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German Pages [446]
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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit
Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin), Matthias Pohlig (Münster), Eva Schlotheuber (Düsseldorf)
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Natalie Krentz
Ritualwandel und Deutungshoheit Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533)
Mohr Siebeck
IV Natalie Krentz, geboren 1980; Studium der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und des Öffentlichen Rechts an der Universität Freiburg und am Trinity College Dublin; 2006– 2009 Doktorandin am Graduiertenkolleg „Gesellschaftliche Symbolik im Mittelalter“ an der Universität Münster; seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte I an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Ilse und Dr. Alexander Mayer Stiftung der Universität Erlangen-Nürnberg. ISBN 978-3-16-152679-4 / eISBN 978-3-16-158612-5 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
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Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2011/12 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. An erster Stelle danke ich Birgit Emich, die mein Interesse an der Reformationsgeschichte schon während meines Studiums in Freiburg geweckt und mich danach vom Studium bis zur Disputation über viele Jahre gefördert und engagiert betreut hat. Sie ließ mir bei der inhaltlichen Gestaltung der Arbeit großen wissenschaftlichen Freiraum, ließ sich auf meine – mitunter zunächst gewöhnungsbedürftigen – Ideen und Thesen ein und hinterfragte diese in zahlreichen Gesprächen konstruktiv und kritisch. Auf diese Weise hat sie meine Arbeit mit wichtigen Anregungen und Denkanstößen stark geprägt. Mein zweiter großer Dank gilt Barbara Stollberg-Rilinger, die mich sehr herzlich im Münsteraner Forschungsverbund aufgenommen und als Doktorandin im dortigen Graduiertenkolleg engagiert gefördert hat. Als Zweitbetreuerin begleitete sie die Entstehung meiner Arbeit von Anfang an und stellte mich mit ihren methodischen Anregungen vor Herausforderungen, die meine wissenschaftliche Herangehensweise stark geprägt haben. Berndt Hamm danke ich für seine engagierte und diskussionsfreudige Mitwirkung im Promotionsverfahren als Drittprüfer. Für Ermutigung und wichtige Anregungen von kirchenhistorischer Seite in einer frühen Arbeitsphase danke ich Volker Leppin. Die Arbeit entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs 582 „Gesellschaftliche Symbolik im Mittelalter“ an der Universität Münster. Die produktive Diskussionsgemeinschaft am Graduiertenkolleg und dem damit verbundenen Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ bot Inspiration, Unterstützung und manchmal auch willkommene Ablenkung. Besonders hervorgehoben seien hier Kerstin Grein, Elizabeth Harding, Kerstin Kech, Katharina Vaerst und Michael Hecht sowie meine spätere Bürogemeinschaft mit Jan Brademann, Christina Brauner, Dorothee Linnemann und Christof Spannhoff. Der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und insbesondere Jil Bepler danke ich für die freundliche Aufnahme und Betreuung als Gastwissenschaftlerin während meines dortigen Forschungsauf enthalts. Zahlreiche Korrekturleser erwiesen mir einen wichtigen Dienst. Mein Dank gilt Christina Brauner, Bettina Fettich, Lars Fischer, Mona Garloff, Martin Neuhäußer, Dominik Sauerer und Andrea Stahl. Lars Fischer erstellte auch
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Vorwort
das Register. Ganz besonders möchte ich dabei Christina Brauner danken, deren fachliche Hinweise und freundschaftliche Unterstützung mir gerade in der Endphase eine unverzichtbare Hilfe waren. Für die Aufnahme in die Reihe „Spätmittelalter, Humanismus, Reformation“ danke ich den Herausgebern, insbesondere Volker Leppin, der die Aufnahme in diese Reihe angeregt hat. Dem Mohr Siebeck Verlag, besonders Henning Ziebritzki und Nadine Schwemmreiter-Vetter, danke ich für die gute Zusammenarbeit. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danke ich der Boeh ringer Ingelheim Stiftung und der Ilse und Dr. Alexander Meyer Stiftung der Universität Erlangen-Nürnberg. Der Staedtler Stiftung danke ich für die Auszeichnung mit dem Staedtler-Promotionspreis. Mein ganz persönlicher Dank gilt schließlich meiner Familie, mit deren Rückhalt und Unterstützung das Abenteuer der Dissertation erst gelingen konnte. Meine Schwestern Isabelle und Fabienne halfen nicht zuletzt auch als sorgfältige Korrekturleserinnen, mein Bruder Florian bei technischen Fragen. Meine Eltern Monika und Dietmar Krentz haben mich immer in jeder Hinsicht unterstützt, ermutigt und meine Interessen gefördert. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Erlangen, im Dezember 2013
Natalie Krentz
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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Aspekte der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ritualwandel und Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Wittenberger Stadtreformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Wittenberger Reformation als Sonderfall einer Stadtreformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Begriffe und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Rituale – „Ceremonien“ – Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Geistliche Macht – geistliche Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Gliederung und Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
I. Geistliche Herrschaft, liturgische Praxis und städtische Konflikte 1500–1520 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Geistliche Macht verhandeln: Die Stadt und ihr Bischof . . . . . . . . . 24 1.1. Akteure innerhalb und außerhalb Wittenbergs . . . . . . . . . . . . . 25 1.1.1. Der Bischof von Brandenburg und der Erzbischof von Magdeburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.1.2. Die Wittenberger Geistlichen – Studenten, Priester, Mönche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.1.3. Der Rat der Stadt Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.1.4. Der Kurfürst als weltlicher Stadtherr . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2. Die Strafe des lokalen Interdikts als Testfall geistlicher Macht . 33 1.2.1. Das Interdikt in Wittenberg 1500–1512 . . . . . . . . . . . . . . 36 1.2.2. Der Fall Glorius Schwan im Jahr 1512 . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.2.3. Die Politik der städtischen Akteure im Fall Schwan . . . . 45
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1.2.4. Die Politik des Kurfürsten im Fall Schwan . . . . . . . . . . 50 1.2.5. Abschließende Verhandlungen im Fall Schwan 1516 . . 55 1.3. Luthers Predigt über den Bann (1518) und das Ende des Streites bis 1520 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1.4. Geistliche Macht in Wittenberg: Ein Zwischenfazit . . . . . . . . 63 2. Schlosskirche und Heiltum: Der Ausbau Wittenbergs zum Ort des Heils und zur kurfürstlichen Residenzstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.1. Die Weihe der Schlosskirche um 1502 als Neubeginn . . . . . . . 69 2.2. Wie erschafft man einen Zentralort von sakraler Dignität? . . 73 2.2.1. Reliquien und Ablassprivilegien: Der Aufbau und Ausbau des Heiltums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.2.2. Die neue Schlosskirche und ihre sakrale Ausstattung mit Stiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.3. Religiöse Ceremonien und Herrschaftsrepräsentation . . . . . . 84 2.3.1. Passionsfrömmigkeit: Die Karwoche zwischen Stadt und Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.3.2. Vom Sinn und Nutzen religiöser Ceremonien: Die Stiftung der Leiden Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.4. Städtische Integration und landesherrliche Zentrierung: Die Schlosskirche in der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.4.1. Institutionell: Die Zusammenlegung von Stift und Universität und ihre Folgen für die Besetzung der Pfarrstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.4.2. Performativ: Herstellung und Darstellung städtischer Einheit und fürstlicher Zentralisierung . . . . . . . . . . . . . 100 3. Die neue Universität als Ort der Wahrheit und Konfliktherd in der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.1. Der Bischof wird aus Universitätsangelegenheiten hinausgedrängt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.2. Studentenunruhen in Wittenberg vor 1520: Eine Frage der Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.3. Die Unruhen des Jahres 1512 als Konflikte zwischen Studenten und Bürgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.4. Kontinuitäten der Auseinandersetzungen bis 1520 . . . . . . . . . 113 3.5. Studentenunruhen im Sommer 1520 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.6. Die Wittenberger Professorenschaft und die Studentenunruhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
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4. Der päpstliche Bann über Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.1. Wittenberg und die Bannandrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.2. Die Verbrennung der Bannandrohungsbulle . . . . . . . . . . . . . . 128 4.3. Wirkung, nachträgliche Bedeutungsstiftung und Erinnerung . 136
II. Wittenberger Unruhen? Neue Deutungsmuster und städtische Konflikte (1521–1522). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Ritualwandel und kulturelle Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1.1. Angriffe auf die Antoniter 1521 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1.2. Störungen der Heiltumsweisung und der Messe in der Pfarrkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1.3. Antiklerikalismus und Antiritualismus in Wittenberg – ein Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1.4. Vielfältige Wahrnehmungen des Ritualwandels: Die Abendmahlsfeier Andreas Karlstadts Weihnachten 1521. 154 2. Ritualwandel und städtischer Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2.1. Städtische Konflikte in der Residenz‑ und Universitätsstadt . 171 2.2. Die Krise von Universität und Stift als Orte der Wahrheit und des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.3. Warum beschloss der Rat im Januar 1522 eine Liturgiereform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.4. Das Eingreifen des Kurfürsten und ein angeblicher Bildersturm: Gab es in Wittenberg Anfang 1522 „Unruhen“? . 200 2.5. Distanzierung des Kurfürsten von der Liturgiereform nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg als Abgrenzung gegen die „Radikalen“ . . . . . . . 215 3.1. Luthers Rückkehr von der Wartburg und die Entstehung der „Wittenberger Unruhen“ als Deutungskonzept . . . . . . . . 218 3.2. Die Invokavitpredigten und ihre Überlieferung . . . . . . . . . . . 220 3.2.1. Die Überlieferung der Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3.2.2. Handschriftliche Überlieferungen und Augenzeugenberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3.3. Die Bedeutung von Luthers Rückkehr für die Gottesdienstreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3.3.1. Veränderungen der Gottesdienstordnung nach Luthers Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.3.2. Luthers Kritik an den Reformen: Das „fleischliche Missverstehen“ der Wittenberger . . . 227
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3.4. Funktionen der Invokavitpredigten: Abgrenzung und Autoritätsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3.5. Nachträgliche Bedeutungsverschiebungen der Invokavitpredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3.5.1. Bilderfrage und Bildersturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3.5.2. Die Rolle der einzelnen Prediger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
III. Die städtische Reformation (1523–24) – Liturgiereform als doppelter Distinktionsprozess . . . . . . . . . . . . 243 1. Erneute Reformen in der Stadt und die Abgrenzung gegen die „Radikalen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1.1. Die täglichen Gottesdienste in der Pfarrkirche . . . . . . . . . . . . 245 1.1.1. Wort und Ceremonie – liturgische Maßstäbe der ersten Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1.1.2. Praxis der ersten Reformen in der Pfarrkirche . . . . . . . . 249 1.2. Die Formula Missae et Communionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1.3. Weitere frühe Reformen religiöser Ceremonien in der Stadt . 258 1.3.1. Die Reform des Fronleichnamsfestes . . . . . . . . . . . . . . . 258 1.3.2. Die Schau des Wittenberger Heiltums . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Reformen an der Schlosskirche und die Abgrenzung gegen die Altgläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2.1. Die Delegitimierung des Allerheiligenstifts als Ort des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2.2. Luther droht dem Stift mit dem Bann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2.3. Die ersten Reformen in der Schlosskirche 1523 . . . . . . . . . . . . 275 2.3.1. Unterschiedliche Positionen und Reformvorschläge . . . 276 2.3.2. Praxis der ersten Reformen am Stift 1523 . . . . . . . . . . . . 280 2.3.3. Wahrnehmung der ersten Liturgiereformen im Stift . . . 282 2.4. Weitere Bedingungsfaktoren der Reformen am Stift 1522–24. 288 2.4.1. Finanzielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2.4.2. Die Besetzung der Stellen im Stiftskapitel als Reformfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Mehrheitsverhältnisse im Stiftskapitel . . . . . . . . . . . . 290 b) Das für den Ceremoniendienst entscheidende Amt des Dekans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3.1. Die „Wahl“ Johannes Bugenhagens zum Wittenberger Pfarrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
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3.1.1. Die Pfarrerwahl wird zur Schicksalswahl für das Stift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3.1.2. Die Wahl scheitert: Bugenhagen wird durch Proklamation zum Pfarrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3.1.3. Die Proklamation wird zur Wahl – nachträgliche Umdeutung und Traditionsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . 306 3.2. Die Bannandrohung der Wittenberger über das Stift und die Einheit der städtischen Ceremonien . . . . . . . . . . . . . . 310 3.2.1. Reaktionen der Bürger und Einwohner auf die ersten Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 3.2.2. Die Szene der Bannandrohung und die städtischen Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3.2.3. Die Autorität von Stadtpfarrer und Rat über die Ceremonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 3.3. Bedingungsfaktoren einer städtischen Reformation 1524 – 1524 – ein Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
IV. Landesherrliche Reformation und Einführung eines neuen Deutungskonzeptes (1525–1533). . . . . . . . . . . . . . . . . 325 1. Die Forderung nach evangelischen Ceremonien für das ganze Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 1.1. Das Jahr 1525 als Zäsur der Wittenberger Reformation? . . . . 327 1.2. Der Bauerkrieg als Strafe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1.3. Vorschläge für eine landesweite Einheit der Ceremonien schon 1523 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 1.4. Einheitliche Ceremonien als ständische Forderungen? . . . . . . 333 1.5. Kurfürst Johann 1525 und die einheitliche Gottesdienstordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Die Deutsche Messe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2.1. Die Deutsche Messe als landesweite Gottesdienstordnung . . 340 2.2. Die Liturgie der Deutschen Messe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 2.3. Die Praxis der Deutschen Messe in Wittenberg ab 1526 . . . . . 347 3. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen als Übergangsritus im doppelten Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 2.1. Noch einmal zum Nutzen religiöser Ceremonien: Die Theologen planen das Begräbnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 3.2. Religiöse Ceremonien und Landesherrschaft: Die Beisetzung Friedrichs des Weisen in Wittenberg . . . . . . . 360 3.3. Nachträgliche Umdeutungen: Wittenberg wird zum Ort der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
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4. Ende und Umdeutung von Allerheiligenstifts und Heiltum . . . . . 369 4.1. Die Reintegration der Schlosskirche in die Stadtgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 4.1.1. Die Gottesdienstordnung des Stiftes vom 24. Dezember 1524 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 4.1.2. Die liturgische Praxis im Laufe des Jahres 1525 . . . . . . . 371 4.1.3. Die letzte Ordnung des Stifts im Oktober 1525 . . . . . . 374 4.1.4. Das Ende des Wittenberger Allerheiligenstifts . . . . . . . 376 4.2. Vom sakralen zum irdischen Schatz: Das Ende des Wittenberger Heiltums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 4.3. Nachträgliche Umdeutung: Das Heiltum wird zum Mahnmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
Epilog Die Wittenberger Reformation im Archiv – Zur Entstehung eines Geschichtsbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 1. Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 2. Edierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 3. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
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Einleitung Das Thema In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts kam es in der kleinen kursäch‑ sischen Landstadt Wittenberg zu Ereignissen, die bis heute als historisch ent‑ scheidend gelten. Innerhalb weniger Jahre nahm hier, ausgehend von der Uni‑ versität, „die Reformation“ ihren Ausgang. Hier entstanden eine neue kirch‑ liche Lehre, eine neue Symbolik und eine neue geistliche Herrschaftsstruktur, die in den folgenden Jahrzehnten Auswirkungen auf ganz Europa hatten. Während die Reformationsforschung insgesamt begonnen hat, „die Refor‑ mation“ stärker als langfristigen Prozess denn als plötzlichen Umbruch zu be‑ trachten und dabei erfolgreich theologische, soziale und kulturelle Kontinuitä‑ ten herausgearbeitet hat, blieb Wittenberg als ihr Ausgangspunkt und Zentrum dennoch als Konstante bestehen, und zwar als eine weitgehend unbekannte Konstante.1 Die Wittenberger Stadtreformation erscheint noch immer als eine seltsam plötzliche Entwicklung, die scheinbar aus dem Nichts kam und unmit‑ telbar mit dem Erscheinen Luthers in der Stadt begann. Das ist sicherlich zu ei‑ nem großen Teil der Tatsache geschuldet, dass die Geschichte Wittenbergs jen‑ seits der großen Personen und Ereignisse ein nahezu unerforschtes Feld ist. Ziel dieser Arbeit ist es daher, den Prozess der Durchsetzung der Reforma‑ tion in der Stadt Wittenberg zu untersuchen. Indem die frühe Wittenberger Re‑ formation als ein Prozess des „Ritualwandels“ verstanden wird, soll dies we‑ sentlich durch die Untersuchung der Veränderung der religiösen Symbolik und liturgischen Praxis in der Stadt geschehen. Damit ist im städtischen Kontext Wittenbergs zu zeigen, wie Luther und seine Anhänger mit der allmählichen Etablierung eines Gefüges bestimmter religiöser Rituale die Deutungshoheit über die „wahre“ evangelische Religion erlangten und sich so im Konflikt mit konkurrierenden Deutungsansprüchen behaupteten. Ausgehend von der An‑ nahme, dass solche Veränderungen weder plötzlich mit dem Auftreten Luthers 1 Vgl. Berndt Hamm: Wie innovativ war die Reformation?, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 481–497; Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hgg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, Göttingen 1999; Heinz Schilling: Reforma‑ tion – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps de Réformes?, in: Bernd Moeller (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 13–34.
