOrdner geworfen. Die Situation explodierte: Die PCI-Ordner versuchten nun den Wagen der ‚Indianer‘ zu ‚erobern‘. Zunächst schien es, als könnten sich die Ordner durchsetzen, doch dann wurde der Widerstand härter: Das Gerangel wurde zur Schlägerei.243 Während es auf dem Platz zum Handgemenge kam, beschwor Lama von der Bühne aus die Einheit zwischen Arbeitern und Studenten und ging dabei hart mit den Campusbesetzern ins Gericht: „‚[…] [D]obbiamo lottare e vincere assieme la grande battaglia per il rinnovamento dell’intera società, battere e vincere il fascismo, le tentazioni reazionarie, le provocazioni eversive, ogni violenza o tentatzione irrazionale. Chi rompe i vetri, chi sfascia le facoltà non colpisce Malfatti ma danneggia la causa degli studenti.‘“244 Lamas Polemik und die zunehmende Eskalation auf der Piazzale Minerva gingen Hand in Hand.245 Schließlich setzte ein PCIOrdner einen Feuerlöscher in Gang, um die Studenten zurückzudrängen. 246 Improvisierte Wurfgeschosse wie Asphaltbrocken, Holzstücke und Kartoffeln wurden aufeinander geschleudert.247 Vereinzelt kamen auch Knüppel auf beiden Seiten zum Einsatz.248 Während die Schlägerei sich immer mehr ausbreitete, zerschmetterten Studenten in der geisteswissenschaftlichen Fakultät Bänke, um sich mit Holzlatten zu

243 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f.. Die im Folgenden rekonstruierte Version der Auseinandersetzungen deckt sich auch mit einer Filmaufnahme des Geschehens, die vom Collettivo controinformazione gemacht worden war und einige Tage später Journalisten vorgeführt wurde, vgl. La Repubblica vom 22.2.1977, S. 4. 244 Zitiert nach: L’Unità vom 19.2.1977, S. 4. „‚[…] (W)ir müssen gemeinsam die große Schlacht für die Erneuerung der ganzen Gesellschaft gewinnen, den Faschismus und die reaktionären Versuchungen besiegen, die umstürzlerischen Provokationen, jede Gewalt und jede irrationale Versuchung. Diejenigen, die die Scheiben einschlagen, die die Fakultät zertrümmern, treffen nicht Malfatti, sondern schaden der Sache der Studenten.‘“ Während solche Sätze Lamas durch sein veröffentlichtes Redemanuskript belegt sind, bleibt unklar, was der Gewerkschaftsvorsitzende seinem Manuskript noch spontan hinzufügte. In Flugblättern der Bewegung wurden Sätze Lamas kolportiert, die die Frontstellung gegenüber den protestierenden Studenten noch weitaus deutlicher akzentuierten: „‚[…] (M)a che cosa volete voi studenti, per che cose lottate, ancora non avete capito che la società è un numero chiuso, che la selezione è nella società e va accettata per quello che è [...]‘“, vgl. Flugblatt der Assemblea cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di quartiere vom 17.2.1977, zitiert in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 121f. „‚[…] (W)as wollt ihr Studenten denn, wofür kämpft ihr? Habt ihr immer noch nicht begriffen, dass die Gesellschaft ein Numerus clausus ist, dass die Selektion Teil dieser Gesellschaft ist und so akzeptiert werden muss […].‘“ 245 Vgl. Bernocchi (1979), S. 118. 246 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117; La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. Vgl. Dokumentarfilm Gli anni ’70: Sogno e tragedia, in: AAMOD, 52:4053:00. 247 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. 248 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117.

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bewaffnen, andere versorgten Verletzte, die es bald zu Dutzenden gab.249 Die Mehrheit der auf dem Platz Anwesenden scheint jedoch in der Beobachterrolle geblieben zu sein.250 Manche versuchten auch erfolglos, die Konfliktparteien zu trennen.251 Gegen 10:30 Uhr beendete Lama seine Ausführungen, während auf der Piazzale della Minerva Chaos herrschte.252 Anschließend trat der PCI-Funktionär Bruno Vettraino ans Mikrofon und erklärte: „‚Compagni, la manifestazione è sciolta non accettiamo provocazioni.‘“253 Dieses Eingeständnis, der Lage nicht mehr Herr zu sein, wirkte wie ein Signal zu einer letzten Angriffswelle von Seiten der militanten Bewegungsaktivisten: Der Ordnerdienst der Gewerkschaften wurde in die Flucht geschlagen, der LKW von dem aus Lama gesprochen hatte zerstört.254 Die Lage beruhigte sich erst, als die PCI- und Gewerkschaftsanhänger vom Campus vertrieben waren.255

249 Vgl. Bernocchi (1979), S. 118; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117; vgl. Foto der nun schon deutlich größeren Auseinandersetzung in Paccino (1977), S. 48. 250 Vgl. Bernocchi (1979), S. 119; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117. Aufschlussreich sind diesbezüglich auch die Interviews, die Radio Città Futura nach den Auseinandersetzungen auf dem Campus mit Mitgliedern der anwesenden Gewerkschaftsdelegationen machte, die dann in Auszügen in Lotta Continua abgedruckt wurden, vgl. Lotta Continua vom 19.2.1977, S. 1. Hier wird deutlich, dass zahlreiche anwesende Fabrikdelegierte mit dem Kurs Lamas und der harten Hand des Ordnerdienstes keineswegs einverstanden waren und sich als Manövriermasse missbraucht fühlten. Vgl. auch Dokumentarfilm: Gli anni ’70: Sogno e tragedia, in: AAMOD, 50:50-54:50. 251 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117. 252 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. 253 Zitiert nach: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. „‚Genossen, die Demonstration ist hiermit beendet, wir akzeptieren keine Provokationen.‘“ 254 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. 255 Für Fotos von den Auseinandersetzungen auf dem römischen Campus am 17.2.1977 vgl. http://www.complessoperforma.it/77WEB/ilgrandelamae.HTM (Stand 18.5.2011).

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Abb. 3.5 Höhepunkt der Auseinandersetzungen vom 17.2.1977: Militante Bewegungsaktivisten ‚erobern‘ den Bühnen-LKW von dem aus Lama gesprochen hatte.

Direkt im Anschluss an die Auseinandersetzungen versammelten sich etwa 2.000 Studenten in der Geologie-Fakultät, um über die Geschehnisse zu diskutieren.256 Die Versammelten stimmten mehrheitlich einem Antrag zu, der die Schuld für die Auseinandersetzungen dem PCI zuwies:257 „‚La responsabilità degli scontri ricade sull’iniziativa provocatoria del PCI. La proposta del movimento di trasformare il comizio in un’assemblea con la partecipazione dei collettivi degli studenti è stata respinta. Il servizio d’ordine del PCI ha provocato fin dall’inizio della mattina singoli compagni.‘“258 Nur die Anhänger von PdUP und AO vertraten eine deutlich andere Sicht und kritisierten neben dem Auftreten des PCI-Ordnerdienstes auch die Anhänger der Autonomia.259 Carlo Rivolta konstatierte in La Repubblica eine erstaunliche Geschlossenheit der Bewegung angesichts der Auseinandersetzungen: „In sostanza tutto l’intercollettivo si è assunto la responsabilità di quello che era accaduto, anche

256 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117; La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. 257 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117; Paccino (1977), S. 51. 258 Zitiert nach: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 117f. Fast wortgleich, jedenfalls aber inhaltlich identisch auch in: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. und: Bernocchi (1979), S. 119. „‚Die Verantwortung für die Ausschreitungen liegt bei der provozierenden Initiative des PCI. Der Vorschlag der Bewegung, die Kundgebung in eine Versammlung unter Teilnahme der Studentenkollektive zu verwandeln, wurde abgelehnt. Der Ordnerdienst des PCI hat seit dem frühen Morgen einzelne Genossen provoziert.‘“ 259 Vgl. Paccino (1977), S. 50f.; Flugblatt von Avanguardia Operaia commissione scuola vom 17.2.1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 122f.; Il Manifesto vom 19.2.1977, S. 1.

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se fino a poche ore prima c’era stata violenta polemica fra l’ala di Autonomia e il resto del movimento.“260 Für die römische Föderation des PCI war die Auseinandersetzung auf dem Campus hingegen eine „‚[…] gravissima aggressione squadristica […] messa in atto da gruppi aderenti alla cosidetta ‚autonomia operaia‘ […]‘“261, die in ihrer Form dem faschistischen Squadrismus in nichts nachstehe.262 Von den Bewegungsakteuren wurde die Interpretation des PCI, derzufolge eine radikale Minderheit von 200 bewaffneten ‚Provokateuren‘ am Werk gewesen sei, zurückgewiesen:263 Die Angriffe waren in ihren Augen vom gewerkschaftlichen Ordnerdienst ausgegangen und von der Bewegung insgesamt beantwortet worden, nicht von deren Ordnerdienst oder einer besonders radikalen Strömung.264 Tatsächlich dürfte die Beteiligung des organisierten Kerns der römischen Autonomia Operaia an den Auseinandersetzungen begrenzt gewesen sein.265 Während der Deutungskampf praktisch direkt im Anschluss an die Auseinandersetzungen begann, verließ der Rektor der römischen Universität Ruberti den Campus und forderte die Polizei zur Räumung des Campus auf.266 Während am Nachmittag eine weitere Vollversammlung der Besetzer tagte, begannen starke Polizeikräfte den Campus zu umstellen. Sofort wurden Barrikaden errichtet, um der Polizei den Zugang zu verwehren, doch angesichts der polizeilichen Übermacht blieb die Gegenwehr symbolisch.

260 La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. „Im Wesentlichen hat die Versammlung der Studentenkollektive als Ganze die Verantwortung für das übernommen, was vorgefallen war, auch wenn bis wenige Stunden zuvor eine heftige Streiterei zwischen dem Flügel der Autonomia und dem Rest der Bewegung getobt hatte.“ 261 Comunicato della federazione romana del PCI vom 17.2.1977, zitiert in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 120f. „‚[…] sehr schwerwiegende squadristische Aggression […] die von Gruppen ins Werk gesetzt wurde, die der sogenannten Autonomia operaia angehören […]‘“. 262 Für die anschließende parteiinterne Debatte in den Führungsgremien des römischen PCI vgl. Protokoll der Sitzung von Comitato federale e Commissione federale di controllo di Roma vom 2./3.3.1977, in: FIG, Archivio PCI, Regioni e Province (1943-1990), Nr. 0297, Bl. 0580-0597. 263 Vgl. L’Unità vom 19.2.1977, S. 1. 264 Vgl. z.B. die Aussagen Raul Mordentis, eines Bewegungsaktivisten der keinerlei Nähe zur Strömung der Autonomia aufwies in einem Streitgespräch mit PCI-Funktionären, in: La Repubblica vom 19.2.1977, S. 3. Zu Mordentis Haltung und Rolle 1977, vgl. Del Bello (1997), S. 21-35. 265 Vgl. die Interviews mit Vincenzo Miliucci (Del Bello (1997), S. 3-19, hier: S. 7f.), Graziella Bastelli (Del Bello (1997), S. 143-159, hier: S. 147) und Peppe Galluzzi (Del Bello (1997), S. 161-173, hier: S. 163), drei wichtigen Figuren der Comitati Autonomi Operai – des wichtigsten Zusammenschlusses der römischen Autonomia Operaia –, die die Bedeutung ihrer Organisation für die Ereignisse am 17.2.1977 deutlich einschränken und unterstreichen, dass die Ereignisse vom 17.2.1977 keineswegs geplant gewesen seien. 266 La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f.

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Abb. 3.6 17.2.1977: Militante Campus-Besetzer versuchen nach der Vertreibung Lamas Entschlossenheit zu signalisieren, den Campus im Fall einer Räumung zu verteidigen. Real bleibt der Widerstand angesichts der polizeilichen Übermacht im Zuge der bald folgenden Räumung jedoch gering.

Unter massivem Tränengasbeschuss verließen die Besetzer den Campus durch die Via De Lollis und zogen sich in den angrenzenden Stadtteil San Lorenzo zurück, während die Polizeikräfte den Campus einnahmen und dabei den Studenten zufolge massiven Schäden anrichteten.267 Gegen 20 Uhr versammelten sich dann etwa 3.000 Aktivisten in der außerhalb des Campus gelegen Architekturfakultät, um das weitere Vorgehen zu beraten. Dabei wurde eine friedliche und bürgernahe Demonstration für Samstag, den 19. Februar und die Einberufung einer Italienweiten Versammlung der Bewegung in Rom für die folgende Woche beschlossen sowie die Organisation von Versammlungen in den römischen Schulen, um die Auseinandersetzungen auf den Campus zu diskutieren und die Haltung der Bewegung zu vermitteln.268 In den folgenden Tagen zeigte sich, dass keineswegs die gesamte traditionelle Linke geschlossen hinter Lama und dem PCI stand: Innerhalb der Gewerkschaftsförderation gab es heftige Spannungen. Als Lamas CGIL zunächst zu einem Generalstreik für Freitag, den 18.2.1977, aufrufen wollte, stellten sich die Gewerkschaften UIL und CISL quer. Auch blieben die Führungen der anderen beiden Gewerkschaften jeden Kommentar zu den Ereignissen in Rom schuldig – was in der Öffentlichkeit als deutliches Zeichen ihrer Verstimmung gewertet wurde.269 Stattdessen einigte sich die Provinzföderation der Gewerkschaften nur darauf, dass die Vorfälle auf zahlreichen Versammlungen in Schulen und am Arbeitsplatz diskutiert werden sollten.270 Die Lesart der Bewegung, nach welcher der PCI die Gewerkschaften für ein

267 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f.; La Repubblica vom 23.2.1977, S. 3. 268 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 1f. 269 Vgl. La Repubblica vom 19.2.1977, S. 4; Il Manifesto vom 19.2.1977, S. 1. 270 Vgl. L’Unità vom 20.2.1977, S. 1.

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parteitaktisches Manöver instrumentalisiert hatte, schien also keineswegs aus der Luft gegriffen.271 Aber auch auf Seiten der Bewegung wurde in den nächsten Tagen deutlich, dass keineswegs alle Spektren den Verlauf des 17. Februar begrüßten. Die moderateren Gruppen der Neuen Linken, PdUP und AO, sahen die Ereignisse als „schwarzen Tag“272 für Italiens Linke.273 Damit allerdings entfernten sich die moderaten Kräfte noch weiter vom Großteil der Bewegung.274 Dass die Bewegung mit der Räumung des römischen Campus keineswegs am Ende war, zeigte sich zwei Tage später, als dem Aufruf zu einer Demonstration zehntausende Jugendliche folgten.275 Der zentrale Slogan des Protestzuges lautete: „‚Ci hanno cacciato dall’Università, ce la riprendiamo con tutta la città.‘“276 Dass die Demonstration tatsächlich friedlich blieb, war nicht zuletzt Resultat eines starken Ordnerdienstes, der von den Fakultätskollektiven gestellt wurde.277 Das Fronttransparent unterstrich die breite politische Agenda der Bewegung, die längst nicht mehr nur gegen die Universitätsreform protestierte: „‚Operai, studenti, disoccupati e donne contro il governo delle astensioni‘“.278 Dass sich gerade die Arbeiter am Anfang der Aufzählung fanden, war kein Zufall: Die Auseinandersetzungen vom Donnerstag sollten von niemandem als Frontstellung gegen die Arbeiterschaft verstanden werden. Wie schon die letzten Demonstrationen unterstrich auch diese den neuen Charakter der Bewegung: Nicht parteiförmig organisierte Gruppen der Neuen Linken bestimmten das Bild, sondern wiederum Sektoren wie Studenten, als separater Block teilnehmende Feministinnen, proletarische Jugendzirkel, ‚Stadtindianer‘ und die Autonomia Operaia. Nach der Ankunft auf der Piazza Navona verwandelte sich die Demonstration bald in ein fröhliches Happening mit großem Ringelreihen und ‚Kriegstänzen‘ der ‚Indianer‘, das bis in den Abend andauerte.279 Die proklamierte Aneignung der

271 Vgl. Beschluss der Versammlung unmittelbar nach den Auseinandersetzungen vom 17.2.1977, in: Bernocchi (1979), S. 119. 272 Il Manifesto vom 19.2.1977, S. 1. 273 Vgl. Il Manifesto vom 19.2.1977, S. 1; Kommuniqué der Schulkommission von Avanguardia Operaia vom 17.2.1977, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 122f. 274 Vgl. die PdUP-kritischen Slogans auf der Bewegungs-Demonstration am 19.2.1977, vgl. La Repubblica vom 20./21.2.1977, S. 4. 275 Zu den Teilnehmerzahlen vgl. La Repubblica vom 20./21.2.1977, S. 4. Il Manifesto geht von über 30.000 Teilnehmern aus, (vgl. Il Manifesto vom 20.2.1977, S. 1). Bernocchi geht davon aus, dass die Demonstration am 19.2.1977 mit 50.000 Teilnehmern die größte Demonstration links vom PCI seit 1968 war, (vgl. Bernocchi (1979), S.123). Auch andere Beobachter aus der Bewegung gingen von 50.000 Teilnehmern aus, (vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 128). 276 Zitiert nach: La Repubblica vom 20./21.2.1977, S. 1. „‚Sie haben uns aus der Universität verjagt. Wir holen sie uns zurück und dazu die ganze Stadt.‘“ 277 Vgl. La Repubblica vom 20./21.2.1977, S. 1 und S. 4. 278 Zitiert nach: La Repubblica vom 20./21.2.1977, S. 4. „‚Arbeiter, Studenten, Arbeitslose und Frauen gegen die Regierung der Enthaltung‘“. 279 Vgl. La Repubblica vom 20./21.2.1977, S. 4.

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Stadt wurde so konkret praktiziert und die Piazza Navona ersetzte als Ort des Zusammenseins und Feierns tatsächlich zeitweise den Campus.

2.2.2 Deutungskampf und Bewegungsalltag jenseits des Campus In der kommunistischen Partei wurde in den kommenden Tagen auch von den höchsten Parteigremien jene Lesart übernommen und propagiert, derzufolge eine kleine Minderheit der Studenten aus dem Umfeld der Autonomia mit quasi-faschistischen Methoden und Intentionen die Gewerkschaftskundgebung vom 17. Februar gesprengt hätten.280 Während die Mehrheit der Studenten an einer Reform des Landes mitwirken wolle, seien an den Rändern der Bewegung Kräfte am Werke, die ‚absurde‘ und ‚korporative‘ Forderung stellten, wie diejenige nach einer leistungsunabhängigen staatlichen Förderung aller Studierenden.281 „Si esprime in queste posizioni una tendenza a mantenere l’attuale Università – aggravando lo sfascio – come luogo dello spreco, del parassitismo e della fuga dal lavoro produttivo.“282 Diese Kräfte führten einen Kampf gegen die Kommunistischen Partei und deren Bestrebungen, das Land zu reformieren.283 Volle Rückendeckung erhielt der PCI von Innenminister Cossiga, der in der Parlamentsdebatte am 22. Februar den Vorwurf zurückwies, der Ordnerdienst der Gewerkschaften habe sich bei den Auseinandersetzungen vom 17. Februar quasi-polizeiliche Rechte angemaßt und Mittel eingesetzt, die ihm nicht zustanden. Im Gegenteil, so Cossiga: Die Gewerkschaftsordner hätten versucht, die körperliche Konfrontation zu vermeiden.284 Die Verantwortlichen für die Auseinandersetzungen identifizierte Cossiga als „‚[…] oltre cinquecento elementi aderenti ai cosidetti Comitati Autonomi Operai […]‘“285 . Doch der PCI-Führung war klar, dass die Frontstellung der Partei gegen die neue Studentenbewegung und die Ereignisse vom 17. Februar einer umfassenderen Einordnung bedurften, wenn man nicht die Desorientierung von Teilen der Parteibasis riskieren wollte. So wurde die Erklärung des Parteivorstandes auf der Titelseite von L’Unità am 20.2.1977 mit einem gesellschaftsanalytischen Beitrag des prominenten PCI-Intellektuellen Alberto Asor Rosa unterfüttert, der erstmals in Grundzügen seiner Theorie der ‚zwei Gesellschaften‘ vorstellte, die er bald zu einem Buch ausbaute und die zu einer der wirkungsmächtigsten Interpretationen der ‚Bewegung von 1977‘

280 Vgl. Documento della direzione del PCI, in: L’Unità vom 20.2.1977, S. 1. 281 Vgl. Documento della direzione del PCI, in: L’Unità vom 20.2.1977, S. 1. 282 Documento della direzione del PCI, in: L’Unità vom 20.2.1977, S. 1. „In diesen Positionen kommt eine Tendenz zum Ausdruck, die die gegenwärtige Universität als Ort der Verschwendung, des Parasitismus und der Flucht vor der produktiven Arbeit bewahren möchte und so den Verfall noch verschlimmert.“ 283 Vgl. Documento della direzione del PCI, in: L’Unità vom 20.2.1977, S. 1. 284 Vgl. La Repubblica vom 23.2.1977, S. 1. 285 Zitiert nach: La Repubblica vom 23.2.1977, S. 1. „‚[…] über fünfhundert Elemente, die den sogenannten Comitati Autonomi Operai angehörten […]‘“.

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werden sollte.286 Asor Rosa argumentierte, dass in Italien zwei Gesellschaften existierten, die ‚erste Gesellschaft‘, in deren Zentrum für den PCI die organisierte Arbeiterklasse stehe, und eine ‚zweite Gesellschaft‘, in der die arbeitslosen Jugendlichen und die Marginalisierten versammelt seien. In der ‚zweiten Gesellschaft‘ breite sich eine beunruhigende neue Form des Antikommunismus aus, der den PCI nicht in der Regierung sehen wolle und zugleich Basis und Funktionäre der Partei als homogene Masse begreife, die es zu bekämpfen gelte.287 Asor Rosas Überlegungen waren offensichtlich von den Ereignissen auf dem römischen Campus am 17. Februar inspiriert: „In questo senso, picchiare operai organizzati – cosa che in passato sarebbe apparsa inconcepibile e sacrilega ai contestatori più estremi – diventa un fatto logico, ha lo stesso significato e la stessa funzione che fischiare il Segretario generale della CGIL.“288 Die marginalisierten Teile der Gesellschaft hätten sich von dieser losgesagt und stünden ihr nun feindlich gegenüber. „I due mondi si sono più nettamente separati: la lotta non è più per imporre una diversa ipotesi politica alle stesse masse, ma è tra due diverse società.“289 Den die ‚zweite Gesellschaft‘ anführenden Fürsprechern einer ‚Theorie der Bedürfnisse‘ gehe es nicht um die Konstruktion einer neuen Gesellschaft, sondern darum, durch den Angriff der ‚zweiten‘ auf die ‚erste Gesellschaft‘ ihre Bedürfnisse im Hier und Jetzt zu befriedigen.290 Letztlich zögen die Exponenten der ,zweiten Gesellschaft‘ und bestimmte reaktionäre Kräfte der italienischen Politik und Wirtschaft am gleichen Strang: „Compagni […] che l’altro giorno […] al comizio di Lama […] gridavano agli assaltatori: ‚Via via - la nuova borghesia‘ forse si sbagliavano nello specifico, ma esprimevano sostanzialmente un’intuizione molto giusta. Fra i teorici dei bisogni della ‚seconda società‘ e certi settori del mondo politico ed economico italiano […] c’è oggi una convergenza (oggettiva? soggettiva?) sulla necessità di colpire in primo luogo la presenza operaia organizzata nella società, e quindi il sindacato, ma con

286 Vgl. Alberto Asor Rosa (1977): Le due società. Ipotesi sulla crisi italiana. Turin. 287 Vgl. L’Unità vom 20.2.1977, S. 3. Asor Rosa argumentierte, der von ihm konstatierte neue Antikommunismus der ‚zweiten Gesellschaft‘ stehe nur indirekt zu den traditionellen Formen des rechten und des linken Antikommunismus in Bezug. An den traditionellen rechten Antikommunismus knüpfe die neue Form dadurch an, dass sie den PCI ebenfalls nicht in der Regierung sehen wolle. Vom traditionellen linken Antikommunismus hingegen unterscheide sie sich, da sie nicht mehr zwischen Führung und Massen unterscheide und deshalb nicht wie der linke Antikommunismus im Zuge von 1968 versuche, einen Bruch zwischen Basis und Führung der linken Parteien und den Gewerkschaften zu provozieren, um die Basis so auf eine revolutionäre Linie einzuschwören, sondern Basis und Funktionäre als homogene Masse begreife, der es sich entgegenzustellen gelte. 288 L’Unità vom 20.2.1977, S. 3. „In diesem Sinn wird es zu einem logischen Fakt, organisierte Arbeiter zu verprügeln – etwas, was früher den extremsten Protestierern undenkbar und frevelhaft erschienen wäre. Es hat dieselbe Bedeutung wie den Generalsekretär der CGIL auszupfeifen.“ 289 L’Unità vom 20.2.1977, S. 3. „Die beiden Welten haben sich deutlicher getrennt: Der Kampf dreht sich nicht mehr darum, denselben Massen eine andere politische Hypothese aufzuzwingen, sondern er tobt zwischen zwei verschiedenen Gesellschaften.“ 290 Vgl. L’Unità vom 20.2.1977, S. 3.

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particolarissimo riguardo il Partito comunista.“291 Es bestehe eine seltsame Allianz zwischen den Kräften des ‚Konservatismus‘ und jenen der ‚Zersetzung‘. Nun sei es am PCI, gegen alle Widerstände Reformen durchzusetzen.292 Während Asor Rosa versuchte, die neue Linksopposition durch seine Interpretation ins Abseits zu manövrieren, rollte bereits die nächste Welle der öffentlichen Delegitimierung auf die Bewegung zu: Unmittelbar nach der Räumung waren von den Verantwortlichen große Schäden auf dem Campus konstatiert worden, die inzwischen zum Objekt größten Medieninteresses avanciert waren. Die Schäden des als „sinnloser Vandalismus“293 verurteilten Verhaltens der Bewegungsaktivisten wurden zunächst auf etwa 300 Millionen, bald gar auf 500 Millionen Lire beziffert – wobei mehr als die Hälfte der Summe für die Übermalung von Graffiti ausgegeben werden sollte.294 Dass diese Graffiti keineswegs allesamt in den knapp zwei Wochen der Campusbesetzung im Februar 1977 entstanden waren, sondern teilweise bis ins Jahr 1968 zurückreichten, weil seitdem keine Renovierung der Universitätsgebäude mehr durchgeführt worden war, spielte dabei keine Rolle – die ‚Schäden‘ wurden der aktuellen Bewegung angelastet. Besonders gut ins Bild passte dabei die Nachricht, dass in einigen Fakultäten eine Desinfektion nötig sei, da sich während der Besetzung dort Parasiten festgesetzt hätten.295 Die Bewegung reagierte umgehend auf die Darstellung der Ereignisse vom 17. Februar durch die PCI-Führung und die Analyse Asor Rosas sowie die Presseberichte über große Schäden auf dem Campus: Asor Rosas Interpretation wurde im Zuge bewegungsinterner Debatten als ‚pseudo-soziologische und kontrafaktische‘ Analyse bewertet, die dem Ziel diene, die Bewegung zu marginalisieren.296 Die Gegeninformationskommission der Bewegung lud zu einer Pressekonferenz ein und führte den anwesenden Journalisten ein von Mitgliedern der Kommission bei den Auseinandersetzungen vom 17. Februar gedrehtes Video vor. Die Aufnahmen bestätigten, dass beide Seiten an der Eskalationsdynamik ihren Anteil hatten und die PCI-Ordner durchaus ebenso robust zu Werke gingen wie ihre studentischen Gegner.297 Auch hinsichtlich der angeblich durch die Besetzung entstandenen Schäden auf dem Cam-

291 L’Unità vom 20.2.1977, S. 3. „Genossen […] die vor ein paar Tagen […] bei der Kundgebung von Lama […] den Angreifern zuriefen: ‚Weg, weg die neue Bourgeoisie‘ irrten sich vielleicht, was den spezifischen Fall betraf, aber sie brachten grundsätzlich eine völlig zutreffende Intuition zum Ausdruck. Zwischen den Theoretikern der Bedürfnisse der ‚zweiten Gesellschaft‘ und bestimmten Sektoren der italienischen Politik und Wirtschaft […] besteht eine (objektive? subjektive?) Übereinstimmung im Hinblick auf die Notwendigkeit, in erster Linie die organisierte Präsenz der Arbeiter in der Gesellschaft zu bekämpfen und das heißt die Gewerkschaften, aber ganz besonders die kommunistische Partei.“ 292 Vgl. L’Unità vom 20.2.1977, S. 3. 293 L’Unità vom 20.2.1977, S. 4. 294 Vgl. L’Unità vom 20.2.1977, S. 4; Il Messaggero vom 23.2.1977, S. 4; La Repubblica vom 23.2.1977, S. 3. 295 Vgl. Il Messaggero vom 23.2.1977, S. 4. 296 Vgl. Transkribierte Diskussion des geisteswissenschaftlichen Fakultätskomitees, in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 131-133, hier: S. 132. 297 Vgl. La Repubblica vom 22.2.1977, S. 4.

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pus war die Bewegung nicht um eine Antwort verlegen: „‚[…] (S)i cerca di imbastire una campagna scandalistica contro di noi, come già avvenne nel ’68 contro il movimento studentesco.‘“298 Als das Rektorat die Schäden durch die Bewegungsgraffiti auf 300 Millionen Lire veranschlagte, schallte ihr von Seiten der geräumten Besetzer entgegen, die Graffiti sollten als ‚Ausdruck der Bewegung‘ stehen gelassen werden, womit die Reinigungskosten entfallen würden.299 Außerdem seien viele andere Schäden, die den Besetzern in die Schuhe geschoben würden, real Resultat der polizeilichen Räumung, in deren Zuge beispielsweise zahllose Türen auf dem Campus eingeschlagen worden seien – eine Argumentation, mit der die Bewegung durchaus auch bei bürgerlichen Blättern auf offene Ohren stieß.300 Wie sehr die öffentliche Skandalisierung der angeblich durch die Besetzung entstandenen Schäden die politischen Spielräume der Bewegung dennoch einschränkte, wurde am 23.2.1977 deutlich, als der akademische Senat der römischen Universität die Wiedereröffnung des Campus für den 1. März in Aussicht stellte und zugleich betonte, dass aufgrund der entstandenen Schäden in Zukunft keine Besetzungen mehr geduldet werden würden.301 Am Ende aller politischen Debatten stach ein materielles Argument: In den Augen der Universitätsleitung hatte die Bewegung durch die hinterlassenen Schäden ihr Recht auf temporäre Aneignung des römischen Campus dauerhaft verwirkt. Mit dem Campus hatte die Bewegung ihr Zentrum verloren, jenen Raum, in dem aus ihren heterogenen Strömungen und zahllosen Individuen in praxi eine Bewegung entstanden war und sich kontinuierlich aufs neue konstituierte. Zu zentralen Aggregationsräumen des Protests entwickelten sich nun die Fakultäten für Architektur und Ökonomie, die außerhalb des von der Polizei besetzten Campus lagen. Auch während ihres erzwungenen ‚Exils‘ ging in der Bewegung die Diskussion um das Verhältnis von ‚persönlichen‘ und ‚politischen‘ Fragen weiter. Am 21. und am 23. Februar beispielsweise trat die Kommission der Marginalisierten zusammen und diskutierte darüber, wie die Trennung zwischen dezidiert politischen Strukturen wie den Fakultätskomitees und denjenigen Strukturen wie den Kommissionen, in denen auch persönliche Themen ihren Raum hatten, überwunden werden könne.302 Dabei wurde auch deutliche Kritik an den bewegungsinternen Dynamiken während der zehntägigen Campusbesetzung laut. Ein Diskussionsteilnehmer brachte sein Unbehagen folgendermaßen auf den Punkt: „‚A me non importa di fare quindici commissioni e comitati, se poi non trovo un minuto di tempo per parlare con i compagni di come stanno […]. Durante l’occupazione ci sono stati spesso tremila individui soli, che

298 Zitiert nach: Il Messaggero vom 23.2.1977, S. 4. „‚[…] (E)s wird versucht, eine Skandalisierungskampagne gegen uns loszutreten, so wie schon ’68 gegen die Studentenbewegung.‘“ 299 Vgl. La Repubblica vom 23.2.1977, S. 3. 300 Vgl. La Repubblica vom 23.2.1977, S. 3; Il Messaggero vom 23.2.1977, S. 4. 301 Vgl. La Repubblica vom 24.2.1977, S. 1f. 302 Vgl. transkribierte Debatte in der ‚Kommission der Marginalisierten‘ am 21.2.1977, zitiert in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 136f.

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non riuscivano a comunicare tra loro.‘“303 Diese Unfähigkeit, die eigenen Gefühle und Probleme innerhalb der Bewegung zu thematisieren und somit Leben und Politik tatsächlich zu verbinden, sollte durch die verstärkte gemeinsame Diskussion über ‚persönliche‘ Fragen überwunden werden. So wurde für Freitag, den 25. Februar, eine Versammlung der Kommission der Marginalisierten, der ‚Stadtindianer‘, der Feministinnen und der proletarischen Jugendzirkel einberufen, die sich mit den Bewegungsaktivisten selbst und ihren Problemen beschäftigte: Mehr als 500 Interessierte nahmen an der Versammlung teil, auf der unter anderem die Schwulenaktivisten der Gruppe FUORI die umfassende Befreiung der Sexualität propagierten.304 Mit der thematischen Erweiterung der Versammlungen hin zu persönlichen Themen ging ein fundamentaler Funktionswandel einher: Während die Versammlung im Zuge politischer Strategiedebatten ein Ort der Diskussion war, auf die im Idealfall ein Akt basisdemokratischer Entscheidungsfindung folgte, so war sie im Zuge der Diskussion über persönliche Themen eher der Raum eines nicht-instrumentellen Austausches über Gefühle, Sorgen, Wünsche, Ängste und Bedürfnisse. Dieser Austausch war nicht Mittel zum Zweck der Entscheidungsfindung, sondern Selbstzweck und somit emblematisch für das, was Feministinnen seit einigen Jahren als „neue Art Politik zu machen“ bezeichneten. Die Bewegungsaktivisten versuchten dabei nicht nur die Tendenz zur Trennung von persönlichem Leben und politischem Aktivismus durch die verstärkte Thematisierung des ‚Persönlichen‘, sondern auch in praxi aufzuheben, indem sie die neuen Zentren der Bewegung – seit der Räumung des Campus die Fakultäten für Wirtschaftswissenschaften und Architektur – unverzüglich zu Orten kollektiven sozialen Lebens machten: Am 24. Februar fand in der überfüllten Aula Magna der Architekturfakultät ein Fest der ‚Stadtindianer‘ mit Konzerten, Theateraufführungen, Wein und Sangrìa statt.305

303 Ausschnitt aus der transkribierten Debatte in der ‚Kommission der Marginalisierten‘ am 21.2.1977, zitiert in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 136f., hier: S. 137. „‚Mir ist es egal, fünfzehn Kommissionen oder Komitees zu machen, wenn ich dann nicht mal eine Minute Zeit finde, um mit den Genossen darüber zu reden, wie es ihnen geht […]. Während der Besetzung waren da oft dreitausend einsame Individuen, denen es nicht gelang, miteinander zu kommunizieren.‘“ 304 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 143 und S. 145f. 305 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 144; Il Messaggero vom 25.2.1977, S. 4.

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2.2.3 Die nationale Bewegungsversammlung vom Februar 1977 Am Morgen des 26. Februar begann die nationale Versammlung der Bewegung in der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften in Rom.306 Schon bald zeichnete sich ab, dass die Zusammenkunft deutlich größer werden würde als erwartet: Aus fast allen italienischen Universitätsstädten waren größere Delegationen nach Rom gereist. Außerdem waren aus Rom selbst tausende von Studenten, Schülern und anderen Jugendlichen gekommen, um teilzunehmen.307 Angesichts dieser unerwartet hohen Teilnehmerzahl begann die Versammlung verspätet, da es zunächst ein Raumproblem zu lösen galt: Selbst in der Aula Magna der Wirtschaftsfakultät war kein Platz für die bald über 5.000 Teilnehmer.308 Schließlich wurden Lautsprecher vor der Aula aufgebaut, um denjenigen die drinnen keinen Platz fanden, zumindest das Zuhören zu ermöglichen.309 Gegen 11.30 Uhr konnte die Versammlung beginnen.310 Es wurde rasch deutlich, dass die römischen Bewegungsstrukturen aufgrund ihrer inneren Heterogenität nicht in der Lage gewesen waren, die Versammlung so vorzubereiten, dass ein effizienter Ablauf gewährleistet war.311 Den Auftakt bildete daher kein inhaltlicher Beitrag, sondern das Video der Gegeninformationskommission von den Auseinandersetzungen vom 17. Februar.312 Die Präsentation des Videos diente wohl nicht nur dem Zweck, den angereisten Genossen die realen Abläufe vorzuführen und so den medialen Verzerrungen entgegenzuwirken, sondern zielte auch darauf ab, den 17. Februar zum Erbe der gesamten Bewegung zu erheben und so das politische Profil der Bewegung in ihrer Frontstellung gegen die Kommunistische Partei zu schärfen. Anschließend begannen langwierige Diskussionen über die Zusammensetzung des Vorsitzes der Versammlung, die schließlich dadurch beendet wurden, dass das Kollektiv der Wirtschaftsfakultät als Gastgeber den Vorsitz übernahm.313 Die anschließende Diskussion über den Charakter und die Ausrichtung der Bewegung fokussierte sich schon bald auf die konkrete Frage, ob und unter welchen Bedingungen

306 Schon die Durchsetzung von Rom als Tagungsort gegenüber der Alternative Neapel war dabei zugleich eine politische Richtungsentscheidung: Die römische Bewegung war nicht nur besonders groß, sondern galt spätestens seit dem 17.2.1977 auch als besonders radikal. In Neapel wäre es den Kräften der moderaten Gruppen der Neuen Linken somit wohl leichter gefallen, Einfluss auf die Entscheidungen der Versammlung zu nehmen, vgl. Bernocchi (1979), S. 128; La Repubblica vom 25.2.1977, S. 3. 307 Vgl. Il Messaggero vom 27.2.1977, S. 6. 308 Vgl. La Repubblica vom 27./28.2.1977, S. 1. 309 Vgl. Bernocchi (1979), S. 130. 310 Vgl. Paccino (1977), S. 69f. 311 Vgl. Bernocchi (1979), S. 128. Teile der Bewegung sahen die mangelnde Vorbereitung als Resultat einer Verzögerungstaktik von Seiten der Autonomia, die – so ihre Kritiker – versuchte, ein politisches Vakuum zu schaffen, in dem es den Strukturen der Autonomia möglich sein würde, der Bewegung im Zuge der nationalen Versammlung ihren Stempel aufzudrücken, vgl. Bernocchi (1979), S. 128. 312 Vgl. La Repubblica vom 27./28.2.1977, S. 3. 313 Vgl. Bernocchi (1979), S. 130.

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die Bewegung eine Einladung der Metallarbeiterföderation FLM zu deren Jahreskonferenz am 7. und 8. März in Florenz annehmen sollte. Die Einladung wurde verlesen und von Pfiffen und Zwischenrufen unterbrochen, als in dem Text zwischen einer dialogbereiten Mehrheit und einer zu isolierenden radikalen Minderheit der Studentenbewegung unterschieden wurde.314 Während Aktivisten der moderaten Gruppen wie PdUP und AO für einen Dialog mit der FLM eintraten und letztlich eine Wiederannäherung an die Gewerkschaften und den PCI anstrebten, beharrten die radikaleren Teile der Bewegung auf der Autonomie der Bewegung und lehnten jede Distanzierung von den Ereignissen des 17. Februars ab.315 Angesichts dieses Richtungsstreits wurde schnell deutlich, dass viele Städtedelegationen in verschiedene Strömungen zerfielen und deshalb ebenso wenig mit einer Stimme sprechen konnten wie viele Bewegungsstrukturen aus Rom selbst. Diese innere Heterogenität der Bewegungsstrukturen öffnete Spielräume, die es den organisierten Kräfte innerhalb der Bewegung – den auf ihrem rechten Flügel angesiedelten moderaten Gruppen der Neuen Linken und dem FGCI einerseits und der auf dem linken Flügel positionierten radikalen Strömung der Autonomia andererseits – ermöglichten, die Debatte zu dominieren.316 Die Redebeiträge wurden immer wieder von Slogans unterbrochen: Teilnehmer aus dem Umfeld der Autonomia skandierten „‚Via via la nuova polizia‘“317 gegen jenen Teil der Aula, in dem sich die Mitglieder von PdUP und FGCI befanden, während diese mit Sprechchören wie „‚Via via la falsa Autonomia‘“318 antworteten. Schließlich meldeten sich auch zwei Bewegungsströmungen zu Wort, die sich bis dato noch nicht geäußert hatten: die Feministinnen und die ‚Stadtindianer‘. Die römischen Feministinnen unterstrichen in ihrem Beitrag die spezifische Marginalisierung, der Frauen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt unterworfen waren, und betonten einmal mehr ihre Ablehnung der ‚alten Art, Politik zu machen‘, ohne aber daraus eine Positionierung im Hinblick auf die anstehenden politischen Entscheidungen abzuleiten.319 Die ‚Stadtindianer‘ gingen ebenfalls nicht auf die im Zentrum der Diskussion stehenden Fragen ein, sondern verlasen stattdessen ein Dokument: „‚Il popolo degli uomini ha ritrovato se stesso […] e grida più forte che mai, con gioia e disperazione, con amore e odio: guerra.‘“320 Die anschließend aufgelisteten Forderungen der ‚Stadtindianer‘ waren eine wilde Mischung aus Ernst und Ironie: Die Forderung nach sofortiger Freilassung von Paolo und ‚Daddo‘ stand neben der Forderung nach einem Quadratkilometer Freiraum für jeden Menschen und jedes Tier. Die letzten Forderungen unterstrichen den ironischprovokativen Charakter des Dokuments: „‚12) Demolizione dell’Altare della Patria e

314 Vgl. Paccino (1977), S. 77; La Repubblica vom 27./28.2.1977, S. 3. 315 Vgl. Bernocchi (1979), S. 129ff. 316 Vgl. Bernocchi (1979), S. 129ff.; Paccino (1977), S. 72f. 317 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 132. „‚Weg, weg mit der neuen Polizei‘“. 318 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 132. „‚Weg, weg mit der falschen Autonomia‘“. 319 Vgl. Paccino (1977), S. 80. 320 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 79. „‚Das Volk der Menschen hat sich selbst wiedergefunden […] und schreit stärker den je mit Freude und Verzweiflung, mit Liebe und Hass: Krieg.‘“

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sostituzione di esso con tutte le forme di vegetazione, con gli animali che aderiscono spontaneamente all’iniziativa, con un laghetto per i cigni, le anatre, le rane e altra fauna acquatica. 13) l’uso alternativo degli aerei Hercules per servizi gratuiti di trasporto dei giovani a Machupiju (Perù) per la festa del sole […].‘“321 Die ‚Stadtindianer‘ setzten die ‚neue Art, Politik zu machen‘ in die Tat um: Spaß und Ernst, Persönliches und Politisches, Fest und Revolte waren unauflöslich verwoben und machten jeden Versuch der realpolitischen Reintegration aussichtslos. Der erste Tag der Versammlung endete gegen 20.30, ohne dass es zu greifbaren Beschlüssen gekommen wäre. Nun verabredeten sich die Anhänger der anwesenden Organisationen zu separaten Treffen, um ihre Linie für den kommenden Tag festzulegen.322 Die wichtigste der zahlreichen nun stattfindenden Zusammenkünfte war jene der Autonomia im Studentenwohnheim der Via De Lollis, bei dem sich erstmals Gruppen der Autonomia aus mindestens 16 Städten an einen Tisch setzten, um eine einheitliche Vorgehensweise abzustimmen. Trotz interner Differenzen hinsichtlich einzelner Punkte war das wesentliche Resultat des Treffens aber wohl eine nachhaltige Stärkung der Autonomia innerhalb der nationalen Versammlung.323 Der zweite Tag der Zusammenkunft war ähnlich gut besucht wie der erste. Es wurde schnell klar, dass der Hegemoniekampf noch härter ausfallen würde als am Vortag. Allerdings hatten sich die Kräfteverhältnisse deutlich verschoben: Während die Anhänger der Autonomia in voller Stärke anwesend waren und die vorderen Reihen in der Aula belegten, hatte sich der FGCI weitgehend zurückgezogen – offensichtlich weil es den Kadern der kommunistischen Jugendorganisation nach dem Verlauf des Vortrags nicht mehr möglich erschien, ihre Position bei der Versammlung durchzusetzen.324 Schnell entspann sich auch am zweiten Tag wieder eine Grundsatzdebatte um die Ausrichtung der Bewegung, die von drei Strömungen dominiert war: Einer radikalen Strömung der Autonomia, die nach dem Treffen am vorherigen Abend einheitlicher und gestärkt auftrat; einer ‚mittleren‘ Bewegungsströmung, die wahrscheinlich die Mehrzahl der Anwesenden repräsentierte, aber über keine Organisationsstruktur und keine einheitliche politische Linie verfügte und dem geschwächten ‚rechten‘ Flügel der Bewegung, der nach dem Rückzug des FGCI vor allem aus Vertretern des PdUP bestand. Die Debatte wurde durch vier Themen strukturiert: die Bewertung des 17. Februars, das Verhältnis der Bewegung zu den Gewerkschaften, die Einladung der FLM nach Florenz und die Gewaltfrage.325 Unter denjenigen Teilnehmern, die sich keiner der drei Strömungen zugehörig fühlten und die Diskussion über die vier oben genannten Punkte nicht für zielführend hielten, wuchs der Unmut

321 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 79f. „‚12) Abriss des Vaterlandsaltars und Ersetzung desselben mit allen möglichen Formen der Vegetation, mit den Tieren, die sich der Initiative spontan anschließen, mit einem Weiher für Schwäne, Enten, Frösche und andere Wassertiere. 13) Alternative Nutzung der Hercules-Flugzeuge um Jugendliche gratis zum Sonnenfest nach Machu Picchu zu transportieren […].‘“ 322 Vgl. Bernocchi (1979), S. 133. 323 Vgl. Paccino (1977), S. 80f. 324 Vgl. Bernocchi (1979), S. 133; Paccino (1977), S. 81. 325 Vgl. Paccino (1977), S. 82f.

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spürbar und einige Anwesende zogen sich aus der überfüllten Aula magna zurück, um in anderen Räumen der Wirtschaftsfakultät eigene Treffen durchzuführen.326 Während sich erste Auflösungserscheinungen bemerkbar machten, verstärkte sich in der Aula magna spürbar die Dominanz der Autonomia, der es gelang, eine Dichotomie zwischen Autonomia und PCI aufzubauen, die alle anderen Positionen negierte.327 Fast alle Debattenbeiträge stammten nun von Exponenten der Autonomia. Als schließlich doch eine abweichende Position laut wurde, explodierte die Stimmung: Eine Vertreterin des PdUP aus Venedig bezeichnete die Ereignisse vom 17.2.1977 als ‚schmerzhafte Spaltung der Bewegung‘ und wurde anschließend von wütenden Protesten übertönt. Es folgten Slogans, Handgreiflichkeiten und Drohungen.328 Nach der Mittagspause präsentierte sich den zurückkehrenden Teilnehmern der Versammlung ein unerwartetes Bild: Ein Gruppe von Feministinnen hatte den Vorsitz besetzt. Eine der Frauen verlas eine Erklärung: „‚Denunciamo le prevaricazioni di questa assemblea, che non permette un reale confronto politico. Qui c’è uno scontro tra ideologie e gruppi politici più o meno organizzati che vogliono strumentalizzare il movimento.‘“329 Es folgten Pfiffe und Applaus, Slogans und sexistische Beleidigungen.330 Die ‚rechte‘ Strömung, die vormittags ihren Einfluss auf die Debatte weitgehend eingebüßt hatte, schlug sich nun auf die Seite der Feministinnen und kritisierte die Aggressivität der Debatte. Neben dem allgemeinen Klima in der Versammlung kritisierten die Feministinnen die Tatsache, dass unter den Rednern Frauen bislang völlig unterrepräsentiert waren, und forderten die anwesenden Frauen schließlich auf, mit ihnen eine separate Frauenversammlung abzuhalten. Daraufhin verließen zahlreiche Frauen die Aula magna – viele andere aber blieben zurück. Für die Autonomia-Aktivisten war klar: Die Feministinnen hatten sich vom unterlegenen ‚rechten‘ Flügel der Bewegung instrumentalisieren lassen, um die Versammlung zu sprengen.331 Kaum hatten die Feministinnen ihren Auszug beendet, besetzte mit den ‚Stadtindianern‘ die nächste unzufriedene Gruppe den Vorsitz und verlas ihr Statement: „‚Noi indiani metropolitani denunciamo e rifiutiamo l’allucinante clima di violenza e prevaricazione creatosi in questa assemblea […]. […] [L]a prevaricazione di chi è più rozzo e maschio, la violenza contro gli emarginati che rifiutano di esserlo anche nel movimento, sono gli ultimi e violenti sussulti di un mostro che sta morendo […]. […] Abbiamo l’impressione […] che il Nuovo faccia paura a molti: faccia paura sopratutto a chi tenta di cavalcare il movimento […]. […] Ci dissociamo perciò da qualsiasi conclusione di questa assemblea, dalle migliaia di

326 Vgl. Bernocchi (1979), S. 133; Paccino (1977), S. 82f. 327 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5. 328 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5; Transkription des Beitrags in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 151f. 329 Zitiert nach Paccino (1977), S. 83. „‚Wir verurteilen die Übergriffe in dieser Versammlung, die jede reale politische Auseinandersetzung unmöglich machen. Hier herrscht ein Kampf zwischen Ideologien und mehr oder weniger organisierten Gruppen, die die Bewegung instrumentalisieren wollen.‘“ 330 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5; Il Manifesto vom 1.3.1977, S. 3. 331 Vgl. Paccino (1977), S. 83f.

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mozioni e contromozioni presentate dai professionisti della politica.‘“332 Die Stimmung kochte. Es kam zu Drohungen und Handgemengen.333 Gerade viele der angereisten Versammlungsteilnehmer waren wütend über die endlose Verschleppung der Debatte: „‚Porcoddio, siamo venuti per discutere, non per occupare a turno la presidenza!‘“334 Nachdem auch die ‚Stadtindianer‘ zu einer alternativen Versammlung aufgerufen hatten, wurden sie unter Pfiffen aus dem Saal gedrängt, während sich die ‚rechten‘ Kräfte mit ihnen solidarisierten. In der Aula herrschte nun völliges Chaos: Slogans wurden gerufen, kleine Gruppen diskutierten und immer wieder kam es auch zu Handgreiflichkeiten.335 Während sich die Situation in der großen Aula erst nach einiger Zeit wieder beruhigte, bildeten sich nun eine etwa 1.000 Teilnehmer zählende Parallelversammlung in der Aula II der Wirtschaftsfakultät, an der ‚Stadtindianer‘, ‚Marginalisierte‘ und zahlreiche Aktivisten der mittleren Bewegungsströmung teilnahmen, die den Machtkampf zwischen linkem und rechtem Bewegungsflügel in der großen Aula ablehnten und eine Diskussion in entspannterer Atmosphäre vorzogen.336 Zudem gab es eine separate Versammlung der Feministinnen.337 Die in der großen Aula verbliebenen Vertreter des ‚rechten‘ und des ‚linken‘ Bewegungsflügels drängten auf eine Abstimmung über die vorliegenden Beschlussanträge und hofften, eine Mehrheit für ihre Position zu finden.338 Während in der zentralen Versammlung die Anhänger der Autonomia ihre Dominanz weiter ausbauten und durch die Kontrolle des Vorsitzes gegnerischen Positionen das Rederecht vorenthielten, organisierten die ‚Stadtindianer‘ sowie diejenigen römischen Bewegungsaktivisten, die die Versammlung in der großen Aula verlassen hatten, und Teile der Feministinnen einen spontanen Protestzug: Etwa 1.000 Personen drängten durch die Eingänge der Aula magna, um zu verhindern, dass es in der Aula zu einer Abstimmung käme. Nachdem die in der Aula Magna Anwesenden die Protestierenden zunächst zurückgedrängt hatten, kam es schließlich zu einer Verständigung, in deren Zuge zumindest die ‚Stadtindianer‘ in der Aula Magna blieben.339 Am Ende standen sich drei Beschlussanträge gegenüber: einer aus dem Um-

332 Zitiert nach: Il Manifesto vom 1.3.1977, S. 3; „‚Wir Stadtindianer verurteilen das grauenhafte Klima der Gewalt und des Machtmissbrauchs, das in dieser Versammlung entstanden ist […]. […] [D]er Machtmissbrauch von denen, die grobschlächtiger und männlicher sind, die Gewalt gegen die Marginalisierten, die sich weigern, diese Rolle auch in der Bewegung zu spielen, sind die letzten gewaltsamen Zuckungen eines Monsters, das stirbt […]. […] Wir haben den Eindruck […], dass das Neue vielen Angst macht: Es macht vor allem jenen Angst, die die Bewegung reiten wollen […]. […]Wir distanzieren uns deshalb von jedem möglichen Ergebnis dieser Versammlung, von den Millionen von Anträgen und Gegenanträgen, die von den Politikprofis präsentiert wurden.‘“ 333 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5. 334 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 84. „‚Gottverdammt, wir sind hierher gekommen, um zu diskutieren und nicht um der Reihe nach den Vorsitz zu besetzen!‘“ 335 Vgl. Paccino (1977), S. 85. 336 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5. 337 Vgl. Il Manifesto vom 1.3.1977, S. 3. 338 Vgl. Bernocchi (1979), S. 135. 339 Vgl. La Repubblica vom 4.3.1977, S. 6; Bernocchi (1979), S. 136.

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feld von Lotta Continua, einer der Autonomia und einer des ‚rechten‘ Bewegungsflügels um den PdUP.340 Die Exponenten von Lotta Continua boten schließlich an, ihren Beschlussantrag zurückzuziehen, wenn an dem der Autonomia geringfügige Veränderungen vorgenommen würden, was nach kurzer Debatte geschah.341 So erhielt der Antrag der Autonomia die große Mehrheit der Stimmen, wobei aber wohl nur eine Minderheit der Anwesenden von ihrem Stimmrecht Gebrauch machte.342 Der Inhalt des Abschlussdokuments deckte sich weitgehend mit der bisherigen Positionierung der römischen Bewegung. So wurde der proletarische Charakter der Bewegung unterstrichen und der ‚militante Antifaschismus‘ von der Piazza Indipendenza zum Bestandteil des Bewegungsrepertoires erklärt. Lamas Auftritt auf dem römischen Campus am 17. Februar wurde als Spaltungsversuch verurteilt, dem die gesamte Bewegung angemessen begegnet sei. Ziel der Bewegung sei es, den Kampf gegen die ‚politica dei sacrifici‘343 in Universitäten, Schulen, Fabriken und Stadtvierteln voranzutreiben, wobei Versammlungen die zentralen Organismen der Bewegung sein sollten. Zur FLM-Konferenz in Florenz sollte nur dann eine Delegation entsandt werden, wenn die Gewerkschaft auf jeden Versuch verzichte, die Bewegung in einen gewalttätigen und einen dialogbereiten Flügel zu spalten. Zentral für die Zusammenarbeit von Bewegung und Arbeiterklasse seien ohnehin die ‚Fabrikavantgarden‘ und die Arbeiteropposition und nicht der Gewerkschaftsapparat. Zu guter Letzt wurde für den 12. März eine italienweite Demonstration der Bewegung in Rom beschlossen.344 Insgesamt skizzierte das Abschlussdokument das Programm einer basisdemokratischen und bewegungsförmigen Opposition gegen die Regierung Andreotti und den historischen Kompromiss. Was in dem Abschlussdokument hingegen fehlte, waren jene Inhalte, die gemeinhin als die spezifisch neuen Charakteristika der Bewegung von 1977 gelten: Es war keine Rede von der ‚neuen Art, Politik zu machen‘, von der Auflösung des Widerspruchs zwischen Persönlichem und Politischem oder der Theorie der Bedürfnisse. Es war keine Rede vom ‚jugendlichen Proletariat‘ und der Generationenspezifizität der Bewegung. Auch die spezifische Ausbeutung und patriarchale Unterdrückung der Frauen in der italienischen Gesellschaft spielten keine Rolle. Dennoch waren nicht diese blinden Flecken der Hauptkritikpunkt an der Abschlusserklärung, sondern die Art und Weise, wie sie zustande gekommen war.

340 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5. 341 Vgl. Paccino (1977), S. 86f. 342 Vgl. Corriere della Sera vom 1.3.1977, S. 6; Paccino (1979), S. 87; Bernocchi (1979), S. 136f. 343 ‚Politik der Opfer‘ wurde die Politik der Regierung Andreotti genannt, die aus Sicht der Bewegungsaktivisten den Versuch darstellte, den subalternen Bevölkerungsschichten die Kosten der Wirtschaftskrise aufzubürden. 344 Vgl. Mozione approvata a grande maggioranza dall’Assemblea nazionale del movimento di lotta sviluppatosi nelle Università vom 27.2.1977, in: Froio (1977), S. 109f.; Il Manifesto vom 1.3.1977, S. 3. Wie nahe sich die Autonomia und ihre Kritiker aus der Mitte der Bewegung z.B. in ihrer Bewertung der FLM-Einladung nach Florenz waren, zeigt ein Dokument aus dem Komitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät, das in seinen Grundzügen der Haltung der Autonomia durchaus ähnelt, vgl. Bernocchi (1979), S. 139f.

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All jene, die sich aufgrund des aggressiven Klimas aus der Versammlung zurückgezogen oder aber erst gar keinen Platz in der großen Aula gefunden hatten und so gezwungen gewesen waren, sich als passive Zuhörer mit einer Live-Übertragung in den Vorraum zufrieden zu geben, waren vom Ablauf der nationalen Versammlung ebenso frustriert wie der ‚rechte‘ Bewegungsflügel, der für einen kritischen Dialog mit der traditionellen Linken eintrat.345 Schon am Tag nach dem Ende der nationalen Versammlung fand in der Wirtschaftsfakultät eine Versammlung des Fakultätskomitees der Geisteswissenschaften statt, bei der die Repräsentativität der Beschlüsse vom Vortag in Frage gestellt wurde.346 Einzig aus Sicht der Autonomia-Aktivisten hatte die nationale Versammlung positive Ergebnisse produziert: „‚[…] (S)iamo riusciti ad ‚ufficializzare‘ in un convegno nazionale quella che è stata la pratica del movimento in questo mese di lotte.‘“347 Den Rückzug von Feministinnen und ‚Stadtindianern aus der Versammlung sahen allerdings auch in den Reihen der Autonomia viele als ernstes Problem und bewerteten das Klima der Zusammenkunft rückblickend als problematisch.348 In den Protesten des ‚rechten‘ Flügels der Bewegung um den PdUP sahen die Autonomia-Aktivisten nichts als Taktierertum und Heuchelei: „‚Ci sono state decine di assemblee, in cui i gruppi, con forza dei servizi d’ordine e delle chiavi inglesi, impedivano qualsiasi intervento di singoli collettivi o di singoli compagni, e nessuno si strappava i capelli per questo. […] Però, guarda caso, quando in un’assemblea così importante prevale una linea che relega questi gruppi a un ruolo totalmente secondario, ecco che dobbiamo sentire voci indignate che invocano la democrazia assembleare.‘“349

2.2.4 Zurück auf dem Campus – und in der Stadt Am 1. März wurde der römische Campus wieder geöffnet. Die Furcht der Universitätsleitung vor erneuten Besetzungen und Ausschreitungen erwies sich als unbegründet. Die Aneignungsstrategie der Bewegung hatte sich unter dem Repressionsdruck gewandelt: Es wurde nun nicht mehr versucht, den Campus zu besetzen und zu kon-

345 Vgl. La Repubblica vom 1.3.1977, S. 5. 346 Vgl. Transkription von Ausschnitten der Diskussion in: Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 154f. 347 Ein Aktivist der römischen Autonomia, zitiert nach: Paccino (1977), S. 87. „‚[…] (E)s ist uns gelungen, in einem Kongress das zur offiziellen Linie zu machen, was in diesem Monat des Kampfes die Praxis der Bewegung gewesen ist.‘“ 348 Vgl. Paccino (1977), S. 88f. 349 Ein Aktivist der römischen Autonomia, zitiert nach: Paccino (1977), S. 89. „‚Es gab Dutzende von Versammlungen, in denen die Gruppen mithilfe der Ordnerdienste und der Schraubenschlüssel, jeden Beitrag einzelner Kollektive oder einzelner Genossen verhinderten und niemand riss sich deshalb die Haare aus. […] Aber – was für ein Zufall – wenn sich in einer so wichtigen Versammlung eine Linie durchsetzt, die den Gruppen eine völlig sekundäre Rolle zuweist, schon hören wir entrüstete Stimmen, die die Demokratie in den Versammlungen beschwören.‘“

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trollieren, sondern eher ihn kapillarisch zu durchdringen. Die ersten Märztage auf dem römischen Campus waren bestimmt von zahlreichen Versammlungen, auf denen über Ablauf und Ergebnisse der nationalen Versammlung reflektiert wurde.350 Im Zentrum der Kritik standen dabei die Methoden, derer sich die organisierten Gruppen bedient hatten, um der Bewegung ihre Linie aufzuoktroyieren, und weniger die in der Abschlusserklärung festgehaltenen Positionen der Bewegung. PdUP und AO standen dabei genauso in der Kritik wie die Autonomia.351 Nach mehreren großen Versammlungen ging das Komitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät am 3. März mit seiner Position an die Öffentlichkeit: Die römische Bewegung habe sich dafür eingesetzt, dass die Versammlung in Rom stattfinde, aber man sei nicht in der Lage gewesen, den Ablauf derselben ausreichend zu kontrollieren. So sei es zu Übergriffen von allen Seiten gekommen und die Versammlung sei zu einem Ort der politischen Konfrontation zwischen organisierten Gruppen geworden. Deshalb erachte man das Abschlussdokument nicht als bindend für die zukünftige Praxis der Bewegung – auch aufgrund der Tatsache, dass zahlreiche Themen, die für die römische Bewegung charakteristisch seien, völlig fehlten.352 Mit dieser Distanzierung der Komitees der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Ablauf und Ergebnissen der nationalen Versammlung wurde erstmals die Kluft sichtbar, die sich mittlerweile zwischen der mittleren Bewegungsströmung, zu der das ‚Fakultätskomitee der Geisteswissenschaften‘ gehörte, und der Bewegungslinken, die von der Autonomia repräsentiert wurde, auftat.353 Die Anfangsphase der Bewegung von 1977 war von kurzer Dauer gewesen. Innerhalb von nur einem Monat war die neu entstandene Bewegung zu den Grabenkämpfen zurückgekehrt, die die außerparlamentarische Linke Italiens seit Jahren prägten – allerdings auf erweiterter Stufenleiter: Die Dimension der Bewegung war weitaus größer als alles, was Rom in den letzten Jahren gesehen hatte; und zur dominanten Strömung in der Bewegung war mit der Autonomia eine Kraft geworden, die in den letzten Jahren zwar zunehmend an Einfluss gewonnen hatte, die aber minoritär gegenüber den traditionellen Gruppen der Neuen Linken geblieben war. Nun hatte sich das Blatt gewendet – was sicher nicht nur an der brachialen Vorgehensweise der Autonomia lag, sondern auch daran, dass diese Strömung mit ihrer Betonung der direkten Aktion und der Basispolitik eine Agenda der Radikalität propagierte, die gerade bei vielen jungen Aktivisten auf offene Ohren stieß. Während sich also in den ersten Märztagen die Gräben innerhalb der Bewegung vertieften, griffen ihre Aktivisten zunehmend über den Campus hinaus: Am 1. März kündigten ‚Stadtindianer‘ ein Fest auf dem Campo de’ Fiori im Herzen Roms an und forderten zugleich die Kommune auf, umgehend ein Dutzend genau bezeichnete, leerstehende Gebäude zu beschlagnahmen und der Bewegung als alternative Zentren

350 Vgl. Il Messaggero vom 2.3.1977, S. 4; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 177. 351 Vgl. La Repubblica vom 2.3.1977, S. 4. 352 Vgl. Posizione del comitato di Lettere, Filosofia e Lingue in merito ai lavori ed alle conclusioni dell’Assemblea nazionale del movimento, in: Froio (1977), S. 111f. 353 Vgl. Bernocchi (1979), S. 141.

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zur Verfügung zu stellen – andernfalls werden man sie besetzen.354 Doch nicht nur die kreative Strömung der Bewegung versuchte sich zunehmend in der Stadt zu verankern: Am 4. März wurde eine Delegation der Bewegung zu einer Belegschaftsversammlung in der römischen Telefonfabrik Fatme eingeladen. 200 Studenten diskutierten durchaus konstruktiv mit 3.000 Arbeitern – gewissermaßen als Generalprobe für den FLM-Kongress in Florenz.355 Auch unter den römischen Schülern breitete sich die Bewegungsdynamik immer weiter aus: An mehr und mehr Schulen kam es zu Besetzungen, in deren Rahmen die Lehrveranstaltungen boykottiert und durch eigenen Kurse ersetzt wurden.356 Am 4. März konstatierte La Repubblica angesichts einer rasch wachsenden Agitationswelle, die bis dato schon über 20 römische Schulen erreicht hatte, dass die Schülerbewegung in Rom erstmals seit 1974 wieder wachse.357 Dabei hatten die Schülerproteste ihre Zentren oft nicht mehr an den gutbürgerlichen licei, die in den Jahren nach 1968 zu linken Kaderschmieden geworden waren, sondern eher an proletarischen Schulen der Peripherie, deren Schülerschaft die Wirtschaftskrise deutlich zu spüren bekam. Die politische Agenda der Bewegung variierte von Schule zu Schule, aber umfasste gewöhnlich den Kampf gegen die Malfatti-Reform und den Faschismus sowie das Eintreten für bessere Schulen und mehr Arbeitsplätze für die junge Generation.358

2.2.5 „Panzieri Libero!“ 359 Doch schon bald nach der Wiedereröffnung des Campus erforderten neue Geschehnisse wieder gemeinsames Handeln der Bewegung. Am Abend des 3. März wurde das Urteil in einem Fall gesprochen, der die römische Linke seit über zwei Jahren beschäftigte: Am 28. Februar 1975 war der 23-jährige griechischstämmige Faschist Mikis Mantakas vor dem MSI-Lokal in der Via Ottaviano in Rom im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen Faschisten und Antifaschisten erschossen worden. Fabrizio Panzieri, ein Aktivist der römischen Bewegung, wurde verhaftet und angeklagt, während ein zweiter Verdächtiger Alvaro Lojacono untertauchte. Der Fall wurde zum Skandalon, da Panzieri keine Tatbeteiligung nachgewiesen werden konn-

354 Vgl. Il Messaggero vom 2.3.1977, S. 4; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 177. 355 Vgl. La Repubblica vom 5.3.1977, S. 4. 356 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 177; Il Messaggero vom 2.3.1977, S. 4. 357 Vgl. La Repubblica vom 4.3.1977, S. 5; La Repubblica vom 10.3.1977, S. 5; La Repubblica vom 11.3.1977, S. 7. Für einen filmischen Eindruck von der autogestione an einigen römischen Schulen vgl. AAMOD: Autogestione nella scuola, VHS 2256, 00:08:10-00:23:00. Für eine knappe Darstellung der Kämpfe der italienischen Schüler zwischen 1968 und 1975, vgl. Luciano Aguzzi (1976): Scuola, studenti e lotta di classe. Un bilancio critico del movimento degli studenti medi dal `68 ad oggi. Mailand, S. 7 – 53. 358 Vgl. La Repubblica vom 4.3.1977, S. 5. 359 „Freiheit für Panzieri!“.

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te. Ein Solidaritätskomitee entstand, dem der prominente PCI-Parlamentarier Umberto Terracini vorstand. In der Nacht vom 3. zum 4. März 1977 wurde das Urteil gefällt: Panzieri wurde mithilfe eines Gesinnungsparagraphen aus der Zeit des Faschismus wegen ‚concorso morale‘ 360 zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt – was auch in der bürgerlichen Presse mit Kopfschütteln aufgenommen wurde.361 Das Verfahren wegen der tödlichen Schüsse auf Mantakas erhielt seine Brisanz auch durch die Tatsache, dass sich der faschistische Straßenterror in Rom seit Anfang 1977 nochmals verschärft hatte: Am 2. Todestag Mantakas’ – dem 28.2.1977 – schoss ein unbekannter Faschist auf eine Gruppe linker Jugendlicher vor dem Liceo Mamiani. Zwei Schüler wurden verletzt, einer davon schwer.362 Zwei Tage später kam es zu einem ähnlichen Angriff vor der Lehrerbildungsanstalt Margherita di Savoia, wobei der Schütze diesmal glücklicherweise nicht traf.363 Für viele Beobachter lag auf der Hand, dass die Killerkommandos dabei im Rahmen einer neuen Eskalationsstrategie des römischen MSI agierten.364 Der Schuldspruch gegen Panzieri war am Tag nach der Urteilsverkündung das Hauptthema in der römischen Bewegung und beendeten die relative Ruhe der ersten Märztage: In zahlreichen römischen Schulen kam es zu Streiks und Demonstrationen gegen das Urteil.365 Zentrum der Proteste war aber einmal mehr der Campus: Während in verschiedenen Fakultäten auf Versammlungen über das Urteil debattiert wurde, versammelten sich 2.000 Schüler auf dem Campus und führten eine Demonstration in einem nahegelegenen Wohnviertel durch.366 Gleichzeitig wurde die Physikfakultät aus Protest gegen das Panzieri-Urteil symbolisch besetzt. Da die Besetzer jedoch niemandem den Zugang zum Gebäude verwehrten, erwarteten sie kein Einschreiten der Polizei. Doch sie lagen falsch: Umgehend tauchten starke Polizeikräfte in voller Kampfmontur auf. Die Besetzer zogen sich kampflos zurück, doch die Konfrontation blieb dennoch nicht aus: Als die Polizeieinheiten beim Abzug auf eine kleine Spontandemonstration von Studenten trafen, die gegen die Polizeipräsenz auf dem Campus protestierten, und einer der Studenten eine angebissene Birne in Richtung der Polizisten warf, wurden die Protestierer mit Tränengasgranaten, Schlagstö-

360 ‚Geistige Beihilfe‘. 361 Vgl. La Repubblica vom 5.3.1977, S. 1f.; Il Messaggero vom 5.3.1977, S. 5. Besonders absurd wurde das Urteil durch die Tatsache, dass der Hauptangeklagte Lojacono in Abwesenheit freigesprochen worden war und Panzieri, sein angeblicher Helfershelfer, dennoch für ‚concorso morale‘ verurteilt wurde, vgl. Il Messaggero vom 5.3.1977, S. 5. 362 Vgl. Il Messaggero vom 1.3.1977, S. 4; L’Unità vom 1.3.1977, S. 8; Il Messaggero vom 2.3.1977, S. 4. 363 Vgl. Il Messaggero vom 3.3.1977, S. 4. 364 Vgl. La Repubblica vom 4.3.1977, S. 5. 365 Vgl. Il Messaggero vom 5.3.1977, S. 5. 366 Zunächst hatten die Schüler eine Demonstration zum Justizpalast geplant, auf diese dann aber verzichtet, weil angesichts des massiven Polizeiaufgebotes rund um den Justizpalast klar war, dass die Polizei keine Demonstration dulden würde und Ausschreitungen unvermeidlich wären, vgl. La Repubblica vom 4.3.1977, S. 5; Vgl. Paccino (1977), S. 92.

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cken und Gewehrkolben angegriffen.367 „I giovani sono stati inseguiti fin dentro l’edificio, malmenati, alcuni scaraventati a terra, altri percossi con i calci dei fucili.“368 Sowohl die Universitätsleitung als auch die Ordnungskräfte verfolgten nun offensichtlich eine Null-Toleranz-Linie gegenüber der Bewegung.369 Am Nachmittag fand eine Vollversammlung der Bewegung in der überfüllten Aula 1 der Jurafakultät statt, bei der eine Demonstration für den kommenden Tag beschlossen wurde, die vom Campus zum Gefängnis Regina Coeli gehen sollte, wo Panzieri einsaß. Angesichts der Ereignisse des Tages war den Anwesenden klar, dass Auseinandersetzungen mit der Polizei kaum vermeidbar sein dürften. So wurde beschlossen, dass anstelle eines separaten Ordnerdienstes alle Basisstrukturen der Bewegung im Sinne einer ‚massenhaften Selbstverteidigung‘ für die Sicherheit der Demonstration sorgen sollten.370 Am nächsten Tages wurde rasch deutlich, dass die Staatsmacht die geplante Demonstration nicht akzeptieren würde: Etwa 1.000 Mann der Celere und der Carabinieri umstellten die Città universitaria und alle Personen, die auf den Campus wollten, mussten sich Durchsuchungen unterziehen.371 Trotz dieses abschreckenden Szenarios sammelten sich bald über 10.000 Teilnehmer auf dem Campus und begannen sich gegen 16.30 Uhr als Demonstrationszug hinter einem Fronttransparent zu formieren, auf dem zu lesen stand: „‚Fabrizio Panzieri è innocente‘“372 . Schließlich beschied der zuständige Vizepolizeipräsident vor Ort nach Rücksprache mit höheren Stellen ohne Angabe von Gründen ein definitives Verbot der Demonstration. Erneute Gesprächsversuche von Seiten der Demonstranten scheiterten, die Polizei forderte nun die sofortige Auflösung der Versammlung.373 Für viele war klar, dass Innenminister Cossiga selbst ein Machtwort gesprochen hatte, um ein Exempel zu statuieren.374 Die Stimmung kochte. Demonstrationsspitze und Polizeiketten standen sich reglos gegenüber. Schließlich reichte ein Funke, um die Situation zur eskalieren: Auf der Flä-

367 Vgl. Il Messaggero vom 5.3.1977, S. 5; Paccino (1977), S. 92f. Universitätsrektor Ruberti rechtfertigte den Polizeieinsatz später mit einem Angriff der Besetzer auf den Präsidenten der Physikfakultät Chiarotti, was von den Besetzern als Lüge zurückgewiesen wurde, vgl. Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5; Paccino (1977), S. 93. 368 Il Messaggero vom 5.3.1977, S. 5. „Die Jugendlichen wurden bis in die Gebäude verfolgt, verprügelt, einige wurden auf den Boden geschleudert, andere mit Gewehrkolben gedroschen.“ 369 Vgl. Il Messaggero vom 5.3.1977, S. 5. 370 Vgl. Bernocchi (1979), S. 142. 371 Vgl. La Repubblica vom 6./7.3.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 142f. 372 Zitiert nach: Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5. „‚Fabrizio Panzieri ist unschuldig‘“. 373 Vgl. Comunicato stampa della commissione controinformazione del movimento di lotta dell’Università, in: Froio (1977), S. 114f.; Bernocchi (1979), S. 143; Paccino (1977), S. 93ff.; Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5; La Repubblica vom 6./7.3.1977, S. 3. 374 Vgl. La Repubblica vom 6./7.3.1977, S. 3.

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che zwischen Studenten und Polizei explodierte etwas375 und sofort schoss die Polizei zahlreiche Tränengasgranaten auf Körperhöhe gegen die Demonstration. Die Studenten ihrerseits reagierten mit Steinen und Molotowcocktails und verbarrikadierten den Eingang zum Campus, um der Polizei das Vorrücken zu erschweren. Während sich die Staatsmacht am Haupteingang des Campus konzentrierte, wo sie auf heftigen Widerstand stieß, verließ der Großteil der Demonstrationsteilnehmer die Città universitaria durch den Hintereingang an der Via De Lollis in Richtung San Lorenzo. Auf der Via Tiburtina formierte sich rasch ein Demonstrationszug mit etwa 10.000 Teilnehmern, der sich in Richtung Innenstadt bewegte. Die überraschten Polizeieinheiten, die Auseinandersetzungen auf dem Campus erwartet hatten, versuchten erfolglos, den Protestzug Richtung Innenstadt zu unterbinden: Während der Demonstrationszug weitgehend friedlich ins Zentrum zog und so schließlich die Piazza Venezia erreichte, kam es immer wieder zu heftigen Zusammenstößen zwischen von hinten aufrückenden Polizeieinheiten und Gruppen von Protestierern, die sich zurückfallen ließen, um die Demonstration zu decken.376 Im Verlauf der Auseinandersetzungen setzte die Polizei Tränengasgranaten und Schlagstöcke, die Demonstranten Steine, Knüppel und Molotowcocktails ein und es wurden immer wieder Schüsse von beiden Seiten abgegeben.377 Die Manöver der Polizei wurden durch den ständigen Barrikadenbau der Demonstranten erschwert, die zahllose Autos und mehr als einem Dutzend Busse entlang der Demonstrationsroute auf die Straße schoben und zum Teil anzündeten.378 In der Innenstadt häuften sich militante Aktionen entlang der Demonstrationsroute.379 Gruppen von Demonstranten griffen immer wieder einzelne Objekte an: So wurden Molotowcocktails gegen das Justizministerium und die Carabiniere-Kaserne an der Piazza Farnese geschleudert und die Scheiben des Hotel Palatino in der Via Cavour eingeschlagen, in dem der MSI schon mehrere Kongresse abgehalten hatte. Außerdem versuchten Demonstrationsteilnehmer erfolglos, ein Waffengeschäft zu plündern.380 Der direkte Weg zum Gefängnis Regina Coeli war dem Demonstrationszug allerdings verwehrt: Die Garibaldi-Brücke war von der Polizei gesperrt worden und wurde nicht nur mit Tränengas, sondern auch mit scharfen Schüssen verteidigt. Im Zuge der Auseinandersetzungen in der Innenstadt spaltete sich die Demonstration in zahlreiche kleine Gruppen auf. Wie angespannt und unübersichtlich die Lage in der römischen Innenstadt war, zeigte die Tatsache, dass der Republikpräsident Leone, der sich auf dem Weg vom Flughafen ins Quirinale befand, mitsamt seiner Eskorte eine Stunde auf der römischen Ringautobahn warten musste, bevor der Weg zu seinem Amtssitz ausreichend sicher erschien. Schließlich gelang es Teilen der Demonstranten über Umwege die andere Tiberseite zu errei-

375 Die Polizei behauptete, es habe sich um einen Böller oder eine ‚bomba carta‘ (einen selbstgebauten starken Böller) gehandelt. Die Demonstranten sagten hingegen, es sei eine defekte Tränengasgranante gewesen, vgl. La Repubblica vom 6./7.3.1977, S. 3. 376 Vgl. La Repubblica vom 6./7.3.1977, S. 3; Bernocchi (1979), S. 143; Paccino (1977), S. 93ff.. 377 Vgl. Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5. 378 Vgl. Bernocchi (1979), S. 143; Paccino (1977), S. 93ff.; Il Messaggero vom 6.2.1977, S. 5. 379 Vgl. La Repubblica vom 6./7.3.1977, S. 3. 380 Vgl. Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5; Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 2.

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chen, woraufhin sich die Auseinandersetzungen auf Trastevere konzentrierten. Doch auch von dieser Tiberseite aus gelang es den Demonstranten nicht, bis zum Gefängnis Regina Coeli durchzukommen, in dem Panzieri einsaß. Erst gegen zehn Uhr Abends endeten die Ausschreitungen nach knapp fünf Stunden.381 Angesichts der bislang härtesten Konfrontation zwischen der Bewegung und der Staatsmacht hielten sich die Folgen in Grenzen:382 Teile der römischen Innenstadt glichen einem Schlachtfeld, zwei Polizisten waren durch Schüsse leicht verletzt, sieben zumeist sehr junge Demonstranten verhaftet worden.383 Die anschließende Nacht war unruhig: Es kam zu mindestens vier Anschlägen auf Polizeistationen und Parteilokale der DC.384 In der Causa Panzieri kam es gut sechs Wochen später zu einer absurden Volte: Ein Berufungsgericht setzte Panzieri am 23. April aufgrund seines prekären Gesundheitszustands völlig überraschend auf freien Fuß.385 Selbst der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft Pasquale Pedote zeigte sich zufrieden: „‚Panzieri non ha ucciso nessuno. Condivido la decisione presa.‘“386 Die Universitätsleitung reagierte umgehend auf die Ausschreitungen vom 5. März: Der akademische Senat beschloss am 6. März die Schließung des Campus bis zum 11. März, um weitere ‚Spannungen zu vermeiden‘.387 Auf dem Campus patrouillierten in den folgenden Tagen Polizeieinheiten in kugelsicheren Westen, um jeden Versuch einer erneuten Besetzung der Città universitaria zu unterbinden.388 Trotz des Rückschlags, den der Verlust des Campus als politischer Handlungsraum und als Bühne für die Bewegung bedeutete, war die politische Bewertung der Ereignisse vom 5. März in weiten Teilen der Bewegung unstrittig: Die Durchsetzung der Demonstration trotz des Verbots wurde als großer politischer Sieg gefeiert. Die Bewegung habe ihr Recht bekräftigt, zu demonstrieren, wann und wo sie wolle. 389 Besonders wichtig war dabei die Verortung des Protests: Die Bewegung stellte ihre (Gegen-)Macht dadurch unter Beweis, dass sie sich allen Versuchen der Staatsmacht zum Trotz das Zentrum der italienischen Hauptstadt vorübergehend angeeignet hatte.390 Auf der ersten Vollversammlung nach den Straßenschlachten im Studentenwohnheim der Via De Lollis am 7.3.1977 wurde jede Spaltung der Bewegung in ‚gut‘ und ‚böse‘ zurückgewiesen und unterstrichen, dass die Bewegung insgesamt

381 Vgl. Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5; Paccino (1977), S. 96. 382 Vgl. Corriere della Sera vom 6.3.1977, S. 1; Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5. 383 Vgl. Il Messaggero vom 7.3.1977, S. 5. Die Zahl der verletzten Demonstranten war unbekannt, da diese versuchten einer Festnahme zu entgehen, vgl. Il Messaggero vom 6.3.1977, S. 5. 384 Vgl. Il Messaggero vom 7.3.1977, S. 5. 385 Vgl. Corriere della Sera vom 24.4.1977, S. 7. 386 Zitiert nach: Corriere della Sera vom 24.4.1977, S. 7. „Panzieri hat niemanden umgebracht. Ich teile die getroffene Entscheidung.“ 387 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 178; Bernocchi (1979), S. 144. 388 Vgl Paccino (1977), S. 97. 389 Vgl. Comunicato stampa della commissione controinformazione del movimento di lotta dell’Università, in: Froio (1977), S. 114f.; Paccino (1977), S. 96; Bernocchi (1979), S. 144. 390 Vgl. Paccino (1977), S. 96.

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die Konfrontation in Kauf genommen habe, um ihr Demonstrationsrecht durchzusetzen.391 Die humorvollste Version dieser Position boten die ‚Stadtindianer‘ mit ihrer Pressemitteilung, die den hysterischen Ton großer Teile der Berichterstattung nach dem 5. März aufgriff und die immer wiederkehrende Konstruktion ad absurdum führte, derzufolge eine kleine Minderheit radikaler Autonomer die große Mehrheit der Bewegung für ihre sinistren Zwecke instrumentalisiert habe: „‚Vogliamo respingere le false versioni […]. […] (N)oi in effetti eravamo scesi in piazza credendo erroneamente di svolgere una manifestazione unitaria contro la sentenza Panzieri, ma in difesa delle istituzioni giuridiche. Non essendo abituati al libero arbitrio e mancando di una salda e sana guida, non abbiamo compreso che il lancio di candelotti e le raffiche di mitra della polizia ci comunicavano che la manifestazione era illegale e abbiamo così seguito 50 Autonomi […]. […] (S)iamo stati raggiunti da cittadini che avevano risposto a un appello dell’emittente sovversiva Radio Città Futura scendendo in piazza contro la loro volontà, in questa manipolazione della coscienza degli ascoltatori, ravvisiamo il reato di Concorso Morale. Questi 50 squadristi ci hanno poi convinti a tirare delle bottiglie contro le autoblindo che con nostro stupore si incendiavano, mentre la più parte di noi ancora in stato confusionale e vittima delle sottili arti di persuasione occulta di questi criminali si trascinava al loro seguito, costoro iniziavano a distribuire fucili automatici spacciandoli per innocenti fiaccole.‘“392 Doch selbst die drastische Ironie der ‚Stadtindianer‘ sollte nicht ausreichen, um das festgefügte Weltbild manches Journalisten ins Wanken zu bringen: Gustavo Selva, Nachrichtendirektor des zweiten Radioprogramms, nahm das Kommuniqué ernst und erklärte in den Abendnachrichten vom 6. März, dass sich die ‚Stadtindianer‘ von den Autonomen losgesagt hätten.393 Die ‚Stadtindianer‘ ernannten ihn daraufhin zum „‚scemo della settimana‘“394 und erklärten in der Versammlung vom 7. März: „‚Indubbiamente la struttura caratteriale di Selva, frutto evidente di una travagliata infanzia, non gli consente di rispondere alla forza della

391 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 178. 392 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 98f. „‚Wir wollen die falschen Darstellungen zurückwiesen […]. […] (W)ir sind tatsächlich auf die Straßen gegangen, weil wir fälschlicherweise an einer Einheitsdemonstration gegen das Panzieri-Urteil, aber für die Verteidigung der juristischen Institutionen teilzunehmen glaubten. Da wir die Willensfreiheit nicht gewohnt waren und uns eine feste und gesunde Führung fehlte, verstanden wir nicht, dass die Tränengasgranaten und die MP-Salven der Polizei uns kommunizieren sollten, dass die Demonstration illegal war, und so sind wir 50 Autonomen gefolgt […]. (W)ir begegneten Bürgern, die einem Aufruf des subversiven Senders Radio Città Futura gefolgt waren und gegen ihren Willen auf die Straße gegangen waren. In dieser Bewusstseinsmanipulation der Zuhörer erkennen wir den Straftatbestand der ‚moralischen Mitwirkung‘. Diese 50 Squadristen haben uns dann überzeugt, Flaschen auf gepanzerte Fahrzeuge zu werfen, woraufhin sich diese zu unserem Entsetzen entzündeten. Während die Mehrheit von uns noch in einem Zustand der Verwirrung war und den subtilen Geheimüberredungskünsten dieser Kriminellen zum Opfer fiel, begannen diese automatische Gewehre zu verteilen, die sie als unschuldige Fackeln ausgaben.‘“ 393 Vgl. La Repubblica vom 8.3.1977, S. 4; Paccino (1977), S. 97ff. 394 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 98. „‚Dummkopf der Woche‘“.

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nostra ironia con altre armi che non siano la violenza della propria patologica idiozia.‘“395

2.3 Eskalation 2.3.1 Der Tod Lorussos und die nationale Demonstration vom 12. März Während in Rom die Anspannung angesichts des Näherrückens der italienweiten Demonstration am 12. März stieg, kam es am 11. März in Bologna zu einem Ereignis, das die weitere Entwicklung der Bewegung nachhaltig beeinflussen sollte. Nachdem eine Gruppe von Bewegungsaktivisten eine Versammlung der katholischmystizistischen Organisation Communione e Liberazione im Anatomieinstitut der Universität von Bologna gestört hatte, rief der Rektor die Polizei. Im Anschluss an die darauf folgende Polizeiintervention kam es auf den Straßen des Universitätsviertels zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bewegungsaktivisten und Sicherheitskräften, in deren Verlauf der 25-jährige LC-Aktivist und Medizinstudent Francesco Lorusso von den Sicherheitskräften erschossen wurde.396 In den folgenden Stunden wurde Bologna von den heftigsten Ausschreitungen erschüttert, die die Stadt in ihrer jüngeren Geschichte erlebt hatte: Bis zu 4.000 Jugendliche griffen Polizeistationen an, schlugen Schaufenster ein, kippten Autos um und zündeten sie an. Die Provinzzentrale der Democrazia Cristiana wurde angegriffen und der Bahnhof besetzt und blockiert. Es fielen Schüsse.397 Francesco Lorusso war der erste Tote jener Bewegung, die sich seit Anfang Januar mit rasender Geschwindigkeit entwickelt hatte. Sein Tod ließ bei vielen seiner Mitstreiter ein Gefühl von Trauer, Ohnmacht und Wut aufkommen, das sich in unzähligen Artikeln, Leserbriefen, Ansprachen, Graffiti, Gedichten, Slogans und Aktionen niederschlug. Rosso, die in ganz Italien Verbreitung findende Zeitschrift der Mailänder Autonomia Operaia betitelte ihre Ausgabe vom März 1977 nach den Ausschreitungen, die auf Francesco Lorussos Tod folgten: „Avete pagato caro…non avete pagato tutto!“398 Darunter war ein Foto von vermummten Demonstranten zu sehen, die Molotowcocktails, Eisenstangen und Pistolen in die Höhe reckten. In den Bewegungsmedien erschienen zahlreiche Gedichte,

395 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 97. „‚Zweifellos erlaubt es die Charakterstruktur Selvas, die das offensichtliche Produkt einer schwierigen Kindheit ist, ihm nicht, auf die Kraft unserer Ironie mit anderen Waffen zu antworten, als mit der Gewalt der eigenen pathologischen Idiotie.‘“ 396 Vgl. Corriere della Sera vom 12.3.1977, S. 1. Der Carabiniere, der Lorusso erschoss, wurde freigesprochen, vgl. De Luna (2009), S. 28. 397 Vgl. Corriere della Sera vom 12.3.1977, S. 1; La Repubblica vom 12.3.1977, S. 1. 398 Vgl. Rosso 17/18 (1977), Titelseite. „Ihr habt teuer bezahlt… ihr habt noch nicht alles bezahlt!“

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die dem Toten gewidmet waren.399 In einem dieser Gedichte, das in Lotta Continua veröffentlicht wurde, wurde nicht nur Francesco Lorusso, sondern unter anderem auch dem 1976 in Rom erschossenen LC-Aktivisten Pietro Bruno gedacht und Lorusso so in eine Reihe mit anderen von den Sicherheitskräften getöteten Aktivisten gestellt: „‚[…] Non ti conoscevo Francesco / Non so se ci saremmo mai incontrati. / A Bologna, un viaggio. / O in qualche altro posto, una riunione. / Avremmo mangiato insieme, / e bevuto e scherzato e parlato? / Chissà se il tuo accento barese / si sentiva ancora sotto la parlata del Nord? / Tutto questo, forse, non sarebbe mai successo. / Ora non è più possibile. / Ora non è più possibile / Perché ora vi conosco. Tu Pietro e tu Francesco / […] / a altri e altri ancora, / vi conosco nella morte. / Assassinati! / Dagli assassini di Stato! / ll vostro nome, il vostro volto / ora mi è familiare / e vorrei che non lo fosse‘“.400 Neben solchen politischen Versuchen der Sinnstiftung kursierten auch persönlichere Auseinandersetzungen mit dem Tod Lorussos in der Bewegungsöffentlichkeit wie das Gedicht einer Freundin des Toten: „‚Non ci credo, Francesco, / che tu sia morto. / […] Ricordi quel mattino / quando un gatto nero / morì sotto i nostri occhi? / Ci sentivamo strani, / pessimisti. E tu dicevi: / che brutta la morte! / […] Perché mancavi ieri al funerale / del compagno ucciso? / Non ci credo, Francesco‘“.401 Auffällig war wie sich die neuen Formen des politischen Aktivismus mit ihrer Betonung der Subjektivität und Individualität auch in der Trauerkultur der Bewegung einschrieben: War um Fabrizio Ceruso im Herbst 1974 noch als um einen ‚gefallenen‘ kommunistischen Militanten getrauert worden, so wurde Francesco Lorusso im Frühjahr 1977 auch als Individuum in den Mittelpunkt der Sinnstiftungsversuche gerückt. Zudem spielte die Subjektivität der Autoren in den Trauergedichten für Lorusso eine wichtigere Rolle als die objektiven Fakten und die dezidiert politische Sinngebung: Politisches und Persönliches waren 1977 ungleich enger verbunden als dies wenige Jahre zuvor der Fall gewesen war und der Tod eines Genossen war inzwischen vor allem auch eine persönliche Tragödie. Die Nachrichten aus Bologna erreichten die römische Bewegung zuerst durch die freien Radiosender. Sofort wurde eine Versammlung im Studentenwohnheim der Via 399 Vgl. z.B. Lotta Continua (Hg.)(1978): Care compagne, cari compagni. Lettere a Lotta Continua. Rom, S. 17f.; S. 46f.; S. 62f.; Grispigni (1997), S. 43. 400 Zitiert nach: Lotta Continua (1978), S. 17f. „‚[…] Ich kannte Dich nicht Francesco / Ich weiß nicht ob wir uns jemals getroffen hätten. / In Bologna, eine Reise. / Oder an irgendeinem anderen Ort bei einem Treffen. / Hätten wir zusammen gegessen, / getrunken, gescherzt und geredet? / Wer weiß ob man deinen Akzent aus Bari / noch unter dem Dialekt des Nordens hörte? / All das wäre vielleicht nie geschehen. / Jetzt ist es nicht mehr möglich. / Jetzt ist es nicht mehr möglich / Weil ich Euch kenne. Dich Piero und Dich Francesco / […] / und viele viele andere, / ich kenne Euch im Tod. / Ermordet!/ Von den Mördern des Staates! / Euer Namen, euer Gesicht / ist mir jetzt vertraut / und ich wollte, dass es nicht so wäre‘“. 401 Zitiert nach: Lotta Continua (1978), S. 46f. „‚Ich kann es nicht glauben Francesco, / dass Du tot bist. / […] Erinnerst Du dich an jenen Morgen / als ein schwarzer Kater / unter unseren Augen starb? / Wir fühlten uns seltsam / pessimistisch. Und Du sagtest: / wie scheußlich der Tod ist! / […] Warum fehltest Du gestern beim Begräbnis / des getöteten Genossen? / Ich kann es nicht glauben, Francesco‘“.