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Einleitung
noch losgelöst von sozialen und politischen Bedingungen stattfinden konnten, wird dieser Prozess hier in den allgemeinen Zusammenhängen religiöser und politischer Repräsentationsformen in der Stadt Wittenberg untersucht.
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Aspekte der Forschung Das Thema dieser Arbeit knüpft dabei an zwei große Forschungsstränge der Reformationsforschung an, die hier miteinander verbunden werden: Während die reformatorische Veränderung der Rituale noch immer als relativ neues For‑ schungsthema gelten kann, das hauptsächlich im anglo‑amerikanischen Raum bearbeitet wurde, ist die städtische Reformation eines der am besten erforschten Themen insbesondere der deutschen Reformationsgeschichte.
Ritualwandel und Reformation Ausgehend von der Überzeugung, dass soziale Wirklichkeit in symbolischen Ordnungen nicht nur abgebildet, sondern überhaupt erst konstruiert wird, hat sich die historische Forschung insgesamt schon seit mehreren Jahren verstärkt der Untersuchung von Ritualen und Symbolen zugewandt. 2 Auch die Reforma‑ tionsforschung thematisierte die verschiedenen Zusammenhänge von Reforma‑ tion und Veränderung symbolischer Praktiken. In der Forschung zu Ritualen und Reformation lassen sich drei Bereiche von Fragestellungen ausmachen, mit denen hier die frühe Reformation in Wittenberg als ein Prozess des Ritualwan‑ dels begriffen werden soll. Zum einen wurde die Ritualkritik der Reformatoren selbst thematisiert und mit ihren Folgen für Kirche und Gesellschaft als Auftakt eines neuen Zeital‑ ters des Repräsentationalen gegenüber einem durch die Vorstellung körperli‑ cher Präsenz geprägten Mittelalter gedeutet.3 Damit steht die Reformation zu‑ 2 Vgl. Roger Chartier: Einleitung: Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken, in: Ders.: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Welt‑ auslegung, Frankfurt am Main 1992, S. 7–23. 3 Vgl. grundlegend: Edward Muir: Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 22005; Barbara Stollberg‑Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Be‑ griffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–528, hier S. 512–527. Vgl. ferner die folgenden Einzelstudien: Barbara Stollberg‑ Rilinger: Von der sozialen Magie der Promotion. Ritual und Ritualkritik in der Gelehr‑ tenkultur der Frühen Neuzeit, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hgg.): Rituelle Wel‑ ten (Paragrana 12), Berlin 2003, S. 273–296; Bruno Quast: wort und zeychen. Ritualkritik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Sebastian Brant, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Michel de Montaigne), in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27, 2 (2002), S. 1–19; Thomas Lentes: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächt‑
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nächst für ein neues Symbolverständnis, das mit allgemeinen Veränderungspro‑ zessen politischer Symbolik von einer personellen Präsenzkultur, die stark von der persönlichen Anwesenheit des Herrschers abhing, hin zur abstrakten, über‑ personellen Repräsentation von Herrschaft verknüpft ist.4 Ein zweiter Aspekt ist die identitätsstiftende und gruppenbildende Funk‑ tion der Rituale für das neue Bekenntnis, denn trotz aller Ritualkritik konn‑ ten auch die Kirchen der Reformation und ihre Anhänger nicht auf eigene, spe‑ zifische symbolische Praktiken verzichten.5 Unter diesem Aspekt wurden die reformatorischen Rituale in ihrer Funktion der Gruppenbildung und Gemein‑ schaftsstiftung untersucht. Sie erwiesen sich als ein Mittel der Distinktion, mit dem eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen der Gruppe erst geschaf‑ fen wird und das für den Einzelnen durch Teilnahme oder bewusste Nicht‑Teil‑ nahme die Zugehörigkeit zur Gruppe ermöglichte.6 Die Veränderung der reli‑ giösen Symbolik erstreckte sich auf alle Lebensbereiche, von der Gestaltung der Kirchenräume über Gottesdienst und Abendmahl bis hin zu lebensweltlichen Übergangsritualen wie Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen.7 Daran knüpft schließlich eine dritte Fragestellung an, die nach der volks‑ kulturellen „Aneignung“ der Reformation durch die Laien fragt und die Re‑ formation in Anschluss an Robert W. Scribner als einen „rituellen Prozess“ beschreibt, der von karnevalesken und ikonoklastischen Ritualen getragen wurde.8 Dies lenkt den Blick auf die Tatsache, dass die Durchsetzung der Re‑ formation kein einseitiger Prozess war und die neuen liturgischen Ordnungen nisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hgg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, S. 21–46; Jörg‑Jochen Berns: Luthers Papstkritik als Ze‑ remoniellkritik, in: Ders./Thomas Rahn (Hgg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spät‑ mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 157–173. 4 Vgl. Karl‑Siegbert Rehberg: Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Mel‑ ville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungs‑ muster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u.a. 2001, S. 3–49. 5 Vgl. grundlegend: Susan Karant‑Nunn: The Reformation of Ritual: An Interpreta‑ tion of Early Modern Germany, London 1997. 6 Pierre Bourdieu hebt für diese Funktion der Rituale den Aspekt der Grenzziehung her‑ vor: Sie trennen zwischen jenen, die das Ritual potentiell durchlaufen, und anderen, die nie daran Anteil haben können, vgl. Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs, Wien 1990 [frz. Erstausgabe Paris 1982], S. 84–93. 7 Vgl. Michael Halvorson: Baptismal Ritual and the Early Reformation in Braun‑ schweig, in: Archiv für Reformationsgeschichte 102 (2011), S. 59–86; Austra Reinis: Refor‑ ming the Art of Dying. The Ars Moriendi in the German Reformation (1519–1528), Aldershot 2006; Craig Koslofsky: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Mo‑ dern Germany, 1450–1700, London/New York 2000; Lyndal Roper: „Going to Church and Street“. Weddings in Reformation Augsburg, in: Past and Present 106 (1985), S. 62–101. 8 Vgl. Robert W. Scribner: Ritual and Reformation, in: Ronnie Po‑Chia Hsia (Hg.): The German People and the Reformation, Ithaca/London 1990, S. 122–144.
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nicht nur obrigkeitlich verordnet, sondern häufig in Wechselwirkung mit den Forderungen der Laien ausgehandelt werden mussten, die wiederum in rituel‑ len Inszenierungen artikuliert wurden. Die in der Forschung gestellten Fragen nach der konfessionsbildenden Funk‑ tion der Rituale setzten jedoch voraus, dass es bereits einen allgemeinen Kon‑ sens dessen gab, was unter spezifisch „lutherischen“ bzw. „protestantischen“ Ritualen zu verstehen sei. Ein solcher Kanon allgemein als evangelisch aner‑ kannter Rituale musste in der frühen Reformation jedoch erst entstehen – diese Entwicklung ist hier anhand der Wittenberger Reformation zu untersuchen. Das Beispiel Wittenberg erscheint dafür in besonderem Maße geeignet, da sich dort sowohl die theologische Diskussion der Bedeutung der „Ceremonien“ an der Universität wie auch die erste praktische Anwendung in den städtischen Kirchen und die Reaktionen der Wittenberger Bürger und Einwohner in der Stadt ereigneten.
Die Wittenberger Stadtreformation Eine Geschichte der städtischen Reformation in Wittenberg liegt bislang nicht vor. Dieser Umstand wurde von der Reformationsforschung schon mehrfach mit Erstaunen und Bedauern festgestellt.9 Während seit der Konjunktur des Themas Stadt und Reformation in den 1970er Jahren zahl‑ und umfangreiche Fallstudien entstanden sind, wurde die Wittenberger Reformationsgeschichte jenseits der Person Luthers und der bekannten Ereignisse seiner Biographie bis‑ lang kaum untersucht.10 Gründe dafür sind sicherlich die im Vergleich zu an‑ deren Städten vergleichsweise dünne und gleichzeitig schwer zu erschließende Quellenlage, die unten noch näher zu erläutern sein wird, sowie die einge‑ schränkte Zugänglichkeit der Archive zu DDR‑Zeiten. Zuletzt verwies erneut Ulinka Rublack auf die Bedeutung der Wittenber‑ ger Situation für die Geschichte der Reformation insgesamt, indem sie der Stadt Wittenberg in ihrer Gesamtdarstellung eigens ein Kapitel widmete.11 Auch die Stadtgeschichte Wittenbergs insgesamt ist bislang nur wenig erforscht, eine 9 Bereits Hans‑Christoph Rublack benannte die Stadt Wittenberg, den „Quellort der Reformation“, als Forschungsdesiderat, vgl. Hans‑Christoph Rublack: Reformatorische Bewegungen in Würzburg und Bamberg, in: Bernd Moeller (Hg.): Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1978, S. 109–124; Stefan Oehmig (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, Weimar 1995, S. 99. 10 Vgl. zu den Spuren Luthers in Wittenberg: Harald Meller (Hg.): Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, Stuttgart 2008; Irene Dingel: Luther und Wittenberg, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther‑Handbuch, Tübingen 2005, S. 168–178; Helmar Junghans: Luther und Wittenberg, München 1996; Ders.: Wittenberg als Luther‑ stadt, Göttingen 1979. 11 Vgl. Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa, Frankfurt am Main 22006, S. 32– 40. Rublack verweist dabei besonders auf die geringe Größe der Stadt, die es Luther ermög‑
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umfassende Darstellung neueren Datums liegt nicht vor.12 Eine Ausnahme bil‑ det hier allerdings die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienene Arbeit Edith Eschenhagens, welche die Sozial‑ und Wirtschaftsgeschichte, aber auch andere Grundlagen der Stadtgeschichte in der Reformationszeit erstmals aufarbei tete.13 Sozial‑ und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen im engeren Sinne wurden in einigen Studien aus DDR‑Zeiten aufgegriffen.14 Zuletzt wurde die Geschichte Wittenbergs im Rahmen des 700-jährigen Stadtjubiläums thema‑ tisiert, zu diesem Anlass erschienen zwei Aufsätze zur Reformationszeit, die allerdings notwendigerweise sehr allgemein gehalten sind, weil entsprechende Vorarbeiten fehlten.15 Zusammenfassend kann damit die Geschichte Wittenbergs und der Witten‑ berger Reformation jenseits der Person und Biographie Luthers als ein weitge‑ hend unbekanntes Feld bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund erstaunt es umso mehr, dass eine einzige Episode, nämlich die der so genannten „Witten‑ berger Unruhen“ zwischen September 1521 und März 1522, geradezu außerge‑ wöhnlich gut erforscht ist, da sie als erstes Beispiel „radikaler“ und gewaltsamer Tendenzen der Reformation gilt.16 Die Überlieferungs‑ und Traditionszusam‑ menhänge, welche dieses Ungleichgewicht bedingten, sind im letzten Teil (Epi‑ log) dieser Arbeit aufzuzeigen. Zunächst gilt es jedoch, die Ereignisse der weni‑ gen bekannten Monate der Wittenberger Reformationsgeschichte unter den ge‑ nannten Fragestellungen in einem zeitlich breiteren Kontext einzuordnen und auf diese Weise neu zu bewerten.
lichte, schnell eine starke Stellung zu erlangen und zugleich auf ihre gute Ausstattung als kurfürstliche Residenz. 12 Perspektiven auf ein solches Projekt eröffnet nun allerdings der jüngst erschienene Sammelband eines Leipziger Forschungsprojektes mit Forschungsskizzen der Einzelpro‑ jekte, vgl. Heiner Lück (Hg.): Das ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt 1508– 1547, Petersberg 2011. Die vorhandenen älteren Darstellungen verfügen leider über keinerlei Quellenangaben und Nachweise, vgl. Richard Erfurt: Geschichte der Stadt Wittenberg, 2 Bände, 1910–1927; Gustav Stier: Wittenberg im Mittelalter, Wittenberg 1856. 13 Vgl. Edith Eschenhagen: Wittenberger Studien. Beiträge zur Sozial- und Wirt‑ schaftsgeschichte der Stadt Wittenberg in der Reformationszeit, in: Lutherjahrbuch 9 (1927), S. 9–118. 14 Vgl. Ronny Kabus: Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits‑ und Sozialwe‑ sens, Wittenberg 1981; Stefan Oehmig: Der Wittenberger Gemeine Kasten in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens (1522/23 bis 1547). Seine Einnahmen und seine fi‑ nanziellen Leistungen im Vergleich zur vorreformatorischen Armenpraxis, in: Jahrbuch der Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 229–269. 15 Vgl. Karlheinz Blaschke: Wittenberg vor 1547. Vom Landstädtchen zur Weltgel‑ tung, in: Stefan Oehmig (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, Weimar 1995, S. 29–39; Helmar Junghans: Kirche und Theologie in Wittenberg, in: Ebd., S. 39–52. 16 Vgl. dazu Kap. II, wo auch der Forschungsstand ausführlich diskutiert wird.
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Die Wittenberger Reformation als Sonderfall einer Stadtreformation Die Frage nach den Zusammenhängen von Stadt und Reformation wurde in den 1960er Jahren mit der sozialgeschichtlichen Orientierung der Reforma‑ tionsforschung verstärkt in den Blick genommen und führte zu heftigen For‑ schungskontroversen, die bis heute nicht abgeschlossen sind.17 Ausgangspunkt der Kontroverse war dabei zunächst die Frage, ob die spätmittelalterliche Stadt‑ gemeinschaft als einheitliche „Sakralgemeinschaft“ (Bernd Moeller) zu charak‑ terisieren und sie aus diesem Grund besonders empfänglich für die reformato‑ rische Rechtfertigungslehre gewesen sei oder ob dieses, wie zuerst Thomas A. Brady einwandte, auf einer idealisierten Vorstellung der Stadtgemeinschaft be‑ ruhe, deren zentrales Merkmal eher der Konflikt sei. 18 Diese unterschiedlichen Grundannahmen führten zu unterschiedlichen Be‑ wertungen der Motivation reformatorischer Unruhen der 1520er Jahre: Waren diese als spontane Reaktion einer bis dahin friedlichen und geeinten Sakralge‑ meinschaft auf die Predigt der reformatorischen Botschaft zu sehen oder bilde‑ ten sie eine Fortsetzung politischer und sozialer Konflikte der spätmittelalterli‑ chen Stadt? Die Bewertung dieser Frage ist nicht unerheblich, denn sie steht im Zusammenhang mit einer Kontroverse über die Gesamtbewertung der Refor‑ mation: War es, wie Moeller immer wieder betonte, die „Rechtfertigungslehre“, welche „die Massen in Bewegung gebracht hat“, was die singuläre Bedeutung Luthers unterstreichen würde? Oder bildete vielmehr ein spätmittelalterlicher Antiklerikalismus den „Kristallisationskern“ (Goertz) der reformatorischen Bewegung?
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Die Debatten können und sollen hier nicht in ihrer Breite nachgezeichnet werden, son‑ dern werden nur im Bezug auf die hier relevante Frage nach den innerstädtischen Konfliktfor‑ men dargestellt. Die Debatten insgesamt sind in verschiedenen, teilweise auch schon älteren Forschungsberichten umfassend dokumentiert, vgl. Kaspar von Greyerz: Stadt und Refor‑ mation: Stand und Aufgaben der Forschung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 76 (1985), S. 6–63; Bernhard Rüth: Reformation und Konfessionalisierung im städtischen Bereich. Perspektiven der Forschung, in: Zeitschrift der Savigny‑Stiftung für Rechtsgeschichte, Ka‑ nonistische Abteilung 78 (1991), S. 197–282; zuletzt auch: Matthias Pohlig/Vera I saiasz: Soziale Ordnung und ihre Repräsentationen: Perspektiven der Forschungsrichtung „Stadt und Religion“, in: Diess. u.a. (Hgg.): Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ord‑ nungen und ihre Repräsentationen, Frankfurt am Main 2007, S. 9–32. 18 Vgl.: Bernd Moeller: Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: Ders./ Berndt Hamm/Dorothea Wendebourg (Hgg.): Reformationstheorien. Ein kirchenhis‑ torischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 9–29, hier S. 27; Hans‑Jürgen Goertz: Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewe‑ gungen in Deutschland 1517–1529, München 1987, hier S. 244; zuletzt: Ders.: Die Radikalität reformatorischer Bewegungen. Plädoyer für ein kulturgeschichtliches Konzept, in: Ders./ James M. Stayer (Hgg.): Radikalität und Dissens im 16. Jahrhundert, Berlin 2002, S. 29–41.
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Während in den Forschungskontroversen zum Thema „Stadt und Reforma‑ tion“ die Frage nach der Motivation der städtischen Unruhen im Mittelpunkt stand, herrschte hingegen unter den Historikern, welche von der Konflikthaf‑ tigkeit der spätmittelalterlichen Stadt ausgingen, weitgehende Einigkeit über die Art dieser Konflikte selbst. Als prägend galt hier jeweils der Interessengegen‑ satz zwischen einer zünftisch geprägten Bürgergemeinde und einer Ratselite aus Kaufleuten und landbesitzendem Stadtadel.19 In Weiterführung und Modi‑ fizierung der Thesen Bradys wurde so in verschiedenen Einzelstudien, insbe‑ sondere zu süddeutschen Reichsstädten, hervorgehoben, dass die patrizischen Räte nur unter dem Druck der Bürgerbewegung die Reformation einführten, um ihre eigene Machtposition zu sichern. 20 Umgekehrt konnten die Ratseli‑ ten dort nicht an der Macht bleiben, wo sie das Potential der Bürgerbewegung verkannten und die Einführung der Reformation zu lange verweigerten. Hier kam es meist zu einem Machtwechsel zugunsten der Zunftopposition. 21 In bei‑ den Fällen gelten die Verbindungslinien zwischen städtischen Reformationsun‑ ruhen und den Unruhen der spätmittelalterlichen Bürgerbewegungen als ent‑ scheidend, die sich gegen die alten Ratseliten wandten und ihre Interessen durch die reformatorische Theologie bestätigt sahen. Während den südwestdeutschen, eher zwinglianisch geprägten Stadtrefor‑ mationen lange Zeit die typisch norddeutsche, lutherische Fürstenreformation entgegengesetzt wurde, 22 haben inzwischen zahlreiche Forschungen zur Refor‑ mation in nordwestdeutschen Landstädten und Hansestädten auch hier genuine Zusammenhänge zwischen spätmittelalterlichen städtischen Konflikten und re‑ formatorischen Unruhen aufzeigen können.23 Heinz Schilling etwa konstatierte 19 In den Mittelpunkt gestellt wurden die vielfältigen sozialen, politischen und ökonomi‑ schen Konflikte erstmals von Thomas A. Brady in seiner Studie zur Reformation in Straß‑ burg, vgl. Thomas A. Brady: Ruling Class, Regime and Reformation at Strasbourg, 1520– 1555, Leiden 1978. Besonders bekannt ist Bradys Diktum, das Bild der Sakralgemeinschaft sei eine „highly idealized, romantic conception of urban society“. Damit suchte er den ideo‑ logischen Charakter der Berufung auf sakrale Werte herauszustellen, welche den Stadtobrig‑ keiten zur Legitimation ihres Handelns dienten, vgl. ebd., S. 12. 20 Vgl. Brady: Ruling Class, S. 234 f.; Gottfried Seebass: Stadt und Kirche in Nürn‑ berg im Zeitalter der Reformation, in: Bernd Moeller (Hg.): Stadt und Kirche im 16. Jahr‑ hundert, Gütersloh 1978, S. 66–86; Heinrich Richard Schmidt: Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihr Landgebiet, Erlangen 1990, S. 81–119. 21 Vgl. Wilfried Ehbrecht (Hg.): Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit, Köln 1980. 22 Vgl. Heinz Schilling: Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch‑zwing‑ lianisches Ereignis vor der reformatorischen Wende des Jahres 1525?, in: Zeitschrift für histo‑ rische Forschung 14 (1987), S. 325–332. 23 Vgl. Heinz Schilling: Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts, in: Wolfgang Mommsen (Hg.): Stadtbürger‑ tum und Adel in der Reformation, Stuttgart 1979, S. 232–308; Olaf Mörke: Rat und Bür‑ ger in der Reformation. Soziale Gruppen und kirchlicher Wandel in den welfischen Hanse‑ städten Lüneburg, Braunschweig und Göttingen, Hildesheim 1983; Wilfried Ehbrecht:
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für den Stadttypus der nordwestdeutschen „Autonomiestadt“, die aufgrund ih‑ rer Unabhängigkeit vom Landesherrn eine Mittelstellung zwischen Land‑ und Territorialstadt einnahm, eine besondere Affinität zur Reformation. 24 Ebenso wie in Reichsstädten fanden auch hier die Bürgerbewegungen des Spätmittelal‑ ters in den reformatorischen Forderungen ein „kongeniales Instrument“ zur Durchsetzung ihrer seit langem verfolgten Interessen, in diesem Fall in der Un‑ abhängigkeit der Stadt vom Landesherrn. 25 Gemein ist diesen stärker sozialgeschichtlich orientierten Untersuchungen, dass sie den Blick für eine auch politisch‑funktionale Deutung der Einführung der Reformation öffneten und zugleich gegenüber dem Konzept der rein obrig‑ keitlichen „Einführung“ durch den Rat oder Landesfürsten die eigenständige Rolle der „reformatorischen Bürgerbewegung“ hervorhoben. 26 Damit bieten die genannten Modelle der Stadtreformation eine Interpretation der Reforma‑ tion als religiöser Bewegung innerhalb des politischen und sozialen Kontextes der frühneuzeitlichen Stadt. Sie lassen sich jedoch nicht unmittelbar auf Wittenberg übertragen, denn in der Residenz‑ und Universitätsstadt ist von grundsätzlich anderen Vorausset‑ zungen als in den Reichs‑ oder Autonomiestädten auszugehen. Mit der Forde‑ rung nach einer stärkeren Differenzierung der Städtetypen hat die jüngere For‑ schung zu Stadt und Reformation in ähnlicher Weise auf die Besonderheiten der Reformation in Landstädten verwiesen.27 Darauf aufbauend untersuchte Jo‑ hannes Merz spezifische „Landstadtreformationen“, in denen die frühe refor‑ Verlaufsformen innerstädtischer Konflikte in nord- und westdeutschen Städten im Reforma‑ tionszeitalter, in: Bernd Moeller (Hg.): Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1978, S. 27–47; Ders.: Köln – Osnabrück – Stralsund. Rat und Bürgerschaft hansischer Städte zwischen religiöser Erneuerung und Bauernkrieg, in: Franz Petri (Hg.): Kirche und ge‑ sellschaftlicher Wandel in deutschen und niederländischen Städten der werdenden Neuzeit, Köln/Wien 1980, S. 23–63. 24 Vgl. Schilling: Politische Elite, S. 2. 25 Ebd. 26 Peter Blickle spricht in diesem Zusammenhang von einer „Gemeindereformation“, in deren genossenschaftlichem Charakter er das verbindende Element zwischen der Reforma‑ tion auf dem Land und in den Städten sieht, vgl. grundlegend Peter Blickle: Gemeindere‑ formation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 31998, bes. S. 110–122. Mit Blick auf den Forschungsstand zur Stadtreformation zuletzt: Ders.: Die Re‑ formation im Reich, Stuttgart 32000, S. 128 f. Das Begriffspaar Rats‑ und Gemeindereforma‑ tion stieß zunächst auf erhebliche Kritik, weil es recht starr jeweils dem patrizisch verfassten Stadttypus einerseits und dem zünftisch verfassten Stadttypus andererseits als Verlaufsmo‑ dell zugeordnet wurde. Inzwischen kann indes als Konsens der Forschung gelten, dass jede Stadtreformation zugleich Elemente einer Gemeindereformation und einer Ratsreformation enthält, vgl. zusammenfassend dazu Schilling: Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 97; auch: Blickle: Reformation, S. 125 f. 27 Zur Forschungslage zusammenfassend: Johannes Merz: Landstädte und Reformation, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Band 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register, Münster 1997, S. 107–135.
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matorische Bewegung den städtischen Autonomiebestrebungen Auftrieb gege‑ ben habe und die erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von einem er‑ starkenden fürstlichen Territorialstaat beendet worden seien. 28 Während diese Studien sich an dem klassischen Verlaufsmodell von der reformatorischen Be‑ wegung zur landesherrlichen Reformation orientierten, betonte hingegen Ste‑ fan Laux in seiner Untersuchung zu kurkölnischen Landstädten den spezifisch „städtischen“ Charakter der Reformation, welche Landstadt und Reichsstadt verbinde.29 Das Untersuchungsfeld von Reformation und Landstadt kann damit bereits als erschlossen gelten. Die Geschichte der Reformation in Residenzstädten als Spezialtyp der Landstädte wurde hingegen bisher fast ausschließlich als eine Geschichte der gescheiterten reformatorischen Bewegung geschrieben. Grund dafür ist, dass hier bislang nur die Residenzen altgläubiger geistlicher Fürsten thematisiert wurden.30 Vergleichbare Untersuchungen zur Reformation in Re‑ sidenzstädten weltlicher Fürsten liegen bislang nicht vor.31 Darstellungen der Wittenberger Reformation haben bislang, so sie neben theologischen auch politik‑ und sozialgeschichtliche Fragestellungen berück‑ sichtigten, jeweils entweder die Thesen der Forschungen zu Reichsstädten oder derer zu Landstädten übernommen, so dass die Wittenberger Konflikte von 1521 entsprechend entweder als das Produkt von Autonomiebestrebungen der Stadt gegenüber dem Kurfürsten oder einer zünftisch geprägten Bürgerbewe‑ gung gegen den Rat interpretiert wurden.32 Gemeinsam ist diesen Studien, dass 28 Vgl. Merz: Landstädte; Ders.: Die Landstadt im geistlichen Territorium. Ein metho‑ discher Beitrag zum Thema „Stadt und Reformation“ am Beispiel Frankens, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 46 (1994), S. 55–82. 29 Die reformatorischen Auseinandersetzungen haben sich hier in einem städtischen Bin‑ nenraum vollzogen, der dem Zugriff des Landesherrn entzogen war. Gleichzeitig zeigt Laux jedoch auch für die Landstadt spezifische Elemente, wie etwa die Rolle der Amtmänner als Mittler zwischen Hof und Stadt, vgl. Stefan Laux: Reformationsversuche in Kurköln (1542– 1548). Fallstudie zu einer Strukturgeschichte landstädtischer Reformation (Neuss, Kempen, Andernach, Linz), Münster 2001. 30 Besonders einflussreich war auf diesem Gebiet die Studie Hans‑Christoph Rublacks zu südwestdeutschen geistlichen Residenzstädten, welche die politische Stärke der fürstlichen Behörden und geistlichen Institutionen als Gründe für das Scheitern der Reformation her‑ ausstellte, vgl. Hans‑Christoph Rublack: Gescheiterte Reformation. Frühreformatori‑ sche und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen Residenzen, Stuttgart 1978. 31 Perspektiven eröffnet an dieser Stelle die Forschungsskizze Werner Freitags, die mit dem Beispiel der Residenz Halle an der Saale zwar wiederum eine geistliche Residenz zum Untersuchungsgegenstand nimmt, jedoch in diesem Fall eine Residenz, in der sich die Refor‑ mation schließlich durchsetzen konnte. Freitag benennt hierfür die starke Position des Re‑ sidenzstiftes als strukturelle Voraussetzung, vgl. Werner Freitag: Residenzstadtreforma‑ tion? Die Reformation in Halle zwischen kommunalem Selbstbewusstsein und bischöflicher Macht, in: Andreas Tacke (Hg.): Kontinuität und Zäsur: Ernst von Wettin und Albrecht von Brandenburg. Vorträge der 1. Moritzburg‑Tagung (Halle/Saale) vom 23. bis 25. Mai 2003, Göttingen 2005, S. 91–118. 32 Vgl. dazu ausführlich Kap. II., S. 170–212.