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De Lollis einberufen.402 Die etwa 2.000 Anwesenden interpretierten den Tod Lorussos als gezieltes Manöver des Staates, um die Bewegung zu stoppen.403 Allerdings waren die Schlussfolgerungen, die die verschiedenen Strömungen aus dieser Interpretation zogen, durchaus unterschiedlich: Die Aktivisten der Autonomia begriffen die für den folgenden Tag geplante Großdemonstration auch als militärische Kraftprobe mit dem Staat, bei der es zu beweisen galt, dass man sich durch brutale Repression nicht einschüchtern ließ,404 argumentierten die moderateren Kräfte, dass die staatliche Provokation genau auf eine weitere Eskalation der Auseinandersetzung zwischen Bewegung und Staat abziele, um die Bewegung so zu isolieren.405 Betrachtet man die beiden diskutierten Vorgehensweisen nicht nur im Sinne ihrer logischen, sondern auch im Sinne ihrer praktischen Logik, so wird die fundamentale Differenz unmittelbar deutlich: Während die Strömung der Autonomia auf den als ‚Herausforderung‘ begriffenen Angriff durch den Staat mit einer ebenfalls gewaltsamen ‚Erwiderung‘ reagieren wollte, um so die ‚Entehrung‘ zu vermeiden, plädierten die moderateren Kräfte für das ‚Nichtparieren‘ der ‚Herausforderung‘ und nahm somit die ‚Entehrung‘ in Kauf.406 Während das Spektrum der Autonomia die politische Entscheidung also im Sinne der praktischen Logik traf, obsiegte bei den moderateren Kräften die logische Logik der politischen Strategie, derzufolge eine Zuspitzung der Konfrontation letztlich dem Staat in die Hände spielen würde. Angesicht dieser Anwendung vollkommen unterschiedlicher Logikformen beantwortet sich die Frage nach einer möglichen Einigung der beiden Positionen von selbst. Am Abend folgte eine Versammlung, auf der die letzten Entscheidungen für die Demonstration getroffen werden sollten. Es wurde beschlossen, dass der Demonstrationszug von den Genossen aus Bologna mit einem Transparent im Gedenken an Francesco Lorusso eröffnet werden und nicht von Organisationsfahnen, sondern einzig von inhaltlichen Transparenten gegen die Regierung, für die Freiheit Panzieris Paolos und ‚Daddos‘ und für mehr Arbeitsplätze geprägt sein sollte. Außerdem wur-, de beschlossen, jedes Eingreifen der Polizei als Aggression zu werten und entsprechend zu beantworten. Die Aktivisten der Autonomia konnten ein gewisses Erstaunen nicht verbergen, dass diese konfrontativen Positionen von den moderaten Kräften mitgetragen wurden. In ihren Augen war der Tod Lorussos dafür ausschlaggebend: Die Funktionäre von Gruppen wie dem PdUP oder AO wussten, dass ange-

402 Vgl. Paccino (1977), S. 102f.; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 179. 403 Vgl. Paccino (1977), S. 103; Bernocchi (1979), S. 146. Derartige Interpretationen erhielten u.a. durch Zeugenaussagen Nahrung, die besagten, dass nicht nur ein uniformierter Carabiniere, sondern auch Angehörige eines zivilen Sonderkommandos auf Lorusso geschossen hätten, vgl. Corriere della Sera vom 12.3.1977, S. 1. Ähnliches berichtete auch der Carabiniere Lorenzo Tramontani, der auf Lorusso geschossen hatte, vgl. Corriere della Sera vom 13.2.1977, S. 2. 404 Vgl. Paccino (1977), S. 105ff. 405 Vgl. Bernocchi (1979), S. 146f. 406 Vgl. Bourdieu (1987), S. 184. Zurückgegriffen wird auf das Schema des ‚Spiels der Ehre‘ in der kabylischen Gesellschaft.

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sichts des Todes von Lorusso die Wut auch bei der eigenen Basis so groß war, dass Zurückhaltung schwer vermittelbar gewesen wäre.407 Vertreter der Bewegung formulierten die Ergebnisse der Versammlung gegenüber Pressevertretern folgendermaßen: „‚Sarà una manifestazione pacifica e di massa, ma non tolleremo che ci venga impedita: se ci sarà una proibizione, il ministro Cossiga si assumerà la responsabilità di tutto quello che può accadere.‘“408 Während die Presse über Delegationen aus 25 Städten berichtete, die zur Demonstration erwartet wurden und zum Teil ganze Sonderzüge gestellt bekamen, ließ das Innenministerium verlauten, man wisse nichts von einer für den kommenden Tag geplanten Demonstration und könne diese deshalb weder erlauben noch verbieten.409 Der darauf folgende Tag begann mit einem Schulstreik und einer Demonstration von etwa 10.000 römischen Schülern, um gegen die Tötung Francesco Lorussos zu protestieren.410 Die Kraftprobe zwischen Staatsmacht und Bewegung aber folgte am Nachmittag. Rom befand sich im Belagerungszustand: Fast alle Geschäftsinhaber im Zentrum folgten dem Rat des Polizeipräsidiums und schlossen ihre Geschäfte. Das Zentrum der Hauptstadt war menschenleer. An vielen Kreuzungen waren Polizeieinheiten postiert. Innenminister Cossiga hatte alle verfügbaren Kräfte aufgeboten. Erstmals wurde die Guardia di Finanza neben Polizei und Carabinieri auf einer Demonstration eingesetzt.411 Linke Soldaten berichteten, dass die römischen Kasernen in Alarmbereitschaft versetzt worden seien.412 Zugleich trafen seit dem Morgen immer mehr Demonstrationsteilnehmer aus ganz Italien in Rom ein. Ab 16.00 Uhr sammelten sich dann immer mehr Demonstranten auf der Piazza Esedra. Die Schätzungen variierten bald zwischen 50.000 und 100.000 Teilnehmern.413 Neben den römischen Studenten und Schülern, den Mitgliedern der Gruppen der neuen Linken, den prekär beschäftigten Jugendlichen, den Freaks und ‚Stadtindianern‘, den Feministinnen und den Autonomen waren auch zahlreiche Fabrikräte und Stadtteilkomi-

407 Vgl. Paccino (1977), S. 104ff. 408 Zitiert nach: La Repubblica vom 12.3.1977, S. 1. „‚Es wird eine friedliche Massendemonstration sein, aber wir werden nicht akzeptieren, dass sie uns verwehrt wird: Wenn es ein Verbot geben sollte, wird Minister Cossiga die Verantwortung für all das tragen, was passieren kann.‘“ 409 Vgl. La Repubblica vom 12.3.1977, S. 2. 410 Vgl. Vgl. Lotta Continua vom 13./14.3.1977, S. 1; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 179; Paccino (1977), S. 104. 411 Vgl. Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 4; Il Manifesto vom 13.3.1977, S. 1. 412 Vgl. Lotta Continua vom 13./14.3.1977, S. 1. 413 Die Polizei schätzte gegen 16.30 Uhr, dass über 50.000 auf der Piazza Esedra waren, vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2. Die Schätzung im Corriere della Sera fiel identisch aus, vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1. Die verschiedenen Bewegungsströmungen schätzten zwischen 70.000 und über 100.000, vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 179; Paccino (1977), S. 109; Lotta Continua vom 13./14.3.1977, S. 1.

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tees präsent. Hinzu kamen etwa 10.000 Aktivisten, die aus anderen Städten angereist waren.414 Die Stimmung auf der Piazza Esedra war von Anfang an äußerst angespannt. Der Tod Francesco Lorussos hatte eine Atmosphäre von Wut und Trauer geschaffen, die jeden Moment eskalieren konnte.415 Gruppen von Demonstranten skandierten Slogans wie „‚Carabiniere non lo scordare, abbiamo Francesco da vendicare‘“416. Zahlreiche Demonstranten bewaffneten sich auf der Metro-Baustelle auf der Piazza Esedra mit Eisenstangen. Schon auf der Piazza Esedra waren viele Angehörige des militanten Spektrums der Bewegung vermummt. Unter Trenchcoats und in Umhängtaschen waren Molotowcocktails und andere Utensilien für die erwarteten Auseinandersetzungen verborgen.

Abb. 3.7 12.3.1977: Militante Bewegungsaktivisten bei Demonstrationsauftakt auf der Piazza Esedra.

Gegen 16.30 Uhr platzte die Piazza Esedra aus allen Nähten und die Spitze der Demonstration drängte in Richtung Via Nazionale. Die Via Nazionale, in der das Innenministerium, das römische Polizeipräsidium und der Quirinalspalast lagen, war, wie erwartet, von einem Großaufgebot der Polizei abgesperrt.417 Es folgten langwierige Verhandlungen zwischen Vertretern der Demonstranten und der Polizei. Schließlich nahmen die Demonstranten die angebotene Alternativroute an, obwohl

414 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1; Lotta Continua vom 13./14.3.1977, S. 6; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3. Für einen Eindruck von der Auftaktkundgebung auf der Piazza Esedra vgl. http://www.youtube.com/watch?v=Dmy2f9eQ35k&feature=related (Stand 18.5.2011). 415 Vgl. Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3. 416 Zitiert nach: Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1. „‚Carabiniere, vergiss nicht, wir haben Francesco zu rächen‘“. 417 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1; La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3.

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diese sie mehr um das Zentrum herum als durch dieses hindurch führte und etwa doppelt so lang war wie die ursprünglich geplante Route: Die Demonstration sollte nun über Via Cavour, Fori Imperiali, Piazza Venezia und Largo Argentina, Via Arenula und den Lungotevere zur Piazza del Popolo führen.418 Zumindest für den radikalen Teil der Demonstranten war die Annahme der angebotenen Route rein taktischer Natur: Das Akzeptieren der Route ermöglichte es, sich ohne Konfrontation ins Zentrum der Stadt zu bewegen.419 Nun endlich setzte sich die Demonstration in Bewegung. Die Spitze bildete die Delegation aus Bologna mit einem Transparent im Gedenken an Francesco Lorusso: „‚Siamo stanchi di piangere il sangue dei compagni uccisi‘“.420 Direkt dahinter kam eine kompakte Gruppe von Aktivisten der Autonomia. Jeder Abschnitt der Demonstration verfügte über einen eigenen Ordnerdienst. Die Spitze des Zuges erreichte ohne Zwischenfälle das Ende der Via Cavour, während sich der hintere Teil des Zuges noch immer auf der Piazza Esedra befand.421 Gegen 17.30 Uhr, als die Spitze des Zuges die Piazza Venezia erreichte, setzte ein infernalisches Gewitter ein: Es regnete in Strömen, Donnergrollen war zu hören.422 Während die Demonstration durch die Via del Plebiscito weiterzog, veranstalteten auf der Piazza Venezia Feministinnen ein großes Ringelreihen. Gegen 18.00 Uhr hatte die Demonstrationsspitze den Largo Argentina erreicht, als aus einem hinter der Spitze gehenden Abschnitt des Zuges heraus die Parteizentrale der Democrazia Cristiana auf der Piazza del Gesù mit zahlreichen Molotowcocktails angegriffen wurde.423 Die Polizei reagierte sofort mit zahllosen Tränengasgranaten. Sowohl die Demonstrationsspitze auf dem Largo Argentina als auch die Feministinnen in der Via del Plebiscito wurden jeweils von zwei Seiten aus von der Polizei angegriffen. Chaos brach aus.424 Es fielen Schüsse und zwei Polizisten wurden von Kugeln leicht verletzt. Während auf der Piazza del Gesù eine Straßenschlacht tobte, spaltete sich die Demonstration in mindestens drei größere Teile und zahllose kleinere Gruppen auf. Die Demonstrationsspitze baute auf dem Largo Argentina Barrikaden. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf ein Demonstrant von einer Polizeikugel in die Brust getroffen wurde und zusammenbrach. Ein anderer Teil der Demonstranten schlug sich zum Campo de’ Fiori durch. Der dritte und weitaus größte Teil – zu dem auch all jene Demonstranten zählten, die sich noch am Anfang der Demonstrationsroute befanden, als die Ausschreitungen in der Innenstadt begannen – umging die Auseinandersetzungen an der Piazza del Gesù und dem Largo Argentina,

418 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1; Il Manifesto vom 13.3.1977, S. 1. 419 Vgl. Paccino (1977), S. 108. 420 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 109. „‚Wir sind es leid das Blut unserer getöteten Genossen zu beweinen‘“. 421 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1; La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2; Lotta Continua vom 13./14.3.1977, S. 1. 422 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1; La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2. 423 Vgl. Paccino (1977), S. 109; Bernocchi (1979), S. 148. 424 Vgl. Bernocchi (1979), S. 148; Corriere della Sera vom 15.3.1977, S. 2; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3.

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indem sie von der Piazza Venezia aus direkt zum Lugotevere gingen.425 Bald brachen Auseinandersetzungen an verschiedenen Orten in der römischen Innenstadt aus. Die Polizei berichtete von zahlreichen Gruppen von zwei- bis dreihundert Randalierern, die sich koordiniert bewegten und bestimmte Objekte gezielt angriffen.426 Im Lagezentrum der Polizei drohte man den Überblick zu verlieren. Die Schaufenster von Banken und Geschäften wurden eingeschlagen, Autos auf die Straße gerollt, angezündet oder demoliert, das Justizministerium und die chilenische Botschaft wurden ebenso angegriffen wie das Verlagshaus der katholischen Tageszeitung Il Popolo, Niederlassungen von Fiat, Ford und Alfa Romeo, ein Bürogebäude der Telefongesellschaft SIP und der Sitz der Erdölgesellschaft Gulf. Mannschaftswägen der Polizei und ein Übertragungswagen der staatlichen Fernsehgesellschaft RAI gingen in Flammen auf.427 Überall traf die Polizei bei ihrem Vorgehen auf erbitterten Widerstand: Die extremen Schwierigkeiten der Sicherheitskräfte spiegelten sich auch in der Tatsache, dass sie in den ersten Stunden der Auseinandersetzung keine einzige Festnahme machten.428 Bald weiteten sich die Auseinandersetzungen auch auf die andere Tiberseite aus, wo im Viertel Prati unter anderem das lokale Kommissariat angegriffen wurde.429 Besonders heikel wurde die Situation aus Sicht der Polizei, als Demonstranten ein Waffengeschäft nahe der Via Giulia plünderten und Dutzende Pistolen und Gewehre sowie Munition erbeuteten.430 Unter den Demonstranten kam es daraufhin zu heftigen Spannungen: Ein Teil der Plünderer wurde von ihren eigenen Genossen gezwungen, erbeutete Waffen in den Tiber zu werfen.431 Immer wieder kam es zu Szenen, bei denen ein Teil der Demonstranten jenen Teil ihrer Genossen, der Autos beschädigte oder Schaufenster einschlug, abzuhalten versuchte oder jenen Slogan skandierte, der seit Wochen von den Gegnern der Autonomia deklamiert wurde: „Via via la falsa Autonomia“.432 Trotz der heftigen Auseinandersetzungen überall in der römischen Altstadt versuchten viele Demonstranten, sich zur Piazza del Popolo durchzuschlagen, wo die Abschlusskundgebung stattfinden sollte. Hier fanden die Zusammenstöße dann ab 19.00 Uhr einen weiteren Höhepunkt: Der Carabinieri-Stützpunkt auf der Piazza del Popolo wurde mehrmals mit Molotowcocktails, Steinen und

425 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1; La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2; Lotta Continua vom 13./14.3.1977, S. 6. 426 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1. 427 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1f.; La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2; Paccino (1977), S. 111. Eine kartographische Aufstellung der wichtigsten Angriffsziele der Demonstranten findet sich in: Il Messaggero vom 13.3.1977, S. 5. 428 Vgl. La Repubblica vom 15.3.1977, S. 4. Für Bilder von der Demonstration und den Ausschreitungen vgl. http://www.complessoperforma.it/77WEB/immagini12marzoroma. HTM und http://www.complessoperforma.it/77WEB/immagini12marzoroma2.htm (Stand 18.5.2011). 429 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 2. 430 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 2; La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2; Bernocchi (1979), S. 148. 431 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2. 432 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2. „Weg, weg mit der falschen Autonomia“.

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Schusswaffen angegriffen, woraufhin es zu heftigen Auseinandersetzungen und einem Schusswechsel zwischen Carabinieri und Demonstranten auf dem Platz kam.433 Je länger die Auseinandersetzungen im Stadtzentrum anhielten, desto häufiger wurden auf beiden Seiten Schusswaffen eingesetzt.434 Über den Polizeifunk kamen inzwischen keine Mahnungen zur Zurückhaltung mehr, sondern Aufforderungen wie diese: „‚Intervenite con estrema decisione, presto sparate!‘“435 Im römischen Polizeipräsidium herrschte Ausnahmezustand. Ein erfahrener Beamter erklärte gegenüber Journalisten: „‚Mai vista una guerra simile. Mai vista lo giuro, in trent’anni che lavoro in questura.‘“436 Ab etwa 20.30 Uhr begannen die Auseinandersetzungen abzuflauen und die organisierten und ortskundigen Demonstranten verließen allmählich das Zentrum.437 Während die römische Altstadt bald wieder unter der Kontrolle der Sicherheitskräfte stand, setzten sich die Ausschreitungen teilweise in Prati fort.438 Auf den Straßen im Zentrum blieben vor allem angereiste Demonstranten zurück, die jede Orientierung verloren hatten. Am späteren Abend kam es im Herzen Roms zu Szenen, die eher einem Bürgerkrieg als einer Straßenschlacht zu entstammen schienen: 400-500 Demonstranten ‚ergaben‘ sich gegen 21:00 Uhr auf der Piazza Venezia mit erhobenen Händen der Polizei, die sie in einem langen Zug, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, abführte.439 Überall in der Stadt errichteten schwer bewaffnete Polizeieinheiten Kontrollposten.440 Den martialischsten Eindruck hinterließen jene Einheiten, die neben kugelsicheren Westen auch die neuen viereckigen kugelsicheren Helme trugen.441 Linienbusse wurden angehalten und ihre Insassen durchsucht, bedroht, geschlagen und teilweise festgenommen und auf den Polizeiwachen verprügelt.442

433 Vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 2; Paccino (1977), S. 110; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3. 434 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2. 435 Zitiert nach: La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3. Ähnlich: Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3. „‚Greift mit aller Härte durch, schießt und zwar schnell!‘“ 436 La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3. „‚Ich habe noch nie einen vergleichbaren Krieg gesehen. In den dreißig Jahren, in denen ich im Polizeipräsidium arbeite habe ich – das schwöre ich – nichts Vergleichbares gesehen.‘“ 437 Vgl. Paccino (1977), S. 111. 438 Vgl. Bernocchi (1979), S. 148. 439 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 2. Fotos in: L’Espresso vom 20.3.1977, S. 10; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 4. 440 Vgl. Bernocchi (1979), S. 148. 441 Vgl. Fotos z.B. in: Il Messaggero vom 13.3.1977, S. 4; L’Espresso vom 20.3.1977, S. 7. 442 Vgl. Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3f. Für Bilder von der Demonstration und den nächtlichen Festnahmen vgl. http://www.complessoperforma.it/77WEB/immagini12 marzoroma.HTM und http://www.complessoperforma.it/77WEB/immagini12marzoroma2 .htm (Stand 18.5.2011).

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Abb. 3.8 Polizeieinheiten am Abend des 12.3.1977 in Rom. Jeder der vier Polizisten im Bild hat seine Dienstwaffe in der Hand.

Allerdings konnte von Ruhe in der Stadt noch lange keine Rede sein: Gegen 22.00 Uhr kam es an einem Kontrollpunkt der Polizei zu einer Schießerei, am Flughafen Fiumicino wurde zwischenzeitlich Alarm ausgelöst, weil Schüsse zu hören waren, und auch Busse von abreisenden Demonstranten wurden – wohl von Zivilpolizisten – beschossen.443 Dass Teile der Sicherheitskräfte auf Rache sannen, wurde im Laufe des späteren Abends vielfach deutlich: Gegen 23.00 Uhr betrat eine etwa 60-köpfige Gruppe junger Männer den Bahnhof Termini und begann dort, die auf ihre Züge wartenden Demonstranten anzugreifen. Zuerst dachten die Anwesenden, es handle sich um einen faschistischen Überfall, doch es wurde schnell klar, dass die mit Pistolen und Schlagstöcken Bewaffneten Polizisten in Zivil waren. Unter Rufen wie „‚Ammazziamoli!‘“444 schlugen sie all jene zusammen, die aussahen als ob sie an der Demonstration teilgenommen hätten, und machten auch immer wieder von ihren Schusswaffen Gebrauch.445 Luca Villoresi, Journalist und Augenzeuge des Überfalls, brachte das Geschehen folgendermaßen auf den Punkt: „Si è trattato, insomma, di un vero e proprio raid squadristico che pone seri e inquietanti interrogativi.“446 Hatte das zivile Spezialkommando einen Befehl für die Aktion erhalten oder übten sie Selbstjustiz? Für erstere Hypothese sprach nicht nur die Tatsache, dass der Schlägertrupp sich für seine Aktion etwa eine Stunde Zeit ließ, sondern auch der Umstand, dass weder die Polizeiwache noch die Carabinieri im Bahnhof trotz wiederholter Auffor-

443 Vgl. Paccino (1977), S. 111ff.; Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 2. 444 Zitiert nach: La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3. „‚Machen wir sie kalt!‘“ 445 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 6. Für Augenzeugenberichte von Demonstranten, vgl. Lotta Continua (1978), S. 18-20. 446 La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3. „Kurz und gut, es handelte sich um einen wahrhaftigen squadristischen Überfall, die ernste und beunruhigende Fragen aufwirft.“

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derung in das Geschehen eingriffen.447 Neben den Angriffen auf abreisende Demonstranten kam es auch zu zahlreichen Übergriffen gegenüber Festgenommenen im Polizeigewahrsam.448 Eine erste Bilanz am späten Abend ging von zehn durch Schüsse verletzten Polizisten und drei verletzten Carabinieri aus, wobei ein Polizist querschnittsgelähmt bleiben sollte.449 Es gab 110 Festnahmen und 31 Verhaftungen. Zwei schwer verletzte Demonstranten tauchen in den offiziellen Statistiken auf.450 Auch in vielen anderen italienischen Städten kam es am 12. März zu Protesten als Reaktion auf den Tod Francesco Lorussos, die zum Teil in Ausschreitungen mündeten. Die heftigsten Auseinandersetzungen außerhalb Roms ereigneten sich abermals in Bologna, aber auch in Mailand, Turin, Padua und Palermo blieb der Tag nicht friedlich.451

2.3.2 Reaktionen und Reflexionen Die Reaktionen auf die heftigen Ausschreitungen vom 12. März waren weitreichend: Während gegen die 31 Verhafteten Schnellverfahren wegen Delikten wie Waffenbesitz, Plünderung und Mordversuch eingeleitet wurden, erließ Innenminister Cossiga ein spektakuläres Dekret, das ein 14-tägiges Demonstrationsverbot für die italienische Hauptstadt vorsah.452 Universitätsrektor Ruberti verlängerte derweil die Schließung der römischen Universität bis zum 16. März.453 Zudem gab der Innenminister den Sicherheitskräften volle Rückendeckung für ihren Einsatz am 12. März. Hinsichtlich der von zahlreichen unabhängigen Zeugen bestätigten Übergriffe im nächtlichen Bahnhof Termini war im Ministerium von „preoccupata comprensione“454 die Rede. Statt Aufklärung kündigte Cossiga eine Aufrüstungsoffensive für die italienische Polizei an: Neue Panzerfahrzeuge, mehr Maschinenpistolen und mehr kugelsichere Westen sollten die Sicherheitskräfte für zukünftige Herausforderungen wappnen.455

447 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3. 448 Vgl. Paccino (1977), S. 113. Für den Bericht eines Betroffenen, vgl. Lotta Continua (1978), S. 47ff. 449 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3; Corriere della Sera vom 15.3.1977, S. 2; Il Corriere della Sera vom 19.3.1977, S. 6. 450 Vgl. La Repubblica vom 13.3.1977, S. 3. Jene verletzten Demonstranten, die dazu in der Lage waren, versuchten wohl bei ihrer Behandlung, den Hintergrund ihrer Verletzungen zu verschleiern, um so einer Festnahme zu entgehen. 451 Vgl. Il Messaggero vom 13.3.1977, S. 3. 452 Vgl. Il Messaggero vom 14.3.1977, S. 1. 453 Vgl. Corriere della Sera vom 15.3.1977, S. 2; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 180. 454 Zitiert nach: La Repubblica vom 18.3.1977, S. 3. „Besorgtem Verständnis“. 455 Vgl. La Repubblica vom 18.3.1977, S. 3.

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Die Anwälte der linken Juristenorganisation Magistratura Democratica456 werteten Cossigas Dekret als Verfassungsbruch, aber der Widerstand aus dem Lager der linken Parteien und Gewerkschaften blieb halbherzig.457 Die Gewerkschaften erklärten sich sogar bereit, den Generalstreik für Beschäftigung am 18. März in Rom um fünf Tage zu verschieben und so in der Hauptstadt erst am 23.3.1977 mit einer Sondergenehmigung des Innenministers auf die Straße zu gehen. Hauptinhalt der Demonstration in Rom sollte nun der Protest gegen Gewalt und nicht mehr gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung sein.458 Es war gerade die traditionelle Linke, die das Thema der Gewalt nach den Ausschreitungen vom 12. März in den Mittelpunkt rückte. Der römische PCI veranstaltete ein Treffen zur öffentlichen Ordnung, bei dem die These des PCI-Bürgermeisters von Bologna Zangheri, nach der ein ‚Komplott‘ hinter den Ausschreitungen stecke, auch auf Rom übertragen wurde:459 „Dunkle Mächte“ – so L’Unità – reagierten auf den wachsenden Einfluss des PCI im Lande mit einer neuen „Strategie der Spannung“.460 Wie sehr die Bewegung den PCI ins Mark getroffen hatte, zeigte die Sitzung des Zentralkomitees der Partei unmittelbar nach dem 12. März: Drei Tage lang, vom 14. bis zum 16. März, stand der Umgang mit der Studentenbewegung im Zentrum der Diskussionen der PCI-Spitze.461 Als Berlinguer nicht wie geplant die Abschlusserklärung abgab, sondern Napolitano einspringen musste, weil sich der PCISekretär nach eigenen Angaben durch den Genuss von Datteln den Magen verstimmt hatte, reagierte die Bewegung amüsiert: Bald kursierte eine Karikatur Berlinguers, dem „datteri in movimento“462 Bauchschmerzen bereiteten – zu ihnen zählte nicht nur ein „dattero metropolitano“463 mit Federschmuck und ein „dattero autonomo“464 mit der charakteristischen Geste465, sondern auch eine mit feministischer Lockenpracht ausgestattete „dattera“466, ein „dattero continuo“467 mit geballter Faust und ein Schraubschlüssel-schwingender „dattero massa“468.469 Weder der Tod Fracesco

456 ‚Demokratische Justiz‘ – Zusammenschluss kritischer Juristen. 457 Vgl. L’Unità vom 15.3.1977, S. 4; La Repubblica vom 16.3.1977, S. 3. 458 Vgl. L’Unità vom 16.3.1977, S. 12; Bernocchi (1979), S. 149; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 180. 459 Vgl. Bernocchi (1979), S. 149; Grispigni (1997), S. 46. 460 Vgl. L’Unità vom 14.3.1977, S. 5. 461 Vgl. L’Unità vom 15.3.1977, S. 1 und S. 6f.; L’Unità vom 16.3.1977, S. 1 und S. 6f.; L’Unità vom 17.3.1977, S. 1 und S. 6f. 462 „Datteln in Bewegung“. 463 „Stadtdattel“ – das Pendant zum Stadtindianer, dem ‚indiano metropolitano‘. 464 „Autonome Dattel“. 465 Diejenige Fraktion der Bewegung, die den Schusswaffengebrauch begrüßte, signalisierte dies auf Demonstrationen durch das Zeigen der ‚Pistolengeste‘, indem sie an der gestreckten Hand Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger abspreizte, während Ringfinger und kleiner Finger angelegt blieben. 466 „Dattelin“ – eine weibliche Verballhornung des Wortes ‚Dattel‘ (‚dattero‘). 467 „Ständige Dattel“ – Verweis auf die Anhänger der Gruppe Lotta Continua (‚ständiger Kampf‘). 468 „Massendattel“ – Verweis auf den ‚Massenarbeiter‘ (‚operaio massa‘).

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Lorussos noch die immer härtere Konfrontation mit der Staatsgewalt in Rom konnte, so schien es, die (Selbst-)Ironie der Bewegung tilgen – Gewalt und Ironie koexistierten, und das nicht nur in zwei Strömungen einer Bewegung, sondern bei ein und denselben Aktivistengruppen.470 Nur sehr zögerlich räumten manche Medien ein, dass viele Meldungen über die Verwüstungen vom 12. März überzogen gewesen seien: So stellte sich in den Tagen nach der Großdemonstration heraus, dass nicht, wie zunächst berichtet, ‚hunderte‘ von Autos angezündet,471 sondern insgesamt ‚nur‘ etwa 50 beschädigt worden waren – angesichts von zehntausenden Demonstranten und stundenlangen Straßenschlachten eine eher überschaubare Zahl. Ein Kiosk auf der Piazza del Gesù, der angeblich durch Demonstranten niedergebrannt worden war, erwies sich nach den Ausschreitungen als unbeschädigt. Eines der angeblich zwei geplünderten Waffengeschäfte entpuppte sich ebenso als Falschmeldung.472 Die Vereinigung der römischen Geschäftsbesitzer hatte den den Geschäftsleuten entstandenen Gesamtschaden kurz nach dem 12. März auf zwei bis vier Milliarden Lire geschätzt. Daraufhin gründete die Kommune trotz ihrer Finanznotlage einen Sonderfonds für die Betroffenen. Sechs Wochen später allerdings hatten erst ganze zwei Geschäftsinhaber einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Die Schadenssumme belief sich auf insgesamt 40 Millionen Lire – ein Prozent des von der römischen Händlervereinigung angegebenen Volumens. Auch in der bürgerlichen Presse begann man sich zu fragen, ob man bei den apokalyptischen Einschätzungen unmittelbar nach dem 12. März bewussten Übertreibungen aufgesessen war.473 Insgesamt schien sich die Wut der Demonstranten am 12. März vor allem auf die Sicherheitskräfte und auf spezifische Symbole der Macht im römischen Stadtbild gerichtet zu haben und die Demonstration weniger stark in blinde Randale abgeglitten zu sein, als es viele Zeitungen zunächst dargestellt hatten. In der Bewegung registrierte man die Verzerrungen in den Medienberichten zweifellos, doch im Zentrum stand die kritische Reflexion über den Verlauf der Demonstration selbst. Nach zahlreichen informellen Diskussionen über die heftigen Ausschreitungen traten am 14. März im Studentenwohnheim der Via De Lollis die Fakultätskomitees zusammen und begannen eine kritische Reflexion über die Ereignisse vom Samstag.474 Während Lotta Continua als einflussreichstes Sprachrohr der Bewegung die Demonstration als großen Erfolg feierte und in den Auseinandersetzungen eine in großen Teilen angemessene Antwort auf die Verbote und Provokationen der Gegenseite und den Versuch der Polizei sah, den Protestzug zu zerschlagen, wurde in den

469 Alle Zitate aus: Lotta Continua vom 19.3.1977, S. 5. 470 Auch im Spektrum der Autonomia erfreute sich die Karikatur großer Beliebtheit, vgl. Paccino (1977), S. 126f. 471 So hatte Corriere della Sera zunächst berichtet, vgl. Corriere della Sera vom 13.3.1977, S. 1. 472 Vgl. La Repubblica vom 15.3.1977, S. 4. 473 Vgl. Il Messaggero vom 26.4.1977, S. 4. 474 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 180.

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Komitees der Fakultäten für Geisteswissenschaften, Medizin, Geologie, Statistik, Lehramt und Mathematik deutliche Kritik am Ablauf der Demonstration vom 12. März laut.475 Doch wer auf eine Spaltung der Bewegung gehofft hatte, wurde enttäuscht:476 Vom wichtigen Komitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät wurde deutliche, aber solidarische Kritik formuliert, die eindeutig dem Ziel diente, die Einheit der Bewegung zu stärken: Minderheiten aus dem Spektrum der Autonomia und von Lotta Continua hätten die politische Kraft der Bewegung und ihre Fähigkeit zum Selbstschutz unterschätzt und mit ihren Aktionen Fehler begangen. Die Verantwortung für die Auseinandersetzungen aber trage Innenminister Cossiga, der der Demonstration den Zugang zum Zentrum verwehrt hatte.477 Das Komitee der Fakultät für Geisteswissenschaften sah sich mehr denn je in der Mitte einer Bewegung, deren Flügel nach den Ereignissen vom 12. März erneut versuchten, die Hegemonie zu erringen: „‚Gli obiettivi politici del movimento, fra cui l’irrinunciabile allargamento del fronte di lotta a tutto il corpo sociale e innanzitutto alla classe operaia, sono incompatibili tanto alla logica insurrezionalistica, quanto ai riemergenti tentativi di gestione a destra legalitaria e pacifista, del movimento stesso.‘“478 Zwar distanzierten sich PdUP und der in Rom relativ schwache Movimento Lavoratori per il Socialismo (MLS) von den Kräften der Autonomia – doch der Einfluss dieser moderaten Gruppen in der römischen Bewegung war ohnehin begrenzt.479 Von den Bewegungsgremien selbst vollzog einzig das Komitee der Fakultät für Ingenieurswissenschaften einen deutlichen Kurswechsel, als es sich bereit erklärte, auf ein Gesprächsangebot der gewerkschaftlich organisierten Polizisten einzugehen.480 So musste Andrea Purgatori im Corriere della Sera am 15. März 1977 denn auch feststellen: „Chi si attendeva una lacerazione profonda all’interno del movimento dovrà ancora aspettare.“481

475 Vgl. Lotta Continua vom 13./14.1977, S. 1 und S. 6; Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3 und S. 4; Bernocchi (1979), S. 150. 476 Vgl. Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3. 477 Vgl. Bernocchi (1979), S. 150f.; Corriere della Sera vom 15.3.1977, S. 2. 478 Dokument des Fakultätskomitees der Geisteswissenschaften, das am 16.3.1977 die Zustimmung der Fakultätsversammlung der Geisteswissenschaften erhielt, an der etwa 1.000 Aktivisten teilnahmen, zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 151f. „‚Die politischen Ziele der Bewegung, darunter die unverzichtbare Ausbreitung des Kampfes auf die gesamte Gesellschaft und vor allem auf die Arbeiterklasse, sind mit der aufständischen Logik ebenso unvereinbar wie mit den wieder auftauchenden Versuchen auf der Rechten, die Bewegung in legalistische und pazifistische Bahnen zu lenken.‘“ 479 Vgl. La Repubblica vom 16.3.1977, S. 3. 480 Vgl. L’Unità vom 15.3.1977, S. 4; Bernocchi (1979), S. 149. 481 Corriere della Sera vom 15.3.1977, S. 2. „Wer einen tiefen Riss im Inneren der Bewegung erwartete wird noch warten müssen.“

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2.3.3 Zurück auf dem Campus Die Wiedereröffnung der Universität erfolgte am 16. März unter starker Polizeipräsenz. Sofort begann die Bewegung, sich den Campus wieder anzueignen. Ein Fokus der Bewegungsaktivisten lag nach wie vor auf der Diskussion der Demonstration vom 12. März und der Neuausrichtung der Bewegung, die nun in zahlreichen Versammlungen geführt wurde. Daneben trat aber auch die Frage wieder zunehmend ins Zentrum der Diskussion, wie die ‚Normalisierung‘ des Universitätsbetriebs verhindert werden könnte, mit welchen Mitteln also ein normaler Ablauf der Lehre gestört werden sollte und die Hegemonie der Bewegung auf dem Campus wiederhergestellt werden könnte.482 Tags darauf kam es zur ersten großen bewegungsinternen Machtprobe seit den Ereignissen vom Samstag: In der Aula I der juristischen Fakultät tagte die Vollversammlung der Bewegung mit etwa 3000 Teilnehmern.483 Die Versammlung begann für viele Beobachter überraschend nicht mit Machtkämpfen und Schuldzuweisungen, sondern mit einer ohne Widersprüche und lange Diskussionen verabschiedeten Erklärung, die ein vom Innenministerium gestreutes Gerücht, eine weitere Demonstration der Bewegung sei für den 19. März geplant, ironisch zurückwies:484 „‚Al ministro Cossiga, bunker del Viminale: Venuti a conoscenza manifestazione da te indetta in data 19 marzo, festa del papà, non avendo sicurezza carattere pacifico e di massa di questa suddetta tua manifestazione et causa precedenti impegni di assemblea cittadina sulla disoccupazione, nell’ateneo alle 17, siamo spiacenti comunicarti la nostra impossibilità a partecipare. In attesa vederti presto in piazza su tuo M113 blu ministeriale. Firmato: il movimento.‘“485 In der anschließenden Diskussion kristallisierte sich eine Mehrheit heraus, die schließlich eine Erklärung annahm, die aus dem Fakultätskomitee der Geisteswissenschaften heraus vorbereitet worden war: „‚La borghesia ha scelto indubbiamente la via dello scontro frontale contro un movimento a cui non ha niente da offrire […]. l’offensiva è diretta dalla DC […] (m)a è evidente che l’offensiva è anche sostenuta e fatta propria dal PCI e dalle direzioni sindacali. […] Il PCI […] è, insomma, totalmente schierato con la polizia, con lo stato, con Andreotti e Cossiga […].‘“486 Angesichts dieser breiten

482 Vgl. Lotta Continua vom 17.3.1977, S. 2. 483 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 180; Lotta Continua vom 18.3.1977, S. 4. 484 Vgl. Corriere della Sera vom 17.3.1977, S. 1. 485 Zitiert nach: La Repubblica vom 18.3.1977, S. 4. „‚An Minister Cossiga, Viminalsbunker: Haben erfahren, dass Du zu Demonstration am 19. März, Vatertag, aufrufst. Da wir keine Sicherheit bezüglich Friedlichkeit und Massencharakter Deiner obengenannten Demonstration haben und wegen vorheriger Verabredung zu Stadtversammlung über Arbeitslosigkeit auf dem Campus um 17 Uhr müssen wir Dir leider mitteilen, dass unsere Teilnahme unmöglich ist. Wir sehen Dich bald auf der Straße in Deinem ministerialblauen M113. Unterzeichnet: die Bewegung.‘“ Bei dem M113 handelte es sich um jene Panzer, die während der Ausschreitungen auf den Straßen von Bologna aufgefahren waren. 486 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 152f. „‚Die Bourgeoisie hat zweifellos den Weg der frontalen Konfrontation mit einer Bewegung gewählt, der sie nichts anzubieten hat […].

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feindlichen Front müsse die Bewegung nun ihre strategischen und taktischen Fähigkeiten unter Beweis stellen:487 „‚Oggi un serio contrasto interno al movimento non è quello tra ‚autonomi‘ e non: ed è opportunistico addossare solo all’area dell’autonomia gli errori di alcune scelte di sabato. Un serio ostacolo politico, in questo momento, è quello della presenza assai diffusa nel movimento, di una linea che si può definire ‚insurrezionalista‘. Con questo non intendiamo affatto sottovalutare il rischio di una linea di destra, filoriformista che ha accettato le scadenze di piazza Indipendenza e la cacciata di Lama a posteriori e a malincuore, per tentare di cavalcare il movimento, ma che mira a smorzarne la carica antiistituzionale e antiriformista e farvi rientrare il PCI.‘“488 Die ‚Aufstandslinie‘ stelle im Augenblick eine weit größere Gefahr für die Bewegung dar als die minoritäre ‚Rechte‘ und definiere sich über drei falsche Grundannahmen: dass die Bewegung schon ausreichend in der Arbeiterklasse verankert sei und so keinerlei politischer Allianzen bedürfe; dass Gewerkschaftsaktivisten als Feinde zu sehen seien, die man bekämpfen müsse und nicht als Genossen, die man potentiell für den eigenen Kampf gewinnen könne; und dass schließlich jedes Eskalationsniveau, das der Staat der Bewegung vorgibt, anzunehmen sei, oder dieses gar aktiv hin zum Aufstand ständig erhöht werden solle. Diesen politischen Überlegungen seien jene Genossen gefolgt, die am Samstag die Auseinandersetzungen begonnen und so das Gelingen der Demonstration verhindert hätten. Die im Anschluss formulierten Forderungen waren größtenteils bekannt: Rücknahme der Malfatti-Reform und Abzug der Polizei aus der Universität; Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich; sichere Arbeitsplätze für alle statt prekärer und unterbezahlter Jobs oder Schwarzarbeit; Aufbau von sozialen Zentren für Jugendliche und Frauen in den Stadtteilen; Aufhebung des Demonstrationsverbotes und Freilassung aller Gefangenen.489 Außerdem wurde beschlossen, eine assemblea cittadina490 für Samstag, den 19. März, einzuberufen, um mit allen interessierten Römern über das Problem der Arbeitslosigkeit zu diskutieren.491

Die Offensive wird von der DC dirigiert […] [A]ber es ist offensichtlich, dass die Offensive auch vom PCI und von der Gewerkschaftsführung unterstützt und sich zu eigen gemacht wird. […] Der PCI […] steht also vollkommen auf der Seite der Polizei, des Staates und Andreottis und Cossigas […].‘“ 487 Vgl. Bernocchi (1979), S. 153. 488 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 153. „‚Der ernste Gegensatz innerhalb der Bewegung besteht heute nicht zwischen den ‚Autonomen‘ und den anderen: Es ist opportunistisch, nur der Strömung der Autonomia die Fehler einiger Entscheidungen vom Samstag aufzubürden. Ein ernstes politisches Hindernis in diesem Augenblick ist die weitverbreitete Präsenz in der Bewegung von einer Linie, die man als ‚aufständisch‘ definieren kann. Damit möchten wir das Risiko einer rechten, philoreformistischen Linie nicht unterschätzen, die die Stichtage der Piazza Indipendenza und des Rauswurfs Lamas nur im Nachhinein und unter Schmerzen akzeptierten, um zu versuchen, die Bewegung zu ‚reiten‘ und die darauf zielt, die antiinstitutionelle und antireformistische Stoßrichtung der Bewegung zu dämpfen und den PCI wieder ins Boot zu holen.‘“ 489 Vgl. Bernocchi (1979), S. 154f. 490 ‚Stadtversammlung‘. 491 Vgl. La Repubblica vom 18.3.1977, S. 4.

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2.3.4 Zweierlei Generalstreiks Am Samstag, eine Woche nach den schweren Ausschreitungen, wurde klar, über welches Mobilisierungspotential die Bewegung trotz aller Divergenzen verfügte: Etwa 4.000 Teilnehmer kamen zur assemblea cittadina auf dem römischen Campus.492 Im Laufe der Diskussion wurde immer wieder deutlich, dass die Brechung des Demonstrationsverbots in Rom für viele Aktivisten die zentrale politische Priorität des Augenblicks war.493 Am Ende der Versammlung wurde beschlossen, an der verspäteten Streikkundgebung der Gewerkschaften am 23. März mit einer eigenen Demonstration teilzunehmen und auch Momente der Einheit mit den an der Piazza San Giovanni versammelten Arbeitern zu suchen.494 Für einen Dialog mit den Gewerkschaften wurden zwei Bedingungen festgelegt: Der polizeilich gesuchte LC-Aktivist und prekär beschäftigte Universitätsdozent Enzo D’Arcangelo sollte einen unzensierten Redebeitrag auf der Gewerkschaftskundgebung halten dürfen und den Aktivisten der Bewegung sollte freier Zugang zum Kundgebungsplatz gewährt werden.495 Während die Gewerkschaften die Distanzierung von jeder Form der Gewalt zur Vorbedingung für einen Dialog machten, lautete die entsprechende Formulierung, in der Abschlusserklärung der Bewegungsversammlung schlicht: „‚[…] (I)l movimento rifiuta di fare della violenza una domanda di principio […].‘“496 In einem entsprechend den Vorgaben der Versammlung ausgearbeiteten Redetext wurde auf die Frage der Gewalt genauer eingegangen: Wenn die Gewerkschaften die geforderte Ablehnung von Gewalt wirklich konsequent anwenden würden, müssten sie sich von wesentlichen Teilen der eigenen Anhängerschaft distanzieren, die an Aktionen teilgenommen hätten, die die bürgerliche Justiz ebenfalls als gewalttätig definierte:497 „ ‚[…] i cortei interni alle fabbriche, l’espulsione dei crumiri, il blocco delle merci, i blocchi stradali e ferroviari, i picchetti duri, le estromissioni di fascisti e capetti e

492 Vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 180f. 493 Vgl. Bernocchi (1979), S. 155. Bernocchi irrt sich hier mit dem Datum, die Versammlung im Rektorat fand am 19.3.1977 und nicht am 18.3.1977 statt. 494 Vgl. La Repubblica vom 20./21.3.1977, S. 4. 495 D’Arcangelo wurde Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte am 2.2.1977 vorgeworfen. Die Autonomia stimmte dem Beschlussantrag zu, nachdem auf ihren Druck hin festgelegt worden war, dass Enzo D’Arcangelo den Redebeitrag halten sollte. Manche Aktivisten sahen in diesem Vorschlag einen taktischen Schachzug der Autonomia, um den Dialog mit den Gewerkschaften zu verhindern, denn die Wahrscheinlichkeit, dass D’Arcangelo, obwohl er polizeilich gesucht wurde, auf der Gewerkschaftskundgebung sprechen dürfte, war sehr gering. Andere begrüßten die Festlegung auf D’Arcangelo, da diese deutlich machte, dass die Bewegung keinesfalls von ihrer Befürwortung illegaler Praktiken und von ihrer Solidarisierung mit den politisch Verfolgten abrücken würde, vgl. La Repubblica vom 20.3./21.3.1977, S. 4; Bernocchi (1979), S. 155; Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 180f. 496 Zitiert nach: La Repubblica vom 20./21.3.1977, S. 4. „‚[…] [D]ie Bewegung weigert sich aus der Gewalt eine Prinzipienfrage zu machen […].‘“ 497 Vgl. Bernocchi (1979), S. 158f.

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così via.‘“498 Nach mehreren Treffen zwischen einer Delegation der Bewegung und einer Delegation der Gewerkschaften wurde klar, dass die Gewerkschaften weder bereit waren, einen polizeilich Gesuchten auf ihrer Kundgebung sprechen zu lassen, noch mit einer Bewegung in einen Dialog zu treten, die sich nicht grundsätzlich von Gewalt distanzierte.499 Die Bewegung beschloss angesichts dieser Situation, eine Gegendemonstration von der Piazza Vittorio zur Piazza S. Croce in Gerusalemme durchzuführen, die sie an der Gewerkschaftskundgebung auf der Piazza San Giovanni vorbeiführen würde. Eine Konfrontation mit den Gewerkschaftern sollte dabei auf jeden Fall vermieden werden.500 Die staatlichen Reaktionen auf die Ankündigung der Bewegung, am 23. März – elf Tage nach den schweren Ausschreitungen – erneut in der italienischen Hauptstadt demonstrieren zu wollen, waren widersprüchlich: Innenminister Cossiga hob zwar das generelle Demonstrationsverbot in Rom für den 23. März auf, jedoch war nicht klar, ob die Erlaubnis nur für die offiziell angemeldete Gewerkschaftsdemonstration gelten würde oder auch für die – wie immer unangemeldete – Demonstration der Bewegung.501 Nach dem turbulenten Vorspiel verlief der 23. März selbst erstaunlich ruhig: Der Generalstreik in Rom wurde zum Erfolg – die Straßen der italienischen Hauptstadt waren wie leergefegt und die meisten Geschäfte geschlossen.502 Zur gewerkschaftlichen Kundgebung auf der Piazza San Giovanni kamen etwa 150.000 Teilnehmer.503 An der Demonstration der Bewegung, die an der Piazza Vittorio begann und dann zur Gewerkschaftskundgebung an der Piazza San Giovanni stoßen sollte, beteiligten sich etwa 20.000.504 Trotz der klaren Zahlenverhältnisse waren die Rollen keineswegs so verteilt wie man annehmen könnte: Die Gewerkschaften befürchteten nach dem Platzen der Verhandlungen mit der Studentenbewegung eine Störung ihrer

498 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 158f. „ ‚[…] die Demonstrationen in den Fabriken, der Ausschluss der Streikbrecher, die Warenblockaden, die Straßen- und Schienenblockaden, die harten Streikposten, der Rauswurf der Faschisten und der kleinen Bosse und so weiter.‘“ 499 Vgl. La Repubblica vom 22.3.1977, S. 2. 500 Vgl. La Repubblica vom 20./21.3.1977, S. 4; Il Messaggero vom 23.3.1977, S. 4. 501 Vgl. La Repubblica vom 22.31977, S. 2; Il Messaggero vom 23.3.1977, S. 4. 502 Was auch daran lag, dass zum eigentlichen Generalstreik der Protest gegen die Gewalt getreten war, dem sich viele kleine Händler anschlossen, vgl. La Repubblica vom 24.3.1977, S. 1. 503 La Repubblica berichtete von 150.000 bzw. 200.000 Teilnehmern auf der Gewerkschaftskundgebung, vgl. La Repubblica vom 24.3.1977, S. 3. Il Messaggero und Lotta Continua gingen dagegen ‚nur‘ von etwa 100.000 Teilnehmern aus, vgl. Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4 und Lotta Continua vom 24.3.1977, S. 1. 504 La Repubblica berichtete von 15.000-20.000 Teilnehmern bei der Demonstration der Bewegung, vgl. La Repubblica vom 24.3.1977, S. 3. Il Messaggero ging von über 20.000 Teilnehmern aus, vgl. Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. Lotta Continua ging von 25.000 Teilnehmern aus, vgl. Lotta Continua vom 24.3.1977, S. 1. Auch die Schätzungen von Paccino (1977, S. 129), Bernocchi (1979, S. 161) und dem Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977, S. 181) lagen zwischen 20.000 und 25.000 Teilnehmern.

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Kundgebung. Um etwaige Probleme mit absoluter Sicherheit auszuschließen, organisierten sie einen Ordnerdienst mit mehreren tausend Mann und sperrten die Piazza San Giovanni weiträumig ab.505 Ein großes Transparent über der Bühne fasste die Themen der Kundgebung zusammen: „‚Per superare il clima di violenza, per la convivenza civile, per la piena occupazione, lavoro ai giovani, ai disoccupati e alle donne.‘“506 Doch trotz der hohen Teilnehmerzahl war die Stimmung auf der Piazza San Giovanni wenig kämpferisch und den Rednern wurde nur lauer Applaus zuteil. Auf der Piazza Vittorio hingegen waren die von ihrer zahlenmäßigen Stärke und dem schönen Wetter positiv überraschten Bewegungsaktivisten bei bester Laune, als sie gegen zehn Uhr in Richtung Piazza San Giovanni loszogen.507 Dort trafen sie auf ein erstaunliches Szenario: Eine dreifache Kette von Gewerkschaftsordnern verwehrte ihnen den Zugang zum Platz. Hinter dem ohnehin extrem massiven Ordneraufgebot waren fünf riesige LKWs geparkt, um den Platz zusätzlich abzusichern. Dahinter wiederum standen Polizisten der Celere in Kampfmontur. Ganz so, als ob die Gewerkschaftsfunktionäre eine Stürmung der Bühne erwarteten.508 Die Spitze der Bewegungsdemonstration erreichte die Gewerkschaftskundgebung just in dem Moment, als CGIL-Sekretär Lama seine Rede begann. Nach einem Moment der Anspannung wurde deutlich, dass die Bewegungsaktivisten keinerlei Konfrontation anstrebten, sondern das Aufeinandertreffen vielmehr als Happening gestalten wollten: In den folgenden eineinhalb Stunden zogen die Bewegungsaktivisten, die einmal mehr die Ironie als Waffe gewählt hatten, an der Gewerkschaftskundgebung vorbei und skandierten Slogans wie „‚Lama star, superstar più sacrifici vogliamo far’‘“509 , „‚Gui e Tanassi sono innocenti, siamo noi i veri delinquenti‘“510 oder „‚Più lavoro, meno salario‘‘‘511. Neben den ironischen Slogans wurden auch ernste Parolen gerufen, die den Annäherungskurs der traditionellen Linken an die DC kritisierten: „‚Enrico Berlinguer, non hai capito bene, la classe operaia non si astiene‘“512. Die Aufmerksamkeit vieler Teilnehmer der Gewerkschaftskundgebung war von nun an eher auf die vorbeiziehende Demonstration mit ihren Transparenten, Schildern, Slogans und Gesängen gerichtet, als auf die Reden der Gewerkschaftsfunktionäre.513 Besonders provokant waren kurze Theatereinlagen der Demonstranten: Unter den halb irritierten,

505 Vgl. Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4; La Repubblica vom 24.3.1977, S. 3. 506 Zitiert nach: Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. „‚Für eine Überwindung des Klimas der Gewalt. Für ein ziviles Zusammenleben. Für Vollbeschäftigung, Arbeit für die Jugend, die Arbeitslosen und die Frauen.‘“ 507 Vgl. La Repubblica vom 24.3.1977, S. 3; Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4; Paccino (1977), S. 129f. 508 Vgl. Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. 509 Zitiert nach: Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. „‚Lama-Star, Superstar, wir wollen mehr Opfer bringen‘“ 510 Zitiert nach: Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. „‚Gui und Tanassi sind unschuldig – wir sind die wahren Kriminellen‘“. 511 Zitiert nach: Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. „‚Mehr Arbeit, weniger Lohn‘“. 512 Zitiert nach: Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. „‚Enrico Berlinguer, Du hast nicht recht verstanden, die Arbeiterklasse enthält sich nicht‘“. 513 Vgl. Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4.

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halb wütenden Blicken des Ordnerdienstes warfen sich Bewegungsaktivisten auf die Knie und flehten „‚Lama frustaci ancora‘“514 oder „‚Lama perdonaci‘“515, andere zogen Wasserpistolen und spritzten die Gewerkschaftsordner an. Schließlich trat eine größere Gruppe von Bewegungsdemonstranten auf die Ordner zu und wedelte mit ihren Gewerkschaftsausweisen, um die Skurrilität der Situation deutlich zu machen: ein riesiger Ordnerdienst, um Gewerkschaftsmitglieder von Gewerkschaftsmitgliedern zu trennen.516 Die Demonstration der Studenten zog schließlich zur nahegelegenen Piazza S. Croce in Gerusalemme weiter. Dort hielt der ehemalige Partisanenkommandant Franco Bartolini, der nach langen Jahren der Mitgliedschaft den PCI verlassen hatte und sich nun im Umfeld der Autonomia Operaia bewegte, eine Rede und die Anwesenden wurden zu einem nachmittäglichen Fest auf dem römischen Campus eingeladen.517 Als nach Ende der Gewerkschaftskundgebung deren Teilnehmer in alle Richtungen davon strömten, kam es auf der Piazza S. Croce in Gerusalemme noch zu zahlreichen Diskussionen zwischen Bewegungsaktivisten und Gewerkschaftsmitgliedern, ohne dass es zu Auseinandersetzungen gekommen wäre. 518 Am späten Nachmittag begann dann das angekündigte Fest auf dem Campus: Die Stimmung war enthusiastisch – das genaue Gegenteil jener Anspannung, die die Versammlung des Vortags in der juristischen Fakultät geprägt hatte.519

2.3.5 ‚Indianische‘ Agitation und österliche Ruhe Einige Tage nach dem Generalstreik kam es zum Eklat auf dem römischen Campus, als ‚Stadtindianer‘ und andere Bewegungsaktivisten zwei Veranstaltungen der linken Professoren Alberto Asor Rosa und Lucio Colletti störten, um gegen die schleichende Normalisierung des Lehrbetriebs zu protestieren.520 Asor Rosa als ehemaliger operaistischer Vordenker und gegenwärtiges Mitglied des Zentralkomitees des PCI sowie Entwickler der Theorie der ‚zwei Gesellschaften‘ wurde mit Slogans wie „‚Asor Rosa non andare via, dacci ancora tanta meritocrazia‘“521 bedacht und mit einem Artikel seines früheren Weggefährten Antonio Negri konfrontiert, der nun ein wichtiger Theoretiker der Autonomia Operaia war.522 Als Asor Rosa daraufhin die Fakultät verließ, wurde er von den Störern begleitet, die ihn anschließend an der Abfahrt hinderten, indem sie Ringelreihen um sein Auto tanzten und „‚scemo, scemo‘“523 skan-

514 Zitiert nach: Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4. „‚Lama geißle uns noch mehr‘“. 515 Zitiert nach Paccino (1977), S. 130. „‚Lama vergib uns‘“. 516 Vgl. Paccino (1977), S. 130f. 517 Vgl. Il Messaggero vom 24.3.1977, S. 4; Paccino (1977), S. 131; Bernocchi (1979), S. 161. 518 Vgl. Bernocchi (1979), S. 161; Paccino (1977), S. 131. 519 Vgl. La Repubblica vom 24.3.1977, S. 3. 520 Vgl. La Repubblica vom 29.3.1977, S. 4 521 Zitiert nach: Paccino (1977), S. 132. „‚Asor Rosa geh’ nicht weg, gib uns noch mehr Meritokratie‘“. 522 Vgl. Paccino (1977), S. 132. 523 Paccino (1977), S. 133. „‚Dummkopf, Dummkopf‘“.

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dierten.524 Ähnliches widerfuhr auch dem marxistischen Philosophieprofessor Colletti, der wegen seines Bestehens auf dem Leistungsprinzip schon 1968 Zielscheibe von Protesten gewesen war.525 Die beiden Professoren waren nicht ohne Bedacht gewählt: Asor Rosa und Colletti waren nicht nur auf besondere Weise konfliktual mit der Bewegung verbunden, sondern auch Figuren des öffentlichen Lebens, was den Aktionen maximale Aufmerksamkeit garantierte.526 Daraufhin setzte der Präsident der geisteswissenschaftlichen Fakultät Salinari, der ebenfalls PCI-Mitglied war, seine umstrittene Anordnung um, auf jede Störung der Lehre von Seiten der Studenten mit einer Schließung der Fakultät zu reagieren.527 Die Bewegungsaktivisten kritisierten Salinaris Vorgehen als Aussperrung, mobilisierten zu Protesten und erreichten unter Vermittlung einiger Dozenten schließlich, dass die Fakultät wieder geöffnet wurde.528 Das Medienecho auf die Störungsaktionen der Studenten war ausgesprochen negativ: Während die Auseinandersetzung mit Lama und seinen Ordnern am 17. Februar häufig noch als Ausdruck eines politischen Machtkampfes interpretiert wurde, sahen viele Journalisten die Aktionen gegen Asor Rosa und Colletti als Angriffe auf die Meinungsfreiheit und die Kultur schlechthin:529 Im linksliberalen L’Espresso ereiferte sich Nello Ajello in seinem Kommentar über die ‚Knebelung des Geistes‘ und sagte all jenen, die zögerten, die Aktionen der als ‚Indianer‘ verkleideten ‚Faschisten‘ zu verurteilen, voraus, eines Tages vielleicht wieder ‚Bücherverbrennungen‘ beiwohnen zu müssen.530 Die Bewegungsaktivisten sahen die Dinge völlig anders: „‚Noi non sputiamo sui filosofi, noi ‚sbeffeggiamo‘ quei filosofi che, spacciandosi per ‚marxisti‘, usano la loro cultura per contribuire a mantenere l’oppressione di una classe su un’altra, pretendendo pure di non essere contestati al pari di altri baroni, che, con diversa etichetta, assolvono la stessa funzione.‘‘‘531 Zudem verwies man gerne auf jene zahlreichen römischen Professoren, die neben ihrer Funktion an der Universität politische Ämter für den PCI bekleideten und so über doppelte Einkommen verfügten.532 Wenige Tage nach den Aktionen gegen Asor Rosa und Colletti begannen die Osterferien, während derer der römische Campus geschlossen wurde. Für zwei Wochen war der Bewegung nun wiederum der Aggregationsraum entzogen, den die zahlreichen Gruppen, Kollektive und Individuen brauchten, um sich in actu als Bewegung

524 Vgl. Paccino (1977), S. 132f. 525 Vgl. Corriere della Sera vom 30.3.1977, S. 6; Corriere della Sera vom 6.4.1977, S. 1. 526 Vgl. Corriere della Sera vom 6.4.1977, S. 1. 527 Vgl. La Repubblica vom 29.3.1977, S. 4; Il Messaggero vom 1.4.1977, S. 4; Froio (1977), S. 12. 528 Vgl. Corriere della Sera vom 30.3.1977, S. 6; Il Messaggero vom 1.4.1977, S. 4. 529 Vgl. Paccino (1977), S. 135. 530 L’Espresso vom 10.4.1977, S. 5. 531 Ein Angehöriger der römischen Autonomie, zitiert nach: Paccino (1977), S. 133. „‚Wir spucken nicht auf die Philosophen, wir ‚verspotten‘ jene Philosophen, die sich als ‚Marxisten‘ ausgeben und ihre Bildung benutzen, um zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere beizutragen und dabei noch erwarten, dass gegen sie nicht genauso protestiert wird wie gegen alle anderen Barone, die mit einem anderen Etikett dieselbe Funktion erfüllen.‘“ 532 Vgl. Paccino (1977), S. 136f.

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zu konstituieren.533 Es kehrte relative Ruhe unter den römischen Studenten ein.534 Das Nachlassen der Agitation an den italienischen Universitäten aufgrund der Osterferien wurde von der Politik mit Erleichterung registriert und die Gelegenheit schien nun günstig, um die Durchsetzung der Universitätsreform voranzutreiben, die angesichts der Proteste zunächst auf die lange Bank geschoben worden war. So platzte am 15. April eine für viele Bewegungsaktivisten unerwartete Nachricht in die nachösterliche Ruhe: Das Kabinett hatte den nur marginal veränderten Reformentwurf von Bildungsminister Malfatti angenommen und wollte ihn trotz harscher Kritik von allen Seiten wenige Tage später im Parlament zur Abstimmung stellen.535

2.3.6 21. April: Die Räumung des Campus und der Tod Passamontis Vor dem Hintergrund der Regierungsinitiative zur Verabschiedung der MalfattiReform lief die Mobilisierung nach den Osterferien erneut an. Die Bewegung zeigte umgehend wieder Präsenz auf dem Campus. Bei den Versammlungen der Fakultätskomitees wurde jedoch rasch deutlich, dass trotz des akuten Handlungsdrucks die Malfatti-Reform nicht alleine im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Die Diskussion drehte sich zunächst vor allem um einen Beschluss des akademischen Senats, der die Möglichkeiten des politischen Aktivismus auf dem Campus deutlich einschränkte: Dieser sah die dauerhafte Stationierung von Polizeieinheiten auf dem Campus vor, die bei jeder irgendwie gearteten Störung der Lehre oder bei Fakultätsbesetzungen sofort eingreifen sollten.536 Die Studenten legten schließlich den 21. April als Kampftag gegen die Malfatti-Reform fest, an dem auch die „agibilità politica“ 537 des Campus propagiert werden sollte.538 Schon am Tag zuvor wurde deutlich, dass angesichts der beginnenden Parlamentsdebatte über die Malfatti-Reform die Zügel nochmals strenger angezogen würden: Die ohnehin schon große Polizeipräsenz auf dem Campus wurde weiter erhöht und die Einschreitschwelle war so niedrig, dass Polizisten in Kampfmontur mit dem Einsatz von Tränengasgranaten auf das Skandieren ironischer Slogans reagierten.539 Der Aktionstag begann mit einer vormittäglichen Versammlung auf der Piazzale della Minerva, an der etwa 3000 Aktivisten teilnahmen.540 Zwei Themen bestimmten die Diskussion: zum einen Malfattis Reformprojekt, dessen Verabschiedung im Parla-

533 Vgl. Bernocchi (1979), S. 162. 534 Vgl. Paccino (1977), S. 132 und 139; Bernocchi (1979), S. 162. 535 Vgl. Corriere della Sera vom 16.4.1977, S. 1; La Repubblica vom 16.4.1977, S. 1; La Repubblica vom 17./18.4.1977, S. 3. 536 Vgl. Bernocchi (1979), S. 163. 537 Bernocchi (1979), S. 164. „Politische Nutzbarkeit“. 538 Vgl. La Repubblica vom 21.4.1977, S. 4; Bernocchi (1979), S. 163f. 539 Vgl. La Repubblica vom 21.4.1977, S. 4. 540 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1f.; Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Paccino (1977), S. 139; Bernocchi (1979), S. 164.

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ment durch eine Intensivierung der Proteste verhindert werden sollte, und zum anderen die Präsenz der Polizei auf dem Campus, die man möglichst rasch beenden wollte. Während eine Minderheit die Polizei durch direkte physische Konfrontation vom Campus vertreiben wollte, lehnte eine Mehrheit der Anwesenden dies ab und beschloss stattdessen eine Demonstration auf dem Campus für den Abzug der Polizei. Zudem wurden die Fakultäten für Geisteswissenschaften, Physik, Mathematik und Jura aus Protest gegen die Malfatti-Reform besetzt.541 Die Demonstration auf dem Campus verlief ohne Zwischenfälle, aber es wurde deutlich, dass ein Teil der Bewegungsaktivisten den Abzug der Polizei nicht nur fordern, sondern mit Gewalt erzwingen wollte: Etwa 300 Vermummte aus dem Spektrum der Autonomia und von Lotta Continua bezogen vor den auf dem Campus stationierten Polizeieinheiten Stellung und skandierten Slogans.542 Doch den Aktivisten der Fakultätskomitees gelang es, die militante Fraktion im Zaum zu halten, und so blieb die Demonstration friedlich.543 Als der Großteil der Studenten den Campus zum Mittagessen verlassen hatte, erfolgte die Antwort der Ordnungskräfte auf die Fakultätsbesetzungen und die Proteste auf dem Campus: Gegen 14.30 Uhr drang ein Großaufgebot der Polizei in die Città universitaria ein. Die mit kugelsicheren Westen und gepanzerten Fahrzeugen ausgestatteten Einheiten walzten die Tore des Universitätseingangs nieder und schossen Tränengasgranaten auf jede Ansammlung von mehr als drei Personen.544 Als die Wege auf dem Campus geräumt waren, wandten sich die Polizeieinheiten den besetzten Fakultäten zu. Die Besetzer beschlossen, sich rasch zurückzuziehen, und sammelten sich am Hinterausgang des Campus an der Via De Lollis, wo sich auch viele andere vom Campus vertriebene Studenten aufhielten. An der Kreuzung Via De Lollis und Via dei Marrucini wurde eine Barrikade errichtet:545 Aktivisten stoppten drei Linienbusse, zwangen die Fahrgäste zum Aussteigen, stellten diese quer, kappten die Zündkabel und ließen die Luft aus den Reifen.546 Ein Teil der Studenten begann, Propaganda im angrenzenden Stadtteil San Lorenzo zu machen. Andere gingen gegen 15.30 Uhr zurück zum Campus, um gegen die Räumung zu protestieren.547 Während die friedlichen Aktivisten am Campus-Nebenausgang in der Via Regina Elena bald auseinandergetrieben wurden, sammelte sich die militante Strömung der Bewegung an der Via De Lollis.548 Hier standen zunächst etwa 500 Protestierer der Polizei gegenüber. Als sich die Polizeieinheiten den Protestierern näherten, kam es zur Auseinandersetzung: Die Polizei setzte massiv Tränengas und Schlagstöcke ein und wurde mit Steinen und Molotowcocktails beworfen.549 Die Konfrontation spitzte sich immer mehr zu: Es fielen nach Aussage zahlreicher Zeugen Schüsse von beiden

541 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Paccino (1977), S. 139f. 542 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Corriere della Sera vom 22.4.1977, S. 2. 543 Vgl. Bernocchi (1979), S. 164. 544 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1f.; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12; Paccino (1977), S. 139f.; Bernocchi (1979), S. 164. 545 Vgl. Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12. 546 Vgl. Corriere della Sera vom 22.4.1977, S. 1; La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1f. 547 Vgl. Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12; Bernocchi (1979), S. 164. 548 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3. 549 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1f.; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12.

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Seiten.550 Gegen 15.35 Uhr wurde eine amerikanische CBS-Journalistin von einer Kugel am Bein getroffen und ins Krankenhaus gebracht.551 Die Zahl der Protestierer in der Via De Lollis war inzwischen auf etwa 1000 angestiegen. Trotz des heftigen Widerstandes gelang es der Polizei, ihre Gegner in Richtung San Lorenzo abzudrängen. Die Protestierer sammelten sich hinter der Barrikade an der Kreuzung der Via De Lollis und der Via dei Marrucini, wo immer mehr Studenten zu ihnen stießen. Nachdem die Sicherheitskräfte Verstärkung erhalten hatten, rückten sie vor und nahmen die Barrikade an der Kreuzung Via De Lollis und Via dei Marrucini ein, woraufhin sich die Demonstranten Richtung Via Tiburtina zurückzogen und eine weitere Barrikade aus einem Autobus an der Kreuzung Via dei Marrucini und Via Tiburtina errichteten.552 Gegen 15.50 Uhr schien sich die Lage beruhigt zu haben: Sicherheitskräfte und Demonstranten standen sich von je einer Barrikade gedeckt gegenüber. Gegen 16.10 Uhr rückte dann eine Gruppe von etwa 100 Demonstranten vor und schleuderte einige Molotowcocktails auf jene Barrikade aus Bussen, hinter der sich die Polizeieinheiten verschanzt hatten. Die Polizei reagierte mit Tränengasgranaten und Schüssen.553 Während ein Teil der Angreifer sich nun rasch zur zweiten Barrikade zurückzog, hinter der die Masse der Protestierer stand, suchten andere Deckung hinter den parkenden Autos und schossen auf die vorrückenden Polizisten.554 Der 23-jährige Polizeibeamte Settimio Passamonti wurde tödlich getroffen, sein Kollege Antonio Merenda schwer verletzt.555 Die Polizisten verstärkten nach einem ersten panischen Rückzug ihr Feuer, bargen ihre beiden Kollegen und zogen sich hinter die Barrikade zurück.556 Schließlich zog sich die Polizei zur Piazzale delle Scienze zurück. Die Protestierer rückten nach, und erreichten nun jenen Punkt, an dem kurz zuvor Passamonti und Merenda getroffen worden waren. Die große Mehrheit der Protestierer realisierte erst, als sie das Blut der beiden getroffenen Polizisten sah, dass Polizisten schwer verletzt worden sein mussten. Als sich schließlich die Nachricht herumsprach, dass ein Polizist getötet worden war, herrschte bei den meisten Bestürzung.557 Erst gegen 18.00 Uhr rückte die Polizei wieder zu dem Punkt vor, wo Passamonti und Merenda getroffen worden waren.558 An dem Ort, wo Passamonti

550 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12. Zu den Aussagen, nach welchen auch die Polizeibeamten von Schusswaffen Gebrauch machten vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12; Paccino (1977), S. 140. 551 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3. 552 Vgl. Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12; Paccino (1977), S. 140. 553 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12. 554 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1f.; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12. 555 Vgl. Bernocchi (1979), S. 165. Zahlreiche Fotos von der entscheidenden Phase der Auseinandersetzung finden sich unter: http://www.complessoperforma.it/77WEB/21aprile.HTM (Stand 18.5.2011). 556 Vgl. Corriere della Sera vom 22.4.1977, S. 1; La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1f. 557 Vgl. Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12. 558 Vgl. Corriere della Sera vom 22.4.1977, S. 1.

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zusammengebrochen war, war nun ein Graffito angebracht: „‚Qui c’era un caramba, il compagno Lorusso è stato vendicato‘“559. Viele Bewegungsaktivisten trafen sich gegen 18.30 Uhr in der außerhalb des Campus gelegenen Architekturfakultät zu einer kurzfristig anberaumten Versammlung.560 Gegen 19 Uhr war die große Aula der Fakultät so überfüllt, dass die Versammlung auf den Platz vor der Fakultät verlegt wurde.561 In der anschließenden Debatte wurden fundamentale Unterschiede in der Bewertung der Ereignisse deutlich.562 Aktivisten aus dem Fakultätskomitee der Geisteswissenschaften sprachen wohl das aus, was die Mehrheit der Anwesenden dachte, als sie die politische Verantwortung für den Tod Passamontis zurückwiesen und die Logik der immer härteren Auseinandersetzung mit der Polizei als selbstmörderisch ablehnten:563 Wer den Tod Passamontis rechtfertige, tue dies im eigenen Namen, nicht im Namen der Bewegung.564 Die Bewegung müsse nun versuchen, an Breite zu gewinnen und einen Dialog mit den Arbeitern zu führen, anstatt sich in einer Konfrontation mit der Staatsgewalt aufzureiben.565 Die anwesenden Aktivisten aus dem Spektrum der Autonomia protestierten lautstark gegen derartige Aussagen. Redner der Autonomia erklärten, dass den Tod Passamontis zwar niemand gewollt habe, dass er aber auch nicht dazu verleiten dürfe, das Grundproblem zu vergessen: Dass nämlich angesichts einer schießenden Polizei jeder Genosse und jede Gruppe in der Bewegung das Recht habe Zurückzuschießen.566 Autonomia-Aktivisten unterbrachen Redner, die sich von der bewaffneten Auseinandersetzung mit der Polizei distanzierten mit Slogans wie „‚Compagno Lorusso, sei stato vendicato‘“.567 Schließlich kam es zu Tumulten und Handgemengen, bei denen die Autonomia-Aktivisten die Oberhand behielten. Viele Anwesende verließen die Versammlung, da keine echte Debatte möglich war. Zurück blieb eine Gruppe von radikalen Aktivisten aus dem Umfeld der Autonomia.568 Diese verabschiedeten schließlich eine Erklärung, in der es hieß: „‚Non siamo stati noi a volere questo morto: Sono stati Ruberti, la Questura, Cossiga, il governo e tutti i suoi reggicoda. […] Questo è il nostro giudizio politico: C’è stato da parte della polizia un preciso tentativo di uccidere: la responsabilità dell’accaduto ricade interamente sulla polizia, sul governo, sulla DC.‘“569 Doch diese Erklärung konnte die tiefen Brüche in

559 Zitiert nach: Corriere della Sera vom 22.4.1977, S. 1. „‚Hier war ein Carabiniere – der Genosse Lorusso ist gerächt‘“. 560 Vgl. Paccino (1977), S. 140; Bernocchi (1979), S. 165. 561 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 2. 562 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 2. 563 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 2; Bernocchi (1979), S. 165. 564 Vgl. Bernocchi (1979), S. 165. 565 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 2. 566 Vgl. Paccino (1977), S. 140f. 567 Zitiert nach: Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 2. „‚Genosse Lorusso, Du bist gerächt‘“. 568 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 2; Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 2. 569 Zitiert nach: Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 2. „‚Nicht wir waren es, die diesen Toten wollten: Es waren Ruberti, das Polizeipräsidium, Cossiga, die Regierung und all ihre Helfershelfer. […] Das ist unser politisches Urteil: Es gab auf Seiten der Polizei den präzisen

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der Bewegung nicht mehr überspielen. Ein LC-Aktivist hielt den Aktivisten der Autonomia in einem Leserbrief seine Sicht der Dinge entgegen und kritisierte dabei auch die Zurückhaltung der eigenen Tageszeitung: „‚Ucciso sì dalla DC che lo ha mandato contro gli studenti, ma anche da ‚compagni‘ che scambiano la lotta di classe per un poligono di tiro, e un momento di confusione e ripensamento del movimento per un periodo preinsurrezionale! […] Perché Lotta Continua quotidiano […] prende le loro difese? […] Ancora una volta per paura di non cavalcare la tigre (leggi movimento degli studenti), si prendono posizioni sbagliate che non sono nostre […].‘“570 Desorientierung und Frustration bei vielen Aktivisten nahmen zu und die Gräben zwischen den einzelnen Strömungen der Bewegung wurden immer tiefer.571 Auch in der Nacht kehrte in vielen Teilen Roms keine Ruhe ein: Auf dem Campus und in San Lorenzo, wo Settimio Passamonti erschossen worden war, zogen starke Polizeikräfte auf.572 Zudem ließ die politische Abteilung der römischen Polizei etwa vierzig Objekte in ganz Rom durchsuchen, darunter den Sitz der Comitati Autonomi Operai in der Via dei Volsci in San Lorenzo und ein weiteres Zentrum der Autonomia in der Via Donna Olimpia. Im Zuge der Durchsuchungen schoss ein Polizist auf ein ‚verdächtiges‘ Fahrzeug, dessen glücklicherweise unverletzte Insassen sich als ein völlig unbeteiligtes Paar entpuppten. Fünfzehn Personen wurden vorübergehend festgenommen, aber weder die Durchsuchungen noch die Festnahmen brachten einen Hinweis darauf, wer Passamonti erschossen hatte.573

2.3.7 Risse in der Bewegung Am nächsten Tag trat Innenminister Cossiga vor die Presse und verkündete ein absolutes Demonstrationsverbot für Rom bis Ende Mai.574 Dabei entwickelte der christdemokratische Innenminister eine populistische Lesart der tödlichen Konfrontation vom Vortag, die gut in das politische Raster des PCI gepasst haben dürfte: „[…] (N)on dev’essere consentito che ‚i figli dei contadini meridionali vengono uccisi dai

Versuch zu töten: Die Verantwortung für das Vorgefallene liegt (also, M.H.) komplett auf Seiten der Polizei, der Regierung, der DC.‘“ 570 Zitiert nach: Lotta Continua (1978), S. 66f. „‚Getötet ja von der DC, die ihn auf die Studenten hetzte, aber auch durch ‚Genossen‘, die den Klassenkampf mit einem Schießplatz und einen Moment der Verwirrung und des Nachdenkens der Bewegung mit einer Phase kurz vor dem Aufstand verwechseln! […] Warum nimmt sich die Tageszeitung Lotta Continua […] ihrer Verteidigung an? […] Einmal mehr werden aus Angst, den Tiger (d.h. die Stundentenbewegung) nicht reiten zu können, falsche Positionen bezogen, die nicht die unseren sind […].‘“ 571 Vgl. Paccino (1977), S. 141; Bernocchi (1979), S. 165f. 572 Vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 1. 573 Vgl. Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3; Paccino (1977), S. 141. 574 Vgl. Il Messaggero vom 23.4.1977, S. 1f.

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figli della borghesia romana‘.“575 Außerdem erklärte er, der Ministerrat sehe einen Qualitätssprung bei der politischen Gewalt, auf den man reagieren werde. „‚Rivolgo non più un appello ma un avvertimento ai giovani e alle famiglie dei giovani: non possiamo più considerare dimostrazioni e manifestazioni studentesche quelle in cui si ricorre […] all’uso continuato delle armi da fuoco. Queste manifestazioni saranno perciò considerate aggressioni armate allo Stato e io darò istruzioni alle forze dell’ordine di reagire come si deve reagire. […] Non voglio essere frainteso. Sia chiaro che d’ora in avanti a chi attaccherà lo Stato con le armi, lo Stato risponderà nello stesso modo.‘“576 Cossigas Erklärung wurde in Bewegungskreisen als Ankündigung verstanden, den Sicherheitskräften noch häufiger den Gebrauch von Schusswaffen zu gestatten. Angesichts der Tatsache, dass die Ordnungskräfte alleine in Rom in den vergangenen drei Jahren drei Demonstranten erschossen hatten, ohne dass in den entsprechenden Situationen auf sie geschossen worden war, wirkten die Worte des Innenministers durchaus bedrohlich.577 Lotta Continua spitzte Cossigas Ankündigung daher folgendermaßen zu: „Cossiga dichiara che ordinerà di sparare sulle manifestazioni considerandole un attacco allo stato […].“578 Die italienische Öffentlichkeit reagierte mit Entsetzen auf die tödlichen Schüsse. Medien, Parteien und Gewerkschaften verurteilten die Gewalt der Bewegung kategorisch.579 Auch die Reaktion der Gruppen der Neuen Linken war von harscher Ablehnung geprägt. Il Manifesto sah in den Ereignissen vom 21. April eine Art stillschweigender Übereinkunft zwischen DC-Regierung und Autonomia.580 Lotta Continua

575 L’Unità vom 23.4.1977, S. 1. „[…] (E)s darf nicht mehr zugelassen werden, dass ‚die Söhne der Bauern des Südens von den Söhnen des römischen Bürgertums umgebracht werden‘.“ 576 Zitiert nach: Il Messaggero vom 23.4.1977, S. 2. „‚Ich wende mich nicht mehr mit einem Appell, sondern mit einer Warnung an die Jugendlichen und ihre Familien: Wir können die Studentendemonstrationen, auf denen […] ständig von Schusswaffen Gebrauch gemacht wird, nicht mehr als solche betrachten. Diese Demonstrationen werden deshalb als bewaffnete Aggressionen gegen den Staat betrachtet und ich werde die Ordnungskräfte anweisen, entsprechend zu reagieren. […] Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Es muss klar sein, dass ab jetzt jedem, der den Staat mit Waffengewalt angreift, der Staat mit gleichen Mitteln antwortet.‘“ 577 Fabrizio Ceruso, Pietro Bruno und Mario Salvi waren zwischen 1974 und 1976 in Rom im Zuge von Demonstrationen oder bei Ausschreitungen erschossen worden. Bruno und Salvi waren offiziell von Polizisten erschossen worden. Der Tod Cerusos wurde offiziell nie aufgeklärt, doch für Aktivisten der Bewegung stand fest, dass er von der Polizei erschossen worden war, vgl. Kapitel II. 578 Vgl. Lotta Continua vom 23.3.1977, S. 1. „Cossiga kündigt an, dass er Befehl geben wird, auf die Demonstrationen zu schießen und sie als Angriff auf den Staat zu betrachten […].“ 579 Vgl. Il Messaggero vom 23.4.1977, S. 2. 580 Il Manifesto titelte am Tag nach den tödlichen Schüssen: „Vera destra e falsa sinistra hanno sparato per liquidare il movimento.“, vgl. Il Manifesto vom 22.4.1977, S. 1. „Echte Rechte und falsche Linke haben geschossen um die Bewegung zu erledigen“. Ähnlich auch die Erklärung von PdUP und AO vom Vortag, vgl. La Repubblica vom 22.4.1977, S. 2.

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schloss sich hingegen der Interpretation großer Teile der Bewegung an, nach welcher die Sicherheitskräfte die Eskalation vom Vortag gesucht hätten. Allerdings seien das größte Problem der Bewegung inzwischen nicht mehr ihre ‚äußeren Feinde‘, sondern die Eskalationsstrategie, die Teile der Bewegung selbst verfolgten: „[…] (I)l pericolo maggiore che esso (il movimento, M.H.) corre non è quello di essere distrutto dall’avversario, ma quello di autodistruggersi. All’autodistruzione il movimento viene spinto oggi dalla teorizzazione della lotta armata, dalla ricerca dei ‚terreni più elevati‘ di scontro, dal disprezzo costante per la massa dei compagni con cui queste teorie si traducono in pratica, nelle assemblee, come nei cortei o nelle piazze.“581 Die Reflexion in der römischen Bewegung setzte sich auch in den nächsten Tagen fort – oft erschwert durch einen Ausnahmezustand, der nicht nur durch eine hohe Polizeipräsenz und das völlige Demonstrationsverbot charakterisiert war, sondern auch durch Momente der physischen Konfrontation zwischen Anhängern der Autonomia und PCI-Mitgliedern auf den Straßen des Stadtteils San Lorenzos, wo sowohl die Bewegung als auch der PCI verankert waren.582 Zunächst wurde die Diskussion nur in Versammlungen einzelner Bewegungsgremien geführt.583 So tagte am Vormittag des 22. April das Komitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät, das in den bisherigen Protesten immer eine besonders wichtige Rolle gespielt hatte, im Studentenwohnheim der Via De Lollis und verabschiedete eine Erklärung, die die Schüsse auf die Polizei am 21.4.1977 scharf kritisierte: „‚[…] Da mesi la borghesia vuole costringere il movimento a scegliere tra due alternative, entrambe suicide: una via semi-istituzionale coperta dai partiti riformisti, o una via di lotta armata semiclandestina, concentrata esclusivamente sullo scontro con l’apparato statale. […] Questa strategia era già riuscita ad ottenere risultati, disorientando alcuni settori di movimento e reprimendo tutti coloro che non accettano la falsa alternativa fra il pacifismo e la lotta armata.‘“584 Hinsichtlich des 21. Aprils distanzierte man sich

581 Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 12. „[…] [D]ie Hauptgefahr, die diese (die Bewegung, M.H.) läuft, ist nicht die, von einem Gegner zerstört zu werden, sondern jene, sich selbst zu zerstören. Zur Selbstzerstörung wird die Bewegung heute durch die Theoretisierung des bewaffneten Kampfes gedrängt, durch die Suche nach ‚höheren Terrains‘ der Auseinandersetzung, durch die konstante Verachtung für die Masse der Genossen, mit denen diese Theorien in die Praxis umgesetzt werden, in den Versammlungen wie bei den Demonstrationen und auf der Straße.“ Die Ablehnung von LC verstärkte sich in den folgenden Tagen eher noch und auch der in Rom wenig bedeutende aber in Mailand wichtige MLS lehnte die Eskalation strikt ab, vgl. La Repubblica vom 24./25.4.1977, S. 3. 582 Vgl. Bernocchi (1979), S. 166; Il Messaggero vom 23.4.1977, S. 3; La Repubblica vom 23.4.1977, S. 2; Il Manifesto vom 23.4.1977, S. 1; Lotta Continua vom 23.4.1977, S. 1. 583 Vgl. z.B. Il Messaggero vom 23.4.1977, S. 3; La Repubblica vom 23.4.1977, S. 2. 584 Kommuniqué des Fakultätskomitees der Geisteswissenschaften, zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 166. „‚…Seit Monaten versucht die Bourgeoisie die Bewegung zu zwingen, zwischen zwei gleichermaßen selbstmörderischen Alternativen zu wählen: einem semiinstitutionellen Weg unter dem Schutz der reformistischen Parteien oder einem Weg des semi-klandestinen bewaffneten Kampfes, der sich ausschließlich auf den Zusammenstoß mit dem Staatsapparat konzentriert. […] Diese Strategie hat schon einige Ergebnisse erzielen können und für Desorientierung in Teilen der Bewegung gesorgt und all jene in die De-

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deutlich vom Vorgehen der bewaffneten Aktivisten: „‚Il Comitato di Lettere per questo non si riconosce affatto nella risposta armata data alla provocazione poliziesca e ritiene, anzi, che la logica […] dello scontro frontale con l’apparato statale porti al totale isolamento e poi alla distruzione del nostro movimento.‘“585 Am 23. und 24. April setzte sich die kritische Debatte über die Geschehnisse vom 21. April auch in der Kommission zu Fabrik und Stadtteil fort, die in der Poliklinik, einer Hochburg der römischen Autonomia Operaia tagte. Hier wurde erstmals deutlich, dass es auch innerhalb des Spektrums der Autonomia durchaus unterschiedliche Positionen gab.586 In zwei Punkten allerdings war man sich innerhalb der Autonomia einig: Die ‚militante Selbstverteidigung‘ gehörte grundsätzlich zum Repertoire der Bewegung und war nicht auf bestimmte Mittel beschränkt. Außerdem sollte es keinerlei öffentliche Distanzierung von dem geben, was am 21. April geschehen war.587 Aus Sicht der Anhänger der Autonomia durfte nicht vergessen werden, dass am 21. April – wie so oft in der letzten Zeit – auch die Polizei auf Körperhöhe geschossen hatte.588 Einige Tage nach dem Tod Passamontis luden die im Fokus der staatlichen Repression stehenden Comitati Autonomi Operai zu einer Pressekonferenz ein, um das Bild der ‚schießwütigen Autonomia‘ zu korrigieren, das sich seit dem 21. April nochmals verfestigt hatte.589 Daniele Pifano und Vincenzo Miliucci wiesen die Verantwortung für den Tod Passamontis zurück, ohne sich von den Tätern zu distanzieren: „‚Non condanniamo chi reagisce con le armi al fuoco della polizia. […] Il Movimento ha reagito come poteva all’aggressione degli agenti che hanno sparato all’impazzata. […] A sparare, comunque non siamo stati noi. Non si può incarnare tutto il movimento con via dei Volsci.‘“590

fensive gedrängt, die die falsche Alternative zwischen Pazifismus und bewaffnetem Kampf nicht akzeptieren.‘“ 585 Zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 166f. „‚Das Komitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät erkennt sich deshalb nicht in der bewaffneten Antwort auf die polizeiliche Provokation wieder und geht im Gegenteil davon aus, dass […] der frontale Zusammenstoß mit dem Staatsapparat zur totalen Isolation und der anschließenden Zerstörung unserer Bewegung führt.‘“ 586 Vgl. Bernocchi (1979), S. 167. 587 Vgl. La Repubblica vom 23.4.1977, S. 2. 588 Vgl. Fotos und Zeugenaussagen in: Il Messaggero vom 22.4.1977, S. 3. Vgl. auch Fotos auf: http://www.complessoperforma.it/77WEB/21aprile.HTM (Stand 18.5.2011). 589 Vgl. Corriere della Sera vom 27.4.1977, S. 1; Corriere della Sera vom 28.4.1977, S. 1. 590 Zitiert nach: Corriere della Sera vom 28.4.1977, S. 2. „‚Wir verurteilen es nicht, mit Waffengewalt auf das Feuer der Polizei zu reagieren. […] Die Bewegung hat so gut sie konnte auf die Aggression der Polizisten reagiert, die wie verrückt geschossen haben. […] Es waren jedenfalls nicht wir, die geschossen haben. Man kann nicht die ganze Bewegung mit der Via dei Volsci gleichsetzen.‘“ Vgl. auch Interview mit Daniele Pifano vom 8.6.2009, Teil VI, 11:30-11:55: „Noi non ritenevamo che fosse giusto ammazzare Passamonti. C’è stato uno scontro. Qualcuno ha tirato fuori le pistole, ha fatto sta cosa. [...] Non è che abbiamo rivendicato: ‚È giusto scendere in piazza e sparare contro la polizia‘. Abbiamo detto: ‚Chi l’ha fatto avrà avuto qualche motivo però noi non riteniamo che sia questo il momento dello scontro armato con la polizia.‘“ „Wir dachten nicht, dass es richtig war

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2.3.8 Die Aktionseinheit zerbricht Nach Appellen der Gewerkschaften und zahlreicher Politiker hob die römische Präfektur am 27. April das Demonstrationsverbot in Rom für den 1. Mai auf, um so die gewerkschaftliche Maikundgebung zu ermöglichen.591 Tags darauf versammelten sich die römischen Bewegungsaktivisten vor dem Studentenwohnheim in der Via De Lollis, um zu diskutieren, wie die Bewegung den 1. Mai begehen sollte. Die moderaten Gruppen, allen voran der PdUP, waren sehr zahlreich und mit einem starken Ordnerdienst erschienen – offensichtlich um die Anwesenden auf ihren Kurs einzuschwören. Mehrere Redner aus dem moderaten Spektrum schlugen eine Teilnahme der Bewegung an der gewerkschaftlichen 1. Mai-Kundgebung auf der Piazza San Giovanni vor. Von Seiten der Autonomia regte sich sofort Widerstand gegen eine Teilnahme an der ‚staatlichen 1. Mai-Feier‘. Nach einigem Hin und Her kam es schließlich zu einer Schlägerei um den Vorsitz der Versammlung, die die Autonomia für sich entscheiden konnte.592 So verließen die Aktivisten der moderaten Gruppen die Versammlung und zurück blieben die Anhänger der Autonomia, die eine eigenständige Bewegungsdemonstration am 1. Mai beschlossen – ein Beschluss jedoch, den niemand außer den Aktivisten der Autonomia für bindend erachtete:593 15 Universitätskollektive erklärten anschließend in einer gemeinsamen Erklärung an der gewerkschaftlichen 1. Mai-Kundgebung teilnehmen zu wollen.594 Die Spaltung innerhalb der römischen Bewegung betraf nun nicht mehr nur die Bewertung vergangener Ereignisse, sondern machte es auch zunehmend unmöglich, sich auf gemeinsame Mobilisierungen zu einigen – damit aber war die gemeinsame Praxis und somit letztlich die Existenz der Bewegung an sich in Frage gestellt. Die von der römischen Autonomia propagierte und kurzfristig organisierte Demonstration am 1. Mai auf der Piazza Vittorio geriet zum Desaster: Das Demonstrationsverbot der Präfektur war ausschließlich für die Gewerkschaftskundgebung an der Piazza San Giovanni aufgehoben worden und die moderaten Gruppen der Neuen Linken sowie der Großteil der Universitätskomitees nahmen ihrer Linie entsprechend an der Gewerkschaftskundgebung teil. So wurden die wenigen hundert Autonomen auf der Piazza Vittorio sofort von der Polizei angegriffen. Als sie daraufhin versuchten, eine Demonstration Richtung Piazza San Giovanni zu improvisieren, wurden sie nicht nur von Polizeieinheiten verfolgt, sondern auch von dem massiven Ordnerdienst der Gewerkschaften aufgehalten, teilweise verprügelt und den Polizeikräften

Passamonti zu töten. Es hatte eine Auseinandersetzung gegeben. Irgendwer hat die Pistolen rausgezogen und diese Sache gemacht. […] Es war nicht so, dass wir uns dazu bekannt hätten: ‚Es ist richtig auf die Straße zu gehen und auf die Polizei zu schießen‘. Wir haben gesagt: ‚Wer es auch gemacht hat, er wird seinen Grund gehabt haben, aber wir denken nicht, dass dies der richtige Moment für die bewaffnete Auseinandersetzung mit der Polizei ist.‘“ 591 Vgl. Corriere della Sera vom 28.4.1977, S. 1. 592 Vgl. Paccino (1977), S. 143f. 593 Vgl. Paccino (1977), S. 145. 594 Vgl. La Repubblica vom 3.5.1977, S. 4.