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sie sich ausschließlich auf die Ereignisse der so genannten „Wittenberger Un‑ ruhen“ von 1521/22 beziehen. Für die Reformation in der weltlichen Residenz‑ stadt Wittenberg gilt es hier also, Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Hin‑ blick auf die genannten idealtypischen Verlaufsmodelle der Forschung zu ande‑ ren Städtetypen herauszuarbeiten.33 Von der Reformationsforschung wurde im Bezug auf die Untersuchung städ‑ tischer Konflikte jeweils die „Irreduzibilität“ des Faktors Religion betont, der so als eine Art ontologischer Restbestand erschien, der nicht auf soziale und politische Faktoren zurückzuführen sei.34 Das hier aufscheinende Problem der Gegenüberstellung von religiösen und sozialen Faktoren soll durch eine Fra‑ gestellung, die einerseits soziale und politische Konstellationen nicht als sta‑ tisch, sondern als kulturell konstituiert begreift und andererseits auch die re‑ ligiösen Sinnformationen nicht losgelöst von sozialen und politischen Bedin‑ gungen betrachtet, vermieden werden, indem religiöse, politische und soziale Faktoren aufeinander bezogen werden.35
33 In diesem Sinne wies bereits Bernd Moeller darauf hin, dass sich die politischen und so‑ zialen Konstellationen, welche den „Übergang zur Reformation“ mitbestimmten, keineswegs vereinheitlichen ließen, sondern im Bezug auf unterschiedliche Städtetypen im Einzelfall un‑ tersucht werden müssen, vgl. Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation, 2., bearbeitete Neuausgabe, Berlin 1987, S. 82 [Erstausgabe Gütersloh 1962]. 34 Vgl. Heinz Schilling: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648, Berlin 1988, S. 180. 35 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt ein Sammelband mit Beispielen aus dem späten 16. und 17. Jahrhundert: Vera Isaiasz/Ute Lotz‑Heumann/Monika Mommertz/Matthias Pohlig (Hgg.): Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Re‑ präsentation, Frankfurt/New York 2007.
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Begriffe und Fragestellungen Rituale – „Ceremonien“ – Liturgie Die Verwendung der Forschungsbegriffe Ritual und Zeremonie für die reli‑ giösen Handlungssequenzen der christlichen Liturgie im Zeitalter der Refor‑ mation bedarf einiger begrifflicher Vorüberlegungen. Denn im Gegensatz zu säkularen Ritualen und Zeremonien beruht die Wirkmächtigkeit des religiösen Rituals nicht nur auf der „sozialen Magie“ gesellschaftlicher Konventionen, sondern aus der Perspektive der Teilnehmer auf dem Eingreifen einer überem‑ pirischen, spirituellen Macht.36 Dieses Kriterium wird in der Forschung teilweise in Abgrenzung zu den weltlichen Zeremonien verwendet. 37 Da jedoch eben dieser magisch‑sakrale Charakter des Rituals im reformatorischen Ritual‑ verständnis teilweise in Frage gestellt, zumindest jedoch modifiziert wurde, würde ein solcher Gebrauch des Ritualbegriffs hier eine Bedeutungsebene fest‑ legen, deren Veränderung im Laufe der Arbeit gerade zu zeigen ist. Geläufiger ist in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion die begriffliche Differenzie‑ rung, wonach Rituale im Gegensatz zu Zeremonien nicht nur eine soziale Ord‑ nung herstellen und darstellen, sondern auch einen Statuswechsel bewirken.38 In diesem Sinne soll im Folgenden der Begriff des Rituals dann verwendet wer‑ den, wenn die Funktion einer Handlung als Einsetzungs‑ oder Übergangsri‑ tual thematisiert werden soll. Für die zeitgenössische Diskussion über die Ver‑ änderung gottesdienstlicher und säkularer Handlungen erscheint hingegen die Unterscheidung, ob hier ein (sakraler) Statuswechsel erfolgt, nicht zielführend. Daher soll hier grundsätzlich der Quellenbegriff der „Ceremonien“ verwen‑ det werden, welcher säkulare und ausdrücklich auch sakrale formal normierte Handlungssequenzen zunächst unabhängig von ihren sozialen oder sakralen Sinnzuschreibungen bezeichnet. Der Begriff der Liturgie schließlich wird als deskriptive Kategorie für das gottesdienstliche Geschehen im engeren Sinne verwendet.39 36 Vgl.
Stollberg‑Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 504. Alois Hahn: Kultische und säkulare Riten und Zeremonien in soziologischer Sicht, in: Ders. (Hg.): Anthrologogie des Kultus, Freiburg 1977, S. 51–81, zitiert nach Stoll‑ berg‑Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 504. 38 Ebd. 39 Vgl. Hans‑Christoph Schmidt‑Lauber: Begriff, Geschichte und Stand der For‑ 37 Vgl.
Begriffe und Fragestellungen
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Geistliche Macht – geistliche Herrschaft Eng mit der Frage nach der Diskussion um die Veränderung der Ceremonien ist die Frage nach geistlicher Macht und Herrschaft verbunden und zwar mit der Definitionsmacht über die wahre christliche Religion. Die Deutungshoheit über das Heil musste durch Veränderungen der Ceremonien Schritt für Schritt erstritten werden und musste sich im Konflikt mit anderen Ansprüchen als he‑ gemonial durchsetzen.40 Die Frage nach der Durchsetzung der Reformation war so zuallererst eine Frage nach der Deutungshoheit in geistlichen Dingen, welche erst in zweiter Linie eine Verschiebung traditioneller geistlicher Herr‑ schaftsrechte nach sich zog. Daher sollen die reformatorischen Auseinanderset‑ zungen hier zunächst als ein Kampf um die Akzeptanz der jeweiligen Symbo‑ lik begriffen werden. Bewusst soll dabei nicht nur nach den Möglichkeiten geistlicher Herrschaft gefragt werden, also nach der „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.41 Herrschaft bezeichnet nach dieser klassischen Definition Max Webers den Bereich der Normsetzung, die ein be‑ stimmtes Maß an Dauerhaftigkeit voraussetzt und Verhältnisse der Über‑ und Unterordnung institutionalisiert. Solche normativ gesetzten geistlichen Herr‑ schaftsbefugnisse, wie etwa die Erhebung geistlicher Abgaben oder die Ge‑ richtshoheit, werden hier zwar auch thematisiert. Doch sollen darüber hinaus alle Bereiche geistlicher Macht einbezogen werden, verstanden als die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstre ben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ 42 Der Begriff bein‑ haltet nach dieser Definition Webers nicht nur die Möglichkeiten der obrig‑ keitlichen Durchsetzung positiver Normen, sondern verweist auch darauf, dass Machtverhältnisse prinzipiell in allen sozialen Beziehungen vorhanden sind. In diesem Sinne hat die neuere kulturwissenschaftlich ausgerichtete Geschichts‑ forschung im Anschluss an philosophische und soziologische Machttheoreti‑ ker, insbesondere an Michel Foucault, den Begriff der Macht als relationale Ka‑ tegorie verwendet.43 Macht ist demnach nicht als feste Konstante zu verstehen, schung, in: Ders./Michael Meyer Blanck/Karl‑Heintz Bieritz (Hgg.): Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 32003, S. 17–44, hier S. 19. 40 In diesem Sinne regte Antje Flüchter die Untersuchung des „Kampfes um die Symbole“ als Kampf um die Definitionsmacht an, der gesellschaftliche Bedeutungsverschiebungen vorausgehe, vgl. Antje Flüchter: Konfessionalisierung in kulturalistischer Perspektive? Überlegungen am Beispiel der Herzogtümer Jülich‑Berg, in: Barbara Stollberg‑Rilin‑ ger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 35), Berlin 2005, S. 223–252, hier S. 231. 41 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 32005 [Erstausgabe Tübingen 1922], S. 38. 42 Ebd. 43 Vgl. zur Rezeption von Foucaults Machtbegriff in der Geschichtswissenschaft
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Einleitung
sondern manifestiert sich stets aufs Neue in menschlichen Kommunikations‑ und Interaktionsprozessen.44 Wenn hier also von geistlicher Macht die Rede ist, geht es nicht nur um obrigkeitliche Normierung, sondern allgemeiner gefasst um einen Machtkampf im Wechselspiel aller relevanten Akteure, der in kom‑ munikativen Prozessen und nicht zuletzt auch seinerseits mit symbolischen Mitteln ausgetragen wurde. Auf diese Weise sollen spezifische Bedingungsfaktoren und strukturelle Grundlagen der Durchsetzung der Reformation herausgearbeitet werden, um dabei zugleich die Entwicklung der protestantischen Gottesdienstordnungen und des neuen reformatorischen Ritualverständnisses insgesamt im Witten‑ berger Kontext zu untersuchen. Schließlich ist dabei stets auch zu fragen, auf welche Weise die damaligen Wittenberger Ereignisse zu den „historischen Er‑ eignissen“ wurden, als die sie heute gelten. Daher sollen die Ebenen der Über‑ lieferung und Traditionsbildung stets mitreflektiert werden. Für die Analyse der Ceremonien im Einzelnen können damit jeweils vier Ebenen der Untersuchung unterschieden werden, welche, den Möglichkeiten der Quellenlage entsprechend, bei der Analyse der einzelnen rituellen Akte und liturgischen Ordnungen jeweils zu beachten sind. So ist erstens nach den In‑ teressen und Positionen der Universitätstheologen und städtischen Akteure in dem Prozess der Planung und Veränderung der Ceremonien zu fragen. Dabei sind sowohl theologische Diskussionen wie auch politische Auseinandersetzun‑ gen zu untersuchen, um auf diese Weise die Entwicklung des reformatorischen Ritualverständnisses im Wittenberger Kontext zu verorten. Daran anschlie‑ ßend ist zweitens nach der Umsetzung dieser Vorstellungen in der Wittenber‑ ger Praxis und ihrer praktischen Durchsetzung zu fragen. Dabei gilt es heraus‑ zufinden, inwieweit die diskutierten Veränderungen auch tatsächlich umgesetzt wurden. Drittens ist schließlich nach den Reaktionen der Wittenberger Bür‑ ger und Einwohner auf die veränderten Ceremonien zu fragen. Diese können etwa in der Verweigerung bestimmter Praktiken bestehen oder sich auch ihrer‑ seits in (anderen) symbolischen Handlungen ausdrücken. Anhand dieser Reak‑ tionen sollen unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Aneignung der veränderten Ceremonien und des darin zum Ausdruck kommenden neuen reli‑ giösen Verständnisses herausgearbeitet werden. Besonders an diesem Punkt gilt A ngelika Epple: Wahrheit, Macht, Subjekt. Historische Kategorien im Werk Michel Fou‑ caults, in: Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hgg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 416–429; Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt am Main 2002, S. 57–63; Christian Hochmuth/Susanne Rau (Hgg.): Stadt – Macht – Räume. Eine Einführung, in: Diess. (Hgg.): Machträume in der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006, S. 13–40, hier S. 24–26. 44 Vgl. zum Machtbegriff in der neueren Kulturgeschichte allgemein: Barbara Stoll‑ berg‑Rilinger: Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, S. 9–24, hier S. 14–17.
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es auch, nach den Rückwirkungen dieser Praktiken auf das Vorgehen der Ob‑ rigkeit und auf den theologischen Ritualdiskurs zu fragen. Neben diesen drei Punkten der Analyse der Ceremonien selbst ist in einigen Fällen viertens noch ein weiterer Punkt hinzuzufügen, der sich unter dem Be‑ griff der Traditionsbildung fassen lässt.45 Ausgehend von der Beobachtung, dass die Ceremonien nicht nur im Voraus verhandelt und in der Praxis umgesetzt, sondern auch im Nachhinein interpretiert werden, soll hier nach der Überliefe‑ rung der Ceremonien und den nachträglichen Bedeutungszuschreibungen ge‑ fragt werden. Damit gilt es zu ergründen, auf welche Weise die frühen Jahre der Wittenberger Reformation insgesamt, aber auch einzelne in der Stadt voll‑ zogene rituelle Handlungen in die Annalen der Reformationsgeschichte aufge‑ nommen wurden und damit zu bis heute bekannten Ereignissen wurden.
45 Die Fragen nach der Erinnerung und Traditionsbildung wurde in jüngerer Zeit auch in der Reformationsforschung verstärkt thematisiert, wobei der Schwerpunkt auf der Luther erinnerung liegt. Vgl. allgemein: Joachim Eibach (Hg.): Protestantische Identität und Erin‑ nerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR, Göttingen 2003; Hartmut Lehmann: Anmerkungen zur Entmythologisierung der Luthermythen 1883– 1983, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 457–477; Hans Medick/Peer Schmidt (Hgg.): Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004. Speziell zu Wittenberg vgl. Stefan Laube: Der Kult um die Dinge an einem evangelischen Erinnerungsort, in: Ders. (Hg.): Lutherinszenierung und Reformationserinnerung, Leipzig 2002, S. 11–34.