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übergeben.595 Zum Teil reichte eine außerparlamentarische Zeitung in der Jackentasche, um von den Gewerkschaftsordnern verprügelt zu werden.596 Für Hunderte von Aktivisten der Autonomia endete der 1. Mai so im Polizeigewahrsam.597 Das Fazit der römischen Bewegung nach dem 1. Mai fiel negativ aus: Angesichts des Repressionsdrucks und der immer tieferen Brüche zwischen den verschiedenen Bewegungsströmungen war man nicht mehr in der Lage gewesen, eine gemeinsame, von der traditionellen Linken unabhängige Mobilisierung zu bestreiten. Diese Niederlage sollte wiederum tiefe Spuren hinterlassen: Die Aktivisten der Autonomia würden es den anderen Bewegungsaktivisten kaum nachsehen, dass diese an einer Gewerkschaftskundgebung teilgenommen hatten, von deren Ordnern sie teilweise verprügelt und der Polizei übergeben wurden – die Spaltung war am 1. Mai 1977 praktisch vollzogen worden und das wog weit schwerer als jene politischen Differenzen, mit denen die Bewegung von Anfang an zu kämpfen hatte. Doch auch die politische Spaltung vertiefte sich zusehends: Am Abend des 1. Mai wurde in Rom bekannt, dass die moderaten Gruppen am 1. Mai in Bologna ein Flugblatt verteilt hatten, in dem sich PdUP, AO und MLS von der Autonomia distanziert und ihre Aktivisten als Provokateure bezeichnet hatten.598 Die römische Autonomia reagierte umgehend: Für den 2. Mai – den ersten Tag an dem der römische Campus nach den tödlichen Schüssen vom 21. April wieder geöffnet war – beriefen die Autonomia-nahen Fakultätskollektive eine Versammlung in der geisteswissenschaftlichen Fakultät ein. Hier sollten diejenigen Gruppen, die sich von der Autonomia distanziert hatten, aus der Bewegung ausgeschlossen werden.599 Die anderen Strömungen der Bewegung lehnten tags darauf jedoch eine derartige Positionierung ab und verurteilten den Versuch, die moderateren Gruppen aus der Bewegung auszuschließen, als ‚politica del carciofo‘600 an deren Ende der Massencharakter der Bewegung unweigerlich verloren gehe. Nach einer unfruchtbaren Diskussion verließen die Autonomia-kritischen Strömungen der Bewegung die Aula und die verbliebenen 400-500 Autonomia-Aktivisten verabschiedeten ihren Beschlussantrag, der die oben genannten Punkte umfasste und PdUP, AO und MLS wegen ihres ‚denunziantori-

595 Vgl. La Repubblica vom 3.5.1977, S. 2; Bernocchi (1979), S. 175f.; Paccino (1977), S. 154f. 596 Vgl. La Repubblica vom 3.5.1977, S. 2. 597 Paccino berichtet von 400 Festnahmen, vgl. Paccino (1977), S. 155. La Repubblica sprach hingegen ‚nur‘ von etwa 200 Festnahmen, vgl. La Repubblica vom 3.5.1977, S. 2. Einige Fotos von der vereitelten Demonstration am 1. Mai 1977 in Rom finden sich unter: http://www.complessoperforma.it/77WEB/primomaggioaroma.HTM (Stand 18.5.2011). 598 Vgl. Paccino (1977), S. 155. Lotta Continua stand zwar ebenfalls auf dem Flugblatt, aber distanzierte sich umgehend – vermutlich weil ein Teil der eigenen Basis mit einer Spaltung drohte, falls diese Positionierung Bestand gehabt hätte, vgl. Paccino (1977), S. 155. 599 Vgl. Bernocchi (1979), S. 178f. 600 Bernocchi (1979), S. 179. ‚Artischockenpolitik‘ – so wurde das Vorgehen der Autonomia von Kritikern bezeichnet, weil ähnlich wie beim Essen einer Artischocke Blatt für Blatt entfernt würde, um die Bewegung so auf ihren Kern zu reduzieren, wobei am Ende nicht viel übrig bleiben würde.

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schen und polizeifreundlichen Verhaltens‘ aus der Bewegung ausschloss.601 Die Reaktion der betroffenen Gruppen ließ nicht lange auf sich warten: „‚Il lato peggiore di questa faccenda è il ridicolo, un ridicolo che non colpisce soltanto gli autonomi, ma tutto il movimento.‘“602 Lotta Continua fühlte sich vom Vorgehen der Autonomia an die ‚Betragensnoten eines Schuldirektors‘ erinnert. Während so die internen Polemiken immer weiter eskalierten, erlahmte der Alltagsaktivismus der Bewegung zunehmend: Weder die massive Polizeipräsenz auf dem wiedereröffneten Campus noch die Malfatti-Reform wurden zum Gegenstand größerer Proteste.603 Wenig später zerbrach mit dem Fakultätskomitee der Geisteswissenschaften auch die wichtigste kontinuierlich arbeitende Struktur der römischen Bewegung an der eskalierenden Polemik zwischen moderateren und radikalen Kräften.604 Jenes Spektrum, das bisher den Kern des Komitees gebildet hatte, trat in den nächsten Tagen mit Gleichgesinnten aus anderen Fakultätskomitees und den Kommissionen in einen Diskussionsprozess über die Perspektiven der Bewegung ein, dessen Ergebnisse schließlich in einem langen Flugblatt veröffentlich wurden. Die mittlere Strömung der Bewegung formulierte hier nochmals ihre Sicht der Dinge und versuchte, eine Perspektive jenseits von militärischer Eskalation und traditioneller Politik der Gruppen der Neuen Linken aufzuzeigen: „‚I 50.000 compagni romani che hanno manifestato il 19 febbraio e il 12 marzo si sono ritirati nei loro quartieri, nei loro collettivi. Le assemblee sono tornate ‚assemblee di quadri‘. Perché? Siamo noi l’avanguardia resistente e ‚dura‘ di un movimento in riflusso? Oppure è il movimento che con il suo fiuto, resiste non seguendo più una avanguardia incerta che esita a riflettere sui suoi compiti e sui suoi errori? […] (I)l movimento ha sentito che il livello di risposta armata alle provocazioni armate del regime non era un ‚superiore livello di lotta‘ ma un arretramento. Le assemblee di movimento […] sono degenerate in contrapposizioni sterili e precostituite. Vogliamo con questa riflessione comune […] stimolare i cinquantamila dei cortei a riappropriarsi delle assemblee, delle scadenze, della politica.‘“605 Doch auch dieser Versuch sollte scheitern.

601 Vgl. La Repubblica vom 3.5.1977, S. 4; Bernocchi (1979), S. 179; Paccino (1977), S. 155. 602 Zitiert nach: La Repubblica vom 4.5.1977, S. 5. „‚Das Schlimmste an dieser Angelegenheit ist die Lächerlichkeit. Eine Lächerlichkeit, die nicht nur die Autonomen trifft, sondern die ganze Bewegung.‘“ 603 Vgl. La Repubblica vom 4.5.1977, S. 5. 604 Vgl. Bernocchi (1979), S. 179. 605 Flugblatt Perché 50.000 compagni ritornino al movimento vom Mai 1977, zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 180 – 191. „‚Die 50.000 römischen Genossen, die am 19. Februar und am 12. März demonstrierten, haben sich in ihre Stadtteile und ihre Kollektive zurückgezogen. Die Versammlungen sind wieder zu ‚Kaderversammlungen‘ geworden. Warum? Sind wir die widerstandsfähige und ‚harte‘ Avantgarde einer Bewegung, die abebbt? Oder ist es die Bewegung, die mit ihrem Spürsinn durchhält und einer unsicheren Avantgarde nicht mehr folgt, die zögert, über ihre Aufgaben und Fehler zu reflektieren? […] [D]ie Bewegung hat gespürt, dass das Niveau der bewaffneten Reaktion auf die bewaffneten Provokationen des Regimes kein ‚höheres Niveau des Kampfes‘ war, sondern ein Rückschritt. Die Versammlungen der Bewegung […] sind zu sterilen Gegenüberstellungen vorgefasster Gegensätze degeneriert. Wir wollen mit dieser gemeinsamen Reflexion […] die Fünfzig-

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2.3.9 12. Mai: Rom im Ausnahmezustand und der Tod Giorgiana Masis Während die Bewegung seit dem 21. April in eine fundamentale Krise geriet, blieben die praktischen Herausforderungen nicht aus. Der bürgerrechtlich orientierte Partito Radicale hatte für den 12. Mai ein Fest mit umfangreichem Kulturprogramm in der römischen Innenstadt angekündigt, um den Sieg des Scheidungsreferendums drei Jahre zuvor zu feiern und Unterschriften für die gegenwärtig von der Partei propagierten Referenden zu sammeln.606 Bislang hatte sich die Bewegung kaum für die Kampagne des PR interessiert, aber angesichts des totalen Demonstrationsverbots wurde die Mobilisierung des Partito Radicale, der sich inzwischen auch der PSI, sowie die Gruppen der Neuen Linken PdUP, AO, MLS, LC und eine Reihe prominenter Einzelpersonen angeschlossen hatten, als Chance begriffen, das Totalverbot zu durchbrechen. Am Tag vor der Kundgebung wurde von einer Bewegungsvollversammlung beschlossen, eigenständig an dieser teilzunehmen.607 Als Protestform wurde ein Sit-in auf der Piazza Navona gewählt, das massenhaft und friedlich sein sollte.608 Die Anhänger der Autonomia reagierten skeptisch auf den Beschluss der Versammlung, der auch von den Gruppen der Neuen Linken unterstützt wurde: In ihren Augen war es naiv, eine friedliche Zusammenkunft auf der Piazza Navona zu propagieren, wo doch alle wüssten, dass die Ordnungskräfte jede Demonstration gewaltsam auflösen würden.609 Die Versuche der Veranstalter, aber auch des PSI und der Gewerkschaften, Innenminister Cossiga zu einer Aufhebung des Demonstrationsverbots für den 12. Mai zu bewegen, scheiterten.610 Am Vormittag des 12. Mai wurde unter den Argusaugen der mit einem Großaufgebot präsenten Polizei eine Bühne auf der Piazza Navona aufgebaut. Gegen 13 Uhr, also über zwei Stunden bevor die Veranstaltung beginnen sollte, schritt die Polizei ein und beschlagnahmte die Lautsprecheranlage. Anschließend wurde die am Vormittag noch stark belebte Piazza Navona zunehmend abgesperrt und nur noch Personen auf den Platz gelassen, die nachweislich dort wohnten oder einen Presseausweis besaßen. Gegen 14 Uhr war die Piazza komplett abgesperrt. Die anwesenden Aktivisten beschränkten sich darauf, Slogans zu rufen und in kleinen spontanen Demonstrationszügen durch das Gassengewirr der römischen Altstadt zu ziehen.611 Dennoch gingen

tausend der Demonstrationen stimulieren, sich die Versammlungen, die Termine, die Politik wieder anzueignen.‘“ Vgl. auch La Repubblica vom 11.5.1977, S. 3. 606 Unter den acht Referenden war auch jenes für die Abschaffung der ‚Legge Reale‘, die der Bewegung ebenso wie den Radicali ein besonderer Dorn im Auge war, da sie u.a. den Sicherheitskräften große Spielräume beim Einsatz von Schusswaffen einräumte vgl. Armati (2007), S. 373. Für das Mobilisierungsplakat vgl. http://www.complessoperforma.it/ 77WEB/77-49.HTM (Stand 18.5.2011). 607 Vgl. La Repubblica vom 11.5.1977, S. 3; Bernocchi (1979), S. 191. 608 Vgl. Bernocchi (1979), S. 191. 609 Vgl. Paccino (1977), S. 156ff. 610 Vgl. Il Messaggero vom 13.5.1977, S. 4. 611 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3; Bernocchi (1979), S. 192.

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die Sicherheitskräfte rund um die Piazza Navona brutal gegen die friedlich protestierenden Jugendlichen vor.612 Als sich Abgeordnete des Partito Radicale und von DP wie Mimmo Pinto, Marco Pannella, Silverio Corvisieri, Lucio Magri und Adele Faccio einmischten, wurden sie teilweise ebenfalls geschlagen. Auch Journalisten und Pressefotografen wurden von den Polizisten verprügelt. Nachdem die Polizei zunächst mit Schlagstöcken auf all jene losgegangen war, die gegen die Absperrung der Piazza Navona protestierten, ging sie bald dazu über, Tränengas gegen alle Menschenansammlungen in den umliegenden Altstadtgassen einzusetzen: Jede Gruppe aus mehr als drei Personen wurde ohne Vorwarnung auf Körperhöhe mit Gasgranaten beschossen – wobei es mindestens einen Schwerverletzten durch eine Gasgranate gab.613 Während sich immer mehr jugendliche Protestierer auf dem Campo de’ Fiori sammelten, begannen Jeeps und gepanzerte Fahrzeuge im Herzen Roms aufzufahren, von denen herab Tränengasgranaten auf alle Menschenansammlungen geschossen wurden.614 War der Protest über Stunden friedlich geblieben, so entwickelte sich ab etwa 18 Uhr zunehmend Widerstand gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte: Gruppen von Jugendlichen reagierten mit Steinen und Flaschen auf die Angriffe der Polizei. Spätestens zu diesem Zeitpunkt fiel vielen Beobachtern die Präsenz zahlreicher Zivilpolizisten neben den uniformierten Einheiten auf, die zum Teil mit Eisenstangen oder Schusswaffen in der Hand durch die Innenstadt streiften. Journalisten bezeugten, dass zu diesem Zeitpunkt Polizisten von ihren Schusswaffen Gebrauch machten.615 Die Protestierer teilten sich in dieser Phase tendenziell in zwei Gruppen: Während jene, die dezidiert gewaltfrei protestieren wollten, eher rund um die Piazza Navona blieben, sammelten sich diejenigen, die auch zur militanten Gegenwehr bereit waren, auf dem Campo de’ Fiori und begannen, Barrikaden zu errichten. Schließlich erreichte die Protestierer auf dem Campo de’ Fiori die Nachricht, dass eine Demonstration aus Testaccio in Trastevere eingetroffen sei, und zahlreiche Aktivisten beschlossen, sich ebenfalls in das jenseits des Tibers gelegene Viertel zurückzuziehen.616 Gegen 19.00 Uhr versuchten Abgeordnete des Partito Radicale, einen ‚Waffenstillstand‘ auszuhandeln, so dass sich die Protestierer vom Campo de’ Fiori zurückziehen könnten.617 Die Polizei öffnete den Demonstranten eine Straße Richtung Garibaldi-Brücke, um ihnen den Abzug Richtung Trastevere zu ermöglichen. 618 Auf der Brücke errichteten die abziehenden Demonstranten eine Barrikade aus zwei quer gestellten Autos, um das Nachrücken der Polizei zu verzögern. Als die Polizei versuchte, diese Barrikade einzunehmen, fielen Schüsse. Ein Carabinieri wurde am Arm

612 Vgl. Il Messaggero vom 13.5.1977, S. 1 613 Vgl. Corriere della Sera vom 13.5.1977, S. 1; La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3. 614 Vgl. Corriere della Sera vom 13.5.1977, S. 2. 615 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3. Für Filmaufnahmen vom Treiben der zivilen Sonderkommandos am 12.5.1977 und Zeugenaussagen des Repubblica-Journalisten Carlo Rivolta, vgl. Dokumentarfilm Filmando in Città, in: AAMOD, 25:00-31:00, später auch in: Gli anni ’70: Sogno e tragedia, in: AAMOD, 54:50-59:20. 616 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3. 617 Vgl. Il Messaggero vom 13.5.1977, S. 4. 618 Vgl. Bernocchi (1979), S. 193.

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verletzt.619 Kurz darauf brach die 19jährige Giorgiana Masi auf der an die Ponte Garibaldi angrenzenden Piazza Gioachino Belli, von einem Projektil am Rücken getroffen, zusammen und verstarb wenig später im Krankenhaus Nuovo Regina Margherita.620 Während die Polizei umgehend die These in den Raum stellte, Giorgiana Masi sei von anderen Demonstranten erschossen worden, berichteten zahlreiche Demonstranten, die tödlichen Schüsse seien von Polizisten abgegeben worden.621 Neben Giorgiana Masi wurden vier Demonstranten und ein Carabiniere angeschossen.622 Die durch einen Schuss verletzte Demonstrantin Elena Ascione, die zum selben Zeitpunkt wie Giorgiana Masi und in unmittelbarer Nähe getroffen worden war, sagte aus, sie sei von Polizisten angeschossen worden. Die Veranstalter der Kundgebung auf der Piazza Navona sahen die Verantwortung für den Tod der 19jährigen Feministin bei Innenminister Cossiga, der trotz zahlreicher Versuche keinerlei Kompromissbereitschaft bei dem Totalverbot gezeigt hatte.623 In den nächsten Tagen wurde immer deutlicher, dass Innenminister Cossiga bei der Verteidigung des Vorgehens der Polizei gelogen hatte: Il Messaggero veröffentlichte am Tag nach dem tödlichen Schuss auf Giorgiana Masi auf der Titelseite ein Foto eines jungen Mannes in Zivil, der eine Pistole in der Hand hielt und behauptete es handle sich dabei um einen Zivilpolizisten. Das römische Polizeipräsidium und Innenminister Cossiga bestritten dies zunächst, musste dann aber angesichts immer zahlreicher auftauchender Fotos des bestreffenden Beamten einräumen, dass es sich bei dem jungen Mann mit dem auffälligen schwarz weißen Pullover tatsächlich um einen Zivilpolizisten handelte.624

619 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3. 620 Vgl. Corriere della Sera vom 14.5.1977, S. 1; La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3. Für eine präzise Bestimmung des Ortes an dem Masi erschossen wurde siehe die Skizze in: Il Messaggero vom 14.5.1977, S. 5. 621 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3. Am Tag nach dem Tod Giorgiana Masis herrschte große Erleichterung bei den Verantwortlichen für den Polizeieinsatz, als die Obduktion der Leiche Masis ergab, dass ein Projektil des Kalibers 22 die 19-Jährige getötet hatte – das Projektil einer Waffe also, die sich offiziell nicht im Besitz der italienischen Ordnungskräfte befand, vgl. La Repubblica vom 14.5.1977, S. 3. Doch auch diese Tatsache war in den Augen der Protestierer keineswegs ein Beweis für die Unschuld der Polizei, da Zeugen berichteten, dass unter italienischen Polizisten durchaus Waffen aller Kaliber zirkulierten, vgl. z.B. ein Leserbrief in Lotta Continua, in: Lotta Continua (1978), S. 100f. 622 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 1. 623 Vgl. La Repubblica vom 13.5.1977, S. 3; La Repubblica vom 14.5.1977, S. 2. 624 Vgl. Il Messaggero vom 14.5.1977, S. 5; Il Messaggero vom 15.5.1977, S. 1. Für Filmaufnahmen schießender Polizisten am 12.5.1977, vgl. Dokumentarfilm Filmando in Città, in: AAMOD, 25:00-31:00.

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Abb. 3.9 Zivilpolizist mit Pistole in der Hand. Das Foto wird zum Beweismittel für den Einsatz ziviler Sonderkommandos auf der Demonstration am 15.5.1977 in Rom und deren Hantieren mit Schusswaffen.

Zehn Journalisten und Pressefotografen von renommierten Zeitungen wie der Corriere della Sera, La Repubblica, Il Messaggero und Paese Sera bezeugten in einer öffentlichen Erklärung, dass Zivilpolizisten entgegen den Aussagen des Ministers und des römischen Polizeipräsidenten nicht nur mit Pistolen in der Hand an den Auseinandersetzungen teilgenommen hätten, sondern auch immer wieder scharf geschossen hätten.625 Zudem kursierte eine ständig wachsende Zahl von Fotos in den italienischen Zeitungen, die die Aussagen stützten: Sie zeigten Zivilpolizisten die sich – teilweise mit der Pistole in der Hand – an den Auseinandersetzungen beteiligten.626 Hinzu kamen Filmaufnahmen vom 12. Mai, die uniformierte Polizisten zeigten, die, von einer Säule gedeckt, mehrere Schüsse abgaben. Diese von Lotta Continua und dem Partito Radicale veröffentlichten Aufnahmen bewiesen, dass das Innenministerium auch hinsichtlich einer zweiten Schlüsselfrage log, denn Innenstaatssekretär Nicola Lettieri hatte im Parlament erklärt, die Polizei habe am 12. Mai keine

625 Vgl. La Repubblica vom 14.5.1977, S. 2. Die Zurückhaltung von L’Unità in diesem Zusammenhang stieß bei Teilen der Parteibasis auf wenig Verstädnis, vgl. z.B. Brief einer römischen FGCI-Sektion an die Parteispitze vom 14.5.1977, in: FIG, Archivio PCI, Regioni e Province (1943-1990), Nr. 0298, Bl. 1436: „Perché abbiamo dovuto leggere il Messaggero per avere le prove che la polizia ha sparato e caricato la folla a freddo?“. „Warum mussten wir Il Messaggero lesen, um den Nachweis zu erhalten, dass die Polizei kaltblütig in die Menge geschossen und diese angegriffen hat?“ 626 Vgl. Il Messaggero vom 14.5.1977, S. 5; Il Messaggero vom 15.5.1977, S. 4; Il Manifesto vom 15.5.1977, S. 6; Lotta Continua vom 17.5.1977, S. 1. Zahlreiche der in den nächsten Tage publizierten Fotos finden sich unter: http://www.complessoperforma.it/77WEB/masifoto.HTM (Stand 18.5.2011).

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Schusswaffen eingesetzt, wodurch sich die Frage nach ihrer Verantwortung für den Tod Giorgiana Masis erübrige.627 Das Entsetzen über den Tod der 19-Jährigen war in ganz Italien groß – auch weil sie als junge Feministin für den friedlichen Teil der Protestierer stand und ihr Tod vollkommen zufällig erschien. Giorgiana Masis Klassenkameraden erinnerten in einem Leserbrief aber daran, das ihr Tod alles andere als zufällig war: „‚Giorgiana non si trovava in piazza Gioacchino Belli per caso. Sarebbe come dire che noi giovani manifestiamo, scendiamo in piazza, non perché non c’è uno sbocco lavorativo, non perché abbiamo un domani senza vita e senza via d’uscita, non perché questo diploma è solo carta, non perché il clima in cui viviamo e saturo di violenza, ma così, per caso. Giorgiana non è stata uccisa per errore o per caso. Questi morti, questo clima di terrore che può spingere la popolazione a volere ordine, polizia dappertutto, e polizia che spara, non fa comodo a noi studenti e lavoratori.‘“628 Derweil fand die italienische Hauptstadt keine Ruhe: Es kam zu spontanen Demonstrationen in verschiedenen Stadtteilen, die zum Teil in Auseinandersetzungen und Schießereien mündeten.629 Am zweiten Tag nach dem tödlichen Schuss fand, eingekreist von einem Großaufgebot der Polizei, ein Sit-in auf der Ponte Garibaldi statt, wo Tausende zwei Stunden lang in völliger Stille der Toten gedachten.630 Nachdem die Kundgebung beendet war und das Gros der Teilnehmer die Brücke verlassen hatte, griffen Polizeieinheiten in Kampfmontur eine kleine Gruppe von Feministinnen mit Schlagstöcken an und vertrieb sie unter Prügeln von jenem Ort, an dem Masi erschossen worden war.631 Vier Tage nach ihrem Tod wurde Giorgiana Masis Beerdigung zu einer erneuten Demonstration: Tausende Menschen nahmen an dem Trauer-

627 Für die entsprechenden Filmaufnahmen und das Zitat des Unterstaatssekretärs Nicola Lettieri im Parlament vgl. http://www.youtube.com/watch?v=GUG3xtVHrPE&feature= related (Stand 18.5.2011). 628 Zitiert nach: Lotta Continua (Hg.) (1978), S. 85. „‚Giorgiana war nicht zufällig auf der Piazza Gioacchino Belli. Das wäre als sagte man, dass wir Jugendlichen demonstrieren und auf die Straße gehen, nicht weil es keine Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt gibt, nicht weil wir ein Morgen ohne Leben und ohne Ausweg vor uns haben, nicht weil dieser Abschluss nur ein Stück Papier ist, nicht weil das Klima in dem wir leben von Gewalt gesättigt ist, sondern nur so, aus Zufall. Giorgiana wurde nicht aufgrund eines Fehlers oder aus Zufall getötet. Diese Toten, dieses Klima des Schreckens, das die Bevölkerung dazu drängen kann, Ordnung zu wollen, Polizei überall und zwar Polizei die schießt, ist nicht im Sinne von uns Studenten und Arbeitnehmern.‘“ 629 Vgl. Corriere della Sera vom 14.5.1977, S. 1; Il Messaggero vom 14.5.1977, S. 4; Il Messaggero vom 15.5.1977, S. 4. 630 Vgl. Lotta Continua vom 15./16.5.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 195. Fotos des Sit-ins finden sich unter: http://www.complessoperforma.it/77WEB/masi-foto.HTM (Stand 18.5.2011). 631 Vgl. Il Messaggero vom 17.5.1977, S. 5. Fotos von den Polizeiübergriffen auf dem Ponte Garibaldi finden sich unter: http://www.complessoperforma.it/77WEB/masi-foto.HTM (Stand 18.5.2011).

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zug auf der Via Tiburtina teil.632 Die römischen Feministinnen nahmen von der Toten mit einem Plakat Abschied, das bald überall in der Stadt auftauchte: „Giorgiana Masi è stata assassinata dal regime di Cossiga. Rivendichiamo il diritto di scendere in piazza tutte insieme, sempre più numerose, unite nella nostra lotta, a riprenderci la libertà, e la vita. Nessuna donna resterà in silenzio.“633 Mehr noch aber als diese Anklage gegen Innenminister Cossiga und der Aufruf sich das Demonstrationsrecht gemeinsam zurückzuerobern, brannte sich das Gedicht für die Erschossene in das kollektive Gedächtnis der Bewegung ein, das ebenfalls auf dem Plakat zu lesen war. Es zeugte von der Trauer, Wut und Ohnmacht, die der Tod der 19-Jährigen ausgelöst hatte: „A Giorgiana / …se la rivoluzione d’ottobre / fosse stata di maggio / se tu vivessi ancora / se io non fossi impotente di fronte al tuo assassinio / se la mia penna fosse un’arma vincente / se la mia paura esplodesse nelle piazze / coraggio nato dalla rabbia strozzata in gola / se l’averti conosciuta diventasse la nostra forza / se i fiori che abbiamo regalato / alla tua coraggiosa vita nella nostra morte / almeno diventassero ghirlande / della lotta di noi tutte, donne / se... / non sarebbero le parole a cercare di affermare la vita / ma la vita stessa, senza aggiungere altro / Le compagne femministe“634. Die Ermittlungen zu Giorgiana Masis Tod wurden 1981 ergebnislos eingestellt.635 Francesco Cossiga deutete Jahrzehnte später an, damals Hinweise über die Todesumstände Masis zurückgehalten zu haben, die der offiziellen Lesart widersprachen, der zufolge Demonstranten für den Tod Masis verantwortlich waren, und erklärte schließlich in einem Interview, ihm sei der Mörder Masis bekannt.636

632 Vgl. Bernocchi (1979), S. 196. Für einen Eindruck vom Trauerzug vgl. http://www. youtube.com/watch?v=ffuf2eTs728&feature=related (Stand 18.5.2011). 633 Vgl. Abdruck des Plakats in: Manuela Fraire/Rosalba Spagnoletti/Marina Virdis u.a. (Hg.)(1978): L’almanacco. Luoghi, nomi, incontri, fatti lavori in corso del movimento femminista italiano dal 1972. Rom, S. 27. „Giorgiana Masi wurde durch das Regime Cossigas ermordet. Wir fordern das Recht ein, alle gemeinsam auf die Straße gehen zu können, immer zahlreicher, geeint in unserem Kampf, um uns die Freiheit und das Leben zurückzuerobern. Keine Frau wird mehr schweigen.“ 634 „Für Giorgiana / …wenn die Oktoberrevolution / im Mai gewesen wäre / wenn Du noch leben würdest / wenn ich nicht machtlos wäre angesichts Deiner Ermordung / wenn mein Stift eine siegreiche Waffe wäre / wenn meine Angst auf der Straße explodieren würde / Mut geboren aus der Wut, die mir den Hals zuschnürt / wenn der Umstand Dich kennengelernt zu haben zu unserer Kraft würde / wenn die Blumen, die wir / Deinem mutigen Leben in unserem Tod widmeten / zumindest zu Girlanden / dieses Kampfes von uns allen, Frauen würden / wenn… / es nicht unsere Worte wären, die versuchen das Leben zu behaupten, / sondern das Leben selbst, ohne etwas hinzuzufügen / Die feministischen Genossinnen“. Für eine deutlich andere, ‚traditionellere‘ Reaktion auf den Tod Masis vgl. z.B. das Lied „A Giorgiana Masi“ des Canzoniere della Magliana, in dem sie als „neue Partisanin“ besungen wird, vgl. Canzoniere della Magliana (1978): Ohne Titel, in: Archivio del Centro sociale Macchia Rossa. 635 Vgl. Armati (2007), S. 374; De Luna (2009), S. 26. 636 Vgl. De Luna (2009), S. 26, Anm. 23.

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Abb. 3.10 Rom nach dem 12.5.1977: Trauerplakat der römischen Feministinnen für Giorgiana Masi. Der Text des Plakats ist im Text wiedergegeben.

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2.4 Epilog: Vom langen Ende einer Bewegung 2.4.1 Eskalation und Ermüdung Zwei Tage nach dem Tod Giorgiana Masis schossen in Mailand Aktivisten aus dem Umfeld der Autonomia im Zuge einer Demonstration im Gedenken an Giorgiana Masi auf die Polizei und töteten den 25-jährigen Polizisten Antonio Custra.637 Die tödlichen Schüsse von Mailand ließen die öffentliche Bestürzung über den Tod Masis und die Empörung über die Lügen von Innenminister Cossiga in den Hintergrund treten.638 Der Versuch von Seiten der römischen Bewegung, das Demonstrationsverbot am 19. Mai zu durchbrechen, misslang: Appelle des moderateren Teils der Bewegung an alle demokratischen Kräfte, sich an einer Kundgebung zu beteiligen, um eine Aufhebung des Verbots zu erreichen, verhallten ungehört, obwohl die Vollversammlung der Bewegung am 17. Mai deutlicher als je zuvor auf Distanz zu denjenigen Kräften gegangen war, die den Gebrauch von Schusswaffen auf Demonstrationen befürworteten.639 Desorientierung und Grabenkämpfe lähmten jede gemeinsame Initiative. Am 31. Mai um Mitternacht, als das totale Demonstrationsverbot in Rom auslief, veranstaltete die Bewegung eine Mitternachtsdemonstration von der Piazza Navona nach Trastevere, vorbei an jener Stelle, an der Giorgiana Masi erschossen worden war.640 In den Sommermonaten verstärkten sich die Auflösungserscheinungen in der römischen Bewegung noch: Ein unbegrenzter Streik der nichtakademischen Universitätsangestellten führte dazu, dass die Fakultäten längere Zeit geschlossen blieben, und beraubte die Bewegung damit einmal mehr ihres zentralen Aggregations- und Resonanzraumes.641 Währenddessen gingen die bewaffneten Gruppen, allen voran die Roten Brigaden (BR), in die Offensive. Dabei setzten sie neben einzelnen tödlichen Attentaten, wie demjenigen auf den Präsidenten der Turiner Anwaltkammer Fluvio Croce im April 1977, zunehmend auf eine Vielzahl niedrigschwelligerer Aktionen: Allein im Juni 1977 schossen die BR und die erst im Vormonat formal gegründete Formation Prima Linea (PL) einem Dutzend Journalisten, Managern, Abteilungsleitern und anderen Funktionsträgern in die Beine.642 Es schien, als würden die bewaffneten Gruppen jenes Vakuum füllen, das die Passivität der Bewegung nach ihrer Explosion im Frühjahr hinterließ.

637 Vgl. Corriere della Sera vom 15.5.1977, S. 1; 638 Vgl. Bernocchi (1979), S. 196; Grispigni (1997), S. 56. 639 Vgl. Bernocchi (1979), S. 199ff. Zum Beschluss der Versammlung vom 17.5.1977, vgl. Bernocchi (1979), S. 197 – 200. 640 Vgl. Bernocchi (1979), S. 202. 641 Vgl. Bernocchi (1979), S. 202f. 642 Sergio Bianchi/Lanfranco Caminiti (Hg.) (2007b): Gli autonomi. Le storie, le lotte, le teorie. Bd. II. Rom, S. 242.

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2.4.2 Zwischenspiele Im Sommer 1977 verlagerte sich der Fokus der Bewegung vom Campus in der Metropole auf die pastorale Idylle der Maremma im nördlichen Latium: In der Bewegung begann eine deutlich von der Antiatombewegung in Westdeutschland und Frankreich inspirierte Kampagne gegen den Bau neuer Atomkraftwerke Fuß zu fassen – in Rom insbesondere gegen einen Reaktorneubau im nördlichen Latium.643 Im August 1977 fand in der 100 Kilometer nordwestlich von Rom gelegenen Gemeinde Montalto di Castro ein Protestcamp gegen den geplanten Atomreaktor statt, zu dem etwa 5000 Aktivisten aus Rom, Bologna und Florenz anreisten.644 Das Camp war nur der Höhepunkt einer schon länger andauernden Mobilisierung der lokalen Bevölkerung, die vom Naturschutzbund Italia Nostra, dem Partito Radicale und linksalternativen Jugendlichen unterstützt wurde und auf große Sympathien bei der Bevölkerung vor Ort stieß.645 Damit hatte die Bewegung ein völlig anderes topographisches, soziales und politisches Terrain betreten, auf welchem sie sich allerdings einmal mehr nicht nur in Gegnerschaft zur DC-Minderheitsregierung, sondern auch zum PCI befand, der die Atomenergie für eine unverzichtbare Übergangslösung hielt und den Reaktorbau unterstützte.646 In der Maremma schien sich die Bewegung wieder verstärkt auf ihre festlichen Aspekte rückzubesinnen – Fotos vom Protestcamp zeigen fröhliche junge Menschen beim gemeinsamen Musizieren und Tanzen und scheinen unendlich weit weg von den Szenen der lebensgefährlichen Straßenschlachten und ideologisierten Grabenkämpfe im römischen Frühjahr.647 Die Anti-AtomMobilisierung in Montalto di Castro war sehr erfolgreich: 15.000 Menschen kamen am 28. August zur abschließenden Demonstration. Die italienische Antiatombewegung war – unter nicht unwesentlicher Mitwirkung der ‚Bewegung von 1977‘ – geboren.648 Spätestens ab Ende August konzentrierten sich dann alle Bewegungsakteure auf den für Ende September anberaumten ‚Kongress gegen die Repression‘ in Bologna. Die Vorgeschichte des Kongresses hatte bereits Anfang Juli ihren Ausgang genommen, als eine Reihe wichtiger französischer Intellektueller wie Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Roland Barthes, Gilles Deleuze und Felix Guattari einen Aufruf gegen die Repression in Italien veröffentlicht hatten: „‚Noi vogliamo attirare l’attenzione sui gravi avvenimenti che si svolgono attualmente in Italia e sulla repressione che si sta abbattendo sui militanti operai e sui dissidenti intellettuali in lotta contro il com-

643 Vgl. z.B. die umfangreiche und kostenlosen Info-Zeitung des Coordinamento Controinformazione di Roma: Il Rosso vince sull’esperto (Sommer 1977), in: MC, Fondo Ceccotti. 644 Bianchi/Caminiti (2007b), S. 243; Bernocchi (1979), S. 205. Der geplante Reaktor in Montalto di Castro war einer von 12 geplanten Reaktoren, mit denen die italienische Regierung auf die Energiekrise reagieren wollte. Drei Anfang der 1960er Jahre gebaute Reaktoren existierten schon, vgl. L’Espresso vom 3.4.1977, S. 58 – 66, hier S. 62f. 645 Zu den Protesten in Montalto di Castro vgl. L’Espresso vom 3.4.1977, S. 58 – 66. 646 Vgl. L’Espresso vom 3.4.1977, S. 58 – 66. 647 Für Fotos vom Camp, vgl. Cappellini (2007), Bildteil in der Buchmitte ohne Seitenzahlen. 648 Bianchi/Caminiti (2007b), S. 243.

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promesso storico […].‘“649 Ausgehend von diesem Aufsehen erregenden und von der traditionellen Linken in Italien scharf kritisierten Aufruf hatte die Redaktion von Lotta Continua einen internationalen Kongress gegen die Repression angeregt und mit der Organisation der Veranstaltung begonnen.650 Nicht zufällig wurde Bologna als Ort für den Kongress gewählt: Hier hatte die Bewegung von ’77 von Anfang an eine ihrer Hochburgen gehabt. Hier hatte mit den tödlichen Schüssen auf Francesco Lorusso am 11. März die harte Repression gegen die Bewegung ihren Ausgangspunkt genommen und zudem war Bologna das ‚Schaufenster‘ des PCI, der in den Augen der Bewegungsaktivisten eine wesentliche Mitschuld an der Repression trug. Der herannahende Kongress in Bologna war für die Bewegung in zahlreichen Städten Anlass, nach dem Sommerloch wieder aktiv zu werden. In Rom wurde am 21. September eine friedliche Demonstration mit etwa 10.000 Teilnehmern durchgeführt, die nach einer langen Durststrecke als relativer Mobilisierungserfolg gewertet werden konnte.651 Vom 23. bis 25. September versammelten sich dann zehntausende Jugendliche in Bologna und es schien für einen Moment, als könne die Bewegung noch mal von vorne beginnen. Doch bald wurde deutlich, dass die subkulturellen und die politischen Strömungen in der Bewegung nicht mehr zusammenfinden würden: Während sich die dezidiert politischen Teile der Bewegung im Sportpalast von Bologna in endlosen Versammlungen mit bis zu 5000 Teilnehmern einen erbitterten Hegemoniekampf lieferten, nahmen zehntausende für die Zusammenkunft angereiste Jugendliche kaum Anteil an den politischen Grabenkämpfen und machten die drei Herbsttage in Bologna stattdessen zu einem riesigen Happening alternativer Lebensstile.652 Der Machtkampf im Palasport zwischen den verschiedenen regionalen Ausprägungen der Autonomia einerseits und den in der Bewegung verblieben Gruppen wie LC, AO, MLS sowie den unabhängigen Bewegungsaktivisten wie der aus dem römischen Fakultätskomitee der Geisteswissenschaften hervorgegangenen ‚Gruppe der 11‘ andererseits drehte sich vor allem um Fragen der Gewalt und des bewaffneten Kampfes und wurde oft von Turbulenzen unterbrochen, die teilweise in körperliche Auseinandersetzungen mündeten.653 Während also im Sportpalast um die ‚große politische Linie‘ gerungen wurde, veranstalteten zahlreiche Komponenten der Bewegung wie die Feministinnen oder die Homosexuellen eigene Versammlungen, auf denen sie völlig andere politische Prioritäten definierten, als es die selbsternannte politische ‚Avantgarde‘ im Sportpalast tat.654 Der eher subkulturell orientierte Teil der Bewegung ver-

649 Zitiert nach: Grispigni (1997), S. 58. „‚Wir wollen Aufmerksamkeit auf die schwerwiegenden Vorkommnisse lenken, die sich gegenwärtig in Italien ereignen, und auf die Repression, die sich gegen die Arbeiteraktivisten und die intellektuellen Dissidenten richtet, die gegen den historischen Kompromiss kämpfen.‘“ Für einen Eindruck von dem Plakat, mit dem die Bewegung den Aufruf der französischen Intellektuellen verbreitete, vgl. http://www.complessoperforma.it/77WEB/77-52.HTM (Stand 18.5.2011). 650 Vgl. Grispigni (1997), S. 59ff. 651 Vgl. Bernocchi (1979), S. 210. 652 Vgl. Grispigni (1997), S. 64f. 653 Vgl. Bernocchi (1979), S. 218ff.; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 243. 654 Vgl. Bernocchi (1979), S. 223f.. Vgl. auch: Grispigni (1997), S. 62ff.

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zichtete weitgehend auf Versammlungen und zog es vor, die Bologneser Altstadt zu ‚erobern‘ : Massentheater, Performances, Jamsessions brachten für einige Tage das gemütliche Bologna aus der Ruhe.655 Einzig den Schlusspunkt der dreitägigen Zusammenkunft setzte die Bewegung als Ganze: Eine friedliche offene Demonstration mit etwa 70.000 Teilnehmern, von denen viele geschminkt, maskiert oder verkleidet waren, durchquerte die Stadt und endete auf der völlig überfüllte Piazza Maggiore mit einer Theateraufführung von Dario Fo und seinen Mitstreitern.656 In den Tagen von Bologna hatte die Theatralisierung noch einmal die Militanz als Massenpraxis ersetzt.

2.4.3 Römische Realitäten Doch die festliche Atmosphäre, die zumindest die Außenwirkung der Bologneser Zusammenkunft bestimmt hatte, war nicht auf die Herkunftsorte der Aktivisten übertragbar. Die römische Bewegung sah sich wenige Tage nach dem Ende des Kongresses von Bologna mit einem erneuten Aufflammen des faschistischen Straßenterrors konfrontiert, mit dem offensichtlich einem Wiedererstarken der Bewegung zuvorgekommen werden sollte: Nachdem sich schon in den vorherigen Tagen einige Übergriffe zugetragen hatten, schossen Faschisten am Abend des 29. September auf eine Gruppe linker Jugendlicher, die sich auf der Piazza Igea aufhielten.657 Die 19-jährige Elena Paccianelli wurde schwer verletzt.658 Tags darauf wurde der 20-jährige LCAktivisten Walter Rossi in unmittelbarer Nähe des Parteilokals des MSI im Stadtteil Balduina von Faschisten erschossen, wo er und seine Freunde Flugblätter gegen den faschistischen Überfall vom Vortag verteilt hatten.659 Am nächsten Morgen streikten die römischen Schüler und versammelten sich gemeinsam mit den Studenten auf dem Campus. Schließlich zogen 10.000 Demonstranten los und griffen vier MSI-Lokale mit Molotowcocktails und selbst gebastelten Sprengkörpern an.660 Am Nachmittag demonstrierten nochmals über 20.000 Aktivisten der Bewegung gegen den faschisti-

655 Vgl. Bianchi/Caminiti (2007b), S. 243; Grispigni (1997), S. 62. 656 Vgl. Bernocchi (1979), S. 226ff. Für Fotos von Versammlungen, Performances und Demonstration vgl. http://www.complessoperforma.it/77WEB/immaginiconvegnobologna .htm (Stand 18.5.2011). Vgl. auch: Enrico Scuro: Malgrado Voi (ohne Jahr). Immagini di due anni di battaglie del movimento di Bologna. Bologna. 657 Vgl. L’Unità vom 1.10.1977, S. 1. 658 Vgl. L’Unità vom 30.9.1977, S. 11; Il Messaggero vom 1.10.1977, S. 5; Armati (2007), S. 375. 659 Vgl. L’Unità vom 1.10.1977, S. 1 und S. 10; Bernocchi (1977), S. 234; Grispigni (1997), S. 65f.; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 243. Die Mörder Walter Rossis waren Alessandro Alibrandi und Cristiano Fioravanti, die der faschistischen Terrororganisation NAR (Nuclei Armati Rivoluzionari) angehörten, die von 1977 bis 1981 für Dutzende Morde verantwortlich war, vgl. Armati (2007), S. 376f. 660 Vgl. Il Messaggero vom 2.10.1977, S. 5.

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schen Mord.661 Doch die Wut blieb nicht auf Rom beschränkt: In Turin griffen Jugendliche während einer antifaschistischen Demonstration eine Bar, die als Treffpunkt von Faschisten galt, mit Molotowcocktails an. Dem 22-jährigen Roberto Crescenzio gelang es nicht mehr, den Flammen zu entkommen – er erlag zwei Tage später seinen schweren Verbrennungen.662 Das Begräbnis Walter Rossis am 3. Oktober wurde zu einer beeindruckenden Demonstration: Mindestens 50.000 Menschen begleiteten den Sarg bei dem Trauerzug durch die Stadt und sangen die Internationale.663 Immer wieder skandierten die Trauernden den Slogan „‚Walter è vivo e lotta insieme a noi, le nostre idee non moriranno mai‘“.664 Im Anschluss an den Trauerzug zogen zwei Demonstrationszüge los, um ihre Forderung nach Schließung der MSILokale eigenhändig in die Tat umzusetzen, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.665 Gut zehn Tage später organisierte die linke Stadtregierung Roms eine große antifaschistische Demonstration, um ein härteres Vorgehen von Judikative und Exekutive gegen die faschistischen Gewalttäter zu fordern.666 Die Bewegung entschied, eine eigene unabhängige Demonstration zu organisieren, da die Demonstration als Manöver des PCI interpretiert wurde, die Bestürzung über den faschistischen Mord zu instrumentalisieren, um die Position der eigenen Partei in der römischen Bevölkerung zu stärken.667 Am 14. Oktober kamen etwa 70.000 Teilnehmer zur antifaschistischen Demonstration der Stadtregierung, während die Bewegung ihrerseits über 30.000 Menschen auf die Straße brachte.668 Die Bewegungsdemonstration teilte sich bald in zwei Teile: Einige Tausend Aktivisten aus dem Umfeld der Autonomia zogen zur Piazza Nicosia, während der Großteil der Demonstranten zur Piazzale Clodio ging. Aus der Demonstration der Autonomia heraus wurde eine Bombe in der Zentrale der römischen DC platziert, nachdem ein bewaffnetes Kommando alle Anwesenden gezwungen hatten, das Gebäude zu verlassen.669 Zu den gezielten Angriffen der bewaffneten organisierten Kommandos kamen zahlreiche spontane Plünderungen und Verwüstungen.670 Tags darauf fand in der Universität eine große Versammlung statt, in der das Vorgehen der Autonomia am Vortag von der Mehrheit der Anwesenden kritisiert wurde. Um eine weitere Auffaserung der Bewegung in unterschiedliche Strömungen mit jeweils eigenen Zielen zu verhindern, wurde vorgeschlagen, die Kommissionen zu revitalisieren, die im Februar und März für die politische Ausrichtung der Bewegung verantwortlich gewesen waren.671

661 Vgl. Il Messaggero vom 2.10.1977, S. 5. 662 Vgl. Bianchi/Caminiti (2007b), S. 244; Armati (2007), S. 376f. 663 Vgl. Il Messaggero vom 4.10.1977, S. 1 und S. 5. 664 Zitiert nach: Il Messaggero vom 4.10.1977, S. 5. „‚Walter lebt und kämpft gemeinsam mit uns. Unsere Ideen werden nie sterben.‘“ 665 Vgl. L’Unità vom 4.10.1977, S. 1. 666 Vgl. L’Unità vom 14.10.1977, S. 1. 667 Vgl. Bernocchi (1979), S. 235f. 668 Vgl. Il Messaggero vom 15.10.1977, S. 1. 669 Vgl. L’Unità vom 15.10.1977, S. 11. 670 Vgl. Il Messaggero vom 15.10.1977, S. 5; Il Messaggero vom 16.10.1977, S. 5. 671 Vgl. Bernocchi (1979), S. 236.

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Doch die Ansätze zu einer Restrukturierung der Bewegung sollten nicht mehr greifen – auch, weil nur vier Tage nach den heftigen Auseinandersetzungen die römische Bewegung eine Nachricht mit großer Sprengkraft erreichte: Am 18. Oktober wurde der Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe im deutschen Hochsicherheitsgefängnis von Stammheim in Rom bekannt. Bei einer spontanen Demonstration kam es zu Ausschreitungen. Tags darauf wurde bei einer großen Versammlung die Nachricht von der Ermordung des von der RAF entführten HannsMartin Schleyers mit stürmischem Applaus begrüßt. In dem hochemotionalen Klima verkündete ein Exponent der römischen Autonomia vollmundig, man werde am folgenden Tag eine Kundgebung in der deutschen Botschaft abhalten.672 Nachts kam es dann zu einer ganzen Reihe von Brand- und Sprengstoffanschläge auf deutsche Einrichtungen und Firmen in Rom.673 Am Nachmittag des darauf folgenden 20. Oktobers versammelten sich etwa 10.000 Aktivisten auf dem von der Polizei umstellten Campus.674 Die Polizei hatte die angekündigte Demonstration zur deutschen Botschaft verboten.675 Nach einer Weile kam es zur Konfrontation: Nachdem viele Jugendliche den Campus fluchtartig verlassen hatten, entwickelte sich eine stundenlange Straßenschlacht zwischen Aktivisten aus dem Umfeld der Autonomia und der Polizei, die sich vom nahe gelegenen Stadtteil San Lorenzo bis zur Piazza Vittorio ausbreitete und in deren Verlauf es zu zahlreichen Schusswechseln kam.676 Diejenigen Aktivisten, die den kompromisslos konfrontativen Kurs der Autonomia kritisierten, mussten feststellen, dass das Beharren der Autonomia auf einer frontalen Auseinandersetzung am 20. Oktober deren Position in der Bewegung gestärkt hatte. Diese Stärkung der Rolle der Autonomia spiegelte sich auch in den folgenden Ereignissen: Nachdem Anfang November die Treffpunkte der römischen Autonomia in der Via dei Volsci im Stadtteil San Lorenzo und in der Via Donna Olimpia im Viertel Monteverde per Gerichtsbeschluss geschlossen worden waren, entwickelte sich eine breite Solidaritätskampagne in der Bewegung.677 Eine Solidaritätsdemonstration am 12. November wurde verboten und die italienische Hauptstadt in einen umfassenden Ausnahmezustand versetzt: An allen neuralgischen Punkten der Stadt wurden Polizeieinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen postiert und Straßensperren errichtet; das Stadtgebiet wurde in acht Sektoren mit jeweils eigener Einsatzleitung und eigener Polizeifunkfrequenz aufgeteilt, um den Einsatz zu effektivieren; zudem kreisten Polizeihubschrauber über der Stadt.678 Insgesamt waren circa 10.000 Mann im Einsatz, die aus ganz Italien zusammengezogen worden waren – eine Zahl, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Dennoch protestierten tausende Aktivisten in dezentralen Demonstrationszügen gegen die Schließung der Autonomia-Treffpunkte und das Demonstrationsverbot.679 Die Protestierer wurden sofort von der Polizei an-

672 Vgl. Bernocchi (1979), S. 236f. 673 Vgl. Il Messaggero vom 21.10.1977, S. 5. 674 Vgl. Il Messaggero vom 21.10.1977, S. 5; Bernocchi (1979), S. 237. 675 Vgl. L’Unità vom 21.10.1977, S. 1. 676 Vgl. Il Messaggero vom 21.10.1977, S. 5; L’Unità vom 21.10.1977, S. 1 und S. 10. 677 Vgl. L’Unità vom 13.11.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 237f. 678 Vgl. Il Messaggero vom 12.11.1977, S. 5; Il Messaggero vom 13.11.1977, S. 1 und S. 5. 679 Vgl. L’Unità vom 13.11.1977, S. 1 und S. 10; Bernocchi (1979), S. 237f.

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gegriffen und so kam es im Herzen der Hauptstadt zu stundenlangen schweren Ausschreitungen und Schießereien, an denen wiederum Polizisten in Zivil beteiligt waren.680 147 Demonstranten wurden festgenommen. Am Abend wurden die beiden Radiosender der Bewegung Radio Città Futura und Radio Onda Rossa vorübergehend geschlossen, weil sie die Protestierer angeblich koordiniert hatten.681

2.4.4 Spaltung und Repression In den folgenden Wochen dominierte ein Gegensatz die Debatte in der römischen Bewegung, der seit der nationalen Versammlung Ende Februar offensichtlich war: Die moderateren Kräfte registrierten das Aufleben der Arbeitskämpfe seit Anfang November mit großem Interesse und begrüßten einen Aufruf der Metallarbeiterföderation FLM für einen Generalstreik am 2. Dezember als Ausdruck des wachsenden Drucks der Basis. Für diese Strömungen war es logisch, sich mit den streikbereiten Metallarbeitern zu solidarisieren und an der zentralen Demonstration in Rom am 2. Dezember teilzunehmen.682 Für die Autonomia stellten sich die Dinge anders dar: An einer Gewerkschaftsdemonstration teilzunehmen hieß, die eigenen Unabhängigkeit aufzugeben und die fundamentale Kritik am kompromissbereiten Kurs der Gewerkschaften tagespolitischen Erwägungen unterzuordnen. So rief die Autonomia ab 25. November zu einer unabhängigen Bewegungsdemonstration am 2. Dezember auf, die vom Campus losgehen sollte, während moderatere Bewegungsteile eine Demonstration von der Porta S. Paolo vorschlugen, die dann zur Gewerkschaftsdemonstration stoßen sollte.683 Im Zuge einer Vollversammlung am 28. November konnten diese Differenzen nicht mehr ausgeräumt werden und die Debatte war einmal mehr von einem ausgesprochen aggressiven Klima geprägt.684 Wie bereits am 1. Mai wurde so innerhalb der römischen Bewegung zu zwei verschiedenen Treffpunkten am 2. Dezember mobilisiert. Die übergroße Mehrheit entschied sich, mobilisiert unter anderem durch die Tageszeitungen der Gruppen der Neuen Linken, für die Teilnahme an der Gewerkschaftsdemonstration: 20.000 bis 30.000 kamen an der Porta S. Paolo zusammen und stießen gemeinsam zur Großdemonstration der Gewerkschaften, an der etwa 200.000 Menschen teilnahmen.685 Dem Aufruf der Autonomia und des radikalen Flügels von Lotta Continua hingegen folgten nur etwa viertausend Aktivisten, denen es angesichts einer massiven Polizeibelagerung nur zum Teil gelang, den Campus zu verlassen, um sich, wie geplant, dem Zug der Metallarbeiter auf der nahe

680 Vgl. Il Messaggero vom 13.11.1977, S. 1; L’Unità vom 13.11.1977, S. 10. 681 Vgl. Il Messaggero vom 13.11.1977, S. 1 und S. 5; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 245. 682 Vgl. Bernocchi (1979), S. 238f. 683 Vgl. Il Messaggero vom 30.11.1977, S. 1 und S. 4; Bernocchi (1979), S. 238f. 684 Vgl. Bernocchi (1979), S. 238f.; Il Messaggero vom 2.12.1977, S. 3; Zur Diskussion über den 2. Dezember vgl. auch: Mozione dell’assemblea di Lettere sul 2. dicembre, in: Bernocchi (1979), S. 240-243. 685 Vgl. Il Messaggero vom 3.12.1977, S. 1; Bernocchi (1979), S. 239; L’Unità vom 3.12.1977, S. 1.

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gelegenen Via Tiburtina anzuschließen, bei dem die der Autonomia nahestehenden Arbeiter von Italsider präsent sein sollten.686 Der Ordnerdienst der Gewerkschaften und des PCI verprügelte ohne Vorwarnung jene Arbeiter der Italsider, die versuchten zu den belagerten Genossen auf dem Campus vorzudringen. Auch auf der Abschlusskundgebung der FLM an der Piazza San Giovanni kam es zu Auseinandersetzungen zwischen dem Ordnerdienst der Gewerkschaften und jenen Teilen der Autonomia, die – verstärkt durch Metallarbeiter der Italsider und Alfa Sud – versuchten, zur Bühne vorzudringen. Schließlich gelang es dem Ordnerdienst der Gewerkschaften, die Anhänger der Autonomia unter Schlägen vom Platz zu vertreiben. Als auf der Abschlusskundgebung der FLM auf der Piazza San Giovanni bekannt wurde, dass der Campus umstellt und die Anwesenden eingeschlossen waren, zogen mehrer zehntausend Bewegungsaktivisten in einer spontanen Demonstration zur Universität.687 Auf dem Campus kam es anschließend zu Auseinandersetzungen zwischen Autonomia-Aktivisten und Angehörigen des MLS, wobei auch Aktivisten aus der Bewegungsmitte von Autonomia-Aktivisten verprügelt wurden.688 In der Folge verschärften sich die Polemiken in der Bewegung abermals und so besiegelte der 2. Dezember die endgültige Spaltung der römischen Bewegung, wobei zwischen der Autonomia und den dezidiert Autonomia-kritischen Kräften ein breites Spektrum ohne klare Position bestehen blieb. Von nun an tagten auf dem Campus regelmäßig zwei unterschiedliche ‚Vollversammlungen‘: Die Versammlung des Großteils der Universitätskomitees in der geisteswissenschaftlichen Fakultät, die fortan als die ‚Versammlung der Bewegung‘ apostrophiert wurde, und jene der Autonomia und ihres Umfeldes in der Jura-Fakultät.689 Doch das Jahr 1977 endete nicht mit den Episoden vom 2. Dezember: Am 12. Dezember jährte sich das mörderische Attentat auf der Piazza Fontana in Mailand zum achten Mal und für die römischen Aktivisten der beiden mittlerweile bestehenden Strömungen stand fest, dass man wie in den Jahren zuvor an diesem Tag gegen die ‚Manöver der Reaktion‘ demonstrieren würde.690 Versammlungen der Bewegung in der geisteswissenschaftlichen Fakultät und der Autonomia in der juristischen Fakultät beschlossen eine gemeinsame Demonstration. Nachdem das römische Polizeipräsidium die Demonstration einmal mehr verboten hatte, versammelten sich die Bewegungsaktivisten am Vormittag des 12. Dezember auf dem Campus und beschlossen, zahlreiche dezentrale Aktionen, Demonstrationen, Straßenblockaden und Flugblattaktionen durchzuführen. Trotz einer extrem hohen Polizeipräsenz beteiligten sich am Nachmittag tausende Jugendliche in der ganzen Stadt an Dutzenden kleiner Demonstrationszüge.691 Es kam an zahlreichen Orten zu Auseinandersetzungen

686 Vgl. Il Messaggero vom 2.12.1977, S. 3; Il Messaggero vom 3.12.1977, S. 3. 687 Vgl. Il Messaggero vom 3.12.1977, S. 3; Bernocchi (1979), S. 239f. 688 Vgl. Il Messaggero vom 3.12.1977, S. 3; L’Unità vom 3.12.1977, S. 6; Bernocchi (1979), S. 239f. Vgl. auch das Kommuniqué des Kollektivs der geisteswissenschaftlichen Fakultät in: Bernocchi (1979), S. S. 243 – 245. 689 Vgl. Bernocchi (1979), S. 240. 690 Vgl. Bernocchi (1979), S. 245f. 691 Vgl. L’Unità vom 13.12.1977, S. 1 und 10; Il Messaggero vom 13.12.1977, S. 4; Bernocchi (1979), S. 245f.

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zwischen Protestierern und der Polizei. Autobusse wurden quer gestellt, die Polizei setzte Tränengasgranaten ein und die Protestierer reagierten mit Molotowcocktails und Steinen.692 Bald fielen auch von beiden Seiten Schüsse. Mehrere Bars, die im Ruf standen, Treffpunkte von Faschisten zu sein, wurden ebenso mit Molotowcocktails angegriffen wie zwei Parteilokale des MSI und zwei weitere der DC. Mehrere Menschen mussten mit Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert werden.693 328 Demonstranten wurden festgenommen und viele von ihnen in der Polizeikaserne Castro Pretorio misshandelt.694 Den Schlusspunkt des Jahres 1977 in Rom setzte eine Reihe von Attentaten: Gegen Ende Dezember kam es zu zwei faschistische Attentate auf linke Aktivisten, wobei die beiden Opfer ihre Schusswunden überlebten.695 Am 28. Dezember folgten schließlich die tödlichen Schüsse eines Kommandos mit der Bezeichnung ‚Nuovi Partigiani‘ auf den römischen Faschisten Angelo Pistolesi.696

2.4.5 Nach der Bewegung von 1977 Das Jahr 1978 begann mit einer weiteren Zuspitzung der Eskalation: Am 7. Januar erschoss eine bislang unbekannte Formation mit dem Namen „Nuclei armati per il contropotere territoriale“697 zwei junge Neofaschisten vor einem MSI-Parteilokal in der Via Acca Larenzia. Bei anschließenden Ausschreitungen von MSI-Anhängern erschoss die Polizei einen jungen Faschisten.698 In großen Teilen der Bewegung herrscht Bestürzung über die Aktion. „l’uccisione dei due fascisti e la preoccupazione che lo scontro si stabilizzi su questi livelli distrugge la possibilità delle mobilitazioni di massa.“699 Die ‚Antwort‘ der Faschisten erfolgte am 28. Februar, als Terroristen der Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR) den LC-Aktivisten Roberto Scialabba in Rom erschossen.700 Am 16. März folgte dann die Entführung des Vorsitzenden der DC Aldo Moro durch die BR, in deren Zuge alle fünf Mitglieder seiner Eskorte erschossen wurden. Die Kraftprobe zwischen den BR und dem

692 Vgl. L’Unità vom 13.12.1977, S. 10. 693 Vgl. Il Messaggero vom 13.12.1977, S. 4. 694 Vgl. Bernocchi (1979), S. 246; Miliucci/Paccino/Pifano (2007), 366; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 245. 695 Vgl. L’Unità vom 27.12.1977, S. 1; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 245. 696 Vgl. Vidotto (2006), S. 331, ‚Neue Partisanen‘. Pistolesi war kein Unbekannter: Er war im Mai 1976 an einer faschistischen Kundgebung in dem nahe Rom gelegenen Ort Sezze beteiligt gewesen, im Zuge derer der 21-jährige Antifaschist Luigi Di Rosa erschossen worden war. 697 „Bewaffnete Kerne für territoriale Gegenmacht“. 698 Vgl. Bernocchi (1979), S. 246f.; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 289. 699 Bernocchi (1979), S. 247. „Die Tötung der beiden Faschisten und die Sorge, die Auseinandersetzung könne sich auf diesem Niveau stabilisieren, zerstören die Möglichkeit der Massenmobilisierungen.“ 700 Vgl. Miliucci/Paccino/Pifano (2007), 367f.; Bianchi/Caminiti (2007b), S. 290.

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Staat dominierte in den folgenden sieben Wochen das politische Geschehen in Italien. In der römischen Bewegung machte sich Desorientierung breit.701 Der moderatere Teil der Bewegung beschloss wenige Tage nach der Entführung eine Erklärung, in der sie die Aktion der BR scharf verurteilte: „‚[…] [L]a lotta armata terroristica non sta attaccando e indebolendo lo stato bensì le masse e le loro lotte […].‘“702 Auch die Comitati Autonomi Operai als wichtigste Struktur der römischen Autonomia veröffentlichten am 5. Mai 1978 eine Erklärung, in der sie die Intention der BR, Aldo Moro umzubringen, falls ein Gefangenenaustausch scheitern sollte, kategorisch ablehnten: „[…] (R)iteniamo che le BR non possano e non debbano eseguire la sentenza a morte di chi, come Moro, esse hanno definito prigioniero politico.“703 In Rom herrschte während der siebenwöchigen Entführung Moros ein polizeilicher Ausnahmezustand, der alle verbliebenen Bewegungsdynamiken erlöschen ließ. 704 Einzig die klandestinen bewaffneten Formationen litten nicht unter der extremen Verengung der politischen Spielräume.705 Am 9. Mai wurde die Leiche Aldo Moros gefunden. Spätestens im blutigen Frühjahr 1978 endete die Geschichte der Bewegung von 1977, die sich viel eher als jene von ’68 tatsächlich auf ein Kalenderjahr beschränkte.

3 FAZIT 3.1 1977 in Rom Anfang Februar 1977 entstand in Rom eine soziale Bewegung, die bald zehntausende Jugendliche mobilisierte. Ein großer Teil der Aktivisten des römischen 1977 waren im Bildungssystem konzentriert, wo sie als Studenten, Schüler oder prekär beschäftigte Universitätsdozenten tätig waren. Daneben bildeten Arbeitslose und prekär Beschäftigte eine wichtige Aktivistengruppe, wobei die Übergänge insofern fließend waren, als viele Studenten in prekären Jobs arbeiteten und die Universität im Zeichen der Krise zu einem ‚Parkplatz‘ für zukünftige Arbeitslose geworden war.706 Die Bewegung von 1977 lässt sich als Jugendbewegung einordnen, da sie den weitaus größten Teil ihrer Anhänger in der Alterskohorte zwischen 15 und 30 Jahren fand. Ein

701 Vgl. Bernocchi (1979), S. 257. 702 Mozione approvata dall’assemblea del 20.3.1978, zitiert nach: Bernocchi (1979), S. 260263, hier: S. 261. „‚[…] [D]er bewaffnete terroristische Kampf greift nicht den Staat an und schwächt nicht diesen, sondern die Massen und ihre Kämpfe […].‘“ 703 Comunicato Stampa dei Comitati Autonomi Operai vom 5.5.1978, in: Rivolta di Classe 1 (1978), S. 3, in: MC, Fondo Ilardi, Nr. 65. „[…] Wir glauben, dass die BR das Todesurteil gegen jemanden wie Moro, den sie als politischen Gefangenen definiert haben, nicht umsetzen können und dürfen.“ 704 Vgl. Bernocchi (1979), S. 259f. 705 Für eine Auflistung der klandestinen bewaffneten Aktionen während der Moro-Entführung vgl. Bianchi/Caminiti (2007b), S. 291ff. 706 Vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 3ff.

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großer Teil der Aktivisten von 1977 waren schon vor dem Beginn der Bewegung politisch aktiv gewesen.707 Viele hatten ihre politische Sozialisation in den Gruppen der Neuen Linken erfahren, sich aber seit Mitte der 1970er Jahre aus ihnen zurückgezogen, um als ‚cani sciolti‘708 neue politische Betätigungsfelder zu suchen. Andere waren in den Schüler- und Studentenkollektiven, in der Autonomia Operaia, in den Stadtteilkomitees, den feministischen Gruppen oder der rebellischen Jugendsubkultur der mittleren 1970er Jahre aktiv gewesen. Durch die hohe Anzahl der politischen Veteranen erbte die Bewegung von 1977 nicht nur einen großen politischen Erfahrungsschatz,709 sondern auch eine Reihe über Jahre verfestigter innerlinker Konflikte. In der Bewegung agierte aber auch eine große Zahl jüngerer Aktivisten, für die der Aufbruch des Frühjahrs 1977 den Ausgangspunkt ihrer Politisierung markierte. Die Angehörigen dieser Gruppe gehörten zu jener Generation der italienischen Babyboomer, die in den krisenhaften 1970er Jahren aufgewachsen waren und für die die Rebellion von 1977 stark existenziellen Charakter hatte.710 Die Genese der römischen Bewegung basierte auf einer Reihe von Schlüsselereignissen, die zur Amalgamierung dieser heterogenen Akteursgruppen führten – mehr noch, die römische Bewegung von 1977 materialisierte sich in dieser Ereigniskette.711 Die präzise chronologische Untersuchung dieser Kernphase der Bewegung entlarvt dabei die traditionellen Handlungstheorien als logozentrische Fiktion:712 Prägend für die römische Bewegung war nicht die theoretische, sondern die praktische Logik. Meist wurden Handlungsziele nicht bestimmt und dann in zweckrationalen Schritten umgesetzt, sondern umgekehrt relativ kontingente Ereignisse produziert, denen dann gemeinsam Bedeutungen zugesprochen wurden.713 Die Bewegung existierte, solange sich die retrospektivischen Sinngebungsmuster der einzelnen Strömungen nicht diametral widersprachen. Nach den Ausschreitungen vom 12. März deuteten sich bereits tiefe Risse an, nach dem Tod des Polizeibeamten Passamonti am 21. April war der Punkt erreicht, an dem die römische Bewegung in ihre Komponenten zu zerfallen begann. Mit der politischen und sozialen Neuzusammensetzung des Bewegungsspektrums im Frühjahr 1977 ging auch eine veränderte Topologie einher. In der entstehenden Bewegung waren die marginalisierten Jugendlichen der römischen Peripherie weit stär-

707 Giachetti unterscheidet sechs Bewegungskomponenten, von denen mindestens vier schon vor Anbruch der Bewegung von 1977 über eine klare politische Identität verfügten, vgl. Giachetti (1998), S. 170ff. 708 ‚Streunende Hunde‘ – in der Bewegung üblicher Begriff für unorganisierte Politaktivisten. 709 Vgl. Manconi /Sinibaldi (1977), S. 6f. 710 Vgl. Armani (2005), S. 77f. 711 Ähnlich: Grispigni (1997), S. 94f. 712 Zur Kritik traditioneller Handlungstheorien aus praxeologischer Sicht, vgl. Reichardt (2007), S. 51; Hörning (2004), S. 30f. 713 Exemplarisch hierfür stehen die Auseinandersetzungen auf dem römischen Campus am 17.2.1977, die auch unter den radikalsten Bewegungsaktivisten kaum jemand erwartet hätte, geschweige denn eine Bewegungsversammlung beschlossen oder vorbereitet hatte.

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ker präsent, als sie es zuvor in der römischen Bewegungslinken gewesen waren.714 Die Vektoren der Bewegung hatten sich im Vergleich zu 1968 gewissermaßen umgedreht: Während 1968 linke Studenten in die Peripherie ausschwärmten, um in den borgate und borghetti aktiv zu werden, kam 1977 die Jugend der Peripherie auf den Campus und in das historische Zentrum. Diese temporäre ‚Rückeroberung‘ des Stadtzentrums durch das ‚jugendliche Proletariat‘ beispielsweise in Form der festlichen Aneignung der Piazza Navona, aber auch in Gestalt der gewaltsamen Aneignung der römischen Altstadt im Zuge eines Krawalls, konnte als Reaktion auf jenen Marginalisierungsschub gelesen werden, dem die metropolitanen Unterschichten im Zuge der Wirtschaftskrise und der Immobilienspekulation der 1970er Jahren ausgesetzt waren und der durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit auf besondere Art und Weise die junge Generation traf.715 Die besondere Bedeutung spektakulärer und häufig hochgradig gewalttätiger Aktionen im Frühjahr 1977, die auf Sichtbarkeit und Medieninteresse abzielten, können zum Teil auf die soziale Zusammensetzung der Bewegung zurückgeführt werden, in der die tradierten Verhaltensmodelle von Jugendlichen aus der metropolitanen Peripherie, die auf Gewalt und Gestus basierten, eine wesentliche Rolle spielten.716 Bei bewegungspolitischen Massenereignissen wie der Demonstration vom 12. März waren neben friedlichen Bewegungsaktivisten und organisierten Militanten wohl auch viele Jugendliche im Zentrum Roms zu Gange, die in ihrem Alltag ein nicht dezidiert politisches Rowdytum pflegten und die eher von einer diffusen Ablehnung des Bestehenden als von einer expliziten politischen Überzeugung getrieben wurden.717 Bei vielen marginalisierten Jugendlichen aus der römischen Peripherie scheint der Über-

714 Dennoch war die römische Bewegung von 1977 sicherlich keine exklusive Bewegung von Subjekten aus den metropolitanen Peripherien, sie verfügte durchaus auch über zahlreiche Anhänger in den bürgerlichen Vierteln des Zentrums. 715 Vgl. Bologna (1980), S. 268. Zur veränderten Aneignung des Campus durch die Studenten und die anderen Bewegungsaktivisten vgl. auch: Manconi/Sinibaldi (1977), S. 8-13. 716 Vgl. Grispigni (1997), S. 107f. 717 Umberto Impronta, Leiter der politischen Abteilung der römischen Polizei, skizzierte Ende 1976 ein neues ‚Täterprofil‘: „‚Ci troviamo di fronte ad un tipo di delinquenza nuovo: sono per lo più giovani di borgata disoccupati o in prima occupazione (spessissimo sono minorenni) che girano su motorette e si spostano rapidamente da una zona all’altra della città, rompono vetrine, assaltano autobus, compiono atti teppistici assolutamente gratuiti. Dietro di loro non c’è una chiara matrice politica: sono piccoli nuclei di delinquenza comune.‘“, zitiert nach: L’Espresso vom 12.12.1976, S. 13. „‚Wir sehen uns einem neuen Typus der Delinquenz gegenüber: Es handelt sich zum Großteil um Jugendliche aus den borgate, die arbeitslos sind oder gerade ihrer ersten Beschäftigung nachgehen (und sehr oft minderjährig sind). Sie fahren auf Mopeds und sie bewegen sich sehr schnell von einer Gegend der Stadt in eine andere. Sie schlagen Schaufenster ein, greifen Autobusse an, machen absolut sinnlose Rowdy-Aktionen. Sie haben keine klare politische Prägung: Es sind kleine Kerne gewöhnlicher Delinquenz.‘“ Auch die Anhänger einer logozentrischen Lesart der Bewegungsgewalt mussten anerkennen, dass die unorganisierte Gewalt 1977 eine wesentliche Rolle spielte und in der sozialen Realität ihrer Akteure begründet war, vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 21 und 24.

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gang zwischen Kleinkriminalität, existenzieller Rebellion und politischem Aktivismus fließend gewesen zu sein. Exemplarisch für diese Aktivistengruppe, die oft ausgesprochen militant agierte, aber über keine allzu klaren politischen Vorstellungen verfügte und Politik stets als Agieren in der ersten Person begriff, kann ein 19jähriger Arbeitsloser aus der römischen Peripherie stehen, der sich mit kleineren Straftaten über Wasser hielt und sich im Umfeld der Autonomia bewegte. ‚Paradiso‘ nahm 1977 an zahlreichen militanten Aktionen teil und ging alleine, mit einer Pistole bewaffnet auf Demonstrationen, um den ‚bewaffneten Kampf‘ zu praktizieren: „‚[…] [L]a prima volta che sono sceso in piazza con la pistola non pensavo certo: ‚Oggi succede la rivoluzione‘, scendevo in piazza un po’ per sentirmi un po’ partigiano, un po’ perché è sempre presente un po’ di esaltazione, ma scendevo il piazza sopratutto per fare la lotta direttamente, senza mediatori.‘“718 Neu an der Bewegung von 1977 war jedoch nicht nur ihre soziale und politische Zusammensetzung sowie ihre Verräumlichung, sondern auch ihr Politikbegriff: Die Genese der Bewegung basierte auf einer Reihe von Konzepten, die den gemeinsamen politischen Horizont der Beteiligten ausmachten. Zentral waren dabei Vorstellungen von einer ‚anderen Art, Politik zu machen‘ : Entscheidungen sollten basisdemokratisch gefällt und auf direktem Weg, ohne Delegation und Mediation, kollektiv umgesetzt werden. Persönliches und Politisches sollten im Alltag verbunden sein.719 Diese Vorstellungen wiesen der traditionellen Linken und den parteiförmig organisierten Gruppen der Neuen Linken von Anfang an eine Randposition zu. Trotz des basisdemokratischen Anspruchs waren die Rollenprofile der Bewegungsaktivisten de facto keineswegs homogen. Real gab es eine Reihe relativ kleiner Gruppen, die die Bewegung politisch und praktisch prägten, während die große Zahl der Aktivisten eher im Hintergrund blieb.720 Gerade organisierte ältere Aktivisten mit großer politischer Erfahrung prägten die bewegungsinternen Debatten. Das Verhältnis von ‚Avantgarden‘ und Massenbasis in der Bewegung von 1977 lässt sich folgendermaßen skizzieren: Die großen präexistenten Organisationen – auf der einen Seite die Gruppen der Neuen Linken, auf der anderen Seite die Zusammenhänge der Autonomia Operaia – markierten hinsichtlich ihrer politischen Inhalte und der von ihnen propagierten Praktiken den moderaten und den radikalen Rand der Bewegung. Allerdings waren diese Ränder weitaus kompakter als die Mitte der Bewegung, die nur über relativ in-

718 Zitiert nach: De Angelis (1981), S. 110. „‚[…] [D]as erste Mal, als ich mit der Pistole auf eine Demonstration gegangen bin, dachte ich sicher nicht: ‚Heute bricht die Revolution aus‘. Ich ging auf die Straße, ein bisschen, weil ich mich ein wenig wie ein Partisan fühlen wollte, ein bisschen, weil immer ein wenig Überschwang mit im Spiel ist. Aber ich ging vor allem auf die Straße, um direkt zu kämpfen, ohne Vermittler.‘“ 719 Vgl. Bologna (1980), S. 279f.; Giachetti (1998), S. 161ff. 720 Vgl. Giachetti (1998), S. 175. Diese Tatsache führt freilich zu einem Erkenntnisproblem, da der Großteil der die Bewegung betreffenden Quellen eher Rückschlüsse auf die Positionen der ‚Avantgarde‘ der Bewegung zulässt als auf diejenigen der politisch weniger profilierten Aktivisten.

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stabile organisierte Kerne verfügte.721 So übten die Ränder oft einen prägenden praktischen und diskursiven Einfluss aus und führten einen ständigen Kampf um die politische Hegemonie in der Bewegung. Zugleich dominierten gewisse kreative und militante ‚Avantgarden‘ mit ihren spektakulären Aktionsformen die öffentliche Wahrnehmung der Bewegung: einerseits ‚Stadtindianer‘ und andere ‚Kreative‘ mit ihren Praktiken der Theatralisierung und der Ironie; zum anderen die AutonomiaAktivisten mit ihren militanten Praktiken, die über die tradierten Repertoires politischer Bewegungsgewalt hinausgingen. Die Bewegungsexplosion des Frühjahrs 1977 war aber auch dadurch charakterisiert, dass das statische Verhältnis von ‚Avantgarden‘ und ‚Massen‘, von Rändern und Mitte der Bewegung selbst in Bewegung geriet: Die avantgardistischen Repertoires wurden vorübergehend zu Massenpraktiken. Mit den ‚Stadtindianern‘ entstand eine kreative und expressive Massenströmung, die die Außenwahrnehmung der Bewegung vorübergehend wesentlich mitbestimmte. Kreativität, Theatralisierung und Ironie, aber auch Militanz und Gewalt wurden nicht mehr delegiert: Die Masse der Bewegungsaktivisten praktizierte Aktionsformen, die bislang den radikalen Rändern vorbehalten gewesen waren.722 Diese Aneignung vormals exklusiver Praxisformen entsprach dem Anspruch diese nicht an eine Handvoll kreative Köpfe oder einen schlagkräftigen Ordnerdienst zu delegieren. Neben dem politischen Anspruch dürfen aber auch narzistische Tendenzen nicht unterschätzt werden:723 Die römische Bewegung von 1977 war ein Medienereignis und um im Zentrum der Bewegung zu stehen, galt es, im Zentrum des Medieninteresses zu stehen. Die massenhafte Aneignung spektakulärer Repertoires war wesentlich durch eine Ökonomie der Sichtbarkeit bestimmt, nach deren Regeln geschminkte ‚Stadtindianer‘ und vermummte Autonomia-Aktivisten die Bewegung als Ganzes repräsentierten. Damit aber ist die Attraktivität von kreativen und militanten Praktiken für eine große Zahl von Akteuren im Jahr 1977 keineswegs erschöpfend erklärt. Gerade für jene Aktivisten, die nicht zum harten politischen Kern der Bewegung gehörten und deren Handeln sich deshalb nicht in erster Linie aus einer expliziten politischen Agenda erklären lässt, müssen andere implizite Motive einbezogen werden. In ihrem Fall muss weniger die Ethik im Sinne eines expliziten Wertesystems, als vielmehr das Ethos im Sinne der prägenden Lebensgewohnheit als wesentlicher Faktor angenommen werden. Einer praxeologischen Lesart folgend, kann das Repertoire vieler Aktivisten von 1977 wesentlich durch ihre Kapitalausstattung und ihre soziale ‚Flugbahn‘ erklärt werden. Die Aktivisten von 1977 waren Bourdieus – von der Analyse der französischen Gesellschaft ausgehenden – Definition folgend Angehörige einer

721 Im Falle Roms waren dies konkret PdUP und AO am ‚rechten‘ Rand der Bewegung und Autonomia Operaia am linken Rand. Einen der wenigen einflussreichen organisierten Kerne der Bewegungsmitte stellte das Komitee der geisteswissenschaftlichen Fakultät dar, welches aber bald an internen Grabenkämpfen zerbrach. 722 Vgl. Grispigni (1997), S, 106f. 723 Einen Hinweis auf die Bedeutung des Narzissmus im Hinblick auf die Gewalt mancher Bewegungsaktivisten gibt Bastelli, vgl. Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 148.

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‚geprellten Generation‘724: „Es ist die aus dem strukturellen Auseinanderklaffen von Aspiration und Chance, die aus der Kluft zwischen der im Bildungssystem scheinbar versprochenen oder provisorisch offerierten sozialen Identität und jener, die der Arbeitsmarkt nach Austritt aus der Schule real anbietet, resultierende Desillusionierung, die der Arbeitsunlust, dem Arbeitsverdruss zugrunde liegen und den mannigfachen Manifestationen der Ablehnung gesellschaftlicher Zweckbestimmung, der Wurzel aller für die ‚Gegenkultur‘ der Heranwachsenden konstitutiven Fluchtbewegungen und Verweigerungsphänomene.“725 Der verlängerte Aufenthalt der jungen Aktivisten in den Bildungsinstitutionen führte zu einer gesteigerten Akkumulation kulturellen Kapitals. Dies hatte eine Veränderung des Geschmacks zur Folge, der sich nun nicht mehr mit dem ‚Notwendigkeitsgeschmack‘726 der vorherigen proletarischen Generationen deckte, sondern neue Bedürfnisse materieller und kultureller Natur mit einschloss.727 Das vermehrt akkumulierte kulturelle Kapital der neuen Aktivistengeneration konnte im Bewegungskontext in kreative Aktionsformen ‚investiert‘ werden, die maximale Sichtbarkeit garantierten.728 Was im italienischen 1968 eher noch ein Vorrecht kleiner intellektuell-kreativer ‚Avantgarden‘ geblieben war, wurde 1977 beispielsweise am 23. März zur Massenpraxis, als tausende Bewegungsaktivisten ihr Aufeinanderstreffen mit der Gewerkschaftsdemonstration in ein ironisches Happening verwandelten.729 Zugleich aber ging im Zuge der Wirtschaftskrise die Deckungsgleichheit der objektiven gesellschaftlichen und der einverleibten Strukturen für die ‚geprellte Generation‘ verloren: Durch den Bildungsboom und die gleichzeitig extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit kam es zu einer Abschlussinflation, angesichts derer die Konvertierbarkeit von erworbenem kulturellem Kapital in ökonomisches Kapital nicht mehr gewährleistet war und somit die gewachsenen materiellen und kulturellen Bedürfnisse oft nicht befriedigt werden konnten.730 So sahen sich viele junge Aktivisten von 1977 gemessen an ihrer Laufbahn in den Bildungsinstitutionen mit einer absteigenden sozialen ‚Flugbahn‘ konfrontiert, was ihre Bereitschaft zur Partizipation an militanten Praktiken vergrößert haben dürfte. Versucht man die Bewegung eher entlang ihrer inhaltlichen Ausrichtung als anhand ihrer politischen und sozialen Zusammensetzung und ihrer praktischen Konstituierungs- und Auflösungsprozesse zu analysieren, so wird rasch deutlich, dass gerade im Falle Roms das inhaltlich ‚Neue‘ der Bewegung zunächst keineswegs prädomi-

724 Vgl. Bourdieu (1982), S. 241-248. 725 Bourdieu (1982), S. 242. 726 Vgl. Bourdieu (1987), S. 291. 727 Ein Beispiel hierfür waren die Kämpfe der proletarischen Jugendzirkel um billige Konzertund Kinobesuche seit Mitte der 1970er Jahre. Revelli konstatiert einen Bruch zwischen der fordistischen Subjektivität der älteren Arbeitergeneration und jener der jungen Generation, die die Massenschule besucht hatte, vgl. Revelli (2007), S. 177. 728 Zum Einsatz von kulturellem Kapital im Zuge von Demonstrationen, vgl. Pierre Bourdieu (2001): Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz, S. 59. 729 Zur kreativ-provokativen Gruppe der ‚uccelli‘ (‚Vögel‘) im römischen 1968, vgl. z.B. Kurz (2001), S. 210. 730 Zur Konvertierbarkeit der Kapitalsorten vgl. z.B. Bourdieu (1987), S. 222ff.

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nant war: Der militante Antifaschismus war von Anfang an ein Kerncharakteristikum der Bewegung und stand in einer langen Tradition.731 Betrachtet man das in den ersten Bewegungswochen entwickelte politische ‚Programm‘, so wird rasch eine Diskrepanz zwischen der Agenda und der Verräumlichung der Bewegung deutlich. Die römische Bewegung von 1977 stellte radikale, gesamtgesellschaftliche Forderungen, verfügte aber einzig im Bildungsbereich über eine nachhaltige Verankerung. Der Bewegungsforderung nach Rücknahme der Malfatti-Reform konnte Nachdruck verliehen werden, indem der Campus besetzt oder Lehrveranstaltungen blockiert wurden. Allerdings nahm die Auseinandersetzung um die Universitätsreform in der Agenda der Bewegungsaktivisten von Anfang an nicht die zentrale Rolle ein, da die eigentlichen Probleme der Akteure vor allem außerhalb des Campus lagen:732 Jugendarbeitslosigkeit, Prekarität und Schwarzarbeit, Marginalisierung und Perspektivlosigkeit in der metropolitanen Peripherie und Konsumeinschränkung im Zeichen der Wirtschaftskrise. Die Universität war also eher provisorischer Sammelpunkt als programmatischer Mittelpunkt der Bewegung.733 Jenseits des Bildungsbereichs fehlten jedoch konkrete Ansatzpunkte, um das Geforderte durchzusetzen: Die immer wiederkehrende Forderung nach einer generalisierten Arbeitszeitreduktion etwa blieb abstrakt, da die Bewegung aufgrund ihrer mangelnden Verankerung in der Arbeitswelt kaum konkrete Schritte zu ihrer Durchsetzung organisieren konnte.734 Stärken und Schwächen der Bewegung standen in einem direkten Zusammenhang: Die Bewegung von 1977 enthielt, wie Marco Revelli rückblickend konstatierte, zwar mehr ‚futuro sociale‘735 als ihre große Schwester von 1968. Aber die Vorwegnahme der postfordistischen Figur des ‚verstreuten Arbeiters‘736 bezahlte die Bewegung von 1977 mit dem Verlust der Gewissheit, dass die Fabrik das zentrale gesellschaftliche Konfliktterrain sei, und mit einem eklatanten Mangel an Verankerung in der Industrieproduktion, die im italienischen Durchschnitt nach wie vor den dominanten ökonomischen Sektor bildete und über die kämpferischsten Beschäftigten verfügte.737 So zielte die Bewegung von 1977 auf eine umfassende gesellschaftliche und politische

731 Die antifaschistische Mobilisierung vom 1./2. Februar 1977 bot Anlass zur Entstehung der Bewegung. Die Panzieri-Demonstration vom 5. März war ein weiterer antifaschistischer Mobilisierungshöhepunkt. Zum Antifaschismus der römischen Bewegung von 1977 vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 16. Zur Bedeutung des militanten Antifaschismus in der italienischen Bewegungslinken nach 1968 vgl. De Luna (2009), S. 81ff. 732 Giachetti (2007), S. 12. Dagegen die Lesart von Manconi und Sinibaldi, die eine Interpretation der Bewegung als ‚seltsame Stundentenbewegung‘ vorschlagen, vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 8-13. 733 Vgl. Bologna (1980), S. 291; Giachetti (2007), S. 11f. 734 Zur Forderung nach Arbeitszeitreduktion vgl. Abschlussdokumente der italienweiten Bewegungsversammlungen vom 26. und 27. Februar 1977 in Rom (vgl. Collettivo redazionale ‚La Nostra Assemblea‘ (1977), S. 153) und vom 29. April bis 1. Mai 1977 in Bologna (vgl. Bernocchi (1979), S. 176). 735 Vgl. Revelli (2007), S. 176. „Gesellschaftliche Zukunft“. 736 Vgl. Bologna (1980), S. 283. 737 Zur Zusammensetzung der arbeitenden italienischen Bevölkerung, vgl. Ginsborg (1990), S. 433.

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Veränderung ab, verfügte aber über völlig unzureichende politische Ressourcen, um diese nur ansatzweise durchzusetzen. Auch deshalb war die Bewegung auf spektakuläre Aktionsformen angewiesen, um ihre mediale Sichtbarkeit und somit ihre politische Relevanz zu erhöhen. Die Existenz der Bewegung von 1977 blieb aufgrund ihrer Ablehnung fester organisatorischer Strukturen in besonderem Maße von der kontinuierlichen Interaktion und dem kollektiven Agieren der Aktivisten abhängig. Für beides waren Aktionsräume nötig:738 Aggregationsräume, in denen sich die Bewegung in der Interaktion konstituierte, und ‚Bühnenräume‘, auf denen sie sich und ihre Anliegen der Öffentlichkeit präsentieren konnte.739 Für die Aggregation der Bewegungsaktivisten war dabei der römische Campus und phasenweise die außerhalb des Campus gelegenen Fakultäten sowie das Studentenwohnheim in der Via De Lollis unverzichtbar. Als Bühnenraum war für die römische Bewegung neben dem Campus das Stadtzentrum von wesentlicher Bedeutung, da die Bewegung hier besondere Sichtbarkeit erlangte.740 Neben dem Versuch, sich diese materiellen Aggregations- und Bühnenräumen anzueignen, unternahm die Bewegung aber auch den Versuch, neue Räume zu generieren: Freie Radiosender der römischen Bewegung wie Radio Città Futura und Radio Onda Rossa ermöglichten eine virtuelle Aggregation im Äther, da die Hörer anrufen und ihre Meinung beisteuern konnten. Außerdem wurden die Wände des Campus und der Stadt insgesamt im Frühjahr 1977 in ein gigantisches Pinboard verwandelt, auf dem zahllose Aktivisten ihre Ansichten in Worte fassten, was oft leichter war, als seiner Meinung bei den überfüllten Versammlungen in der Universität Gehör zu verschaffen.741 Das von Marco Revelli konstatierte ‚obsessive Beharren‘ der Bewegung von 1977 auf der territorialen Dimension kann, angesichts des allmählichen Abklingens

738 Auf die Bedeutung von Räumen für die Bewegung von 1977 verwiesen zahlreiche Autoren: Bologna verwies auf die Bedeutung der Aneignung der Stadtzentren durch die Bewegung, vgl. Bologna (1980), S. 268. Giachetti verwies auf die Rolle des Campus als Zentrum der Bewegung, vgl. Giachetti (1998), S. 172. Locher sah die Suche nach Räumen als Leitmotiv der Bewegung von 1977, vgl. Locher (2007), S. 74f. Revelli spricht vom ‚obsessiven Beharren der Bewegung von 1977 auf der territorialen Dimension‘, vgl. Revelli (2007), S. 178. Grispigni sah Konflikte um Räume (neben jenen um Konsumbedürfnisse) als zentrale Achse der Bewegung von 1977 und verwies neben den Universitätsbesetzungen und den gewalttätigen Aneignungen der Stadtzentren auf die Besetzung der ersten sozialen Zentren im Zuge der Bewegung von 1977, vgl. Grispigni (1997), S. 82ff. 739 Zur Bedeutung des römischen Campus als Aggregationsraum vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 12 und S. 18. 740 Die beiden Kategorien sind nicht trennscharf – unter anderem, weil das große Medieninteresse an der Bewegung auch Aggregationsmomente zum Thema öffentlicher Berichterstattung werden ließ und die bewegungsinterne Interaktion aus der Sicht des einzelnen Aktivisten durchaus die Chance der Selbstdarstellung bot und so wiederum zur Bühne wurde (vgl. Giachetti (1998), S. 172). Außerdem war das Bewegungsspektrum nicht klar von jenen Akteuren abgrenzbar, die agitiert werden sollten, wodurch interne Praktiken und nach außen orientierte Aktionen nicht klar unterschieden werden können. 741 Vgl. Locher (2007), S. 83.

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des fordistischen Zyklus, in dem der Kampf der Massenarbeiter in den Fabriken die Speerspitze der sozialen Konfliktualität gebildet hatte, als Ausdruck einer Suche nach einem neuen Ort des Konflikts interpretiert werden.742 Die Konzentration auf Raumkonflikte war aber auch in der Sozialisation der jungen Bewegungsakteure verankert, in deren Leben Arbeit nicht mehr die zentrale biographische Erfahrung darstellte und sich die soziale Konfliktualität zunehmend auf Fragen der Raumaneignung und des Konsums konzentrierte.743 Die Strategen der staatlichen Repression waren sich dieser Tatsache durchaus bewusst und versuchten, der Bewegung ihre Räume zu entziehen: Die ‚Schlupfwinkel‘ der Autonomia sollten geschlossen, der besetzte Campus und die besetzten Fakultäten geräumt werden. Auch die freien Radiosender wurden zum Ziel der Repression, denn auch sie waren Teil jenes Kommunikationsraums, in welchem sich die Bewegung ständig aufs Neue generierte. Mit dem Demonstrationsverbot vom April und Mai 1977 wurde der Bewegung schließlich das Stadtzentrum Roms insgesamt entzogen und letztlich jede Form der Zusammenkunft unter freiem Himmel unmöglich. Ziel der Repression war es, die Bewegung in ihre organisierten Ursprungskomponenten aufzuspalten und die große Masse der unorganisierten Bewegungsaktivisten in eine Myriade vereinzelter Individuen zu zersetzen. So muss der Kampf um den Campus und das Stadtzentrum Roms in letzter Konsequenz als Kampf um die praktische Existenz der römischen Bewegung begriffen werden. Diese materielle Angewiesenheit der Bewegung auf die umkämpften Räume darf bei der Suche nach den Gründen für die extreme Härte der Auseinandersetzung zwischen Bewegung und Staat 1977 nicht vernachlässigt werden. Versucht man die Bewegung von 1977 mithilfe der von Castells vorgeschlagenen Kategorien als urbane Bewegung einzuordnen, so werden einige Spezifika deutlich:744 Fragen des kollektiven Konsums spielten im Frühjahr 1977 zwar durchaus eine Rolle, doch der Kampf um uneingeschränkten Zugang zur Universität als Bildungsinstitution und zum Campus als Freiraum bildeten letztlich nicht den Kern der Bewegungsagenda. Schlüssiger erscheint es, die Bewegung von 1977 ausgehend von den Dimensionen ‚community‘ und ‚self-management‘ zu interpretieren: Die Bewegung bildete eine – zumindest dem Anspruch nach – basisdemokratisch organisierte Gemeinschaft, die Formen der politischen Delegierung und Repräsentation ablehnte. Allerdings basierte die Gemeinschaftskonstitution im Zuge der Bewegung von 1977 nicht mehr auf der räumlichen Nähe der Beteiligten im urbanen Terrain, sondern auf ihren politischen, subkulturellen und generationenspezifischen Identitäten. Aufgrund der verstärkten Erfahrungsorientierung der Beteiligten kann die Bewegung von 1977,

742 So Revelli (2007), S. 178f. 743 Vgl. Grispigni (1997), S. 82ff.; Marco Grispigni (1990a): ‚Qualcosa di travolgente‘. Conflitti impolitici, in: Massimo Ilardi (Hg.): La città senza luoghi. Genua, S. 97-121, hier: S. 99. Die These Grispignis (1997, S. 82f.), dass deshalb die Forderung nach Arbeitszeitreduktion nicht mehr zur Agenda der Bewegung von 1977 gehört habe ist dennoch falsch – ein Blick auf die Abschlussdokumente der italienweiten Bewegungsversammlungen vom 26./27. Februar 1977 in Rom und vom 29. April bis 1. Mai 1977 in Bologna genügt, um dies festzustellen: Beide Male spielte eben diese Forderung eine zentrale Rolle. 744 Vgl. Castells (1983), S. 319ff.

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Castells folgend, als neues ‚emerging social movement‘ definiert werden.745 Zugleich aber könnte man die Eskalation der Gewalt von 1977 als Resultat des Scheiterns derjenigen urbanen Bewegungen interpretieren, die angetreten waren, Rom zu einer anderen Stadt zu machen: „When institutions remain […] unresponsive […], police take over the streets again, and meaningful space continues to disintegrate […] urban social movements no longer call for an alternative city. Instead their fragmented elements undertake the destruction of the city they reject.“746

3.2 1977 in der italienischen Geschichte Die Bewegung von 1977 wird nicht verständlich, wenn man sie nicht vor dem Hintergrund des Bewegungszyklus betrachtet, der in Italien mit der Studentenbewegung des Jahres 1968 begonnen hatte und mit dem Paukenschlag des Jahres 1977 einen Schlusspunkt finden sollte. Doch wie hatten sich die Koordinaten der linken Bewegung in diesen neun Jahren verändert? Der Optimismus von 1968 war mit der allgemeinen Eintrübung der Zukunftserwartung im Zuge der ökonomischen Krise und der sich zunehmend andeutenden ökologischen Krise 1977 verschwunden.747 Der Pessimismus der 77er Aktivisten basierte außerdem auf einer Reihe weiterer Faktoren: Zum einen war der Revolutionsmythos, dem die 1968er gehuldigt hatten und der auf der – zumindest impliziten – Annahme historischer Gesetzmäßigkeiten beruhte, einer radikalen Form der Immanenz gewichen.748 Zum anderen war 1977 kein internationales Phänomen, wie es 1968 gewesen war. So war es unmöglich, die eigene Bewegung als Teil eines siegreichen globalen Kampfzyklus zu sehen.749 Das Verschwinden der vermeintlichen Gewissheiten von 1968 machte die Bewegung jedoch keineswegs moderater. Im Gegenteil: Es war gerade die radikale Immanenz der Revolte von 1977, die ihre Unversöhnlichkeit bedingte und Aufstandsmodelle750 attraktiv werden ließ.751 Zugleich war die Immanenz der Revolte von 1977 mitverantwortlich für die Kurzatmigkeit der Bewegung: Im Frühjahr 1977 wagten zehntausende Jugendliche in Rom und in ganz Italien einen kurzen radikalen Versuch, die bestehende Verhältnisse aus den Angeln

745 Vgl. Castells (1983), S. 311. 746 Castells (1983), S. 327. 747 Vgl. Bologna (1980), S. 268f. 748 Vgl. z.T. Giachetti (1998), S. 179. 749 Vgl. Giachetti (1998), S. 177. 750 Wobei die Begrenzung der Aufstandsidee auf jene Kreise, die eine leninistische und parteiförmige Organisierung im Blick hatten, wie sie Manconi und Sinibaldi vornahmen, wohl zu kurz griff, vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 20. Real waren Aufstandsideen in der römischen Bewegung wohl deutlich weiter verbreitet, vgl. die Erklärung der Bewegungsvollversammlung vom 17.3.1977, zitiert in: Bernocchi (1979), S. 153. Außerdem verfügten sie über eine komplexe Vorgeschichte in der italienischen Linken, die ihren Ausgangspunkt lange vor 1968 nahm, vgl. De Luna (2009), S. 89ff. 751 Vgl. Giachetti (1998), S. 179.

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zu heben, der unter dem Druck der Repression und der eskalierenden internen Konflikte bald in eine Phase des Rückzugs und der Vereinzelung mündete, in dem für viele der Heroinkonsum zum Ersatz für die politische Glückssuche wurde: Die Zahl der Heroinabhängigen stieg in Italien zwischen 1976 und 1978 von etwa 10.000 auf über 60.000.752 Die Bewegung von 1977 kann als Endpunkt des italienischen Bewegungszyklus seit 1968 begriffen werden, an dem das Gesellschaftsmodell und die Subjektordnung der italienischen Nachkriegsgesellschaft zu jenen postmodernen Formationen hin zu kippen begannen, die in den 1980er Jahren prägend werden sollten.753 Auf ökonomischer Ebene kann der Wandel als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus gefasst werden, in dessen Zuge es zu einer Formveränderung vom Konkreten der fordistischen Großfabrik zum Abstrakten der dezentralisierten Produktionsketten kam und die Finanzsphäre wachsende Bedeutung gewann, wobei sich der Ort der Subjektivierung aus der großen Fabrik hinausverlagerte.754 Der mit den ökonomischen und sozialen Veränderungen einhergehende Wandel der Subjektordnung in den Gesellschaften des Westens wurde von Andreas Reckwitz folgendermaßen interpretiert: Die späten 1970er Jahre bilden eine Epochenschwelle hin zu einer neuen „kreativ-konsumtorischen“ Subjektformation, welche ab den 1980er Jahren zum hegemonialen Selbstentwurf in Westeuropa und den USA wurde. Reckwitz weist für diesen Übergang der counterculture der 1960er und 1970er Jahre eine Katalysatorfunktion zu, die wesentliche Elemente der zukünftigen Ordnung vorweg genommen habe.755 Im italienischen Fall scheint dies in besonderem Maße für die Bewegung des Jahres 1977 zuzutreffen: Die Akteure von 1977 nahmen hinsichtlich der von Reckwitz als zentral apostrophierten Felder der Subjektivierung eine Vorreiterrolle ein und können so als Wegbereiter des Kommenden gelten. Die häufig prekären Beschäftigungsverhältnisse und -perspektiven vieler Akteure von 1977, ihr Status als non-garantiti bei gleichzeitig relativ hohem Bildungsniveau machte sie zu Pionieren der kommenden Arbeitsverhältnisse. Die gewachsene Bedeutung des Persönlichen und des Körpers sowie die Individualitäts-, Expressivitätsund Lebendigkeitssemantik, die in der Bewegung von 1977 zum Ausdruck kamen, machten die Aktivisten von 1977 ebenso wie ihre dezidierte Konsumorientierung zu Vorreitern postmoderner Beziehungsentwürfe und Technologien des Selbst.756 Zugleich waren die Anhänger der Bewegung von 1977 in ihrer großen Mehrheit radikal politisiert und so überlagerten sich in ihrer Subjektivität Elemente einer in der Arbeiterbewegung verwurzelten politischen Semantik, die nach 1968 reaktualisiert worden war, mit Elementen einer zukünftigen postmodernen Subjektordnung. Die

752 Vgl. Giachetti (1998), S. 183. 753 Vgl. Grispigni (1997), S. 68. 754 Vgl. Revelli (2007), S. 177f. Ausführlich zum Übergang vom Fordismus zum Postfordismus in Italien: Sablowski (1998). 755 Vgl. Andreas Reckwitz (2006): Das hybride Subjekt. Weilerswist, S. 9-31, S. 75. Reckwitz bezieht seine Überlegungen dabei allerdings explizit nur auf Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die USA, vgl. Reckwitz (2006), S. 30. 756 Vgl. Reckwitz (2006), S. 588-614.

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daraus resultierende Spannung zwischen Kollektivität und Individualität, Transzendenz und Immanenz, Opferbereitschaft und Glückssuche, Politischem und Persönlichem, Objektivität und Subjektivität prägte die Selbstentwürfe der Bewegungsaktivisten und markierte die Generationenunterschiede innerhalb der Bewegung: Während die älteren Aktivisten häufig noch durch die traditionellen Vorstellungen von politischer Militanz geprägt waren, waren bei den Jungen von 1977 die neuen Subjektivitätsfacetten tendenziell stärker ausgeprägt. Robert Lumley versuchte die gegenläufigen Tendenzen in der italienischen Bewegungskultur der späten 1970er Jahre mithilfe von Raymond Williams’ Begriffspaar der ‚residual and emergent forms of culture‘757 zu fassen.758 Diese zunächst schlüssige Unterscheidung droht dort die Realität zu verzerren, wo ‚residual forms‘ implizit mit Dogmatismus und Gewalt gleichgesetzt und vermeintlich emanzipatorischen und gewaltfreien ‚emergent forms‘ gegenüber gestellt werden.759 Die Gewalt des Jahres 1977 einzig einem leninistischen Politikmodell zuzuschreiben, geht gerade in Rom, wo nicht nur die große Mehrheit der unorganisierten Bewegungsaktivisten, sondern auch die wichtigsten Zusammenhänge der Autonomia Operaia solche Modelle ablehnten, an der Realität vorbei.760 Gewalt wurde nicht nur von hierarchischen Gruppen in organisierter Weise praktiziert, sondern auch von vielen jungen Aktivisten im Zeichen des individuellen ‚selfgrowth‘761 : „‚Io qualche volta sono andato armato alle manifestazioni […]. […] Io di solito alle manifestazioni vado solo e non perché non ho amici che vengono con me. […] (C)i vado prima di tutto per risolvere faccende mie; non è che vado con i compagni che mi possono influenzare o che io posso influenzarli, perché non sarebbe più una spontaneità rivoluzionaria. Io non voglio rappresentare nessuno mai ad una manifestazione, rappresenterò sempre e soltanto me stesso.‘“762

757 Raymond Williams (1980): Base and Superstructure in Marxist Cultural Theory, in: Ders.: Culture and Materialism. London/New York, S. 31-49, hier: S. 40. 758 Vgl. Lumley (1990), S. 273-278. 759 Lumley weist selbst auf die Gefahr hin, die Begriffe schematisch gegenüberzustellen, vgl. Lumley (1990), S. 277. Er ist an anderen Stellen aber dennoch nicht völlig gegen diese Tendenz gefeit, vgl. Lumley (1990), S. 307. 760 Es ist bezeichnend, dass auch Autonomia-kritische Bewegungsaktivisten wie Manconi und Sinibaldi bei ihrer Kritik der leninistischen Tendenzen der Autonomia auf die Publikationen von Mailänder Zusammenhängen rekurrieren und kein Wort über die römischen Comitati Autonomi Operai verlieren, obwohl ihre Darstellung ansonsten deutlich auf Rom fokussiert ist, vgl. Manconi/Sinibaldi (1977), S. 18ff. 761 Zum Begriff ‚self-growth‘, vgl. Rechwitz (2006), S. 589. 762 ‚Paradiso‘, ein Aktivist der Bewegung von 1977 aus der römischen Peripherie, zitiert nach: De Angelis (1981), S. 109ff. „‚Ich bin einige Male bewaffnet zu den Demonstrationen gegangen […]. […] Ich gehe gewöhnlich alleine auf die Demonstrationen, aber nicht weil ich keine Freunde habe die mitkommen würden. […] (I)ch gehe vor allem hin um meine Angelegenheiten zu regeln. Ich gehen nicht mit den Genossen hin, die mich beeinflussen können oder umgekehrt, denn das wäre keine revolutionäre Spontanität mehr. Ich will bei einer Demonstration niemals irgendwen repräsentieren, ich werde immer nur mich selbst repräsentieren.‘“

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Es waren gerade auch die neuen Charakteristika der Epoche, die ‚emergent forms‘ wie Individualität, Subjektivität und Emotionalität als Aspekte des politischen Handelns, die zur Gewalteskalation des Jahres 1977 beitrugen.

IV. Die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik 1978

Anfang Juni 1978 trat nach jahrelangen Kämpfen der feministischen Bewegung Italiens ein neues Abtreibungsgesetz in Kraft, das Schwangerschaftsabbrüche bis zum dritten Monat legalisierte. Kurz darauf besetzten Aktivistinnen einer feministischen Beratungsstelle im Stadtteil San Lorenzo und Aktivistinnen des autonomen Betriebskollektivs der Poliklinik Umberto I gemeinsam eine leer stehende Abteilung in der römischen Poliklinik, um dort in Eigenregie eine Abtreibungsabteilung aufzubauen. Die besetzte Abteilung existierte drei Monate lang, ehe sie Ende September 1978 von der Polizei geräumt wurde. In diesem Zeitraum war das so genannte ‚reparto occupato‘1 der wichtigste Anlaufpunkt in der italienischen Hauptstadt für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten. Im Folgenden soll zunächst auf die Entstehung und die politische Praxis jener beiden Gruppen eingegangen werden, die die Besetzung organisierten. Anschließend wird die Besetzung der Abtreibungsabteilung selbst en detail analysiert. Durch die einleitende Darstellung der Betriebskämpfe in der Poliklinik und der feministischen Stadtteilarbeit in San Lorenzo wird nicht nur die doppelte Vorgeschichte der Besetzung beleuchtet und diese so in den längerfristigen bewegungspolitischen Konjunkturen der 1970er Jahre verankert, sondern es werden auch exemplarische Schlaglichter auf zwei bedeutende Felder sozialer Konfliktualität im Rom der 1970er Jahre geworfen: Die Betriebskämpfe im Dienstleistungsbereich, die für das tertiär geprägte Rom charakteristisch waren, und die feministische Bewegung, die um die Mitte der 1970er Jahre zur dynamischsten außerparlamentarischen Kraft in Italien avancierte.

1 DIE BASISKÄMPFE AN DER RÖMISCHEN POLIKLINIK 1.1 Die Entstehung des Collettivo Policlinico Die Studentenbewegung des Jahres 1968 und der folgende Zyklus sozialer Kämpfe gingen auch am römischen Gesundheitswesen nicht spurlos vorüber. Politisierte Studenten der Medizinfakultät suchten ebenso wie zahlreiche ihrer Kommilitonen aus anderen Fachbereichen bald nach Möglichkeiten, kämpferische Arbeiter und Ange1

‚Besetzte Abteilung‘.

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stellte in ihren Auseinandersetzungen zu unterstützen. Das eng mit der Gruppe Il Manifesto verbundene Collettivo degli studenti di medicina2 intervenierte bald in den Fabriken an der Via Tiburtina, um dort die in Rom spärlich gesäte Industriearbeiterschaft zu erreichen: Man gründete eine ‚Umweltkommission‘ im lokalen consiglio di zona3 der Gewerkschaften und machte gegen die gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen in den umliegenden Fabriken mobil.4 Im Frühjahr 1971 jedoch zerbrach das Kollektiv der Medizinstudenten in zwei Flügel: Während jener Teil der Studenten, der auch in Zukunft mit Il Manifesto verbunden blieb, weiterhin die Arbeiterschaft der Fabriken im Osten Roms zu mobilisieren suchte und zugleich die Politisierung neuer Studentengenerationen an der Medizinfakultät vorantreiben wollte, sah ein anderer Teil der Studenten diese Form der Intervention zunehmend kritisch: In ihren Augen war die Fabrikagitation der fundamentalen Unfähigkeit der Medizinstudenten geschuldet, auf dem ‚eigenen Terrain‘ – also im Gesundheitswesen – zu kämpfen und somit eine Form der Flucht vor den tatsächlichen Herausforderungen. Zudem sei man durch diese Art der Intervention dauerhaft auf eine subalterne Rolle am linken Rand der Gewerkschaften festgelegt, da erst die Verankerung in der Gewerkschaft den Zugang zur Fabrikarbeiterschaft ermögliche. Während die erste Gruppe weiterhin als Collettivo degli studenti di medicina firmierte und die bisherige Linie weiterverfolgte, zielte die zweite Gruppe fortan unter dem Namen Collettivo lavoratori e studenti del Policlinico5 auf die Verankerung am Universitätsklinikum, dem Policlinico Umberto I.6 Anfang 1972 brach das Collettivo Policlinico dann auch mit der Gruppe Il Manifesto, deren Führung zu große Nähe zu den Organisationen der traditionellen Linken und ein Schielen auf parlamentarische Perspektiven vorgeworfen wurde, angesichts dessen das eigentliche Ziel – die Schaffung starker kämpferischer Basisstrukturen – zunehmend vernachlässigt würde.7 Von nun an bauten die Aktivisten des Collettivo Policlinico gemeinsam mit Arbeitern der staatlichen Elektrizitätswerke ENEL und anderen Basisstrukturen die Comitati Autonomi Operai als Dachorganisation der römischen Autonomia Operaia auf.8 Die politischen Interven-

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‚Kollektiv der Medizinstudenten‘. ‚Zonenrat‘. Vgl. Nicoletta Stame/Francesco Pisarri (1977): I proletari e la salute. Lotte di massa al Policlinico di Roma: l’esperienza di un collettivo autonomo. Rom, S. 34; L’Autonomia operaia romana. Intervista a Daniele Pifano, in: Sergio Bianchi (Hg.) (1997): Settantasette. La rivoluzione che viene. Rom, S. 361 – 369, hier S. 361. ‚Kollektiv der Arbeiter und Studenten der Poliklinik‘. Ab jetzt wird das Kollektiv als Collettivo Policlinico bezeichnet. So firmierte es bald auch an der Poliklinik selbst. Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 36f. Offener Brief des Comitato politico ENEL und des Collettivo lavoratori e studenti del Policlinico an die Genossen von Il Manifesto vom Februar 1972, zitiert nach: Comitati Autonomi Operai (Hg.) (1976): Autonomia Operaia. Rom, S. 20-22, hier S. 21; L’Autonomia operaia romana. Intervista a Daniele Pifano, in: Bianchi (Hg.) (1997), S. 361 – 369, hier: S. 362. Die Comitati Autonomi Operai waren ab Anfang 1973 wesentlich an der Gründung der italienischen Koordinierung der Autonomia Operaia beteiligt, vgl. Comitati Autonomi Operai (1976), S 28-46; Miliucci, Paccino, Pifano (2007), S. 344ff.

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tionen des Collettivo Policlinico waren in den nächsten Jahren stark auf die Poliklinik fokussiert, aber nie darauf beschränkt. Als Teil der römischen Autonomia beteiligte sich das Kollektiv an zahlreichen politischen Initiativen jenseits des Krankenhauses – gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der italienischen Regierung, gegen faschistische Aktivitäten in Rom, gegen staatliche Repression und für internationale Solidarität.9 Daneben spielten aber auch vermeintlich ‚private‘ Themen eine wichtige Rolle im Kollektiv: „È stata un’esperienza molto bella, umana che ha comportato anche grossi cambiamenti in molte situazioni famigliari di lavoratori o lavoratrici del Policlinico […]. Noi quando succedevano crisi famigliari, atteggiamenti sbagliati, ne discutevamo tranquillamente a livello collettivo; poi se c’era da condannare qualcuno, compagno o non compagno, leader o non leader, lo facevamo a pezzi.“10 Mit der Poliklinik wurde das größte Krankenhaus Roms als Konfliktterrain auserkoren – eine gigantische medizinisch-wissenschaftliche Struktur, die ausgesprochen uneinheitlich organisiert war: Anfang der 1970er Jahre verfügte der Gesamtkomplex über etwa 4.000 Betten, von denen mehr als drei Viertel auf jene 42 Universitätskliniken entfielen, die dem Komplex ihren Namen gaben. Daneben jedoch beherbergte die Poliklinik noch sieben weitere Abteilungen mit mehr als 700 Betten, die nicht zur Universität gehörten, sondern Teil der medizinischen Versorgungseinrichtungen unter dem Dach der Regionalverwaltung waren.11 Das Collettivo Policlinico war zunächst ausschließlich im universitären Teil der Poliklinik verankert, was seinem studentischen Ursprung entsprach. Doch bald veränderte sich die Zusammensetzung des Kollektivs: Pfleger beteiligten sich an den Aktivitäten der Basisorganisation und einige Medizinstudenten brachen ihr Studium ab, um Stellen als Techniker, Laborangestellte oder Pfleger an der Poliklinik anzunehmen.12 Von Anfang an versuchte das Kollektiv in seiner Arbeit zweierlei Aspekte zu verbinden: zum einen den Kampf um die Arbeitnehmerbelange der kleinen Angestellten der Universitätskliniken, zum anderen den Kampf um eine völlig andere Art der Gesundheitsversorgung, die letztlich auf eine revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse

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Einen guten Einblick in die ‚allgemeinpolitischen‘ Initiativen, die das Collettivo Policlinico mittrug, bietet die bislang leider unsortierte Plakatsammlung der Comitati Autonomi Operai: CDVV, Manifesti. 10 Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 143-159, hier S. 144f. „Es war eine sehr schöne menschliche Erfahrung, die auch große Veränderungen in Hinblick auf die familiäre Situation vieler Arbeiter und Arbeiterinnen der Poliklinik mit sich brachte. […] Wenn sich familiäre Krisen ereigneten oder es zu Fehlverhalten kam, haben wir auf kollektiver Ebene in Ruhe darüber geredet. Wenn es dann ein Fehlverhalten zu verurteilen gab, machten wir den Betreffenden fertig – ganz gleich ob Genosse oder nicht, Anführer oder nicht.“ 11 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 25. Rom verfügte zu diesem Zeitpunkt über knapp 14.000 Klinikbetten, womit auf die Poliklinik mehr als ein Viertel der gesamten stationären Versorgungskapazität der italienischen Hauptstadt entfiel, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 25. 12 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 37; Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 143-159, hier S. 143f.

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abzielte.13 Für die Mitglieder des Collettivo Policlinico war der Kampf um eine gute und kostenlose Gesundheitsversorgung ein wesentlicher Aspekt des Klassenkampfes jenseits der Fabrik: „‚Lottare per la difesa della salute significa scontrarsi giorno per giorno con i meccanismi e la struttura mediante i quali il padrone gestisce lo sfruttamento operaio: la casa, la scuola, i trasporti, le strutture sanitarie debbono diventare sempre di più il terreno di scontro al di fuori della fabbrica […].‘“14 Die Arbeit des Collettivo Policlinico während der folgenden Jahre war von alternierenden Phasen geprägt: In Momenten relativer Schwäche beschränkte sich das Kollektiv darauf, die Vorgänge an der Poliklinik und die moderaten Positionen der Gewerkschaften und der linken Parteien kritisch zu kommentieren, in den Hochphasen dagegen wurde das Collettivo Policlinico zur Speerspitze einer breiten Bewegung innerhalb Roms größter Klinik, die versuchte radikale Forderungen direkt durchzusetzen.15 Im Folgenden soll auf einige Höhepunkte des Kampfes an der Poliklinik eingegangen werden.

1.2 Etappen des Basiskampfes an der Poliklinik 1.2.1 Der Kampf um die ‚Regionalisierung‘ des Klinikpersonals Seit seiner Gründung im Frühjahr 1971 plädierte das Collettivo Policlinico für eine Anstellung der universitären Krankenhausangestellten durch das regionale Trägergesellschaft, was zur Einheit der Krankenhausbediensteten unter dem Dach eines Arbeitsgebers führen und so gemeinsame Kämpfe des bisher in universitäre und regionale Angestellte aufgespalteten Pflegepersonals ermöglichen würde.16 Zugleich sollte so auch eine Verbesserung der Patientenversorgung erreicht werden,17 der aus Sicht des Kollektivs vor allem zwei Faktoren entgegenstanden: Die grundsätzliche Aus-

13 Zu ersterem Aspekt vgl. z.B. das Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 18.5.1971, in: Stame/Pisarri (1977), 41f., zum anderen Aspekt vgl. z.B. das Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 2.3.1972, in: Stame/Pisarri (1977), S. 38ff. 14 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 2.3.1972, zitiert nach Stame/Pisarri (1977), S. 38. „‚Für die Verteidigung der Gesundheit kämpfen heißt Tag für Tag mit den Mechanismen und der Struktur zusammenzustoßen, durch welche die Bosse die Ausbeutung der Arbeiter organisieren: Wohnraum, Bildung, Nahverkehr und Gesundheitssystem müssen immer mehr zum Terrain der Auseinandersetzung außerhalb der Fabrik werden […].‘“ 15 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 42. 16 Vgl. Rosso 11 (1974), S. 8f.; Stame/Pisarri (1977), S. 43ff. Die Begriffe Pflegepersonal oder medizinisches Hilfspersonal werden im Folgenden als Übersetzung des italienischen „personale paramedico“ verwendet. Dabei handelte es sich allerdings nicht ausschließlich um Krankenpfleger, sondern auch um „portantini“, also so genannte Krankenträger, die für unqualifizierte Aufgaben im Bereich des Krankentransports und der Reinigung vorgesehen waren, real aber häufig auch Pflegeaufgaben übernehmen mussten, sowie um die technischen Angestellten, die z.B. in den Laboren der Kliniken arbeiteten. 17 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 45f.

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richtung der Poliklinik als Universitätskrankenhaus und die klientelistischen Machtstrukturen in seinem Inneren. Die universitären Krankenhausangestellten waren offiziell ausschließlich für Forschung und Lehre eingestellt, die Krankenpflege war als Aufgabe nicht vorgesehen. Real aber mussten die Patienten, die sich in den mehr als 3000 universitären Klinikbetten befanden, versorgt werden. So kam es, dass die offiziell als unqualifizierte Arbeiter eingestellten Mitarbeiter keineswegs nur für Reinigungs- und Transportaufgaben zuständig waren, sondern die Pflege der Patienten zu übernehmen hatten. Diese Versorgung war in der Logik der Universitätsklinik allerdings nur eine lästige Nebenaufgabe angesichts der offiziellen Zuständigkeit für Forschung und Lehre.18 Zudem verschlechterten die hierarchischen Strukturen und prekären Beschäftigungsverhältnisse in den universitären Kliniken die Pflege nachhaltig: Wer als Angehöriger des medizinischen Hilfspersonals der Universitätskliniken langfristig sichere Beschäftigung und eventuell eine Aufstiegsperspektive erreichen wollte, musste sich mit den so genannten ‚baroni‘ 19 – also den mächtigen Professoren – gut stellen, die Anfang der 1970er Jahre meist der DC angehörten.20 Die richtige Partei- oder Gewerkschaftszugehörigkeit und die Bereitschaft, dem ‚Baron‘ der eigenen Abteilung für alle erdenklichen Sonderaufgaben zur Verfügung zu stehen, waren dabei weitaus wichtiger als das Wohlergehen der Patienten.21 Die Folge von Prekarität, Klientelismus und Konkurrenz um die Gunst des jeweiligen ‚Barons‘ war deshalb häufig eine ausgeprägte Gleichgültigkeit des Pflegepersonals gegenüber den Patienten. Diese patientenfeindliche Logik sollte durch den Übergang der Beschäftigten zur Region durchbrochen werden, da dann für die nicht-akademischen Krankenhausangestellten offiziell die Pflege in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit rücken würde und zugleich die personenzentrierten Machtstrukturen aufgelöst würden, da das Pflegepersonal nicht mehr den Professoren der jeweiligen Kliniken, sondern der Region unterstellt wären. Dabei stellte für das Collettivo Policlinico der Übergang der Klinikbelegschaft zur Region keineswegs die Lösung aller Missstände dar – die Regionalisierung war vielmehr ein Etappenziel, das einige Verbesserungen versprach, aber vor allem Ausgangspunkt für weitere Kämpfe sein sollte. Nach einigen kleineren Mobilisierungen an der Poliklinik, die die besonders prekären Arbeitsbedingungen von Aushilfskräften und Vertragsarbeitern sowie einige besonders gravierende Missstände in der Patientenversorgung betrafen,22 rückten im

18 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 25ff. 19 ‚Barone‘ – beliebtes Schimpfwort für die mächtigen Professoren. Zu den internen Hierarchien des Universitätskrankenhauses, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 49ff. 20 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 28ff. 21 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 28. Ein besonders drastisches Beispiel für einen solchen ‚Gefallen‘, war z.B. ein Krankenträger der Poliklinik, den ‚sein‘ Professor auf seine Yacht mitnahm, wo er putzte und kochte, anstatt seinen Dienst in der Klinik zu versehen, vgl. Transkription der Versammlung vom 27.2.1974, in: Stame/Pisarri (1977), S. 125, Fußnote 23. 22 Zu den den Kämpfen der Aushilfskräfte und der Vertragsarbeiter, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 63ff. Zu den Kämpfen gegen Missstände und für eine bessere Versorgung, vgl.

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Herbst 1973 die Tarifverhandlungen der Krankenhausangestellten näher: Während die für das regionale Pflegepersonal zuständige Gewerkschaft FLO (Federazione Lavoratori Ospedalieri) mit relativ radikalen Forderungen in die Verhandlungen ging, forderte die für die Angestellten der Universitätskliniken zuständige SUNPU (Sindacato Unitario Nazionale Personale Universitario CGIL-CISL-UIL) nur eine Einmalzahlung. Bald jedoch griff die Agitation der Regionalbediensteten auf die Angestellten der Universitätskliniken über, wo das Collettivo Policlinico die Mobilisierung anführte: Es wurden Basisversammlungen in den einzelnen Kliniken einberufen und Klinikdelegierte entsandt, um die gemeinsam entwickelten Forderungen dem Universitätsrektor und dem Arbeitsminister darzulegen. Zentral war dabei die Forderung nach dem Übergang des Pflegepersonals der Universitätskliniken zur Region.23 Dabei wurde von Seiten des Collettivo Policlinico allerdings auch die Gewerkschaft scharf angegriffen: „[…] Il sindacato va distrutto e va parallelamente creata un’organizzazione alternativa che permetta realmente agli operai di organizzarsi in prima persona sui propri bisogni.“24 Am 4. Dezember beschlossen etwa 100 nicht-akademische Klinikangestellte, ab dem 6. Dezember 1973 ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, indem sie ihre Arbeitszeiten auf den so genannten ‚turno unico‘25 beschränkten, also jenes Zeitfenster, das als Arbeitszeit der Angestellten der Ministerien – zu denen offiziell auch sie gehörten – vorgesehen war: 8.00 bis 14.00 Uhr.26 In den folgenden Wochen wuchs die Mobilisierung stark an und schließlich beteiligte sich die Mehrheit des Pflegepersonals der universitären Kliniken an der Auseinandersetzung.27 Im Zuge des Kampfes um den Übergang des universitären Klinikpersonals an die Region brachen viele jener verkrusteten Strukturen auf, die das Kollektiv seit Jahren kritisierte: Der Klien-

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Stame/Pisarri (1977), S. 78ff. und S. 87ff.; Controinformazione 1/2 (1974), S. 14-18, hier: S. 14f. Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 105ff. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 16.11.1973, abgedruckt in: Controinformazione 1/2 (1974), S. 16. „[…] Die Gewerkschaft muss zerstört und parallel eine alternative Organisation aufgebaut werden, die es den Arbeitern tatsächlich erlaubt, sich in der ersten Person in Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse zu organisieren.“ ‚Einheitsschicht‘. Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 4.12.1973, in: Stame Pisarri (1977), S. 109. Die Angestellten der Universitätskliniken hatten diese Kampfform schon im Frühjahr 1972 unter der Führung des Collettivo Policlinico über mehrere Monate immer wieder angewandt und waren dafür von der Gewerkschaft scharf kritisiert worden, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 56 – 63. Wichtig war den Protestierenden, dass trotz der reduzierten Arbeitszeiten eine adäquate Notfallversorgung gewährleistet wurde, vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 4.12.1973, in: Stame Pisarri (1977), S. 110. Vgl. Stame/Pisarri (1977) S. 111. Insgesamt arbeiteten in den Universitätskliniken der römischen Poliklinik zu Beginn der 1970er Jahre 2700 Personen, die dem ‚personale paramedico‘ zuzurechnen waren, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 27.

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Abb. 4.1 Demonstration für den Übergang des Pflegepersonals von der Universität zur Region von 1974. Auf dem Transparent steht: „Autonomia Operaia – Organizzazione – Vogliamo la Regionalizzazione“. „Autonomia Operaia – Organisation – Wir wollen die Regionalisierung“.

telismus, die Privilegien der ‚Barone‘ und ihrer Vertrauten und die ‚omertà‘28 des Klinikpersonals hinsichtlich der Missstände in der Poliklinik gerieten ins Wanken.29 Neben die protestierenden Klinikangestellten trat in Gestalt der Patienten bald ein weiterer bisher marginalisierter Akteur. In vielen Abteilungen organisierten die Krankenhausangestellten gemeinsame Versammlungen mit den Kranken und ihren Verwandten und versuchten, diesen die Gründe und Ziele des Kampfes an der Poliklinik darzulegen und sie für gemeinsames politisches Handeln zu gewinnen. Im Zuge des Kampfes veränderte sich so die gegenseitige Wahrnehmung von Personal und Patienten: Das an der Agitation beteiligte Krankenhauspersonal maß den eigenen Aufgaben im Bereich der Pflege gesteigerte Bedeutung bei und sah die Kranken als potentielle Verbündete im Kampf gegen die Logik des hierarchischen und patientenfeindlichen Universitätskrankenhauses. Die Patienten ihrerseits bemerkten, dass das am Kampf beteiligte Personal die Krankenpflege in den Mittelpunkt der eigenen Tätigkeit rückte und ihnen mit einem Anspruch der Solidarität gegenübertrat.30 So fassten viele Patienten das nötige Vertrauen, um in den Klinikversammlungen ihre Erfahrungen im Gesundheitssystem zu schildern: Es wurde von den alltäglichen Demütigungen in den unterbesetzten römischen Krankenhäusern berichtet, von den sinnlosen Verlegungen, weil niemand zuständig sein wollte, von falschen Eingriffen und den Schmiergeldzahlungen, die nötig waren, um schließlich eine Platz in der Polikli-

28 ‚Schweigepflicht‘. 29 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 114. 30 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 114f. und S. 130ff.

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nik zu erhalten.31 Aber die Versammlungen dienten nicht nur dem Austausch: Wo es möglich und sinnvoll erschien, versuchten die Beteiligten, sich direkt für die Anliegen besonders benachteiligter Patienten stark zu machen.32 Sowohl die Leitung der Poliklinik als auch die für die Universitätsangestellten zuständige Gewerkschaft SUNPU versuchten die Proteste einzudämmen: Die SUNPU wandte sich schon im Dezember 1973 öffentlich gegen den Kampf für eine sofortige Regionalisierung und stellte sich damit frontal gegen die Basisagitation an der Poliklinik.33 Stattdessen setzte die Gewerkschaft im Zuge der Tarifverhandlungen weiterhin auf rein ökonomische Forderungen und trat für eine Einmalzahlung von 100.000 Lire für das universitäre Pflegepersonal ein.34 Doch die Beschäftigten waren damit nicht einverstanden: In einer Vollversammlung vom 17.12.1973 wurde der Vorschlag der SUNPU zurückgewiesen und die Fortsetzung des Kampfes für den Übergang zur Region angekündigt. Außerdem wurde festgehalten, dass einzig die Vollversammlung zu Verhandlungen mit der Gegenseite befugt sei.35 In der Folge traten nach Schätzung des Collettivo Policlinico über 1000 Krankenhausmitarbeiter mithilfe eines vorgefertigten Briefes aus der SUNPU aus, in dem es hieß, die Gewerkschaft sei eine Organisation, „‚[…] che non rappresenta gli interessi dei lavoratori, ma quelli dei baroni […].‘“36 Auch ein Vorschlag des Bildungsministeriums, der eine Lohnangleichung zwischen regionalem und universitärem Krankenhauspersonal vorsah, wurde am 10. Januar 1974 von der Vollversammlung zurückgewiesen, da so die Macht der ‚Barone‘ und die mangelhafte Pflegesituation unangetastet bleiben würde.37 Stattdessen folgten nach Einschätzung der protestierenden Bediensteten 90% des Pflegepersonals einem Streikaufruf der Vollversammlung.38 In den folgenden Wochen versuchten sowohl die Krankenhausleitung als auch zahlreiche ‚Barone‘ vergeblich, die protestierenden Krankenhausangestellten zu besänftigen oder einzuschüchtern.39 Das Selbstbewusstsein der Angestellten war nach Monaten des Kampfes jedoch deutlich gewachsen: „‚Caro Assenato e cricca, sappiate bene che non siamo più quel branco di pecore che delegava tutto al

31 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 115ff. 32 Vgl. z.B. Stame/Pisarri (1977), S. 119. 33 Vgl. z.B. Flugblatt der SUNPU CGIL-CISL-UIL, Segreteria nazionale vom 22.12.1973, Ausschnittsweise zitiert in: Stame/Pisarri (1977), S. 120. 34 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 121. 35 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 17.12.1973, in: Stame/Pisarri (1977), S. 121. 36 Austrittserklärung, zitiert nach Stame/Pisarri (1977), S. 121, Fußnote 17. „‚[…], die nicht die Interessen der Arbeitnehmer, sondern jene der Barone repräsentiert […].‘“ Wie hart die Gewerkschaft von den massenhaften Austritten getroffen wurde, lässt sich daran ermessen, dass sich die SUNPU an der Poliklinik auflöste und fortan als „Federazione statali CGILCISL-UIL“ firmierte, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 121. 37 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 10.1.1974, in: Stame/Pisarri (1977), S. 123. 38 Vgl. Controinformazione 1/2 (1974), S. 17. 39 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 122f.

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sindacato col quale vi mettevate facilmente d’accordo per fare i vostri sporchi interessi!‘“40 Schließlich intervenierte die Universitätssektion des PCI gegen die Basisproteste an der Poliklinik: „‚Invitiamo i lavoratori a non prendere parte ad avventuristiche azioni, prive di sbocchi reali e portate avanti da centri di interesse che sotto un linguaggio demagogico e pseudorivoluzionario non riescono a nascondere la loro posizione corporativa che si colloca alla destra delle organizzazioni sindacali del movimento operaio. Con altrettanta decisione devono essere respinte le infiltrazioni fasciste che tendono ad alimentare la tensione per utilizzarla ai fini eversivi […].‘“41 Für die kämpferischen Angestellten der Poliklinik stellte sich die Frage, was der PCI wohl mit der angeblichen ‚faschistischen Infiltration‘ meinte – denn es gab zu diesem Zeitpunkt keine faschistischen Aktivitäten an der Poliklinik. Die Antwort war klar: Wer die Gewerkschaft angriff – und sei es für ihren allzu moderaten Kurs – war in den Augen des PCI ein Faschist.42 Im Februar und März 1974 wurde der Druck auf die Protestierer abermals erhöht: Es kam zu mehreren harten Polizeieinsätzen auf dem Gelände des Krankenhauses gegen die protestierenden Angestellten, die mehr als 40 Anzeigen nach sich zogen.43 Doch die Repression zeigte wenig Wirkung: Mitte Februar 1974 erweiterten die kämpfenden Klinikangestellten ihre Agenda nochmals und begannen eine Mobilisierung für die umfassende Kostenfreiheit der Ambulanzen der Poliklinik, die sie auch in den Kontext von Wirtschaftskrise, Inflation und Kaufkraftverlust der lohnabhängigen Bevölkerung stellten.44 Aus Sicht der Comitati Autonomi Operai war die

40 Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 21.1.1974, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 122. „‚Lieber Assenato und Klüngel, ihr wisst genau, dass wir nicht mehr jene Schafsherde sind, die alles an die Gewerkschaft delegierte, mit der ihr euch dann einfach geeinigt habt, um euch um eure dreckigen Belange zu kümmern.‘“ Assenato war der Vorsitzende der Universitätsärztegewerkschaft Sindacato medici universitari (SMU). 41 Kommuniqué der Sezione universitaria Curiel des PCI, zitiert nach einem Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 2.2.1974, in: Stame/Pisarri (1977), S. 120. „‚Wir rufen die Arbeitnehmer dazu auf, sich nicht an abenteuerlichen Aktionen zu beteiligen, die von Interessengruppen vorangetrieben werden, denen es nicht gelingt unter einer demagogischen und pseudorevolutionären Sprache ihre korporative Haltung zu verstecken, mit der sie rechts von den Gewerkschaften der Arbeiterbewegung stehen. Mit ebenso großer Entschlossenheit gilt es, das Einsickern von Faschisten abzuwehren, die versuchen Spannungen zu erzeugen um diese für einen Umsturz zu nutzen […].‘“ 42 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 120f. 43 Vgl. z.B. L’Unità vom 24.2.1974, S. 11; Stame/Pisarri (1977), S. 123f., v.a. Anm. 21. 44 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 127. Hintergrund dieser Forderung, für die das Collettivo Policlinico Anfang 1973 schon einmal eine Kampagne organisiert hatte, war die Tatsache, dass nur manche Krankenkassen für die Behandlung in den Ambulanzen der Poliklinik aufkamen. So kam es, dass zahlreiche Patienten gezwungen waren, die ambulanten Behandlungen aus eigener Tasche zu bezahlen, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 78 – 84. Zum Kontext der Wirtschaftskrise, vgl. Plakat „Una grande vittoria dell’Autonomia Operaia: Ambulatori Gratuiti” der Assemblea dei lavoratori delle cliniche ed Istituti Universitari del Policlinico, in: CDVV, Manifesti.

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Durchsetzung einer kostenlosen Gesundheitsversorgung wie die autoriduzione der Strom-, Gas- und Telefonrechnungen oder die Besetzung leer stehender Häuser Teil des Kampfes in der so genannten ‚fabbrica sociale‘45, also dem städtischen Territorium, das als Mehrwert generierendes Ensemble begriffen wurde.46 Angesichts der massenhaften Teilnahme und der großen Entschlossenheit der Angestellten konnte die Forderung nach Gratisbehandlung in den Ambulanzen trotz des Widerstands vieler Professoren und Ärzte zeitweise durchgesetzt werden.47 Die Erfolge wurden umgehend mithilfe von Plakaten öffentlich gemacht, um gerade jene Teile der Bevölkerung zu erreichen, die aufgrund der gewöhnlich zu entrichtenden Gebühren vor einem Besuch der Poliklinik zurückschreckten und um zugleich den Kampf der Autonomia Operaia zu propagieren.48 Ein Flugblatt macht deutlich, unter welch heftigen Reibungen dieser Erfolg erstritten wurde: „‚La nostra lotta è riuscita a garantire […] la gratuità degli ambulatori. Vani sono stati i tentativi a pediatrica del barone Rezza, che si è chiuso dentro la direzione per tutta la mattinata; del lecchino Ungari, che ha fatto finta di non avere le chiavi dell’ambulatorio, e del baroncino Cardi, che si è rifugiato nei suoi lussuosi appartamenti privati, costruiti al posto dei reparti per i bambini con i soldi rubati sulla pelle dei proletari. La volontà dei lavoratori ha vinto! Infatti le donne che sono venute a far visitare i propri figli hanno rotto i vetri della direzione e, con il pieno appoggio dei lavoratori, hanno preteso che le visite fossero fatte. Nel frattempo il barone Rezza ha aperto la porta solo alla presenza dei carabinieri, e come ha fatto il barone di otorino, de Vincentis, è uscito dalla clinica solamente scortato dalla forza pubblica.‘“49 Besondere Missgunst zogen die Aktivisten des Collettivo Policlinico auf sich, als sie im Frühjahr 1974, während die Auseinandersetzung um die Regionalisierung des medizinischen Hilfspersonals tobte, den Schulterschluss mit jenen Kräften suchten,

45 ‚Gesellschaftliche Fabrik‘. 46 Vgl. Comitati Autonomi Operai (1976), S. 191-251, hier: v.a. S. 191f. und S. 199f. 47 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 14.2.1974, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 127f. 48 Plakat „Una grande vittoria dell’Autonomia Operaia: Ambulatori Gratuiti” der Assemblea dei lavoratori delle cliniche ed Istituti Universitari del Policlinico, in: CDVV, Manifesti. 49 Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 14.2.1974, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 127f. „‚Mit unserem Kampf ist es gelungen […] die Kostenfreiheit der Ambulanzleistungen zu garantieren. Die Versuche des Barons Rezza in der Kinderklinik, der sich den ganzen Vormittag über in der Direktion eingeschlossen hat, waren vergebens; ebenso die Versuche des Arschkriechers Ungari, der so getan hat, als ob er die Schlüssel zum Sprechzimmer nicht mehr finden würde und die des Barönchens Cardi, der sich in seine privaten Luxuswohnungen geflüchtet hat, die anstelle der Abteilungen für Kinder gebaut wurden mit dem Geld, das den Proletariern geraubt worden ist. Der Wille der Arbeitnehmer hat sich durchgesetzt! Die Frauen, die gekommen sind, um ihre Kinder untersuchen zu lassen, haben die Scheiben der Direktion eingeschlagen und mit voller Unterstützung der Arbeitnehmer darauf bestanden, dass die Untersuchungen durchgeführt wurden. In der Zwischenzeit hat der Baron Rezza die Türe nur in Anwesenheit der Carabinieri geöffnet und er ist – wie auch der Baron der HNO-Klinik de Vincentis nur in Begleitung der Staatsmacht aus der Klinik gekommen.‘“

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die zeitgleich einen Zyklus von Hausbesetzungen organisierten, wie ihn Rom noch nicht gesehen hatte:50 Anfang März 1974 trafen sich Hunderte Angehörige von Besetzerfamilien – zu denen auch zahlreiche Angestellte der Poliklinik selbst gehörten – in einer Aula des Krankenhauses, um ihr weiteres Vorgehen zu diskutieren.51 Für die kommunistischen Kritiker des Kollektivs war der Bogen damit überspannt. PCIMitglied Professor Biocca, den die Aktivisten des Kollektivs verächtlich als „barone rosso“52 bezeichneten, schien keine Analogie mehr zu weit hergeholt: „‚[…] (I) provocatori si propongono chiaramente […] di instaurare una situazione nella città di Roma simile a quella che fu di Reggio Calabria. […] Il tentativo di provocare episodi drammatici facendo affluire […] centinaia di uomini, donne, bambini delle borgate […] è di una gravità eccezionale […]; essi premeditatamente preparano le condizioni perché […] si determinino […] situazioni di disagio collettivo della cittadinanza analoghe a quelle che hanno preparato il terreno per la tragedia chilena.‘“53 Ab Anfang 1974 gerieten die bisher starren Fronten dann jedoch zunehmend in Bewegung: Einige kritische Ärzte begannen, an den vom kämpfenden Pflegepersonal einberufenen Klinikversammlungen teilzunehmen und selbst innerhalb der den Protesten bisher wenig wohl gesonnenen Ärztegewerkschaft SMU (Sindacato Medici Universitari) wurden Stimmen laut, die die Forderung nach Kostenfreiheit der Ambulanzen unterstützten.54 Im März 1974 unterzeichneten dann über Hundert Klinikärzte angesichts der harten Polizeirepression gegen die kämpfenden Angestellten eine Solidaritätserklärung und schlugen so eine Bresche in die Ablehnungsfront des medizinischen Personals: „‚I sottoscritti medici del Policlinico esprimono tutta la loro solidarietà al personale paramedico in lotta per richieste di cui riconoscono la piena validità. Per tali ragioni esprimono la loro indignazione contro misure repressive […] che ostacolano la realizzazione delle giuste aspirazioni di questi lavoratori.‘“55 Zugleich entwickelte sich ab Februar 1974 langsam ein Dialog zwischen den Verantwortlichen der Poliklinik und den Protestierern. Wesentlich für den Fortschritt der Gespräche war das Eintreten des PSI für die Regionalisierung des Pflegeperso-

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Vgl. Kapitel II. Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 138, Fußnote 30. Stame/Pisarri (1977), S. 135. „Roten Baron“. Offener Brief von E. Biocca, S. Grifo und G. Rita an die Mitarbeiter der Poliklinik vom 11.3.1974, zitiert nach: Controinformazione 3/4 (1974), S. 9. „‚[…] [D]ie Provokateure versuchen eindeutig […] in der Stadt Rom eine Situation zu schaffen, die jener gleicht, die in Reggio Calabria herrschte. […] Der Versuch dramatische Episoden zu provozieren, indem man […] Hunderte Männer, Frauen und Kinder aus den borgate herbeiströmen ließ […] ist außergewöhnlicher schwerwiegend […]. Sie schaffen absichtlich die Bedingungen, damit […] Situationen kollektiven Unbehagens für die Einwohnerschaft […] entstehen, ähnlich jenen, die den Boden für die chilenische Tragödie bereiteten.‘“ 54 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 145ff. 55 Zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 145. „‚Die unterzeichnenden Ärzte der Poliklinik bringen ihre ganze Solidarität mit dem Pflegepersonal zum Ausdruck, das für Forderungen kämpft, deren Gültigkeit sie voll anerkennen. Aus diesem Grund sind sie empört über die Repressionsmaßnahmen, […] die die Umsetzung der gerechten Bestrebungen dieser Arbeitnehmer behindern.‘“

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nals.56 Als sich abzeichnete, dass die Kernforderung der kämpfenden Angestellten eventuell doch erfüllt werden könnte, sah sich der PCI gezwungen, die Seiten zu wechseln, um die nahende Regionalisierung als Resultat der eigenen Intervention darstellen zu können: „‚Dopo mesi di lotta difficile, condotta in modo sbagliato, che stava avviandosi al fallimento, si comincia a intravedere una prospettiva di soluzione reale. […] [L]a svolta è frutta di una impostazione diversa della lotta, portata avanti dalla Camera del lavoro, dal PCI e da quanti avevano compreso le ragioni dei lavoratori delle cliniche universitarie.‘“57 So verzerrt diese Darstellung der Realität auch gewesen sein mag, so richtig war es, dass die Strukturen der traditionellen Linken in der letzten Phase der Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielten: Als nach zahlreiche Treffen der Konfliktparteien Anfang April 1974 endlich das entscheidende Treffen mit Bildungsminister Malfatti zustande kam, waren es Vertreter der Gewerkschaftsföderationen, die die Arbeitnehmerseite vertraten – gebunden allerdings durch ein imperatives Mandat der Vollversammlung.58 Die Verhandlungen waren von Erfolg gekrönt: Mitte April brachte Bildungsminister Malfatti den Gesetzentwurf Nr. 2589 ins Parlament ein, der jenem Entwurf recht nahe kam, den die protestierenden Angestellten im Januar 1974 vorgelegt hatten und der den Übergang zur Region für jene Universitätsangestellten vorsah, die dies beantragten. Nach einigen Verzögerungen der parlamentarischen Verabschiedung und erneuten Protesten wurde das Gesetz Nr. 200 am 30. April 1974 schließlich verabschiedet.59 Während der PCI das Gesetz als Erfolg der eigenen Partei verbuchte,60 waren diejenigen, die das Gesetz mit ihrem fünfmonatigem Kampf erzwungen hatten, weniger euphorisch: „‚Infatti sappiamo che la nostra lotta non è finita con l’approvazione di questa legge […]: spetterà solo alla nostra forza organizzata instaurare all’interno dell’ospedale un reale potere alternativo a chi ci ha sempre

56 In dieser Positionierung des PSI kam aus Sicht des Collettivo Policlinico sowohl das Interesse der PSI-Betriebsgruppe der Poliklinik zum Ausdruck, die aktiv an der Auseinandersetzung teilnahm, als auch das übergeordnete Kalkül der Parteiführung, die sich durch eine Verlagerung des medizinischen Hilfspersonals zur Region einen Machtzuwachs der Region – und damit der eigenen Partei – gegenüber dem DC-dominierten Professorenblock der Poliklinik erhoffte, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 149ff. 57 Vgl. Flugblatt der PCI-Betriebszellen an der Poliklinik vom 20.3.1974, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 152. „‚Nach Monaten eines schwierigen Kampfes, der auf falsche Weise geführt wurde und dessen Scheitern sich anbahnte, beginnt nun eine Perspektive für eine reale Lösung sichtbar zu werden. […] [D]iese Wende ist das Ergebnis eines veränderten Ansatzes im Kampf, den die Camera del lavoro, der PCI und all jene vorangetrieben haben, die die Beweggründe der Arbeitnehmer der Universitätskliniken begriffen haben.‘“ 58 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 154. 59 Zu Verzögerungen und Protestaktionen, vgl. Il Messaggero vom 19.4.1974, in: Privatarchiv von Graziella Bastelli. Zur Verabschiedung, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 154ff. und Rosso 11 (1974), S. 8f. 60 Vgl. L’Unità vom 25.4.1974, S. 11.

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sfruttato […].‘“61 Knapp 2.000 – d.h. über zwei Drittel – der Angehörigen des Pflegepersonals der Universitätskliniken beantragten den Übergang zur Region.62 Der tatsächliche Vollzug des Übergangs wurde von den zuständigen Autoritäten jedoch dermaßen sabotiert, dass er sich zum Teil jahrelang hinzog. Besonders denjenigen Universitätsangestellten, die den monatelangen Kampf angeführt hatten, wurde der Übergang unter allen möglichen Vorwänden erschwert.63 Aus Sicht des Collettivo Policlinico bildete nicht der Übergang zur Region an sich, sondern die im Laufe des Kampfes entstandene Gegenmacht in der Poliklinik das eigentliche Novum.64 Diese gewachsene Macht der Basis galt es nun zu stabilisieren, indem man jene Angestellten, die im Laufe des Kampfes Sympathien für das Collettivo Policlinico entwickelt hatten, durch wöchentliche Treffen an das Kollektiv zu binden versuchte, um eine gemeinsame politische Diskussionen zu führen und die in der Auseinandersetzung entstandene kapillarische Präsenz der Kollektivs in zahlreichen Kliniken aufrechtzuerhalten.65 Die neue Organisationsstruktur der Poliklinik brachte veränderte Frontlinien mit sich: War der Hauptfeind der protestierenden Angestellten bisher die Willkürherrschaft der ‚Barone‘ gewesen, so unterstanden sie nun der Regionalregierung, die sich als moderner und demokratisch legitimierter Akteur präsentierte. Zugleich wuchs die Macht des PCI innerhalb des Poliklinikums deutlich an, da ab jetzt zwei Gewerkschaftsvertreter mit PCI-Parteibuch im Direktionskomitee der Poliklinik vertreten waren, was die Frontstellung der Partei gegen jede Form unberechenbarer Basisproteste noch verstärkte. Dabei ging es dem PCI nun nicht mehr nur um den Hegemonialanspruch bei der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen, sondern auch um die grundsätzliche Neuausrichtung der eigenen Politik in Hinblick auf eine perspektivische Teilhabe an der Regierungsverantwortung im Zeichen des historischen Kompromisses.66 Die Aktivisten des Collettivo Policlinico registrierten diese Veränderungen zwar, hielten aber unbeirrt an ihrem politischen Programm fest: Neben dem Übergang zur Region sollte die Macht der ‚Barone‘ über die Patientenauswahl durch eine zentralisierte Aufnahme gebrochen, die Ambulanzleistungen vollständig von den Krankenkassen finanziert und das Krankenhauspersonal deutlich aufgestockt sowie seinen tatsächlichen Aufgaben gemäß eingestuft werden. Außerdem sollten

61 Flugblatt der Assemblea dei lavorati del Policlinico vom 26.4.1974, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 157. „‚Wir wissen in der Tat, dass unser Kampf mit der Verabschiedung dieses Gesetzes nicht zu Ende ist […]: Es wird nur unserer organisierten Kraft obliegen, im Inneren des Krankenhauses eine reale Gegenmacht zu jenen aufzubauen, die uns immer ausbeuteten […].‘“ 62 Vgl. L’Unità vom 26.10.1974, S. 11; Stame/Pisarri (1977), S. 168ff. 63 Vgl. L’Unità vom 20.11.1974, S. 8; Il Messaggero vom 9.4.1975, S. 7; Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 1 (1976), S. 4, in: MC, Fondo Ceccotti, Nr. 8, Fasz. 15. 64 Vgl. Rivolta di Classe 1 (1974), S. 5. 65 Vgl. Rivolta di Classe 1 (1974), S. 5. 66 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 162-168.

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regelmäßige Fortbildungen stattfinden und die bezahlungspflichtigen Einzelzimmer für besonders zahlungskräftige Patienten abgeschafft werden.67

67 Vgl. Il Messaggero vom 5.5.1974, in: Privatarchiv von Graziella Bastelli; Stame/Pisarri (1977), S. 165f.

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1.2.2 Der Kampf für eine Kinderkrippe in der Poliklinik Es war jedoch keiner dieser programmatischen Punkte des Collettivo Policlinico, an dem sich die nächste Konfrontation in der Poliklinik entzünden sollte: Am 15. Juni 1974 versammelte sich in der Poliklinik eine Gruppe von Mitarbeiterinnen, die als Mütter allesamt vom eklatanten Mangel an Kinderkrippenplätzen in Rom betroffen waren. Für die Mitarbeiterinnen der Poliklinik hatte das Problem zusätzliche Virulenz, seit die ohnehin bei weitem nicht ausreichende klinikeigene Krippe geschlossen worden war, da aufgrund der Lage der Räumlichkeiten eine Gesundheitsgefährdung der Kinder zu befürchten stand. So forderten die Betroffenen die Krankenhausleitung auf, geeignete Räume zur Verfügung zu stellen und außerdem die Anzahl der Betreuerinnen in der Krippe zu erhöhen, wobei sich zahlreiche betroffene Mütter auch selbst für die Aufgabe anboten.68 Als diese Forderungen unbeantwortet blieben, schritten die Mütter zur Tat: Am 20. September 1974 besetzte eine Gruppe von Müttern mit Unterstützung des Collettivo Policlinico den Saal des Direktionskomitees der Poliklinik und improvisierten hier eine Kinderkrippe, bei der sie die Aufsicht abwechselnd während ihrer Arbeitszeit versahen. In den folgenden Tagen blieb der Saal des Direktionskomitees besetzt und etwa 30 Mütter teilten die Betreuung der Kinder unter sich auf. Nach einigen Tagen versuchte die Polizei, den Saal zu räumen, was aber verhindert werden konnte, da den Müttern zahlreiche Krankenhausangestellte zur Hilfe eilten. Daraufhin kam es zu Verhandlungen mit der Klinikleitung, die aber kein Interesse an einer schnellen Lösung zeigte. So beschloss die Vollversammlung der Krankenhausangestellten, den Druck weiter zu erhöhen: Es wurde zu einem Streiktag aufgerufen und die Wiederaufnahme der Einheitsschicht von 8.00 Uhr bis 14.00 Uhr beschlossen.69 Das erneute Aufflammen der Basisproteste wenige Monate nach dem Abschluss des Kampfes um die Regionalisierung stieß bei den Gewerkschaften auf kategorische Ablehnung. Aus Sicht der Gewerkschaftsfunktionäre spielten die Aktionen des Collettivo Policlinico objektiv den ‚Baronen‘ der Poliklinik in die Hände, die angesichts ihrer Niederlage bei der Regionalisierung nun alles täten, um die Funktionsfähigkeit des Krankenhauses zu sabotieren und die Patienten so in ihre Privatkliniken zu zwingen.70 Von der These objektiver Interessenkonvergenz zur Unterstellung konkreter Zusammenarbeit war es kein weiter Weg: „‚Sarebbe interessante verificare come mai Daniele e altri del collettivo da anni sono liberi di muoversi, senza lavorare, acquiescente il loro direttore di clinica, senza che alcun barone […] abbia nulla da eccepire […].‘“71

68 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 178f. 69 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 179f. 70 Vgl. Flugblatt der Federazione unitaria CGIL-CSIL-UIL vom 21.10.1974, in: Stame/Pisarri (1977), S. 180. 71 Flugblatt der Federazione unitaria CGIL-CISL-UIL vom 21.10.1974, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 180. „Es wäre interessant zu überprüfen, wie Daniele und andere vom Kollektiv sich seit Jahren frei bewegen können, ohne zu arbeiten, mit einem nachgiebigen

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Dass Daniele Pifano real keineswegs damit rechnen konnte, dass einflussreiche Interessen sein Handeln protegieren würden, wurde wenige Tage später deutlich, als er wegen seines Widerstandes gegen die polizeiliche Räumung des von den Müttern besetzten Direktionssaals vier Wochen zuvor verhaftet wurde.72 Pifano saß daraufhin unter Hinweis auf seine „‚[…] eccezionalmente elevata pericolosità sociale […]‘“73 über acht Monate in Untersuchungshaft und verlor seine Anstellung an der Poliklinik.74 Die konservative Presse begrüßte das Vorgehen von Polizei und Justiz nachdrücklich.75 Der PCI seinerseits verstärkte seine Polemik gegen die Basisproteste nochmals und denunzierte die Aktivisten des Collettivo Policlinico als Faschisten: „Smascheriamo i teppisti e i provocatori! Sono fascisti che si mascherano di rosso!“76 Wieder wurde auf ein angebliches Komplott angespielt: „La loro azione non ha nulla in comune con gli interessi […] dei lavoratori romani; è solo al servizio di oscuri interessi antidemocratici ed antioperai.“77 Doch die kämpferischen Beschäftigten der Poliklinik reagierten keineswegs eingeschüchtert auf die Verhaftung Pifanos: Der Kampf für die Umsetzung der Regionalisierung wurden ebenso fortgesetzt wie die Besetzung des Direktionssaals durch Mütter und Kinder. Hinzu kamen zahlreiche Solidaritätsaktionen für Daniele Pifano: Demonstrationen und Solidaritätsstreiks wurden organisiert, Hunderte von Angestellten der Poliklinik bezichtigten sich in Selbstanzeigen eben jener Gesetzesverstöße, derer Pifano angeklagt war.78 Im Zuge

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Klinikdirektor, ohne dass irgendein Baron […] etwas auszusetzen hätte.“ Gemeint war Daniele Pifano, der als Anführer des Collettivo Policlinico galt. Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 181. Ablehnungsbescheid des Antrags auf Haftverschonung durch den Untersuchungsrichter Giorgio Buogo vom 20.11.1974, abgedruckt auf dem Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari 19701976, 1974, Bl. 41. „[…] außergewöhnlich hohe soziale Gefährlichkeit […]“. Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 181; Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 26. Vgl. z.B. Il Tempo vom 24.11.1974, S. 4. Flugblatt der Comunisti Ospedalieri Romani, abgedruckt auf dem Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970-1976, 1974 Bl. 41. „Enttarnen wir die Rowdys und die Provokateure! Sie sind Faschisten, die sich rot tarnen!“ Flugblatt der Comunisti Ospedalieri Romani, abgedruckt auf dem Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari, 1970-1976, 1974 Bl. 41. „Ihre Aktion hat nichts mit den Interessen […] der römischen Arbeitnehmer gemein; sie dient einzig finsteren antidemokratischen und arbeiterfeindlichen Interessen.“ Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 181ff. Die Solidarität mit Pifano blieb nicht auf die Poliklinik beschränkt: Es fanden offene Vollversammlungen statt, um die Solidarität für den Verhafteten in einen breiteren Rahmen zu stellen. An diesen Initiativen nahmen neben Genossen der römischen Autonomia Operaia zahlreiche Aktivisten aus anderen römischen Krankenhäusern, aus Fabrikversammlungen und Stadtteilkomitees teil, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 181f.; Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari, 1970-1976, 1974 Bl. 41. Auch weit über Rom hinaus

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der Solidaritätsstreiks kam es mehrmals zu harten Polizeieinsätzen auf dem Krankenhausgelände mit zahlreichen Verletzten.79

Abb. 4.2 Szene von einem Solidaritätsstreik für Daniele Pifano Mitte der 1970er Jahre: Picchetto von Poliklinikangestellten vor einem Krankenhauseingang. Transparentaufschrift: „Freiheit für Daniele. Die einzige Gerechtigkeit ist die proletarische.“

wurde die Verhaftung Pifanos als exemplarischer Moment der Repression gegen die Autonomia Operaia thematisiert, vgl. z.B. Plakat zur Ankündigung einer Veranstaltung im Teatro Amga in Genua am 18. März 1975, in: CDVV, Manifesti. 79 Vgl. L’Unità vom 26.10.1974, S. 11; Il Tempo vom 24.11.1974, S. 4.

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Auch der PCI versuchte durch den massiven Einsatz seines römischen Ordnerdienstes, Blockadeaktionen an der Poliklinik zu unterbinden.80 Sowohl in der faktischen Zusammenarbeit von Polizei und PCI-Ordnerdienst als auch in der medialen Bewertung der Ereignisse spiegelten sich die neuen Allianzen im Zeichen des historischen Kompromisses: Während das linksliberale Blatt Il Messaggero kritisch über den Polizeieinsatz berichtete, waren sich der katholische Il Popolo und die kommunistische L’Unità einig in der Verurteilung des Streiks.81 Die Comitati Autonomi Operai, zu der das Collettivo Policlinico gehörte, formulierten – ausgehend von den jüngsten Ereignissen an der römischen Poliklinik – eine Fundamentalkritik am PCI: „Il PCI non ha più una linea politica. […] Le sinistre in Italia non hanno più tentato di rappresentare un’alternativa, ne hanno addirittura paura. […] Milioni di lavoratori che dopo aver fatto la difficile scelta di militare e di votare a sinistra si vedono traditi nei loro interessi di classe e risospinti […] a chinare la testa di fronte a quei padroni, a quelle mafie da cui erano riusciti a liberarsi.“82 Gegen den Schulterschluss von DC und PCI propagierten die Comitati Autonomi Operai, ausgehend von den Bedürfnissen der subalternen Bevölkerung direkte Basiskämpfe in Betrieben und Stadtteilen. Die vorgeschlagene Agenda war deutlich vom Alltagsproblem des Preisauftriebs geprägt und umfasste neben der autoriduzzione von Mieten, Strom- und Gasrechnungen sowie der Ticketpreise des öffentlichen Nahverkehrs auch die kollektive Reduktion der Lebensmittelpreise in großen Supermärkten, die Besetzung leer stehender Häuser, den Kampf gegen Entlassungen und für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.83 Doch mit der Verhaftung Pifanos war die Repression an der Poliklinik keineswegs abgeschlossen: Am 30.12.1974 folgten vier weitere Haftbefehle gegen Aktivisten des Collettivo Policlinico, denen unter anderem Widerstand, Sachbeschädigung und Beleidigung im Zuge der Proteste für die Freilassung Pifanos vorgeworfen wurden.84 Doch auch die neuerlichen Verhaftungen konnten die Proteste an der Poliklinik nicht beenden: Es kam zu weiteren Streiks, mit denen sich auch Schüler und Studenten

80 Vgl. L’Unità vom 27.10.1974, S. 13. 81 Vgl. z.B. L’Unità vom 22.11.1974, S. 10 und Kommentar in Il Popolo vom 23.11.1974, abgedruckt auf dem Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970-1976, 1974 Bl. 41. 82 Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970-1976, 1974 Bl. 41. „Der PCI hat keine politische Linie mehr. […] Die Linke in Italien versucht nicht mehr eine Alternative darzustellen, sie hat sogar Angst davor. […] Millionen von Arbeitnehmern, die die schwierige Entscheidung trafen, für die Linke aktiv zu sein und links zu wählen, sehen sich in ihren Klasseninteressen betrogen […] und wiederum dazu gedrängt vor jenen Bossen und jener Mafia das Haupt zu beugen, von denen sie sich befreit hatten.“ 83 Vgl. Flugblatt der Assemblea Cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 4.12.1974, in: FIG, Volantini Vari 1970-1976, 1974 Bl. 41. 84 Vgl. Il Messaggero vom 31.12.1974, in: Privatarchiv von Graziella Bastelli. Drei Haftbefehle konnten sofort vollstreckt werden; dem vierten Gesuchten gelang es sich abzusetzen.

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solidarisierten.85 Weitere 105 Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter der Poliklinik wurden eingeleitet, doch die Besetzung des Direktionssaals und die Selbstorganisation der Kinderkrippe wurden ebenso fortgesetzt wie die Proteste der Angestellten gegen die Repression.86 Im Frühjahr 1975 ließen die protestierenden Klinikangestellten ein Plakat drucken, das die Repression an der Poliklinik implizit mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg verglich: „Achtung Banditi!“87 war darauf in großen roten Lettern zu lesen. „I baroni del Policlinico, battuti dalla lotta dei lavoratori che ha strappato la regionalizzazione dell’assistenza e gli ambulatori gratuiti, ricorrono oggi appoggiati dalla magistratura a mezzi repressivi, attaccando i diritti dei lavoratori. Ecco i nostri reati! Assemblea = Adunata sediziosa, Sciopero = Interruzione di pubblico servizio, Corteo = grida sediziose.“88

Abb. 4.3 Graffito gegen die Repression in der Poliklinik vom Frühjahr 1975. „Freiheit für Graziella und Daniele. Die einzige Gerechtigkeit ist die proletarische.“ Rechts im Bild das Plakat ‚Achtung Banditi!‘, dessen zentrale Passagen im Text zitiert sind.

85 Vgl. Quotidiano dei lavoratori vom 7.1.1975, in: Privatarchiv von Graziella Bastelli. 86 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 183; Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 15.12.1975, in: Stame/Pisarri (1977), S. 184. 87 Plakat der Assemblea dei lavoratori del Policlinico, in: CDVV, Manifesti. „Achtung Banditen“ 88 Vgl. Plakat der Assemblea dei lavoratori del Policlinico, in: CDVV, Manifesti. „Die Barone der Poliklinik, geschlagen vom Kampf der Arbeitnehmer, die die Regionalisierung der Pflege und die Kostenfreiheit der Ambulanzleistungen erzwungen haben, greifen heute, unterstützt von der Justiz, auf repressive Mittel zurück und greifen die Rechte der Arbeitnehmer an. Hier sind unsere Verbrechen! Versammlung = unerlaubte Zusammenrottung, Streik = Unterbrechung einer öffentlichen Dienstleistung, Demonstration = Ruhestörung.“

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Letztlich war der Kampf um die Kinderkrippe jedoch erfolgreich: Nachdem die Mütter die Besetzung des Direktionssaals und die Selbstorganisation der Krippe über ein Jahr lang durchgehalten hatten, wurde am 22. Februar 1976 endlich eine neue Krippe für die Mitarbeiter der Poliklinik eröffnet. Diese verfügte über 60 Plätze und war in einem Zwei-Schichten-System organisiert, das es ermöglichte, in den Räumen täglich 120 Kinder zu betreuen. Bei der Vergabe der Betreuungsplätze erhielten jene Mütter den Vorrang, die sich aktiv am Kampf um die Krippe beteiligt hatten.89

1.2.3 Der Kampf für Arbeitszeitreduktion und mehr Personal Seit dem Sommer 1975 fand sich das Kollektiv in einer veränderten politischen Situation wieder: Nach dem Sieg der Linken bei den Regionalwahlen am 15. Juni 1975 hatten sich auch die Machtverhältnisse innerhalb der Poliklinik gewandelt: Nun arbeiteten die zur Region gewechselten Klinikangestellten unter einer PCI-geführten Regionalregierung.90 Aus Sicht des Collettivo Policlinico hatte der Machtzuwachs des PCI allerdings kaum positive Auswirkungen auf den Krankenhausalltag: Unter dem Slogan der ‚efficienza nei servizi‘91 wurde aus Sicht der Aktivisten die enge Kooperation zwischen öffentlichen Krankenhäusern und privatem Gesundheitssektor zu ungunsten der Ersteren weiter fortgeführt und das Ziel beibehalten, die Poliklinik zu einem Spezialkrankenhaus umzubauen, ohne dabei die Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend zu berücksichtigen. Zugleich aber strebten die Kräfte der traditionellen Linken unter dem Schlagwort der ‚Effizienz‘ auch danach, an der Poliklinik endlich für ‚Ruhe und Ordnung‘ zu sorgen.92 Das Collettivo Policlinico sah in der veränderten Machtkonstellation keinen Grund, von seinen Positionen abzurücken: In den letzten Monaten des Jahres 1975 verstärkte es seine Agitation gegen die an der Poliklinik weit verbreiteten Überstunden.93 Das Kollektiv kritisierte dabei insbesondere, dass sowohl Krankenhausverwal-

89 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 183f.; Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 15.12.1975, in: Stame/Pisarri (1977), S. 184. 90 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 198. Im Zuge der anschließenden Dezentralisierungsoffensive, die eine Stärkung der Autonomie der einzelnen Krankenhäuser mit sich brachte, wurde der Zugriff des PCI auf die Leitung der römischen Poliklinik allerdings wieder gelockert, da diese dem Machtbereich des Koalitionspartners PSI zugeteilt wurde, während der PCI zukünftig den Krankenhauskomplex San Camillo-Forlanini-Spallanzini leitete, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 199, Fußnote 70. 91 ‚Effizienz der Dienstleistungen‘. 92 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 199. 93 Vgl. z.B. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom Oktober 1975 „D’ospedale si muore“, in: Privatarchiv von Graziella Bastelli; Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 23.10.1975, in: Stame/Pisarri (1977), S. 186f.; Flugblatt des Collettivo Policlinico vom Dezember 1975, in: Stame/Pisarri (1977), S. 188f. Eine spezifische Form der Überstunden stellte in den Augen des Collettivo Policlinico die Tatsache dar, dass die ehemaligen Angestellten der Universität mit ihrem Wechsel zur Region nicht mehr 36 Stunden pro Woche

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tung als auch Gewerkschaften die hohe Zahl von Überstunden akzeptierten. Während die Verwaltung durch die Überstunden Neueinstellungen vermeiden konnte, sah die Gewerkschaft Überstunden angesichts der unzureichenden Löhne als praktische Notwendigkeit für zahlreiche Krankenhausangestellte und setzte sich deshalb statt für deren Abschaffung dafür ein, dass diese gut bezahlt wurden. Die hohen Überstundenzahl hatte aus Sicht des Collettivo Policlinico zweierlei negative Folgen: Zum einen wurde durch diese Möglichkeit der außerordentlichen Gehaltsaufbesserung der Willen des Personals, für höhere Löhne zu kämpfen, eingedämmt; zum anderen waren die durch die Zusatzbelastung der Überstunden ausgelaugten Pfleger oft nicht mehr in der Lage, ihre Pflegeaufgaben gewissenhaft auszuführen. Um das Problem der Überstunden zu lösen, schlug das Collettivo Policlinico drei grundsätzliche Modifikationen vor: Erstens sollte für alle Angehörigen des Pflegepersonals eine 36-Stunden-Woche mit fünf Arbeitstagen eingeführt werden; zweitens sollte eine Erhöhung des Grundgehalts um 100.000 Lire den Angestellten die Möglichkeit eröffnen, in Zukunft tatsächlich auf Überstunden zu verzichten, und drittens sollte eine massive Aufstockung des Personals eine Vollauslastung der Poliklinik ermöglichen und die Qualität der Betreuung verbessern.94 Im Dezember 1975 fand zu diesen Themen eine Reihe von Vollversammlungen in der Poliklinik statt, an denen erstmals sowohl Universitätsangestellte als auch neue und alte Regionalbedienstete teilnahmen.95 Schließlich stellte eine vom Collettivo Policlinico einberufene Vollversammlung eine lange Liste von Forderungen auf und propagierte sie mithilfe von Plakaten in und außerhalb der Poliklinik. Neben Poliklinik-spezifischen Forderungen wie der Kostenfreiheit der Ambulanzleistungen, der Zentralisierung der Patientenaufnahme um klientelistische Praktiken der ,Barone‘ zu unterbinden, der Einführung einer 36-Stunden-Woche für alle medizinischen Hilfskräfte, einer Personalaufstockung, um die Pflege zu verbessern, der völligen Abschaffung der Überstunden und der Erhöhung des Grundgehalts der einfachen Angestellten um 100.000 Lire fanden sich auch allgemeine gesundheitspolitische Forderungen wie jene nach der Requisition aller Privatkliniken und der Abschaffung der freiberuflichen Ärzteschaft.96

arbeiten sollten, sondern 40 Wochenstunden wie die Hilfsarbeiter der Region, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 188. Da aber die ‚legge 200‘, die den Übergang zur Region regelte, den Wechselnden ihre bisherigen Rechte garantierte, handelte es sich bei diesen vier zusätzlichen Stunden Arbeit pro Woche in den Augen des Collettivo Policlinico um Überstunden – was die Krankenhausverwaltung naturgemäß völlig anders sah, vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 188, Fußnote 48. 94 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 186ff. Eine Lohnerhöhung um 100.000 Lire war sehr viel angesichts eines Grundgehalts der unteren Krankenhausangestellten von 59.000 Lire Ende 1973, vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 19.12.1973, in: Controinformazione 1/2 (1974), S. 17. 95 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 185. 96 Plakat der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom Dezember 1975, in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (Hg.) (1976): 36 ore pagate 40. Cronaca di lotta e di provocazioni antioperaie al Policlinico. Rom, unpaginiert, Druckseite 5. Die Druckseiten werden im Folgenden der Übersichtlichkeit halber angegeben.

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Nach einer wochenlangen Mobilisierung gelang es den protestierenden Krankenhausbediensteten am 9. Februar 1976 eine vom consiglio d’ospedale, der offiziellen Arbeitnehmervertretung des Krankenhauses, einberufene Vollversammlung auf wesentliche Kernpunkte der bisherigen Mobilisierung einzuschwören: Reduktion der Arbeitszeit auf 36 Wochenstunden, Abschaffung der Überstunden, Aufstockung des Pflegepersonals bis die gesetzlich vorgesehenen 120 Minuten tägliche Betreuung pro Patient realisierbar sind.97 Als konkrete Kampfform wurde beschlossen, die geforderten 36 Wochenstunden ab sofort zu praktizieren.98 Am nächsten Tag wurde ein Flugblatt an die Patienten verteilt, in dem erklärt wurde, dass der Kampf der Angestellten in erster Linie eine Verbesserung der Pflege zum Ziel hatte.99 Um die verkürzten Arbeitszeiten praktikabel zu machen, wurde ab dem 11. Februar ein von den Angestellten konzipiertes neues Schichtsystem angewandt. Zugleich wurde die Patientenaufnahme blockiert, um für eine Normalisierung des Zahlenverhältnisses zwischen Pflegern und Patienten zu sorgen, welches in Zukunft 1 zu 10 betragen sollte.100 Zugleich wiesen die Protestierer jede Verantwortung für Pflegemängel zurück: „‚I lavoratori rifiutano ogni responsabilità se viene a mancare assistenza nei reparti dove per carenza di personale non si possono garantire i turni di 36 ore. È il compito dell’amministrazione provvedere in questo senso!!‘“101 Während die Angestellten ihren Kampf fortsetzten, begann die Gegenseite wachsenden Druck aufzubauen, um die Protestierer wieder zur Erbringung ihrer bisherigen Arbeitsleistung zu zwingen: Die Presse berichtete breit über die negativen Auswirkungen der Proteste auf die Patientenversorgung an der Poliklinik102 und die PCIVertreter im Direktionskomitee der Poliklinik Vettraino und Fusco wandten sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie die ‚korporativen Forderungen‘ der ‚Extremisten‘ anklagten und ein entschiedenes Vorgehen gegen diese forderten.103 Der Rektor der römischen Universität, Vaccaro, dem jene Klinikangestellten, deren

97 Vgl. Abschlussdokument der Assemblea generale del Policlinico vom 9.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 7f.; Stame/Pisarri (1977), S. 189f. 98 Vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 7f.. 99 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 10.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai(1976), S. 9f.. 100 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 11.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 10f.; Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 13.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 14f. 101 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 13.2.1976, zitiert nach: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 14f., hier: S. 15. „‚Die Arbeitnehmer weisen jede Verantwortung zurück, falls es in den Abteilungen, wo aufgrund des Personalmangels keine 36-Stunden-Schichten umsetzbar sind, an Betreuung fehlen sollte. Es ist Aufgabe der Verwaltung die Versorgung zu gewährleisten!!‘“ 102 Vgl. z.B. L’Unità vom 13.2.1976, S. 8; Il Tempo vom 14.2.1976, S. 7; Il Messaggero vom 14.2.1976, S. 6. 103 Vgl. L’Unità vom 13.2.1976, S. 8.

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Wechsel zur Region sich noch verzögerte, nach wie vor unterstanden, drohte mit der Einbehaltung der Gehälter, falls die Arbeitszeitreduktion fortgesetzt würde.104 Die regionale Krankenhausverwaltung und die Leitung der Poliklinik drohten den Protestierern ihrerseits mit Disziplinarmaßnahmen und der Einschaltung der Staatsanwaltschaft.105 Während die Kampfbereitschaft der Angestellten der Poliklinik nach einer Woche der Mobilisierung angesichts dieser Repressionsdrohungen etwas zurückging, weitete sich der Konflikt auf neue Felder aus: Am Freitag, den 13. Februar 1976 organisierte das ‚Coordinamento scuole infermieri‘106 eine Demonstration der römischen Pflegeschüler. Das Fronttransparent brachte die Kernforderungen der Protestierenden zum Ausdruck: „No allo sfruttamento nelle scuole infermieri – retribuzione e lavoro garantito.“107 Zudem wurden die Forderungen der Poliklinikangestellten von ihren Kollegen am Forlanini-Krankenhaus aufgegriffen, die nun ebenfalls eine Arbeitszeitreduktion, eine Erhöhung des Grundgehalts und Neueinstellungen forderten.108 Am Dienstag, den 17. Februar verstärkte der PCI seine Propaganda gegen das Collettivo Policlinico abermals. Eine Handvoll PCI-Mitglieder verteilte morgens ein Flugblatt vor der Poliklinik, in dem sie vor allem Daniele Pifano angriffen und ihm vorwarfen, im Dienste der ‚Barone‘ zu agieren: „‚[…] (Q)uesti gaglioffi ancora non ci hanno detto chi li paga, chi permette loro di fare i propri comodi. Almeno non ci hanno risposto in maniera diretta perché indirettamente, leggendo tra le righe, si capisce chi difendono […]. […] (C)iò che preme a Daniele e soci non è […] l’interesse della classe operaia e della cittadinanza; è invece la difesa del barone, la necessità di mantenere questo ospedale in uno stato di disfacimento. […] Riflettano i lavorati e giudichino questo provocatore: Sia isolato come tutti i lacchè e servi dei padroni e dei baroni. […] Proprio questo temono i vagabondi tipo Daniele e Stramazza, essere costretti a chiacchierare e intrigare un po’ meno ed a lavorare di più.‘“109 Die Tatsache, dass sich die Kampagne des PCI nun nicht mehr ausschließ-

104 Vgl. Il Tempo vom 14.2.1976, S. 7. 105 Vgl. Il Messaggero vom 14.2.1976, S. 6. 106 ‚Koordination der Pflegeschulen‘. 107 Vgl. Foto, in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 19. „Nein zur Ausbeutung in den Pflegeschulen – Bezahlung und Arbeitsplatzgarantie.“ 108 Vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 21f. Auch in anderen Krankenhäusern machte sich die Unzufriedenheit der Belegschaften Luft, was unter anderem zur Folge hatte, dass die PSI-Exponenten in der Provinzleitung der Krankenhausgewerkschaft FLO geschlossen zurücktraten. 109 Flugblatt der Cellula del PCI del Policlinico vom 17.2.1976, zitiert nach: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 25f. „‚[…] [D]iese Lümmel haben uns noch immer nicht erklärt, wer sie bezahlt, wer ihnen erlaubt, zu tun was sie wollen. Zumindest haben sie es uns nicht direkt gesagt, denn indirekt, wenn wir zwischen den Zeilen lesen, begreift man, wen sie verteidigen […]. […] [D]as was Daniele und die seinen antreibt, ist nicht […] das Interesse der Arbeiterklasse und der Einwohnerschaft, sondern die Verteidigung des Barons, die Notwendigkeit dieses Krankenhaus in einem Zustand der Auflösung zu halten. […] Die Arbeitnehmer sind aufgerufen, zu reflektieren und über diesen Provokateur zu urteilen: Es gilt ihn wie alle Lakaien und Diener der Bosse und der Ba-

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lich gegen Exponenten der Autonomia Operaia wie Pifano richtete, sondern auch Stramazza als PSI-Vertreter im Consiglio d’ospedale angegriffen wurde, weil er sich mit den Protesten solidarisierte, machte deutlich, wie sehr sich der PCI nach einer Woche der Basisagitation in die Ecke gedrängt fühlte. Das Collettivo Policlinico reagierte mit harscher Kritik am PCI: „‚Oggi come oggi il PCI rappresenta gli interessi di un gruppo dirigente cresciuto all’ombra delle grandi lotte del dopoguerra […] che ha un unico scopo, quello di arrivare al potere abbandonando tutti presupposti del comunismo.‘“110 Tags darauf beschloss die allmorgendliche Vollversammlung der protestierenden Angestellten einen Rundgang durch die Poliklinik, um der Drohkulisse der Gegenseite entgegenzuwirken und für die Beibehaltung der 36 Wochenstunden zu mobilisieren, bis der Präsident der regionalen Krankenhausgesellschaft Pio Istituto di Santo Spirito D’Angelo öffentlich machen würde, welche Schritte er zur Lösung der Probleme ergreifen würde.111 Nach einer Versammlung der PCI-Betriebszelle eskalierte gegen Mittag die Situation: Als es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Daniele Pifano und dem PCI-Mitglied Silvio Grappasonni kam, sprang der PCI-Bezirksrat Vittorio Sartogo seinem Parteifreund bei, woraufhin Franco Coppini Pifano zur Hilfe eilte. Anschließend kam eine Reihe von PCI-Mitgliedern aus der Küche der Poliklinik den Ihren zur Hilfe, während eine Gruppe von anderen Angestellten der Poliklinik und einige anwesende Studenten den Exponenten des Collettivo Policlinico halfen.112 Die Anhänger des Kollektivs überstanden die Konfrontation weitgehend unbeschadet, Vittorio Sartogo hingegen trug ernsthafte Verletzungen davon, deren Heilungsdauer auf 40 Tage geschätzt wurde.113 Noch am selben Tag versuchte eine Gruppe mit Knüppeln bewaffneter PCI-Mitglieder, den Aktivisten des Collettivo Policlinico eine ‚Abreibung‘ zu verpassen, was jedoch misslang, da sie ihre Gegner nicht antrafen.114 Während das Collettivo Policlinico in den Geschehnissen einen gezielten Angriffsversuch auf Daniele Pifano sahen, der durch die ent-

rone zu isolieren. […] Genau das befürchten die Rumtreiber wie Daniele und Stramazza, gezwungen zu werden, etwas weniger zu quatschen und mehr zu arbeiten.‘“ Der Aufforderung des PCI, offen zu legen, wer Daniele Pifano bezahle, kam das Collettivo Policlinico umgehend nach: Seit seiner Verhaftung am 25.10.1974 hatte Pifano keinen Lohn mehr erhalten, erschien aber seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 6. Juli 1975 täglich zur Arbeit. Seinen Lebensunterhalt finanzierte er durch Spenden seiner Arbeitskollegen, vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 26. 110 Flugblatt der Collettivo Policlinico vom 19.2.1976, zitiert nach: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 27f., hier: S. 28. „‚Heute repräsentiert der PCI die Interessen einer Führungsgruppe, die im Schatten der großen Kämpfe der Nachkriegszeit aufgewachsen ist […] und deren einziges Ziel es ist, die Macht zu erlangen und die dabei alle Voraussetzungen des Kommunismus aufgibt.‘“ 111 Vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 28. 112 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 23.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 29 – 31. 113 Vgl. L’Unità vom 21.2.1976, S. 12; Il Messaggero vom 21.2.1976, S. 6. 114 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 23.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 29 – 31.