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Die Quellen Insgesamt ist festzustellen, dass die Überlieferung für die Wittenberger Refor‑ mation im Vergleich zu anderen Städten in der Reformationszeit eher gering ist. Die von solchen Studien üblicherweise herangezogenen Quellen wie Ratspro‑ tokolle oder Gerichtsbücher fehlen im Wittenberger Stadtarchiv für den un‑ tersuchten Zeitraum vollständig. Diese Arbeit stützt sich daher auf sehr unter‑ schiedliche Quellenarten aus ebenso unterschiedlichen Beständen. Die Tatsache, dass überhaupt in nennenswertem Umfang Akten überliefert sind, hat die Wittenberger Reformation hauptsächlich dem Umstand zu ver‑ danken, dass Wittenberg kurz zuvor Residenzstadt des sächsischen Kurfürs‑ ten wurde. Ein großer Teil der verwendeten archivalischen Quellen stammt so aus der kurfürstlichen‑sächsischen Überlieferung, die heute im Ernestinischen Gesamtarchiv als Teil des Hauptstaatsarchivs in Weimar aufbewahrt wird. Die‑ ser Bestand umfasst Akten über die Auseinandersetzungen des Kurfürsten mit dem Bischof von Brandenburg über die Stadt Wittenberg, Korrespondenzen des Kurfürsten mit dem Rat der Stadt, Akten über Auseinandersetzungen mit der Universität und den Wittenberger Studenten und schließlich einen sehr um‑ fangreichen Bestand zur Wittenberger Schlosskirche und zum Wittenberger Heiltum. Die Schlosskirche war als Kirche des Hofes und der Universität neben der Wittenberger Pfarrkirche die zweite große Kirche in Wittenberg und erlangte Anfang des 16. Jahrhunderts besonders durch den Reliquienschatz des Witten‑ berger Heiltums überregionale Bedeutung. Zur Schlosskirche gehörte das Wit‑ tenberger Allerheiligenstift, ein Kollegiatstift, das in der Reformationszeit zum Inbegriff der altgläubigen Frömmigkeit und des Widerstandes gegen die refor‑ matorischen Neuerungen wurde. Die Aufarbeitung des genannten Bestandes zur Schlosskirche und dem Heiltum, und damit eine umfassende Geschichte des Wittenberger Allerheiligenstiftes bis zu seinem Ende 1525, galt schon der Lutherforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Desiderat.46 Seitdem wurde die Geschichte des Allerheiligenstifts zwar in anderen Zusammenhän‑ gen berührt, doch wurde stets darauf verwiesen, dass eine umfassende Unter‑ 46 Das Forschungsdesiderat benennen etwa Theodor Kolde: Friedrich der Weise und die Anfänge der Reformation. Eine kirchenhistorische Skizze mit archivalischen Beilagen, Erlangen 1881, S. 35; Julius Köstlin: Friedrich der Weise und die Schlosskirche zu Witten‑ berg, Berlin 1892.
Die Quellen
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suchung der komplizierten Vorgänge den jeweiligen Rahmen sprengen w ürde.47 Mit der Frage nach der Entwicklung der Wittenberger Liturgie und des refor‑ matorischen Ritualverständnisses soll hier zugleich erstmals die Geschichte des Wittenberger Allerheiligenstiftes umfassend dargestellt und damit das gesamte sehr umfangreiche Quellenmaterial aufgearbeitet werden. Da es sich um eine kurfürstliche Institution handelte, sind die Vorgänge viel umfangreicher do‑ kumentiert als etwa die der städtischen Institutionen, die den Kurfürsten nur mittelbar als Stadtherrn betrafen. Eine Edition dieses Quellenmaterials wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Historiker Nikolaus Müller begonnen, konnte durch dessen frühen Tod jedoch nicht beendet werden. Die von Müller bereits bearbeiteten Aktenstücke wurden von Karl Pallas aus dessen Nachlass herausgegeben.48 Da diese Edition entsprechend nur unbeendete Vorarbeiten Müllers wiedergibt, werden zusätzlich weitere, bislang unbeachtete Bestände des Weimarer Archivs herangezogen. Besonders wertvoll für die Fragestellun‑ gen dieser Arbeit erwies sich dabei, dass hier nicht nur die fertigen liturgischen Ordnungen dokumentiert sind, sondern auch die Diskussionen zwischen Uni‑ versitätstheologen, Stadt und Hof bei der Entstehung dieser Ordnungen teil‑ weise nachvollzogen werden können. Ein weiterer, aufgrund seines großen Umfanges auffälliger Bestand beinhal‑ tet Akten und Briefe des Hofes zu den städtischen Unruhen in Wittenberg, die für den Zeitraum der so genannten „Wittenberger Unruhen“ 1521/22 überlie‑ fert sind. Dies korrespondiert mit dem oben genannten Befund zur Forschung zur Wittenberger Reformation, die sich ausschließlich auf den hier überliefer‑ ten Aktenbestand, der teilweise auch in Editionen zugänglich ist, beschränkt.49 Den Gründen für diesen Überlieferungsschwerpunkt und seinen Folgen für die Forschung ist im Zusammenhang mit der Frage nach der langfristigen Tradi tionsbildung ebenfalls nachzugehen.
47 Vgl. Irmgard Höss: Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanis‑ mus und der Reformation, Weimar 1989, S. 235; Wolfgang Schulz: Das Abendmahlssakra‑ ment in Aussagen Johannes Bugenhagens 1521 bis Sommer 1525. Studien zur Ausprägung seiner lutherischen Abendmahlsposition, Diss. Greifswald 1985 (unveröffentlichtes Manu‑ skript), S. 78. 48 Karl Pallas (Hg.): Urkunden, das Allerheiligenstift zu Wittenberg betreffend 1522– 1526. Aus dem Nachlasse des Professors D. Dr. Nic. Müller herausgegeben von Karl Pallas, in: Archiv für Reformationsgeschichte 12,1 (1915), S. 1–46 und S. 82–131. Zu dieser Edition wurden inzwischen einige, von der Forschung jedoch weitegehend unbeachtete, quellenkri‑ tische Anmerkungen und Korrekturen vorgenommen: Georg Buchwald: Zu dem Streite Luthers mit den Wittenberger Stiftsherren 1523–1524, in: Theologische Studien und Kritiken 56 (1884), S. 571–576; Gustav Kawerau als Herausgeber der Weimarer Ausgabe, vgl. z.B. WA Br. 3, S. 134. 49 Vgl. oben, S. 6; Nikolaus Müller (Hg.): Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt. Briefe, Akten und dgl. u. Personalien, Leipzig ²1911.
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Einleitung
Neben der kurfürstlichen Überlieferung wird auch die bischöfliche Über‑ lieferung im Domstiftsarchiv Brandenburg herangezogen, die allerdings nur noch in sehr geringen Teilen vorhanden ist. Der Inhalt der zerstörten Akten aus Brandenburg kann anhand von Regesten aus einer Handschrift, welche heute in der Universitätsbibliothek Breslau liegt, teilweise rekonstruiert werden. Auf Grundlage der so verstreuten bischöflichen Überlieferung können zwei kaum bekannte Gegenstände näher beleuchtet werden: Die Perspektive des branden‑ burgischen Bischofs auf die Wittenberger Reformation und die bereits in vorre‑ formatorischer Zeit beginnenden Konflikte des Bistums mit der Stadt Witten‑ berg. Diese Quellengrundlage ermöglicht eine sowohl zeitlich wie auch inhalt‑ lich breitere Kontextualisierung der Wittenberger Reformation. Neben der landesherrlichen und der bischöflichen Überlieferung wird drit‑ tens die städtische Ratsüberlieferung herangezogen. Aufgrund des bereits er‑ wähnten Fehlens der Ratsprotokolle werden hier – neben einigen Akten‑ stücken – hauptsächlich Kämmereirechnungen ausgewertet, welche für den Untersuchungszeitraum nahezu vollständig vorliegen. 50 Aus diesen können, teilweise im Abgleich mit Hinweisen aus anderen Überlieferungssträngen, un‑ terschiedliche Ereignisse rekonstruiert werden, wie beispielsweise Verhandlun‑ gen mit dem Bischof über Botenlöhne, Zahlungen an den Bischof selbst, Bestra‑ fungen von Wittenberger Bürgern oder der Ankauf und Verkauf von Inventar, welches auf bestimmte religiöse Ceremonien schließen lässt. In geringerem Umfang wird auch die kirchliche Überlieferung aus dem Ar‑ chiv der Wittenberger Pfarrkirche herangezogen, namentlich die ab 1526 über‑ lieferten Rechnungen des gemeinen Kastens sowie ein Verzeichnis der sonntäg‑ lichen Kommunikanten, also Quellen, aus denen insgesamt Aufschluss über die Umsetzung der kirchlichen Reformen in der Wittenberger Pfarrkirche gewon‑ nen werden kann. Schließlich werden aus dem Universitätsarchiv Halle die voll‑ ständig vorhandenen Regesten der Urkunden des Allerheiligenstiftes berück‑ sichtigt sowie einige Einzelfunde zu Disziplinarsachen von Studenten und Fälle des Universitätsgerichts. Neben den archivalischen Quellen sind auch die in der Weimarer Ausgabe herausgegebenen Schriften, Briefe und Predigten Martin Luthers eine wichtige Quellengrundlage dieser Arbeit. Ebenso werden Predigten und Briefe des Wit‑ tenberger Stadtpfarrers Johannes Bugenhagen und weiterer Wittenberger Re‑ formatoren herangezogen. Ausgewählt werden dabei alle Predigten, Briefe und Schriften der genannten Reformatoren, die sich mit dem Thema der kirchli‑ chen Ceremonien und der konkreten gottesdienstlichen Praxis in Wittenberg auseinandersetzen. Anhand dieser Predigten und Schriften soll in Auseinan‑ 50 Vgl. zu den Wittenberger Stadtrechnungen als Quelle bereits Hermann Schild: Wit‑ tenbergische Stadtrechnungen, in: Neue Mitteilungen aus dem Gebiet historisch‑antiquari‑ scher Forschungen (1882), S. 379–402.
Die Quellen
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dersetzung mit der theologischen, liturgiewissenschaftlichen und historischen Forschung gezeigt werden, wie sich die Haltung der Reformatoren zu kirchli‑ chen Ritualen und Symbolen im Kontext der Wittenberger Stadtreformation in Abgrenzung einerseits gegen radikale und andererseits gegen altgläubige Kon‑ trahenten entwickelte. Schließlich sind für die Frage nach der Überlieferung und Traditionsbildung neben den archivalischen Quellen punktuell noch einige frühe Drucke von Lutherschriften und anderen Dokumenten heranzuziehen, ebenso wie die bereits im 18. Jahrhundert edierten unterschiedlichen historio‑ graphischen Werke und Chroniken Spalatins.
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Gliederung und Periodisierung Die Arbeit besteht aus vier großen Kapiteln, die eine grobe chronologische Ab‑ folge ergeben und zugleich den Untersuchungszeitraum nach den Fragestellun‑ gen der Arbeit in vier inhaltliche Abschnitte gliedern. Das erste Kapitel unter‑ sucht das bislang weitgehend unbekannte Feld der kirchlichen und religiösen Verfasstheit Wittenbergs in „vorreformatorischer“ Zeit zwischen 1500 und 1520. Es dient einer Bestandsaufnahme über die Akteure und Spielarten geist‑ licher Herrschaft, der kirchlichen Strukturen und der gottesdienstlichen Prak‑ tiken und schließlich der spezifischen städtischen Konflikte in der neuen Uni‑ versitäts‑ und Residenzstadt Wittenberg. Den Anfang des Untersuchungszeit‑ raumes gibt die Quellenlage vor, da erst mit der landesherrlichen Überlieferung, die mit der Residenzbildung in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts beginnt, eine ausreichende Quellenbasis vorhanden ist. Das erste Kapitel endet mit der bekannten Szene der Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungsbulle vor dem Elstertor, die als Höhepunkt einer Phase der städtischen Zentrierung geist‑ licher Definitionsgewalt interpretiert wird und zugleich den Übergang zu einer grundsätzlichen Neubewertung im reformatorischen Sinne bildet. Das zweite Kapitel befasst sich mit der zeitlich kürzeren, jedoch umso dich‑ ter überlieferten Episode der frühen 1520er Jahre, die gemeinhin unter dem Be‑ griff der „Wittenberger Unruhen“ bekannt ist. Es handelt sich dabei um die ersten reformatorischen Veränderungen der gottesdienstlichen Ceremonien in der Stadt in Abwesenheit Luthers. Dabei werden zunächst die rituellen Prakti‑ ken der Wittenberger Bevölkerung als Reaktionen auf die neue reformatorische Lehre untersucht, um auf diese Weise unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und Deutungsmustern auf die Spur zu kommen. In einem zweiten Schritt sol‑ len die Verhandlungen um die Ritualreformen zwischen den Universitätstheo‑ logen, den städtischen und landesherrlichen Akteuren zu den ersten Wittenber‑ ger Ritualreformen untersucht werden. Dabei gilt es, sowohl theologische als auch soziale und politische Interessen an bestimmten liturgischen Gestaltungs‑ formen herauszuarbeiten und die Durchsetzung der reformatorischen Neue‑ rungen vor dem Hintergrund der im ersten Kapitel untersuchten spezifischen Situation religiöser Praxis und geistlicher Macht in Wittenberg neu zu bewer‑ ten. Dabei soll die Position der bisherigen Forschung, welche diese Episode stets als von Tumulten und sozialem Aufruhr geprägt darstellte, nicht zuletzt auch durch deren Einordnung in längerfristige städtische Konfliktlinien nachdrück‑
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lich in Frage gestellt werden. Dass diese Sichtweise selbst das Ergebnis zeit‑ genössischer Zuschreibungen ist, ist im letzten Teil dieses Kapitels zu zeigen, welches sich mit der vorläufigen Rücknahme der Reformen nach der Rückkehr Luthers von der Wartburg, insbesondere mit seinen bekannten „Invokavitpre‑ digten“, ihrer Publikation und Überlieferung, beschäftigt. Das dritte Kapitel der Arbeit umfasst den Zeitraum vom Beginn der erneu‑ ten reformatorischen Veränderungen Anfang 1523 bis zum Tod Kurfürst Frie‑ drichs des Weisen 1525. Es wendet sich den erneuten Reformen der gottes‑ dienstlichen Ceremonien in der Wittenberger Pfarr‑ und Schlosskirche unter der Regie Luthers und den Kriterien dieser Reformen zu. Dabei ist vor dem Hintergrund der vorangegangenen Entwicklung vor allem auch nach Wechsel‑ wirkungen zwischen den Reaktionen der Menschen auf die ersten Liturgiere‑ formen und der Weiterentwicklung der Liturgiereform im Wittenberger Kon‑ text zu fragen. Daneben sind jedoch auch weitere Faktoren, die den Niedergang des Stiftes bedingten, wie etwa personelle und finanzielle Fragen zu berück‑ sichtigen. Schließlich wird im letzten Teil des Kapitels vor dem Hintergrund der spezifischen Situation religiöser Praxis und geistlicher Macht in Wittenberg analysiert, wie es 1524 zu einer weitgehenden Durchsetzung der Reformen in der Stadt und am Allerheiligenstift kam. Während man dabei von einer spezi‑ fisch städtischen Reformation sprechen kann, die Friedrich der Weise besten‑ falls duldete, gerade hinsichtlich des Allerheiligenstifts jedoch auch aktiv zu verhindern versuchte, veränderte sich dies mit dem Tod des Kurfürsten An‑ fang 1525. Das vierte und letzte Kapitel erweitert daher notwendigerweise den Bezugs‑ rahmen der Arbeit, denn unter Kurfürst Johann dem Beständigen wurde auch in Wittenberg die Reformation von einer städtischen zu einer landesherrlichen Reformation. Die Entwicklung und Konsolidierung der evangelischen Litur‑ giereformen soll hier bis zu den ersten Visitationen 1528 und 1533 weiter ver‑ folgt werden. Mit der Forderung nach einheitlichen und christlichen Ceremo‑ nien für das ganze Land erweiterte sich auch der Kreis der Akteure um die kursächsischen Landstände, deren Interessen hier ebenso wie die des neuen Kurfürsten zu diskutieren sind. Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach den Zusammenhängen von reformatorischen Ceremonien und kurfürstlicher Herrschaftsrepräsentation. Anhand der Einführung von Luthers „Deutscher Messe“ durch den Kurfürsten sind diese Zusammenhänge schließlich im Ein‑ zelnen zu diskutieren. Mit der Umsetzung der „Deutschen Messe“, die sich in den ersten Visitationen nachvollziehen lässt, soll schließlich nach den Auswir‑ kungen für die liturgische Praxis in den folgenden Jahren gefragt werden. Dass das Jahr 1525 gerade auch für Wittenberg einen entscheidenden Einschnitt be‑ deutete, zeigt schließlich der Umgang mit den Resten der altgläubigen Ceremo‑ nien, die ehemals eine große Bedeutung für Residenzstadt und Kurfürsten hat‑ ten. Anschließend ist in einem zweiten Teil danach zu fragen, wie mit den alt‑
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Einleitung
gläubigen Traditionen Wittenbergs, die in der Selbstdarstellung Friedrichs des Weisen eine entscheidende Rolle gespielt hatten, nach dem Tod des Kurfürsten umgegangen wurde. Dies wird zunächst anhand des Begräbnisses Friedrichs des Weisen, welches hier als ein Ritual des Überganges zu neuen Deutungskon‑ zepten interpretiert wird, sowie anhand des Umgangs mit der Heiltumswei‑ sung und dem Wittenberger Heiltum selbst gezeigt. Abschließend soll in einem Epilog ein Ausblick auf die langfristige Überlie‑ ferung und Erinnerung der Wittenberger Reformation gegeben werden, der die bereits angesprochenen Besonderheiten der Überlieferungs‑ und Forschungs‑ lage aufgreift, um nach den Wurzeln des heute verbreiteten Bildes der Witten‑ berger Reformation zu fragen.