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schlossene Reaktion der Anwesenden zurückgeschlagen worden sei,115 übernahm die Presse tags darauf einhellig die Version des PCI, der einen brutalen Angriff auf Sartogo beklagte.116 Am nächsten Morgen wollte eine Handvoll Aktivisten des Collettivo Policlinico ein Flugblatt vor der Poliklinik verteilen,117 als sie sich mit der Antwort des PCI auf die Auseinandersetzung vom Vortrag konfrontiert sahen: Über Hundert aus ganz Rom zusammengezogene Mitglieder des PCI-Ordnerdienstes waren vor dem Haupteingang des Krankenhauses postiert, während die Nebeneingänge ebenfalls von PCIOrdnern versperrt waren.118 Die oft mit Knüppeln bewaffneten Ordner verteilten ein Flugblatt ohne Unterzeichner in dem es hieß: „‚I Comunisti e Socialisti del Policlinico […] condannano il grave atto teppistico di netta marca fascista perpetrato nei confronti di militanti del Partito Comunista. […] Fuori la teppaglia fascista dagli ospedali.‘“119 Die sieben anwesenden Exponenten des Collettivo Policlinico wurden umringt und verprügelt – Daniele Pifano und Franco Coppini mussten anschließend in die Notaufnahme, wo Verletzungen diagnostiziert wurden, deren Heilungsdauer auf 15, bzw. 25 Tage prognostiziert wurde. Andere Aktivisten des Collettivo Policlinico wurden wenig später vor und im Krankenhaus angegriffen und verletzt. Anschließend hielten die Gewerkschaften vor der Poliklinik eine Protestkundgebung gegen die Aggression vom Vortag ab, während sich in der Eingangshalle der Poliklinik das Collettivo Policlinico und jene Krankenhausangestellten versammelten, die an den Protesten teilnahmen.120

115 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 23.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 29 – 31. 116 Vgl. L’Unità vom 21.2.1976, S. 12; Il Messaggero vom 21.2.1976, S. 6; Il Tempo vom 21.2.1976, S. 4; Artikelüberschriften vom Corriere della Sera vom 21.2.1976, Paese Sera von 21.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 35. 117 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 21.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 32f. 118 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 23.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 29 – 31. 119 Flugblatt ohne Unterzeichner vom 21.2.1976, zitiert nach: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 34. „‚Die Kommunisten und Sozialisten der Poliklinik […] verurteilen den Akt schweren Verbrechertums eindeutig faschistischer Prägung, der gegenüber Aktivisten der Kommunistischen Partei begangen wurde. […] Raus mit dem faschistischen Mob aus den Krankenhäusern.‘“ Die PSI-Vertreter an der Poliklinik distanzierten sich laut Collettivo Policlinico von dem Flugblatt, das ohne ihr Wissen entstanden war, vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 34. 120 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 23.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 29 – 31. Die Darstellung des PCI und der bürgerlichen Presse fiel wiederum deutlich anders aus: Ihrer Interpretation zufolge hatten einige Aktivisten des Collettivo Policlinico versucht, die Gewerkschaftskundgebung zu stören und waren ‚entfernt‘ worden, vgl. L’Unità vom 22.2.1976, S. 10; Il Tempo vom 22.2.1976, S. 7.

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Am nächsten Tag wurde bekannt, dass der PCI-Bezirksrat Sartogo Pifano und Coppini wegen Körperverletzung angezeigt hatte und gegen beide Haftbefehl erlassen worden war. Allerdings berichtete der Corriere della Sera über die Haftbefehle, bevor diese vollstreckt werden konnten, und so gelang es Pifano und Coppini, sich ihrer Festnahme zu entziehen.121 In den folgenden Tagen drängten vor allem die Exponenten des PCI an der Poliklinik die Verantwortlichen, dem Collettivo Policlinico jenen Raum zu entziehen, in dem die regelmäßigen Treffen stattfanden. Es kam zu einer Reihe von Polizeieinsätzen zur Räumung der „auletta“, die aber allesamt keinen Erfolg hatten, da der Raum sofort nach Abzug der Polizei wieder besetzt wurde.122 Am 25. Februar beschloss das Direktionskomitee der Poliklinik unter federführender Beteiligung der PCI-Vertreter Vettraino, di Napoli und Fusco beim römischen Polizeipräsidenten die Installierung einer festen Polizeipräsenz auf dem Gelände der Poliklinik zu beantragen.123 Am 1. März stellte das Collettivo Policlinico fest: „‚[…] [L]a repressione al Policlinico è gestita solo indirettamente dalla magistratura ma direttamente dal PCI.‘“124 Das Direktionskomitee beschloss des Weiteren, allen an den Protesten beteiligten Angestellten den Lohn um jenen Anteil zu kürzen, der den vier nicht gearbeiteten Wochenstunden entsprach. Zudem wurden drei Aktivisten wegen Gesetzesverstößen während der Agitation für die 36-Stunden-Woche vom Dienst suspendiert. Zwei weitere Aktivisten des Collettivo Policlinico wurden aufgrund der Anzeige eines PCIAktivisten wegen Beleidigung verhaftet und für mehrere Wochen inhaftiert. 125 Schließlich gelang es durch eine starke Mobilisierung in der Poliklinik im April 1976, wenigstens die Rücknahme der verhängten Disziplinarmaßnahmen zu erreichen.126 Die Haftbefehle gegen Daniele Pifano und Franco Coppini hingegen blieben vorerst bestehen, doch mehr als ein Jahr später – am 4.5.1977 – erreichte auch Daniele Pifano nach zahlreichen Solidaritätsaktionen seiner Genossen nach fast dreijähriger Suspendierung seine Wiedereinstellung an der Poliklinik.127

121 Vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 41. 122 Vgl. Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 46f. 123 Vgl. Protokoll des Comitato Direttivo der Poliklinik vom 25.2.1976, abgedruckt in: Collettivo Policlinico/Comitati Autonomi Operai (1976), S. 48. 124 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 1.3.1976, zitiert nach: Stame/Pisarri (1977), S. 196. „‚[D]ie Repression in der Poliklinik wird nur indirekt von der Justiz betrieben, aber direkt vom PCI.‘“ 125 Vgl. Stame/Pisarri (1977), S. 197. 126 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 24.4.1976, in: Stame/Pisarri (1977), S. 198, Fußnote 69. 127 Vgl. Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 1 (1976), S. 8, in: MC, Fondo Ceccotti, Nr. 8, Fasz. 15. Zur Wiedereinstellung Daniele Pifanos vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 9.5.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77.

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1.3 Die Logik des autonomen Betriebskampfes Das Collettivo Policlinico bestand von Anfang an auf basisdemokratischen Strukturen, in denen alle grundsätzlichen Entscheidungen von offenen Vollversammlungen getroffen werden sollten, und knüpfte somit unmittelbar an den radikaldemokratischen Anspruch der Studentenbewegung von 1968 an. Auch hinsichtlich der Kritik an autoritären Machstrukturen, Wissenshierarchien und Klientelismus stand das Collettivo Policlinico in der emanzipatorischen Tradition der Frühphase der italienischen Studentenbewegung.128 Dem basisdemokratischen Anspruch des Kollektivs folgend sollte sich Politik nicht über Prozesse der Delegation vollziehen, bei denen wenigen Exponenten einer Bewegung die Verantwortung für zentrale Entscheidungen übertragen wird,129 sondern Kampfziele sollten – wo immer dies möglich war – unmittelbar praktiziert werden. Diese Art des Kampfes – die von den autonomen Fabrikkämpfen in Norditalien ab 1968/69 inspiriert war – machte in den Augen der Aktivisten den Rückgriff auf Formen des zivilen Ungehorsams und der politischen Gewalt oft unumgänglich.130 Von den Fabrikkämpfen musste sich die Agitation des Collettivo Policlinico allerdings aufgrund seines spezifischen Kampfterrains zugleich kategorisch unterscheiden: Das Krankenhaus musste in seiner Ambivalenz als Ort der Versorgung, Pflege und Heilung einerseits und Ort der Ausbeutung der Arbeitskraft seiner Angestellten und als mehrwertgenerierende ‚Gesundheitsfabrik‘ im Dienste der Gesundheitsindustrie und der ‚Barone‘ andererseits begriffen werden. Diesen ‚Tücken des Terrains‘ konnte das Collettivo Policlinico nicht entgehen: Einerseits sollte die Situation der Patienten verbessert, die Versorgung intensiviert, die Behandlung kostenfrei werden. Andererseits sollte die Situation des Krankenhauspersonals verbessert werden. Fast alle Druckmittel aber, die im Falle von Arbeitskämpfen in Frage kamen, wirkten sich negativ auf die Versorgung der Patienten aus und eröffneten der Krankenhausleitung, den Parteien und Medien, die Möglichkeit, den Kampf der Angestellten zu delegitimieren. Die Konfliktkonstellation an der Poliklinik lässt sich auf zwei unterschiedliche Begriffe davon zurückführen, was das Krankenhaus als Ort der Gesundheitsversorgung und als Arbeitsplatz sein sollte. Diese sich widersprechenden Vorstellungen schlugen sich in gegenläufigen raumkonstituierenden Handlungsroutinen nieder, die, da sie sich am selben Ort vollzogen, in Konflikt miteinander gerieten.131 Gewöhnlich

128 Vgl. Jan Kurz/Marica Tolomelli (2008): Italy, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.): 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956 – 1977, New York, S. 83 – 96, hier: S. 86f. und S. 89f. 129 Vgl. L’Autonomia operaia romana. Intervista a Daniele Pifano, in: Bianchi (1997), S. 363. 130 Vgl. L’Autonomia operaia romana. Intervista a Daniele Pifano, in: Bianchi (1997), S. 366. 131 Auf eine Benutzung der von Löw (2001) vorgeschlagenen Begriffe der Syntheseleistung und des Spacings als die beiden raumkonstituierenden Prozesse wird hier im Sinne der allgemeinen Verständlichkeit verzichtet. Dennoch lässt sich der an der Poliklinik ausgetragene Konflikt durch seine starke Fokussierung auf einen spezifischen Ort – die Poliklinik – durchaus in wesentlichen Teilen als Raumkonflikt begreifen: Zwei oder mehr Akteursgruppen bringen durch ihre Formen der Syntheseleistung und des Spacings an ein und demselben Ort unterschiedliche Räume hervor.

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setzten sich diejenigen Handlungsroutinen durch, die die bestehende Institution der Poliklinik perpetuierten. In Ausnahmefällen aber, in Hochzeiten der Basisbewegung, wurden andere Handlungsroutinen dominant und die Institution Poliklinik als „[…] auf Dauer gestellte Regelmäßigkeit sozialen Handelns […]“132 begann sich aufzulösen und durch eine andere Poliklinik ersetzt zu werden, in der das Pflegepersonal und die Patienten eine neue, zentrale Rolle spielten. Für das Collettivo Policlinico spielten die Gewerkschaften im Zuge des Konflikts nicht die Rolle eines Partners, sondern diejenige eines Gegners, der die soziale Konfliktualität in dem Krankenhaus durch die Mechanismen der Repräsentation abfederte und die Institution Poliklinik so stabilisierte. Insofern gingen aus Sicht des Collettivo Policlinico der Kampf gegen die Logik der Poliklinik als Gesundheitsfabrik und der Kampf gegen die Gewerkschaften als Repräsentationsinstrument Hand in Hand. Die scharfe Kritik der Kollektivs an den Gewerkschaften als hierarchischen und allzu moderaten Organisationen sowie deren umgekehrte Ablehnung jeder Form der autonomen Basisorganisation mündeten bald in einen offenen Kampf um die Hegemonie, in dem das Collettivo Policlinico eine Reihe von Etappensiegen gegenüber den Gewerkschaften errang. Während das Kollektiv, gestärkt durch erste Erfolge, seine Angriffe auf die traditionelle Linke steigerte, sah sich umgekehrt der PCI angesichts seiner wachsenden Integration in die Leitungsstrukturen der Poliklinik mehr und mehr in der Rolle, Verantwortung für das unveränderte Funktionieren des Krankenhauses zu übernehmen und grundsätzlichen Dissens zu marginalisieren. Anfang 1976 schließlich kulminierte dieser Konflikt in den körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten des Collettivo Policlinico und Mitgliedern des PCI. Ein Jahr vor dem Bruch zwischen der linken Bewegung und der traditionellen Linken mit den Ereignissen vom 17.2.1977 auf dem römischen Campus war im Mikrokosmos der römischen Poliklinik ein ähnlicher Konflikt so schon vorweggenommen worden.133 In den mehr als zwei Jahren, die zwischen den Auseinandersetzungen vom Februar 1976 und der Einrichtung einer selbst organisierten Abtreibungsabteilung in der Poliklinik im Sommer 1978 lagen, führte das Collettivo Policlinico seine Arbeit ohne Brüche weiter.134 Die Politik des Kollektivs wurde dabei stets vom schwelenden Kampf mit dem PCI und den Gewerkschaften um die Hegemonie im größten römischen Krankenhaus mitbestimmt. Auch in den Jahren 1976 und 1977 spielten die ge-

132 Löw (2001), S. 169. Löw definiert so unter Rückgriff auf Überlegungen Anthony Giddens’ Institutionen. 133 Vgl. Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 143-159, hier S. 147. 134 Viele grundlegende Themen der Basisagitation an der Poliklinik blieben über Jahre aktuell, vgl. z.B. Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 1 (1976), in: MC, Fondo Ceccotti Nr. 8, Fasz. 15; Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 29.3.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77; Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 30.3.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77; Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 3 (1977), in: MC, Fondo Ceccotti, Nr. 8, Fasz. 15. Hinzu kam eine Reihe spezifischer Konflikte in einzelnen Kliniken, vgl. z.B. Flugblatt der Assemblea dei malati e dei lavoratori della II° patologia medica vom 2.4.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77.

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samtgesellschaftlichen Entwicklungen weiterhin eine wichtige Rolle in der Agitation des Collettivo Policlinico: Wirtschaftskrise und Inflation sowie deren Auswirkungen auf den Lebensstandard der proletarischen Bevölkerungssegmente, Annäherung von PCI und DC, Aufweichung der ‚scala mobile‘135 und Verzicht der Gewerkschaften auf harte Tarifkämpfe wurden ausgiebig thematisiert.136 Ab Anfang 1977 nahm die Entwicklung der Bewegung von 1977 breiten Raum in den Diskussionen und Publikationen des Collettivo Policlinico ein.137 Obwohl das Kollektiv die Basisarbeit in der Poliklinik nicht vernachlässigte, dürfte sich das Augenmerk vieler seiner Aktivisten gerade im Jahr 1977 phasenweise auf die nahe gelegene Universität und die eskalierende Konfrontation mit der Staatsmacht auf den Straßen Roms verlagert haben.

2 DIE FEMINISTISCHE BERATUNGSSTELLE VON SAN LORENZO 2.1 Die Anfänge der feministischen Bewegung in Italien und in Rom Wie für die anderen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, so war auch für den italienischen Neofeminismus die Studentenbewegung von 1968 ein wichtiger Ausgangspunkt gewesen.138 Zwar hatten schon zuvor einige kleine feministische Zirkel wie die Gruppe Demau (Demistificazione Autoritarismo)139 in Mailand existiert, aber für die große Mehrheit der feministischen Aktivistinnen bildete der außerparlamentarische Bewegungszyklus ab 1968 mit seiner Freisetzung antiautoritärer Energien den Grundstein der eigenen politischen Biographie.140

135 ‚Rolltreppe‘ – Regelung der zufolge die Löhne automatisch an die Inflationsrate angepasst werden. 136 Vgl. Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 1 (1976), in: MC, Fondo Ceccotti Nr. 8, Fasz. 15; Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 3 (1977), in: MC, Fondo Ceccotti Nr. 8, Fasz. 15. 137 Vgl. z.B. Dokument „Per l’organizzazione autonoma dei giovani proletari“ vom 10.1.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77; Offener Brief der Comitati Autonomi Operai vom 3.2.1977 an Senator Ugo Pecchioli (PCI), in: Il gruppettaro. Giornaletto del Policlinico a cura del Collettivo Policlinico 3 (1977), S. 12f. in: MC, Fondo Ceccotti, Nr. 8, Fasz. 15; Flugblatt der Assemblea cittadina dei Comitati Autonomi Operai e di Quartiere vom 17.2.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77; Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 19.3.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77; Flugblatt der Comitati Autonomi Operai vom 15.5.1977, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77. 138 Vgl. Manuela Fraire (Hg.) (2002): Lessico politico delle donne: teorie del femminismo. Mailand, S. 117f. Ein Beispiel für die Entstehung neofeministischer Tendenzen in der Studentenbewegung boten die ‚collettivi femminili‘ (‚Frauenkollektive‘) an der römischen Universität 1969, vgl. Rosalba Spagnoletti (Hg.) (1976): I movimenti femministi in Italia. Rom, S. 66 – 72. 139 Für einige zentrale Dokumente der Gruppe Demau, vgl. Spagnoletti (1976), S. 37 – 63. 140 Vgl. Lumley (1990), S. 313ff.

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Allerdings waren es im Falle des Feminismus gerade die Ambivalenzen von 1968, die der Entwicklung der Bewegung Vorschub leisteten: Die Diskrepanz zwischen der propagierten Aufhebung der bestehenden Rollenmuster und dem faktischen Fortbestehen tradierter patriarchaler Geschlechterrollen in der Studentenbewegung und den bald entstehenden Organisationen der Neuen Linken führte zu einer harschen Kritik an den männlichen Genossen und war Ausgangspunkt feministischer Reflexions- und Organisierungsprozesse.141 Ab 1970 entstanden vor diesem Hintergrund wichtige neofeministische Gruppen wie Rivolta Femminile,142 die die Geschlechterdifferenz zur Grundlage einer Politik machten, in der die Frau stets als Anderes der bestehenden patriarchalen Ordnung begriffen wurde.143 Etwa zeitgleich entstand auch das eher bürgerrechtlich orientierte Movimento di Liberazione della Donna (MLD),144 welches mit dem Partito Radicale verbunden war und eine Agenda der Gleichstellung verfolgte, in der von Anfang an die Legalisierung der Verhütung und der Abtreibung eine wichtige Rolle spielte.145 Die theoretischen Differenzen beeinflussten dabei auch die konkreten Fragen der Organisierung nachhaltig: Während eine radikale Minderheit von feministischen Aktivistinnen den Separatismus als conditio sine qua non der eigenen Befreiung begriff und deshalb auf eine Organisierung ohne Männerbeteiligung pochte, waren im MLD Frauen und Männer gemeinsam organisiert. In den nächsten Jahren sollte der Separatismus immer weitere Kreise ziehen. Zum Königsweg für viele Frauen aus der Neuen Linken wurde bald die doppia militanza146, also die gleichzeitige Organisierung in gemischtgeschlechtlichen Gruppen der Neuen Linken und in reinen Frauenkollektiven. Ziel dieser Organisierungsform war es, die Autonomie der Frauenbewegung zu erhalten, ohne sich aber als feministische Frauen aus der Linken zurückzuziehen.147 In dem ab Anfang der 1970er Jahre langsam wachsenden Spektrum des italienischen Feminismus trat bald eine Praxis ihren Siegeszug an, die zunächst auf einen kleinen Kreis von Aktivistinnen beschränkt geblieben war: Die so genannte autocoscienza148. Diese von US-Feministinnen unter dem Begriff des ‚consciousness-

141 Vgl. Lumley (1990), S. 314. 142 Für einige zentrale Dokumente von Rivolta Femminile, vgl. Spagnoletti (1976), S. 101 – 136. 143 Vgl. Diego Giachetti (2005): Nessuno ci può giudicare. Gli anni della rivolta al femminile. Rom, S. 125. 144 Für einige zentrale Dokumente aus der Gründungsphase des MLD, vgl. Spagnoletti (1976). 145 Vgl. Giachetti (2005), S. 134; Spagnoletti (1976), S. 73 und S. 80. 146 Zum Konzept der doppia militanza, vgl. Fraire (2002), S. 117 – 150. Zur Praxis der doppia militanza in feministischen Gruppen und Neuer Linker, vgl. Mariella Gramaglia (1987): Affinità e conflitto con la nuova sinistra, in: Memoria. Rivista di storia delle donne 19/20, S. 19-37. Zur doppia militanza von Feministinnen, die in der traditionellen Linken aktiv waren, vgl. Grazia Zuffa (1987): Le doppie militanze. Donna comunista, donna femminista, in: Memoria. Rivista di storia delle donne (1987) 19/20, S. 38-47. 147 Vgl. Giachetti (2005), S. 179ff. 148 ‚Selbsterfahrung‘. Zum Konzept und zur Praxis der autocoscienza, vgl. Fraire (2002), S. 95 - 108

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raising‘ entwickelte Methode der Selbsterfahrung basierte auf dem regelmäßigen persönlichen Austausch, der zumeist in einer kleinen Gruppe von Vertrauten stattfand.149 Dabei wurde die eigene Sexualität ebenso thematisiert wie das Verhältnis zu Männern, Probleme in der Familie und die Dinge des Alltags.150 Die rasch wachsende Verbreitung dieser Praxis war wesentlich für den politischen Charakter der feministischen Bewegung: Im Zuge der autocoscienza im piccolo gruppo151 wurden konkrete persönliche Erfahrungen von Unterdrückung ins Zentrum gerückt und zum Ausgangspunkt feministischer Politik gemacht. Die feministische Kleingruppe war die Keimzelle jener Auffassung, die sich ab Mitte der 1970er in immer weiteren Teilen der außerparlamentarischen Bewegung Italiens Bahn brach, derzufolge das Persönliche politisch sei. Das feministische ‚piccolo gruppo‘ bildete einen intimen persönlich-politischen Kommunikationsraum, in dem auch lange tabuisierte körperpolitische Fragen thematisiert und zum Gegenstand politischer Praxis werden konnten. In Rom gründeten Anfang 1971 einige ehemalige Aktivistinnen von Rivolta Femminile unter dem Namen Movimento Femminista Romano (MFR) einen Zusammenschluss von Frauen, der während der gesamten 1970er Jahre eine wesentliche Rolle in der römischen feministischen Bewegung spielen sollte.152 Am 9. Mai 1971 trat die Gruppe erstmals öffentlich in Erscheinung: Anlässlich des ‚giorno della mamma‘ zeigten die Feministinnen eine Ausstellung auf der Piazza Navona, die sich unter dem Titel „Chi sei veramente?“153 kritisch mit weiblichen Rollenbildern auseinandersetzte. Der durch die Werbung inszenierten Figur der glücklichen Konsumentin wurde die reale Ausbeutung der Frauen als kostenlose Arbeitskraft im Haushalt gegenübergestellt: „Lavori senza contratto, senza paga, senza orario, quando gli altri hanno le feste tu lavori.“154 Insbesondere die Frauen der Neuen Linken wurden – auch vor dem Hintergrund der politischen Biographien vieler Aktivistinnen des MFR155 – als potentiell interessierte Adressatinnen der Ausstellung ausgemacht:

149 Vgl. Giachetti (2005), S. 141 – 147. 150 Vgl. Giachetti (2005), S. 125. 151 ‚Kleingruppe‘. Zum ‚piccolo gruppo‘, vgl. Giachetti (2005), S. 148 – 158. 152 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976): Donnità. Cronache del movimento femminista romano. Rom, S. 6ff. Bis 1973 firmierte die Gruppe als Collettivo di Lotta Femminista. In Rom war die Gruppe, die der Einfachkeit halber im Folgenden als Movimento Femminista Romano (MFR) bezeichnet wird aber ohnehin vor allem als Collettivo di Via Pompeo Magno bekannt, jener Straße, in der sie seit 1971 ihren Treffpunkt hatte. 153 Movimento Femminista Romano (1976), S. 12 – 17. „Wer bist Du wirklich?“ 154 Movimento Femminista Romano (1976), S. 13. „Du arbeitest ohne Vertrag, ohne Bezahlung, ohne Arbeitszeiten, wenn die anderen Feiertage haben arbeitest Du.“ Wie wichtig die Frage der Hausarbeit für die Lebensrealität der italienischen Frauen tatsächlich war, macht die Tatsache deutlich, dass nur 22% der Italienerinnen Anfang der 1970er Jahre einer Beschäftigung außer Hause nachgingen und zugleich der Wert der von den Italienerinnen erbrachten unbezahlten Hausarbeit auf knapp ein Drittel des Netto-Nationaleinkommens geschätzt wurde, vgl. Giachetti (2005), S. 178. 155 Viele Aktivistinnen des Movimento Femminista Romano stammten selbst aus dem Umfeld der Studentenbewegung und der Neuen Linken, vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 6.

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„Puoi lottare insieme agli altri ma dopo devi tornare a casa perché pulire il pavimento, dare da mangiare ai bambini, lavare i panni al ‚rivoluzionario‘ lo deve fare la compagna.“156 Doch die Agenda der Feministinnen des MFR ging von Anfang an weit über Fragen der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und der medialen Inszenierung von Weiblichkeit hinaus und berührte auch Fragen der körperlichen Selbstbestimmung: „Non puoi decidere nemmeno sulle funzioni del tuo stesso corpo, devi fare figli come e quando decidono loro.“157 Damit war ein Thema berührt, das sich bis Mitte der 1970er Jahre zum wichtigsten Agitationsfeld des italienischen Feminismus entwickeln sollte: Der Kampf gegen das Abtreibungsverbot und die damit eng verbundenen Fragen der sexuellen Aufklärung und der Verhütung. Im Herbst 1971 kam es in Rom zur ersten Aktion, die sich speziell diesem Thema widmete: Am 20. November riefen die Aktivistinnen des MFR und des MLD in Rom im Rahmen des ‚internationalen Tages für die Aufhebung des Abtreibungsverbots‘ zu einer Demonstration auf.158 Dabei war im Herbst 1971 die Forderung noch ebenso außergewöhnlich wie das öffentliche Auftreten der Feministinnen selbst. Ganze 60 Frauen kamen zur Demonstration des MFR in der römischen Innenstadt, und als diese nach Ende des Umzugs an der Piazza Navona durchgefroren in eine Bar drängten, war das Aufsehen groß: „La gente era sconvolta. Non aveva mai visto tante donne insieme.“159

156 Movimento Femminista Romano (1976), S. 13. „Du kannst mit den anderen gemeinsam kämpfen, aber danach musst Du nach Hause gehen, denn den Boden schrubben, die Kinder füttern und die Wäsche des ‚Revolutionärs‘ waschen ist die Aufgabe der Genossin.“ 157 Movimento Femminista Romano (1976), S. 13. „Du kannst nicht einmal über die Funktionen deines eigenen Körpers bestimmen. Du musst Kinder haben wie und wann sie bestimmen.“ 158 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 20 – 24. 159 Movimento Femminista Romano (1976), S. 21. „Die Leute waren schockiert. Sie hatten noch nie so viele Frauen zusammen gesehen.“

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Abb. 4.4 Die Anfänge der Agitation für die Legalisierung der Abtreibung: Aufruf des MFR zum Internationalen Tag für die Abschaffung des Abtreibungsverbotes 1971. Comictext: „Meine erste Tochter wollte ich nicht, ich war schwanger und musste heiraten, was soll man machen? Meine dritte Tochter wollte ich nicht, es war ein Versehen, was soll man machen? Mein fünftes Kind wollte ich nicht, aber mein Mann bestand darauf, dass er einen Sohn wollte, was soll man machen? Meine siebte Tochter wollte ich nicht, inzwischen bin ich alt und mein Mann hat eine andere. Wisst ihr was? Mir reicht’s!“ Aufruftext zwischen den Bildzeilen: „Samstag 20. November 1971. Internationaler Tag für die Abschaffung des Abtreibungsverbots. Wir Frauen sind nicht nur Mütter!!! Die Frauen der ganzen Welt wollen selbst über ihre Mutterschaft entscheiden!“

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2.2 Körperpolitik und Abtreibungsverbot Ab 1973 rückte die körperliche Selbstbestimmung immer mehr ins Zentrum der feministischen Agenda. Zentrale Themenfelder waren dabei die Fragen der sexuellen Aufklärung, der Verhütung und der Abtreibung, wobei letztere rasch zum wichtigsten Konfliktfeld wurde, da das Abtreibungsverbot zur Folge hatte, dass sich jedes Jahr zahllose Frauen illegalen Abtreibungen unterzogen, die entweder – wenn sie von den berüchtigten ‚mammane‘, also ‚Engelmacherinnen‘ durchgeführt wurden, eine Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen darstellten, oder aber – wenn sie von Gynäkologen durchgeführt wurden – extrem teuer waren. Im Februar 1973 fand in der medizinischen Fakultät der römischen Universität eine von der Gruppe Il Manifesto organisierte Konferenz für die Abschaffung des Abtreibungsverbots statt, auf der unter anderem Michèle Chevalier sprach, eine französische Arbeiterin, die in ihrer Heimat angeklagt gewesen war, weil sie ihrer Tochter bei einer Abtreibung geholfen hatte, und die angesichts einer breiten Mobilisierung der französischen Frauenbewegung freigesprochen worden war.160 Im Zuge der Konferenz, zu der nach Einschätzung der Veranstalter 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Italien gekommen waren, kam es erstmals in Italien dazu, dass sich Frauen wegen Abtreibung öffentlich selbst anzeigten, um so den Druck zu erhöhen, das Abtreibungsverbots aufzuheben.161 Das Beispiel der französischen Gesinnungsgenossinnen fand in der italienischen Bewegung Anklang: Auch in Italien sollte einer der zahlreichen Prozesse wegen illegaler Abtreibung in ein politisches Tribunal gegen das Abtreibungsverbot und die allgemeine gesellschaftliche Situation der Frauen verwandelt werden. Im Juni 1973 war es soweit: In Padua fand ein Prozess gegen Gigliola Pierobon, eine allein stehende Mutter, statt, die wegen einer Abtreibung angeklagt war, die sie sechs Jahre zuvor im Alter von 17 Jahren hatte vornehmen lassen.162 Vor und während des Prozesses kam es zu einer breiten feministischen Mobilisierung in zahlreichen italienischen Städten.163 Außerdem waren zahlreiche Feministinnen bei dem Prozess in Padua anwesend.164 Gigliola Pierbon wurde für schuldig befunden, der Prozess gegen sie jedoch eingestellt – in den Augen der Feministinnen ein Ausdruck patriarchaler Heuchelei.165 Dennoch war die Kampagne zum Prozess von Padua aus Sicht der feministischen Bewegung ein Erfolg: Das Abtreibungsverbot war mehr

160 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 73f.; Il Manifesto vom 3.2.1973, in: Centro Simonetta Tosi (CST), Fondo CRAC, 1973, Bl. 18; Il Manifesto vom 11.2.1973, in: CST, Fondo CRAC, 1973, Bl. 11. 161 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 74. 162 Vgl. Flugblatt von Lotta Femminista (ohne Datum), in: Luciana Percovich (2005): La coscienza nel corpo. Donne, salute e medicina negli anni Settanta. Mailand, S. 220. 163 Vgl. Luciana Percovich (2005), S. 220ff.; Movimento Femminista Romano (1976), S. 111ff. 164 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 116f.; Flugblatt des Movimento femminista milanese vom 13.6.1973, in: Percovich (2005), S. 223. 165 Vgl. Flugblatt des Movimento femminista milanese vom 13.6.1973, in: Percovich (2005), S. 223.

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denn je zuvor öffentliches Konfliktfeld. In den nächsten Monaten kam es zu zahlreichen Demonstrationen und Sit-ins in ganz Italien, bei denen Frauen ihre Kernforderung propagierten: „Aborto libero e gratuito“.166 Im November 1973 organisierte das MFR eine Zusammenkunft mit zwei Aktivistinnen des Women’s Health Center, Los Angeles, im Teatro Eliseo in Rom. Dabei wurden den Anwesenden die Technik des self-help vorgestellt, im Zuge derer kleine Gruppen von Frauen sich kollektiv praktisch mit ihrer Körperlichkeit auseinandersetzen. Im Zentrum des self-help stand die Selbstuntersuchung mithilfe von Spekulum, Spiegel und Lampe: So konnte jede Frau mit Hilfe der anderen ihre Geschlechtsorgane selbst untersuchen. Self-help bildete gewissermaßen das körperliche Pendant zur Praxis zur autocoscienza.167 „Finora siamo vissute nell’ignoranza: […] il nostro corpo è stato un mistero, che tabù trasmessi attraverso generazioni ci hanno impedito di esplorare. […] Impariamo a conoscerci: è questo il messaggio che abbiamo ricevuto da due femministe del Women’s Health Center […]. Il primo stadio di conoscenza è la visione e l’osservazione dell’interno del proprio corpo, degli organi genitali.“168 Diese ‚Entdeckung des eigenen Körpers‘ sollte sich ohne Spezialisten – also Gynäkologen oder Hebammen – vollziehen, um so eine Reproduktion des hierarchischen Verhältnisses Arzt-Patient zu verhindern.169 Durch die Verbreitung des self-help war der feministische Anspruch auf körperliche Selbstbestimmung, der sich zunächst auf Fragen der Verhütung und Abtreibung konzentriert hatte, deutlich erweitert worden: Der Versuch der feministischen Selbstbefreiung jenseits der Forderung nach bloßer gesellschaftlicher Gleichberechtigung, der sich bisher vor allem in der Praxis der autocoscienza manifestiert hatte, wurde nun zunehmend auf die Dimension des Körpers ausgedehnt. So zeichneten sich zwei

166 Vgl. z.B. Movimento Femminista Romano (1976), S. 122f. „Freie und kostenlose Abtreibung“. 167 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 131ff. 168 Movimento Femminista Romano (1976), S. 131. „Bis jetzt haben wir in Unwissenheit gelebt: […] unser Körper war ein Geheimnis und von Generation zu Generation weitergereichte Tabus haben uns verboten, es zu erkunden. […] Lernen wir uns kennen: Das ist die Botschaft, die wir von den zwei Feministinnen des Women’s Health Center empfingen […]. Das erste Stadium der Erkenntnis ist die Anschauung und Beobachtung unseres Körperinneren, unserer Geschlechtsorgane.“ 169 Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 131f. und S. 134. Ähnliche Initiativen wie das römische Treffen mit den US-amerikanischen Genossinnen fanden im Herbst 1973 auch in anderen italienischen Städten statt, vgl. Percovich (2005), S. 223. Außerdem wurden in den folgenden Jahren mehrere Bücher auf Italienisch veröffentlicht, die sich in den feministischen Diskurs der Wiederaneignung des eigenen Körpers einreihten und dafür konkrete Techniken vermittelten. Das wohl wichtigste diese Bücher war das vom Boston Women’s Health Book Collective verfasste Handbuch, das Feltrinelli 1974 unter dem Titel „Noi e il nostro corpo“ veröffentlichte, vgl. Silvia Tozzi (1989): Corpo e scienza nel movimento per la salute. Un percorso di difficile lettura, in: Anna Maria Crispino (Hg.) (1989): Esperienza storica femminile nell’età moderna e contemporanea. Parte seconda. Rom, S. 167 – 180, hier: 169.

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– eng verzahnte – körperpolitische Stränge im italienischen Feminismus der frühen 1970er Jahre ab: Der kampagnenförmige Kampf für die Aufhebung des Abtreibungsverbotes und der subtilere Strang der direkten Wiederaneignung der eigenen Körpers, der in den Praktiken des self-help und der autovisita170 seinen Ausdruck fand und weniger auf unmittelbare gesellschaftliche Breitenwirkung zielte als auf eine radikale Veränderung bei den Aktivistinnen selbst.

2.3 Die römische Kampagne gegen das Abtreibungsverbot Anfang 1975 erreichte die Auseinandersetzung um die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein neues Niveau: Nach einer Anzeige zweier MSI-Politiker wurden Gianfranco Spadaccia, der Sekretär des Partito Radicale und die Mitarbeiter einer Florentiner Abtreibungsklinik verhaftet, die von dem Radicali-nahen CISA (Centro informazione sterilizzazione e aborto) ins Leben gerufen worden war. Außerdem wurden Anzeigen gegen Dutzende Frauen erstattet, die sich in der Florentiner Klinik einer Abtreibung unterzogen hatten.171 Während in Florenz wenige Tage nach den Verhaftungen 6000 Feministinnen aus ganz Italien für die Abschaffung des Abtreibungsverbots demonstrierten, erschien das Wochenmagazin L’Espresso nach den Verhaftungen von Florenz und Rom mit einer ans Kreuz geschlagenen nackten Schwangeren und der Überschrift „Aborto: Una tragedia italiana“ auf dem Titelblatt, woraufhin die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme der Ausgabe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses anordnete.172 Um die Abtreibungsfrage stand nun ein offener Kampf ins Haus, in dem wachsende zivilgesellschaftliche Sektoren sich ebenso wie wichtige Medien für eine Abschaffung des Verbotes stark machten.173 Allerdings fanden die Befürworter einer Verbotsaufhebung kaum Widerhall im Parlament, da der PCI im Zuge des Historischen Kompromisses jede frontale Konfrontation mit dem DC vermeiden wollte.174 So beschritten sie einen anderen Weg: Anfang Februar begannen das Wochenmagazin L’Espresso, der Partito Radicale und der MLD eine Unterschriftensammlung, um ein Referendum zur Abschaffung des Abtreibungsverbots zu erreichen.175 In den nächsten zwei Jahren sollte der Kampf um die Legalisierung der Abtreibung zu jenem Schlachtfeld werden, auf dem die italienische Frauenbewegung ihre maximalen Mobilisierungskräfte erreichte – auch weil es hier zeitweise zu einer dialektischen

170 ‚Selbstuntersuchung‘ – Untersuchung des eigenen Geschlechtsapparats mithilfe von Spiegel, Spekulum und Lampe. 171 Vgl. L’Espresso vom 19.1.1975, S. 3f.; Il Messaggero vom 14.1.1975, in: CST, Fondo CRAC, 1975 I, 21. 172 Vgl. L’Espresso vom 19.1.1975, S. 3f.; Giachetti (2005), S. 206f. 173 Zur rasant wachsenden Zustimmung für eine Abschaffung des Abtreibungsverbots zwischen 1973 und 1975, vgl. Giachetti (2005), S. 205f. 174 Vgl. L’Espresso vom 19.1.1975, S. 6. 175 Vgl. Giachetti (2005), S. 206. Die Gruppen der Neuen Linken, Lotta Continua, Avanguardia Operaia und PdUP unterstützten das Referendum.

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Synthese zwischen dem emanzipatorischen Feminismus der traditionellen Frauenorganisationen und dem auf umfassende Befreiung drängende Neofeminismus kommen sollte.176 Anfang 1975 begann in Rom ein Diskussionsprozess zwischen feministischen Gruppen und den Frauenkommissionen der Organisationen der Neuen Linken, der es zum Ziel hatte, die Kampagne für die Legalisierung der Abtreibung auf ein neues Niveau zu heben.177 Im Juni 1975 trat die neue Organisation mit einer Gründungsveranstaltung im Teatro Spazio Zero im Stadtteil Testaccio an die Öffentlichkeit178 und fortan sollte das Comitato Romano per la liberalizzazione dell’Aborto e la Contraccezione (CRAC), in dem feministische Gruppen und Neue Linke zusammenarbeiteten zum wichtigsten lokalen Akteur im Kampf um die Abtreibungslegalisierung werden.179

176 Vgl. Giachetti (2005), S. 208ff. 177 Vgl. Effe (1975) 11, S. 2. 178 Vgl. Plakat der Gründungsveranstaltung, in: Manuela Fraire/Rosalba Spagnoletti/Marina Virdis u.a. (Hg.)(1978): L’almanacco. Luoghi, nomi, incontri, fatti lavori in corso del movimento femminista italiano dal 1972. Rom, S. 47. 179 Das CRAC bestand 1975 aus dem MFR, zu dem auch das Collettivo San Lorenzo gehörte, dem Collettivo Femminista Comunista Romano, dem Movimento di Liberazione della Donna Autonomo (MLDA), dem Collettivo Femminista Magliana, dem Nucleo Femminista Medicina und den Gruppen der Neuen Linken, Lotta Continua, Avanguardia Operaia und PdUP, vgl. Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 47.

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Abb. 4.5 Kämpferische feministische Ästhetik: Gründungplakat des CRAC von Juni 1975. „Comitato Romano per la liberalizzazione dell’Aborto e la Contraccezione – wir betteln nicht um ein Recht, wir kämpfen um es zu erhalten“ Daneben: Ort und Zeit der Gründungsveranstaltung und teilnehmende Gruppen.

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Im Gründungsdokument des CRAC wurde die Forderung nach Abschaffung des Abtreibungsverbots in einen weiteren Rahmen gestellt: „l’aborto è sempre una violenza, cui le donne sono costrette a ricorrere in mancanza di alternative reali. […] l’aborto è […] un fatto sociale, una realtà di massa: […] è il prezzo che le donne sono ancora oggi costretto a pagare per il loro rifiuto di una sessualità finalizzata unicamente alla riproduzione. l’aborto clandestino è una violenza di classe, di cui ancora una volta sono le donne proletarie a pagare in maniera più drammatica le conseguenze.“180 Das Ziel des CRAC – die Möglichkeit einer legalen kostenlosen Abtreibung für Frauen jeden Alters in öffentlichen Krankenhäusern181 – unterschied sich nicht wesentlich von weniger radikalen Teilen der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung. Hinsichtlich der konkreten Praxis hatte das CRAC allerdings eine deutlich radikalere Position inne: „Il comitato si impegna a praticare l’autogestione dell’aborto come momento di lotta in centri in cui l’aborto venga eseguito in condizioni igieniche e sanitarie sicure e di gratuità […].“182 Was das konkret hieß, erklärten die Aktivistinnen im Gespräch mit der feministischen Zeitschrift Effe: „[…] (O)rganizziamo viaggi settimanali per Londra, dove l’aborto è legale e pratichiamo, qui in Italia, aborti con il metodo dell’aspirazione come in Francia fanno le compagne del MLAC […].“183 Im Herbst 1975 begann das CRAC eine große Mobilisierung zu einer internationalen Demonstration für die Abschaffung des Abtreibungsverbots am 6. Dezember in Rom.184 Im Zentrum der feministischen Kritik stand der Versuch des italienischen Parlaments, einem Referendum über das Abtreibungsverbot zuvorzukommen, indem man einen halbherzigen parteipolitischen Kompromiss über die Köpfe der Betroffenen hinweg aushandelte, der keine der grundsätzlichen Forderungen der feministischen Bewegung berücksichtigte: Abtreibung sollte weiterhin grundsätzlich strafbar bleiben und die letzte Entscheidung über eine Abtreibung sollte beim behandelnden

180 Vgl. Gründungsdokument des CRAC vom 4.6.1975, in: CST, Fondo CRAC, 1975 II, 71. „Eine Abtreibung ist immer Gewalt. Eine Form der Gewalt, die die Frauen in Kauf zu nehmen gezwungen sind, da reale Alternativen fehlen. […] Abtreibungen sind […] ein gesellschaftliches Faktum, ein Massenphänomen: […] sie sind der Preis, den die Frauen heute immer noch zahlen müssen für ihre Weigerung, Sexualität einzig als Mittel zur Fortpflanzung zu praktizieren. Die illegalen Abtreibungen sind eine Form der Klassengewalt, bei der es einmal mehr die proletarischen Frauen sind, die auf die dramatischste Weise die Konsequenzen zahlen.“ 181 Vgl. Gründungsdokument des CRAC vom 4.6.1975, in: CST, Fondo CRAC, 1975 II, 71. 182 Vgl. Gründungsdokument des CRAC vom 4.6.1975, in: CST, Fondo CRAC, 1975 II, 71. „Das Komitee setzt sich dafür ein, dass die Abtreibung in Eigenregie, als Moment des Kampfes, in Zentren durchgeführt wird, in denen die hygienische und medizinische Sicherheit gewährleistet wird und der Eingriff kostenlos ist.“ 183 Effe 11 (1975), S. 2. MLAC ist das französische Mouvement pour la Liberté de l’Avortement et de la Contraception. „[…] (W)ir organisieren wöchentliche Reisen nach London, wo die Abtreibung legal ist und wir praktizieren hier in Italien Abtreibungen mit der Absaugmethode, wie es in Frankreich die Genossinnen des MLAC tun […].“ 184 Vgl. Brief des Centro Femminista San Lorenzo vom 20.10.1975 an feministische Gruppen in ganz Italien, in: CST, Fondo CRAC, 1975 III, 146.

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Arzt und nicht bei der betroffenen Frau liegen.185 Die Ablehnung des Gesetzesentwurfs von Seiten der feministischen Bewegung war kategorisch:186 Mit diesem Gesetz würden die klandestinen Abtreibungen weiterhin stattfinden, es würden weiterhin Frauen sterben, weil sie in die Illegalität gedrängt würden.187 Der Erfolg der Mobilisierung übertraf die optimistischsten Erwartungen: 20.000 Frauen folgten dem Aufruf und so kam es zur bis dato größten Demonstration für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der italienischen Geschichte.188 Anwesend waren nicht nur radikale Feministinnen, sondern auch viele Frauen aus dem

Abb. 4.6 Feministische Frauendemonstration in Rom 1975.

PCI und dem PSI.189 Der am häufigsten skandierte Slogan versuchte die schmerzliche Widersprüchlichkeit des Themas synoptisch zu fassen: „‚Vogliamo l’aborto per non dover più abortire‘“190. In ihrer Rede kritisierte eine Vertreterin des CRAC nicht nur die regierenden Christdemokraten, sondern auch den oppositionellen PCI: „‚Principale responsabile di questa legge è la Democrazia Cristiana. Estremamente grave su questo problema è il cedimento del Partito Comunista Italiano, frutto di un operazione politica che mira agli accordi di potere e al mantenimento degli attuali

185 Vgl. Aufruf des Movimento delle donne in lotta per la contraccezione e l’aborto libero, gratuito ed assistito zur Demonstration in Rom am 6.12.1975 in: CST, Fondo CRAC, 1975 III, 120. 186 Vgl. Aufruf des Movimento delle donne in lotta per la contraccezione e l’aborto libero, gratuito ed assistito zur Demonstration in Rom am 6.12.1975 in: CST, Fondo CRAC, 1975 III, 120. 187 Vgl. Jasmine Ergas vom CRAC, in: L’Espresso vom 14.12.1975, S. 25f.; Effe 11 (1975), S. 2. 188 Vgl. Il Messaggero vom 7.12.1975, S. 1 und S. 22; L’Espresso vom 14.12.1975, S. 25f.; Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 50. 189 Vgl. Il Messaggero vom 7.12.1975, S. 1 und S. 22; L’Espresso vom 14.12.1975, S. 25f. 190 Zitiert nach: Il Messaggero vom 7.12.1975, S. 1. „‚Wir wollen das Abtreibungsrecht, um nicht mehr abtreiben zu müssen.‘“

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equlibri politici e non certo ai nostri interessi.‘“191 Doch die Demonstration vom 6. Dezember 1975 blieb nicht nur aufgrund ihrer Größe ein wichtiger Bezugspunkt im kollektiven Gedächtnis der feministischen Bewegung: Erstmals setzten die Frauen bei einer derart großen Demonstration durch, dass die männlichen Genossen nicht in dem Demonstrationszug mitliefen. Ein Teil der Männer sah dieses Bestehen der Feministinnen auf einer reinen Frauendemonstration als einen Angriff auf die ‚Einheit der Arbeiterklasse‘ und so versuchte der römische Ordnerdienst von Lotta Continua sich gegen den Willen der Frauen in die Demonstration zu drängen, woraufhin es zu einem Handgemenge kam. Der Zorn der Feministinnen angesichts des körperlichen Übergriffs von Seiten der eigenen Genossen kannte keine Grenzen: Am selben Abend stürmten LC-Aktivistinnen eine Sitzung der LC-Führung in Rom und beschimpften die anwesenden Genossen als Faschisten.192 Die Tageszeitung der Organisation versuchte am nächsten Tag, den aufgebrochenen Konflikt zu ignorieren, doch der Graben, der sich am 6. Dezember 1975 aufgetan hatte, war nicht mehr zu überwinden und bildete den Anfang jenes Prozesses, an dessen Ende die Auflösung von Lotta Continua im November 1976 auf dem Kongress von Rimini stand.193 Sehr viel schneller jedoch führte der Übergriff der LC-Ordner zur Spaltung jener Organisation, die die Demonstration veranstaltet hatte: Nach einer internen Diskussion im CRAC verließen die Gruppen der Neuen Linken, LC, AO und PdUP und damit alle Organisationen mit gemischtgeschlechtlicher Mitgliedschaft das Komitee. Einige jener Frauen, die zuvor als Aktivistinnen dieser Gruppen teilgenommen hatten, taten dies auch weiterhin, nun aber als Einzelpersonen. Dennoch ging das CRAC nicht nachhaltig geschwächt aus der Auseinandersetzung hervor, da sich in der Folgzeit zahlreiche feministische Kollektive dem Komitee anschlossen.194

Die konkrete Umsetzung der Politik des CRAC im Alltag sollte durch Beratungsstellen gewährleistet werden: „Il comitato si è formato per […] sviluppare una politica di prevenzione, con una rete di consultori controllati dalle donne, per l’informazione e la distribuzione […] degli anticoncezionali gratuiti e non nocivi.“195 Die ersten Beratungsstellen des CRAC entstanden in San Lorenzo und in der Magliana. 1976 existierten bereits fünf Beratungsstellen des CRAC in Rom. Zudem ent-

191 Zitiert nach: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 50. „‚Die Hauptverantwortung für dieses Gesetz liegt bei den Christdemokraten. Extrem schwerwiegend im Hinblick auf dieses Problem ist das Einknicken der Kommunistischen Partei Italiens, das das Resultat einer politischen Operation ist, die auf die Machtabsprachen und auf die Erhaltung des gegenwärtigen politischen Gleichgewichts zielt und sicherlich nicht auf unsere Interessen.‘“ 192 Vgl. Gramaglia (1987), S. 19ff. 193 Vgl. Gramaglia (1987), S. 20ff. 194 Vgl. Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 51; Effe 2 (1976), S. 29. 195 Vgl. Gründungsdokument des CRAC vom 4.6.1975, in: CST, Fondo CRAC, 1975 II, 71. „Das Komitee hat sich gegründet um […] eine Vorsorgepolitik mit einem Netz von Beratungsstellen zu entwickeln, die von Frauen kontrolliert werden, um die Information und die Verteilung kostenloser und unschädlicher Verhütungsmittel zu organisieren.“

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standen in mehreren anderen Vierteln Roms, katalysiert durch die Arbeit des CRAC, feministische Kollektive, die sich der Stadtteilarbeit widmeten.196 Allerdings waren die Beratungsstellen keineswegs alleiniges Terrain der feministischen Bewegung. Neben den Initiativen der AIED (Associazione Italiana per l’Educazione Demografica) in Sachen Familienplanung und den wenigen schon existierenden öffentlichen Beratungsstellen war im Juli 1975 ein Gesetz verabschiedet worden, das eine breit angelegte Offensive der Regionen auf diesem Gebiet vorsah.197 Die gesetzgeberische Initiative wurde von Seiten des CRAC einerseits als Kontrollversuch kritisiert: „‚La legge sui consultori […] è un tentativo di istituzionalizzare e quindi controllare i bisogni finora espressi con forza sempre crescente dalla lotta delle donne.‘“198 Andererseits wurde die Bereitstellung öffentlicher Finanzmittel als Chance gesehen, die Arbeit der bisher selbstverwalteten feministischen Beratungsstellen auf ein neues Niveau zu heben und deshalb die öffentliche Finanzierung der selbst verwalteten Beratungsstellen gefordert.199 Dabei sollten die Beratungsstellen eher Kristallisationspunkt der feministischen Bewegung als bloße Einrichtungen der Gesundheitsversorgung sein: „‚Il consultorio, per uscire dall’ottica di un semplice servizio sanitario, deve costituire un punto di riferimento per le donne in lotta.‘“200 Die wichtigste selbst verwaltete Beratungsstelle in Rom war das vom Collettivo San Lorenzo eröffnete consultorio201 in der Via dei Sabelli 100, dessen Aktivistinnen zugleich eine zentrale Rolle im CRAC spielten. Im Folgenden sollen Genese, Aktivitäten und Probleme der Struktur genauer dargestellt werden.202

196 Vgl. Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 49ff. 197 Vgl. Silvia Tozzi (1984): Il movimento delle donne, la salute, la scienza. L’esperienza di Simonetta Tosi, in: Memoria. Rivista di storia delle donne 11/12, S. 128-144, hier: S. 133ff. 198 La piattaforma del CRAC sui consultori (1975), zitiert nach: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 52f., hier: S. 52. „‚Das Gesetz über die Beratungsstellen […] ist ein Versuch jene Bedürfnisse zu institutionalisieren und zu kontrollieren, die bislang mit ständig wachsender Kraft durch den Kampf der Frauen zum Ausdruck kamen.‘“ 199 Vgl. La piattaforma del CRAC sui consultori (1975), zitiert nach: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 52f., hier: S. 52. 200 La piattaforma del CRAC sui consultori (1975), zitiert nach: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 52f., hier: S. 52. „‚Die Beratungsstelle muss einen Bezugspunkt für die kämpfenden Frauen darstellen, um aus der Perspektive einer einfachen gesundheitlichen Dienstleistung herauszutreten.‘“ 201 ‚Consultorio’ bedeutet Beratungsstelle. 202 Vgl. Zur Bedeutung des consultorio, vgl. Interview mit der PCI-Stadträtin Anita Pasquali, in: Simona Lunadei/Lucia Motti (Hg.) (2002): Storia e memoria: Le lotte delle donne romane dalla liberazione agli anni ’80. Rom, S. 172 – 186, hier: S. 181.

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2.4 Entstehung und Arbeit der Beratungsstelle in San Lorenzo 2.4.1 Anfänge der feministischen Stadtteilintervention von San Lorenzo Ab Anfang 1974 begann sich eine Gruppe von Aktivistinnen des MFR dem proletarischen Stadtteil San Lorenzo im Osten Roms zuzuwenden, wo der MFR schon 1972 eine Umfrage und eine Ausstellung zur Situation der Frauen organisiert hatte.203 „La scelta del quartiere è stata fatta in seguito all’analisi della situazione socio-economica ed anche per la vicinanza al Centro Pianificazione familiare del Policlinico.“204 Die Gruppe bestand anfangs aus sechs Frauen, darunter eine Medizinerin, eine Soziologin, eine Krankenschwester und eine Gesundheitsassistentin.205 Eine zentrale Rolle spielte dabei von Anfang an Simonetta Tosi, eine Aktivistin des MFR, die als Ärztin und Biologin über Expertenwissen zu Fragen der weiblichen Gesundheit im Allgemeinen und den Themen Verhütung und Abtreibung im Besonderen verfügte.206 Den Auftakt der Stadtteilaktivität bildeten zahlreiche Gespräche mit den Hausfrauen in San Lorenzo. Zu diesem Zweck gingen Aktivistinnen von Tür zu Tür und versuchten vor allem Fragen der Verhütung zu thematisieren. So wurden zum einen Informationen über populäre Missverständnisse und Wissenslücken gesammelt und zum anderen versucht, im persönlichen Gespräch Informationen über sichere Verhütungsmethoden zu vermitteln.207 Die Situation der Frauen in San Lorenzo wurde in einer Darstellung der eigenen Arbeit folgendermaßen beschrieben: „La maggior parte delle donne sono casalinghe, mogli di operai, piccoli artigiani, venditori ambulanti; una parte sono collaboratrici domestiche ad ore ed altre lavorano a domiclio per conto terzi. Gli alloggi sono angusti, la natalità elevata. La situazione di isolamento in cui vivono le porta, nella quasi totalità, ad avere una completa disinformazione e

203 Vgl. Brief der Frauengruppe von San Lorenzo an interessierte Ärzte vom 21.2.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 39. Das Interesse der MFR-Aktivistinnen am Stadtteil San Lorenzo war nicht neu: Bereits 1972 hatten sie dort eine Umfrage und eine Ausstellung organisiert, vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 50ff. 204 Vgl. Selbstdarstellung des feministischen Gruppe von San Lorenzo (1974), S. 1, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 25. „Die Wahl des Stadtteils wurde aufgrund einer Analyse der sozio-ökonomischen Situation getroffen und auch aufgrund der räumlichen Nähe zum Familienplanungszentrum der Poliklinik.“ 205 Vgl. Selbstdarstellung der feministischen Gruppe von San Lorenzo (1974), S. 1, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 25. 206 Zur Person Simonetta Tosis, vgl. Tozzi (1984), S. 128-144. 207 Vgl. Differenze 6/7 (1978), S. 18; Brief der Frauengruppe von San Lorenzo vom 21.2.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 39. Diese Herangehensweise dürfte auch Resultat der Erfahrungen von 1972 gewesen sein, als sich viele Hausfrauen in San Lorenzo in ihren eigenen vier Wänden durchaus offen für Gespräche gezeigt hatten, während sie bei der anschließenden Ausstellung in der Öffentlichkeit häufig sehr zurückhaltend waren, Vgl. Movimento Femminista Romano (1976), S. 52.

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diffidenza verso il discorso sugli anticoncezionali.“208 Für diesen Mangel an Wissen und Vertrauen in Sachen Verhütung wurde neben der unzureichenden Aufklärung und dem oft lückenhaften Wissensstand der zuständigen Ärzte selbst auch eine Reihe psychologischer Hindernisse verantwortlich gemacht.209 Bald schon erweiterten die Aktivistinnen ihre Interventionsform und boten Kurse in Sachen Sexualaufklärung und Verhütung für kleine Gruppen von Frauen an. Dafür versuchten sie Informationsmaterial in Form von Postern oder Dias aus dem In- und Ausland zu beschaffen.210 Zudem suchten die Feministinnen aus San Lorenzo bald Kontakt zu den Ärzten im Stadtteil, um diese für die problematische Situation vieler ihrer Patientinnen zu sensibilisieren und eine Form der losen Zusammenarbeit anzuregen. Das Ergebnis war desillusionierend: Nur zwei von über 30 kontaktierten Ärzten waren zu einer lockeren Zusammenarbeit bereit.211 Bei den Diskussionen in der Gruppe entstand die Idee, die eigene Arbeit langfristig in San Lorenzo zu verankern und ein Frauengesundheitszentrum in dem Stadtteil aufzubauen.212 Angesichts der damit verbundenen Kosten und des enormen Aufwands, den der Aufbau eines solchen Zentrums bedeutete, suchten die Frauen nach institutioneller Unterstützung: Im Sommer 1974 nahmen sie Kontakt mit der AIED auf, die schon zwei Beratungsstellen im Zentrum Roms betrieb, und sondierten die Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens.213 Im Oktober 1974 wandte sich Simonetta Tosi im Namen der Gruppe mit der konkreten Anfrage an das Direktionskomitee der AIED, ob die gemeinsame Eröffnung eines Frauengesundheitszentrums in San Lorenzo vorstellbar sei.214 Die Feministinnen von San Lorenzo stellten Bedingungen, die die politische Selbstbestimmung der Gruppe auch in Zukunft gewährleisten sollten: Die AIED sollte die Finanzierung der Räume und des nötigen Personals übernehmen, während die Feministinnen von San Lorenzo die Einrichtung betreiben würden. Die von Tosi entworfene Skizze sah vor, dass zwei von den Feministinnen ausgewählte Ärzte anfangs vier Wochenstunden Dienst in der Einrichtung leisten

208 Selbstdarstellung der feministischen Gruppe von San Lorenzo (1974), S. 1, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 25. „Die Mehrheit der Frauen sind Hausfrauen, Ehefrauen von Arbeitern, kleinen Handwerkern, fliegenden Händlern. Ein Teil arbeitet als Putzfrauen auf Stundenbasis und andere verrichten Heimarbeit für Dritte. Die Wohnungen sind beengt, die Geburtenrate ist hoch. Die isolierte Situation, in der sie leben, führt dazu, dass sie fast alle völlig dessinformiert und misstrauisch gegenüber Verhütungsmitteln sind.“ 209 Selbstdarstellung der feministischen Gruppe von San Lorenzo (1974), S. 1, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 25. 210 Vgl. Brief von Simonetta Tosi an die International Planned Parenthood Federation (London) vom 10.4.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 27. 211 Vgl. Selbstdarstellung der feministischen Gruppe von San Lorenzo (1974), S. 2, in: CST, Fondo CRAC, 1974 I, Bl. 25. 212 Vgl. Tozzi (1984), S. 131. 213 Vgl. Brief von Simonetta Tosi an die AIED vom 19.10.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 II, Bl. 66; Elenco dei consultori AIED vom 1. September 1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 II, Bl. 70. 214 Vgl. Brief von Simonetta Tosi an die AIED vom 19.10.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 II, Bl. 66.

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sollten. Eine ebenfalls von den Feministinnen ausgewählte technische Angestellte mit guten Kenntnissen in Fragen der Verhütung sollte das Zentrum außerdem täglich von 10 bis 13 Uhr geöffnet halten und dafür mit 100.000 Lire im Monat entlohnt werden. Des Weiteren sollten Kurse und Veranstaltungen in der Einrichtung stattfinden.215 Doch die Zusammenarbeit kam nicht zustande: Das Bestehen der Feministinnen von San Lorenzo auf völliger Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Finanzierung durch die AIED war für diese nicht akzeptabel. Außerdem verwies AIEDVorsitzender Luigi Laratta in seiner Antwort auf vorangegangene Negativerfahrungen bei dem Versuch, Beratungszentren in der römischen Peripherie zu eröffnen: Bisher eröffnete Einrichtungen hatten nach kurzer Zeit schließen müssen, weil kaum Frauen erschienen.216 Auch nachdem sich die anvisierte Zusammenarbeit mit der AIED zerschlagen hatte, blieb das fundamentale Bedürfnis der Feministinnen bestehen, ihrer Präsenz im Stadtteil durch eigene Räume materiellen Ausdruck zu verleihen. Zudem hatte sich die Gruppe im Laufe des Jahres 1974 deutlich vergrößert und das Bedürfnis nach eigenen Räumen war damit auch aus gruppenimmanenten Gründen deutlich gewachsen. So kam es, dass die Feministinnen Ende 1974 auf eigene Faust nach erschwinglichen Räumen im Stadtteil suchten und schließlich fündig wurden: Sie mieteten eine feuchte Kellerwohnung mit 56 Quadratmetern in der Via dei Sabelli 100 und begannen die notwendigsten Renovierungsarbeiten in Eigenregie durchzuführen, um die drei Räume in einen bewohnbaren Zustand zu bringen.217 In den nächsten Monaten verlagerte sich der politische Fokus der Gruppe vorübergehend: Anstelle der Aufklärungs- und Vernetzungsarbeit im Stadtteil standen nun die Diskussionen und der Austausch innerhalb der eigenen Gruppe im Vordergrund. Die inzwischen an die 30 Aktivistinnen tauschten ihr Wissen aus und brachten sich gegenseitig Techniken des self-help bei oder übten, wie ein Diaphragma anzumessen war.218 Im Mai 1975 schließlich gründeten die Frauen offiziell das Collettivo femminista San Lorenzo und agierten fortan als eigenständige Struktur, auch wenn sie teilweise weiterhin als Teil des Movimento Femminista Romano firmierten.219 Als Gruppe mit eigenen Räumen und profunden Kenntnissen in Fragen der weiblichen

215 Vgl. Brief von Simonetta Tosi an die AIED vom 19.10.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 II, Bl. 66. 216 Vgl. Brief von Luigi Laratta an die Gruppe von San Lorenzo vom 15.11.1974, in: CST, Fondo CRAC, 1974 II, 72. 217 Vgl. Tozzi (1984), S. 131; Tozzi (1989), S. 171f.; Differenze 6/7 (1978), S. 18; Pianta locali, in: CST, Fondo CRAC, 1975 I, Bl. 4. 218 Vgl. Differenze 6/7 (1978), S. 18. 219 Vgl. Differenze 6/7 (1978), S. 18. Zur Tatsache, dass das Collettivo Femminista di San Lorenzo z.T. weiterhin als Teil des MFR auftrat, vgl. Plakat zur Gründungveranstaltung des CRAC am 4.6.1975, auf dem nur das MFR aufgeführt ist, obwohl Aktivistinnen der Gruppe von San Lorenzo wesentlichen Anteil an der Initiative hatten, in: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 47. Zur zentralen Rolle des Collettivo Femminista di San Lorenzo im CRAC, vgl. z.B. den Brief der AIED an den CRAC vom 26.10.1976, bei dem die Via dei Sabelli 100 als Postadresse des CRAC fungiert, in: CST, Fondo CRAC, 1976 II, 104.

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Körperpolitik wurde das Collettivo femminista San Lorenzo bald zu einem wichtigen Bezugspunkt für viele feministische Kollektive in Rom. Der verstärkte Bezug auf die eigene Gruppe und die vielfältigen Kontakte zu feministischen Gruppen in Rom führten zu, dass die Verankerung in San Lorenzo und der Kontakt zu den Frauen im Stadtteil vorübergehend in den Hintergrund traten. Doch nach wenigen Monaten erkannten die Aktivistinnen diese Tendenz und steuerten ihr aktiv entgegen.220 Im Frühsommer 1975 beschlossen sie, aus dem Sitz des Kollektivs in der Via dei Sabelli ein Frauenzentrum zu machen und die Räume so für die Frauen aus San Lorenzo zu öffnen: „In Via dei Sabelli 100 […], noi femministe abbiamo aperto un centro per tutte le donne del quartiere San Lorenzo. Incontriamoci tutti i lunedì e giovedì dalle 5 alle 7 del pomeriggio per discutere dei nostri problemi di tutti giorni […].“221 Die Palette der politischen Themen, mit denen sich die Aktivistinnen an die Frauen in San Lorenzo wandten, ging dabei deutlich über jene Fragen der Körperpolitik hinaus, die für das Kollektiv bisher zentral gewesen waren: „Questi problemi che riguardano la famiglia anzi la società, pesano solo su noi donne perché mancano: asili nido, scuole e dopo scuole, ospedali, centri per gli anziani, consultori a cui rivolgerci per il controllo delle nascite, ecc. Organizziamoci insieme ed in tante per ottenere questi servizi; organizziamoci per controllarli.“222 Nachdem das Zentrum zunächst nur an zwei Wochentagen geöffnet hatte, war es ab September 1975 an allen Wochentagen geöffnet.223 In der Folgezeit stand bald wieder das körperpolitische Repertoire im Zentrum der Arbeit des Kollektivs. Die Räume in der Via dei Sabelli waren bald weniger als Frauenzentrum denn als selbst verwaltetes consultorio bekannt. Allerdings dürfen die beiden Tendenzen nicht als Gegensätze begriffen werden. Es war der Anspruch des CRAC, dass sich die in ihm zusammengeschlossenen consultori trotz ihrer Fokussierung auf körperpolitische Thematiken darüber hinaus als Zentren der feministischen Bewegung begriffen.224

220 Vgl. Differenze 6/7 (1978), S. 18. 221 Flugblatt des Collettivo di San Lorenzo (1975), in: CST, Fondo CRAC, 1975 II, 16. „In der Via dei Sabelli 100 […] haben wir Feministinnen ein Zentrum für alle Frauen des Stadtteils San Lorenzo eröffnet. Wir treffen uns jeden Montag und Donnerstag von 5 Uhr bis 7 Uhr nachmittags, um über unsere Probleme im Alltag zu diskutieren […].“ 222 Flugblatt des Collettivo di San Lorenzo (1975), in: CST, Fondo CRAC, 1975 II, 16. „Diese Probleme, die eigentlich die Familie, ja die Gesellschaft insgesamt betreffen, gehen einzig zu Lasten von uns Frauen, denn es fehlen: Kinderkrippen, Schulen und Horte, Krankenhäuser, Altenzentren, Beratungsstellen, an die man sich wegen der Geburtenkontrolle wenden kann, etc. Organisieren wir uns gemeinsam und zu vielen, um diese Dienstleistungen zu erhalten; organisieren wir uns, um sie zu kontrollieren.“ 223 Vgl. Flugblatt des Centro delle Donne di S. Lorenzo (1975), in: CST, Fondo CRAC, 1975 III, 145. 224 CRAC: una proposta politica sui consultori, in: Effe 2 (1976), S. 29.

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2.4.2 Struktur und Verankerung der Beratungsstelle Zentrale Charakteristika der Beratungsstelle in San Lorenzo waren die Unabhängigkeit von Institutionen und Parteien, der in der Einrichtung praktizierte feministische Separatismus und die Selbstverwaltung der Struktur durch die beteiligten Aktivistinnen selbst. Wie wichtig dem Collettivo di San Lorenzo seine Autonomie war, spiegelte sich sowohl in den erfolglosen Verhandlungen mit der AIED 1974 als auch in der Tatsache, dass die Aktivistinnen des consultorio später eine finanzielle Unterstützung durch die Kommune ablehnten.225 Wesentliche Garantie der Unabhängigkeit war die Tatsache, dass die Unterhaltskosten des consultorio einzig aus Beiträgen der Aktivistinnen und Spenden gedeckt wurden und somit keinerlei Notwendigkeit bestand, die Nähe zu zahlungskräftigen Unterstützern zu suchen.226 Ein weitere conditio sine qua non der Autonomie der Beratungsstelle war die Tatsache, dass sie nicht auf professionelle medizinische Unterstützung von außen angewiesen war, da sich mit Simonetta Tosi eine Ärztin in den Reihen der Aktivistinnen fand, die über das nötige Fachwissen verfügte.227 Wesentlich für die Autonomie des Kollektivs und seiner Politik war auch die Existenz eigener Räumlichkeiten: „La continuità di uno spazio fisico posto fuori dalle istituzioni e sottratto al controllo delle forze politiche si traduceva in uno spazio psicologico di libertà e, in definitiva, in un diverso modo di essere nella politica.“228 Doch das Charakteristikum der Autonomie prägte nicht nur das Verhältnis des consultorio von San Lorenzo zu Institutionen und Parteien – es bezog sich auch auf die feministische Bewegung selbst. So unterstrich Ines Valanzuolo, dass die Beratungsstelle auch auf ihrer Unabhängigkeit gegenüber dem CRAC beharrte – jener feministischen Struktur, an deren Gründung Aktivistinnen des consultorio wesentlichen Anteil hatten und mit der es stets eng verbunden blieb.229 Neben die Autonomie der Beratungsstelle trat als zweites Kerncharakteristikum der Separatismus: Das consultorio in der Via dei Sabelli wurde nach einer Reihe anfänglicher Diskussionen als eine strikt separatistische Struktur organisiert, was bedeutete, dass Männer keinen Zutritt hatten – weder zu Beratungsgesprächen noch in der Rolle professioneller Unterstützer, beispielsweise als Ärzte.230 Diese Festlegung markierte einen der wesentlichen Unterschiede zu den ab 1976 entstehenden öffentlichen Beratungsstellen, die sich vor allem an Paare richten sollten und in denen Männer mitarbeiteten.231

225 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Giuseppina Caporaso (2005): Interruzione volontaria della gravidanza. Cultura e legislazione. Tesi di Laurea. Rom, S. 137 – 146, hier: S. 144. 226 Vgl. Tozzi (1984), S. 140. 227 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 144. 228 Tozzi (1984), S. 139. „Der Bestand eines physischen Raumes außerhalb der Institutionen, der der Parteienkontrolle entzogen war, übersetzte sich in einen psychologischen Raum der Freiheit und letztlich in eine andere Art politisch aktiv zu sein.“ 229 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 144. 230 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140f. 231 Vgl. CRAC: Una proposta politica sui consultori, in: Effe 2 (1976), S. 29.

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Beschrieben die Attribute der autonomia232 und des separatismo233 also die Außenbeziehungen der Beratungsstelle, so war der Begriff der autogestione234 zentral für ihr Innenleben. Die Binnenstruktur des consultorio war durch den basisdemokratischen Anspruch des Kollektivs bestimmt: Es gab keine Vorsitzende oder Verantwortliche – alle Frauen des Kollektivs waren gleichberechtigt und alle Beschlüsse wurden in gemeinsamen Versammlungen gefällt.235 Auf die Delegation von Entscheidungen an Repräsentantinnen und von Aufgaben an Spezialistinnen wurde soweit möglich verzichtet.236 Der Antiautoritarismus im Kollektiv von San Lorenzo ging allerdings weit über die äußere Unabhängigkeit und die Schaffung basisdemokratischer Entscheidungsstrukturen im Inneren hinaus: Auch Wissen und Fähigkeiten sollten möglichst gleichberechtigt verteilt werden, um eine kollektive Selbstermächtigung zu ermöglichen. „[…] [Q]uesta era la politica del centro: che tutti fossero messi a corrente di tutto, e chi più sapeva più aveva responsabilità per permettere anche agli altri di accedere a quella conoscenza, senza atteggiamenti di tipo direttivo.“237 Dabei galt das emanzipatorische Ideal der autogestione nicht nur für das Binnenleben des Kollektivs, sondern auch für das Verhältnis zu jenen Frauen, die die Beratungsstelle aufsuchten: Das hierarchische Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten, das die patriarchale Medizin in den Augen der Feministinnen charakterisierte, sollte innerhalb der Beratungsstelle durch die umfassende Sozialisierung des Wissens gebrochen werden.238 Ausgehend von ihren Umfragen unter den Hausfrauen in San Lorenzo versuchten die Aktivistinnen des consultorio ein möglichst gutes Verhältnis zur Bevölkerung des Stadtteils aufzubauen, was auch weitgehend gelang: „San Lorenzo era un quartiere accogliente perché era considerato un quartiere di sinistra. […] [N]on abbiamo avuto mai disturbi, non siamo state mai né toccate né derise. […] [C]’era conoscenza della nostra attività e accettazione da parte del quartiere, a cominciare dal bar di fronte, dove c’erano gli anziani di San Lorenzo, oppure alla pizzeria dove ci

232 ‚Unabhängigkeit‘. 233 ‚Geschlechterseparatismus‘ – Umstand, dass sich Frauen in reinen Frauengruppen organisieren. 234 Etwa: ‚Selbstverwaltung‘ oder ‚Selbstorganisation‘. 235 Vgl. „San Lorenzo, come funziona un consultorio delle donne“, in: Fraire/Spagnoletti/ Virdis (1978), S. 35-37, hier: S. 35; Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 139. 236 Vgl. Tozzi (1984), S. 140. 237 Interview mit Serena Donati, in: Caporaso (2005), S. 152 – 157, hier S. 154. „[…] [D]as war die Politik des Zentrums: Dass alle über alles auf dem Laufenden waren und dass die, die mehr wussten verantwortlich dafür waren, dass es auch den anderen möglich war, an dieses Wissen zu gelangen, ohne Verhaltenweisen im Stile einer Führungsperson.“ 238 Vgl. San Lorenzo, come funziona un consultorio delle donne, in: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 35 – 37, hier: S. 36f.; Tozzi (1984), S. 135; Silvia Tozzi (1987): Moleculare, creativa, materiale: la vicenda dei gruppi per la salute, in: Memoria. Rivista di storia delle donne 19/20, S. 153 – 179, hier: S. 164ff.; Interview mit Serena Donati, in: Caporaso (2005), S. 154.

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accoglievano bene.“239 Diese gute Integration des consultorio in dem ‚roten‘ Stadtteil wurde auch durch die Tatsache unterstrichen, dass das PCI-dominierte Stadtteilkomitee den feministischen Aktivistinnen die Aufnahme in die Räume des Stadtteilkomitees anbot, was diese jedoch ablehnten, um ihre Autonomie nicht zu kompromittieren.240 Dennoch gab es einige Aktivitäten des consultorio, die mit Misstrauen beäugt wurden: „[…] [P]ortavamo argomenti che loro non tutti capivano […]. Per esempio quando loro sentivano parlare di self-help, di autovisita […] era considerata una cosa abbastanza (strana, M.H.): Non siete medici ma che cosa state a fare? State a fare i giochi erotici? Non era che potevano capire tutto veramente […]. Quindi c’era in parte non una comprensione totale però una grande tolleranza […].“241 Trotz der problemlosen Präsenz der Beratungsstelle im Stadtteil blieb die soziale Differenz zwischen den feministischen Aktivistinnen und der Bevölkerung San Lorenzos unübersehbar. Der Großteil der Feministinnen des Kollektivs hatte einen bürgerlichen Hintergrund und verfügte über einen Hochschulabschluss. Für viele dieser Frauen stand die Aktivität im consultorio am Ende eines langen Prozesses der persönlichen Emanzipation. Die Mehrheit der Frauen aus dem Stadtteil selbst verfügte hingegen über einen proletarischen Hintergrund und weitaus geringeres kulturelles Kapital.242 Diese sozialen Differenzen machten eine Partizipation der Frauen aus San Lorenzo im consultorio ausgesprochen schwierig. So kam es, dass nur eine einzige Aktivistin des Kollektivs aus dem Stadtteil selbst stammte.243 Gewisse Spannungen blieben so nicht aus: „Spesso c’era l’accusa di essere élitarie rispetto alla realtà di

239 Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 138f. „San Lorenzo war ein einladendes Viertel, denn es war als linkes Viertel bekannt. […] (E)s gab nie Störungen, wir wurden weder bedrängt noch ausgelacht. […] (M)an wusste von unserer Aktivität und diese wurde von den Bewohnern des Stadtteils akzeptiert, angefangen bei der Bar gegenüber, wo die alten Leute von San Lorenzo waren, oder der Pizzeria, wo man uns freundlich empfing.“ 240 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 28:20-28:50, Ines Valanzuolo: „Tanto è vero che in certi momenti in cui noi avevamo problemi per la sede c’era un comitato di quartiere che aveva occupato degli edifici che erano vicini alle mura che c’hanno invitato di andare lì con loro. [...]. Però se come lì erano prevalentemente del PCI abbiamo rifiutato. [...] Per l’autonomia del gruppo [...].“ „Es war ja so, dass uns in einer Phase, als wir Probleme wegen der Räume hatten, das Stadtteilkomitee, das Gebäude in der Nähe der Stadtmauer besetzt hatte, einlud mit ihnen dorthin zu gehen. […] Aber, da das dort vor allem vom PCI geprägt war, lehnten wir ab. […] Wegen der Unabhängigkeit der Gruppe […].“ 241 Interview mit Ines Valanzuolo vom 13.11.2008, 17:25-18:05. „[…] (W)ir beschäftigten uns mit Themen, die nicht alle verstanden […]. Wenn sie zum Beispiel von self-help, von autovisita reden hörten […], wurde das als eine ziemlich (seltsame, M.H.) Sache angesehen: Ihr seid keine Ärzte, also was tut ihr da? Macht ihr da erotische Spielchen? Es war nicht so, dass sie wirklich alles verstehen konnten […]. Es gab also zum Teil kein völliges Verständnis, aber eine große Toleranz […].“ 242 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 139. 243 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 26:55-27:05, Ines Valanzuolo: „(Quante di voi erano del quartiere stesso?) Maria soltanto.“

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San Lorenzo. Erano però centinaia le donne che passavano al consultorio.“244 Neben den sozialen Unterschieden zwischen den Aktivistinnen des consultorio und der Bevölkerungsmehrheit im Stadtteil führte auch der Separatismus der Feministinnen zu Problemen.245 Außerdem brachte es die Arbeit des consultorio mit sich, dass der Bezug zum Stadtteil bald schon weniger eng wurde: Die wichtigste feministische Beratungsstelle in Rom wurde bald zum Referenzpunkt für Frauen in ganz Rom und weit darüber hinaus.246

2.4.3 Die Alltagspraxis der Beratungsstelle Der Alltag in der Beratungsstelle von San Lorenzo war strukturiert durch die täglichen Öffnungszeiten von 16.00 bis 19.30 Uhr und die festen Versammlungen zu spezifischen Themen, die an fast jedem Wochentag in der Via dei Sabelli 100 stattfanden:247 „Il lunedì c’era l’incontro con i vari collettivi di Roma che si occupavano del corpo e della salute […]. Il martedì era la giornata più importante […] perché c’era la riunione di collettivo nella quale si affrontavano tutti i problemi legati alla vita di gruppo e personale o anche alla politica […]. Un altro giorno della settimana era dedicato ad una riunione di lavoro sulla contraccezione […], questioni che potevano sembrare ‚tecniche‘ […]. l’altra giornata importante era il venerdì, quando organizzavamo i viaggi a Londra.“248 Hinzu kamen außerordentliche Treffen mit Spezialistinnen, die ihr medizinisches oder sexualwissenschaftliches Fachwissen an die Aktivistinnen des Kollektivs weitergaben.249

244 Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 139. „Oft kam der Vorwurf, wir seien elitär im Hinblick auf die Realität San Lorenzos. Aber es kamen Hunderte von Frauen in die Beratungsstelle.“ 245 Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 147 – 151, hier: S. 150. 246 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 26:25-26:40, Ines Valanzuolo: „Non c’era forse un grande legame con il quartiere. Era un legame [...] cittadino-nazionale.“ „Es bestand vielleicht keine enge Verbindung mit dem Stadtteil. Es waren [eher] […] Bindungen auf städtischer und auf nationaler Ebene.“ 247 Ab September 1975 waren die Räume an jedem Wochentag geöffnet, vgl. Flugblatt des Centro delle Donne di S. Lorenzo (1975), in: CST, Fondo CRAC, 1975 III, 145. Zu den Öffnungszeiten 1978, vgl. Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 53. 248 Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140. „Montags war das Treffen mit den verschiedenen Kollektiven aus Rom, die sich mit Fragen des Körpers und der Gesundheit beschäftigten […]. Dienstags war der wichtigste Tag […], denn da war das Treffen des Kollektivs, in dem wir uns mit allen Problemen im Hinblick auf das Zusammenleben in der Gruppe, allen privaten und auch politischen Probleme auseinandersetzten […]. Ein anderer Wochentag war einem Arbeitstreffen im Hinblick auf Verhütung gewidmet […], also Fragen die ‚technisch‘ erscheinen konnten […]. Der andere wichtige Wochentag war der Freitag, an dem wir die Reisen nach London organisierten.“ 249 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140.

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Die Aktivitäten des Collettivo San Lorenzo bewegten sich auf zwei verschiedenen Ebenen: Auf der einen Seite legten die Aktivistinnen weiterhin großen Wert auf die Praxis der autocoscienza innerhalb des Kollektivs. Auf der anderen Seite standen jene Aktivitäten, mit denen die Feministinnen die Frauen in San Lorenzo und den angrenzenden Stadtteilen erreichen wollten. Hierzu zählten Beratungsgespräche in Sachen Verhütung, vor allem aber eine Reihe direkter körperpolitischer Hilfsangebote: Die Anmessung von Diaphragmas, die Vermittlung der Praxis des self-help und der Kenntnisse, die nötig waren, um den eigenen Busen regelmäßig auf etwaige Veränderungen abtasten zu können, die gynäkologischen Untersuchungen von Seiten einer Ärztin, die mit der Beratungsstellen zusammenarbeitete, die Organisation von Abtreibungen in London und falls eine Londonreise nicht in Frage kam, die Vornahme einer klandestinen Abtreibung in Rom.250 Die Praxis des self-help bildete ein wichtiges Bindeglied zwischen den beiden Ebenen, das die Verbindung von Momenten direkter körperpolitischer Hilfe mit Momenten der Selbsterfahrung ermöglichte und deshalb eine Schlüsselrolle in den Überlegungen des CRAC hinsichtlich der Beratungsstellen einnahm: „Partendo dalla contraccezione e dall’aborto, nella pratica reale del self-help […] si sviluppano tra di noi momenti di autocoscienza allargata, nel recupero emotivo e insieme politico di noi stesse a soggetti antagonisti delle strutture di potere che ci opprimono.“251 Eine self-help-Sitzung bestand aus zweierlei Elementen: zum einen aus der so genannten autovisita, also der praktischen Selbstuntersuchung des eigenen Genitalbereichs mithilfe eines Spekulums, eines Spiegels und einer Lampe sowie der Unterstützung anderer Frauen und zum anderen aus der gemeinsamen Reflexion über die eigene Sexualität. Stefania Raspini, eine Aktivistin der Beratungsstelle begriff die Praxis des self-help als Schlüsselerfahrung: „[…] (I)l self-help (è) una pratica che è stata davvero rivoluzionaria e straordinaria, in cui c’è la scoperta e l’identificazione di sé stesse e della propria identità sessuale, delle differenze, della solidarietà […].“252 Serena Donati beschrieb den Zugang zum self-help als junge Aktivistin im consultorio von San Lorenzo folgendermaßen: „A San Lorenzo facevamo il selfhelp, l’autovisita, e l’abbiamo fatto prima su di noi come gruppo; eravamo divise in piccoli gruppi, e l’idea era controllare lo stato di benessere del proprio apparato genitale; questo toccava non solo la sfera del saper fare tecnicamente delle operazioni, ma faceva emergere la sfera del vissuto, dell’emozione. Per alcune persone era un momento denso di emozioni, e questo ha riguardato sia le donne che venivano semplicemente al consultorio, sia le donne che facevano parte dei gruppi.

250 Vgl. Tozzi (1984), S. 139f. 251 CRAC: una proposta politica sui consultori, in: Effe 2 (1976), S. 29. „Ausgehend von der Verhütung und der Abtreibung entstehen in der realen Praxis des self-help Momente der erweiterten autocoscienza, in denen wir uns selbst emotional und politisch als Subjekte wiedererlangen, die den Machtstrukturen, die uns unterdrücken, antagonistisch gegenüberstehen.“ 252 Interview mit Stefania Raspini, in: Caporaso (2005), S. 161 – 164, hier: S. 163. „[…] (S)elf-help (ist) eine Praxis, die wirklich revolutionär und außergewöhnlich war, die die Entdeckung und Identifizierung seiner selbst, der eigenen sexuellen Identität, der Differenzen, der Solidarität mit sich brachte […].“

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Emergevano le paure, i problemi passati, oppure la sorpresa, e c’era lo spazio per momenti di discussione e di confronto. Era sempre un alternarsi di parlare ed agire.“253 Für Donati stand auch im Rahmen des self-help die kommunikative Praxis im Vordergrund: „l’autovisita era un aspetto del riappropriarsi della salute, relativamente marginale, era uno strumento. La reazione più immediata era lo stupore di poter accedere a parti del proprio corpo delegate e ignorate nel loro aspetto morfologico. […] La parte più grande del lavoro era riflettere sulla possibilità di avere una voce competente sulla sfera della sessualità e della salute riproduttiva, che per me passava più nella parte della comunicazione. Specialmente per le più adulte era qualcosa di grande.“254 Dennoch sollte die Bedeutung der physiologischen Komponente des self-help keinesfalls unterschätzt werden: Gerade die praktische Wiederaneignung eigener – in Donatis Worten ‚delegierter‘ – Körperteile im Kreise anderer Frauen war für viele Beteiligte wohl eine schwierige, weil höchst intime Erfahrung, die allerdings, einmal gemacht, auch ein neues Gefühl körperlicher Souveränität und eine intensivere emotionale Bindung mit den anderen beteiligten Frauen schuf, was wiederum die Bereitschaft förderte, über eigenen Gefühle zu sprechen.255 In Patrizia Mancinis Erinnerung spielten dementsprechend gerade die konkreten körperlichen Praktiken eine zentrale Rolle im consultorio von San Lorenzo: „[…] [L]a cosa che mi aveva colpito particolarmente era la conoscenza del corpo, iniziare a vedere che potevo farmi la visita e farla alle altre, maneggiare strumenti che non avevo mai visto, parlare del diaframma e vederlo: si apriva tutto un mondo incredibile, era anche il mondo del mio corpo, potevo non avere paura ma gestirlo.“256 Auch für Ines Valanzuolo bilde-

253 Interview mit Serena Donati, in: Caporaso (2005), S. 155f. „In San Lorenzo machten wir self-help, autovisita und wir haben es zuerst mit uns selbst als Gruppe gemacht. Wir waren in kleine Gruppen aufgeteilt und die Idee war es, das Wohlbefinden des eigenen Geschlechtsapparats zu kontrollieren. Das betraf nicht nur die Sphäre der technischen Umsetzung, sondern brachte die Sphäre des Erlebten, der Emotionen zu Tage. Für einige Personen war es ein höchst emotionaler Moment – und das betraf sowohl die Frauen, die einfach in die Beratungsstelle kamen, als auch die Frauen, die in den Gruppen aktiv waren. Es kamen die Ängste heraus, die Probleme, die man durchgemacht hatte oder auch die Überraschung und es war Raum für Momente der Diskussion und des Vergleichs. Es war immer ein Wechsel von Sprechen und Handeln.“ 254 Interview mit Serena Donati, in: Caporaso (2005), S. 156. „Die autovisita war ein relativ marginaler Aspekt der Wiederaneignung der Gesundheit – es war ein Instrument. Die unmittelbarste Reaktion war die Verblüffung darüber, dass man sich Teilen des eigenen Körpers nähern konnte, die in ihrem morphologischen Erscheinungsbild bislang (an andere) delegiert und ignoriert worden waren. […] Der größte Teil der Arbeit bestand darin, darüber zu reflektieren, wie man in der Sphäre der Sexualität und der Reproduktionsmedizin eine kompetente Stimme erlangen könnte, was sich für mich mehr im Teil der Kommunikation vollzog. Vor allem für die Älteren (unter uns) war es etwas Wichtiges.“ 255 Vgl. z.B. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 137f. 256 Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 147 – 151, hier: S. 147. „[…] (W)as mich besonders beeindruckt hat, war die Kenntnis des Körpers, anzufangen zu sehen, dass ich mich untersuchen konnte und dass ich die anderen untersuchen konnte, In-

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ten die körperpolitischen Praktiken den radikalsten Aspekt des Aktivismus im consultorio: „Non era solo […] riflessione teorica […]. Lì c’era una pratica che riguardava il corpo che veramente era molto radicale. […] Per una persona come me che aveva già due bambini ma che quasi erano un miracolo; per me per la prima volta lì c’erano delle persone che c’aiutavano a conoscere il corpo […] attraverso l’autovisita. E per me questo è stato veramente qualcosa di molto radicale […] che cambia veramente tutto.“257 Hinsichtlich des self-help erhielt der Begriff der autogestione so eine neue Bedeutung: Es ging nicht mehr nur um die basisdemokratische Selbstorganisation und den gleichberechtigten Austausch von Wissen im Rahmen des eigenen feministischen Projekts, sondern um die Aneignung des Wissens und der Techniken, die die Selbstbestimmung des eigenen Körpers ermöglichten: „‚Autogestione per noi è anche conoscenza del proprio corpo […].‘“258 Jeden Freitag um 17 Uhr fand in der Beratungsstelle in San Lorenzo ein spezielles Treffen für Frauen statt, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten. Dabei wurden Reisen nach London organisiert, wo Abtreibungen legal waren.259 Ziel der Reisen war es, den betroffenen Frauen eine sichere und möglichst kostengünstige Möglichkeit zur Abtreibung zu eröffnen, um zu verhindern, dass sie sich dem Eingriff in Italien unterzogen, wo er verboten war und entweder von Frauen ohne medizinische Ausbildung mit häufig brachialen und gefährlichen Methoden vorgenommen wurde oder aber von Gynäkologen, die aufgrund der Illegalität des Eingriffs weit überhöhte Preise verlangten und deren Dienste somit nur für Frauen mit finanziellen Ressourcen erschwinglich waren. So war es weitaus billiger nach London zu fliegen, um den Eingriff dort in einer professionellen Klinik vornehmen zu lassen, als dies illegal in Italien zu tun.260 Zudem waren die Abtreibungsmethoden der italienischen Gynäkologen zumeist veraltet: Während in Italien Abtreibungen immer noch mithilfe der Ausschabung vorgenommen wurden, wurde in London die schonendere Absaugtechnik benutzt. Die Frauen des consultorio von San Lorenzo hatten sich nach der Besichtigung mehrerer Abtreibungskliniken in London für die Parkview Clinic entschieden. Bald

strumente benutzen, die ich noch nie gesehen hatte, vom Diaphragma sprechen und es sehen: Es öffnete sich (mir) eine ganze unglaubliche Welt, es war auch die Welt meines Körpers, ich musste keine Angst mehr haben, sondern konnte die Dinge selbst in die Hand nehmen.“ 257 Interview mit Ines Valanzuolo vom 13.11.2008, 13:20-14:20. „Das war nicht nur […] theoretische Reflexion […]. Dort gab es eine wirklich sehr radikale Praxis, die den Körper betraf. […] Für eine Person wie mich, die schon zwei Kinder hatte, die mir aber fast als Wunder erschienen, war es dort das erste Mal, dass da Personen waren, die uns halfen, den Körper […] durch die autovisita kennen zu lernen. Für mich war das wirklich etwas sehr Radikales […], das alles veränderte.“ 258 Zitiert nach: „San Lorenzo, come funziona un consultorio delle donne“, in: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 35 – 37, hier: S. 36. „Selbstverwaltung heißt für uns auch Kenntnis des eigenen Körpers […].“ 259 Vgl. Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 53; Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140. 260 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140.

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waren feste Kontakte etabliert und Preisobergrenzen für die Eingriffe vereinbart. Außerdem wurden den römischen Aktivistinnen Kontrollen der klinikinternen Abläufe zugestanden, so dass sie sich regelmäßig vom medizinischen Standard der Eingriffe überzeugen konnten.261 So wurde der Anspruch der Selbstbestimmung und – Kontrolle selbst hinsichtlich der im Ausland vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche nicht gänzlich aufgegeben. Die verschiedenen feministischen Kollektive in Rom, die Abtreibungen im Ausland organisierten, hatten sich im CRAC zusammengeschlossen und koordinierten ihre Reisen.262 So gab es von 1975 bis zur Verabschiedung der legge 194263 im Mai 1978 allwöchentlich eine von den römischen selbst verwalteten Beratungsstellen organisierte Reisegruppe nach London, die jeweils von einer Aktivistin des consultorio von San Lorenzo begleitet wurde.264 Die Londonaufenthalte dauerten gewöhnlich zwei bis drei Tage. Die Flüge und die Unterkunft für die anreisenden Frauen wurden ebenso organisiert wie der Klinikaufenthalt selbst.265 Das gut funktionierende Netzwerk der römischen Kollektive, dessen Zentrum das consultorio von San Lorenzo darstellte, war weit über die Hauptstadt hinaus bekannt. So kam es, dass auch zahlreiche Frauen aus anderen Städten, die eine Abtreibung im Ausland vornehmen lassen wollten, sich an die Beratungsstelle in San Lorenzo wandten.266 Besonderen Wert legten die Aktivistinnen des consultorio darauf, den Frauen vor Antritt ihrer Reise genau zu erklären, was geschehen würde: „La particolarità del consultorio in questa attività era quella di dire a tutte nel dettaglio quello che sarebbe successo; il fatto di sapere era importante. Dall’arrivo all’aeroporto al percorso per arrivare alla clinica […]. […] A seconda della settimana di gravidanza a cui era la donna le spiegavamo che intervento avrebbe avuto, facendo anche vedere gli strumenti che sarebbero stati usati per il tipo di intervento.“267 Allerdings war die Organisation einer Abtreibung ein ungleich ambivalenterer Akt als die Anleitung zu anderen körperpolitischen Praktiken wie dem self-help: „La

261 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140f. 262 Vgl. Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 49 und S. 53; Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140. 263 ‚Gesetz 194‘ – das Gesetz erlaubt (mit gewissen Einschränkungen) den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 90 Tage. 264 Vgl. Tozzi (1984), S. 133; Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 149. Später, als nach der Verabschiedung der legge 194 im Mai 1978, Abtreibungen bis zur 12. Woche legalisiert waren und deutlich weniger Frauen nach London aufbrachen, flog mindestens einmal im Monat eine der Aktivistinnen des consultorio nach London mit, um sich dort ein Bild von der aktuellen Situation zu machen, vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140f.; Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 149. 265 Vgl. Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 148. 266 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 140. 267 Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 148f. „Die Besonderheit der Beratungsstellen in Bezug auf diese Aktivität war die Tatsache, allen detailliert zu sagen, was geschehen würde. Das Wissen war wichtig. Von der Ankunft auf dem Flughafen bis zum Weg zur Klinik […]. […] Entsprechend der Schwangerschaftswoche, in der sich die Frau befand, erklärten wir ihr, welcher Eingriff bei ihr durchgeführt werden würde, und zeigten ihr auch die Instrumente, die dafür benutzt würden.“

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questione dell’aborto […] è il momento concreto di misurarsi sull’affermazione ‚io sono mia‘ e sulla possibilità di decidere concretamente sul proprio corpo. Ma fin da allora l’aborto era sempre sotto il segno di un dolore e di una sconfitta […]. Non c’era nessuna esaltazione nella necessità di organizzare i viaggi a Londra […] perché il risultato era sempre una grande sofferenza per le donne.“268 Zunächst versuchten die Aktivistinnen des consultorio jene Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch in London hinter sich gebracht hatten, zu motivieren, ihre Erfahrungen mit den Frauen zu teilen, die eine Abtreibung in London planten. Der Versuch der Aktivistinnen, auch den Schwangerschaftsabbruch selbst wie alle anderen körperpolitischen Praktiken zum Gegenstand diskursiver Reflexion und daraus resultierender Selbstermächtigung zu machen, war allerdings nur relativ selten erfolgreich: Häufig nahm der individuelle Schmerz bald überhand und die Frauen, die eine Abtreibung hinter sich hatten, zogen es vor, sich aus der Vorbereitung weiterer Reisen nach London zurückzuziehen.269 Die feministische Agenda der kollektiven Aufarbeitung scheiterte häufig am Trauma der Abtreibung: „La maggior parte delle donne voleva dimenticare questa esperienza, cancellava tutto […].“270 Für jene Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten, aber aufgrund ihrer Situation nicht in der Lage waren diese in London durchführen zu lassen, organisierten die Aktivistinnen des consultorio in San Lorenzo klandestine Abtreibungen in Rom. Grundlage dieser Praxis waren die engen Kontakte Simonetta Tosis zur französischen MLAC, die es einer ganzen Reihe von römischen Feministinnen ermöglicht hatten, die Durchführung von Abtreibungen innerhalb der ersten Schwangerschaftswochen mithilfe der modernen Absaugmethode zu erlernen. Die konkrete Durchführung von Abtreibungen war dabei nicht auf jene Frauen beschränkt, die Ärztinnen waren. Nach eingehender Ausbildung nahmen auch Frauen ohne medizinische Ausbildungen Abtreibungen vor.271 Eine der in Rom aktiven klandestinen Abtreibungsgruppen bestand aus Aktivistinnen des Kollektivs von San Lorenzo und agierte im Umfeld des dortigen consultorio.272 Die verdeckte Arbeit dieser Gruppen wurde innerhalb des CRAC als radikalste Zuspitzung der eigenen Politik begriffen.273 Dementsprechend sollte die Arbeit des nucleo clandestino274 vom gesamten Kollektiv von

268 Interview mit Stefania Raspini, in: Caporaso (2005), S. 162. „Die Frage der Abtreibung […] ist der konkrete Moment, um sich an der Behauptung ‚ich gehöre mir‘ und der Möglichkeit zu messen, konkret über den eigenen Körper zu bestimmen. Aber schon seit damals stand die Abtreibung unter dem Zeichen eines Schmerzes und einer Niederlage […]. Es gab keinerlei Begeisterung angesichts der Notwendigkeit, Reisen nach London zu organisieren […], denn das Resultat war immer großes Leiden für die Frauen.“ 269 Vgl. Interview mit Stefania Raspini, in: Caporaso (2005), S. 162. 270 Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 148. „Die Mehrheit der Frauen wollte diese Erfahrung vergessen und verdrängte alles […].“ 271 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 141f.; Tozzi (1984), S. 131. 272 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 141f.; Tozzi (1984), S. 132. 273 Vgl. CRAC: una proposta politica sui consultori, in: Effe 2 (1976), S. 29. 274 ‚Klandestiner Kern‘ – verdeckt arbeitende Abtreibungsgruppe.

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San Lorenzo reflektiert, diskutiert und getragen werden.275 Ines Valanzuolo beschrieb das Zustandekommen einer klandestinen Abtreibung folgendermaßen: „Veniva una donna da noi dicendoci che era alle prime settimane, senza soldi per andare a Londra, senza possibilità di andare via di casa per qualche giorno […].[…] Alla donna si parlava prima, spiegandola le varie fasi dell’intervento, non era lasciata mai sola, c’era un gruppo ad accompagnare tutto questo.“276 Dabei mussten die Aktivistinnen der klandestinen Abtreibungsgruppe mit viel Vorsicht agieren: „[L]’attrezzatura per l’intervento […] veniva spostata da una casa all’altra, poiché tenerla nella sede del collettivo avrebbe fornito l’occasione per arrestarci.“277 Außerdem wurde versucht, die Abtreibungen selbst an stets wechselnden Orten durchzuführen. Deshalb erbaten die an der Abtreibungsgruppe beteiligten Aktivistinnen von den betroffenen Frauen als einzige ‚Gegenleistung‘ für den Schwangerschaftsabbruch, die eigene Wohnung bei Bedarf für die Abtreibung einer anderen Frau zur Verfügung zu stellen.278 Doch obwohl die anderen Aktivistinnen des Kollektivs die Sinnhaftigkeit der Arbeit des nucleo clandestino anerkannten, wuchs bei vielen das Unbehagen über Praxis der klandestinen Abtreibungen, die die Beratungsstelle zu einem Ort des Schmerzes und der Trauer werden ließ: „Su questo tema c’erano confronti e anche scontri, perché anche il collettivo che era il punto di riferimento di tutte come quello di San Lorenzo viveva dinamiche legate al fatto che era comunque un luogo di accoglienza, in cui bisognava star bene; allora una cosa è il self-help […]; altra cosa è essere costrette a usare le proprie conoscenze per contenere le conseguenze di un ritardo nell’informazione e nella pratica contraccettiva in Italia.“279 So stand die Ar-

275 Vgl. Tozzi (1984), S. 140; Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 142. 276 Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 142. „Es kam eine Frau zu uns und sagte uns, dass sie in den ersten Schwangerschaftswochen war und kein Geld hatte, um nach London zu fahren und keine Möglichkeit, für ein paar Tage von zuhause wegzugehen […]. […] Zunächst sprachen wir mit der Frau und erklärten ihr alle Phasen der Intervention. Sie wurde nie alleine gelassen. Es gab eine Gruppe (von Frauen), die all das begleitete.“ 277 Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 142. „[D]ie Ausrüstung für den Eingriff […] wurde von einer Wohnung in nächste weitergereicht, denn sie im Lokal des Kollektivs zu behalten hätte zu unserer Verhaftung führen können.“ 278 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 01:55-02:20, Cristiana Fiorentini: „Non è entrato mai un soldo, ne si chiedeva. Non c’era neanche l’idea [...] che le donne dovessero contribuire se non nella disponibilità della casa che di volta a volta cambiava. Una persona che interrompeva dava la casa anche alle altre.“ „Wir haben nie Geld verdient und auch keines verlangt. Es gab nicht einmal die Vorstellung, dass die Frauen etwas beisteuern müssten, außer, dass sie ihre Wohnung zur Verfügung stellten, die von Fall zu Fall wechselte. Eine Frau die einen Abbruch vornehmen ließ, stellte ihre Wohnung auch den anderen zur Verfügung.“ 279 Interview mit Stefania Raspini, in: Caporaso (2005), S. 162f. „Zu diesem Thema gab es unterschiedliche Auffassungen und auch Auseinandersetzungen, denn auch ein Kollektiv, wie das von San Lorenzo, das ein Bezugspunkt für alle war, war Dynamiken unterworfen, die mit der Tatsache zusammenhingen, dass es ein Anlaufpunkt war, in dem man sich wohl fühlen musste. Daher war self-help eine Sache […]. Eine andere Sache war es, gezwungen

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beit der klandestinen Abtreibungsgruppe bald im Zentrum der Konflikte innerhalb des Kollektivs von San Lorenzo: 1977 sah sich der nucleo clandestino genötigt, das eigene Handeln in einem internen Papier als gewaltlose, hierarchiefreie und unkommerzielle Praxis zu verteidigen, die sich an den konkreten Bedürfnissen der Frauen orientiere und somit als Modell einer alternativen Medizin unter Frauen gelten könne.280 Dennoch dürfte die psychische Belastung für die Aktivistinnen der Abtreibungsgruppe besonders hoch gewesen sein: Das Damoklesschwert der Strafverfolgung erschwerte nicht nur die praktische Durchführung der Abtreibungen, sondern verstärkte zweifellos noch jenen Verdrängungseffekt bei den Betroffenen, den Patrizia Mancini für die Schwangerschaftsabbrüche im Ausland beschrieben hat. Die ohnehin traumatische Erfahrung einer Abtreibung verbunden mit der drohenden Gefängnisstrafe führte wohl dazu, dass es kaum zu einer ausführlichen Reflexion oder gar zu kontinuierlichen Diskussionsprozessen zwischen Aktivistinnen und Betroffenen kommen konnte. Damit aber war der Anspruch der Feministinnen von San Lorenzo, keinen Aktivismus für Frauen sondern mit den Frauen zu betreiben genau in jenem Bereich zum Scheitern verurteilt, wo seine Verwirklichung am nötigsten gewesen wäre.281

2.5 Perspektiven und Probleme der Beratungsstelle Schon bald nach der Gründung des consultorio von San Lorenzo zeichneten sich einige Probleme ab, die sich in den nächsten Jahren stetig zuspitzen und die Existenz des Projekts zunehmend erschweren sollten. Dabei lassen sich dreierlei Problemlagen unterscheiden: Zum einen die Spannungen innerhalb des Kollektivs selbst, in dem ein Teil der Frauen den praktischen, nach außen gerichteten Aktivitäten den Vorrang einräumte, während andere mehr Wert auf die gemeinsame Reflexion legten. Gerade an der Aktivität der klandestinen Abtreibungsgruppe entzündeten sich besonders intensive Konflikte dieser beiden Flügel.282 Dabei spiegelten diese internen Auseinandersetzungen nur die Brüche, die auch die feministische Bewegung als Ganze durchzogen. Teile der Bewegung übten harsche Kritik an der Abtreibungspraxis der klandestinen Gruppen, da sie diese als Befriedungsstrategie auf Kosten der Frau werteten: „[…] (C)i lascia profondamente perplesse […] l’obiettivo dell’autogestione dell’aborto. In questo modo, quella che è la conseguenza più violenta e drammatica della contraddizione tra la sessualità femminile e maschile, viene ricomposta, come sempre, tra donne. Si riproduce qui necessariamente tutto il sadismo insito in questa contraddizione, impedendole di esplodere radicalmente, ma

zu sein, die eigenen Kenntnisse zu nutzen, um die Folgen des Umstands einzudämmen, dass in Italien, die Information und Praxis der Verhütung verspätet waren.“ 280 Vgl. Tozzi (1984), S. 140. 281 Zum Anspruch von Aktivistinnen wie Simonetta Tosi, vgl. Tozzi (1984), S. 140. 282 Vgl. Tozzi (1984), S. 140; Tozzi (1989), S. 172.

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anzi incanalandola di nuovo nell’eterno destino di sofferenza in un mondo tutto femminile.“283 Einen zweiten Problemkomplex bildete das Verhältnis der feministischen Bewegungsakteure zu den Institutionen. Während der radikale Teil der Bewegung jede Zusammenarbeit mit staatlichen Instanzen ablehnte, sahen sich jene Feministinnen, die selbst verwaltete consultori betrieben, ab 1975/76 vor schwierige Entscheidungen gestellt: Wollte man auf die Gestaltung der öffentlichen Beratungsstellen Einfluss nehmen, so musste man sich in einen Dialog mit den zuständigen Institutionen begeben. Anderenfalls drohten die eigenen Projekte angesichts der öffentlichen ‚Konkurrenz‘ mittelfristig irrelevant zu werden. Der römische CRAC – und damit auch das consultorio von San Lorenzo – beschloss seinen Einfluss geltend zu machen und stellte einige weit reichende Forderung für die Gestaltung der öffentlichen Beratungsstellen. Im Zuge dieser Annäherung forderten die selbst verwalteten feministischen Beratungsstellen in Rom ihre zukünftige Finanzierung aus öffentlichen Geldern.284 Dies brachte dem CRAC harte Kritik von jenem Teil der Bewegung ein, der eine Zusammenarbeit mit den Institutionen ablehnte.285 Bald war außerdem absehbar, dass die Forderungen des CRAC bei der Schaffung der öffentlichen Beratungsstellen unberücksichtigt bleiben würden: Die öffentlichen Beratungsstellen wurden zu weitgehend traditionellen Instanzen der Familienplanung. Angesichts dieser Entwicklung bestimmten die Aktivistinnen des consultorio von San Lorenzo die autogestione schließlich als einzig gangbaren Weg. Dennoch versuchten sie zugleich mit ihren Kenntnissen und Inhalten in die öffentlichen Beratungsstellen zu intervenieren, um den Kontakt zur wachsenden Anzahl jener Frauen nicht zu verlieren, die diese frequentierte.286 Während interne Konflikte die selbst verwalteten feministischen consultori schwächten und ihnen zugleich die Einverleibung und Reinterpretation der feministischen Anliegen durch die öffentlichen Beratungsstellen zunehmend das Wasser abgrub, kam eine dritte Entwicklung hinzu, die für die consultori problematisch war: Das Augenmerk der feministischen Bewegung verlagerte sich zunehmend auf andere Felder.287 Ab 1976 stand die Abtreibungsfrage nicht mehr unangefochten im Zentrum

283 A proposito della piattaforma del CRAC sui consultori, in: Sottosopra vom März 1976, S. 68ff., in: Percovich (2005), S. 255ff. „[…] (W)ir sind ausgesprochen perplex, angesichts […] des Zieles einer Selbstverwaltung der Abtreibung. Auf diese Weise wird die gewalttätigste und dramatischste Folge des Widerspruchs zwischen weiblicher und männlicher Sexualität einmal mehr unter Frauen bereinigt. Hier reproduziert sich notwendiger Weise der ganze Sadismus, der diesem Widerspruch innewohnt, da verhindert wird, dass dieser radikal explodiert und er stattdessen von neuem in das ewige Schicksal des Leidens einer ausschließlich weiblichen Welt kanalisiert wird.“ 284 Vgl. CRAC: Il consultorio, luogo di incontro delle donne, in: Quotidiano dei Lavoratori vom 4.2.1976, abgedruckt in: Percovich (2005), S. 252ff. 285 Vgl. die Kritik einiger Mailänder Feministinnen: A proposito della piattaforma del CRAC sui consultori, in: Sottosopra vom März 1976, S. 68ff., abgedruckt in: Percovich (2005), S. 255ff.; Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 143. 286 Vgl. Tozzi (1984), S. 134ff.; Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 143. 287 Vgl. Tozzi (1984), S. 133 und S. 140.

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der feministischen Agitation. Wichtige feministische Gruppen wie im römischen Fall der MFR zogen sich Anfang 1976 aus der konkreten Unterstützungsarbeit für Frauen zurück, die abtreiben wollten, da sie die kaum vermeidbare Nähe zu den Institutionen und die Gefahr fürchteten, die feministische Grundidee der Politik in der ersten Person einer eher traditionellen Politikform der gesellschaftlichen Intervention zu opfern.288 Außerdem löste der Kampf gegen sexuelle Gewalt angesichts einer Reihe erschütternder Übergriffe in Rom die Kampagne für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs als feministisches Hauptthema zunehmend ab.289 Damit aber ging denjenigen Aktivistinnen, die im Rahmen der consultori eine langfristige Arbeit an den mit der Abtreibungsfrage verbundenen Themen entwickelt hatten, jenes breite solidarische Umfeld zumindest zum Teil verloren, welches die feministische Bewegung zuvor trotz aller Differenzen gebildet hatte.290 Eingerahmt wurden diese Prozesse der Umorientierung vom langsamen Ausklingen des italienischen Bewegungszyklus ab 1976. Auch der italienische Feminismus hatte mit den großen Mobilisierungen der Jahre 1975 und 1976 seinen Klimax erreicht und trat nun in einen Phase des langsamen Abschwungs ein.291

3 DER KAMPF UM DAS ABTREIBUNGSRECHT AN DER POLIKLINIK 3.1 Die Verabschiedung des Abtreibungsgesetzes Als im Frühjahr 1978 die Verabschiedung des neuen Gesetzes zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs näher rückte, war das Augenmerk der italienischen Öffentlichkeit auf gänzlich andere Fragen gerichtet: Am 16. März 1978 hatten die Brigate Rosse (BR) den DC-Vorsitzende Aldo Moro entführt und dabei alle fünf Mitglieder seiner Eskorte erschossen.292 55 Tage lang hielt die Entführung Aldo Moros die italienische Gesellschaft durch die ununterbrochene mediale Berichterstattung in Atem.293 Rom befand sich in einem polizeilichen Ausnahmezustand, der die Spielräume der ohnehin geschwächten sozialen Bewegungen weiter einschränkte. Bei den Bewegungsaktivisten herrschte ein Gefühl der politischen Enteignung vor – man war nicht mehr Akteur sondern ohnmächtiger Beobachter eines Kampfes zwischen den

288 Vgl. Tozzi (1987), S. 167ff. 289 Vgl. Tozzi (1984), S. 134ff. und 138f.; Vicky Franzinetti (1987): Il senso dell’autogestione, in: Memoria. Rivista di storia delle donne 19/20, S. 181 – 186, hier: S. 184f. Als Phase des Übergangs kann der Zeitraum zwischen den großen Abtreibungsdemonstrationen am 6.12.1975 und am 3.4.1976 einerseits und den großen Demonstrationen gegen sexuelle Gewalt am 27.11.1976 und am 31.3.1977 andererseits bestimmt werden. 290 Vgl. Tozzi (1987), S. 166f. 291 Vgl. Tozzi (1987), S. 154 und 170ff. 292 Vgl. Silvio Lanaro (1992): Storia dell’Italia repubblicana. Dalla fine della guerra agli anni novanta. Venedig, S. 434ff. 293 Vgl. Brunello Mantelli/Marco Revelli (1979): Operai senza politica. Rom, S. 171f.

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BR und dem Staat.294 Am 9. Mai 1978 wurde Moro von seinen Entführern ermordet, als endgültig klar geworden war, dass sich innerhalb des politischen Systems die „linea della ‚fermezza‘“295 durchgesetzt hatte und somit kein Gefangenenaustausch zu Stande kommen würde. Als die legge 194 schließlich am 5. Juni 1978, knapp ein Monat nach dem Tod Aldo Moros, in Kraft trat, rückte die Frage des Schwangerschaftsabbruchs wieder stärker ins Zentrum der öffentlichen Debatte.296 Das Gesetz sah vor, dass eine Frau zukünftig in den ersten drei Monaten einen Schwangerschaftsabbruch in öffentlichen Krankenhäusern vornehmen lassen konnte. Zunächst musste sie sich bei einem Arzt, in einer öffentlichen Beratungsstelle oder in einem Krankenhaus einer Untersuchung unterziehen, um zu klären, in welchem Stadium der Schwangerschaft sie sich befand. Anschließend erhielt die Frau ein Zertifikat, mit dem sie sich eine Woche später in einem öffentlichen Krankenhaus zur Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs anmelden konnte.297 Nun, da das zähe parlamentarische Prozedere abgeschlossen war und die Umsetzung der neuen juristischen Bestimmungen ins Haus stand, boten sich auch wieder konkrete Interventionsmöglichkeiten für jene Teile der feministischen Bewegung, die in den letzten Jahren trotz aller Kritik auch aus der eigenen Bewegung am Kampf für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs festgehalten hatten. Jene Teile der Frauenbewegung, die in den letzten Jahren klandestine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt hatten, reagierten auf die Verabschiedung des Gesetzes, indem sie ihre klandestine Praxis nun beendeten. Statt weiterhin selbst Abtreibungen vorzunehmen stand für die feministischen Aktivistinnen jetzt der Versuch im Mittelpunkt, die Umsetzung des Gesetzes zu kontrollieren.298 Damit positionierten sich diese Teile der feministischen Bewegung ein weiteres Mal im politischen Abseits, denn die Mehrheit der Feministinnen sah das Gesetz ausgesprochen kritisch und wollte mit seiner Umsetzung nichts zu tun haben.299 Schon im Moment des Inkrafttretens waren mindestens zwei Aspekte erkennbar, die die Umsetzung der legge 194 erheblich erschweren würden: Zum einen wurde allen Ärzten das Recht eingeräumt, aus Gewissensgründen die Vornahme von Abtreibungen zu verweigern, zum anderen waren die ohnehin oft heillos überfüllten römischen Krankenhäuser in keiner Weise auf den zu erwartenden Ansturm von Frauen vorbereitet, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten.

294 Vgl. Bernocchi (1979), S. 259ff. 295 Piero Craveri (1996): La Repubblica dal 1958 al 1992. Turin, S. 732. „Linie der ‚Standhaftigkeit‘“ – jene politische Linie, derzufolge keinerlei Verhandlungen mit den BR in Frage kamen. 296 Vgl. z.B. Paese Sera vom 2.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 297 Vgl. Il Messaggero vom 6.6.1978, S. 4. 298 Vgl. Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (Hg.)(1978): Roma Policlinico: un reparto occupato dalle donne, S. 11, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. Die Broschüre verfügt über keine Seitenzahlen. Die im Folgenden der Übersichtlichkeit halber angegebenen Seitenzahlen beruhen auf eigener Zählung, ausgehend von der ersten Druckseite der Broschüre. 299 Vgl. Lotta Continua vom 7.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 22. in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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Da den Ärzten eine einmonatige Bedenkfrist vom Moment des Inkrafttretens des Gesetzes an eingeräumt wurde, um ihre Teilnahme an Abtreibungen zu verweigern, konnte Anfang Juni 1978 noch niemand einschätzen, in welchen Krankenhäusern künftig wie viele Abtreibungen durchführbar sein würden.300 Einige Beobachter prognostizierten jedoch, dass die Verweigerungsrate gerade in Rom sehr hoch sein würde.301 Ein Hauptgrund dafür lag in der Tatsache, dass viele der betroffenen Ärzte neben ihrer Arbeit in öffentlichen Krankenhäusern einer Zusatzbeschäftigung in privaten Kliniken nachging, die meist kirchlichen Trägern gehörten, welche jede Beteiligung an Abtreibungen kategorisch ablehnten. Wer seine freiberuflichen Karrierechancen nicht beeinträchtigen wollte, musste also verweigern.302 Außerdem wollten viele der ohnehin überlasteten römischen Krankenhausärzte nicht mit neuen ‚Zusatzaufgaben‘ belastet werden und hofften diesen durch die Verweigerung zu entgehen. Zudem spielte sicherlich auch die Entscheidung fast aller gynäkologischen Chefärzte in den römischen Krankenhäusern, selbst jede Mitwirkung an Abtreibungen zu verweigern, eine nicht zu vernachlässigende Rolle – wer unter ihnen arbeitete und keinen Konflikt riskieren wollte, verweigerte für gewöhnlich.303 Für die in Sachen Abtreibung aktiven Feministinnen war klar, dass eine stille Obstruktion des neuen Gesetzes durch die massenhafte Verweigerung der Gynäkologen nicht akzeptiert werden durfte. Darüber hinaus wollten die Aktivistinnen aber auch dafür sorgen, dass Abtreibungen nicht zu einer ‚gewöhnlichen‘ Operation würden. Sie wollten die von ihnen in den letzten Jahren im Zuge der illegalen Abtreibungen entwickelten Versuche, die Schwangerschaftsabbrüche zum Ausgangspunkt kollektiver weiblicher Selbstermächtigung zu machen, nun – soweit dies möglich war – auf die neue Situation übertragen.

3.2 Die feministische Intervention an der Poliklinik 3.2.1 Anfänge der Intervention Am Tag des Inkrafttretens der legge 194 fanden sich in den Morgenstunden etwa 50 Frauen in der zweiten gynäkologischen Klinik der römischen Poliklinik ein. Der Großteil von ihnen war nicht gekommen, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen: Es handelte sich um Feministinnen des consultorio von San Lorenzo und des consultorio der Magliana sowie des Collettivo Appio Tuscolano, die sich eine Bild machen wollten, wie das neue Gesetz umgesetzt wurde. Ziel der Feminis-

300 Vgl. Il Messaggero vom 6.6.1978, S. 4. 301 Vgl. z.B. Paese Sera vom 2.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 302 Vgl. Il Messaggero vom 20.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. Zur Position der Kirche, vgl. Erklärung der italienischen Bischöfe vom 9. Juni 1978, in: Avvenire vom 10.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 13, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 303 Vgl. Paese Sera vom 2.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158.

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tinnen war es, denjenigen Frauen, die in die von ihnen betriebenen Beratungsstellen kamen und einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten, in Zukunft den Weg in ein Krankenhaus weisen zu können, in dem Abtreibungen in einer verantwortungsvollen Art und Weise vorgenommen wurden. Außerdem waren Aktivisten des Collettivo Policlinico anwesend, die als Teil der außerparlamentarischen Linken die Umsetzung des neuen Gesetzes vorantreiben wollten. Zu ihnen stießen jene Handvoll Gynäkologen der Poliklinik, die bereit waren Abtreibungen vorzunehmen.304 Rasch wurde deutlich, dass das Anliegen der externen Feministinnen und der Aktivistinnen des Collettivo Policlinico nicht nur darin bestand, Druck zu machen, damit die legge 194 umgesetzt würde, sondern auch darin, mitzubestimmen, wie die Abtreibungen praktiziert würden: Auch in den öffentlichen Krankenhäusern sollten jene Frauen, die abtreiben wollten, von anderen Frauen unterstützt werden, um das Trauma des Eingriffs zu überwinden und ein neues, bewussteres Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität zu entwickeln.305 Die Diskussion führte zu greifbaren Ergebnissen: Die Feministinnen boten denjenigen Gynäkologen der Poliklinik, die bereit waren Abtreibungen vorzunehmen, an, ihnen die Absaugmethode beizubringen, so dass die Eingriffe in Zukunft nicht mit der veralteten Ausschabmethode und Vollnarkose stattfinden müssten.306 Dabei wollten die Aktivistinnen aber keinesfalls dafür instrumentalisiert werden, die strukturellen Mängel in Roms größtem Krankenhaus zu kaschieren. Sie hatten guten Grund für ihre Bedenken: Jetzt schon war absehbar, dass es in der Poliklinik an Klinikbetten, an Pflegepersonal und an medizinischem Material fehlen würde, um die Abtreibungen durchzuführen.307 Die anwesenden Ärzte begrüßten die Präsenz der Feministinnen in der Klinik: „‚Voi […] ci potete aiutare perché noi non vogliamo usare […] le donne come cavie. Le più esperte tra voi devono dare una mano, insegnare ciò che sanno.‘“308 Damit war ein Dialog zwischen klinikinternen und klinikexternen Kräften angestoßen: Auf der eine Seite eine kleinen Gruppe von Ärzten, die bereit waren Abtreibungen vorzunehmen und das Collettivo Policlinico, das sich voll mit den Forderungen der Feministinnen solidarisierte; auf der anderen Seite die externen Feministinnen, die versuchten, ihre bislang außerinstitutionelle Präsenz in das größte römische Krankenhaus hinein auszudehnen, dabei aber strikt darauf bedacht waren, ihre Autonomie nicht aufzugeben.

304 Vgl. Il Manifesto vom 7.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 21, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 305 Vgl. Il Manifesto vom 7.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 21, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 306 Vgl. Il Manifesto vom 7.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 21, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 307 Vgl. Il Manifesto vom 7.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 21, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. L’Unità vom 7.6.1978, S. 8. 308 Zitiert nach: Il Manifesto vom 7.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 21, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Ihr […] könnt uns helfen, denn wir wollen […] die Frauen nicht als Versuchskaninchen benutzen. Die Erfahrensten von euch müssen mit anpacken und das weitergeben, was sie wissen.‘“

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In den folgenden Tagen verlagerten die Aktivistinnen des consultorio von San Lorenzo ihre Präsenz zunehmend in die Poliklinik.309 Sie versuchten gemeinsam mit dem Collettivo Policlinico jenen solidarischen Umgang mit den betroffenen Frauen, den sie seit Jahren in den selbst verwalteten Beratungsstellen und den klandestinen Abtreibungsgruppen praktizierten, in das Krankenhaus zu übertragen. 310 Angesichts des Chaos in der Poliklinik waren die feministischen Aktivistinnen bald de facto verantwortlich für wesentliche krankenhausinterne Abläufe: Ihnen oblag es, die Frauen in Empfang zu nehmen, die Schwangerschaftswoche der Betroffenen zu bestimmen und die Notfälle auszumachen, die einen therapeutischen Eingriff ohne einwöchige Wartefrist nach der Ausstellung des ärztlichen Zertifikats notwendig machten.311 Schon vor dem 12. Juni, jenem Tag, an dem aufgrund der einwöchigen Wartefrist zwischen der Ausstellung des ärztlichen Zertifikats und dem Eingriff die ersten Schwangerschaftsabbrüche möglich waren, wurde deutlich, wie dramatisch die Situation an der Poliklinik werden würde: Schon jetzt fehlten in den gynäkologischen Abteilungen Personal, Material und Platz.312 In der Poliklinik hatte sich bereits eine Warteliste von 27 Frauen gebildet, die mit einem ärztlichen Zertifikat vorstellig geworden waren, um sich für einen Schwangerschaftsabbruch anzumelden. Viele der Frauen waren schon in der elften Schwangerschaftswoche und mussten deshalb in den nächsten Tagen abtreiben, wollten sie nicht die 12-Wochen-Frist überschreiten, die das Gesetz vorschrieb.313 Der 12. Juni selbst begann in der 1. gynäkologischen Klinik des Poliklinik mit einer Vollversammlung: In dem überfüllten Saal waren neben den Feministinnen und den Aktivistinnen und Aktivisten des Collettivo Policlinico auch zahlreiche betroffene Frauen präsent. Hinzu kamen jene acht Ärzte, die in Zukunft die Abtreibungen vornehmen sollten. Die Versammlung begann auf ungewöhnliche Weise: Simonetta Tosi als Aktivistin des consultorio von San Lorenzo hielt einen Vortrag, in dem sie anhand von Skizzen die Absaugmethode und ihre Vorteile gegenüber der bisher praktizierten Ausschabung erklärte.314 Ein wesentlicher Vorteil der sogenannten Karman-Methode war, dass im Normalfall keine Vollnarkose für den Eingriff nötig war und somit auf die Anwesenheit eines Anästhesisten verzichtet werden konnte – ein wichtiger Umstand angesichts der Tatsache, dass alle Anästhesisten des Kran-

309 Vgl. Paese Sera vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 24, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. Ein ähnliches Vorgehen praktizierten die Aktivistinnen des consultorio autogestito der Magliana im Krankenhaus San Giovanni, vgl. Il Manifesto vom 18.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 20, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 310 Vgl., Paese Sera vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 24, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 311 Vgl. Lotta Continua vom 13.6.1978, S. 5. 312 Vgl. L’Unità vom 10.6.1978, S. 4. 313 Vgl. L’Unità vom 13.6.1978, S. 8; Lotta Continua vom 13.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 314 Vgl. Paese Sera vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 24, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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kenhauses ihre Mitarbeit an Abtreibungen verweigerten.315 Das seit einer Woche bestehende Angebot, sich die Absaugmethode von den erfahrenen Feministinnen beibringen zu lassen, wurde von den betreffenden Ärzten trotz ihrer anfänglichen Offenheit de facto aber wohl nur zögerlich akzeptiert.316 Eine der feministischen Aktivistinnen beschrieb die Haltung der Ärzte folgendermaßen: „Erano presuntuosi e se anche accettavano i nostri consigli lo facevano in modo non appariscente, volevano mantenere la loro ‚dignità professionale‘ .“317 Auf der Versammlung wurden neben der Operationsmethode eine Reihe akuter praktischer Probleme diskutiert: Wesentliches Hindernis für die Durchführung von Abtreibungen war der eklatante Mangel an Pflegepersonal in der Gynäkologie und an einfachem Material wie Betten, Matratzen und Bettwäsche. Zudem war noch völlig ungeklärt, wie die beiden gynäkologischen Kliniken des Poliklinikums im Hinblick auf die Abtreibungen zusammenarbeiten sollten, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass die beiden Chefärzte als Abtreibungsverweigerer keinerlei Interesse an einer effektiven Koordination der Zusammenarbeit zeigten.318 Angesichts dieser Situation befürchteten diejenigen Ärzte, die sich bereit erklärt hatten, Abtreibungen durchzuführen, in Zukunft von zwei Seiten angegriffen zu werden: „‚Succederà che verremo attaccati su due fronti: da chi ci chiamerà ‚abortisti‘, e da chi se la prenderà con noi per la insufficienza del servizio.‘“319 Unter Hinweis auf den Mangel an Räumlichkeiten und Personal erklärten die Ärzte, dass zunächst nur an zwei Tagen pro Woche Abtreibungen durchgeführt werden könnten. Dagegen regte sich umgehend der Protest der Feministinnen: Abtreibungen an nur zwei Tagen pro Woche seien völlig ungenügend, zumal alle Frauen, die im Ospedale San Camillo, dem Krankenhaus mit der größten gynäkologischen Abteilung der Hauptstadt, abtreiben wollten, an die Poliklinik weiter verwiesen wurde, da im San Camillo selbst alle Gynäkologen die Durchführung von Abtreibungen verweigerten.320 Im Laufe der Versammlung wurden Vorschläge gemacht, wie die Probleme zumindest ansatzweise behoben werden könnten: Aktivistinnen des Collettivo Policlinico schlugen vor, die renovierten und voll ausgestatteten, leer stehenden Räume im zweiten Stock der Klinik zu reaktivie-

315 Vgl. L’Unità vom 13.6.1978, S. 8. 316 Vgl. Lotta Continua vom 13.6.1978, S. 5. 317 Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Sie waren anmaßend und auch wenn sie unsere Ratschläge akzeptierten, so taten sie es auf eine unauffällige Art. Sie wollten ihre ‚Berufswürde‘ aufrechterhalten.“ 318 Vgl. Il Manifesto vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 319 Zitiert nach: Il Manifesto vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Wir werden von zwei Seiten angegriffen werden: von denen, die uns ‚Abtreiber‘ nennen werden und von jenen, die uns kritisieren werden, weil die Versorgung mangelhaft ist.‘“ 320 Zunächst hatte sich noch ein Gynäkologe bereitgefunden, der schließlich aber auch verweigerte, vgl. Paese Sera vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 24, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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ren, in denen bis vor einigen Jahren eine Abteilung für Privatpatienten untergebracht gewesen war, die aus eigener Tasche ein bessere Unterbringung bezahlt hatten. Die vier Räume mit 18 Betten waren aufgrund der Proteste des Collettivo Policlinico gegen die Vorzugsbehandlung für zahlungskräftige Patienten geschlossen worden und standen seitdem leer, was mit Personalmangel begründet wurde.321 Aktivistinnen des Collettivo Policlinico boten an, zusätzlich zu ihren regulären Schichten unentgeltlich zu arbeiten, um den Mangel an Pflegepersonal vorübergehend auszugleichen und die Eröffnung der leer stehenden Abteilung zu ermöglichen.322 Außerdem wurde vorgeschlagen, die dünne Personaldecke in den gynäkologischen Kliniken mit Pflegeschülerinnen zu verstärken.323 Diese Vorschläge des Collettivo Policlinico stießen auf positive Resonanz: Die Versammelten beschlossen die Krankenhausleitung aufzufordern, die leer stehende Abteilung im zweiten Stock der Klinik wiederzueröffnen und zur Abtreibungsabteilung zu machen.324

3.2.2 Basiskampf gegen den Boykott des Abtreibungsgesetzes Mit dem Ablauf der ersten Woche seit dem Inkrafttreten der legge 194 am 12. Juni 1978 verschlechterte sich die Situation in der Poliklinik nochmals merklich. Die Frauen in den gynäkologischen Abteilungen sahen sich Zuständen ausgesetzt, die jeder Beschreibung spotteten: „‚Forse neanche in tempo di guerra c’erano ospedali in questo stato.‘“325 La Repubblica pflichtete den Betroffenen bei: „Scene da ospedale da campo nel terzo mondo. La regola è due donne per un letto, una alla testa e una ai piedi; nei giorni scorsi si è arrivati al bel record di quattro, tutte stipate dentro uno stesso letto (c’era una foto per gli increduli). un’altra donna è stata sistemata co’ materasso a terra.“326 Mütter mit Neugeborenen wurden unmittelbar nach der Geburt

321 Vgl. Il Manifesto vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 322 Vgl. Il Manifesto vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Paese Sera vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 24, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 323 Vgl. Lotta Continua vom 13.6.1978, S. 5. 324 Vgl. Paese Sera vom 13.6.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 24, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 325 Betroffene Frauen, zitiert nach: Corriere della Sera vom 15.6.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Vielleicht gab es nicht einmal in Kriegszeiten Krankenhäuser in einem solchen Zustand.“ 326 La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. Für das betreffende Foto, vgl. Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 13. „Szenen wie aus einem Feldlazarett in der Dritten Welt. In der Regel sind es zwei Frauen in einem Bett, eine am Kopf- und eine am Fußende. In den letzten Tagen gab es einen neuen schönen Rekord: Vier Frauen in ein und demselben Bett (für die,

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in ihren Betten liegend in Toiletten untergebracht, weil ein Platz im Saal fehlte. Müll und schmutzige Bettwäsche waren auf dem Boden verstreut und wurden nicht beseitigt. Für Frauen in den Wehen waren keine Betten vorhanden – sie waren gezwungen wimmernd auf Bänken zu warten.327 Angesichts dieser Zustände in den beiden gynäkologischen Kliniken des Poliklinikums verfassten die beiden zuständigen Chefärzte am 14. Juni einem Brief, mit dem sie sich an die Staatsanwaltschaft, die Universitätsleitung und die zuständigen Gesundheitsbehörden wandten: „‚In conseguenza della applicazione della legge sull’interruzione della gravidanza […] e del crescente afflusso di partorienti, si è verificato il sovraffollamento dei vari reparti già di per sé stessi insufficienti a sostenere il normale svolgimento dell’attività assistenziale. La situazione è impossibile […].‘“328 Da die Zustände in der Poliklinik ohnehin oft untragbar waren, war es schwer zu bestimmen, welcher Anteil der desaströsen Situation in den gynäkologischen Kliniken tatsächlich den strukturellen Problemen des größten römischen Krankenhauses zuzuschreiben war und welcher Anteil auf die stille Obstruktion des neuen Gesetzes durch die übergroße Mehrheit der verantwortlichen Ärzte und Teile des Pflegepersonals zurückging.329 Aus Sicht eines jener wenigen Ärzte, die bereit waren Abtreibungen vorzunehmen, war die Ausnahmesituation an der Poliklinik Folge bewusster Entscheidungen: „‚Questa storia […] viene fuori adesso, ad arte. […] (A) me questa delle strutture mi pare una fisarmonica. Se ci sono interventi di altissima chirurgia, mi sfugge perché non debbano esserci […] aborti che richiedono una degenza di ventiquattr’ore.‘“330 Auch der PCI witterte hinter dem Vorgehen von Marzetti und Carenza einen Versuch, die Umsetzung des Abtreibungsgesetzes zu unterlaufen.331 Die gynäkologischen Chefärzte Carenza und Marzetti freilich wuschen ihre Hände in Unschuld: Sie hatten zwar wie fast alle ihrer Kollegen jede Beteiligung an Schwangerschaftsabbrüchen verweigert, wollten aber keinesfalls für die nun auf-

die es nicht glauben, gibt es ein Foto). Eine andere Frau wurde mit einer Matratze auf dem Boden untergebracht.“ 327 Vgl. Corriere della Sera vom 15.6.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 328 Zitiert nach: Corriere della Sera vom 15.6.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Als Konsequenz der Anwendung des Gesetzes über den Schwangerschaftsabbruch […] und aufgrund des wachsenden Zustroms von Gebärenden ist eine Überfüllung der verschiedenen Abteilungen eingetreten, die ohnehin schon ungenügend sind, um den normalen Ablauf der Versorgungstätigkeit zu gewährleisten. Die Situation ist unerträglich […].‘“ 329 Zur Obstruktion der legge 194 durch Teile des Pflegepersonals vgl. Lotta Continua vom 8.7.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 18, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 330 Dr. Enzo Majorana, zitiert nach: L’Unità vom 12.6.1978, S. 3. „‚Diese Geschichte […] kommt absichtlich jetzt heraus. […] [D]ie Geschichte von den Strukturen kommt mir wie eine Ziehharmonika vor. Wenn chirurgische Eingriffe auf höchstem Niveau stattfinden, dann verstehe ich nicht, warum es keine […] Abtreibungen geben soll, die (nur) einen Krankenhausaufenthalt von vierundzwanzig Stunden nötig machen.‘“ 331 Vgl. L’Unità vom 15.6.1978, S. 11.

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tretenden Probleme verantwortlich sein. Die Krankenhausleitung ihrerseits erkannte zwar eine „Notsituation“, sah aber keine raschen Lösungsmöglichkeiten: „‚Abbiamo chiesto che vengano attivati i reparti chiusi, ma i tempi non sono brevi.‘“332 Derweil wurde der Aktivismus der Feministinnen in der Poliklinik allmählich zum Politikum: Nicht nur das Collettivo Policlinico begrüßte die Präsenz der Feministinnen in Roms größtem Krankenhaus. Die Anwesenheit der Feministinnen in der Poliklinik stieß auch bei progressiven Kräften außerhalb des Krankenhauses auf positive Resonanz: Die PCI-Frauenorganisation UDI erklärte öffentlich ihre Unterstützung für die Aktivität der Feministinnen.333 Allerdings wurde die Umarmung durch die UDI von den Aktivistinnen keineswegs positiv aufgenommen: Die an der Poliklinik aktiven Feministinnen des consultorio von San Lorenzo sahen nicht nur die Umsetzung der legge 194 in Rom deutlich kritischer als die UDI, sondern verbaten sich auch jede Vereinnahmung von Seiten der PCI-Frauenorganisation. „[…] (C)i siamo chieste in base a quale conoscenza diretta l’UDI si esprime […] e facendo riferimento in modo specifico al Policlinico, ci si è acuito il dubbio che si utilizzi il lavoro delle compagne del Centro Femminista per la Salute delle Donne di San Lorenzo quasi fosse una realtà di base dell’UDI. […] Troppo spesso fino ad oggi siamo state strumentalizzate, dato che possediamo una struttura funzionante legata al territorio, per coprire la mancanza di rapporto dell’UDI con una pratica fondata sulle reali esigenze delle donne […]. […] Ribadiamo infatti che la nostra politica femminista rifiuta la logica istituzionale in cui si fa ingabbiare la dirigenza dell’UDI […].“334 Diese deutliche Distanzierung von der UDI markierte einen Bruch zwischen

332 Giovanni Schmidt, Päsident des Direktionskomitees der Poliklinik, zitiert nach: Corriere della Sera vom 15.6.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 25, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Wir haben darum gebeten, dass die geschlossenen Abteilungen wieder geöffnet werden, aber das geht nicht kurzfristig.‘“ 333 Diese positive Bezugnahme erfolgte wahrscheinlich bei einer Pressekonferenz der UDI zum Stand der Umsetzung des Abtreibungsgesetzes in Rom am 15.6.1978, vgl. L’Unità vom 16.6.1978, S. 8. Zur Reaktion der Feministinnen, die einige Rückschlüsse auf die Erklärung der UDI zulässt, vgl. Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 5 und Lotta Continua vom 27.6.1978, S. 13. 334 Offener Brief der Feministinnen des consultorio von San Lorenzo, abgedruckt in: Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 5. „[…] (W)ir haben uns gefragt, aufgrund welcher direkten Kenntnisse die UDI sich äußert […] und sich dabei speziell auf die Poliklinik bezieht und so hat sich bei uns der Verdacht erhärtet, dass man die Arbeit der Genossinnen des Centro Femminista per la Salute delle Donne von San Lorenzo benutzt, ganz so als ob es sich um eine Basisstruktur der UDI handelte. […] Viel zu oft schon sind wir, da wir über eine funktionierende Struktur verfügen, die im städtischen Raum verankert ist, benutzt worden, den mangelnden Bezug der UDI zu einer Praxis, die auf die realen Bedürfnisse der Frauen aufbaut, zu decken […]. […] In der Tat bekräftigen wir, dass unsere feministische Politik sich jener institutionellen Logik verweigert, in welche sich die Führung der UDI einsperren lässt […].“ Die UDI antwortete auf die Vorwürfe am 28.6.1978 ihrerseits mit einem offenen Brief in Lotta Continua. Darin wies die Organisation die Polemik der Feministinnen als sinnlose Spaltung innerhalb der Frauenbewegung zurück und erklärte, die UDI müssen häufig als

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den in der Poliklinik aktiven Feministinnen und der traditionellen Linken. Damit standen nun die beiden zentralen Akteure, welche die Selbstorganisation in der Gynäkologie der Poliklinik vorantrieben, die Feministinnen des consultorio von San Lorenzo und die Aktivisten des Collettivo Policlinico in offenem Konflikt mit dem PCI. Trotz des Chaos wurden am 16. Juni 1978 unter tatkräftiger Mitwirkung der Feministinnen und der Aktivistinnen des Collettivo Policlinico die ersten acht Abtreibungen in der Gynäkologie der Poliklinik durchgeführt. Dabei wurde die von den Feministinnen verbreitete Absaugmethode verwendet.335 Am selben Tag fand eine weitere Versammlung der Aktivistinnen des Collettivo Policlinico, der Feministinnen, der betroffenen Frauen und des interessierten Personals statt. Von den Versammelten wurde die sofortige Öffnung der leer stehenden Abteilung im dritten Stock der gynäkologischen Klinik gefordert, um eine geordnete Fortsetzung der Schwangerschaftsabbrüche zu garantieren und der Verteilung der operierten Frauen auf verschiedene Stationen ein Ende zu setzen. Außerdem forderten die Teilnehmerinnen der Versammlung sofortige Neueinstellungen von Pflegern, OP-Helfern, Krankenträgern und Anästhesisten für die Abtreibungsabteilung, da die Durchführung der Abtreibungen in den letzten Tagen nur durch die freiwillige Zusatzarbeit der Aktivistinnen des Collettivo Policlinico möglich gewesen war.336 Im Anschluss an die Versammlung zog eine große Gruppe von Frauen zum Büro des Gesundheitsdirektors der Poliklinik, um ihren Forderungen dort Nachdruck zu verleihen. Dieser versprach, sofort Maßnahmen für die Umsetzung der Forderungen in die Wege zu leiten.337 Noch am selben Tag kam es zu einer Zusammenkunft der Klinikleitung mit Universitätsrektor Ruberti, in deren Verlauf 100 Millionen Lire Soforthilfe für die Poliklinik zur Verfügung gestellt wurden. Außerdem wurde für Montag, den 19. Juni die Eröffnung einer Abtreibungsambulanz in den bisher leer stehenden Räumen im dritten Stock der gynäkologischen Klinik in Aussicht gestellt. Ebenfalls am Montag sollten 200 neue Krankenträger und -Pfleger eingestellt werden, von denen 20 ihren Dienst in der Gynäkologie antreten sollten. Hinzu kam ein weiterer Sonderfonds mit 20 Millionen Lire für die Neuanschaffung von Spezialgeräten für die Absaugmethode.338 Angesichts der langjährigen Negativerfahrung des Collettivo Policlinico mit den Absichtserklärungen der Krankenhausleitung war das Vertrauen der Aktivistinnen in die Zusagen der Krankenhausleitung jedoch gering. So riefen sie dazu auf, am Dienstag, den 20. Juni gemeinsam die Eröffnung der neuen Abteilung zu kontrollieren:

‚gemeinsamer Feind‘ der untereinander zerstrittenen Fraktionen der feministischen Bewegung herhalten, vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. Als gelöst konnten die Spannungen zwischen den Feministinnen aus San Lorenzo und der UDI damit keinesfalls angesehen werden. 335 Vgl. Corriere della Sera vom 17.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158; Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 13. 336 Vgl. Lotta Continua vom 17.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 337 Vgl. Lotta Continua vom 17.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 338 Vgl. Corriere della Sera vom 17.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158.

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„Martedì 20 andiamo tutte a controllare sia l’apertura del reparto che l’effettuazione degli interventi.“339 Derweil wurde immer deutlicher, wie schlecht die Situation zwei Wochen nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes in Rom tatsächlich war: Aufgrund der flächendeckenden Verweigerung der Gynäkologen konnten nur in drei römischen Krankenhäusern – der Poliklinik, dem Ospedale San Giacomo und dem Ospedale San Giovanni – Abtreibungen durchgeführt werden und auch hier meist nur an einzelnen Wochentagen, da die Personaldecke extrem dünn war.340 Viele Ärzte verweigerten nicht nur die Durchführung von Abtreibungen, sondern boykottierten auch jede Form der Nachsorge bei den Frauen, die den Eingriff hinter sich gebracht hatten.341 Auch zahlreiche Angehörige des Pflegepersonals verweigerten jede direkte oder indirekte Mitarbeit bei Abtreibungen.342 Noch weiter gingen manche der in der Gynäkologie der Poliklinik beschäftigten Ordensschwestern: Sie beschimpften Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten, als ‚Teufelinnen‘.343 Angesichts dieser Zustände hatten in ganz Rom seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes nur 62 Abtreibungen durchgeführt werden können – 31 davon in der Poliklinik.344 Rasch waren lange Wartelisten entstanden, die in manchen Krankenhäusern schon bis Ende Juli reichten.345 Schließlich wurden die Wartelisten in den Krankenhäusern San Giacomo und San Giovanni geschlossen, während diejenige der Poliklinik auf 120 Frauen anwuchs.346 Angesichts der Fristenregelung drohten so viele Frauen trotz des neuen Gesetzes auf klandestine Abtreibungen zurückgreifen zu müssen.347 Es verwunderte so kaum, dass im Juni 1978 in Rom Gynäkologen aufflogen, die nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes weiterhin illegale Abtreibungen vornahmen und für den Eingriff eine halbe Million Lire verlangten.348 Das Misstrauen des Collettivo Policlinico und der Feministinnen gegenüber den Versprechungen der Krankenhausleitung erwies sich als wohl begründet: Die Abtreibungsabteilung in den leer stehenden Räumen im zweiten Stock der gynäkologischen Klinik wurde nicht, wie angekündigt, am 19. Juni eröffnet. Auch am 20. Juni blieb die Situation unverändert.349 Vor diesem Hintergrund wandten sich die in der Poli-

339 Lotta Continua vom 17.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Gehen wir alle am Dienstag den 20., die Eröffnung der Abteilung und die Durchführung der Eingriffe kontrollieren.“ 340 Vgl. Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 13. 341 Vgl. Lotta Continua vom 17.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 342 Vgl. Lotta Continua vom 8.7.1978, abgedruckt in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 18, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 343 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 344 Vgl. Il Messaggero vom 22.6.1978, S. 4. 345 Vgl. Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 13. 346 Vgl. Offener Brief des Collettivo Policlinico und der Collettivi Femministi vom 20.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 347 Vgl. Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 13. 348 Vgl. Il Messaggero vom 18.6.1978, S. 4; Lotta Continua vom 18./19.6.1978, S. 5. 349 Vgl. Il Messaggero vom 24.6.1978, S. 4. Auch die angekündigte Einstellung von 200 Krankenträgern und –pflegern wurde nicht umgesetzt, da das regionale Kontrollkomitee

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klinik aktiven Feministinnen und das Collettivo Policlinico am 20. Juni mit einem offenen Brief an die Krankenhausleitung, die Öffentlichkeit und die Presse: „Regione, Pio Istituto, amministrazioni ospedaliere, nonostante le dichiarazioni ufficiali diffuse per salvare la propria immagine di efficientismo, di fatto hanno boicottato l’attuazione della legge, scaricando completamente l’avvio del nuovo servizio sulle spalle dei compagni e di collettivi femministi, disponibili per propria scelta politica a svolgere un’azione su questo terreno. […] (T)eniamo a precisare che la nostra lotta è finalizzata al controllo dei rapporti fra le donne utenti e gli ospedali, e non certo a coprire le falle che i vostri esperimenti, intrallazzi, profitti, hanno fatto proliferare negli ospedali sulla pelle delle donne e di tutti i proletari.“350 Außerdem wurden vier präzise Forderungen gestellt: „1) immediata apertura del reparto al II piano della clinica Ostetrica […]. 2) assunzione di tutto il personale necessario per far funzionare questo reparto di 18 letti e la sua sala operatoria: 10 portantini, 12 infermieri generici, 4 professionali, 2 ferriste, 5 anestesisti, 1 tecnico di laboratorio. 3) immediato rifornimento di materiale necessario […]. 4) ferreo rispetto delle liste di lotta delle donne (presentata il 20/6 al Pio Istituto) che sono le uniche a poter garantire alle donne una degenza non traumatica.“351 Damit wurden die drei bisherigen Komponenten der Proteste um eine vierte ergänzt: Neben die betroffenen Frauen, die Feministinnen und die Aktivisten des Collettivo Policlinico trat die ‚Lista di lotta‘352, die als autonome Arbeitsloseninitiative aus dem Umfeld des Collettivo Policlinico versuchte Neueinstellungen in der Poliklinik zu erkämpfen und den Modus der Bewerberauswahl durch eine Basisorganisa-

eine öffentliche Ausschreibung der neuen Stellen verlangte und eine interne Regelung durch die römische Arbeitsvermittlungsagentur stoppte, vgl. Il Messaggero vom 23.6.1978, S. 5. 350 Offener Brief des Collettivo Policlinico und der Collettivi Femministi vom 20.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Region, Pio Istituto und Krankenhausverwaltung haben trotz ihrer offiziellen Erklärungen, die sie verbreiteten, um ihr Image der Effizienz zu retten, die Umsetzung des Gesetzes de facto boykottiert und den Start der neuen Dienstleistung komplett auf die Schultern der Genossen und der feministischen Kollektive geladen, die aufgrund ihrer politischen Entscheidung bereit sind, auf diesem Gebiet aktiv zu werden. […] (W)ir wollen unterstreichen, dass unser Kampf auf eine Kontrolle des Verhältnisses zwischen den Benutzerinnen und den Krankenhäusern abzielt und sicherlich nicht darauf, diejenigen Lecks zu stopfen, die durch eure Experimente, Machenschaften und Profite in den Krankenhäusern immer größer werden und zu Lasten der Frauen und aller Proletarier gehen.“ 351 Offener Brief des Collettivo Policlinico und der Collettivi Femministi vom 20.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „1) Sofortige Eröffnung der Abteilung im 2. Stockwerk der Geburtsklinik […]. 2) Einstellung des Personals, das nötig ist, um diese Abteilung mit 18 Betten und ihren Operationssaal in Betrieb zu nehmen: 10 Krankenträger, 12 allgemeine Pfleger, 4 Fachpfleger, 2 OP-Helfer, 5 Anästhesisten, 1 Labortechniker. 3) Sofortige Bereitstellung des nötigen Materials […]. 4) eiserne Einhaltung der liste di lotta der Frauen (die am 20.6. im Pio Istituto vorgelegt wurde), die die einzigen sind, die den Frauen einen nicht-traumatischen Krankenhausaufenthalt gewährleisten können.“ 352 ‚Kampfliste‘ mit der Arbeitslose ihre Einstellung erstreiten wollen.

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tion der Arbeitslosen selbst zu regeln.353 Der Kampf der Arbeitslosen an der Poliklinik war nicht neu,354 doch nun wurde er erstmals explizit auf die Abtreibungsfrage bezogen, da nach Wunsch der Feministinnen und des Collettivo Policlinico jene Frauen, die als Krankenschwestern oder Krankenträgerinnen in der neu einzurichtenden Abteilung arbeiten würden, den Arbeitslosenlisten entstammen sollten.355 Dabei war die Aussage, dass gerade die Bewerberinnen von der Lista di lotta besonders geeignet seien, nicht ganz aus der Luft gegriffen, hatten sich die Aktivisten der Lista di lotta doch stets im Schulterschluss mit dem Collettivo Policlinico für eine bessere Pflege in der Poliklinik eingesetzt und waren angesichts ihrer politischen Gesinnung zweifellos bereit, sich an Abtreibungen zu beteiligen.356 Die Forderungen blieben jedoch unbeantwortet.

3.3 Die selbstverwaltete Abtreibungsabteilung an der Poliklinik 3.3.1 Die Besetzung Am Morgen des 21. Juni versammelte sich eine Gruppe von Frauen in der Gynäkologie der Poliklinik, die auf der inzwischen 150 Namen umfassenden Warteliste standen und deren Schwangerschaft soweit fortgeschritten war, dass sie Risiko liefen, die Dreimonatsfrist zu überschreiten und so ihr Recht auf eine legale Abtreibung zu verlieren. Die verzweifelten Frauen beschlossen schließlich gemeinsam mit den anwesenden Feministinnen und den Angehörigen des Collettivo Policlinico, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und die leer stehende Abteilung im zweiten Stock

353 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 27.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. Die bekannteste Initiative dieser Art im Italien der 1970er Jahre waren die 1974 gegründeten ‚Disoccupati organizzati‘ (‚Organisierte Arbeitslose‘) in Neapel gewesen, vgl. Ginsborg (1990), S. 364f. 354 Vgl. z.B. Flugblatt der Collettivi ospedalieri: S. Camillo; Policlinico; S. Eugenio; S. Filippo und der Lista di lotta dei Disoccupati vom 17.2.1978, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78; Flugblatt der Lista di lotta disoccupati del Policlinico und des Collettivo allievi infermieri vom 26.2.1978, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78; Flugblatt der Lista di lotta del Policlinico vom 6.3.1978, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78. Vgl. auch: Comitati Autonomi Operai/Collettivo Policlinico (Hg.) (1978): Chi sono i terroristi?, ohne Seitenzahlen, Druckseite 12ff. (die entsprechenden Druckseiten des Dokuments werden im Folgenden in Klammern angegeben), in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78. 355 Vgl. Offener Brief des Collettivo Policlinico und der Collettivi Femministi vom 20.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 356 Vgl. z.B. Flugblatt der Lista di lotta disoccupati del Policlinico und des Collettivo allievi infermieri vom 26.2.1978, in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78.

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der Klinik zu besetzen.357 Der Plan wurde umgehend verwirklicht: Die Frauen brachen die Türe der leer stehenden Abteilung auf und begannen gemeinsam, diese zu reinigen und instand zu setzen. Benötigtes Material wurde – soweit vorhanden – gemeinsam aus den Lagern der Poliklinik herangeschafft.358 Viel medizinisches Material, unter anderem die Apparate, die nötig waren, um die Absaugungsmethode vorzunehmen, brachten die Feministinnen des consultorio von San Lorenzo mit.359 Fortan war die seit Jahren leer stehende Abteilung als Abtreibungsabteilung in Funktion:360 vier voll ausgestattete Zimmer mit 18 Betten und ein Operationssaal.361 Jene Akteure, die zuvor versucht hatten, die Umsetzung der legge 194 in der Poliklinik zu gewährleisten, bündelten ihre Kräfte nun in der besetzten Abteilung: Neben den vier Akteursgruppen, die die Besetzung ins Werk gesetzt hatten, verlagerte nun auch jene Handvoll Ärzte der Poliklinik, die bereit waren, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, und die eine Krankenschwester, die die Poliklinikleitung für die Durchführung der Abtreibungen abgestellt hatte, ihre Arbeit in die besetzte Abteilung.362 Hinzu kamen die Aktivistinnen des Collettivo Policlinico, die zusätzlich zu ihren eigentlichen Schichten freiwillig und unentgeltlich in der Abtreibungsabteilung halfen.363 Den Löwenanteil der zu verrichtenden Arbeit aber leisteten 17 arbeitslose Frauen von der Lista di lotta:364 Drei fertig ausgebildete Krankenschwestern und 14 Krankenträgerinnen begannen ihren Dienst in der besetzten Abteilung und arbeiteten in regulären Schichten 40 Wochenstunden.365 Sie bedienten sich damit einer Praxis, die bei Arbeitsloseninitiativen aller Art in Italien eine lange Tradition hatte, des so genannten ‚sciopero a rovescio‘, also des ‚umgekehrten Streiks‘: Dabei arbeiteten Arbeitslose ohne Entlohnung in öffentlichen Institutionen mit und zeigten so neben ihrem Willen und ihrer Fähigkeit zu arbeiten, dass in dem betreffenden Bereich drin-

357 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 27.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158; Una occupazione autogestita dalle donne. Testimonianza di una compagna del Policlinico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 11 in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 358 Vgl. La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. Für Bilder von der gemeinsamen Instandsetzung der besetzten Abteilung vgl. Lotta Continua vom 22.6.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 31, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 359 Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 360 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 361 Vgl. Il Messaggero vom 24.6.1978, S. 4. 362 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 363 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 27.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158; L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. 364 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 27.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 365 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8.

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gend mehr Arbeitskräfte benötigt würden, und drängten die Verantwortlichen so zu Neueinstellungen.366 Aus Sicht der beteiligten Ärzte war die prekäre rechtliche Stellung der neu geschaffenen Abteilung zwar irritierend, aber alternativlos. Dr. Marcelli, einer der Ärzte, die Abtreibungen in der besetzten Abteilung durchführten, erklärte seine Sicht der Dinge folgendermaßen: „‚D’accordo che la situazione appare illegale […], ma nelle more delle decisioni burocratiche bisogna pur applicare una legge. Per tutte le donne in attesa i tempi stringono, molte stanno per superare i novanta giorni. Abortire non è un lusso, ma una necessità e un’amara scelta.‘“367 Das Collettivo Policlinico hielt sich mit Fragen der Legalität nicht auf: Aus seiner Sicht hatten die betroffenen Frauen schlicht gemeinsam mit den Feministinnen, den Arbeitslosenaktivistinnen und dem Kollektiv die Initiative ergriffen, um die Umsetzung des Abtreibungsgesetzes in der Poliklinik zu gewährleisten. Dabei verzichtete das Collettivo Policlinico auf den Schlüsselbegriff ‚Besetzung‘ – wohl um die Krankenhausleitung nicht zu provozieren und so ein rasches repressives Einschreiten zu vermeiden.368 Die Feministinnen versuchten die Dinge ebenfalls als möglichst wenig dramatisch darzustellen: In ihren Augen handelte es sich um eine „legale Besetzung“ – signalisierte die Krankenhausleitung doch ihre implizite Zustimmung durch die Entsendung von drei Ärzten.369 Aus feministischer Sicht hatte die Aktion nur vorweg genommen, was ohnehin geplant gewesen war: „‚Abbiamo deciso di anticipare con il nostro volontariato la riattivazione del reparto ex paganti della II Clinica Ostetrica per imporre una soluzione pratica, immediata, alla disastrosa situazione che incontrano dappertutto le donne che devono abortire.‘“370 Dieses wohl zum Teil auch taktische Bestehen auf der Legalität des eigenen Vorgehens wurde etwas getrübt durch eine Ortsbegehung des stellvertretenden Staatsanwaltes Dell’Anno in den Tagen nach der Besetzung. Zwar war die Ursache für Dell’Annos Intervention an sich nicht die Besetzung sondern die zehn Tage zurückliegende Beschwerde der beiden Chefärzte Carenza und Marzetti über die unzumutbaren Zustände in der Gynäkologie der Poliklinik, aber Dell’Anno ließ es sich dennoch nicht nehmen, seinem Dossier einen gesonderten

366 Vgl. Ginsborg (1990), S. 365. 367 Zitiert nach: La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. „‚Ich stimme zu, dass die Situation illegal erscheint […], aber trotz des Verzuges der bürokratischen Entscheidungen muss ein Gesetz angewandt werden. Für alle Frauen, die warten, drängt die Zeit. Viele werden bald die Neunzig-Tages-Frist überschreiten. Abtreiben ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit und eine bittere Entscheidung.‘“ 368 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 27.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 369 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 370 Zitiert nach: Lotta Continua vom 4.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „‚Wir haben beschlossen, mit unserer freiwilligen Arbeit die Reaktivierung der ehemaligen Abteilung für Privatpatienten der 2. Geburtsklinik vorzuziehen, um so eine sofortige praktische Lösung der desaströsen Situation zu erzwingen, der sich die Frauen, die abtreiben müssen, überall gegenüber sehen.‘“

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Anhang über die Situation in der besetzten Abteilung beizufügen und die ‚Selbsteinstellung‘ der Arbeitslosenaktivistinnen zu untersuchen.371 Trotz ihres prekären rechtlichen Status funktionierte die neu eröffnete Abteilung bald besser als es irgendeine Abtreibungsabteilung in der italienischen Hauptstadt bisher getan hatte: Schon am 22.6.1978 konnten die ersten zehn Schwangerschaftsabbrüche in der neuen Abteilung durchgeführt werden.372 Zwei Tage später waren schon 40 Abtreibungen in der besetzten Abteilung durchgeführt worden.373

3.3.2 Akteure und Ziele Mit der Besetzung hatte eine Aktion Erfolg, mit der die beteiligten Akteursgruppen teilweise unterschiedliche Ziele verbanden. Vier beteiligte Gruppen mit jeweils eigenständigen Zielsetzungen lassen sich unterscheiden: Neben den betroffenen Frauen, die als Patientinnen an der Besetzung partizipierten, waren dies die in der Poliklinik aktiven Feministinnen, das Collettivo Policlinico und die Aktivistinnen der Lista di lotta.374 Die fluktuierende Gruppe der betroffenen Frauen lässt sich zwar schwer fassen, ihr Hauptziel allerdings lag auf der Hand: Sie kamen in die Poliklinik, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Neben dem Umstand, dass in der besetzten Abtreibungsabteilung die mit Abstand meisten Schwangerschaftsabbrüche in Rom durchgeführt wurden, dürfte für viele Betroffene auch die Tatsache ausschlaggebend gewesen sein, dass die Aufnahme durch die Aktivistinnen in der Poliklinik wohl weitaus freundlicher war als in den anderen römischen Krankenhäusern. Eine Betroffene, die nach einer Odyssee durch die römischen Krankenhäuser schließlich in der besetzten Abteilung der Poliklinik landete, beschrieb den Empfang dort mit Erstaunen: „La disponibilità delle ragazze che si trovavano nel corridoio mi lasciò incredula. Alle timide domande le risposte erano chiare e non lesinavano certo spiegazioni e incoraggiamento.“375 Dieser Umstand dürfte sich, nachdem die besetzte Abtreibungsabteilung eine Weile bestand, herumgesprochen haben und auch die Berichterstattung über die besetzte Abteilung in der lokalen Presse dürfte dazu beigetragen haben, dass viele Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten, sich direkt dafür entschieden, in die Poliklinik zu gehen.

371 Vgl. Il Messaggero vom 24.6.1978, S. 4; Il Tempo vom 24.6.1978, S. 6; Il Messaggero vom 27.6.1978, S. 6. 372 Vgl. Corriere della Sera vom 24.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 373 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 374 Vgl. Lotta Continua vom 24.6.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 23, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 375 Dall’ottimismo all’angoscia. Testimonianza di una donna che ha abortito nel reparto occupato, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 9, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Die Hilfsbereitschaft der Mädchen auf dem Gang machte mich sprachlos. Auf die schüchternen Fragen folgten klare Antworten, die nicht mit Erklärungen und Ermunterungen sparten.“

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Die Feministinnen, deren größter Teil aus dem Umfeld des consultorio von San Lorenzo stammte, hatten neben der schlichten Ermöglichung der beantragten Schwangerschaftsabbrüche vor allem den Kontext im Blick, in dem diese vollzogen werden sollten: Die Besetzung einer Abteilung ermöglichte in ihren Augen die Schaffung eines eigenen Kommunikationsraums ohne die störenden Einflüsse der allgegenwärtigen Abtreibungsgegner und –Verweigerer. Ein solcher Kommunikationsraum war unverzichtbar, da die grundsätzliche Funktionsweise der Institution Krankenhaus in den Augen der Feministinnen Einsamkeit produzierte, die eine kollektive Verarbeitung des Traumas der Abtreibung unmöglich machte: „l’ospedale […] è un servizio pubblico che utilizziamo in solitudine. La donna che affronta l’aborto, il parto, è isolata in momenti traumatici della sua vita […]. Il funzionamento normale dell’istituzione per lei è oppressivo, sia negli ospedali fatiscenti che nelle cliniche attrezzate. l’oppressione deriva, in primo luogo, dalla totale impossibilità di controllare ciò che viene praticato sul suo corpo.“376 Außerdem eröffnete die Besetzung den Feministinnen die Möglichkeit, das Modell der autogestione in die Poliklinik zu übertragen: Versammlungen sollten als Orte kollektiver Entscheidungsfindung dienen, Wissen und Fähigkeiten sollten möglichst weitgehend sozialisiert werden und das autoritäre Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten sollte so auch innerhalb des Krankenhauses aufgebrochen werden. Rückblickend fassten sie ihre Absicht folgendermaßen zusammen: „[…] (I)l voler partire dalle esigenze delle donne e dalla esperienza di self-help ci ha condotto a tentare una autogestione che tendeva a scalzare il potere tecnico e decisionale dei medici e non solo a denunciarlo. […] La nostra lotta non riguardava solo problemi di gerarchie e di retribuzioni, ma esprimeva decisamente anche una volontà di riappropriazione del sapere da parte di lavoratrici subordinate nei confronti dei medici, e, per di più, presupponeva una socializzazione di esperienze fra le compagne del reparto e le donne che venivano ad abortire.“377

376 Donne, classe medica, potere politico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 4-6, hier: S. 6, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Das Krankenhaus […] ist eine Dienstleistung, die wir in Einsamkeit nutzen. Die Frau, die eine Abtreibung auf sich nimmt oder eine Geburt ist in den traumatischen Momenten ihres Lebens isoliert […]. Das normale Funktionieren der Institution ist für sie unterdrückend sowohl in den baufälligen Krankenhäusern wie auch in den gut ausgestatteten Kliniken. Die Unterdrückung rührt vor allem daher, dass es für sie völlig unmöglich ist, das zu kontrollieren, was mit ihrem Körper getan wird.“ 377 Donne, classe medica, potere politico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 4-6, hier S. 6, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „[…] (U)nser Wille, von den Bedürfnissen der Frauen und der Erfahrung des self-help auszugehen, hat uns dazu gebracht, eine autogestione zu versuchen, die dazu tendierte die technische Macht und die Entscheidungsgewalt der Ärzte nicht nur anzuprangern, sondern zu verdrängen. […] Unser Kampf betraf nicht nur Probleme im Hinblick auf die Hierarchien und die Entlohnung, sondern brachte auch mit großer Entschlossenheit den Willen auf Seiten der untergeordneten Arbeitskräfte gegenüber den Ärzten zum Ausdruck, sich das Wissen wieder anzueignen, und es setzte zudem die Vergesellschaftung der Erfahrungen zwischen den Genossinnen der Abteilung und den Frauen, die kamen, um abzutreiben, voraus.“

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Abb. 4.7 Versammlung in der besetzten Abtreibungsabteilung der Poliklinik im Sommer 1978.

Die Beteiligung des Collettivo Policlinico an der Besetzung betraf vor allem die Frauen des Kollektivs: Da es sich bei der Besetzung um eine reine Frauenaktion handelte, nahmen nur die weiblichen Angehörigen des Collettivo Policlinico unmittelbar an der Besetzung und der anschließenden Arbeit in der besetzten Abteilung Teil, während die männlichen Aktivisten des Collettivo nur von außen unterstützend eingriffen.378 Die Bereitschaft des Kollektivs, die Besetzung als reine Frauenaktion mitzutragen, verwies auf die in den letzten Jahren deutlich gewachsene Sensibilität innerhalb der römischen Autonomia Operaia, was den Geschlechterwiderspruch betraf. Viele der Frauen des Collettivo Policlinico begriffen sich selbst als Feministinnen und sahen in ihrem Kampf als Frauen keinerlei Widerspruch zur klassenkämpferischen Ausrichtung des Kollektivs als Ganzem.379 Auch die Aktivistinnen des Collettivo Policlinico wollten mit der Besetzung die Umsetzung der legge 194 forcieren, obwohl sie, wie große Teile der außerparlamentarischen Linken Italiens, auch Kritik an dem Gesetz übten. Zugleich deckte sich die antiautoritäre Medizinkritik des Kollektivs weitgehend mit jener der Feministinnen und so war die Generierung einer alternativen medizinischen Praxis in den besetzten Räumen ein gemeinsames Ziel: „[…] (V)ogliamo stravolgere con i nostri contenuti il concetto di una medicina da subire in una da vivere consapevolmente.“380 Darüber hinaus aber fügte sich die Besetzung für das Collettivo Policlinico in jenen Dauerkonflikt mit ‚Baronen‘, Krankenhausleitung und PCI ein, den das Kollektiv seit Jah-

378 Vgl. L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. 379 Vgl. Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 143-159, hier: S. 143. 380 Una occupazione autogestita dalle donne. Testimonianza di una compagna del Policlinico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 11, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „[…] (W)ir wollen mit unseren Inhalten die Vorstellung von einer zu erleidenden Medizin verwandeln in eine bewusst zu lebende Medizin.“

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ren führte. Die Besetzung diente aus dieser Perspektive nicht nur der Schaffung einer selbst verwalteten Abtreibungsabteilung, sondern auch der Skandalisierung des Leerstandes ganzer Abteilungen in der Poliklinik.381 Zugleich war die Besetzung für das Collettivo Policlinico aber auch eine direkte Aktion gegen den Klientelismus der ‚Barone‘ : Die leer stehende Abteilung war dem Kollektiv zufolge vom Chefarzt der zweiten gynäkologischen Klinik Luigi Carenza bewusst ‚freigehalten‘ worden, um hier eine Professur für einen Vertrauten einzurichten.382 Diese Machtspiele der ‚Barone‘ auf Kosten der Allgemeinheit waren durch die Besetzung durchkreuzt worden. Ergänzt wurde diese antiklientelistische Stoßrichtung der Besetzung durch einen weiteren Aspekt: Aus Sicht des Collettivo Policlinico war der Pflegekräftemangel im Zuge der Umsetzung der legge 194 nur ein Ausschnitt der grundsätzlichen personellen Unterversorgung der öffentlichen Krankenhäuser, gegen die das Kollektiv stets protestiert hatte. Im Kontext des Kampfes für Neueinstellungen hatte das Collettivo Policlinico die Forderungen von Pflegeschülern nach Übernahmegarantien ebenso unterstützt wie die Schaffung der liste di lotta, mit denen Arbeitslose um ihre Einstellung an der Poliklinik kämpften. Die liste di lotta waren dabei allerdings schnell zu einem Element im Hegemoniekampf mit dem PCI geworden: Der PCI besaß gute Verbindungen zu der in den Augen des Collettivo Policlinico korrupten römischen Arbeitsvermittlungsagentur und verfügte zugleich in Gestalt der ‚Leghe dei disoccupati‘ 383 über ein eigene Arbeitslosenorganisation.384 Aus Sicht des Collettivo Policlinico versuchte die kommunistische Partei die Bewerberlisten für Neueinstellungen an der Poliklinik im eigenen Sinne zu kontrollieren. Die liste di lotta als autonome Basisorganisation versuchten diese klientelistischen Manöver zu stören und die Arbeitslosen parteiunabhängig zu organisieren und waren den PCI-Funktionären an der Poliklinik deshalb ein Dorn im Auge.385 Durch die Einbeziehung von Aktivistinnen der Lista di lotta wurde die Besetzung der Abtreibungsabteilung unmittelbar zu einer Front des schwelenden Hegemoniekampfes zwischen PCI und Collettivo Policlinico im größten römischen Krankenhaus. Die Aktivistinnen der Lista di lotta dürften als vierte an der Besetzung beteiligte Gruppe ebenfalls über mehrere Zielsetzungen verfügt haben. In erster Linie handelte es sich bei den jungen Frauen um Arbeitslosenaktivistinnen, die mit der Besetzung Druck aufbauen wollten für ihre Einstellung in der personell unterversorgten Gynä-

381 Mit Erfolg, vgl. z.B. die Berichterstattung von La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 382 Vgl. La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 383 ‚Arbeitslosenbünde‘. 384 Vgl. Comitati Autonomi Operai/Collettivo Policlinico (Hg.) (1978): Chi sono i terroristi?, (S. 12ff.), in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78. Dass die negativen Einschätzungen des Collettivo Policlinico hinsichtlich der Arbeitsvermittlungsagentur nicht aus der Luft gegriffen waren, zeigte sich im Juni 1978, als 53 Personen wegen Korruption in der römischen Agentur für Arbeitsvermittlung angeklagt wurden. Von Arbeitslosen war die Zahlung von 25.000 bis 50.000 Lire verlangt worden, um sie bei der Vergabe von Stellenangeboten zu berücksichtigen, vgl. Il Messaggero vom 21.6.1978, S. 5. 385 Vgl. Comitati Autonomi Operai/Collettivo Policlinico (Hg.) (1978): Chi sono i terroristi?, (S. 12ff.), in: CDVV, Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78.

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kologie der Poliklinik.386 Bei diesen Neueinstellungen sollten die von den Arbeitslosen selbst organisierten Bewerberlisten berücksichtigt werden und nicht die Listen der staatlichen Arbeitsvermittlung, die im Rufe stand, ihre Vergabepraxis nach den politischen Interessen der Parteien auszurichten. Zugleich aber handelte es sich bei den 17 arbeitslosen Frauen, die den Betrieb der besetzten Abtreibungsabteilung gewährleisteten um politische Aktivistinnen: Die jungen Frauen auf der Lista di lotta rekrutierten sich aus diversen feministischen Stadtteilkollektiven und aus dem Umfeld des Collettivo Policlinico.387 Ihnen war die politische Durchsetzung des Abtreibungsrechts wohl ebenso wichtig wie die Aussicht auf eine Anstellung.388 Diese jungen arbeitslosen Frauen verfügten, egal ob sie aus feministischen Kollektiven stammten oder aus dem Umfeld des Collettivo Policlinico im Gegensatz zu den älteren bürgerlichen Feministinnen, die beispielsweise das consultorio von San Lorenzo aufgebaut hatten und ebenfalls in der Poliklinik aktiv waren, über einen eher proletarischen Hintergrund.389 Die jungen Frauen der Lista di lotta waren also nicht nur aufgrund ihrer Alterskohorte, sondern auch aufgrund ihres sozioökonomischen Hintergrundes eher der häufig prekär beschäftigten oder arbeitslosen Aktivistengeneration der ’77er zugehörig als den akademisch gebildeten ’68ern, aus denen sich die Mehrzahl der Feministinnen der ersten Stunde rekrutiert hatten.

386 Vgl. L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. 387 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 52:45 – 53:30, Ines Valanzuolo: „(Chi c’era sulla Lista di lotta?, M.H.) C’erano alcune, soltanto alcune, che poi facevano parte del nostro collettivo, perché la giovane infermiera [...] Rosaria per esempio faceva parte di questa Lista di lotta. Alcune erano persone che erano legate al Collettivo dell’Autonomia [...] - la maggioranza.“ „(Wer war auf der Lista di lotta?, M.H.) Es gab ein paar, nur einige, die dann zu unserem Kollektiv gehörten, denn die junge Krankenschwester […] Rosaria zum Beispiel war auf dieser Kampfliste. Einige waren Personen, die mit dem Kollektiv der Autonomia verbunden waren […] – die Mehrheit.“ Vgl. auch: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87, S. 1. 388 Donne, classe medica, potere politico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 4-6, hier: S. 5, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. Der Versuch, eine Anstellung an der Poliklinik durch den Schulterschluss mit dem Collettivo Policlinico und somit einer der bekanntesten Basisstrukturen der römischen Autonomia zu erkämpfen, war offensichtlich ein höchst konfliktuales Unterfangen, dessen Erfolgsaussichten im Sommer 1978 angesichts des repressiven Klimas nach der Entführung und Ermordung Aldo Moros nicht besonders groß erschienen. 389 Vgl. Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 1, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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3.3.3 Mediales Echo und politische Reaktionen Die Reaktion großer Teile der Presse auf die Besetzung in der Poliklinik war neutral bis verhalten positiv.390 Il Messaggero verkündete drei Tage nach der Besetzung das Funktionieren der neuen Abtreibungsabteilung und ging dabei auch auf die Umstände ein, unter denen die neue Abteilung funktionierte – dass nämlich das Gros des Pflegepersonals Arbeitslose waren, die sich selbst ‚eingestellt‘ hatten: „La possibilità e l’esigenza delle ‚auto-assunzioni‘ sono state provocate da una promessa non mantenuta. Una settimana fa la direzione sanitaria del Policlinico dichiarò che da lunedì, per poter applicare nelle migliori condizioni la legge sull’aborto il reparto in questione sarebbe stato aperto grazie all’entrata in servizio di 15 infermieri, 10 portantini e 2 ostetriche […]. Ma il personale non è arrivato né lunedì né i giorni successivi. Il ‚collettivo‘ ha deciso di forzare la situazione, anche perché convinto che ad assistere le donne che abortiscono debba andare personale particolarmente sensibilizzato a questo problema.“391 Das eher positive mediale Echo auf die Ereignisse an der Poliklinik war allerdings nicht ungetrübt. L’Unità rückte die Präsenz der Aktivistinnen von der Lista di lotta in den Mittelpunkt und kritisierte diese scharf: Falls sich die Gerüchte, dass krankenhausfremde Personen in der gynäkologischen Klinik am Werke seien, bestätigen sollten, müsse umgehend die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnehmen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.392 Real aber schien die Redaktion des kommunistischen Parteiorgans keinerlei Zweifel an der Präsenz und der Provenienz der ‚krankenhausfremden‘ Personen zu haben: „[…] (P)rotagonisti di questo ennesimo episodio di prepotenza sono esponenti del collettivo di via dei Volsci.“393 In dasselbe Horn stieß das Telegramm des PCIVertreters im Direktionskomitee der Poliklinik Giorgio Fusco an die Verantwortlichen: „‚[…] (P)rotesto energicamente per l’insufficiente iniziativa di codesta direzione tesa a impedire la presenza nella clinica di persone estranee […].‘“394 Angesichts der maßgeblichen Beteiligung des Collettivo Policlinico an der Besetzung

390 Vgl. Il Messaggero vom 24.6.1978, S. 4; Corriere della Sera vom 24.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158; La Repubblica vom 25./26.6.1978, S. 8. 391 Il Messaggero vom 24.6.1978, S. 4. „Die Möglichkeit und der Bedarf von ‚Selbsteinstellungen‘ wurden durch ein nicht eingehaltenes Versprechen geschaffen. Vor einer Woche hat die Gesundheitsdirektion der Poliklinik erklärt, dass ab Montag die fragliche Abteilung dank der Neueinstellung von 15 Pflegern, 10 Krankenträgern und 2 Hebammen eröffnet würde, um so das Abtreibungsgesetz unter besten Bedingungen umsetzen zu können. Aber das Personal kam weder am Montag, noch in den Tagen darauf. Das ‚Kollektiv‘ hat (daraufhin) beschlossen, die Situation aufzubrechen, auch weil es überzeugt war, dass jenes Personal, das die Frauen betreut, die abtreiben, im Hinblick auf dieses Problem besonders sensibilisiert sein muss.“ 392 Vgl. L’Unità vom 24.6.1978, S. 8. 393 L’Unità vom 24.6.1978, S. 8. „[…] (P)rotagonisten dieser x-ten Episode der Anmaßung sind Exponenten des Kollektivs der Via die Volsci.“ 394 Zitiert nach: L’Unità vom 24.6.1978, S. 8. „‚[…] (Ich) protestiere energisch gegen die mangelnde Initiative der Direktion, um die Präsenz fremder Personen in der Klinik zu unterbinden […].‘“

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der Abtreibungsabteilung konnte kein gutes Haar an der Initiative gelassen werden: „Sembrerebbe quasi che sia in atto un disegno tendente a creare all’interno della struttura (dell’ospedale, M.H.) […] una situazione di confusione o addirittura di paralisi.“395 Die Polemik des PCI blieb nicht unbeantwortet: Am 27. Juni 1978 verteilten Aktivisten des Collettivo Policlinico ein Flugblatt an ihrem Arbeitsplatz, auf dessen Rückseite sich der L’Unità-Artikel, versehen mit zahlreichen Kommentaren, befand. Der Kommentar zum oben zitierten Abschnitt fiel schlicht aus: „Ce ne vuole di coraggio a parlare di paralisi nell’unico ospedale dove il reparto-aborti funziona!!“396 Eine Spur ironischer, aber in der Sache ähnlich hart, war die Reaktion von Lotta Continua als wichtigster Tageszeitung der außerparlamentarischen Linken: Während noch vor ein paar Tagen die UDI die Präsenz der Feministinnen in der Poliklinik begrüßt hätten, sei in den Augen des PCI nun – wie seit dem bewegten Frühjahr 1977 des öfteren – wieder einmal ein ‚Komplott‘ im Gange. Während die Ärzte des PCI genau wie ihre christdemokratischen Kollegen die Teilnahme an Abtreibungen verweigerten, müssten sich die Feministinnen, die Aktivistinnen des Collettivo Policlinico und die Arbeitslosen von der Lista di lotta, die durch ihre Besetzung die Durchführung einer größeren Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen unter verbesserten Bedingungen ermöglicht hätten, nun vom Parteiorgan des PCI vorwerfen lassen, das Krankenhaus zu paralysieren.397 In der Folge der Besetzung und des Protesttelegramms des PCI-Funktionärs Fusco schlugen die Wellen hoch: Der Chefarzt der zweiten gynäkologischen Klinik Carenza, in dessen Haus sich die besetzte Abteilung befand, drohte seinen Posten zur Verfügung zu stellen, falls das Handeln klinikfremder Personen in der besetzten Abteilung nicht unterbunden würde, und der von Fusco der Untätigkeit gescholtene Gesundheitsdirektor Leoni tat es ihm gleich und drohte ebenfalls mit Rücktritt.398 Carenza berichtete gegenüber Pressevertretern, dass die Besetzerinnen ihn der Abteilung verwiesen hätten: „‚Ma lo sa che ieri mattina mi sono presentato e una ragazza, che non conosco, con un camicione bianco, m’ha detto di andarmene? […] E io dovrei essere penalmente responsabile di un settore che non controllo e da cui mi cacciano?‘“399 Doch es wurde rasch deutlich, dass es Carenza weniger um seine

395 L’Unità vom 24.6.1978, S. 8. „Es scheint fast so, als sei ein Plan am Werke, der darauf abzielt, innerhalb der Struktur (des Krankenhauses, M.H.) […] eine chaotische Situation oder sogar eine Paralyse zu schaffen.“ 396 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 27.6.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Es ist ganz schön mutig von Paralyse zu sprechen im einzigen Krankenhaus, wo die Abtreibungsabteilung funktioniert!!“ 397 Vgl. Lotta Continua vom 27.6.1978, S. 13. 398 Vgl. Il Messaggero vom 27.6.1978, S. 6. Carenza verwies bei seiner Rücktrittdrohung außerdem auch auf die strukturellen Probleme der gynäkologischen Kliniken am Poliklinikum, vgl. La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. 399 Zitiert nach: La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. „‚Wissen Sie, dass ich (dort) gestern früh vorstellig wurde und eine junge Frau, die ich nicht kenne, mit einem weißen Kittel mir sagte, dass ich gehen solle? […] Und ich sollte strafrechtlich verantwortlich für einen Sektor sein, den ich nicht kontrolliere und aus dem man mich vertreibt?‘“

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Verantwortung gegenüber den Patientinnen ging als um seinen Anspruch als Professor: „‚Vogliono ridurre l’università a lazzaretto per aborti? Bene, io non ci sto; me ne vado da direttore dell’istituto.‘“400 Für Carenza hatte die Poliklinik als Universitätskrankenhaus bestimmten Prioritäten zu folgen. Die Behandlung der Patienten stand dabei in seinen Augen nicht an oberster Stelle: „‚Il nostro compito è prima insegnare, poi ricercare […] e infine assistere.‘“401 Allerdings erzeugte Carenzas Drohung nicht überall die erhoffte Wirkung. Dr. Subrizi, einer der Gynäkologen, die in der besetzten Abteilung Schwangerschaftsabbrüche vornahmen, erklärte öffentlich, er halte einen Rücktritt Carenzas für wünschenswert: „‚Vuole dimettersi? Che fortuna, magari lo facesse davvero.‘“402 Für Subrizi stand fest, dass hinter Carenzas Entrüstung über die Besetzung auch handfeste eigene Interessen des Chefarztes mit den engen Kontakten zur DC standen:403 „‚[…] Carenza vorrebbe ora annettersi anche il reparto destinato ad aborti, facendone un’ala del suo istituto.‘“404 L’Unità als Parteiorgan des PCI entwickelte eine ganz eigene Lesart der Vorgänge an der Poliklinik: „Nella stessa trincea i baroni universitari e gli ‚autonomi‘“405, lautete die Unterüberschrift eines Artikels vom 27. Juni 1978. „‚Autonomi‘ da una parte quindi, con azioni arroganti e demagogiche, e baroni universitari, dall’altra si trovano alleati (e non è certo la prima volta) nella tenace opera di sabotaggio della legge.“406 Aus Sicht des PCI waren die Besetzerinnen der Abtreibungsabteilung und die ‚Barone‘ vom Schlage Carenzas gemeinsam Schuld an den Schwierigkeiten bei der Umsetzung der legge 194. Dass es um die Umsetzung des Gesetzes an den anderen römischen Krankenhäusern ohne die lästige Präsenz der Feministinnen und der ‚Autonomen‘ noch weitaus schlechter bestellt war, spielte ebensowenig eine Rolle für die Unità-Redakteure wie die Tatsache, dass Carenza und das Collettivo Policlinico offensichtlich Feinde und keineswegs Partner waren, wie die Unterüberschrift suggerierte. Der scheinbare Realitätsverlust des PCI Parteiorgans war tatsächlich aber wohl eher politisches Kalkül: Für den PCI war es im Zuge seiner Strategie der ‚nationalen Solidarität‘ unmöglich, den politischen Kampf um die Abtreibungsfrage als solchen auszufechten und sich damit frontal gegen die Democrazia Cristiana zu

400 Zitiert nach: La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. „‚Sie wollen die Universität in ein Lazarett für Abtreibungen verwandeln? Gut, ich werde nicht mitmachen. Ich trete als Direktor des Instituts zurück.‘“ 401 Zitiert nach: La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. „‚Unsere Aufgabe ist es zunächst zu lehren, dann zu forschen […] und zuletzt ärztlichen Beistand zu leisten.‘“ 402 Zitiert nach: La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. „‚Er will zurücktreten? Was für ein Glück, schön wär’s, wenn er es wirklich tun würde.‘“ 403 Vgl. La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. 404 Zitiert nach: La Repubblica vom 28.6.1978, S. 9. „‚[…] Carenza möchte sich nun auch die Abtreibungsabteilung einverleiben und sie zu einem Flügel seines Instituts machen.‘“ 405 L’Unità vom 27.6.1978, S. 11. „Im selben Schützengraben die Universitätsbarone und die ‚Autonomen‘“. 406 L’Unità vom 27.6.1978, S. 11. „‚Autonome‘ also mit arroganten und demagogischen Aktionen auf der einen Seite und Universitätsbarone, auf der anderen Seite finden sich geeint (und das nicht zum ersten Mal) in einer zähen Sabotageaktion gegen das Gesetz.“

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stellen.407 Stattdessen wurde in offensichtlicher Verleugnung der Realität der gute Wille aller demokratischen Kräfte vorausgesetzt, bestehendem Recht zur Geltung zu verhelfen. Probleme bei der Umsetzung der legge 194 konnten also nur Resultat einer Verschwörung dunkler Kräfte sein. Angesichts dieser Darstellung durch das PCIParteiorgan kochte die außerparlamentarische Linke vor Wut: „Ci sono cose che sembrano incredibili agli ingenui e noi dobbiamo avere addosso ancora una dose di ingenuità imperdonabile, perché ci meravigliamo e ci indigniamo dell’operazione indegna che sta conducendo L’Unità in merito alla lotta delle donne del Policlinico.“408 Auch die Feministinnen aus San Lorenzo sahen den PCI auf Seiten der ‚Barone‘ : „Questa situazione si è prestata a manovre di ‚normalizzazione‘ che hanno visto – trionfalmente uniti – PCI e primari, che per motivi diversi avevano intenzione a smantellare la nostra esperienza. Il PCI avrebbe preferito la presenza delle femministe, più neutre e apparentemente più ‚manovrabili‘ e non sopportava che fosse il Collettivo Autonomo, proprio un gruppo ben lontano dal PCI a far funzionare il reparto per l’applicazione della legge. Per noi femministe, d’altra parte, era assurdo pensare di dissociarci dal personale del Collettivo Autonomo […], nonostante l’invito esplicito di alcuni rappresentanti del PCI.“409 Nach der Besetzung und den Protesten Fuscos und Carenzas wurde die Krankenhausleitung umgehend aktiv und die zuvor unüberwindlichen bürokratischen Hindernisse schienen nun rasch ausräumbar: Umgehend wurden Pflegekräfte aus anderen Kliniken in die besetzte Abtreibungsabteilung transferiert und erklärt, dass innerhalb weniger Tage auch neue Krankenpfleger und Krankenträger eingestellt würden.410

407 So kam es, dass der Fraktionsvorsitzende des PCI im römischen Stadtrat Borgna Ende Juni 1978 trotz der offensichtlichen Obstruktion des neuen Abtreibungsgesetzes durch die DCSeilschaften im öffentlichen Gesundheitswesen und den Einfluss der Kirche keinerlei Konflikt sehen wollte, vgl. L’Unità vom 28.6.1978, S. 10: „Il compagno Borgna […] ha precisato che non esistono sul problema dell’aborto due fronti, uno abortista e l’altro antiabortista. Siamo tutti contro l’aborto […].“ „Der Genossen Borgna […] hat präzisiert, dass es in Hinblick auf das Problem der Abtreibung keine zwei Fronten gibt, eine für und eine gegen die Abtreibung. Wir sind alle gegen die Abtreibung […].“ 408 Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 10. „Es gibt Dinge, die den Arglosen unglaublich erscheinen und wir müssen noch ein unverzeihliches Maß an Gutgläubigkeit besitzen, denn wir wundern uns und entrüsten uns über die unwürdige Kampagne, welche L’Unità gegen den Kampf der Frauen an der Poliklinik führt.“ 409 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. „Diese Situation wurde für ‚Normalisierungs‘Manöver benutzt, im Zuge derer PCI und Chefärzte – die aufgrund unterschiedlicher Motive unsere Erfahrung beenden wollten – triumphierend geeint auftraten. Der PCI hätte die Präsenz der neutraleren und scheinbar leichter ‚beeinflussbaren‘ Feministinnen vorgezogen und ertrug es nicht, dass es gerade das Autonome Kollektiv war – eine Gruppe weit weg vom PCI –, die die Abteilung für die Umsetzung des Gesetzes zum Laufen brachte. Für uns Feministinnen auf der anderen Seite war es absurd darüber nachzudenken, uns vom Personal des Autonomen Kollektivs zu distanzieren […], obwohl wir von einigen Repräsentanten des PCI explizit dazu aufgefordert wurden.“ 410 Vgl. Il Messaggero vom 27.6.1978, S. 6; Il Messaggero vom 28.6.1978, S. 4.