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I. Geistliche Herrschaft, liturgische Praxis und städtische Konflikte 1500–1520 Die Geschichte der Stadt Wittenberg in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhun‑ derts ist, wie eingangs ausführlich dargestellt, ein nahezu unbekanntes Feld. Doch führt die Untersuchung reformatorischer Veränderungsprozesse unwei‑ gerlich zunächst zu der Frage nach dem status quo ante. Als Beginn des Unter‑ suchungszeitraums wurde die Jahrhundertwende gewählt, da der in dieser Zeit begonnene Ausbau Wittenbergs zur Residenzstadt nicht nur die Bedingungen in der Stadt entscheidend veränderte und prägte, sondern auch dazu führte, dass Wittenberg in der kurfürstlichen Überlieferung überhaupt erst eine nennens‑ werte Rolle spielte. Der erste Teil dieser Arbeit untersucht also das bislang weitgehend unbe‑ kannte Feld von Kirche und Gesellschaft in Wittenberg zwischen etwa 1500 und 1520. Um zu klären, auf welche Weise sich ab etwa 1520 in der Stadt Witten‑ berg innerhalb von wenigen Jahren „die Reformation“ durchsetzen konnte, d.h. eine neue kirchliche Lehre mit einem veränderten Ritus und einer neuen geist‑ lichen Herrschaftsstruktur etabliert wurde, ist also zunächst danach zu fragen, wie Luther die Stadt antraf, als er 1508 nach Wittenberg kam. Wer verfügte in der Stadt über geistliche Macht – im eingangs genannten Sinne verstanden als Verfügungsgewalt über geistliche Räume, Personen und Rituale? Wie gestal‑ tete sich die liturgische Praxis der Ceremonien in Gottesdiensten, Feiertagen, geistlichen Spielen und anderen religiösen Ereignissen? Neben den Entwick‑ lungslinien geistlicher Autoritäten und liturgischer Praxis im Untersuchungs‑ zeitraum ist schließlich auch nach städtischen Konflikten und Konfliktparteien zu fragen, um auf diese Weise anschließend die „reformatorischen“ Konflikte im Kontext dieser städtischen Zusammenhänge beurteilen zu können.
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1. Geistliche Macht verhandeln: Die Stadt und ihr Bischof Wer herrschte in Wittenberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts in geistlichen Din‑ gen? Anhand von Auseinandersetzungen des Bischofs von Brandenburg mit der Stadt Wittenberg zwischen 1500 und 1520 ist im Folgenden zu zeigen, dass eine solche geistliche Herrschaft bereits in dieser Zeit nicht nur formal festge‑ legt war, sondern vielmehr zunächst in Herrschaftsansprüchen und Geltungs‑ behauptungen bestand, deren soziale Akzeptanz sich in der Praxis stets aufs Neue behaupten musste. Der Versuch, geistliche Herrschaft einem bestimmten Akteur oder einer bestimmten Gruppe zuzuordnen, fördert ein kompliziertes Gefüge unterschiedlicher Akteure und Institutionen zutage, welche Macht in geistlichen Dingen beanspruchten. Derartige Verhältnisse waren in spätmittelalterlichen Städten des Reiches nicht selten. Nach einer Formulierung des Kirchenhistorikers Berndt Hamm war ein solches Miteinander und Nebeneinander verschiedener, sich widerstrei‑ tender Kompetenzen und Ansprüche geradezu kennzeichnend für die „verhee‑ rende Komplexitätskrise“ des Spätmittelalters, welche gerade in Städten beson‑ ders ausgeprägt war.1 Diese Analyse der Situation in den Städten steht im Zu‑ sammenhang mit Hamms Konzept der „normativen Zentrierung“, welches die „Ausrichtung von Religion und Gesellschaft auf eine orientierende und maß‑ gebende, regulierende und legitimierende Mitte hin“ als zentralen Prozess des 15. und 16. Jahrhunderts beschreibt. 2 Ein wichtiger, wenn auch nicht der ein‑ zige Schub in diesem Prozess war die Reformation Martin Luthers. Damit bie‑ tet Hamm ein Modell, welches die vielfältigen kirchlichen Reformbemühungen 1 Berndt Hamm: Normative Zentrierung städtischer Religiosität zwischen 1450 und 1550, in: Max Safley (Hg.): Ad historiam humanam. Aufsätze für Hans‑Christoph Rublack, Epfendorf 2005, S. 63–80. 2 Berndt Hamm hat dieses Konzept in unterschiedlichen Zusammenhängen, teilweise unter eher theologischen, teilweise unter eher historischen Schwerpunkten ausgeführt und weiterentwickelt, vgl. im Bezug auf städtische Religiosität zuletzt: Berndt Hamm: Nor‑ mative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religosität, Theologie, Ikonologie, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 163–202; eine erweiterte Fassung des Aufsatzes in: Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra (Hgg.): Normative Zentrie‑ rung – Normative Centering, Frankfurt/Main 2002, S. 21–63; grundlegend auch: Ders.: Bür‑ gertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996; Zitat: Hamm: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert, S. 164.
1. Geistliche Macht verhandeln: Die Stadt und ihr Bischof
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dieser Zeit insgesamt als eine Reaktion auf die hochdifferenzierte Komplexität der mittelalterlichen Kirche interpretiert. Dazu gehört das vielstufige „gradua‑ listische“ Heilssystem ebenso wie das institutionelle Gefüge der Kirche mit sei‑ nen unterschiedlichen Weihegraden, Orden und den gesetzten oder gewohn‑ heitsmäßigen Rechten.3 Besonders stark ausgeprägt waren solche Bedingungen in den Städten, da diese auf engem Raum eine Fülle geistlicher Institutionen, Devotionsformen und religiöser Konzeptionen versammelten.4 Noch stärker als in den vielfach untersuchten Reichsstädten oder in anderen Landstädten, so ist im Folgenden zu zeigen, war diese Komplexitätskrise in der Residenz‑ und Universitätsstadt Wittenberg ausgeprägt und zwar allein schon aufgrund der politischen Rahmenbedingungen.
1.1. Akteure innerhalb und außerhalb Wittenbergs Wie kaum ein anderer Ort vereinte Wittenberg eine Vielzahl geistlicher und weltlicher Akteure, welche Herrschaftsrechte in geistlichen Angelegenheiten beanspruchten. Schon die territorialen Gegebenheiten machten die Witten‑ berger Verhältnisse außergewöhnlich komplex. So gehörte Wittenberg zum Sprengel des Bischofs von Brandenburg und unterstand damit dessen geist‑ licher Herrschaft. Dieser war wiederum seinerseits als Suffragan dem Erzbi‑ schof von Magdeburg unterstellt, der als Metropolitan ebenfalls auf das Ge‑ schehen in Wittenberg Einfluss nahm. Weltlicher Herr der Stadt war hingegen der sächsische Kurfürst, der Anfang des 16. Jahrhunderts begann, Witten‑ berg zu einer seiner Hauptresidenzen zu machen. Hinzu kamen städtische Akteure wie der Rat der Stadt Wittenberg mit eigenen Ansprüchen auf Mit‑ sprache in geistlichen Dingen, die Wittenberger Priesterschaft und die neu gegründete Universität mit ihren rechtsgelehrten Theologen und Juristen, welche das kirchliche Recht und die Theologie mit einem eigenen Wahrheits‑ anspruch auslegten. Da alle diese Akteure in irgendeiner Weise in geistlichen Belangen für Wittenberg zuständig waren, ist im Folgenden zu klären, wie sich deren Kompetenzen im Einzelnen rechtlich gestalteten und in welchem Maße sie in der Praxis behauptet und von den Wittenbergern anerkannt wur‑ den. Bevor dies anhand der Auseinandersetzungen der Stadt mit dem Bischof von Brandenburg in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts diskutiert werden soll, sind die hierin beteiligten Akteure und ihr Einfluss auf die Stadt Witten‑ berg jeweils kurz darzustellen.