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Doch der Schachzug der Krankenhausleitung, um die ‚krankenhausfremden‘ Arbeitslosenaktivistinnen überflüssig zu machen, zeigte nicht die gewünschte Wirkung. Am 26. Juni fand eine von den Besetzerinnen organisierte Versammlung mit über Hundert Teilnehmerinnen in der zweiten gynäkologischen Klinik statt.411 Dabei kam es zum Schulterschluss zwischen den acht kurzfristig von der Krankenhausleitung in die besetzte Abtreibungsabteilung versetzten Krankenschwestern und den Arbeitslosenaktivistinnen der Lista di lotta, die dort Dienst taten: Die Frauen teilten sich die Schichten auf und arbeiteten zukünftig Seite an Seite.412 Außerdem wurde im Zuge der Versammlung nochmals deutlich, dass es sowohl den betroffenen Frauen als auch den Besetzerinnen um mehr ging als um eine bloße Durchsetzung der Gesetzesbestimmungen: Das Trauma der Abtreibung sollte in der kollektiven Diskussion unter Frauen aufgearbeitet und zum Ausgangspunkt eines Selbstermächtigungsprozesses werden.413 Trotz der problemlosen Kooperation der entsandten Pflegekräfte und der Aktivistinnen spitzte sich die Situation rund um die Besetzung an der Poliklinik zu: Die Rücktrittsdrohung Professor Carenzas, das Protesttelegramm des PCI-Direktionsmitglieds Fusco und wohl nicht zuletzt die Attacken von L’Unità sorgten dafür, dass sowohl die Krankenhausleitung als auch die Staatsmacht den Druck auf die Besetzerinnen erhöhten.414 Während die Krankenhausleitung einen Ermittler entsandte, der in der besetzten Abteilung die Namen der anwesenden Frauen aufnahm und unverhohlen mit Räumung drohte,415 konzentrierten sich auch die Ermittlungen des stellvertretenden Staatsanwaltes Dell’Anno, die zunächst der allgemeinen Situation in der Gynäkologie der Poliklinik gegolten hatten, zunehmend auf die Besetzung der Abtreibungsabteilung und die Arbeit ‚krankenhausfremder‘ Personen.416 Im Kontext dieser Ermittlungen konnte auch die plötzliche Polizeipräsenz auf dem Gelände der Poliklinik gesehen werden: Ab dem 27. Juni war die Staatsgewalt mit drei gepanzerten Mannschaftswägen vor der zweiten gynäkologischen Klinik präsent.417 Die Besetzerinnen ließen sich von dieser Machtdemonstration jedoch nicht einschüchtern: Sie beschlossen ihre Intervention auch auf das Familienplanungszentrum der Poliklinik auszudehnen. In Zukunft wollten sie auch hier präsent sein, um zum einen den Kontakt mit jenen Frauen zu suchen, die sich dort das für eine Abtreibung notwendi-

411 Vgl. Foto von der Versammlung in: Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 1. 412 Vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 10. Zudem blieb fraglich, ob acht Krankenschwestern auch nur ansatzweise ausreichten, um den Personalmangel in der gynäkologischen Klinik auszugleichen, zumal gleichzeitig die neun in der Gynäkologie der Poliklinik angestellten Ordensschwestern drohten zum 1. Juli das Krankenhaus zu verlassen, falls die Abtreibungen fortgesetzt würden, vgl. Il Tempo vom 28.6.1978, S. 6. 413 Vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 10. 414 Vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 10. 415 Vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 10. 416 Vgl. Il Messaggero vom 27.6.1978, S. 6; L’Unità vom 28.6.1978, S. 10. 417 Vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 4; La Stampa vom 29.6.1978, S. 9.

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ge ärztliche Zertifikat ausstellen lassen wollten, und zum anderen Beratung in Sachen Verhütung geben.418 Derweil setzten L’Unità und Lotta Continua den politischen Konflikt zwischen der traditionellen und der Neuen Linken um die Besetzung in der Poliklinik in Form eines polemischen Schlagabtauschs fort. Die Frauenredaktion von Lotta Continua überschrieb einen Artikel zur Besetzung in der Poliklinik am 28. Juni „Ci siamo e ci restiamo”419 und widmete einige Fotos von einer Versammlung der Besetzerinnen den Redakteuren von L’Unità: „Come i redattori dell’Unità possono vedere non si tratta di quattordici ‚autonomi‘ maschi alla ricerca della solita provocazione […] ma di donne ben decise a fare valere i propri diritti nonostante i tre blindati che stazionano all’interno del Policlinico.“420 Das PCI-Organ reagierte mit einem Artikel unter der Überschrift „Ci sono e ci restano (bugiardi)”421 und warf der Redaktion von Lotta Continua Lüge vor: „‚Lotta Continua‘ tanto per cambiare, mente. La verità è che la presenza delle femministe è sì un fatto reale, ma rappresenta un episodio a se. La nuova sortita provocatoria degli ‚autonomi‘ di Via dei Volsci, invece, è un’altra cosa, gravissima quanto vera.“422 Lotta Continua zeige mit seiner verzerrten Darstellung nur ein weiteres Mal seine Unterstützung für den ‚partito armato‘.423 Lotta Continua antwortete im gleichen Stil: „Ce l’avete, e ve la tenete (la faccia tosta)“424 war der Antwortartikel am nächsten Tag überschrieben. Nochmals wurde auf jenes Faktum hingewiesen, das L’Unità weiterhin nicht wahrhaben wollte: Bei den vermeintlichen ‚Autonomen‘ von der Lista di lotta handelte es sich real ausschließlich um Frauen – von denen viele in feministischen Kollektiven aktiv waren.425 Die Trennung in ‚gute Feministinnen‘ und ‚böse Autonome‘ ließ sich also nur um den Preis der Wirklichkeitsverweigerung so klar aufrechterhalten. Tags darauf legte Lotta Continua nach: Die Frauen in der besetzten Abteilung hätten herzlich gelacht über die Unterstellung von L’Unità, sie un-

418 Vgl. Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 4; Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; L’Unità vom 13.8.1978, S. 11. 419 Lotta Continua vom 28.6.1977, S. 4. „Wir sind hier und wir bleiben hier“. 420 Lotta Continua vom 28.6.1977, S. 4. „Wie die Redakteure von L’Unità sehen können, handelt es sich nicht um vierzehn männliche ‚Autonome‘ auf der Suche nach der üblichen Provokation […], sondern um Frauen, die fest entschlossen sind, ihre Rechte durchzusetzen trotz der drei gepanzerten Mannschaftswägen, die auf dem Gelände der Poliklinik stehen.“ 421 L’Unità vom 29.6.1978, S. 10. „Sie sind und bleiben (Lügner)“. 422 L’Unità vom 29.6.1978, S. 10. „‚Lotta Continua‘ lügt zur Abwechslung. Die Wahrheit ist, dass die Präsenz der Feministinnen ein reales Faktum ist, aber diese stellt eine Episode für sich dar. Der neuerliche provozierende Auftritt der ‚Autonomen‘ der Via die Volsci hingegen ist eine andere ebenso schwerwiegende wie wahre Sache.“ 423 Vgl. L’Unità vom 29.6.1978, S. 10. ‚Bewaffnete Partei‘ – Synonym für die bewaffneten Gruppe, allen voran die BR. 424 Lotta Continua vom 30.6.1978, S. 5. „Ihr habt sie und ihr behaltet sie (die unverschämte Art)“. 425 Vgl. Lotta Continua vom 30.6.1978, S. 5.

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terstützten mit ihrem Handeln den ‚partito armato‘, und unter Anspielung auf ihre realen Tätigkeiten geantwortet: „Armate sì, ma di clistere!“426 Abschließend wurde auf die Motive hingewiesen, die aus Sicht der außerparlamentarischen Linken den Verzerrungen des Parteiorgans zugrunde lagen: „Ciò che vogliono salvare è l’immagine-simbolo della femminista, buona, pacifica, rispettosa delle situazioni e in ultima analisi d’accordo con il PCI. Quando la pratica delle femministe e delle donne in generale non si concilia con questa immagine, automaticamente si cambia sesso: si diventa maschi e per di più ‚autonomi‘.“427

3.3.4 Polizeiintervention Am 1. Juli ging die Staatsmacht in die Offensive: Vormittags erschienen etwa fünfzig Beamte der Polizei und der Carabinieri unter Führung des Vizepolizeipräsidenten Bassi und eines Vertreters der Krankenhausverwaltung in der zweiten gynäkologischen Klinik. Grundlage des Polizeieinsatzes war die Ortsbegehung des stellvertretenden Staatsanwaltes Dell’Anno einige Tage zuvor. Aufgrund der Darstellung Dell’Annos hatte der zuständige Ermittlungsrichter den Polizeieinsatz wegen des Verdachts auf ‚abuso di qualifica‘428 und ‚invasione di edificio pubblico‘429 angeordnet. Zunächst versuchte der Vizepolizeipräsident den Besetzerinnen klarzumachen, dass sie die Abteilung verlassen müssten. Diese jedoch weigerten sich und erklärten, dass die Abteilung ohne ihre Mitarbeit nicht funktionieren würde. Daraufhin kam es gegen 14 Uhr zur Polizeiintervention: Mit dem Ziel, die klinikfremden Personen festzunehmen, drangen die Beamten in die besetzte Abteilung ein. Es kam zu dramatischen Szenen, als die Polizeibeamten unter dem lautstarken Protest der anwesenden Frauen nicht nur in die Zimmer eindrangen, wo sich die Patientinnen nach dem Eingriff erholten, sondern auch in den Operationssaal, wo gerade eine Frau operiert wurde.430 Es entstand ein Handgemenge, in dessen Verlauf es den anwesenden Frauen gelang, die Polizisten aus dem Operationssaal zu drängen.431 Bei dem Polizeieinsatz wurden zehn Aktivistinnen der Lista di lotta festgenommen.

426 Lotta Continua vom 1.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Bewaffnet ja, aber mit Klistierspritzen“. 427 Lotta Continua vom 1.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Das was sie retten wollen, ist das Symbolbild der braven, friedlichen Feministin, die sich respektvoll verhält und in letzter Instanz mit dem PCI einverstanden ist. Wenn die Praxis der Feministinnen und der Frauen insgesamt nicht zu diesem Bild passt, wechselt automatisch das Geschlecht: Man wird männlich und was noch wichtiger ist ‚autonom‘.“ 428 Etwa: „Amtsanmaßung“. 429 Etwa: „Unerlaubtes Betreten öffentlicher Gebäude“. 430 Vgl. La Repubblica vom 2.7.1978, S. 5; Paese Sera vom 2.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 53, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 431 Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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Abb. 4.8 Eine Aktivistin der Lista di lotta wird im Sommer 1978 aus der besetzten Abtreibungsabteilung der Poliklinik abgeführt.

Gegen die Festgenommenen ergingen ebenso Anzeigen wie gegen die sieben weiteren Frauen, die sich auf der Arbeitslosenliste befanden, zum Zeitpunkt des Polizeieinsatzes aber nicht in der Abteilung waren.432 Das Collettivo Policlinico machte seinem Zorn über das Vorgehen der Staatsmacht wenig später in einem Flugblatt Luft: „50 carabinieri, che con spintoni ed offese portavano via le compagne fra lo stupore, la rabbia e le urla di 8 donne appena operate e dei loro parenti; commissari, funzionari dell’amministrazione, poliziotti che gironzolavano tra i letti declamando il loro disprezzo per chi aveva abortito…‚dopo aver goduto‘ …; il presidio della polizia; il fermo di 10 compagne che avevano l’unico torto di lavorare gratis […]. […] Che schifo!!!“433 Nach der Festnahme der Aktivistinnen der Lista di lotta wurde deutlich, dass die Versorgung der Patientinnen durch das Personal der Poliklinik keineswegs gewährleistet war, denn die Patientinnen in der besetzten Abteilung blieben allein zurück.434

432 Vgl. La Repubblica vom 2.7.1978, S. 5. 433 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 3.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „50 Carabinieri, die unter Stößen und Beleidigungen die Genossinnen wegbringen unter den erstaunten und wütenden Blicken und den Schreien von 8 gerade operierten Frauen und ihren Angehörigen. Kommissare, Verwaltungsfunktionäre und Polizisten, die zwischen den Betten herumstreifen und ihre Verachtung für diejenigen zum Ausdruck bringen, die abtreiben… ‚nachdem sie es genossen haben‘…; die Polizeipräsenz, die Festnahme von 10 Genossinnen, deren einziger Fehler darin bestand, kostenlos zu arbeiten […]. […] Pfui Teufel!!!“ 434 Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Lotta Continua vom 4.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 39, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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Die Verhafteten wurden zum Kommissariat von Porta Pia abtransportiert, wo ihre Personalien festgestellt wurden. Die Aktivistinnen kehrten daraufhin ohne Umwege in die Poliklinik zurück, wo sie von Patientinnen und herbeigeeilten Mitstreiterinnen mit Beifall begrüßt wurden und unterstützt von den Aktivistinnen des Collettivo Policlinico ihre Arbeit wieder aufnahmen.435 Gegenüber Pressevertretern erklärte eine Patientin: „‚Questa lotta è giusta, è fondamentale… anche se ho i figli voglio tornare qui con queste ragazze, perché io lo so che cosa vuole dire, ci sono passata […]. Se non c’erano loro forse qualcuna di noi si sarebbe sparata. […] La polizia le vuole mandare via, ma noi non le lasciamo andare piuttosto facciamo sequestro di persona!‘“436 Noch am Nachmittag desselben Tages konnten weitere Eingriffe in der besetzten Abteilung durchgeführt werden.437 In den folgenden Tagen kam es zu einer Reihe von Protestaktionen gegen die Polizeiintervention.438 Dabei wurden deutlich, dass die beteiligten Gruppen die Polizeiaktion unterschiedlich bewerteten. Aus Sicht des Collettivo Policlinico war das polizeiliche Vorgehen gegen die Besetzung nur eine Facette der allgemeinen Repression: „Compagni lavoratori, come era logico la tracotanza dell’Università, di Carenza, della magistratura […] non ha limiti […] e lo sgombero del reparto riattivato dai collettivi femministi e dai lavoratori del Policlinico per garantire l’aborto, è la naturale articolazione della criminalizzazione di ogni lotta, di ogni opposizione di classe.“439 Zudem aber gliederte sich das Tauziehen um die Besetzung

435 Vgl. L’Unità vom 2.7.1978, S. 10; Paese Sera vom 2.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 53, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Lotta Continua vom 4.7.1978, S. 13. 436 Zitiert nach: Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f. in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Dieser Kampf ist richtig, er ist grundlegend… auch wenn ich Kinder habe, möchte ich hierher zurückkommen, zu diesen jungen Frauen, denn ich weiß, was das bedeutet, ich habe es durchgemacht […]. Wenn sie nicht gewesen wären, hätte sich vielleicht eine von uns erschossen. Die Polizei will sie wegschicken, aber wir lassen sie nicht gehen, da entführen wir sie eher!‘“ 437 Vgl. L’Unità vom 2.7.1978, S. 10. 438 Bei einer Versammlung der Besetzerinnen am Montag den 3.7.1978 wurden drei Protestaktionen für die nächsten Tage beschlossen: Zunächst sollte direkt im Anschluss an die Versammlung dem stellvertretenden Staatsanwalt Dell’Anno, der laut Vizepolizeipräsident Bassi die Festnahmen in der Poliklinik vom Samstag veranlasst hatte, ein Besuch abgestattet werden. Tags darauf wurde eine Protestkundgebung vor dem Pio Istituto vereinbart, zu der auch andere feministische Aktivistinnen kommen sollten, die im Ospedale San Giovanni versuchten Frauen zu unterstützen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten. Als dritte Aktion beschlossen die Frauen am Donnerstag, den 6. Juli gemeinsam zu einer von der Regionalregierung veranstalteten Versammlung zu gehen, bei der über den Stand der Umsetzung der legge 194 einen Monat nach ihrem Inkrafttreten berichtet werden sollte, und dort gegen den Polizeieinsatz an der Poliklinik zu protestieren, vgl. Lotta Continua vom 4.7.1978, S. 13. 439 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 3.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Genossen Arbeitnehmer, wie zu erwarten, kennt die Anmaßung der Universität, Carenzas und der Justiz […] keine Grenzen […] und die Räumung der Abteilung, die von

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aus Sicht des Collettivo Policlinico in ein längerfristiges strategisches Manöver der Universität ein: die Rückeroberung der in den letzten Jahren deutlich eingeschränkten Macht der Universitätsleitung und der Professoren in dem Krankenhauskomplex mithilfe der Kontrolle der Neueinstellungen, die über das Bildungsministerium und nicht über das Pio Istituto als regionalem Träger der Poliklinik abgewickelt werden sollten.440 Aus Sicht der Feministinnen bildeten weniger die krankenhausinternen Machtkämpfe zwischen Universität und Pio Istituto oder die allgemeine Repression gegen die außerparlamentarische Linke den Hintergrund der Polizeiintervention als vielmehr die praktische Infragestellung des traditionellen Autoritarismus im Gesundheitssystem durch die Selbstorganisation der Frauen in der Abtreibungsabteilung: „C’è qualcos’altro che si vuole criminalizzare a tutti costi: la nostra volontà di controllare l’operato dell’istituzione sanitaria, di non delegare ad altri una ipotetica difesa dei nostri diritti, che per vie burocratiche dovrebbero essere sollecitate presso le varie direzioni e autorità. Le inadempienze nell’attuazione della legge sull’aborto non sono che lo specchio di una generale realtà oppressiva che esiste nelle istituzioni […]: ignoranza e prosopopea professionale dei medici, isolamento degli utenti di fronte ai tecnici e agli apparati, subordinazione delle loro esigenze di persone a interessi individuali di potere e, generali, di conservazione all’istituzione di una veste di autorità e di ,scientificità‘.“441 Für die Patientinnen, die zum Zeitpunkt der Polizeiintervention in der Abtreibungsabteilung gewesen waren, war nicht das ‚Warum‘ entscheidend, sondern die Tatsache der Polizeiintervention an sich ein Skandal: „,Quando sono state denunciate le condizioni in cui le donne partoriscono al reparto maternità […] non si è mai fatto vedere nessuno. Si apre oggi questo reparto per difendere un diritto delle donne, funziona perfettamente, ed allora compaiono i poliziotti. […] Noi donne vogliamo ribadire che secondo la nostra esperienza il funzionamento del reparto, pur nelle difficoltà in cui le ragazze sono costrette ad operare, corrisponde alle esigenze di tipo fisico e psicologico delle donne che si

den feministischen Kollektiven und den Arbeitnehmern der Poliklinik wiedereröffnet worden war, um die Abtreibungen zu garantieren, ist der natürliche Ausdruck der Kriminalisierung jedes Kampfes, jeder Klassenopposition.“ 440 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 3.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. 441 Offener Brief der Compagne del Policlinico an L’Unità, in: Lotta Continua vom 4.7.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. „Es ist etwas anderes, das um jeden Preis kriminalisiert werden soll, nämlich unser Wille, das Geschehen im Gesundheitssystem zu kontrollieren, unser Wille eine ohnehin hypothetische Verteidigung unserer Rechte, für die im Sinne der Bürokratie die verschiedenen Direktionen und Behörden zuständig sind, nicht mehr an andere zu delegieren. Die Mängel bei der Umsetzung des Abtreibungsgesetzes sind nichts anderes als ein Spiegelbild einer grundsätzlich unterdrückerischen Realität in den Institutionen […]: Ignoranz und professionelle Blasiertheit der Ärzte, Isolation der Benutzer im Angesicht der Techniker und der Apparate, Unterwerfung ihrer Bedürfnisse als Menschen unter individuelle Machtinteressen und, generell, unter die Wahrung des Anscheins von Autorität und ‚Wissenschaftlichkeit‘ der Institution.“

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sottopongono all’intervento di interruzione della gravidanza. […] Vogliamo che il lavoro di queste ragazze non sia interrotto con danno per loro e per noi.‘“442 Auch Dr. Marcelli, einer der Ärzte, die in der besetzten Abteilung Abtreibungen durchführten, zeigte gegenüber der Presse wenig Verständnis für das Vorgehen der Polizei. Aus seiner Sicht sprachen allerdings weniger politische als vielmehr praktische Gründe für eine vorläufige Duldung der Aktivistinnen in der Klinik: „‚Credo che si poteva evitare l’intervento delle polizia […]. È grazie alla presenza di queste ragazze se abbiamo potuto fare fino oggi circa 65 interventi. In lista d’attesa ci sono ancora 240 donne. Ho telefonato al direttore sanitario e al commissario per informarli che, poiché le donne ricoverate sono prive di assistenza, le femministe sono rientrate nel reparto. La direzione sanitaria mi ha inviato per questo pomeriggio due infermiere generiche. Ho bisogno invece di professioniste e di portantini che mi puliscono il reparto e la sala operatoria. Finché non arriva il personale necessario dovranno rimanere, altrimenti sarà impossibile andare avanti.‘“443

3.3.5 Besetzungsalltag und Konflikte der beteiligten Akteure In den folgenden Wochen und Monaten setzten die Aktivistinnen der besetzten Abtreibungsabteilung ihre Arbeit fort. Der Kontext blieb dabei weitgehend unverändert: Die Verweigerungsrate der Gynäkologen in Roms öffentlichen Krankenhäusern war extrem hoch und die Wartelisten sehr lang. Für Frauen, die sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschlossen hatten, war es so häufig schwierig, den Eingriff in-

442 Zitiert nach: Lotta Continua vom 4.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 39, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Als die Zustände angeprangert wurden, unter denen die Frauen in der Geburtsklinik ihre Kinder zur Welt bringen […], hat sich nie jemand blicken lassen. Man öffnet heute diese Abteilung, um ein Recht der Frauen zu verteidigen, es funktioniert perfekt und dann taucht die Polizei auf. […] Wir Frauen wollen unterstreichen, dass das Funktionieren der Abteilung unserer Erfahrung nach – trotz der Schwierigkeiten, unter denen die jungen Frauen zu arbeiten gezwungen sind – den physischen und psychologischen Bedürfnissen der Frauen entspricht, die sich dem Eingriff des Schwangerschaftsabbruchs unterziehen. […] Wir wollen, dass die Arbeit dieser jungen Frauen nicht zu ihrem und unserem Schaden unterbrochen wird.‘“ 443 Zitiert nach: Paese Sera vom 2.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 53, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Ich denke, dass der Polizeieinsatz vermeidbar gewesen wäre […]. Nur dank der Präsenz dieser jungen Frauen konnten wir bisher etwa 65 Eingriffe durchführen. Auf der Warteliste sind noch 240 Frauen. Ich habe den Gesundheitsdirektor und den Kommissar angerufen, um sie zu informieren, dass die Feministinnen wieder in die Abteilung hineingegangen sind, da die Patientinnen ohne Betreuung sind. Die Gesundheitsdirektion hat mir für heute Nachmittag zwei allgemeine Krankenschwestern geschickt. Ich aber brauche Fachkrankenschwestern und Krankenträger, die mir die Abteilung und den Operationssaal reinigen. Bis das notwendige Personal kommt, müssen sie bleiben, sonst wird es unmöglich sein weiterzumachen.‘“

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nerhalb der gesetzlichen Dreimonatsfrist hinter sich zu bringen.444 Die Poliklinik blieb so der wichtigste Anlaufpunkt in Rom für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten. Im Durchschnitt wurden im Sommer 1978 in der besetzten Abteilung sechs Abtreibungen pro Tag durchgeführt.445 Die Eingriffe wurden gewöhnlich von einem Arzt und einem Anästhesisten ausgeführt, die zu jener kleinen Gruppe von Medizinern in der Poliklinik gehörten, die auf eine Verweigerung verzichtet hatten.446 Dabei betonten die Besetzerinnen stets, dass die Funktion der Ärzte in der Abteilung auf die technische Seite der Eingriffe beschränkt war: „I medici […] avevano una presenza nel reparto esclusivamente tecnica, limitata all’intervento.“447 Die Ärzte waren zwar nicht von der Teilnahme an den Versammlungen ausgeschlossen, auf denen die Arbeit in der Abteilung kollektiv diskutiert und organisiert wurde, nahmen aber in der Mehrheit nicht an ihnen Teil: „Da parte loro – tranne che per alcuni – non c’era volontà di partecipare attivamente alla gestione complessiva del reparto.“448 Die nachhaltige Einschränkung der ärztlichen Macht brachte eine Auflösung jener klientelistischen Strukturen mit sich, die im römischen Gesundheitswesen an der Tagesordnung waren: „Noi controllavamo il loro lavoro e le liste d’attesa erano fatte da noi, e non succedeva quindi che i medici facessero passare avanti, come è prassi abituale, le loro clienti private.“449 Die 17 Aktivistinnen der Lista di lotta arbeiteten in regulären Schichten und kümmerten sich um die Aufgaben des Pflege- und Reinigungspersonals. Dabei wurden sie von den Aktivistinnen des Collettivo Policlinico unterstützt, soweit es deren reguläre Arbeitszeiten in der Poliklinik zuließen. Die Feministinnen aus dem Umfeld des consultorio von San Lorenzo hingegen übernahmen vor allem Aufgaben im Bereich der Information, Organisation und Kommunikation: Sie nahmen die Frauen in Empfang, die sich für eine Abtreibung anmelden wollten, besprachen deren Probleme und Fragen, trugen diese in die Wartelisten ein und informierten sie über sichere Verhütungsmethoden. Sie versuchten auch nach der Abtreibung, soweit dies möglich war, Kontakt mit ihnen zu halten, um sie bei der Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse zu unterstützen.450

444 Vgl. Il Messaggero vom 7.7.1978, S. 4. 445 Vgl. L’Unità vom 13.8.1978, S. 11. 446 Vgl. L’Unità vom 13.8.1978, S. 11. Zur Zahl der Ärzte an der Poliklinik, die bereit waren an Abtreibungen teilzunehmen, vgl. Il Messaggero vom 7.7.1978, S. 4. 447 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. „Die Ärzte […] hatten eine rein technische Präsenz in der Abteilung, die sich auf den Eingriff beschränkte.“ 448 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. „Von ihrer Seite gab es – bis auf einige Ausnahmen – keinen Willen, aktiv an der Gesamtorganisation der Abteilung mitzuwirken.“ 449 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. „Wir kontrollierten ihre Arbeit und die Wartelisten wurden von uns geführt und so geschah nicht, was sonst übliche Praxis ist, dass nämlich die Ärzte ihre Privatpatienten vorziehen.“ 450 Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f. in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; L’Occupazione al

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Abb. 4.9 Betroffene Frauen und Feministinnen bei einer Besprechung im Vorraum der gynäkologischen Klinik während der Besetzung der Abtreibungsabteilung. Im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift: „Besetzte Abteilung für Schwangerschaftsabbruch 2. Stockwerk“.

Gemeinsam versuchten die Besetzerinnen, das ins Werk zu setzen, was sie als „autogestione della salute“451 bezeichneten: eine andere Art zu arbeiten, die auf kollektiver Verantwortung durch basisdemokratische Entscheidungsfindung, maximaler Sozialisation des Expertinnenwissens und Auflösung der tradierten autoritären Rollenmuster zwischen Ärzten, Pflegerinnen und Patientinnen basierte.452 Auch im Rückblick sahen die Aktivistinnen in der gemeinsamen Selbstermächtigung in der und gegen die Institution Krankenhaus die Stärke der Besetzung: „Per noi c’è stata una valutazione non in termini economici, ma in termini di presa di potere.“453 In dieser Vorstellung von ‚Gegenmacht‘ verband sich die ohnehin institutionenkritische politische Herangehensweise der externen Feministinnen mit der antagonistischen Haltung des Collettivo Policlinico. Eine Feministin beschrieb ihre Radikalisierung im Zuge der Besetzung folgendermaßen: „‚l’esigenza di ‚contropotere‘ mi veniva comunicata anche dalle compagne interne al Policlinico, che da sempre combattono

Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. 451 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. „Selbstverwaltung der Gesundheit“ 452 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43ff.; Silvia Tozzi: Riflettendo un anno dopo, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 46f. 453 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 45. „Für uns gab es eine Würdigung, die sich nicht in ökonomischen Termini vollzog, sondern durch die Aneignung von Macht.“

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nell’istituzione, una micidiale macchina di potere capace di usare i pazienti prima di assisterli […].‘“454 Die acht von der Krankenhausleitung aus der orthopädischen Abteilung abgestellten Pflegerinnen scheinen sich hingegen nicht recht in die Abläufe der besetzten Abteilung eingefügt zu haben: Sie waren gegen ihren Willen versetzt worden und entwickelten wenig Begeisterung für ihre neue Aufgabe, stellten sich aber auch nicht gegen die Arbeit der Aktivistinnen.455 Die meisten Frauen, die in die Poliklinik kamen, um einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, stammten aus proletarischen Verhältnissen und kamen aus den römischen borgate in das größte Krankenhaus der Stadt. Hinzu kamen Frauen aus dem italienischen Süden, die meist wohl ebenfalls nur über geringe finanzielle Mittel verfügten und einen weiten Weg auf sich genommen hatten, da es in ihren Heimatorten trotz des neuen Gesetzes keine Möglichkeit gab, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.456 Frauen mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen entschieden sich angesichts der endlosen Wartelisten in den römischen Krankenhäusern nach wie vor häufig für eine Reise nach London, um dort abtreiben zu lassen. Die römischen Feministinnen schätzten sogar, dass die Zahl der Frauen, die im Ausland einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes noch angestiegen war: „‚Chi ha i soldi […] non accetta questo tormento. Rende, parte e va a Londra.‘“457 Die Konfliktlinien innerhalb der besetzten Abteilung können weitgehend auf zwei zentrale Achsen reduziert werden: Auf der einen Seite die Interaktion zwischen den Aktivistinnen und den Betroffenen und auf der anderen Seite das Verhältnis zwischen den verschiedenen beteiligten Aktivistinnengruppen. Das Verhältnis zwischen den Aktivistinnen und den betroffenen Frauen wurde, soweit dies ersichtlich ist, von beiden Seiten generell als gut erachtet.458 Für die Patientinnen war dabei vor allem das Verständnis von Seiten der Aktivistinnen für ihre Situation ausgesprochen wichtig: „‚Una cosa è trovarsi qui con una di queste

454 Zitiert nach: Lotta Continua vom 21.9.1978, S. 12. „‚Das Bedürfnis nach ‚Gegenmacht‘ wurde mir auch von den Genossinnen nahe gebracht, die in der Poliklinik arbeiteten, die schon immer in der Institution kämpfen, die eine mörderische Machtmaschine ist, der es gelingt die Patienten zu benutzen, noch bevor sie diese versorgt […].‘“ 455 Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 456 Vgl. L’Unità vom 13.8.1978, S. 11. 457 Zitiert nach: Il Messaggero vom 1.8.1978, S. 6. „‚Wer das Geld hat […] akzeptiert diese Quälerei nicht. Man packt die Koffer und fährt nach London.‘“ 458 Vgl. z.B. Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Ho lavorato al repartino. Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito della Magliana, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 8, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Dall’ottimismo all’angoscia. Testimonianza di una donna che ha abortito nel reparto occupato, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 9, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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ragazze, che ci capiscono, che hanno voglia di parlare con noi, che ci raccontano magari di avere abortito anche loro… altra cosa è trovarti di fronte una infermiera che non ha voglia di parlare con te, o che magari ti disprezza....‘“459 Häufig entwickelte sich eine zwischenmenschliche Nähe, die weit über das ‚gewöhnliche‘ Verhältnis von Pflegern und Patienten hinausging: Manche Patientinnen wünschten sich beispielsweise von einer der Aktivistinnen bei dem Eingriff begleitet zu werden.460 So entstanden zum Teil Freundschaften zwischen Aktivistinnen und Patientinnen. Manche der Betroffenen kamen nach ihrer Entlassung immer wieder in der besetzten Abteilung vorbei, um zu helfen oder sich mit den dort anwesenden Frauen zu unterhalten.461 Eine Patientin mit einem besonders harten persönlichen Schicksal arbeitete nach ihrer Entlassung wochenlang in der besetzten Abteilung mit. Sie begann sich langsam zu öffnen, erzählte im Kreise der anwesenden Frauen ihre Geschichte und bekam schließlich von einer der Aktivistinnen einen Job vermittelt, so dass sie in Zukunft endlich nicht mehr von Männern abhängig sein würde.462 Die Vorstellung der Aktivistinnen über das Verhältnis zu den betroffenen Frauen war klar: „Quando siamo entrate nel reparto […] sentivamo come […] urgente il bisogno di instaurare con le donne un rapporto diverso rispetto a quello che abbiamo sempre sperimentato in una istituzione sanitaria: atteggiamento passivo e fatalismo, bisogno di affidarsi ciecamente agli altri, delega agli altri dei propri problemi.“463 Aus Sicht der Aktivistinnen gab es jedoch auch einige Tendenzen, die das positive und gleichberechtigte Verhältnis zwischen Aktivistinnen und betroffenen Frauen beeinträchtigten: „Nonostante i nostri tentativi di essere considerate come donne anche noi potenzialmente utenti del servizio, eravamo spesso viste come persone che invece avevano il potere di elargire il servizio e che potevano quindi concederlo o

459 Zitiert nach: Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f. in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; vgl. auch: L’Unità vom 13.8.1978, S. 11. „‚Es ist eine Sache sich hier, mit diesen jungen Frauen zu befinden, die uns verstehen, die mit uns reden wollen, die uns erzählen, dass sie vielleicht auch abgetrieben haben…es ist etwas völlig anderes, sich einer Krankenschwester gegenüber zu sehen, die keine Lust hat mit dir zu reden oder die dich vielleicht verachtet….‘“ 460 Vgl. Ho lavorato al repartino. Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito della Magliana, S. 8, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 461 Vgl. Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, S. 7f., in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 462 Vgl. Di ospedale si muore, ma non sempre... Testimonianza di una compagna che ha partecipato all’occupazione, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 10, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 463 Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Als wir in die Abteilung reingingen […] spürten wir […] das dringende Bedürfnis, ein anderes Verhältnis zu den Frauen aufzubauen als jenes, das wir aus den Gesundheitsinstitutionen kannten: Passivität und Fatalismus, blindes Vertrauen in die anderen, Delegierung der eigenen Probleme an andere.“

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negarlo per meccanismi indipendenti dalla volontà e dal bisogno delle donne. Abituate a chiedere l’assistenza come un favore e non a pretenderlo come un diritto, le donne che chiedevano l’aborto spesso entravano nel reparto con una mentalità clientelare: alcune erano addirittura disposte a pagare pur di ottenere l’intervento prima delle altre.“464 Außerdem kam es entgegen ihrer Intention immer wieder vor, dass die Arbeitsbelastung der Aktivistinnen in der Abteilung so hoch war, dass sie sich gezwungen sahen, auf ausführliche Gespräche mit den betroffenen Frauen zu verzichten, um die Durchführung der vorgesehenen Operationen zu gewährleisten.465 Doch nicht nur hinsichtlich der Fürsorge für die Patientinnen kam es zu Engpässen und Problemen: Ein Teil der feministischen Aktivistinnen zeigte sich nach einer Weile von der hohen Arbeitsbelastung frustriert, die in ihren Augen keine Zeit für die kollektive Reflexion des eigenen Handelns mehr ließ. Als schließlich ein Teil der Feministinnen die Schwangerschaftsabbrüche zeitweise aussetzen wollte, um einen gemeinsamen Reflexionsprozess voranzutreiben, wies die Mehrheit dieses Ansinnen kategorisch zurück: „Mi sentivo rivoltare alla proposta di sospendere gli interventi per riflettere tra di noi. Mi sembrava che questo tipo di decisione fosse molto unilaterale, diretta solo a soddisfare i propri bisogni senza tener conto […] dei bisogni delle donne […].“466 Damit war der ursprüngliche Anspruch der Feministinnen von San Lorenzo, die Prozesse der gesellschaftlichen Intervention und der autocoscienza gleichberechtigt zu verbinden, angesichts der enormen Verantwortung, die sie durch die Teilnahme an der Besetzung auf sich genommen hatten, außer Kraft gesetzt.467

464 Zitiert nach: Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7f., hier S. 8, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Trotz unserer Versuche, als Frauen betrachtet zu werden, die potentiell selbst Benutzerinnen dieser Dienstleistung sind, wurden wir stattdessen oft als Personen gesehen, die die Macht hatten, diese Dienstleistung durchzuführen und die sie deshalb unabhängig vom Willen und den Bedürfnissen der Frauen bewilligen oder verweigern konnten. Da die Frauen daran gewöhnt sind, die Versorgung als Gefälligkeit zu erbitten und nicht als Recht einzufordern, kamen die Frauen, die abtreiben wollten, oft mit einer klientelistischen Mentalität in die Abteilung: Einige waren sogar bereit zu zahlen, um den Eingriff vor den anderen zu erhalten.“ 465 Vgl. Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7f., hier S. 8, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 466 Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7f., hier S. 7, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Mich ekelte der Vorschlag an, die Eingriffe auszusetzen, um unter uns zu reflektieren. Mir schien diese Art von Beschluss sehr einseitig und nur darauf zu zielen, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne […] den Bedürfnissen der Frauen […] Rechnung zu tragen.“ 467 Über potentielle Probleme der betroffenen Frauen mit den Aktivistinnen ist umgekehrt nichts in Erfahrung zu bringen, was nicht nur an den mangelnden Quellen, sondern wohl auch am asymmetrischen Verhältnis zwischen Aktivistinnen und Patientinnen lag: Ange-

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Das Verhältnis der Aktivistinnengruppen untereinander war wohl komplizierter und konfliktträchtiger als jenes zwischen Aktivistinnen und betroffenen Frauen. Vor allem die Beziehung zwischen den externen Feministinnen und den Aktivistinnen des Collettivo Policlinico war anfangs keineswegs einfach: Spätestens seit den Konflikten zwischen Feministinnen und Autonomia Operaia im Zuge des heißen Frühjahrs 1977 in Rom war das Verhältnis zwischen der feministischen Bewegung und der Autonomia als radikalstem Flügel der außerparlamentarischen Linken sehr angespannt. Vielen Feministinnen missfiel nicht nur die klassenkämpferische Linie der Autonomia, die in ihren Augen dem Geschlechterwiderspruch nicht die gebührende Bedeutung beimaß, sondern vor allem auch der handgreifliche Politikstil vieler AutonomiaAktivisten. Zu Beginn der Besetzung hatten viele Feministinnen daher Zweifel, ob die Kooperation tragfähig sein würde. Bald jedoch stellten sie erstaunt fest, dass die Zusammenarbeit gut funktionierte: „‚Dopo aver provato la violenza che c’è spesso durante certe manifestazioni e che passa anche nelle parole dette in assemblea o in quelle scritte, questo stare bene insieme mi ha quasi stupito: penso sia connesso al fatto di confrontarsi con un quotidiano di cui si scompongono momento per momento gli aspetti ideologici e repressivi.‘“468 Die alltägliche gemeinsame Arbeit strukturierte das Verhältnis nach einer anderen Logik als jener des ideologischen Konflikts: „‚[…] (Q)ui lavoriamo bene insieme; il confronto avviene nella pratica, senza ideologie, all’interno di rapporti più personalizzati […].‘“469 Im Zuge der praktischen Zusammenarbeit waren die Zuverlässigkeit der Aktivistinnen des Collettivo Policlinico und die klaren politischen Ziele, die sie formulierten, in den Augen mancher Feministin wichtiger als alle ideologischen Differenzen: „Io ho trovato in effetti più difficoltà nel rapporto con alcune compagne femministe che con quelle del Collettivo: la principale era la mancanza di chiarezza di molte compagne; che cosa si aspettavano dal lavoro nel reparto, che cosa volevano da se, dalle altre compagne e dal rapporto con le donne ricoverate.“470

sichts der chronischen Ineffizienz der römischen Krankenhäuser dürfte die Dankbarkeit der meisten Patientinnen recht groß gewesen sein. 468 Zitiert nach: Lotta Continua vom 21.9.1978, S. 12. „Nach der Erfahrung der Gewalt, die oft auf bestimmten Demonstrationen herrscht und die auch in die Worte eindringt, die in den Versammlungen gesagt oder die geschrieben werden, hat es mich fast überrascht, dass wir uns gut vertrugen: Ich denke, es hat mit dem Umstand zu tun, dass wir uns mit einem Alltag auseinandersetzen, von dem sich die ideologischen und repressiven Aspekte Augenblick für Augenblick ablösen.“ 469 Zitiert nach: Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚[…] (H)ier arbeiten wir gut zusammen. Die Auseinandersetzung erfolgt in der Praxis, ohne Ideologien, im Rahmen persönlicher Beziehungen […].‘“ 470 Il controllo è possibile? Testimonianza di una compagna del consultorio autogestito di San Lorenzo, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 7f., hier S. 7, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Ich habe tatsächlich größere Schwierigkeiten im Verhältnis zu einigen feministischen Genossinnen gehabt, als mit denen vom Kollektiv: Der Hauptgrund war der Mangel an Klarheit vieler Genossinnen darüber, was sie sich von

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Nach einer Weile erschienen manchen Feministinnen ihre anfänglichen Vorbehalte gegen die Aktivistinnen der Autonomia retrospektivisch als unbegründetes Vorurteil.471 Für andere Feministinnen jedoch, die sich der traditionellen Linken verbunden fühlten, blieb die Zusammenarbeit mit dem Collettivo Policlinico eine ausgesprochen schwierige Gratwanderung. Im Zentrum des Konflikts stand dabei der vom PCI stets als Klientelismus denunzierte Kampf der Lista di lotta-Aktivistinnen für ihre Anstellung in den Poliklinik, den das Collettivo Policlinico uneingeschränkt unterstützte.472 Für die Aktivistinnen des Collettivo Policlinico hingehen scheint die Zusammenarbeit mit den Feministinnen keine besondere Hürde dargestellt zu haben. Viele von ihnen begriffen sich selbst als Feministinnen, die es aber vorzogen, in ihrem gemischtgeschlechtlichen Betriebskollektiv zu arbeiten und den grundsätzlichen Separatismus vieler Feministinnen ablehnten.473 Vor allem aber hatten die Aktivistinnen des Collettivo Policlinico eine pragmatische Herangehensweise zu Fragen der politischen Zusammenarbeit, die in ihren Augen projektförmig und nicht ideologiebasiert war: „È su la pratica che ti misuri. […] Il confronto c’è stato. È chiaro la mediazione ci deve essere. Indubbiamente, noi con le integraliste femministe non c’avevamo molte cose in comune. […] Però ci dovevamo misurare su una cosa pratica.“474 So scheint auch der Separatismus im Zuge der Besetzung keine Hürde für eine Zusammenarbeit dargestellt zu haben. Im Gegensatz zu den Aktivistinnen des Collettivo Policlinico und den Feministinnen aus San Lorenzo verfügten die Frauen der Lista di lotta über keine gemeinsame politische Identität: Einige von ihnen stammten aus dem Umfeld der Autonomia Operaia, andere kamen aus feministischen Stadtteilkollektiven.475 Sie bildeten somit

der Arbeit in der Abteilung erwarteten, was sie von sich, von den anderen Genossinnen und von dem Verhältnis zu den Patientinnen wollten.“ 471 Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 472 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 55:30-56:10, Ines Valanzuolo: „Quella parte dell’occupazione [...] invece era costituita da persone che, magari giovani, avevano bisogno di lavoro, erano politicizzati et cetera. Quelle lì hanno veramente lavorato di più in questo senso. Tra noi la spaccatura è avvenuta tra chi le sosteneva [...] e tra altre come Ulla Tennenbaum per esempio, che è stata categorica. Ha detto subito: io con questa storia non ne voglio (avere niente a che fare) [...].“ „Dieser Teil der Besetzung […] bestand hingegen aus Personen, die vielleicht jung waren, eine Arbeit brauchten und politisiert waren etc. Diese Frauen haben in diesem Sinne wirklich mehr gearbeitet. Unter uns kam es zur Spaltung zwischen denen, die sie unterstützten […] und anderen wie zum Beispiel Ulla Tennenbaum, die kategorisch war. Sie sagte sofort: Ich will mit dieser Sache (nichts zu tun haben) […].“ 473 Vgl. Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 143-159, hier: S. 143. 474 Interview mit Graziella Bastelli vom 4.6.2009, 30:55-31:35. „Man misst sich an der Praxis. […] Es gab die Auseinandersetzung. Es ist klar, dass es eine Vermittlung braucht. Zweifellos hatten wir mit den fundamentalistischen Feministinnen wenig gemein. […] Aber wir mussten uns an einer praktischen Sache messen.“ 475 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 52:45 – 53:30, Ines Valanzuolo: „(Chi c’era sulla Lista di lotta?, M.H.) C’erano alcune,

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keinen eigenständigen politischen Pol innerhalb der Besetzung, obwohl ihre Präsenz in der öffentlichen Diskussion den wesentlichen Stein des Anstoßes bildete. Gemeinsamkeiten innerhalb dieser Gruppe ließen sich eher generationell und sozioökonomisch als politisch definieren: Die Arbeitslosenaktivistinnen waren allesamt jung und politisch aktiv, stammten aus eher einfachen Verhältnissen und suchten dringend Arbeit.476

3.3.6 Die Zuspitzung der Polemik Die Polemik gegen die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der Poliklinik von Seiten des PCI fand ihre Höhepunkte vor und nach dem Hochsommer 1978. Anfang Juli, nach der wirkungslosen Polizeiintervention gegen die Besetzerinnen, hatte L’Unità ein weiteres Mal versucht, die Besetzerinnen in ‚gute Feministinnen‘ und ‚böse Autonome‘ zu spalten. Zentraler Angriffspunkt war dabei einmal mehr die Arbeit der Aktivistinnen der Lista di lotta und ihre Forderung nach Einstellung an der Poliklinik gewesen. In den Augen der L’Unità-Redakteure war angesichts dieser Forderung offensichtlich, dass deren Arbeit in der Abtreibungsabteilung rein instrumentellen Charakter hatte: „[…] (E)merge subito quanto di strumentale si celi dietro un’opera che poteva, in un primo momento, apparire ‚generoso‘. E non è un caso che la manovra, ancora una volta, sia siglata dalle appartenenti al collettivo autonomo del Policlinico. […] Ciò che conta è essere assunti in nome di non si sa quale diritto e con la ‚pezza d’appoggio‘ di avere aiutato le donne ad abortire. Un bell’esempio di disinteresse! […] Detto questo resta da verificare la compattezza dei consensi che le posizioni del ‚collettivo autonomo‘ raccolgono intorno a sé. Tutte le donne che lavorano nel reparto ‚riaperto‘ del Policlinico se la sentono di sottoscriverle?”477 Das

soltanto alcune, che poi facevano parte del nostro collettivo, perché la giovane infermiera [...] Rosaria per esempio faceva parte di questa Lista di lotta. Alcune erano persone che erano legate al Collettivo dell’Autonomia [...] - la maggioranza.“ „(Wer war auf der Kampfliste?, M.H.) Es gab ein paar, nur ein paar, die dann an unserem Kollektiv teilnahmen, denn die junge Krankenschwester […] Rosaria zum Beispiel war auf dieser Kampfliste. Einige waren Personen, die mit dem Kollektiv der Autonomia verbunden waren […] – die Mehrheit.“; Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 1, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 476 Vgl. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini und Silvia Tozzi vom 10.6.2009, 55:30-56:00, Ines Valanzuolo: „Quella parte dell’occupazione [...] invece era costituita da persone che, magari giovani, avevano bisogno di lavoro, erano politicizzati et cetera. Quelle lì hanno veramente lavorato di più in questo senso.“; L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 43. „Jener Teil der Besetzung […] bestand hingegen aus Personen, die vielleicht jung waren, eine Arbeit brauchten und politisiert waren etc. Diese Frauen haben in diesem Sinne wirklich mehr gearbeitet.“ 477 L’Unità vom 6.7.1978, S. 10. „[…] (E)s wird rasch deutlich, wieviel Instrumentalisierung sich hinter einem Werk verbirgt, dass auf den ersten Blick großmütig erscheinen konnte.

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Collettivo Policlinico reagierte mit einem wütenden Flugblatt: „l’accusa più infamante di questo fogliaccio sedicente comunista è quella di ‚assunzioni clientelari e strumentali‘ che le compagne pretenderebbero. […] Ma ormai per questa gente la parola ‚lotta‘ è stata completamente cancellata per essere sostituita invece […] dal termine ‚sottogoverno‘.“478 Anschließend verwiesen die Aktivisten des Collettivo Policlinico auf PCI-Exponenten, die ihre gesamte Verwandtschaft in dem Krankenhaus unterbrachten. Als Beispiel diente der PCI-Aktivist Luciano Pecoraro, der über 12 Verwandte unter den Angestellten der Poliklinik verfügte.479 „E poi hanno pure la faccia tosta di parlare di clientelismo! Loro che dicono di essere il partito dalle mani pulite!“480 Nachdem die Polemik so Anfang Juli 1978 schon einen Höhepunkt erreicht hatte, war es fast verwunderlich, wie sich die Wogen im August vorübergehend glätteten. Mitte August erschien im Parteiorgan des PCI sogar ein Artikel von Francesca Raspini, der Sympathie mit den Besetzerinnen bekundete und ihre Arbeit würdigte.481 Doch Mitte September ging L’Unità erneut in die Offensive. Als die Besetzerinnen in der Poliklinik aufgrund der überlangen Warteliste beschlossen, vorerst keine neuen Anmeldung für Abtreibungen mehr zu akzeptieren, kommentierte das Blatt, die „Strategie der Sabotage“ des Collettivo Policlinico und die Obstruktion durch die ‚Barone‘ des Krankenhauses gingen Hand in Hand und hätten nun zur Einstellung der Abtreibungen geführt, was die betroffenen Frauen auszubaden hätten.482 Diesen Vorwurf wollten die Besetzerinnen freilich nicht stehen lassen. In einem Flugblatt erklärten sie ihre Sicht der Dinge: „[L]e compagne femministe e le lavoratici del Policlinico che da 3 mesi hanno aperto e autogestiscono il reparto di interruzione di gravidanza, sono state costrette, dalla drammatica situazione esistente ad attuare il blocco delle accettazioni. Non è più possibile per noi portare avanti un superlavoro di

Es ist kein Zufall, dass dieses Manöver einmal mehr die Handschrift der Mitglieder des autonomen Kollektivs der Poliklinik trägt. […] Alles was zählt, ist eingestellt zu werden im Namen irgendeines angeblichen Rechts und mit dem Verweis darauf, dass man den Frauen geholfen hat abzutreiben. Ein schönes Beispiel für Desinteresse! […] Das vorausgeschickt, bleibt abzuwarten, wie groß die Geschlossenheit der Zustimmung ist, die das ‚autonome Kollektiv‘ hinter sich vereinigen kann. Sind alle Frauen, die in der ‚wiedereröffneten‘ Abteilung arbeiten, bereit, die Position des Kollektivs zu unterschreiben?“ 478 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 14.7.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. „Der schändlichste Vorwurf dieses vorgeblich kommunistischen Blattes, ist derjenige der ‚klientelistischen und instrumentellen Einstellungen‘, die die Genossinnen angeblich verlangen. […] Aber inzwischen ist im Gedächtnis dieser Leute das Wort ‚Kampf‘ vollständig ausgelöscht und ersetzt worden durch den Begriff ‚Vetternwirtschaft‘.“ 479 Vgl. Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 14.7.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. 480 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 14.7.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. „Und dann haben sie die Unverschämtheit, von Klientelismus zu reden! Sie, die sagen, sie seien die Partei der sauberen Hände.“ 481 Vgl. L’Unità vom 13.8.1978, S. 11. 482 Vgl. L’Unità vom 17.9.1978, S. 10.

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15 interventi al giorno per compensare le carenze degli altri ospedali, ne lavorare con la totale mancanza di materiale di assistenza (cannule, medicinali, biancheria etc.) che ora ci porterebbe a non garantire il mimino di sicurezza alle donne. Tutto questo ormai da 3 mesi avviene con il totale menefreghismo della direzione Sanitaria, della Regione e dei Partiti Politici […] e con il provocatorio ‚interessamento‘ del piccì, unicamente teso a boicottare questa lotta portata avanti dalle donne.“483 L’Unità legte zwei Tage später nach: „Gravissima la decisione delle ‚autonome‘ e di alcune femministe di impedire gli interventi al Policlinico: ‚Siamo dalla parte delle donne‘, e bloccano gli aborti.“484 Nochmals setzte L’Unità die Obstruktion der legge 194 durch die Chefärzte mit der Aktion der Besetzerinnen gleich: „Che alla resa dei conti, Carenza e Crainz e le ‚autonome‘ abbiano ottenuto lo stesso risultato non è paradossale. Alla logica privatistica e corporativa dei due direttori hanno risposto con la stessa logica, anche se ‚colorata‘ diversamente.“485 Die FrauenRedaktion von Lotta Continua verwies tags darauf auf die inkohärente Argumentation des PCI-Parteiorgans: Wie konnte ein Blatt, das von Anfang an gegen die Besetzung der Abtreibungsabteilung Stimmung gemacht hatte, nun empört darüber sein, dass die Aktivistinnen ihre Arbeit angeblich einstellten? „Davvero ci saremmo aspettate un titolo diverso, in tono con la campagna stampa che da mesi conduce. Ad esempio ‚Liberato il Policlinico da vandali e teppisti...‘ […].“486 Stattdessen würde die angebliche Schließung der Abteilung nun ebenso skandalisiert wie zuvor ihre Eröffnung. Noch schlimmer als diese denunziatorische Interpretation des Geschehens

483 Vgl. Flugblatt der Compagne che occupano il reparto und des Collettivo Policlinico vom 18.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 42, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „[D]ie feministischen Genossinnen und die Arbeitnehmer der Poliklinik, die seit drei Monaten die von ihnen eingerichtete Abteilung für Schwangerschaftsabbruch in Selbstverwaltung organisieren, wurden durch die bestehende dramatische Situation gezwungen, einen Aufnahmestopp zu erlassen. Es ist uns weder möglich, weiterhin mit einer extremen Arbeitsbelastung von 15 Eingriffen pro Tag die Versäumnisse der anderen Krankenhäuser auszugleichen noch angesichts des totalen Mangels an nötigem Material (Kanülen, Arzneimittel, Bettwäsche etc.) weiterzuarbeiten, der dazu führen würde, den Frauen nicht einmal mehr ein Minimum an Sicherheit zu garantieren. All das vollzieht sich seit mittlerweile drei Monaten und ist der Gesundheitsdirektion, der Region und den politischen Parteien vollkommen gleichgültig […] und wird vom PCI mit provozierender ‚Anteilnahme‘ begleitet, die nur darauf abzielt, diesen Kampf der Frauen zu behindern.“ 484 L’Unità vom 20.9.1978, S. 10. „Sehr schwerwiegende Entscheidung der ‚Autonomen‘ und einiger Feministinnen, die Eingriffe in der Poliklinik zu verhindern: ‚Wir sind auf der Seite der Frauen‘ und blockieren die Abtreibungen.“ 485 L’Unità vom 20.9.1978, S. 10. „Dass am Ende Carenza und Crainz und die ‚Autonomen‘ das gleiche Resultat erzielt haben, ist nicht paradox. Auf die privatistische und korporative Logik der beiden Direktoren haben sie mit derselben Logik geantwortet, auch wenn sie die anders ‚eingefärbt‘ haben.“ 486 Lotta Continua vom 21.9.1978, S. 12. „Wir hätten uns wahrlich einen anderen Titel erwartet, der zu der Pressekampagne passt, die seit Monaten läuft. Zum Beispiel ‚Poliklinik von Vandalen und Rowdys befreit…‘ […].“

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war aus Sicht der Lotta Continua-Redakteurinnen jedoch der Rückgriff von L’Unità auf eine Lüge: „Infatti le compagne non hanno mai interrotto gli interventi (in questi giorni gli aborti sono proseguiti regolarmente con i ritmi serrati che conosciamo) è stata bloccata invece l’accettazione (la lista è già completa sino al 15 ottobre) […].“487 Tatsächlich habe nur einer der Ärzte, Dr. Marcelli, seine Arbeit in der Abtreibungsabteilung abgebrochen.488 Nach einem Protestbrief der Feministinnen aus San Lorenzo sah sich die L’Unità-Redaktion gezwungen einzugestehen, dass in der Poliklinik nur die Neuanmeldungen, nie aber die Abtreibungen selbst ausgesetzt worden waren.489 Dieses Eingeständnis zwang das Blatt aber keineswegs von seiner Kernthese abzurücken, dass nämlich die Aktivistinnen der Autonomia an der Poliklinik eine Erpressungsstrategie auf dem Rücken der betroffenen Frauen betrieben.490

3.3.7 Das Ende der Besetzung Während der publizistische Schlagabtausch über die Besetzung an der Poliklinik noch in vollem Gange war, drangen am Montag, den 25. September gegen sieben Uhr morgens Polizeikräfte in die besetzte Abteilung ein. Die Beamten räumten auf Geheiß der Krankenhausleitung drei unlängst neu besetzte Räume, die zuvor leer gestanden hatten und die den Besetzerinnen als Wartezimmer, Besucherraum, Versammlungsort und Informationszentrum für Verhütung gedient hatten. Anschließend begannen sie, die Arbeit in der Abteilung zu ‚überwachen‘ und patrouillierten Knüppel schwingend auf den Gängen.491 Die Besetzerinnen beschlossen daraufhin, angesichts der Polizeipräsenz die Arbeit in der Abteilung auszusetzen und vorerst keine Abtreibungen mehr durchzuführen.492 Die Patientinnen besetzten daraufhin vorübergehend die Räume der Krankenhausdirektion, um gegen deren Vorgehen zu protestieren.493 Am nächsten Morgen zogen die Besetzerinnen zu einer Sitzung, bei der Universitätsrektor Ruberti und Gesundheitsassessor Ranalli anwesend waren, um dort gegen die Polizeipräsenz in der Poliklinik zu protestieren.494 Während sich nur eine Handvoll Frauen in der besetzen Abteilung aufhielt, bekamen die Einsatzkräfte in der Poliklinik Verstärkung und erhielten den Befehl, die besetzte Abteilung insge-

487 Lotta Continua vom 21.9.1978, S. 12. „Tatsächlich haben die Genossinnen die Eingriffe nie unterbrochen (in diesen Tagen sind die Abtreibungen ganz regulär in jenem schnellen Rhythmus weitergegangen, den wir kennen), ausgesetzt wurde hingegen die Aufnahme (die Warteliste ist schon bis zum 15. Oktober voll) […].“ 488 Vgl. Lotta Continua vom 21.9.1978, S. 12. 489 Vgl. L’Unità vom 26.9.1978, S. 10; Lotta Continua vom 27.9.1978, S. 12. 490 Vgl. L’Unità vom 26.9.1978, S. 10. 491 Vgl. Lotta Continua vom 26.9.1978, S. 12; Il Messaggero vom 27.9.1978, S. 6. 492 Vgl. Il Messaggero vom 27.9.1978, S. 6. 493 Vgl. Lotta Continua vom 26.9.1978, S. 12. 494 Vgl. Lotta Continua vom 27.9.1978, S. 12; Lotta Continua vom 30.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 51, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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samt zu räumen.495 Im Zuge der Aktion wurden fünf Personen festgenommen und eine Frau wegen Widerstand und Beamtenbeleidigung verhaftet.496 Die Polizei blieb von nun an in der Abteilung präsent, um eine Wiederbesetzung zu verhindern. Als die Nachricht von der Räumung bekannt wurde, versammelten sich schnell zahlreiche Aktivistinnen vor der gynäkologischen Klinik.497 In einem Kommuniqué erklärten die Aktivistinnen: „‚Tutte le forze politiche, PCI in testa, non possono sopportare che il Policlinico funzioni con il controllo diretto delle donne.‘“498 Sie forderten die Einstellung der Aktivistinnen der Lista di lotta und die Bereitstellung des nötigen medizinischen Materials, um die Arbeit der besetzten Abteilung fortsetzen zu können.499 Um der Forderung nach Einstellung der Aktivistinnen der Lista di lotta Nachdruck zu verleihen und die Verantwortlichen zum Abzug der Polizei zu zwingen, forderte das Collettivo Policlinico alle Angestellten der Poliklinik auf, ihren Dienst in der von der Polizei kontrollierten Abtreibungsabteilung zu verweigern.500 Derweil stand die Arbeit in der Abtreibungsabteilung still. Zwar hatte Rektor Ruberti versprochen, nach der ‚Normalisierung‘ der Situation würden mehr Abtreibungen in der Abteilung durchgeführt als zuvor, doch real fehlte nun das nötige Personal. 501 Das Collettivo Policlinico kündigte angesichts dieser Situation an, die für die Räumung Verantwortlichen ihrerseits wegen ‚interruzione di pubblico servizio‘502 anzuzeigen.503 Hintergrund der Räumung war eine Beschwerde des Gynäkologen Dr. Marcelli. Dieser hatte sich am Morgen des 26. September an die zuständigen Autoritäten gewandt, als er operieren wollte, aber die Besetzerinnen angesichts der Polizeipräsenz

495 Vgl. Lotta Continua vom 27.9.1978, S. 12; Corriere della Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 49, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 496 Vgl. Il Messaggero vom 27.9.1978, S. 6. Die Verhaftete wurde kurz darauf in einem Schnellverfahren zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, vgl. Compagne del reparto ex occupato del Policlinico: Donne in lotta (November 1978), in: Privatarchiv von Graziella Bastelli, S. 1. 497 Vgl. Lotta Continua vom 27.9.1978, S. 12. 498 Zitiert nach: Corriere della Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 49, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Alle politischen Kräften, allen voran der PCI, ertragen es nicht, dass die Poliklinik unter der direkten Kontrolle der Frauen funktioniert.‘“ 499 Vgl. Corriere della Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 49, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 500 Vgl. Paese Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 46, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Paese Sera vom 28.9.1978, S. 11. 501 Vgl. Paese Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 46, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Lotta Continua vom 27.9.1978, S. 12. 502 „Unterbrechung einer öffentlichen Dienstleistung“. 503 Vgl. Paese Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 46, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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in der Abteilung nicht bereit waren, ihre Arbeit fortzusetzen.504 Daraufhin hatten der Universitätsrektor Ruberti und der Gesundheitsassessors Ranalli den Polizeieinsatz wegen ‚interruzione di pubblico servizio‘ veranlasst.505 Warum gerade Dr. Marcelli, der von Beginn an in der Abtreibungsabteilung gearbeitet hatte nun den Anstoß zur Räumung gab, konnte nur gemutmaßt werden. Für Lotta Continua stand fest, dass Marcelli die ganze Zeit über vor allem sein eigenes Interesse im Auge gehabt hatte: „[…] Marcelli […] ha dapprima usato il lavoro delle compagne […] per diventare capo-reparto, ma ora che il lavoro è avviato […] vorebbe sostituire queste donne scomode con personale ‚normale‘.“506 Dass es bei den wachsenden Spannungen zwischen Marcelli und den Aktivistinnen tatsächlich nicht zuletzt um Stellung und Autorität des Abteilungsleiters gegangen war, bestätigte auch sein Kollege Dr. Subrizi: „‚Debbo dire che io ho lavorato e lavoro bene, insieme con queste ragazze. Senza di loro, a mio avviso, al Policlinico non si sarebbe fatto proprio niente. Tuttavia, negli ultimi tempi forse hanno un po’ esagerato. In un certo senso, volevano creare un ‚momento rivoluzionario‘ dentro un’istituzione. Non volevano un capo reparto, per esempio. Ma come si fa?‘“507 Aus Sicht der linken Bewegung ging es bei der Polizeiintervention um weit mehr als um den verletzten Stolz eines Arztes: „Marcelli […] è solo l’ultimo personaggio di una catena che passando per L’Unità e i suoi articoli terroristici sul Policlinico, arriva fino a Ruberti e a Ranalli […].“508 Tatsächlich scheint den Verantwortlichen die Präsenz der Aktivistinnen der Lista di lotta angesichts ihrer immer drängenderen Forderung nach Einstellung zunehmend lästig geworden zu sein, zumal diese, gemeinsam mit ihren feministischen Genossinnen in der letzten Zeit versucht hatten, ihren Einfluss, ausgehend von der Abtreibungsabteilung, auf alle Sphären der Frauengesundheit in der Poliklinik auszudehnen und unter anderem auch in der Geburtsabteilung Fuß zu fassen.509 Am nächsten Tag wurde bei einer Versammlung der feministischen Aktivistinnen, der betroffenen Frauen und der interessierten Angestellten der Poliklinik bekannt, dass alle bislang von der Poliklinik in die Abtreibungsabteilung entsandten

504 Vgl. Paese Sera vom 28.9.1978, S. 11; Lotta Continua vom 30.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 51, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 505 Vgl. Lotta Continua vom 26.9.1978, S. 12; Paese Sera vom 28.9.1978, S. 11. 506 Lotta Continua vom 26.9.1978, S. 12. „[…] Marcelli […] hat anfangs versucht, die Arbeit der Genossinnen zu benutzen […] um Stationschef zu werden, aber nun, da die Arbeit angelaufen ist […] möchte er diese unbequemen Frauen durch ‚normales‘ Personal ersetzen.“ 507 Zitiert nach: La Repubblica vom 28.9.1978, S. 7. „‚Ich muss sagen, dass ich gut mit diesen jungen Frauen gearbeitet habe und arbeite. Ohne sie wäre meiner Ansicht nach an der Poliklinik gar nichts passiert. Dennoch haben sie in der letzten Zeit vielleicht etwas übertrieben. Auf gewisse Weise wollten sie in einer Institution einen ‚revolutionären Moment‘ schaffen. Sie wollten beispielsweise keinen Stationschef. Wie soll das gehen?‘“ 508 Lotta Continua vom 26.9.1978, S. 12. „Marcelli […] ist nur das letzte Glied einer Kette, die über L’Unità und ihre terroristischen Artikel über die Poliklinik bis zu Ruberti und Ranalli reicht […].“ 509 Vgl. Lotta Continua vom 26.9.1978, S. 12; La Repubblica vom 28.9.1978, S. 7; Lotta Continua vom 28.9.1978, S. 12.

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Pflegekräfte mit Ausnahme einer Hebamme angesichts der polizeilichen Räumung ihre Mitarbeit verweigern wollten.510 Im Anschluss an die Versammlung zogen die Beteiligten in einem Demonstrationszug durch die Poliklinik, um gegen die Räumung der besetzten Abteilung zu protestieren und bezogen daraufhin wieder Stellung vor dem Eingang der gynäkologischen Klinik, wo sie ankündigten, vor der Klinik zu bleiben, bis die Polizei abziehen würde.511 Derweil versuchte Dr. Marcelli unter Beweis zu stellen, dass die Abtreibungsabteilung auch ohne die Präsenz der externen Aktivistinnen funktionierte. Sieben Frauen wurden am ersten Tag nach der Räumung aufgenommen, wobei die Feministinnen sofort anmerkten, dass nur eine davon von der Warteliste stammte, und fragten, woher die anderen sechs kämen und nach welchen Kriterien sie aufgenommen worden seien.512 Während L’Unità diese Nachricht begrüßte und behauptete, es seien sieben Abtreibungen vorgenommen worden, berichtete La Repubblica, dass nur drei Eingriffe durchgeführt worden waren und erklärte, dass so die Zahl der Operationen auf weniger als ein Drittel der zuvor durchgeführten Eingriffe gesunken sei. Zudem verwies das Blatt darauf, dass nun auch wieder die veraltete Ausschabmethode Anwendung fände, da das Krankenhaus immer noch nicht über das nötige technische Gerät verfüge, um die Absaugmethode anzuwenden.513 Da auch für den nächsten Tag jeweils nur 3 Eingriffe angesetzt waren, sei zudem absehbar, dass die existierende Warteliste nicht eingehalten werden könnte.514 Die Verantwortlichen ihrerseits erklärten, eine Auslastung der Abtreibungsabteilung sei unter den bestehenden Bedingungen unmöglich und begannen die leeren Betten mit Schwangeren zu belegen. Auch Teile der PCI-nahen Presse konnten angesichts dieser Situation nicht umhin anzuerkennen, dass sich die Lage in der Poliklinik aus Sicht der betroffenen Frauen in den letzten Tagen nachhaltig verschlechtert hatte. Die Ursache dafür lag aus ihrer Sicht aber freilich nicht in der Räumung der Aktivistinnen, sondern in der Blockadehaltung des Collettivo Policlinico:515 „Il […] fatto più grave è che il Policlinico, fino a ieri l’ospedale più organizzato e più disponibile a venire incontro alle esigenze delle donne […] è oggi completamente bloccato dagli autonomi

510 Vgl. Lotta Continua vom 28.9.1978, S. 12. Konkret hieß das, dass die versetzten Pflegerinnen und Pfleger einen Antrag auf Versetzung in andere Abteilungen stellten und ihre Mitarbeit auf die Ausführung jener Aufgaben beschränkten, für die sie eigentlich qualifiziert waren – was in der Poliklinik immer nur ein Bruchteil jener Aufgaben war, die das Personal zu verrichten hatte und somit eine Art Bummelstreik bedeutete. L’Unità berichtete daraufhin, die Verweigerung des Personals sei das Resultat von Einschüchterung und Drohungen von Seiten des Collettivo Policlinico, vgl. L’Unità vom 28.9.1978, S. 10. 511 Vgl. Lotta Continua vom 28.9.1978, S. 12. 512 Vgl. Lotta Continua vom 28.9.1978, S. 12. 513 Vgl. La Repubblica vom 28.9.1978, S. 7. Die Feministinnen hatten im Zuge der Räumung die von ihnen gestellten medizinischen Geräte mitgenommen, was ihnen prompt den Vorwurf des Diebstahls einbrachte, vgl. La Repubblica vom 28.9.1978, S. 7. 514 Vgl. La Repubblica vom 28.9.1978, S. 7. 515 Vgl. Paese Sera vom 28.9.1978, S. 11.

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[…].“516 Am Mittwochnachmittag, dem zweiten Tag nach der Räumung, spitzte sich die Situation noch weiter zu: Während Dr. Marcelli in der von der Polizei besetzten Abteilung arbeitete, verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf seine Privatpraxis in der römischen Innenstadt, bei dem geringer Sachschaden entstand. Marcelli setzte seine Arbeit daraufhin vorübergehend aus, um sie am nächsten Tag nach Solidaritätsbekundungen von Kollegen und Vorgesetzten wieder aufzunehmen.517 In den nächsten Tagen setzte sich der Konflikt mit kaum verminderter Intensität fort: Die Aktivistinnen verstetigten ihren Protest vor der gynäkologischen Klinik und die Polizeikräfte blieben vor und in der Klinik präsent, um ein Eindringen ‚Unbefugter‘ zu verhindern. Ein Angebot der Krankenhausleitung an die Feministinnen, das vorsah, dass fünf von ihnen in der Abtreibungsabteilung mitarbeiten könnten, wurde abgelehnt. Die Aktivistinnen wollten sich weder in ‚gute Feministinnen‘ und ‚böse Autonome‘ spalten lassen noch als Feigenblatt für die Restaurierung der ärztlichen Macht in der Abteilung dienen. Zugleich wuchs die Solidarität mit den geräumten Besetzerinnen in Teilen der feministischen Bewegung: Es wurden Versammlung im besetzten feministischen Zentrum in der Via del Governo Vecchio und in verschiedenen römischen Stadtteilen einberufen, bei denen über die Räumung der Abtreibungsabteilung in der Poliklinik und die Perspektive im Kampf um das Recht auf Abtreibung debattiert wurde.518 Am Samstag, den 30. September versammelten sich die Aktivistinnen und ihre Unterstützer in der Poliklinik und zogen von dort aus zum Justizpalast, um gemeinsam eine Anzeige wegen ‚interruzione di pubblico servizio‘ und anderer Straftatbestände gegen die Leitung der Poliklinik einzureichen.519 Zwei Tage später versammelten sich wiederum zahlreiche Feministinnen für eine Protestdemonstration in der Poliklinik.520 An der konkreten Situation änderten diese Aktionen allerdings wenig. Anfang Oktober protestierte das Collettivo Policlinico mit einem Flugblatt erneut in scharfem Ton gegen die andauernde Polizeipräsenz in der gynäkologischen Klinik: „La polizia armata staziona nelle corsie di Ostetrica per ga-

516 Paese Sera vom 28.9.1978, S. 11. „Das […] Schlimmste ist, dass die Poliklinik, die bis gestern das Krankenhaus mit der besten Organisation und der größten Bereitschaft war, den Bedürfnissen der Frauen entgegenzukommen […], heute vollständig von den Autonomen blockiert ist […].“ 517 Paese Sera vom 28.9.1978, S. 11; Paese Sera vom 29.9.1978, in: CDVV, Fondo Reparto Occupato, Nr. 158. Die Täter wurden nicht gefasst. Aus den Aussagen Graziella Bastellis (in: Del Bello (1997), S. 154) wird jedoch deutlich, dass Brandanschläge potentiell durchaus zum Repertoire des Collettivo Policlinico gehörten: „Abbiamo fatto azioni contro i baroni, dal fatto di lanciare le cinque lire e falli sentire una merda, al fatto che una macchina prendesse fuoco. Niente di strano e di anomalo quindi.“ „Wir haben Aktionen gegen die Barone gemacht, vom Werfen der 5-Lire-Münzen damit sie sich wie Dreck fühlen bis hin dazu, dass ein Auto Feuer fängt. Also nichts Seltsames und Anomales.“ 518 Vgl. Lotta Continua vom 30.9.1978, S. 6. 519 Vgl. Lotta Continua vom 30.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 51, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87; Paese Sera vom 27.9.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 46, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 520 Vgl. Lotta Continua vom 30.9.1978, S. 6.

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rantire l’impunità a assassini e speculatori in camice bianche”521 . Nach der Räumung der Besetzerinnen hielten aus Sicht des Kollektivs auch in der Gynäkologie wieder jene klientelistischen Praktiken Einzug, aufgrund derer nur jene Frauen berücksichtigt würden, die zugleich Privatpatientinnen eines der behandelnden Ärzte waren. Genau diese Logik sei auch verantwortlich für den jüngsten Todesfall in der Poliklinik: Am 28. September war eine 34-jährige Frau an den Folgen eines Kaiserschnitts gestorben, nachdem ein Arzt sie als Privatpatientin außerhalb seiner Arbeitszeit operiert und anschließend ohne ausreichende Betreuung allein gelassen hatte.522 Auch in der Abtreibungsabteilung habe sich die Lage seit der Räumung dramatisch verschlechtert: „Il reparto aborti […] dopo la normalizzazione […] viene fatto funzionare nella maniere più schifosa come il resto della clinica; il numero degli aborti è paurosamente diminuito, di qualità non se ne può neanche più parlare, infatti il personale, quello ufficiale (= venduto), se ne frega altamente di avere un dialogo con le donne e di rispettare le liste degli appuntamenti già compilate fina al 10 ottobre.“523 Auch zwei Wochen nach der Räumung waren die Zustände aus Sicht der Aktivistinnen unverändert. Am 10. Oktober protestierten die Aktivistinnen des Collettivo femminista San Lorenzo beim Gesundheitsassessor Ranalli gegen die Zustände in der Abtreibungsabteilung seit der Räumung: „‚Nonostante le sue affermazioni e le false notizie fornite dalla stampa del PCI il ,reparto interruzioni di gravidanza‘ del Policlinico non è tornato alla normalità. Infatti è diminuito il numero degli aborti, sono ricominciati quelli col raschiamento, le liste di prenotatzione delle donne non sono rispettate e sono tenute da un medico. Il primario Carenza, soddisfatto, ha occupato alcuni letti del reparto per altri interventi. […] Chiediamo l’immediato ritiro della polizia, in divisa e in borghese dal Policlinico […], il ripristino immediato del controllo delle donne indispensabile ad assicurare che l’intervento di interruzione di gravidanza venga effettuato nel modo migliore per la nostra salute fisica e psichica come avveniva prima dell’intervento della polizia.‘“524

521 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 2.10.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. „Die bewaffnete Polizei ist auf den Gängen der Entbindungsstation stationiert, um die Straffreiheit der Mörder und Spekulanten im weißen Kittel zu garantieren.“ 522 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 2.10.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. Zu dem Todesfall vgl. auch: Lotta Continua vom 30.9.1978, S. 6. 523 Flugblatt des Collettivo Policlinico vom 2.10.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. „Die Abtreibungsabteilung […] funktioniert nach der Normalisierung […] auf die gleiche ekelhafte Weise wie der Rest der Klinik. Die Zahl der Abtreibungen ist beängstigend zurückgegangen. Von der Qualität ganz zu schweigen. In der Tat pfeift das offizielle (= korrupte) Personal völlig darauf mit den Frauen einen Dialog zu führen und die schon bis zum 10. Oktober volle Warteliste zu respektieren.“ 524 Zitiert nach: Il Manifesto vom 11.10.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 48, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „‚Ungeachtet der Behauptungen und der falschen Nachrichten der PCI-Presse ist die ‚Abtreibungsabteilung‘ der Poliklinik nicht zu Normalität zurückgekehrt. Tatsächlich ist die Zahl der Abtreibungen zurückgegangen, werden wieder Ausschabungen praktiziert und wird die Warteliste der

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Auch im November 1978 war die Situation wenig verändert und die Kritik der Aktivistinnen im wesentlichen die Gleiche: „Ora nel repartino staziona la polizia, 4 carabinieri sono presenti giorno e notte, le compagne lavoratrici sono state trasferite, ed insieme alle forze dell’ordine ci sono solo crumiri ed i medici che, liberatisi della presenza delle femministe, trattano le donne come stracci e sperimentano le tecniche più svariate […]; liste d’attesa ‚segrete‘ ; donne mandate via perché non rientrerebbero nei ‚loro‘ tempi, quelli del reparto; nessuna informazione sui contraccettivi e sugli interventi; ecc.“525 Doch die Proteste zeigten keine Wirkung und nahmen mit der Zeit ab, während die Polizei noch über Monate in der Gynäkologie der Poliklinik präsent blieb.526 Damit war die Geschichte der besetzten Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik an ihr Ende gelangt – einer Abteilung, in der in den drei Monaten ihres Bestehens etwa 560 Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt worden waren und damit knapp einhundert Eingriffe mehr als in allen anderen römischen Krankenhäusern zusammen.527 Ein Grund für die mangelnde Durchschlagskraft der Proteste war wohl, dass das Collettivo Policlinico als wesentlicher Akteur innerhalb der Poliklinik schon während der Besetzung immer auch seine politische Arbeit zu anderen Themen fortgesetzt hatte und seit September 1978 versuchte, mit Versammlung und Streikaktionen in die Tarifverhandlungen für die Krankenhausangestellten einzugreifen.528 Diese Kämpfe, die sich im Oktober auf andere römische Krankenhäuser ausdehnten und ihr Pendant in vielen Städten Italiens fanden, stellten die Verhandlungsmacht der offiziellen Gewerkschaften nachhaltig von unten in Frage und dürften in den wichtigen Wochen unmittelbar nach der Räumung der Abtreibungsabteilung einen Großteil der

Frauen nicht eingehalten und von einem Arzt geführt. Der Chefarzt Carenza ist zufrieden und hat einige Betten der Abteilung für andere Eingriffe belegt. […] Wir fordern den sofortigen Abzug der Polizei in Uniform und Zivil aus der Poliklinik […], die sofortige Wiederherstellung der Frauenkontrolle, die unverzichtbar ist, um sicherzustellen, dass der Schwangerschaftsabbruch auf die beste Weise für unsere physische und psychische Gesundheit umgesetzt wird, so wie es vor dem Eingreifen der Polizei der Fall war.‘“ 525 Compagne del reparto ex occupato del Policlinico: Donne in lotta (November 1978), in: Privatarchiv von Graziella Bastelli, S. 2. „Jetzt ist die Polizei in der Abteilung stationiert. 4 Carabinieri sind Tag und Nacht präsent. Die angestellten Genossinnen sind versetzt worden. Zusammen mit den Ordnungskräften sind nur die Streikbrecher und die Ärzte da, die, nun da sie sich von der Anwesenheit der Feministinnen befreit haben, die Frauen wie Putzlumpen behandeln und die verschiedensten Techniken an ihnen ausprobieren […]; ‚geheime‘ Wartelisten, Frauen, die weggeschickt werden, weil sie nicht in ‚ihre‘ Zeitpläne passen, also diejenigen der Abteilung; keinerlei Information über Verhütungsmittel und über die Eingriffe; etc.“ 526 Vgl. Graziella Bastelli (2007): Il Policlinico è nostro, in: 70 – gli anni in cui il futuro cominciò (= Beilage von Liberazione), Nr. 7, S. 52 – 57, hier: S. 57. 527 Vgl. La Repubblica vom 28.9.1978, S. 7. 528 Vgl. Flugblatt der Assemblea dei lavoratori del Policlinico vom 20.9.1978, in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78.

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politischen Energien des Collettivo Policlinico absorbiert haben.529 Zum anderen war wohl der Mangel an Unterstützung aus der feministischen Bewegung, den die in der Poliklinik aktiven Feministinnen schon während der dreimonatigen Besetzung beklagt hatten, ein wesentlicher Grund dafür, dass die Aktivistinnen keine Möglichkeit fanden, die polizeiliche Lösung des Konflikts um die Abtreibungsabteilung nochmals effektiv in Frage zu stellen:530 „[…] (Q)uesta lotta è stata periferica, non sentita come propria nel movimento: mentre ne parlava la stampa nazionale, taceva la voce delle compagne.“531 Zwar gab es mit der Besetzung der Abtreibungsabteilung im Turiner Krankenhaus Sant’Anna im November 1978 noch eine öffentlichkeitswirksame feministische Aktion, die an die Erfahrung der römischen Besetzung anknüpfte, doch insgesamt erschien die feministische Bewegung im Herbst 1978 bei Weitem nicht mehr so mobilisierungsfähig wie noch zwei Jahre zuvor.532 Trotz der Räumung bewerteten Aktivistinnen aller beteiligten Fraktionen die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der Poliklinik rückblickend als Erfolg. Ausdruck dieser einhellig positiven Rückschau war eine Broschüre, die im Dezember 1978 erschien und neben einer umfangreichen Pressesammlung Zeugnisse von Aktivistinnen aller beteiligten Fraktionen und von betroffenen Frauen vereinte.533 Für die Beteiligten war klar, dass nur die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Kräfte die Besetzung überhaupt ermöglicht hatte: „È stata un ‚invasione di campo‘, resa possibile dal gruppo legato all’Autonomia, altrimenti mai si sarebbe entrati in quel reparto abbandonato, né si sarebbe potuto gestirlo. Fu n’esperienza unica: riuscire ad avere la forza di entrare, di occupare un reparto in disuso, di metterlo in funzione, di insegnare ai medici della struttura come si fa una metodica altrettanto efficace ma

529 Vgl. z.B. Flugblatt der Assemblee dei lavoratori del Policlinico, del S. Giovanni, dell’Addolorata, del S. Camillo vom 5.10.1978; Flugblatt der Assemblea generale degli ospedalieri romani vom 10.10.1978; Flugblatt des Coordinamento dei lavoratori ospedalieri in lotta vom 12.10.1978; Flugblatt des Coordinamento dei lavoratori ospedalieri in lotta vom 18.10.1978; Flugblatt des Coordinamento ospedalieri in lotta vom 25.10.1978, alle in: CDVV, Collettivo Policlinico (1978/79/80), Nr. 78. Zur Situation an der Poliklinik im Oktober 1978 vgl. auch das Dokumentarfilmmaterial Sciopero dei paramedici al Policlinico, Roma 18 ottobre 1978, in: AAMOD. Allg. zu den Basiskämpfen der italienischen Krankenhausangestellten im Herbst 1978, vgl.: Lotta Continua vom 25.10.1978, S. 1. 530 Vgl. Lotta Continua vom 2./3.7.1978, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 38f., in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 531 Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 1, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „[…] [D]ieser Kampf war peripher und wurde in der Bewegung nicht als eigener Kampf begriffen: Während die nationale Presse darüber berichtete, schwieg die Stimme der Genossinnen.“ 532 Vgl. Franzinetti (1987), S. 185; Tozzi (1989), S. 176; Giachetti (2005), S. 210-218. 533 Vgl. Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87.

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meno invasiva e dannosa per la donna, e di gestire in autonomia e con rigore il funzionamento di quel luogo, era stato un lavoro enorme.“534 In den Augen der Beteiligten waren im Rahmen der Besetzung zentrale Fragen einer feministischen Agenda praktisch beantwortet worden: „L’esperienza del reparto occupato […] ci ha fatto verificare per la prima volta le conseguenze pratiche, che l’ascolto delle nostre esigenze può avere nell’organizzazione sanitaria. Se si ascoltano queste esigenze, senza subordinarle a condizioni poste da altri, l’organizzazione sanitaria normale subisce uno sconvolgimento, viene messa in questione da capo a piedi.“535 Angesichts dieser im Rahmen der Besetzung praktizierten radikalen Umwälzung der krankenhausinternen Machverhältnisse habe diese die politischen Autoritäten auf den Plan gerufen.536 So sei schließlich die Polizeiintervention unabwendbar gewesen, mit deren Hilfe die Macht der ‚medizinischen Klasse‘ über die Krankenhausangestellten, die Patienten und vor allem die Frauen wiederhergestellt worden sei. Mit der polizeilichen ‚Lösung‘ habe die linke römische Kommunalverwaltung ihre bedingungslose Unterstützung der bestehenden Machtverhältnisse im Gesundheitswesen eindeutig unter Beweis gestellt.537 Die Probleme in der ‚normalisierten‘ Abtreibungsabteilung in der Poliklinik setzten sich noch lange fort und im Sommer 1979 stand die Abteilung wieder kurz vor der Schließung, weil der Verwaltungsrat der Poliklinik die Verträge der beiden Anästhesisten der Abteilung nicht verlängern wollte. Erst nach Protesten wurden die Verträge doch noch verlängert und die Existenz der Abteilung so gesichert.538 Ein Jahr nach Ende der Besetzung musste Simonetta Tosi konstatieren, dass nur wenige Errungenschaften der Besetzung in der Abteilung Bestand hatten: „Oggi in questo reparto, che è diventato come un qualsiasi altro reparto di ospedale, una cosa della

534 Interview mit Serena Donati, in: Caporaso (2005), S. 152 – 157, hier: S. 157. „Es war eine ‚Invasion des Feldes‘, die durch die zur Autonomia gehörende Gruppe ermöglicht wurde, sonst wäre man weder in diese stillgelegte Abteilung eingedrungen, noch hätte man ihr Funktionieren organisieren können. Es war eine einmalige Erfahrung: die Kraft zu haben, in eine leerstehende Abteilung einzudringen, sie zu besetzen, sie zum Laufen zu bringen, den Ärzten der Struktur beizubringen, wie man eine ebenso effektive aber für die Frauen weniger schwerwiegende und schädliche Methode anwendet und unabhängig und streng das Funktionieren dieser Abteilung zu organisieren, das war eine enorme Aufgabe gewesen.“ 535 Donne, classe medica, potere politico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 4-6, hier S. 6, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. „Durch die Erfahrung der besetzten Abteilung […] konnten wir erstmals die praktischen Konsequenzen überprüfen, die es hatte, wenn man unseren Bedürfnissen innerhalb des Gesundheitssystems Gehör verschaffte. Wenn man diesen Bedürfnissen Gehör schenkte, ohne sie Bedingungen zu unterwerfen, die andere aufstellten, so wurde die normale Organisationsweise des Gesundheitssystems erschüttert und von Kopf bis Fuß in Frage gestellt.“ 536 Vgl. Donne, classe medica, potere politico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 4-6, hier S. 6, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 537 Vgl. Donne, classe medica, potere politico, in: Compagne del reparto ex occupato del Policlinico (1978), S. 4-6, hier: S. 4, in: MC, Fondo Massimo, Periodici, Fasz. 87. 538 Vgl. L’Unità vom 4.8.1979, S. 8.