3 Vgl. zusammenfassend Hamm: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert, S. 164. 4 Vgl. ebd.
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I. Geistliche Herrschaft, liturgische Praxis und städtische Konflikte 1500–1520
1.1.1. Der Bischof von Brandenburg und der Erzbischof von Magdeburg Geistlicher Herr der Stadt Wittenberg war zunächst der Bischof von Branden‑ burg. Am südlichen Rand des Bistums gelegen, dessen Grenze hier die Elbe bil‑ dete, war die Stadt schon räumlich weit entfernt von der Residenz des Bischofs im ungefähr 50 Kilometer nordöstlich gelegenen Ziesar und der noch weiter entfern‑ ten Domstadt Brandenburg. Bedeutsamer als die räumliche Entfernung waren aber die territorialen Grenzen, welche Wittenberg aus der Sicht des brandenbur‑ gischen Bischofs auch politisch in eine Randlage brachten: Während der größte Teil des brandenburgischen Bistums dem Kurfürsten von Brandenburg unter‑ stand, gehörte Wittenberg zum Herrschaftsbereich des sächsischen Kurfürsten, welcher die Einflussnahme eines „ausländischen“ Bischofs soweit wie möglich zu vermeiden suchte und sie, wie noch zu zeigen sein wird, gemeinsam mit den städ‑ tischen Akteuren auf vielfältige Weise immer weiter einschränkte. Die Vertreibung von Bischöfen aus ihren (Residenz‑) Städten ist in der mit‑ telalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte ein bekanntes Thema, dem sich sowohl Einzelstudien wie auch Gesamtdarstellungen widmeten.5 Jeffery Tyler hat diese spätmittelalterlichen Konflikte zuletzt anhand der Beispiele Augsburg und Konstanz auch mit den späteren Entwicklungen in der Reforma‑ tionszeit in Verbindung gebracht.6 Gegenstand dieser Untersuchungen waren jedoch stets solche Bischöfe, die im Zuge städtischer Unabhängigkeitsbestre‑ bungen als weltliche Herrscher vertrieben wurden. Im Falle Wittenbergs spiel‑ ten solche Unabhängigkeitsbestrebungen vom Bischof als Stadtherrn hingegen keine Rolle, denn dieser verfügte über keinerlei weltliche Herrschaftsrechte. Die Auseinandersetzungen mit dem Bischof betrafen allein dessen Machtbe‑ fugnisse als geistlicher Herr der Stadt Wittenberg. Diese besaß der brandenburgische Bischof zu Beginn des 16. Jahrhunderts zumindest theoretisch über die Stadt Wittenberg noch in vollem Umfang: Ihm unterstanden die Wittenberger Geistlichen, von denen er verschiedene geist‑ liche Abgaben erhielt, und er war Herr der geistlichen Gerichtsbarkeit in der Stadt.7 Ebenso richtete sich die Wittenberger Liturgie nach seinen Maßgaben – tatsächlich besaß die Wittenberger Pfarrkirche ein in dieser Zeit gebräuch‑ 5 Vgl. Bruno Dauch: Die Bischofsstadt als Residenz der geistlichen Fürsten, Berlin 1913; zusammenfassend: Edith Ennen: Bischof und mittelalterliche Stadt, in: Bernhard Kirch‑ gässner/Wolfram Baer (Hgg.): Stadt und Bischof, Sigmaringen 1988, S. 29–42; Uwe Grieme/Nathalie Kruppa/Stefan Pätzold (Hgg.): Bischof und Bürger. Herrschaftsbe‑ ziehungen in den Kathedralstädten des Hoch‑ und Spätmittelalters, Göttingen 2004; Georg Kreuzer: Der Bischof und seine Stadt im „Investiturstreit“, in: Martin Kaufhold (Hg.): Augsburg im Mittelalter, Augsburg 2009, S. 7–18. 6 Vgl. J. Jeffery Tyler: Lord of the Sacred City. The Episcopus Exclusus in Late Me‑ dieval and Early Modern Germany, Leiden 1999; Ders.: The Bishop’s Power and Peril: The Episcopus Exclusus in Augsburg and Constance, in: Max Safley (Hg.): Ad historiam huma‑ nam. Aufsätze für Hans‑Christoph Rublack, Epfendorf 2005, S. 43–62. 7 Vgl. Gottfried Wentz: Das Hochstift Brandenburg, in: Gustav Abb/Gottfried
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liches „Missale Brandenburgense“.8 Da das Bistum Brandenburg zum Erzbis‑ tum Magdeburg gehörte, unterstand der brandenburgische Bischof als Suffra‑ gan seinerseits dem Erzbischof von Magdeburg als Metropolitan. Dieser Um‑ stand sollte dem Bischof in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts hinsichtlich seines Einflusses in Wittenberg zum Nachteil werden, denn den Stuhl des Erz‑ bischofs von Magdeburg hatte zwischen 1476–1513 der Wettiner Ernst II. von Sachsen inne, der als jüngerer Bruder des sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen einen potenziellen Verbündeten des Kurfürsten und der Wittenberger darstellte.9 1.1.2. Die Wittenberger Geistlichen – Studenten, Priester, Mönche Während die Wittenberger Bürger und viele der Einwohner dem Bischof von Brandenburg nur in geistlichen Dingen unterstanden, bewegten sich die Geistli‑ chen unter den Wittenberger Einwohnern außerhalb des politischen und recht‑ lichen Regiments des Rates und unterstanden auch in diesen Dingen zunächst grundsätzlich dem Bischof. Nach den geistlichen Standesprivilegien des „privi‑ legium fori“ und „privilegium immunitatis“ waren sie von der weltlichen Ge‑ richtsbarkeit und von weltlichen Diensten, Abgaben und Ämtern befreit. Der Anteil Geistlicher an der Wittenberger Stadtbevölkerung war nicht un‑ erheblich. Zu ihnen sind in Wittenberg zunächst die Mitglieder der drei Wit‑ tenberger Klöster, dem der Augustinereremiten, der Franziskaner und der An‑ toniter zu zählen, denn die geistlichen Standesprivilegien traten bereits mit der „prima tonsura“, der niedrigsten Weihe, in Kraft. Daneben gab es in der Stadt eine Reihe von Weltklerikern, die an der Pfarrkirche und der Schlosskirche tä‑ tig waren. Dazu gehörte der Pfarrer der Wittenberger Pfarrkirche, der von zwei Kaplänen (Hilfsgeistlichen) unterstützt wurde.10 Auch an der Schlosskirche Wentz (Hgg.): Das Bistum Brandenburg, Teil 1 (Germania sacra. Abteilung 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg, Band 1), Berlin 1941, S. 1–80. 8 Bischof Joachim von Bredow hatte 1494 mit dem „Missale Brandenburgense“ erstmals ein eigenes Messbuch für das Bistum Brandenburg herausgegeben. Sein Nachfolger Hierony‑ mus Schulz ließ 1516 und 1518 zwei weitere Auflagen dieses Buches folgen. Es ist davon aus‑ zugehen, dass die Wittenberger Pfarrkirche über ein solches Messbuch verfügte. Das Inventar der Pfarrkirche von 1745 führt unter anderem ein „Missale Brandeburgicum“ aus dem Jahr 1494 auf, StAW, Kap. XIV, Nr. 13; vgl. Gottfried Wentz: Das Kollegiatstift Allerheili‑ gen, in: Fritz Bünger/Ders. (Hgg.): Das Bistum Brandenburg, Bd. 3, Teil 1, (Germania sacra. Abteilung 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg), Berlin 1941, S. 75–164, hier: S. 156. Vgl. zu den brandenburgischen Messbüchern allgemein: Michael Höhle: Du bete! Kirchliches Leben im Bistum Brandenburg, in: Clemens Bergstedt/Heinz Dieter Heimann (Hgg.): Wege in die Himmelsstadt: Bischof, Glaube, Herrschaft 800–1550, Berlin 2005, S. 112–127, hier S. 118. 9 Vgl. zu diesem Jörg Rogge: Ernst von Sachsen. Erzbischof von Magdeburg und Ad‑ ministrator von Halberstadt (1476–1513), in: Werner Freitag (Hg.): Mitteldeutsche Le‑ bensbilder. Menschen im späten Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 27–68. 10 Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 155.
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waren neben den Mitgliedern des Stiftskapitels noch zahlreiche weitere Pries‑ ter und Kapläne beschäftigt, die mit den liturgischen Aufgaben einzelner Stif‑ tungen betraut waren.11 Durch die Gründung des Allerheiligenstiftes und der Universität stieg die Anzahl der Geistlichen zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Wittenberg sprung‑ haft an, da das Stift für die neuen vielfältigen Stiftungen eine große Anzahl Priester benötigte und unter den Studenten, die nach Wittenberg kamen, eben‑ falls viele Geistliche waren, darunter auch der Augustinermönch Martin Luther, der zum Studium der Theologie nach Wittenberg gekommen war. Das Kloster des Ordens der Augustinereremiten befand sich zu diesem Zeit‑ punkt noch im Bau.12 Friedrich der Weise hatte es hauptsächlich zum Zweck der Unterbringung neuer Studenten gestiftet, nachdem er den damaligen Prior des Münchener Augustinerklosters und späteren Generalvikar der Observan‑ ten‑Kongregation des Augustinerordens, Johann von Staupitz, als Gründungs‑ professor der neuen Universität hatte gewinnen können, welcher seinerseits den Zuzug neuer Studenten aus dem Orden sicherte.13 Die Gemeinschaft der Au‑ gustinereremiten wuchs schnell; waren 1502 nur 13 Angehörige des Ordens mit Staupitz nach Wittenberg gekommen, so zählte das Kloster in seiner kurzen Existenz bis 1522 insgesamt 171 Mönche, von denen der größte Teil an der Uni‑ versität lehrte oder studierte.14 Durch zwei Stellen, eine Dozentur für Moral theologie und eine Professur für Bibelauslegung, die zunächst Staupitz und ab 1512 nach seiner Doktorpromotion Luther bekleidete, war das Kloster auch in‑ stitutionell eng mit der Universität verbunden.15 Eine solche Verbindung zur Universität hatte auch das Franziskanerkloster, welches nach der Ordenstracht das „graue Kloster“ genannt wurde und sich da‑ mit vom „schwarzen Kloster“ der schwarz gekleideten Augustiner unterschied.16 Aus seinen Reihen war an der Universität die Professur für scholastische Theolo‑ gie zu besetzen.17 Als das älteste am Ort ansässige Kloster waren die Franziska‑ ner schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Streitigkeiten mit dem Wittenberger Weltklerus geraten, die im beginnenden 16. Jahrhundert noch andauerten. Dabei 11
Vgl. dazu im Einzelnen unten, Kap. I.2. Gottfried Wentz: Das Augustinereremitenkloster in Wittenberg, in: Fritz Bünger/Ders. (Hgg.): Das Bistum Brandenburg, Bd. 3, Teil 1, (Germania sacra. Abteilung 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg), Berlin 1941, S. 440–499. 13 Ebd., S. 344–347. 14 Vgl. die Aufstellung bei Wentz: Augustinereremitenkloster, S. 446. 15 Helmar Junghans: Luther und Wittenberg, S. 55. 16 Vgl. Gottfried Wentz: Das Franziskanermönchskloster in Wittenberg, in: Fritz Bünger/Ders. (Hgg.): Das Bistum Brandenburg, Bd. 3, Teil 1, (Germania sacra. Abteilung 1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg), Berlin 1941, S. 372–397; Johannes Schlage‑ ter: Das Franziskanerkloster in Wittenberg bei der Gründung der Universität (1502) und im Beginn der Reformation (1517/1525), in: Wissenschaft und Weisheit. Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte 65,1 (2002), S. 82–111. 17 Vgl. Junghans: Luther und Wittenberg, S. 54. 12 Vgl.
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ging es um allgemein bekannte Streitpunkte zwischen Klöstern und Städten, wie das Sammeln von Spenden und die Annahme von Legaten in Testamenten von Bürgern der Stadt, ebenso um das Begräbnis von Bürgern durch das Kloster.18 In den 1420er Jahren drohten diese Streitigkeiten in der Stadt zu eskalieren, so dass der Erzbischof von Magdeburg den Wittenberger Pfarrer und Propst der Aller‑ heiligenkapelle 1428 anwies, das Kloster zu schützen.19 In ähnliche Streitigkeiten mit dem Pfarrklerus geriet auch der dritte Or‑ den der Stadt, der Antoniterorden. Dieser hatte in Wittenberg kein eigentliches Kloster, sondern nur eine Außenstelle des Lichtenberger Antoniterordens. 20 Mitte des 15. Jahrhunderts hatten sie vom Rat ein Haus mit Hof erworben und dort eine eigene Kapelle mit einem kleinen Friedhof errichtet, so dass die we‑ nigen mittlerweile in Wittenberg ansässigen Antonitermönche dort begraben werden konnten. 21 Wie schon zuvor beim Franziskanerkloster kam es auch hier zum Streit über Opfergaben, das Sammeln von Spenden in der Stadt und Be‑ gräbnisse auf dem Friedhof des Klosters. 1461 wurde daher ein Vergleich ge‑ schlossen, der die Antoniter verpflichtete, die in Wittenberg eingenommenen Opfergaben mit dem Allerheiligenstift zu teilen. 22 Die Auseinandersetzungen waren damit jedoch nicht beendet, denn schon im Jahr 1463 musste ein weite‑ rer Vergleich geschlossen werden, der das geistliche Handeln der Antoniter in der Stadt auf wenige Tage im Jahr beschränkte und ihnen ansonsten insbeson‑ dere das Lesen von Messen und Horen, das Begräbnis von Nicht‑Klosterange‑ hörigen auf ihrem Friedhof und das Reichen der Sakramente untersagte. 23 Das Recht, zweimal im Jahr in Wittenberg die Messe zu feiern und dafür in der Stadt zu betteln, wurde den Antonitern durch ein kurfürstliches Privileg bestätigt, doch auch dieser Schutz des Stadtherren konnte weitere Störungen und Aus‑ einandersetzungen mit der Stadt nicht verhindern. 24 Insgesamt ist damit also eine gewisse Konkurrenzsituation der Orden zur Pfarrkirche und der damals noch sehr kleinen Allerheiligenkapelle – der späteren Schlosskirche – festzustel‑ len, was schon im 15. Jahrhundert zu Störungen der Klöster durch die Stadtbe‑ völkerung führte, wie die Bitten um Schutz an den Bischof vermuten lassen. Es 18
Vgl. ebd., S. 378. ebd. 20 Die umfangreichste Darstellung der Geschichte der Antoniter in Wittenberg bietet Herbert Vossberg: Luther rät Reißenbusch zur Heirat. Aufstieg und Untergang der Anto‑ niter in Deutschland. Ein reformationsgeschichtlicher Beitrag, Berlin 1968; einige Hinweise finden sich ebenfalls bei Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 87 und Junghans: Luther und Wittenberg, S. 37 f. 21 Vgl. Junghans: Luther und Wittenberg, S. 37; zum Haus selbst vgl. Stefan Timpe: Zur ehemaligen Antoniterkapelle in Wittenberg, in: Antoniter‑Forum 6 (1998), S. 39–48. 22 T hHStA Weimar (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar), EGA (Ernestinisches Gesamtarchiv), Urkunde 5100. Vgl. auch Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 87 und Voss berg: Luther rät Reißenbusch, S. 57. 23 Vgl. T hHStA Weimar, EGA, Urkunde 5102. 24 Vgl. Vossb erg: Luther rät Reißenbusch, S. 57. 19 Vgl.
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handelte sich also offensichtlich um die üblichen städtischen Konflikte, welche besonders mit Bettelorden, und solche waren alle drei Wittenberger Orden, im Spätmittelalter an vielen Orten festzustellen waren. 25 1.1.3. Der Rat der Stadt Wittenberg Wie in vielen anderen Städten hatte auch in Wittenberg der Rat im 14. Jahr‑ hundert Anstrengungen unternommen, sich vom Einfluss der sächsischen Kur‑ fürsten als Stadtherren zu lösen, wenn auch in einem vergleichsweise geringen Maße. Hatte in Wittenberg noch bis 1441 der Kurfürst durch seinen Vogt und Schöffen Recht sprechen lassen, so erwarb in diesem Jahr die Stadt die Gerichts‑ barkeit einschließlich der hohen Gerichtsbarkeit für 1000 rheinische Gulden auf Wiederkauf. 26 Die Gerichtsbarkeit wurde durch den Rat ausgeübt, der jährlich aus seiner Mitte einen Richter bestimmte, welcher die Gerichtsverfahren leitete. Das Urteil sprach die Ratsversammlung. 27 Das Streben des Rates nach mehr städtischer Selbstbestimmung verlief, soweit bekannt, weitgehend konfliktfrei, da die damals herrschenden Askanierfürsten unter akutem Geldmangel litten und den Handel mit der wirtschaftlich prosperierenden Stadt bereitwillig ein‑ gingen. Ohnehin hatten sie ihr Interesse an der Stadt schon damals verloren und nutzten die Wittenberger Burg nicht mehr als Residenz. 28 Der Rat der Stadt selbst bestand bis 1504 aus 18 Personen. In diesem Jahr gab sich die Stadt eine neue Ordnung, welche den Rat auf 24 Mitglieder vergrö‑ ßerte. 29 Dieser Gesamtrat teilte sich in drei Räte mit jeweils 8 Mitgliedern, de‑ nen jeweils ein Bürgermeister vorstand. Abwechselnd stellten diese Räte den „regierenden“ oder „sitzenden“ Rat, dessen Bürgermeister diesen Zeitraum der Hauptbürgermeister der Stadt war. In besonders wichtigen Fällen wurden alle drei Räte, der „Gesamtrat“, einberufen. Seit dem 15. Jahrhundert gewannen auch in Wittenberg die Zünfte an Ein‑ fluss. Erstmals genannt wurden sie als „vier Gewerke“ oder auch „Vierge‑ 25 Vgl. Christoph Ocker: „Rechte Armut“ und „Bettler Orden“. Eine neue Sicht der Armut und die Delegitimierung der Bettelmönche, in: Bernhard Jussen/Craig Kos‑ lofsky (Hgg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, Göttin‑ gen 1999, S. 129–157; Robert W. Scribner: Anticlericalism and the Cities, in: Peter A. Dykema/Heiko A. Oberman (Hgg.): Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden/New York/Köln 1993, S. 147–166. 26 Vgl. Edith Eschenhagen: Wittenberger Studien. Beiträge zur Sozial‑ und Wirt‑ schaftsgeschichte der Stadt Wittenberg in der Reformationszeit, in: Lutherjahrbuch 9 (1927), S. 9–118, hier S. 46. 27 Vgl. ebd., S. 46. 28 Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 75–164, hier S. 81 f. 29 Die folgenden Angaben über die Stadtverfassung stammen aus dieser Stadtordnung von 1504, die ediert vorliegt: Karl Eduard Förstemann (Hg.): Wittenberger Willkür und Statuten. Neue Mitteilungen aus dem Gebiete historisch‑antiquarischer Forschungen, Bd. VI (1842), S. 28–33.