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nostra occupazione è rimasta: un atteggiamento un po’ diverso dei medici i quali raccontano alle degenti che le femministe hanno introdotto un nuovo modo di lavorare. E cioè i medici parlano di più con le donne, spiegano loro l’intervento, e le informano sui metodi anticoncezionali.“539

539 L’Occupazione al Policlinico. Intervista a Simonetta Tosi, in: Differenze. Sondernummer vom November 1979, S. 42-46, hier S. 44. „Heute ist in dieser Abteilung, die wie jede beliebige andere Krankenhausabteilung geworden ist, eine Sache von unserer Besetzung geblieben: ein etwas anderes Verhalten der Ärzte, die den Patientinnen erzählen, dass die Feministinnen eine neue Art zu arbeiten eingeführt haben. Das heißt, die Ärzte reden mehr mit den Frauen, erklären ihnen den Eingriff und informieren sie über Verhütungsmethoden.“

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4 FAZIT : VON DER PRAKTISCHEN LOGIK DER POLITISCHEN (ZUSAMMEN -)ARBEIT Die dreimonatige Besetzung der Abtreibungsabteilung in der Poliklinik führte zwei Bewegungsorganisationen zusammen, deren Kooperation noch kurz zuvor höchst unwahrscheinlich erschienen wäre: Auf der einen Seite das Collettivo Policlinico als eine der wichtigsten Basisstrukturen der römischen Autonomia Operaia und auf der anderen Seite das Collettivo femminista von San Lorenzo, die wohl wichtigste römische Feministinnengruppe auf dem Terrain der praktischen Körperpolitik. Ungewöhnlich musste die Zusammenarbeit unter anderem deshalb anmuten, weil das Verhältnis zwischen den radikalen Organisationen der Neuen Linken und den separatistischen Feministinnen spätestens seit den Handgreiflichkeiten vom 6. Dezember 1975540 belastet war und sich die Spannungen zwischen der römischen Autonomia Operaia und den Feministinnen im Frühjahr 1977 im Zuge des bewegungsinternen Hegemoniekampfes weiter verschärft hatten. Im Folgenden soll versucht werden, die Faktoren zu skizzieren, die eine ‚temporäre Amalgamierung‘ der unterschiedlichen Aktivistengruppen im Zuge der Besetzung dennoch ermöglichte. Dazu muss die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik zunächst in der Chronologie des italienischen Bewegungszyklus verortet werden. Im Sommer 1978 war das Abflauen der bewegungspolitischen Dynamiken keine Tendenz mehr, die einzelne Spektren oder Organisationen betraf, sondern ein Faktum, welches alle Ausprägungen außerparlamentarischer Politik erfasst hatte. Dieses Abflauen der Bewegungsdynamiken bildete auf paradoxe Weise eine wesentliche Voraussetzung für die hier untersuchte Kooperation: Der rasante Bewegungsaufschwung des Frühjahrs 1977 war lange vorbei und die Entführung und Ermordung Aldo Moros versetzte die linke Bewegung Italiens im Allgemeinen und Roms im Besonderen in einen Belagerungszustand, der eine lange Periode der Abwehrkämpfe einleiten sollte. In Zeiten der abnehmenden Mobilisierungsfähigkeit und des wachsenden staatlichen Repressionsdrucks trat an die Stelle des bewegungsinternen Hegemoniekampfes die Bereitschaft zur Zusammenarbeit über ideologische Gräben hinweg. Jenseits der bewegungspolitischen Konjunkturen war aber eine ganze Reihe von inhaltlichen und praktischen Homologien zwischen den beiden Kollektiven ausschlaggebend dafür, dass diese im Sommer 1978 über Monate erfolgreich kooperieren konnten. Beide Gruppen agierten auf dem Feld der Gesundheits- und Körperpolitik – allerdings verorteten sie sich dabei deutlich unterschiedlich: Während das Collettivo Policlinico seine Politik eher im Stile eines Fabrikkampfes als Praxis des ‚Darin und Dagegen‘ begriff, hatten die Feministinnen aus San Lorenzo bis zur Intervention in der Poliklinik im Sommer 1978 ihre Politik in bewusster Distanz zu den staatlichen Institutionen betrieben. Dennoch war die politische Stoßrichtung beider Kollektive eine ähnliche: Während das Collettivo Policlinico die klientelistische, autoritäre und patientenfeindliche Logik im größten römischen Krankenhauses anprangerte, kritisierten die Feministinnen ähnliche Tendenzen im Hinblick auf Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Abtreibung, wobei sie patriarchaler Diskriminierung

540 Vgl. Gramaglia (1987), S. 19ff.

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jene Priorität einräumten, die aus Sicht des Poliklinikkollektivs sozialen Ausgrenzungs- und Unterdrückungstendenzen zukam. Beide Gruppen blieben dabei nicht bei einer Kritik spezifischer Missstände stehen, sondern formulierten – ausgehend von konkreten Fragen der Gesundheits- und Körperpolitik – eine grundlegende Gesellschaftskritik. Noch wichtiger als die inhaltlichen Überschneidungen waren die Homologien zwischen den beiden Gruppen, die die Formen des politischen Handelns betrafen. Beide Zusammenhänge definierten sich über ihren direkten Politikstil: Die Kritik an bestehenden Zuständen wurde immer mit dem Versuch verbunden, diese umgehend praktisch aufzuheben. Während die Feministinnen des consultorio von San Lorenzo jenes Recht auf Schwangerschaftsabbruch, das der italienische Staat den Frauen bis Sommer 1978 verwehrte, schon Jahre zuvor in Eigenregie zu organisieren versuchten, kämpfte das Collettivo Policlinico für Arbeitszeitreduktion, kostenlose Ambulanzleistungen und Kinderbetreuung durch die ‚Praxis des Kampfziels‘541. Im Zuge der von ihnen geführten Auseinandersetzungen verstießen beide Aktivistengruppen regelmäßig gegen bestehende Gesetze: Während einige Aktivistinnen des Collettivo femminista von San Lorenzo über Jahre hohe Gefängnisstrafen für die Durchführung illegaler Abtreibungen riskierten, wurden wiederholt Aktivisten des Collettivo Policlinico wegen Delikten wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung und Beleidigung in Untersuchungshaft genommen und zu Dutzenden wegen anderer Delikte angezeigt. Diese ständige latente Bedrohung durch die Staatsmacht trug zur Verfestigung einer kritischen Distanz beider Aktivistengruppen gegenüber staatlichen Institutionen bei. Gerade die antiautoritäre Stoßrichtung beider Gruppen prägte ihre politische Praxis, ihr Binnenleben und ihr Verhältnis zu anderen politischen Kräften nachhaltig. Während das Collettivo Policlinico insbesondere die autoritäre Machtposition der Chefärzte, aber auch der Ärzteschaft insgesamt scharf kritisierte und praktisch zu unterminieren versuchte, hebelten die Feministinnen die Machtstellung der Ärzte in Fragen der Verhütung und der Abtreibung effektiv aus, indem Frauen im Zuge der klandestinen Abtreibungen und der self-help-Sitzungen Handlungen vornahmen, die traditionell Ärzten vorbehalten waren. Eng mit der Auflehnung gegen die ärztliche Autorität verbunden war die Kritik beider Gruppen an den Wissenshierarchien, die das medizinische Feld prägten: Während die Aktivisten des Poliklinikkollektivs eine möglichst weitgehende Ermächtigung des einfachen Krankenhauspersonals und der Patienten anstrebten, praktizierten die Feministinnen im consultorio von San Lorenzo eine möglichst umfassende Sozialisierung von Expertenwissen. Die antiautoritäre Agenda der beiden Gruppen schrieb sich auch in ihr Binnenleben und ihre politische Alltagspraxis ein: Beide Gruppen waren als Kollektive ohne formale Hierarchien strukturiert, in denen alle wesentlichen Entscheidungen basisdemokratisch auf Vollversammlungen getroffen wurden. Beide Gruppen lehnten die ‚gesellschaftliche Magie‘542 von Delegierung und Repräsentation ab, und begriffen sich demgegenüber als Teile einer Bewegung – der feministischen auf der einen, der klassenkämpferischen

541 Vgl. Revelli (1995), S. 450; Sablowski (1998), S. 101. 542 Bourdieu (1985), S. 38. Vgl. auch: Philippe Fritsch: Einführung, in: Pierre Bourdieu (2001): Das politische Feld. Kritik der politischen Vernunft. Konstanz, S. 18.

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Bewegung auf der anderen Seite. Bewegungsorientierung und direkter Politikstil brachten beide Gruppen in Konflikt mit der traditionellen Linken: Keine von beiden Gruppen sah sich durch den PCI repräsentiert oder war bereit, sich seinem Hegemonieanspruch unterzuordnen. Die Intensität und Form des Konflikts war dabei allerdings deutlich unterschiedlich. Die Aktivistinnen und Aktivisten beider Kollektive praktizierten weder klassische ‚Stellvertreterpolitik‘, bei der man für die Interessen besonders unterprivilegierter ‚Anderer‘ eintrat noch eine ‚Politik in der ersten Person‘, bei der die Agenda ganz aus der eigenen Situation abgeleitet wurde: Während zahlreiche feministische Kollektive sich darauf beschränkten, durch die Praktiken der autocoscienza und des selfhelp im Rahmen einer kleinen Gruppe von Vertrauten eigene Probleme aufzuarbeiten und die eigenen Emanzipation voranzutreiben, verbanden die Feministinnen von San Lorenzo diese Praktiken mit weit reichenden Beratungs- und Hilfsangeboten für bedürftige und interessierte Frauen im Rahmen des consultorio. Das Collettivo Policlinico wiederum führte nicht nur einen Basiskampf für die Rechte der unterprivilegierten Beschäftigten in Roms größtem Krankenhaus, sondern trat zugleich für die Interessen der Patienten und eine menschenwürdige Medizin jenseits kapitalistischer Verwertungsinteressen ein. Beide Aktivistengruppen sahen sich somit zugleich als Betroffene und als politische Akteure, die weit reichende gesellschaftliche Veränderungen anstrebten. Die politische Praxis der beiden Kollektive kann ohne Bezugnahme auf jene Räume, in denen sie sich vollzog und auf die sie einwirkte, nur unzureichend entschlüsselt werden, denn sie folgte der Logik konkret verorteter politischer Alltagsarbeit: Die Feministinnen des consultorio von San Lorenzo gewährleisteten die täglichen Öffnungszeiten der Beratungsstelle und machten sie so zu einem Bezugspunkt für die Frauen des Stadtteils und weit darüber hinaus. Das Collettivo Policlinico seinerseits war seit Anfang der 1970er Jahre kontinuierlich in der Poliklinik präsent, verfügte über einen eigenen Versammlungsraum auf den Krankenhausgelände, verteilte in heißen Phasen seiner Agitation täglich beim Schichtwechsel Flugblätter vor den Eingängen und war so ein alltäglicher politischer Referenzpunkt für das Personal. Diese Form des politischen Handelns verlieh den Interventionen beider Gruppen eine ‚praktische Logik‘543, die stärker von der konkreten Situiertheit der Auseinandersetzung und deren Notwendigkeiten geprägt war als von der ‚logischen Logik‘544 politischer Theorie: Trotz der antagonistischen antikapitalistischen Ausrichtung der Autonomia Operaia forderte das Collettivo Policlinico in den konkreten Kämpfen an der Poliklinik nicht die Abschaffung der Lohnarbeit, sondern die 36-Stundenwoche und deutliche Lohnerhöhungen. Trotz ihrer Überzeugung, dass ungewollte Schwangerschaften ein Resultat patriarchaler Gesellschaftsverhältnisse waren und eine Abtreibung die Last einer unbewusst gelebten Sexualität einseitig den betroffenen Frauen aufbürde, beließen es die Feministinnen von San Lorenzo nicht bei einer theoretischen Kritik der Zustände, sondern beschlossen jenen Frauen, die abtreiben wollten, dies zu ermöglichen, obwohl sie sich dafür einer wachsende Kritik aus der feministi-

543 Bourdieu (1987), S. 25ff. 544 Bourdieu (1987), S. 167.

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schen Bewegung ausgesetzt sahen.545 Beide Gruppen begaben sich so in die Widersprüche, die konkret verortetes politisches Alltagshandeln mit sich brachte, und räumten der praktischen Logik konkreter Intervention Priorität gegenüber theoretischer Kritik ein. Im Zuge der gemeinsamen Intervention an der Poliklinik kamen zu den skizzierten inhaltlichen und praktischen Homologien noch weitere Aspekte, die eine temporäre Amalgamierung der beiden Gruppen ermöglichten: Zum einen beschränkte sich die direkte Teilnahme an der Besetzung auf die Frauen des Collettivo Policlinico, wodurch die Besetzung stets eine reine Frauenaktion war und so die gemeinsame Geschlechteridentität die Solidarität und das Gemeinschaftsgefühl unter den Besetzerinnen stärkte. Voraussetzung für diese Annäherung unter Frauen war der Umstand, dass das Collettivo Policlinico bereit war, den Separatismus der Feministinnen im Rahmen des Projekts einer Besetzung mitzutragen – ein Schritt der in den Jahren zuvor vielen Organisationen der außerparlamentarischen Linken sehr schwer gefallen wäre, weil sie den Separatismus der Frauen als ‚Klassenspaltung‘ begriffen hatten. So entstand die Besetzung der Abtreibungsabteilung als separatistisches Frauenprojekt, in dessen Zuge aber immer auch die soziale Frage sowohl in Bezug auf krankenhausinterne Abläufe als auch in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Fragen thematisiert wurde. Am deutlichsten wurde die enge Verbindung von feministischen und sozialen Aspekten im Zuge der Besetzung in der Figur der Lista di lottaAktivistinnen, die für Frauenrechte, eine humanere Medizin und Arbeitsplätze gleichermaßen kämpften. Im Laufe der dreimonatigen Besetzung wurden die beschriebenen Faktoren der Annäherung um einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Aspekt ergänzt: Das gemeinsame Ziel, die selbst organisierte Abtreibungsabteilung in Gang zu halten, und die ‚praktische Logik‘ der alltäglichen gemeinsamen Arbeit verdrängten zunehmend die ‚logische Logik‘ des ideologischen Konflikts: „Nella pratica […] poi quelli che potevano essere […] gli scontri ideologici […] diventavano inutili. Perché poi dovevamo raggiungere l’obiettivo che era quello di occupare un repartino […].“546 Im Arbeitsalltag der Besetzerinnen zählten Verbindlichkeit und Klarheit mehr als ideologische Nähe oder Distanz. Die vermeintlichen ideologischen Gräben erwiesen sich so für viele Besetzerinnen als weitaus leichter überwindbar als sie selbst zunächst gedacht hatten. Trotz zahlreicher Faktoren, die eine Amalgamierung der beiden Gruppen im Zuge der Besetzung begünstigten, blieb diese stets prekär und wesentliche Differenzen bestanden weiter fort: Im Zuge der Räumung der Abteilung im September 1978 wurde deutlich, dass für die Feministinnen aus San Lorenzo das Fortbestehen einer von Frauen selbst verwalteten Abtreibungsabteilung Priorität gegenüber der Einstellung

545 Zur feministischen Kritik an der Organisation von Abtreibungen durch feministische Gruppen, vgl. A proposito della piattaforma del CRAC sui consultori, in: Sottosopra vom März 1976, S. 68ff., in: Percovich (2005), S. 255ff. 546 Vgl. Interview mit Graziella Bastelli vom 4.6.2009, 08:45-09:00: „In der Praxis […] wurden mögliche […] ideologische Konflikte […] unnütz. Denn letztlich mussten wir das Ziel erreichen und das lautete diese Abteilung zu besetzen […].“

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der Aktivistinnen der Lista di lotta genoss, während für das Collettivo Policlinico beide Forderungen gleichwertig waren. Neben diesen fortbestehenden politischinhaltlichen Differenzen blieben auch bestimmte Aspekte des Politikstils der beiden Gruppen deutlich unterschiedlich: Die Habitusunterschiede zwischen den eher bürgerlich-intellektuellen Aktivistinnen des Collettivo femminista von San Lorenzo und den zumeist eher proletarischen Aktivistinnen des Collettivo Policlinico und der Lista di lotta generierten unterschiedliche Formen der politischen Praxis und Rhetorik. Beleidigungen, Drohungen und die physische Konfrontation mit dem politischen Gegner gehörten vor, während und nach der Besetzung zum praktischen Repertoire der Aktivistinnen und Aktivisten des Collettivo Policlinico.547 Die Feministinnen von San Lorenzo hingegen stellten stets eher das politische und wissenschaftliche Argument in das Zentrum der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern.548 Es scheint kein Zufall zu sein, dass die beiden Bewegungsakteure, die im Sommer 1978 die Besetzung der Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik ins Werk setzten, über eine in weiten Teilen homologe politische Praxis verfügten. Die politischen Homologien waren nicht nur Grundlage der produktiven Zusammenarbeit zweier höchst unterschiedlicher Aktivistengruppen, es war eben jene spezifische Form der Politik, die es den beiden Gruppierungen überhaupt ermöglichte, auch in einer Phase des Bewegungsabschwungs politisch eine kräftezehrende Aktion wie die dreimonatige Besetzung der Abtreibungsabteilung anzustoßen. Die relative Unabhängigkeit der beiden untersuchten Gruppen von den allgemeinen Bewegungskonjunkturen basierte vor allem auf ihrer strukturellen Verankerung in einem spezifischen ‚Sozialraum‘ 549 und ihrer daraus resultierenden Fähigkeit, eine klar umrissene Gruppe von Subjekten mit einem konkret auf diese zugeschnittenen Programm anzusprechen. Diese Form der situierten direkten Politik sorgte dafür, dass die Dynamiken des Bewegungsabschwungs die beiden hier untersuchten Gruppen zunächst kaum zu berühren schienen – auch, weil in ihrem Rahmen weitgehend auf wohl gesonnene Vermittlungsinstanzen verzichtet werden konnte. Dennoch wurde im Zuge der Proteste der Besetzerinnen nach der Räumung im September 1978 deutlich, dass die mangelnde Unterstützung – vor allem von Seiten der feministi-

547 Solche ,handgreiflichen‘ Praxisformen bildeten dabei keineswegs ein Vorrecht der männlichen Aktivisten der römischen Autonomia, vgl. Interview mit Graziella Bastelli, in: Del Bello (1997), S. 148: „Se all’inizio poteva essere carino che ti facevi uno spazio e venivi rappresentata in un certo modo, poi però quanto era faticoso pensare che il tuo ruolo doveva essere sempre quella che si incazzava, che litigava, che si doveva arrabbiare, che doveva fa’ a botte, che doveva manda’ a fanculo tutti. Questo mi è un po’ pesato.“ „Wenn es auch am Anfang nett sein konnte, dass du dir einen Ruf gemacht hast und auf eine bestimmte Weise dargestellt wurdest, mit der Zeit war es anstrengend, das Gefühl zu haben, dass deine Rolle immer die sein musste, die wütend war, die mit allen stritt, die böse werden musste, die sich prügeln muss, die alle zum Teufel wünschen muss. Das belastete mich etwas.“ 548 Vgl. z.B. Tozzi (1984), S. 135. 549 Zum Begriff vgl. Kessel/Reutlinger/Maurer/Frei (2005).

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schen Bewegung ein wesentlicher Faktor für das letztendliche Scheitern aller Widerstandsversuche war. Eine Einordnung der Besetzung der Abtreibungsabteilung in der römischen Poliklinik und derjenigen Gruppen, die sie ins Werk setzten, in Castells’ Typologie urbaner Bewegungen fällt aufgrund der Unterschiede zwischen den beteiligten Akteuren nicht leicht: Das Collettivo Policlinico führte im Wesentlichen einen Betriebskampf, der aber zugleich Fragen des kollektiven Konsums im Sinne einer kostenlosen und menschenwürdigen Gesundheitsversorgung auf die Agenda setzte.550 Die Stadtteilintervention des Collettivo femminista von San Lorenzo setzte ebenfalls den Kampf um den kollektiven Konsum auf die Tagesordnung und versuchte vor allem Abhilfe für die mangelhafte sexualmedizinische Versorgung der Frauen gerade in den unterprivilegierten Stadtteilen Roms zu schaffen. Während beide Kollektive einen basisdemokratischen Selbstorganisierungsansatz verfolgten und damit ‚self-management‘551 konkret im Alltag praktizierten, spielte die Dimension der ‚community‘552 für die feministischen Aktivistinnen eine weitaus größere Rolle als für das autonome Betriebskollektiv an der Poliklinik: Fragen der Identität und Praktiken der Kommunikation als Basis gemeinschaftsbildender Prozesse nahmen im Rahmen der feministischen Praxis eine zentrale Rolle ein.553 Für die beiden hier betrachteten Gruppen war die Besetzung der Abtreibungsabteilung lediglich eine Etappe in ihrem Kampf. Beide setzten ihre Aktivitäten bis weit in die 1980er Jahre hinein fort.554 Dabei blieben die politischen Ansätze trotz der oben skizzierten Homologien deutlich unterschiedlich: Das Collettivo Policlinico war als Teil der römischen Autonomia Operaia starker Repression ausgesetzt, im Zuge derer unter anderem „confino“555 für eine zentrale Figur wie Daniele Pifano angeordnet wurde.556 Dennoch setzte das Kollektiv seinen autonomen Basiskampf im größten römischen Krankenhaus mit großer Beharrlichkeit und Unversöhnlichkeit fort.557

550 Vgl. Castells (1983), S. 316. 551 Vgl. Castells (1983), S. 320f. 552 Vgl. Castells (1983), S. 309. 553 Unter anderem aufgrund ihrer verstärkten Erfahrungsorientierung definierte Castells die feministische Bewegung als eines der neuen ‚emerging social movements‘, vgl. Castells (1983), S. 309 und 311. 554 Zur weiteren Geschichte des Collettivo femminista von San Lorenzo, vgl. z.B. Interview mit Ines Valanzuolo, in: Caporaso (2005), S. 137 – 146, hier: S. 145. Zur weiteren Geschichte des Collettivo Policlinico als Teil der römischen Comitati Autonomi Operai, vgl. Miliucci/Paccino/Pifano (2007), S. 343 und 370-374. 555 „Verbannung“. 556 Vgl. Miliucci/Paccino/Pifano (2007), S. 371. Die polizeiliche Maßnahme wurde schließlich von einem Gericht ausgesetzt, da sie als verfassungswidrig beurteilt wurde. 557 Vgl. z.B. die vom Collettivo Policlinico herausgegebene Betriebszeitung Cetriolo Contro, von der in den Jahren 1982 bis 1984 mindestens zwanzig Ausgaben erschienen, vgl. Privatarchiv Graziella Bastelli bzw. FVV, Nr. 86. Auch die Comitati autonomi operai als Dach-

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Auch die Feministinnen von San Lorenzo führten ihre Arbeit im Stadtteil weiter, wobei auch neue Themen wie Kurse zur Geburtsvorbereitung eine Rolle spielten. 558 Außerdem intervenierte das Kollektiv in den folgenden Jahren stark im öffentlichen Gesundheitssektor. Dabei bediente es sich wesentlich weniger konfliktualer Methoden als im Zuge der Besetzung an der Poliklinik: Exemplarisch für diese verstärkte Kooperation mit den öffentlichen Beratungsstellen und der Regionalverwaltung steht Simonetta Tosi, die als zentrale Integrationsfigur des feministischen Kollektivs schließlich als ‚nationale Koordinatorin‘ den Italienweiten Austausch der öffentlichen Beratungsstellen organisierte.559 Anhand des Collettivo Policlinico und des Collettivo femminista von San Lorenzo lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie sich die großen Zäsuren der Bewegungsforschung mithilfe einer mikrohistorischen Zugriffsweise relativieren lassen: Für keine der beiden Gruppen bildete das Jahr 1978 einen finalen Einschnitt. Dennoch gingen die Zäsuren nicht spurlos an den beiden Bewegungsorganismen vorbei: Die Dynamik, aus der heraus sie entstanden waren, ebbte ab und so fehlten zunehmend jene Resonanzräume, auf die ihre politische Praxis gerade in Momenten der Konfrontation mit dem italienischen Staat angewiesen war. So erscheint das Ende der besetzten Abtreibungsabteilung in Rom im September 1978 rückblickend als wichtige Etappe eines Wandels im kollektiven Bewusstsein: „Da allora l’aborto, la maternità, il rapporto con le istituzioni sono tornati ad essere dei problemi sempre più individuali, sempre più difficili da tradurre in una dimensione politica.“560

organisation der römischen Autonomia Operaia setzten ihre Kämpfe bis in die 1980er Jahre fort, vgl. z.B. ihre Zeitschrift I Volsci, in: FVV, Nr. 527. 558 Vgl. Interview mit Patrizia Mancini, in: Caporaso (2005), S. 147 – 151, hier: S. 151; Interview mit Serena Donati, in: Caporaso (2005), S. 152 – 157, hier: S. 156f. 559 Vgl. Tozzi (1984), S. 137f. 560 Franzinetti (1987), S. 185. Die Turiner Feministin Franzinetti bezieht ihre Aussage auf das Ende der feministischen Besetzung im Turiner Krankenhaus Sant’Anna im November 1978, die von der römischen Besetzung inspiriert gewesen war. „Von da an sind Abtreibung, Mutterschaft und das Verhältnis zu den Institutionen wieder immer mehr zu individuellen Problemen geworden, die sich immer schwerer in eine politische Dimension übersetzen ließen.“

Fazit

Trotz des collagenhaften Charakters der vorliegenden Untersuchung soll abschließend der Versuch unternommen werden einige zusammenfassende Überlegungen zu Konstanten und Variablen zwischen den einzelnen Mikrostudien anzustellen und die sozialen Bewegungen im Rom der 1970er Jahre grob im italienischen und europäischen Kontext zu verorten. Zunächst werden drei Facetten relativer Kontinuität umrissen, die in den vorgelegten Mikrostudien deutlich wurden: Diese betreffen die Form der Bewegungspolitik, die Bedeutung raumpolitischer Fragen und die Subjektivität der beteiligten Akteure. Eine erste Parallele zwischen den verschiedenen untersuchten Auseinandersetzungen betrifft die Charakteristika der politischen Praxis: Alle untersuchten Aktivistengruppen praktizierten eine Form der ‚direkten Politik‘, die Parteiunabhängigkeit und basisdemokratische Entscheidungsfindung mit Praktiken der direkten Aktion verband. Ob im Zuge der Mietreduktion in der Magliana, der römischen Hausbesetzungen 1973/4, der Campusbesetzung 1977, der autonomen Betriebskämpfe an der Poliklinik oder der feministischen Stadtteilintervention in San Lorenzo, immer war die Versammlung aller Beteiligten das einzig entscheidungsbefugte Gremium und immer wurden die entwickelten Ziele, soweit wie möglich, durch die Initiative der Betroffenen unmittelbar in die Tat umgesetzt. Die direkten Politikformen umfassten somit wesentliche Aspekte dessen, was Castells als ‚self-management‘ bezeichnet und als eine der drei wesentlichen Dimensionen urbaner Bewegungen entwirft.1 Ergänzt wurde diese Dimension des Akteurshandelns durch die ‚pratica dell’obiettivo‘2, was dem Akteurshandeln eine spezifische Konnotation der Selbstermächtigung verlieh: Die Bewegungsaktivisten zielten nicht nur auf Partizipation, sondern auch auf Protagonismus – sie wollten an der Lösung ihrer Probleme nicht nur beteiligt werden, sondern diese selbst bestimmen. Für die Ausprägung der politischen Praxis aller hier untersuchten Bewegungsakteure kam der antiautoritären und basisdemokratischen Stoßrichtung des Aufbruchs von 1968/69 eine wesentliche Bedeutung zu. Dennoch waren die Ursachen dafür, dass Formen der ‚direkten Politik‘ zum dominanten modus operandi der hier untersuchten Bewegungen wurden, keineswegs einheitlich: Während für die Mieter der Magliana und die römischen Hausbesetzer von 1973/4 wohl vor allem ihre ‚Nähe zur Notwendigkeit‘ und der Mangel an Alternativen ausschlaggebend für die Praxis di-

1 2

Vgl. Castells (1983), S. 320f. Vgl. Revelli (1995), S. 450., ‚Praxis des Kampfziels‘.

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rekter Politik war, bildeten in hochgradig politisierten Aktivistengruppen wie dem Collettivo Policlinico oder der Collettivo femminista von San Lorenzo, aber auch in der Bewegung von 1977 politische Ideale den primären Ausgangspunkt für die Entwicklung einer direkten politischen Praxis.3 Wesentlicher als die zugrunde liegenden Motivationen war jedoch die praktische Logik der direkten Politik: Die direkte Umsetzung der kollektiv getroffenen Entscheidungen führte zu einer „[…] nichtentfremdeten, eigen-sinnigen Interessenartikulation, die nicht in Distanz, sondern in unmittelbarer Nähe zum Körper und seinen Sinnen stattfindet.“4 So entwickelte sich eine Eigendynamik, im Zuge derer den beteiligten Aktivisten die Selbstermächtigung als handelnde Subjekte häufig wichtiger wurde als die zunächst angestrebten Handlungsziele. Die kollektive Selbstermächtigung hinsichtlich politischer Entscheidungen und ihrer Umsetzung hob die ‚gesellschaftliche Magie‘5 der Delegierung auf und zerstörte so die conditio sine qua non des ‚politischen Spiels‘6. Damit standen die Bewegungen durch ihren modus operandi im Gegensatz zu den politischen Parteien und ihrer Repräsentationsfunktion, ganz unabhängig von politisch-inhaltlichen Berührungspunkten oder Differenzen.7 Zumeist verband sich dieser implizite Widerspruch zur Logik des politischen Feldes mit der expliziten Zurückweisung des Hegemonieanspruchs, den vor allem der PCI und die Gewerkschaften gegenüber allen Formen sozialer Konfliktualität erhoben. Doch die ‚direkte Politik‘ der sozialen Bewegungen stellte nicht nur den Repräsentationsanspruch der Parteien, sondern auch das staatliche Gewaltmonopol in Frage: Die beteiligten Aktivisten überschritten regelmäßig die juristische Grenze zwischen legalen und illegalen Aktionsformen und ersetzten dort, wo die Basisbewegungen besondere Wirkungsmacht entfalteten, den bürgerlichen Legalitätsbegriff punktuell durch populäre ‚Legitimationsvorstellungen‘.8 Eine zweite Parallele zwischen den Mikrostudien besteht hinsichtlich der großen Bedeutung, die Konflikten um Räume und Formen der ‚gegenkulturellen Raumkonstitution‘9 zukam. Im Zentrum aller vier Untersuchungen stehen Raumkonflikte, wobei Art und Zuschnitt der Auseinandersetzungen deutliche Differenzen aufweisen:10

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Castells hingegen fasst ‚self-management‘ einzig als Handlungsziel, nicht aber als modus operandi, vgl. Castells (1983), S. 320. 4 Lindenberger (1995), S. 17f. Lindenberger bezieht sich hier auf die Praxis der direkten Aktion. 5 Vgl. Bourdieu (1985), S. 38. 6 Vgl. Bourdieu (2001), S. 48. 7 Vgl. Bourdieu (1985), S. 37ff. 8 Vgl. Thompson (1980a), S. 69f. 9 Vgl. Löw (2001), S. 185ff. 10 Hier gilt es, ähnlich wie im Hinblick auf die Politikformen der untersuchten Kollektivakteure, jene Verzerrungen im Blick zu behalten, die durch die Auswahl der Studienobjekte zustande gekommen sein könnten: Im Rahmen der Suche nach geeigneten Konflikten war die räumliche Konzentration der zu analysierenden Auseinandersetzungen ein wesentliches Auswahlkriterium, da diese die mikrohistorische Untersuchung überhaupt erst möglich machte.

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Während das Stadtteilkomitee der Magliana um eine alternative Raumkonstitution auf Stadtteilebene kämpfte und somit ein anderes ‚urban meaning‘11 anstrebte, drehte sich die Auseinandersetzung im Rahmen des Besetzungszyklus von 1973/4 um bestimmte Wohnblocks, die jenseits der Marktlogik angeeignet werden sollten, die aber, wie das Beispiel der Via Pescaglia 93 belegt, auch Ausgangspunkt neuer Formen der solidarischen und basisdemokratischen Vergesellschaftung sein sollten. Ähnlich verhielt es sich mit der Campusbesetzung im Frühjahr 1977, als die institutionelle ‚Routine der Akademie‘ aus den Angeln gehoben und eine völlig andere Form des sozialen Lebens mit festlichen, kommunikativen, spielerischen und kämpferischen Facetten auf dem Campus ins Werk gesetzt wurde. Die Selbstorganisation eines feministischen Frauenzentrums in San Lorenzo verlief zwar auf den ersten Blick weniger konfliktual, stellte bestehende soziale Konventionen aber nicht weniger nachhaltig in Frage. Eine weitere Form des Raumkonflikts bestand in der Poliklinik, wo das autonome Betriebskollektiv die institutionalisierten Verhaltensroutinen über mehr als ein Jahrzehnt hinweg bekämpfte und die Institution Poliklinik so von innen heraus immer wieder aufs Neue aufzuheben und durch einen Raum der hierarchiefreien, kostenlosen und humanen Gesundheitsversorgung zu ersetzen versuchte. Festzuhalten bleibt, dass alle untersuchten sozialen Auseinandersetzungen auch Konflikte um gegenläufige Formen der Raumkonstitution, ein Experimentieren mit alternativen Gesellschaftsentwürfen an konkreten Orten waren. Gerade auch an dieser Form der verorteten Restrukturierung des Sozialen entzündeten sich massive Auseinandersetzungen, die die zunehmend eskalierende Konfrontation zwischen sozialen Bewegungen und italienischem Staat im Laufe der 1970er Jahre mit bedingten. Im Hinblick auf die politische Subjektivität der untersuchten Akteure lässt sich eine weitere wesentliche Kontinuitätslinie ausmachen: Alle hier untersuchten Aktivistengruppen begriffen die italienische Gesellschaft als klassenförmig strukturiertes Ensemble. Angesichts der stark tertiär geprägten ökonomischen Struktur der italienischen Hauptstadt und der langen Tradition urbaner Kämpfe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war dabei weniger ein enger Begriff von Industriearbeiterschaft für die Konfliktwahrnehmung und Selbstverortung der Bewegungsakteure prägend als vielmehr eine relativ offene Vorstellung von Subalternität, die subproletarische Schichten ebenso mit einbezog wie das in Rom stark vertretene „white-collar proletariat“.12 Die im Rom der 1970er Jahre immer wieder entstehenden massenhaften Bewegungsdynamiken beruhte auf einem bei Angehörigen der subalternen Schichten weit verbreiteten Gefühl kollektiver Klassenidentität, das zwar auf der objektiven ‚Nähe im sozialen Raum‘ basierte, aber erst durch seine subjektive Wahrnehmung – also

11 Vgl. Castells (1983), S. 303. 12 Zum römischen „white-collar proletariat“, vgl. Agnew (1995), S. 106. Eine Sonderrolle nahmen dabei die Feministinnen von San Lorenzo ein, die sich selbst nicht als Exponentinnen der subalternen Klassen begriffen, ihre politische Intervention aber dennoch auf eben jene Bevölkerungssegmente zuschnitten.

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die ‚Klassifizierung‘ der Beteiligten – handlungsrelevant wurde.13 Diese wiederum beruhte auf zweierlei Faktoren: einem latenten klassenförmigen ‚common sense‘14, der bei einem wesentlichen Teil der subalternen römischen Bevölkerung auch deshalb existierte, weil nicht nur den italienischen sozialen Bewegungen seit 1968 die Kategorie der Klasse als ‚idée-force‘15 diente, sondern auch den Parteien der traditionellen Linken, allen voran dem PCI, dessen ‚unaufhörliche Repräsentationsarbeit‘16 zur Generierung klassenförmiger Identitäten beitrug. Virulent wurde diese Klassifizierung allerdings erst in praxi, also im Zuge konkreten ‚Klassenhandelns‘, das den Beteiligten ihre gemeinsamen Interessen vor Augen führte und deutlich machte, welche sozialen Kräfte deren Durchsetzung zu verhindern suchten.17 Die Stadt Rom nahmen die hier untersuchten Bewegungsakteure als entlang von Klassenzugehörigkeiten segregiertes und von Klassenkonflikten durchzogenes Terrain wahr: Die ‚Nähe im soziale Raum‘ war mit der Nähe im urbanen Raum korreliert und konnte so über das Scharnier der kollektiven Erfahrung sozialer Marginalisierung zum Ausgangspunkt konkreten ‚Klassenhandelns‘ werden. Ihren Niederschlag fand die latente Konfliktualität vor allem in Fragen des ‚kollektiven Konsums‘ 18, die gerade unter dem Einfluss von Wirtschaftskrise und Inflation immer wieder zum Gegenstand konkreten ‚Klassenhandelns‘ wurden. Damit aber erscheint jene ‚Eigendynamik des Wohlstands‘19, die Doering-Manteuffel und Raphael für die Jahre nach dem Ende des Booms in Europa konstatieren, im italienischen Fall weniger als Eigendynamik, denn als Folge konkreten konfliktualen Akteurshandelns. Ausgehend von diesen Aspekten relativer Kontinuität kann, basierend auf der diachronen Anordnung der Mikrostudien, eine Reihe von Wandlungsprozessen skizziert werden, die das Gesamtbild dynamisieren. In den 1970er Jahren war das rapide Wachstum der italienischen Hauptstadt zwar abgeschlossen, aber die Veränderungen der urbanen Strukturen waren keineswegs an ein Ende gelangt. Im Zuge der Metropolitanisierung20 Roms begann die klare Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie ebenso zu verschwinden wie die relative soziale Homogenität der Stadtteile mit ihrer identitätsstiftenden Wirkung und so

13 Vgl. Bourdieu (1985), S. 12ff. 14 Bourdieu (1985), S. 19. 15 Vgl. Bourdieu (2001), S. 51. Zur Bedeutung klassenkämpferischer Konzepte für den italienischen Bewegungszyklus vgl. z.B. Tolomellis Überlegungen zum ‚Operaismo‘ als gemeinsame ‚kognitive Orientierung‘ von Studenten und Arbeitern nach 1968, vgl. Tolomelli (2001), S. 300ff. 16 Zur politischen ‚Repräsentationsarbeit‘ und zur ‚Klasse als Wille und Vorstellung‘ vgl. Bourdieu (1985), S. 16 und S. 37ff. 17 Vgl. Thompson (1980b), hier v.a. S. 267f.; Thompson (1987), S. 963. 18 Vgl. Castells (1983), S. 319ff. 19 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2008), 42ff. 20 Der hier verwendete Begriff von Metropole bzw. Metropolitanisierung bezieht sich auf jene Entwicklungstendenzen, die Reif in seiner Begriffsbestimmung eher der Metropolregion zuschreibt, vgl. Heinz Reif (2006): Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden. CMS Working Papers Series Nr. 1, S. 13f.

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setzte der langsame Auflösungsprozess der subalternen cintura rossa und der traditionellen quartieri popolari ein.21 Dabei gingen Veränderungen in der urbanen Textur und in der Vorstellungswelt der Bewohnerschaft – also die Prozesse der ‚äußeren‘ und ‚inneren‘ Urbanisierung – Hand in Hand. Die annähernde Halbierung der ohnehin schwachen römischen Arbeiterschaft im Laufe der 1970er Jahre und das verstärkte Streben bürgerlicher Schichten nach Suburbanität markierten nur zwei der Tendenzen,22 die die römische Peripherie und ihre Wahrnehmung durch die Bewohnerschaft grundlegend veränderten und die Bewegungen zunehmend ihrer Resonanzräume beraubten. Castells ordnet diese Veränderungen im internationalen Rahmen in den Übergang vom Industrie- zum Informationskapitalismus ein und konstatiert die Produktion eines neuen ‚urban meaning‘, das als ‚technologische Antwort‘ auf die urbane Krise und die starken urbanen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre interpretiert werden könne:23 „The new tendential urban meaning is the spatial and cultural separation of people from their product and from their history. It is the space of collective alienation and individual violence […].“24 In diesem Kontext des Übergangs ins Informationszeitalter geht Castells zufolge die identitätsstiftende Wirkung urbaner Orte für die Bewohner verloren: „[…] [W]hat tends to disappear is the meaning of places for people.“25 Italienische Beobachter konstatieren unabhängig von Castells rückblickend ähnliche Prozesse: Die durch die postindustrielle Ökonomie produzierte ‚Enträumlichung‘26 sozialer Verhältnisse mache es für die Bewohner der italienischen Städte immer schwieriger, die eigene Identität unter Bezug auf ihren Wohnort zu definieren.27 Diese Entwicklungstendenzen gingen auch am kollektiven Imaginären der jungen Aktivistengeneration nicht spurlos vorüber und so wurde Rom ab etwa Mitte der 1970er Jahre immer weniger als Ensemble sozial stratifizierter Stadtteile wahrgenommen, in dessen subalternen Vierteln sich lokale Gemeinschaften entlang ihrer konkreten Bedürfnisse organisierten und gegen ihre Marginalisierung wehrten. Vielmehr erschien Rom zunehmend als Großstadt der Kälte, Anonymität und Gewalt, in der Individuen um ihr Überleben und ihr Glück kämpften:28 „Roma […] acquisisce una modalità di comportamento ‚impolitica‘. Nuove tonalità emotive emergono: l’opportunismo, la paura e il cinismo, che rappresentano il lato oscuro

21 Vgl. Agnew (1995), S. 103-130, hier: v.a. S. 116f.; Grispigni (1990b), S. 21. 22 Exemplarisch zur bürgerlichen Suburbanisierungstendenz in den 1970ern vgl. Bonomo (2009a). Zur annähernden Halbierung der römischen Arbeiterklasse in den 1970er Jahren von 21% auf 12% der Beschäftigten, vgl. Agnew (1995), S. 105. 23 Vgl. Castells (1983), S. 312ff. 24 Castells (1983), S. 314. 25 Castells (1983), S. 314. 26 Vgl. Roberto Pallottini (1999): Territorio, reti di comunicazione e protagonismo delle città, in: Carlo Felice Casula (Hg.): L’Italia dopo la grande trasformazione. Trent’anni di analisi CENSIS 1966-1996. Rom, S. 47-69, hier: S. 65. 27 Grispigni (1990b), S. 21. 28 Zu den urbanen Veränderungsprozessen in postindustriellen Gesellschaften vgl. Castells (1983), S. 314. Allgemein zu den Tendenzen gesellschaftlicher Desintegration im Italien der späten 1970er Jahre vgl. Woller (2010), S. 336f.

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dell’imperante mobilità, adattabilità, flessibilità che la realtà metropolitana e i nuovi modelli produttivi postindustriali richiedono. In questa realtà, l’agire politico quotidiano nella ristrettezza di un luogo, capace di dare identità e riconoscibilità, diviene improponibile.“29 Gerade in den urbanen Peripherien Italiens waren die Folgen der Auflösung identitätsstiftender Nahräume in den 1980er Jahren oft dramatisch: Die Zahl der Konsumenten harter Drogen, die parallel zum Abflauen des Bewegungszyklus in den späten 1970er Jahren sprunghaft angestiegen war, erreichte nun völlig neue Dimensionen und gegen Ende der 1980er Jahre wurde die Zahl der Drogenabhängigen auf 300.000 geschätzt.30 Doch nicht nur strukturelle Veränderungen begannen den Graswurzelorganisationen im Laufe der 1970er Jahre langsam das Wasser abzugraben: Die politischen Parteien widersetzten sich den nach 1968 entstandenen Formen des lokalen Basisaktivismus durch den bewusst betriebenen Ausbau ihrer Präsenz in den gesellschaftlichen Nahräumen und die Stärkung institutionalisierter Partizipationsangebote, die die direkte Logik der lokalen Basispolitik auf den Kopf stellten: Statt Selbstermächtigung und praktischer Intervention sollte die lokale Politik nun zu einem Ort niedrigschwelliger Parteipolitik mit ihrer Logik der Delegation und Repräsentation werden. Was als Versuch der sozialen Bewegungen begonnen hatte, der italienischen partitocrazia in den urbanen Nahräumen Formen der Selbstorganisation von unten entgegenzusetzen, mündete in eine zunehmende Kolonisierung eben jener Nahräume durch die Parteien und den Staat.31 Die Expansion des Parteieneinflusses in der Gesellschaft ging in den 1970er Jahren allerdings nicht mit einer Verschärfung der parteipolitischen Auseinandersetzungen einher, sondern im Gegenteil mit einer Annäherung der Parteien. Die daraus resultierende mangelnde Repräsentation sozialer Konfliktualität in der Sphäre der offiziellen Politik führte in Rom zunächst eher zu einer Radikalisierung der urbanen Konfliktualität, da der PCI seine dominierende Rolle zumindest punktuell an die außerparlamentarischen Gruppen verlor. Auf Dauer jedoch entzog gerade die Rücknahme der kämpferischen Rhetorik und Praxis des PCI im Zuge des ‚historischen Kompromisses‘, der ab 1976 in eine Art ‚informelle große Koalition‘32 mündete, den sozialen Bewegungen eine wesentliche Grundlage, da die gesellschaftlichen Resonanzräume für klassenkämpferische Agitation und Initiativen verloren gingen. Durch

29 Grispigni (1990b), S. 22. „Rom […] erwirbt einen ‚unpolitischen‘ Verhaltensmodus. Neue emotionale Tonarten treten auf: Der Opportunismus, die Angst und der Zynismus, die die dunkle Seite der herrschenden Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität darstellen, die die metropolitane Realität und die neuen postindustriellen Produktionsmodelle erfordern. In dieser Realität wird das alltägliche politische Handeln in der Begrenztheit eines Ortes, der in der Lage ist Identität und Wiedererkennbarkeit zu verleihen, unvorstellbar.“ 30 Vgl. Paul Ginsborg (1998): L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980-1996. Turin, S. 120f. Zu den späten 1970er Jahren vgl. Giachetti (1998), S. 183. 31 Vgl. De Mucci (1984), S. 279; Grispigni (1990b), S. 18f.; Crainz (2003), S. 420f.; Moro (2007), S. 69. 32 Vgl. Woller (2010), S. 321.

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den Sieg des PCI bei den römischen Kommunalwahlen 1976 wurde die Situation nochmals komplizierter: Die jahrzehntelang führende Oppositionskraft stand nun der Stadtverwaltung vor und vollzog trotz einiger urbanistischer Reformanstrengungen keine grundsätzliche Abkehr von der Politik ihrer christdemokratischen Vorgänger: „Fare bene ciò che gli altri avevano fatto male: questa finì per essere la filosofia della giunta rossa, invece di fare altre cose e proporre e realizzare appunto un’altra città diversa.“33 Die kommunale Linksregierung enttäuschte jedoch nicht nur viele der in sie gesetzten Erwartungen, der ‚Seitenwechsel‘ des PCI veränderte auch die Spielräume der urbanen Protestbewegung nachhaltig: Der Verlust des gemeinsamen Feindes in Gestalt der christdemokratischen Stadtspitze erschwerte den Schulterschluss zwischen sozialen Bewegungen und Parteibasis der traditionellen Linken, weil es letzterer widerstrebte, Protest und Widerstand gegen die Politik der ‚eigenen‘ Kommunalverwaltung zu organisieren.34 Mit einer gewissen Zeitverzögerung wurde deutlich, dass die Abnahme der ‚Repräsentationsarbeit‘ des PCI und der Rückgang der konkreten ‚Klassenereignisse‘ auf Dauer auch die kollektive Klassenidentität und somit die Grundlage des Wählerreservoirs der linken Parteien erodieren ließ: Bei den Kommunalwahlen 1985 brach der PCI um mehr als 5% ein und verlor die italienische Hauptstadt an die Christdemokraten. Es war kein Zufall, dass der Einbruch gerade in den ehemals linken quartieri popolari und der vormaligen cintura rossa am ausgeprägtesten war.35 Neben makropolitischen und urbanistischen Wandlungsprozessen, welche die Entwicklung der römischen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre beeinflussten, kamen auch wesentliche Veränderungsimpulse aus ihrem Inneren: Im Bewegungsspektrum der 1970er Jahre entwickelten sich neue Formen politischer Subjektivität, die jene starke Klassenorientierung zu überformen begannen, die lange ein Kerncharakteristikum des italienischen Bewegungszyklus dargestellt hatte.36 Mit der wachsenden Bedeutung des Neofeminismus trat seit Anfang der 1970er Jahre zunehmend der Geschlechterkonflikt als gesellschaftliche Widerspruchslinie neben den Klassenkampf. Zudem kam es im Laufe der 1970er Jahre zu einer Akzentuierung generationeller Differenz innerhalb des Bewegungsspektrums: Die fortgesetzte Bildungsausweitung sorgte für eine verstärkte Akkumulation kulturellen Kapitals und die Entstehung neuer Bedürfnisse bei der jungen Aktivistengeneration, die gegen Mitte der 1970er Jahre die Bildfläche betrat. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit blockierte jedoch die Konvertierung des erworbenen kulturellen Kapitals in ökonomisches Kapital und sorgte so für eine systematische Frustration der neuen Bedürfnisse, woran sich eine

33 Vgl. Insolera (1993), S. 329. „Das gut zu machen, was die anderen schlecht gemacht hatten, das war letztlich die Philosophie der roten Stadtregierung, anstatt andere Dinge zu machen und eben eine andere, eine andersartige Stadt vorzuschlagen und zu realisieren.“ Vgl. auch: Italo Insolera: Il decennio delle occasioni perdute: Roma 1975-1985, in: Ders. (2010): Roma, per esempio. Le città e l’urbanista. Rom, S. 109-123. 34 Vgl. Grispigni (1990b), S. 20f. 35 Vgl. Vidotto (2006), S. 342ff. 36 Vgl. Lumley (1990), S. 266f.

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Welle des Jugendprotests der ‚geprellten Generation‘37 entzündete. Für die Jugendlichen von 1977 hatte sich der Klassenwiderspruch in der italienischen Gesellschaft keineswegs aufgelöst, aber das Kollektivsubjekt, dem sie sich zurechneten, hatte nun eine starke generationelle Konnotation, die in der Selbstbezeichnung als proletariato giovanile ihren Niederschlag fand. Die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die modifizierte Kapitalausstattung der neuen Subjekte fanden ihren Ausdruck in einem neuen Politikbegriff: Die feministischen und jugendlichen Akteure propagierten eine ‚andere Art, Politik zu machen‘, in der Individualität, Subjektivität und Emotionalität eine ungleich wichtigere Rolle spielten, als sie dies zuvor getan hatten. Im Zuge dieser Veränderung wandelte sich die Agenda der sozialen Bewegungen nachhaltig. Während in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Kämpfe um Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Schulen, Kindergärten und gegen den Preisauftrieb bei Lebensmitteln, Strom und Gas die Forderung nach sozialer Gleichberechtigung in die urbane Textur Roms eingeschrieben hatten, kämpften Feministinnen und Jugendliche ab Mitte der 1970er Jahre verstärkt um ihr Recht auf Differenz, gegenkulturelle Freiräume und kulturellen Konsum trotz der Wirtschaftskrise. Damit vollzog sich um Mitte der 1970er Jahre auch in Italien jene Umorientierung auf Fragen der ‚menschlichen Erfahrung‘, die Castells als charakteristisch für die neuen sozialen Bewegungen ansieht, welche die Arbeiterbewegung als zentralen Kollektivakteur ablösten: „The new emerging social movements call for the pre-eminence of human experience over state power and capitalist profit.“38 Für die Anliegen der neuen Bewegungsströmungen konnten jedoch viele ältere Aktivisten und wesentliche Teile jener subalternen Bevölkerungssektoren, die den Resonanzraum der urbanen Bewegungen in Rom bildeten, aufgrund der eigenen Kapitalausstattung und des damit verbundenen ‚Notwendigkeitsgeschmacks‘39 nur begrenztes Verständnis entwickeln.40 In der Revolte von 1977 überlagerte sich die beginnende Auflösung der sozialen Verankerung der Bewegungen mit der radikalen Politisierung der jungen Aktivistengeneration: Die Bewegung strebte umfassende gesellschaftliche Veränderungen an, war aber nur sehr eingeschränkt in der Lage, ihre Radikalität in konkret situierte Kämpfe zu übertragen. So blieb den Rebellen von 1977 vor allem ein – kreatives oder gewaltförmiges – symbolisches Repertoire, das aber häufig jene Bindung an die konkreten Alltagsprobleme breiter Bevölkerungsschichten vermissen ließ, die für die

37 Vgl. Bourdieu (1982), S. 241-248. Zu ähnlichen Phänomenen im Frankreich und Großbritannien der 1970er Jahre, vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2008), 36ff. 38 Castells (1983), S. 311. Castells weist im Hinblick auf die Dimension der ‚Erfahrung‘ (‚experience‘) dem Feminismus eine Schlüsselrolle zu – eine These, die durchaus auch für den italienischen Kontext vertretbar ist, vgl. Castells (1983), S. 309 und S. 311. 39 Bourdieu (1982), S. 291. 40 Vgl. Bourdieu (1987), S. 243 und S. 248. Bourdieu konstatiert ein spezifisches Konfliktpotential innerhalb des Arbeitermilieus zwischen jungen Exponenten der ‚geprellten Generation‘ und den älteren Generationen derselben Klasse.

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sozialen Kämpfe im Italien der frühen und mittleren 1970er Jahre charakteristisch gewesen war.41 Nach der Revolte des Frühjahrs 1977 begannen die sozialen Bewegungen in Rom allmählich abzuebben. Der soziale Wandel der italienischen Gesellschaft, die Neuzusammensetzung des Bewegungsspektrums und die Veränderungen des urbanen Raumes begannen jenen Modellen kollektiven Handelns den Boden zu entziehen, die Italien seit 1968 in Atem gehalten hatten. Maurizio Cersarini, Aktivist beim freien römischen Radiosenders Radio Città Futura, erinnert sich an den Endpunkt des Bewegungszyklus als jenen Moment gegen Anfang der 1980er Jahr, als deutlich wurde, dass den sozialen Bewegungen das solidarische Umfeld weggebrochen war, das ihre Verankerung ausgemacht hatte: „Secondo me l’ultima fase del movimento era quando i fascisti assassinarono Valerio Verbano. Mi pare nell ’81 […]. […] C’era ancora una onda di movimento. […] Partecipai anche l’anno successivo nell 1982 a una manifestazione al Tufello (per Valerio Verbano, M.H.) […]. Era una manifestazione vietata. A un certo punto la polizia ci caricò e la gente che abitava alle case popolari scese giù per difenderci e riuscimmo a concludere la manifestazione. Questo mi sembra che fu l’ultima volta che ancora le persone reagivano di fronte alle ingiustizie. Ma fu l’ultima volta che ho visto questo […]. Poi basta.“42 Versucht man die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung erzielten Erkenntnisse in den Kontext des italienischen Bewegungszyklus von 1968 bis 1978 insgesamt einzuordnen, so werden zahlreiche Übereinstimmungen hinsichtlich der grundsätzlichen politischen Orientierungen, der beteiligten Subjekte, der praktizierten Politikformen und der einzelnen Phasen des Bewegungszyklus ebenso deutlich wie wesentliche Spezifika des ‚caso Roma‘43, die sich vor allem auf die Verräumlichung der Bewegungsdynamiken beziehen: Während die soziale Konfliktualität in den industriellen Zentren Norditaliens in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in den großen Fabriken ihren Brennpunkt fand, verlagerte sie sich im tertiären Rom schon bald nach dem studentischen 1968 auf den urbanen Raum und auf Fragen des kollektiven

41 Auch hier gilt es, die Veränderungen nicht zu überzeichnen: Auch während und nach 1977 gab es durchaus weiterhin zahlreiche Basisorganisationen, die eine in Betrieben und Stadtteilen verankerte Graswurzelpolitik betrieben – die Betriebskämpfe in der Poliklinik oder das feministische Beratungszentrum in San Lorenzo sind hiefür nur zwei Beispiele. 42 Interview mit Maurizio Cesarini vom 22.11.2008, 46:25-48:00. „Ich denke, die letzte Phase der Bewegung war, als die Faschisten Valerio Verbano ermordeten. Ich glaube [es war] ’81 […]. […] Da gab es nochmal eine Welle der Bewegung. […] Ich nahm auch im Jahr darauf, 1982, an einer Demonstration in Tufello (für Valerio Verbano, M.H.) teil […]. Die Demonstration war verboten. Auf einmal begann die Polizei uns anzugreifen und die Leute, die in den Sozialwohnungen lebten, kamen herunter, um uns zu verteidigen, und so gelang es uns, die Demonstration abzuschließen. Ich glaube, das war das letzte Mal, dass die Leute angesichts der Ungerechtigkeiten reagierten. Aber es war das letzte Mal, dass ich das erlebte […]. Dann war es vorbei.“ Faktisch wurde Valerio Verbano am 22.2.1980 ermordet. Die Demonstration auf die sich Cesarini bezieht wird also wahrscheinlich schon 1981 stattgefunden haben. 43 ‚Falls Rom‘.

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Konsums. In Rom ersetzten somit die urbanen Nahräume partiell die Fabriken als gesellschaftlichen Konfliktraum, in dem sich kollektive Identitäten im Zuge konkreter Auseinandersetzungen konstituierten. Doch trotz der besonderen Bedeutung der urbanen Kämpfe für die tertiäre Metropole Rom folgten die Bewegungsdynamiken hier grundsätzlich ähnlichen Konjunkturen wie im industriellen Norden. Ab etwa Mitte der 1970er Jahre hatte der Klassenwiderspruch als zentrale gesellschaftliche Konfliktachse ausgedient: Die industrielle Umstrukturierung und die Veränderungen des urbanen Raumes stellten im Laufe der 1970er Jahre jene Formen der Klassenidentität zunehmen in Frage, die sich im Gefolge von 1968 politisiert und radikalisiert hatten – weder die fordistische Großfabrik noch das quartiere popolare oder die ‚rote‘ borgata hatten als prägende Konfliktarenen dauerhaft Bestand.44 Beide Wandlungsprozesse waren in einen von der ökonomischen Krise der 1970er Jahre überformten gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsschub eingebunden, der Individualismus und Konsumismus Auftrieb verlieh und zugleich Veränderungswillen und Zukunftsglauben als Teile der linken Kultur abebben ließ.45 Die Ergebnisse der hier vorgelegten Studie können zum Teil in die von Marica Tolomelli und Giovanni Moro vorgeschlagenen Interpretationen der 1970er Jahre eingefügt werden, die die Dekade als Ära vielgestaltiger ‚sozialer Lebendigkeit‘46 beschreiben, der die Chiffre der ‚bleiernen Jahre‘ nicht gerecht wird.47 Allerdings unterschlagen beide Rekonstruktionsversuche tendenziell den dezidiert politischen und hochgradig konfliktualen Charakter der sozialen Bewegungen der 1970er Jahre. Tolomelli interpretiert die 1970er Jahre als Jahrzehnt starker zivilgesellschaftlicher Partizipation und wichtiger gesellschaftlicher Reformen48 und kommt so zu einem positiven Fazit: „Insgesamt lässt sich für die siebziger Jahre eine vergleichsweise wirksame und fruchtbare Interaktionsdynamik zwischen der Gesellschaft und den staatlichen Institutionen […] feststellen.“49 Ausgehend von den hier vorgelegten Mikrostudien erscheint eine derartige Interpretation jedoch allzu harmonisierend: Weder gibt der von Tolomelli und Moro gebrauchte Begriff der Partizipation adäquat jene höchst konfliktualen Interaktionsmuster wieder, die im Zuge ‚direkter Politik‘ zwischen sozialen Bewegungen und staatlichen Institutionen bestanden,50 noch erfasst Tolomellis Diagnose einer ‚fruchtbaren Interaktionsdynamik‘ zwischen Gesellschaft und Staat den Umstand, dass die staatlichen Reformen oft in erster Linie den Versuch darstellten, den von den Basisbewegungen und zivilgesellschaftlichen Institutionen aufgebauten Druck abzuleiten, und dass deren Umsetzung auch deshalb häufig große

44 Zur industriellen Umstrukturierung in den 1970er Jahren, vgl. Crainz (2003), S. 434-436 und S. 452-465; Ginsborg (1990), S. 353. Zur urbanen Restrukturierung vgl. Castells (1983), S. 311ff. 45 Vgl. Crainz (2003), S. 437f. und 442f. 46 Vgl. Tolomelli (2009), S. 429. 47 Vgl. Moro (2007) und Tolomelli (2009). 48 Vgl. Tolomelli (2009), S. 453ff. 49 Tolomelli (2009), S. 455f. 50 Vgl. Tolomelli (2009), S. 453ff.; Moro (2007), S. 31-36.

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Mängel aufwies.51 Der Umstand, dass die massive staatliche Repression in den späten 1970er Jahren wesentlich zum Ende des italienischen Bewegungszyklus‘ beitrug bleibt ebenso ausgeklammert. Moro versucht, die komplexen Dynamiken der 1970er Jahre zu strukturieren, indem er zwischen einem conflitto di cittadinanza52 und einem conflitto di sistema53 unterscheidet: Während erstere Konfliktdimension beispielsweise durch Formen der alltäglichen Demokratie und das Drängen auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaates charakterisiert gewesen sei, habe sich die zweite Konfliktdimension durch die Anwendung körperlicher Gewalt und den Kampf um politische Symbole ausgezeichnet.54 Moro verweist zwar auf den Umstand, dass beide Konfliktdimensionen häufig eng verbunden waren, hält sie aber für inkompatibel, da im Rahmen des conflitto di sistema alle konkreten sozialen Auseinandersetzungen einzig instrumentellen Charakter gehabt hätten, um einen Systemwechsel zu erreichen, während im Rahmen des conflitto di cittadinanza das konkrete Anliegen selbst Zweck des Engagements gewesen sei.55 Seine Lektüre der 1970er Jahre zielt deshalb auf die Trennung der beiden Konfliktdimensionen, da nur so eine Interpretation vermieden werden könne, die den conflitto di cittadinanza unter dem conflitto di sistema verschwinden lasse.56 Die hier durchgeführten Mikrostudien legen allerdings nahe, dass Moros Begriffsapparat nur über eine eingeschränkte empirische Fundierung verfügt: So schlüssig es ist, die Prozesse der bewegungsförmigen Alltagspolitik in den Mittelpunkt jeder Analyse der Bewegungsdynamiken der 1970er Jahre zu stellen, so problematisch erscheint es, Formen der lokal verankerten Alltagspolitik pauschal ihre systemverändernde Radikalität abzusprechen. Letztlich stellt sich die Frage, ob Moros Konzept zweier Konfliktdimensionen nicht Ausdruck eben jener „Pathologien der Erinnerung“57 ist, gegen die er anschreibt: Um die sozialen Bewegungen der 1970er von jenem ‚grauen Schleier‘ (Tolomelli) der ‚bleiernen Jahre‘ zu befreien, der die Dekade bislang umhüllt, werden die hochgradig politischen und zugleich im Alltag der Beteiligten verankerten Bewegungen der 1970er Jahre in Formen des abstrakten Systemkonflikts und des bürgerschaftlichen Engagements aufgespalten, um mit letzteren einen unproblematischen, weil unpolitischen Bezugspunkt für eine Erinnerung der 1970er Jahre jenseits von Terrorismus und Krise zu konstruieren.58

51 Für eine deutlich kritischere Einschätzung der Reformen der 1970er Jahre vgl. Crainz (2003), S. 419-424. Tolomelli selbst betont, dass viele Reformen auf die Deeskalation sozialer Konflikte zielten, vgl. Tolomelli (2009), S. 453. 52 ‚Bürgerschaftlicher Konflikt‘. 53 ‚Systemkonflikt‘. 54 Vgl. Moro (2007), S. 65ff. 55 Vgl. Moro (2007), S. 69ff 56 Vgl. Moro (2007), S. 127f. 57 Moro (2007), S. 11ff. Moro geht davon aus, dass die Erinnerung an die 1970er Jahre von den Komplexen des Schweigens (‚silenzio‘), der Scham (‚vergogna‘) und der Nostalgie (‚nostalgia‘) geprägt sei, die in ihrem Zusammenspiel pathologische Züge trügen. 58 In ein ähnliche Richtung tendiert Tolomelli, wenn sie den „Partizipationswille(n) der wachsenden italienischen ‚Bürgergesellschaft‘“ in den 1970er Jahren hervorhebt und von

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Die Interpretationen Tolomellis und Moros verweisen auf die Schwierigkeiten, die 1970er Jahre als bewegte Dekade der italienischen Geschichte jenseits der ‚anni di piombo‘ sichtbar zu machen und die sozialen Bewegungen als wesentliche historische Akteure in den Blick zu nehmen, ohne sie dabei als Teil einer konfliktgeladenen, aber in letztlich doch erfolgreichen italienischen Modernisierungsgeschichte umzuinterpretieren.59 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde eine andere, weniger versöhnliche und stärker auf die Performanz der Bewegungen zielende Lektüre angestrebt: Aus dieser Perspektive prägten die sozialen Bewegungen die italienische Gesellschaft etwa eine Dekade lang durch ihr konkretes Agieren. Resultat der starken Bewegungsdynamik waren nicht in erster Linie langfristige Demokratisierung und Modernisierung der italienischen Gesellschaft, sondern eine ausgeprägte soziale und politische Konfliktualität. Die Auswirkungen der Bewegungen sind zunächst und vor allem innerhalb dieser Konflikte zu suchen: Hier prägten sich kollektive Identitäten aus und vollzogen sich individuelle und gemeinschaftliche Prozesse der Selbstermächtigung; hier bildeten sich Netzwerke der Solidarität, hier wurden konkrete Erfolge erkämpft und alternative Lebensentwürfe erprobt. Erweitert man den Fokus nochmals und ordnet die hier untersuchten sozialen Bewegungen im Rom der 1970er Jahre als Ausschnitt des italienischen Bewegungszyklus in den westeuropäischen Kontext ein, so treten einige italienische Spezifika deutlich hervor: Die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre verfügten in Italien nicht nur über eine Intensität und Dauer, die in Westeuropa ihresgleichen sucht,60 sondern sie folgten auch deutlich stärker einem Primat der Politik als die Bewegungen in den meisten anderen westeuropäischen Ländern.61 Aufgrund der spezifischen Politisierung des italienischen Bewegungsspektrums macht der Begriff eines ‚alternativen Milieus‘62 im italienischen Fall zumindest bis Mitte der 1970er Jahre als Klammer für jene Kräfte, die die sozialen Konflikte jenseits der großen zivilgesellschaftlichen Institutionen dominierten, wenig Sinn. Eher erscheint die Konfliktualität im Italien der frühen 1970er Jahre als Facette jener ‚Wiederkehr des Klassenkampfes‘ nach 1968, die Doering-Manteuffel und Raphael für Italien, Frankreich und Großbritanni-

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60 61 62

der „intensivierten Interaktion zwischen Institutionen und sozial engagierten Staatsbürgern“ spricht, vgl. Tolomelli (2009), S. 455. Derartige Interpretationen fanden sich bislang, dem Stand der historischen Aufarbeitung entsprechend, vor allem zu 1968. Zur Diskussion derartiger Interpretationen vgl. Tolomelli (2008), S. 112-118. Zum italienischen 1968 finden sich Aspekte derartiger Interpretationsmuster z.B. bei: Kurz (2001), S. 321; Tolomelli (2001), S. 327. Gegen derartige Interpretationen wenden sich u.a. Ginsborg (1990), S. 342 und Revelli (1995), S. 474f. Vgl. z.B. Gerd-Rainer Horn (2007): The Spirit of ’68. Rebellion in Western Europe and North America, 1956-1976. Oxford u.a., S. 111f. Vgl. Kurz (2001), S. 321. Zum Begriff des ‚alternativen Milieus‘ in Westdeutschland und Europa, vgl. Reichardt/Siegfried (2010). Zum Zusammenhang des ‚alternativen Milieus‘ mit den sozialen Bewegungen, vgl. Reichardt/Siegfried (2010), S. 22.

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en konstatieren.63 Als in Italien um Mitte der 1970er Jahre mit dem Feminismus und der radikalen Jugendbewegung neue Kräfte im Spektrum der sozialen Bewegungen dominanter wurden, die sich verstärkt über ihre alternativen Lebensstile definierten, begannen sich die Bewegungsdynamiken insgesamt bald deutlich abzuschwächen. Die Hochphase des westdeutschen alternativen Milieus, die Reichardt und Siegfried für die frühen 1980er Jahren konstatieren, findet damit in Italien kein Pendant.64 Der hohe Politisierungsgrad und die große Bedeutung klassenkämpferischer Orientierungen erschweren die Einordnung der italienischen sozialen Bewegungen in die längerfristigen transnationalen Prozesse des Struktur- und Mentalitätswandels:65 Während Reckwitz davon ausgeht, dass die US-amerikanischen und westeuropäischen counter cultures der 1960er und 1970er Jahre eine Katalysatorwirkung für die postmodernen Subjektentwürfe der Gegenwart hatten,66 argumentiert Ginsborg, dass die auf Kollektivität und soziale Gerechtigkeit hin orientierten Werte der italienischen Bewegungsaktivisten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen hin zu Individualismus und Familismus diametral entgegenstanden.67 Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich bei genauerer Betrachtung partiell auflösen: Versucht man Rechwitz‘ Überlegungen für den italienischen Fall fruchtbar zu machen, so müssen gerade die Jugendbewegung und der Feminismus der mittleren und späten 1970er Jahre ins Auge gefasst werden. Erst die latecomers des italienischen Bewegungszyklus passen in das Bild, das Reckwitz von den counter cultures der 1960er und 1970er Jahre zeichnet: Hier kamen die „Individualitäts-, Expressivitäts- und Lebendigkeitssemantik“68 und der Fokus auf „Emotionalität und Leiblichkeit“69 zum Tragen, die Reckwitz zufolge das „Subjekt des experiementellen Begehrens“70 der counter cultures charakterisierten und die wesentliche Facetten des ‚kreativ-konsumtorischen‘ Subjektentwurfs vorwegnahmen, der in den 1980er Jahren in den USA und Westeuropa zur prägenden Formation werden sollte.71 Allerdings bleibt Reckwitz’ Interpretation auch für die Spätphase des italienischen Bewegungszyklus nicht unproblematisch. Seine These, dass die „[…] Subjektivität der Gegenbewegungen […]“ ihrer „[…] besonderen Semiotik des Kampfes einer Subkultur gegen das Establishment entkleidet und damit generalisierbar (wurde)“72 trifft zwar im italienischen Fall am ehesten auf den Feminismus und die radikale Jugendbewegung der späten 1970er Jahre zu, doch kam die ‚Entkleidung‘ vor dem Hintergrund der radikalen Politisierung der italienischen sozialen Bewegungen eher einer Entkernung gleich. Feminismus und Jugendbewegung können zwar, im

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Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2008), S. 25f. Vgl. Reichardt/Siegfried (2010), S. 11f. Zu den entsprechenden Fragestellungen vgl. Doering-Manteuffel/Raphael (2008), S. 34ff. Reckwitz bezieht seine Überlegungen explizit nur auf Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die Vereinigten Staaten, vgl. Reckwitz (2006), S. 30. Vgl. Ginsborg (1990), S. 342. Reckwitz (2006), S. 590. Reckwitz (2006), S. 597. Reckwitz (2006), S. 17. Vgl. Reckwitz (2006), S. 15ff. und S. 75. Reckwitz (2006), S. 592.

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Gegensatz zu weiten Teilen des italienischen Bewegungsspektrums der späten 1960er und frühen 1970er Jahre als Pioniere postmoderner Selbstentwürfe interpretiert werden, doch die Befreiung von der ‚alten Art, Politik zu machen‘ bedeutete im italienischen Fall kein Ende der radikalen Politisierung. Dementsprechend wurde die von Reckwitz konstatierte ‚Generalisierung‘ von Versatzstücken der Bewegungssubjektivität unter veränderten politischen Vorzeichen kaum als nachträglicher Triumph der Bewegungen wahrgenommen – zu schwer wog die Umkehrung der politischen Stoßrichtung.73 Waren die 1970er Jahre in Italien eine Dekade besonders starker sozialer Bewegungsdynamiken gewesen, so war ihr Einbruch gegen Ende des Jahrzehnts ebenfalls außergewöhnlich heftig und wurde von vielen Aktivisten als biographischer Bruch erlebt: Das Abflauen der Arbeitermilitanz, die rapide Verkleinerung der politischen Spielräume angesichts der eskalierenden Konfrontation zwischen Staatsmacht und bewaffneten Gruppen, die Auflösung urbaner Resonanzräume der Bewegungspolitik die nur eine Facette der um sich greifenden gesellschaftlichen Desintegration darstellte und der individualisierte Rückzug einer ganzen jungen Aktivistengeneration nach der Massenbewegung von 1977 sind nur einige der Aspekte, die das Ende der 1970er Jahre in den Augen der meisten Bewegungsaktivisten zu Zeitenwende werden ließen. Ein Jahrzehnt später zog Franco ‚Bifo‘ Berardi, einer der Köpfe der Bologneser Bewegung von 1977, ein düsteres Fazit bezüglich der mittelfristigen Folgewirkungen des italienischen Bewegungszyklus: „Quali furono […] gli esiti di medio periodo dell’ondata libertaria ed antiautoritaria? Anzitutto la creazione delle premesse per la svolta neoliberista: l’autonomia sociale si determina in neoimprenditorialità, la comunicazione diffusa delle radio libere apre la strada all’oligopolio delle televisioni commerciali, la rottura del compromesso storico apre la strada alla modernizzazione craxiana, la critica radicale al lavoro salariato sfocia nell’offensiva padronale contro l’occupazione […]. E per finire, la critica del dogmatismo ideologico e storicista, apre la strada allo scintillante culto delle superfici, al bla bla dell’effimero, ed infine al predominio del mercato della cultura.“74 Nanni Balestrini zog ein ähnlich vernichtendes Urteil über die 1980er Jahre als das Danach der ‚großen Revolte‘, fasste es aber in poetische Formen: „[…] [D]all emergenza sbocciò il nuovo rinascimento yuppie / i magnifici anni 80 […] / gli anni di merda insinuano i maldicenti gli anni /

73 Vgl. Giachetti (2007), S. 27. 74 Franco Berardi (1989): dell’innocenza. Interpretazione dell settantasette. Bologna, S. 9. „Was waren […] die mittelfristigen Resultate der libertären und antiautoritären Welle? Vor allem die Schaffung der Voraussetzungen der neoliberalen Wende: Die soziale Autonomie wandelt sich in ein neues Unternehmertum. Die diffuse Kommunikation der freien Radios öffnet den Weg für das Oligopol des Privatfernsehens. Der Bruch mit dem historischen Kompromiss ebnet der Craxianischen Modernisierung den Weg. Die radikale Kritik der Lohnarbeit mündet in die Offensive der Bosse gegen die Beschäftigung […]. Zu guter Letzt ebnet die Kritik des ideologischen und historistischen Dogmatismus dem glitzernden Kult der Oberflächen den Weg, dem flüchtigen Blabla und letztendlich der Vormachtstellung der Kulturindustrie.“ Dieser Interpretation schließen sich einige der wesentlichen Interpreten von 1977 an, vgl. Grispigni (1997), S. 91; Giachetti (2007), S. 27.

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della restaurazione dell’opportunismo del cinismo / con tanti soldi cocaina fotomodelle per chi ci sta / eroina e muccíolí per chi proprio non ci sta / e tv spazzatura per rincoglionirci tutti quanti / […]”75.

75 Nanni Balestrini (1999): Piccolo appello ai nostri beneamati lettori ovvero Poesia sugli anni di piombo e gli anni di merda, in: Ders.: La grande Rivolta. Mailand. Siehe auch unter: http://www.nannibalestrini.it/dai_giornali/rivolta_appello.htm „[…] [A]us dem Ausnahmezustand erblühte die neue Yuppie-Renaissance / die herrlichen 80er Jahre […] / die Scheißjahre wie die Lästerer unterstellen die Jahre / der Restauration des Opportunismus des Zynismus / mit viel Geld Kokain Fotomodellen für die die mitmachen / Heroin und Muccíolí für die die wirklich nicht mitmachen / und Müll-Fernsehen um uns alle zusammen zu verblöden / […].“ Balestrinis Wortschöpfung ‚muccíolí‘, leitet sich wohl von dem Eigennamen Vincenzo Mucciolis ab, der 1978 mit der Comunità di San Patrignano die bald größte Drogenentzugseinrichtung Italiens gründete und in den 1980er und 1990er Jahren u.a. wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung mit Todesfolge vor Gericht stand.

Anhang

1 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ACEA ACER AIED AO BNL BR CAB CGIL CISA CISL CRAC CUB DC DP ECA ENASARCO ENEL FGCI FGR FGSI FLM FLO FUAN GESCAL IACP INPDAI INU LC MFR MLD MLS

Azienda Comunale Elettricità e Acque Associazione Costruttori Edili Romani Associazione Italiana per l’Educazione Demografica Avanguardia Operaia Banca Nazionale del Lavoro Brigate Rosse Comitato di Agitazione Borgate Confederazione Generale Italiana del Lavoro Centro informazione sterilizzazione e aborto Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori Comitato Romano per la Liberalizzazione dell’Aborto e la Contraccezione Comitato Unitario di Base Democrazia Cristiana Democrazia Proletaria Ente Comunale di Assistenza Ente Nazionale di Assistenza per gli Agenti e Rappresentati di Commercio Ente Nazionale Energia Elettrica Federazione Giovanile Comunista Italiana Federazione Giovanile Repubblicana Federazione Giovanile Socialista Italiana Federazione Lavoratori Metalmeccanici Federazione Lavoratori Ospedalieri Fronte Universitario di Azione Nazionale Gestione Case per Lavoratori Istituto Autonomo Case Popolari Istituto Nazionale Previdenza per i Dirigenti di Aziende Industriali Istituto Nazionale di Urbanistica Lotta Continua Movimento Femminista Romano Movimento di Liberazione della Donna Movimento Lavoratori per il Socialismo

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MSI NAR PCI PdL PdUP PL PLI PRI PSDI PSI PSIUP SMU SUNIA SUNPU UDI UIL UNIA

Movimento Sociale Italiano Nuclei Armati Rivoluzionari Partito Comunista Italiano Popolo della Libertà Partito di Unità Proletaria Prima Linea Partito Liberale Italiano Partito Repubblicano Italiano Partito Socialista Democratico Italiano Partito Socialista Italiano Partito Socialista Italiano di Unità Proletaria Sindacato Medici Universitari Sindacato Unitario Nazionale Inquilini ed Assegnatari Sindacato Unitario Nazionale Personale Universitario Unione Donne Italiane Unione Italiana del Lavoro Unione Nazionale Inquilini Assegnatari

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2 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1.1 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 003, Titel: Allagamento. Abb. 1.2 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 028, Titel: Viale Vicopisano. Abb. 1.3 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 022, Titel: Via Greve - bambini in fila per lo scivolo. Abb. 1.4 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 041, Titel: Scontro coi celerini. Abb. 1.5 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 062, Titel: Manifestazione con celerini. Abb. 1.6 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 030, Titel: Difendiamo la casa - 128 nello sfondo. Abb. 1.7 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 010, Manifestazione di fronte alla Saferrot. Abb. 1.8 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 007, Manifestazione per la scuola - Via Pescaglia. Abb. 1.9 Foto von Alfredo Toppi, in: Privatarchiv Alfredo Toppi, Foto 031, Titel: Manifestazione scalinata Piazza Campidoglio.

Abb. 2.1 Foto von Tano D’Amico, in: Lotta Continua vom 13.11.1973, S. 4. Abb. 2.2 Foto (Autor unbekannt), in: Lotta Continua vom 22.11.1973, S. 3. Abb. 2.3 Foto von Tano D’Amico, in Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 1. Abb. 2.4 Foto von Tano D’Amico, in: Lotta Continua vom 15.9.1974, S. 4. Abb. 2.5 Foto (Autor unbekannt), in: Messaggero vom 7.9.1974, S. 5. Abb. 2.6 Foto von Tano D’Amico, in: Lotta Continua vom 10.9.1974, S. 2. Abb. 2.7 Foto (Autor unbekannt), in: Rivolta di Classe 2 (1975), S. 6. Abb. 2.8 Plakat, in: Centro di Documentazione Valerio Verbano, Manifesti. Abb. 2.9 Plakat, in: Bianchi/Caminiti (2008), (beiligende DVD, Manifesti).

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Abb. 3.1 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2005), S. 79. Abb. 3.2 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2005), S. 100. Abb. 3.3 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (1998), S. 150f. Abb. 3.4 Comic von Pablo Echaurren, in: Lotta Continua vom 23.3.1977, S. 8. Abb. 3.5 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2005), S. 78. Abb. 3.6 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2005), S. 99. Abb. 3.7 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2005), S. 112/113. Abb. 3.8 Foto von Tano D’Amico, in: Lotta Continua vom 15.3.1977, S. 3. Abb. 3.9 Foto von Tano D’Amico, in: Messaggero vom 14.5.1977, S. 5. Abb. 3.10 Plakat, in: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 27.

Abb. 4.1 Foto (Autor unbekannt), in: Rivolta di Classe 2 (1975), S. 5. Abb. 4.2 Foto (Autor unbekannt), in: Lotta Continua vom 26.3.1977, S. 8. Abb. 4.3 Foto (Autor unbekannt), in: Bianchi/Caminiti (2008), (beiliegende DVD, Fotografie). Abb. 4.4 Flugblatt des MFR, in: Movimento Femminista Romano (1976), S. 22. Abb. 4.5 Plakat des CRAC, in: Fraire/Spagnoletti/Virdis (1978), S. 47. Abb. 4.6 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2003), S. 27. Abb. 4.7 Foto von Tano D’Amico, in: Lotta Continua vom 28.6.1978, S. 1. Abb. 4.8 Foto von Tano D’Amico, in: Noi donne vom 6.10.1978, S. 23. Abb. 4.9 Foto von Tano D’Amico, in: D’Amico (2003), S. 37.

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3 QUELLEN - UND LITERATURVERZEICHNIS 3.1 Archivarische Quellen Istituto Romano per la Storia d’Italia dal Fascismo alla Resistenza (IRSIFAR) (Rom) Memoria di Carta (MC) Fondo Antonio Ceccotti Fondo Marco Grispigni Fondo Massimo Ilardi Fondo Franco Lipparini/Stefania Raspini Fondo Virginio Massimo Fondo Raul Mordenti Fondo Massimo Pasquini Fondo Paolo Palazzi

Libreria Anomalia (Rom) Centro di Documentazione Valerio Verbano (CDVV) Fondo Collettivo Policlinico 4 (1977), Nr. 77 Fondo Collettivo Policlinico 5 (1978/79/80), Nr. 78 Fondo Collettivo Policlinico 7 (1975/76), Nr. 80 Fondo Studenti 3, Nr. 97 Fondo Studenti 5, Nr. 98 Fondo Movimento ’77, Nr. 135 Fondo Reparto Occupato, Nr. 158 Fondo Magliana, Nr. 168 Fondo Femminismo, Nr. 184 Fondo Manifesti (ungeordnet) Fondo Valerio Verbano (FVV)

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Fondazione Istituto Gramsci (Rom) (FIG) Archivio PCI 1943-1990 Regioni e province (1943-1990)

Altri Archivi, Raccolte Volantini del movimento studentesco di Roma 1970 – 1976 Volantini Vari 1970 – 1976

Casa Internazionale delle Donne (Rom) Archivia, Centro Simonetta Tosi (CST) Fondo CRAC 1971,1972 Fondo CRAC 1973 Fondo CRAC 1974 I Fondo CRAC 1974 II Fondo CRAC 1975 I Fondo CRAC 1975 II Fondo CRAC 1975 III Fondo CRAC 1975 IV Fondo CRAC 1976 I Fondo CRAC 1976 II Fondo CRAC 1977 I Fondo CRAC 1977 II Fondo CRAC 1978 I Fondo CRAC 1978 II Fondo CRAC 1978 III Fondo CRAC 1978 IV Fondo CRAC Rassegna Stampa

Archivio Audiovisivo del Movimento Operaio e Democratico (AAMOD) (Rom) Archivio Audiovisivo

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Partito Socialista Italiano Sezione Nuova Magliana (Rom) Archivio del Comitato di quartiere Magliana, Rassegna Stampa

Centro sociale Macchia Rossa, Archivio del Centro sociale Macchia Rossa

Privatarchiv Silvia Tozzi

Privatarchiv Graziella Bastelli

Privatarchiv Alfredo Toppi

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3.2 Interviews Interview mit Graziella Bastelli vom 4.6.2009 (Teile I-III) Jahrgang 1951, geboren in Rom, Aktivistin des Collettivo Policlinico und der Comitati Autonomi Operai. Interview mit Edda Billi vom 18.11.2008 (Teile I-II) Jahrgang 1933, geboren in der Toscana, Aktivistin des Movimento Femminista Romano. Interview mit Domenico Cecchini vom 15.6.2009 Jahrgang 1944, geboren in Rom, Aktivist von Lotta Continua und des Comitato di quartiere Magliana. Interview mit Maurizio Cesarini vom 22.11.2008 (Teile I-II) Jahrgang 1950, geboren in Rom, Aktivist im Umfeld von Lotta Continua und Redakteur von Radio Città Futura. Interview mit Tano D’Amico vom 11.6.2009 Jahrgang 1942, geboren auf Filicudi, Fotograf und Bewegungsaktivist. Interview mit Roberto De Angelis vom 21.11.2008 Jahrgang 1943, geboren in Rom, Aktivist der Coordinamento nazionale dei precari. Interview mit Franco De Martis vom 8.6.2009 Jahrgang 1955, geboren in Rom, Aktivist des Comitato autonomo Alberone. Interview mit Marco Grispigni vom 27.10.2008 (Teile I-II) Jahrgang 1957, geboren in Rom, Aktivist der Bewegung von 1977. Interview mit Liliana Ingargiola vom 20.11.2008 (Teile I-IV) Jahrgang 1947, geboren in Rom, Aktivistin des Movimento di Liberazione della Donna. Interview mit Vincenzo Miliucci vom 25.11.2008 (Teile I-II) Jahrgang 1943, geboren in Rom, Aktivist der Comitati Autonomi Operai. Interview mit Franco Moretti vom 19.6.2009 Jahrgang 1951, geboren in Rom, Aktivist von Lotta Continua und des Comitato di Lotta per la Casa in der Magliana. Interview mit Bruno Papale vom 11.6.2009 Jahrgang 1949, geboren in Rom, Aktivist der Comitati Autonomi Operai.

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Interview mit Daniele Pifano vom 8.6.2009 (Teile I-VI) Jahrgang 1946, geboren in Kalabrien, Aktivist des Collettivo Policlinico und der Comitati Autonomi Operai. Interview mit Aldo Polido vom 19.6.2009 Jahrgang 1945, geboren in Rom, Aktivist des Comitato di Lotta per la Casa in der Magliana. Interview mit Irma Staderini vom 14.11.2008 (Teile I-II) Jahrgang 1959, geboren in Rom, Aktivistin des Gruppo di autocoscienza femminile und Schüleraktivistin am Liceo Mameli. Interview mit Guido Tufariello vom 24.6.2009 Jahrgang 1955, geboren in Rom, Aktivist des Comitato autonomo Alberone. Interview mit Ines Valanzuolo vom 13.11.2008 Jahrgang 1941, geboren in Orvieto, Aktivistin des Collettivo femminista San Lorenzo. Interview mit Ines Valanzuolo, Cristiana Fiorentini, Silvia Tozzi vom 11.6.2009 Aktivistinnen des Collettivo femminista San Lorenzo. Interview mit Roberta Sibbio vom 14.11.2008 Jahrgang 1960, geboren in Rom, Aktivistin des Collettivo Politico Studentesco am Liceo Righi.

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3.3 Zeitungen und Zeitschriften

Zeitungen

Avanti! (Rom) Corriere della Sera (Mailand) Giornale d’Italia (Rom) Il Manifesto (Rom) Il Messaggero (Rom) Il Popolo (Rom) Il Tempo (Rom) L’Osservatore Romano (Rom) L’Unità (Rom) La Repubblica (Rom) La Stampa (Turin) Lotta Continua (Rom) Paese Sera (Rom) Quotidiano dei lavoratori (Mailand)

Zeitschriften Cetriolo contro (Rom) Controinformazione (Como) Differenze (Rom) Effe (Rom) I Volsci (Rom)

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Il Gruppettaro. Giornaletto del Policlinico (Rom) Il Rosso vice sull’esperto (Rom) L’altra Roma. Documenti e analisi per il diritto alla città (Rom) L’Erba Voglio (Mailand) L’Espresso (Rom) La Critica Sociologica (Rom) La nostra assemblea (Rom) Magliana in Lotta. Bollettino del Comitato di quartiere (Rom) Magliana Rossa (Rom) Muzak (Rom) Noi donne (Rom) Ombre Rosse (Turin) Panorama (Segrate) Quaderni Piacentini (Piacenza) Re Nudo (Mailand) Rivolta di Classe (Rom) Rosso (Mailand) Urbanistica. Rivista dell’Istituto nazionale di urbanistica (Turin)

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3.4 Literatur und Internetseiten Literatur Agnew, John (1995): Rome. Chichester u.a. Aguzzi, Luciano (1976): Scuola, studenti e lotta di classe. Un bilancio critico del movimento degli studenti medi dal ’68 ad oggi. Mailand. Armani, Barbara (2005): Italia anni settanta. Movimenti, violenza politica e lotta armata tra memoria e rappresentazione storiografica, in: Storica 32, S. 41-82. Armati, Cristiano (2008): Cuori rossi. Rom. Asor Rosa, Alberto (1977): Le due società. Ipotesi sulla crisi italiana. Turin. Bartolini, Francesco (2006): Rivali d’Italia. Roma e Milano dal Settecento a oggi. Rom/Bari. Becchi, Ada (1996): Città e forme di emarginazione, in: Barbagallo, Francesco (Hg.): Storia dell'Italia repubblicana. Bd. 3 / Teil 1: L'Italia nella crisi mondiale. L'ultimo ventennio. Economia e società. Turin, S. 837-910. Benevolo, Leonardo (1979): Città in discussione. Venezia e Roma. Rom/Bari. Berardi, Franco (1997): Dell’innocenza. 1977: l’anno della premonizione. Verona. Berlinguer, Giovanni/Della Seta, Piero (1976): Borgate di Roma. Rom. Bernhard, Patrick/Rohstock, Anne (2008): Writing about the ‚Revolution‘. Nuovi studi internazionali sul movimento del ’68, in: Ricerche di Storia Politica 2, S. 177192. Bernocchi, Piero u.a. (1979): Movimento settantasette. Storia di una lotta. Turin. Bettini, Romano (1976): Il decentramento urbano a Roma, Pisa. Bianchi, Sergio (Hg.) (1997): Settantasette. La rivoluzione che viene. Rom. Bianchi, Sergio/Caminiti, Lanfranco (Hg.) (2007a): Gli autonomi. Le storie, le lotte, le teorie. Bd. 1. Rom. Bianchi, Sergio/Caminiti, Lanfranco (Hg.) (2007b): Gli autonomi. Le storie, le lotte, le teorie. Bd. 2. Rom. Bianchi, Sergio/Caminiti, Lanfranco (Hg.) (2008): Gli autonomi. Le storie, le lotte, le teorie. Bd. 3 (inkl. beiliegende DVD). Rom.

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