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werke“ der Gewandschneider, Fleischer, Bäcker und Schuhmacher in der Willkür von 1250.30 Die Gewerke mussten den Ratsbeschlüssen zustimmen, konnten aber nicht selbst in den Rat gewählt werden. Im Jahr 1422 kam es des‑ halb zu einem Streit mit dem Wittenberger Rat, der erst 1424 durch den neuen Landesherrn Friedrich den Streitbaren geschlichtet wurde. Dieser bestätigte bei den Erbhuldigungen in Wittenberg 1424 die Statuten der Gewerke und verfügte, dass der Rat seine Mitglieder aus den Reihen der Gewerke ergänzen sollte.31 Die Zünfte hatten sich dabei auf alte Rechte berufen, denn die Ur‑ kunde des Kurfürsten bestätigt die Beteiligung der Zünfte am Rat, „wie es die alte Willkür verlangt“.32 Auf Wunsch des regierenden Rates konnten auch weitere Vertreter aus der Gemeinde hinzugezogen werden: Die gesamte Gemeinde, die aus allen Wit‑ tenberger Einwohnern bestand, die das Bürgerrecht besaßen, oder der kleinere Kreis der so genannten „Vierzigmannen“, die sich folgendermaßen rekrutierten: Wittenberg war in vier „Viertel“ aufgeteilt, denen jeweils ein Viertelsmeister vor‑ stand. Aus diesen Vierteln wurden jeweils zehn Personen gewählt, welche als Vierzigmannen die Gemeinde gegenüber dem Rat repräsentierten.33 Zwar war der Rat spätestens seit der Inkorporation der Pfarrkirche in das Stift um 1400 nicht mehr für die Besetzung der Pfarrstelle und der Stellen der beiden Kapläne an der Pfarrkirche verantwortlich,34 doch war er auch Anfang des 16. Jahrhun‑ derts noch in mehrfacher Hinsicht in die geistlichen Verhältnisse der Stadt Wit‑ tenberg einbezogen. Im Auftrag des Kurfürsten verwaltete er die zahlreichen Stiftungen des Kurfürsten am Allerheiligenstift, ebenso wie Stiftungen einzel‑ ner Wittenberger Bürger und der Bruderschaften an der Wittenberger Pfarr‑ kirche.35 Praktisch lief dieses so ab: Dem Rat wurde das gestiftete Vermögen überantwortet, der davon die Priester, welche die gestifteten Messen lasen, regel‑ mäßig bezahlte.36 Zugleich verfügte der Rat aber auch selbst über eine große An‑ zahl von Stiftungen, für die im Namen der Stadt Wittenberg oder einzelner Rats‑ herren an den zahlreichen Altären der Pfarrkirche Messen gehalten wurden.37 30 Zu den Wittenberger Zünften allgemein vgl. Max Senf: 500 Jahre Geschichte der Flei‑ scher‑Innung [der] Lutherstadt Wittenberg. Festgabe zur Feier am 10. Mai 1925, Wittenberg 1925; Ders.: 500 Jahre Geschichte der Schuhmacher‑Innung [der] Lutherstadt Wittenberg, Festgabe zur Feier am 22. Juni 1924, Wittenberg 1924. 31 Vgl. Senf: Fleischer‑Innung, S. 20–28. Senf gibt den Wortlaut der Urkunde Friedrichs des Streitbaren von 1424 wieder. 32 Vgl. Ebd., S. 28. 33 Vgl. Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 50. 34 Vgl. zur Inkorporation unten, S. 33. 35 Vgl. Junghans: Luther und Wittenberg, S. 34. 36 Vgl. z.B. T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 166 „Offener Brief Churfürst Friedrichs über die neue Anrichtung der geistlichen Stiftungen in der heiligen Stiftskirche auf dem Schlosse zu Wittenberg an den Rath der Stadt Wittenberg 1511“. 37 Vgl. Junghans: Luther und Wittenberg, S. 34. Die Pfarrkirche verfügte aufgrund der zahlreichen Stiftungen über mindestens 13 Nebenaltäre, vgl. ebd.
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1.1.4. Der Kurfürst als weltlicher Stadtherr Friedrich der Weise, der als spätmittelalterlicher Herrscher zunächst noch über viele Residenzen im ganzen Kurfürstentum verfügte,38 hatte 1492 mit dem Neu‑ bau des Schlosses begonnen, Wittenberg zu einer dauerhaften Residenz auszu‑ bauen. In den folgenden Jahren wurde Wittenberg neben Torgau, dem Sitz der kurfürstlichen Kanzlei, zu seinem bevorzugten Aufenthaltsort. Über den Neu‑ bau des Schlosses hinaus investierte er dabei besonders in zwei Projekte: Die 1502 gegründete Wittenberger Universität und das Wittenberger Allerheiligen‑ stift mit seiner bekannten Reliquiensammlung, dem „Wittenberger Heiltum“.39 Mit der Residenzgründung verbunden war auch das Interesse des Kurfürs‑ ten, seine Residenzstadt Wittenberg von fremden geistlichen Einflüssen mög‑ lichst frei zu halten. Aus denselben Gründen hatten schon die Askanierfürsten Anfang des 14. Jahrhunderts, als sie die Wittenberger Burg noch nutzten, begonnen, päpst‑ liche Exemptionsprivilegien zu erwerben, welche bestimmte Bereiche der Stadt direkt dem Papst unterstellten und somit dem Einfluss der brandenburgischen Bischöfe entzogen. Dies betraf zunächst die Wittenberger Schlosskirche, für die Herzog Rudolf von Sachsen schon 1346 unmittelbar nach dem Bau der Schloss kapelle40 und der Gründung des Kollegiatstiftes41 von Papst Clemens VI. ver‑ schiedene Privilegien zugesprochen bekam:42 Das Kollegiatstift wurde mit al‑ len zugehörigen Priestern und Klerikern und seinem gesamten Besitz unmittel‑ bar der päpstlichen Jurisdiktion unterstellt. Die Jurisdiktion über die Geistlichen des Stiftes wurde dem Propst als Vorsteher des Stiftskapitels verliehen.43 Aus‑ drücklich bestimmte der Papst in einer weiteren Urkunde gleichen Datums auch, dass die Verhängung des Interdiktes über diese Kirche oder die Einstellung des Gottesdienstes an eine besondere päpstliche Erlaubnis geknüpft sei, falls nicht die Mitglieder des Kapitels selbst den zuständigen Instanzen Anlass zu solchem
38 Vgl. Ingetraut Ludolphy: Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525, Göttingen 1984, ND Leipzig 2006, S. 121 nennt nach den Annalen Spalatins Eilenburg, Wit‑ tenberg, Lochau, Liebenwerda, Coburg, Grimma, Weimar, Colditz, Altenburg, Belzig und Herzberg als weitere Schlösser Friedrichs des Weisen. 39 Vgl. zu Schlosskirche und Heiltum Kap. I.2. und zur Universität Kap. I.3. 40 Diese war der Vorgängerbau der 1503 geweihten Schlosskirche „Allerheiligen“. 41 Der Bau der Schlosskapelle wird auf ca. 1340 datiert. Das Kollegiatstift selbst ist ab 1346 nachweisbar. Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 82. 42 Die Urkunden des Allerheiligenstiftes befinden sich, sofern noch vorhanden, heute im Universitätsarchiv Halle (fortan: UAH). Regesten der Urkunden sind abgedruckt in: Fried‑ rich Israel: Das Wittenberger Universitätsarchiv, seine Geschichte und seine Bestände. Nebst den Regesten der Urkunden des Allerheiligenstiftes und den Fundationsurkunden der Universität Wittenberg, Halle 1913, S. 24–95. 43 Urkunde vom 6. Mai 1346, im UAH nicht mehr vorhanden. Regest bei Israel: Uni‑ versitätsarchiv, Nr. 8.
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Vorgehen böten.44 Die für das Wittenberger Kirchenwesen immer bedeutsamer werdende Schlosskirche war damit vollständig dem Zugriff des brandenburgi‑ schen Bischofs entzogen. Mit dem wachsenden Einfluss des Stiftes in der Stadt Wittenberg vermin‑ derte sich der Einfluss des Bischofs immer mehr, denn aufgrund der genann‑ ten päpstlichen Privilegien war ihm auch der Zugriff auf das Stift und die mit ihm verbundenen Institutionen entzogen. Ein weiterer bedeutender Schritt war die Inkorporation der Wittenberger Pfarrkirche in das Stift, die möglicherweise schon 1376 durch Kurfürst Rudolf II. geschah45 und im Jahr 1400 durch eine Bulle von Papst Bonifatius abschließend bestätigt wurde.46 Die Inkorporation der Wittenberger Pfarrkirche zog noch weitere Privilegien nach sich, welche die Unabhängigkeit Wittenbergs vom Bischof von Brandenburg und den Einfluss des Landesherrn auch in kirchlichen Belangen vergrößerten. So wurden neben der Pfarrkirche auch einige umliegende Dorfkirchen dem Stift inkorporiert, von denen viele in weltlichen Dingen als „Ratsdörfer“ ohnehin bereits dem Rat der Stadt Wittenberg unterstanden.47 Auf diese Weise war es den sächsischen Kurfürsten zumindest auf norma‑ tiv‑rechtlicher Ebene gelungen, das kirchliche Leben in Wittenberg und den umliegenden Dörfern schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts in wichtigen Tei‑ len vom Einfluss des brandenburgischen Bischofs zu befreien und gleichzeitig durch das aufstrebende Allerheiligenstift ihren eigenen Einfluss zu vergrößern.
1.2. Die Strafe des lokalen Interdikts als Testfall geistlicher Macht Die Frage, wer in Wittenberg in geistlichen Dingen herrschte, war mit der Ver‑ leihung der päpstlichen Privilegien jedoch keineswegs abschließend entschie‑ den. Vielmehr standen die nun durch päpstliche Autorität unterstützten An‑ sprüche des Kurfürsten den traditionellen Rechten der brandenburgischen 44 Urkunde vom 6. Mai 1346, im UAH nicht mehr vorhanden. Regest bei Israel: Uni‑ versitätsarchiv, Nr. 9. Weiterhin räumte Clemens VI. dem sächsischen Kurfürsten hier weit‑ gehende Unabhängigkeit in der Personalpolitik des Stiftes ein: Dieser erhielt das Recht der Präsentation der Kanonikate und auch die Wahl des Propstes durch die Stiftsherrn bedurfte nicht der päpstlichen Bestätigung, sofern sie einstimmig war. 45 Dieses wurde am 3. März 1376 durch die Herzöge Wenzeslaus und Albert bestätigt. Die Urkunde von Wenzeslaus und Albert bezieht sich dabei auch auf eine bereits erfolgte päpst‑ liche Bestätigung, welche aber nicht näher bekannt ist, UAH, Urkunden II, Nr. 24. 46 Da Herzog Rudolf noch einmal ausdrücklich um diese Bulle gebeten hatte, wurde die rechtliche Lage bis dahin offensichtlich als unsicher empfunden. Urkunde vom 5. Dezember 1400, Regest bei Israel: Universitätsarchiv, Nr. 34. 47 So wurde mit der päpstlichen Bulle von 1400 gleichzeitig auch die Marienkapelle auf dem Apollensberg inkorporiert. Ebenso verzichtete die Diözese Leizkau so lange wie die Pfarrkirche dem Stift inkorporiert war auf das Kathedratikum, die beim Tod des Pfarrers der Pfarrkirche zu zahlende Abgabe, gegen einen Jahreszins; Urkunde vom 10. Juni 1402, im UAH nicht mehr vorhanden, Regest bei Israel: Universitätsarchiv, Nr. 37.
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Bischöfe gegenüber. Denn letztere wollten die Ausübung ihrer geistlichen Herr‑ schaftsrechte in Wittenberg ebenso wenig kampflos aufgeben wie ihre Forde‑ rungen kirchlicher Abgaben. Zur Durchsetzung beider Ansprüche bedienten sie sich häufig der im späten Mittelalter beliebten Kirchenstrafe des lokalen In‑ terdiktes.48 Die „publica excommunicatio“ hatte die Einstellung aller gottes‑ dienstlichen Handlungen, insbesondere auch des Spendens der Sakramente, in einer bestimmten Kirche, einem Ort oder einem ganzen Gebiet zur Folge. Ur‑ sprünglich als ein äußerstes Mittel kirchlicher Selbstverteidigung zu verstehen, wurde die etwa im 10. Jahrhundert aufgekommene Strafmaßnahme von den Bi‑ schöfen im spätmittelalterlichen Reich immer häufiger angewendet und miss‑ braucht. Auch in Kursachsen klagten Untertanen und lokale Obrigkeiten häu‑ fig bei ihren Landesherrn gegen die Härte des Interdiktes.49 Insgesamt ist die Praxis des Interdiktes jedoch bislang kaum erforscht.50 Die einzige Monogra‑ phie neueren Datums zu diesem Thema befasst sich mit dessen Grundlagen in der spätmittelalterlichen Theologie und behandelt die großen Interdiktsfälle des 13. Jahrhunderts.51 Die von Paul Kirn benannten Fälle aus Kursachsen lassen jedoch darauf schließen, dass das Interdikt die Bevölkerung durch das Aussetzen der Sakra‑ mente ebenso hart traf wie den Klerus, dessen Einnahmequelle und Daseinsbe‑ rechtigung in diesen Zeiten wegfiel.52 Das Vorgehen des brandenburgischen Bi‑ schofs in Wittenberg war also nicht außergewöhnlich und entsprach der Praxis der Bischöfe in angrenzenden Gebieten.53 Im Folgenden wird der Umgang mit dem Interdikt in Wittenberg als ein Test‑ fall betrachtet werden, der Aufschluss über die Frage, wer in Wittenberg in geist‑ lichen Dingen herrschte, geben soll. Anhand des Umgangs mit dieser Strafe wer‑ 48 Vgl.
auch zum Folgenden Georg May: Artikel „Interdikt“, in: Theologische Realen‑ zyklopädie, Bd. XVI, Berlin/New York 1987, S. 221–226. 49 Einige Beispiele aus Kursachsen in vorreformatorischer Zeit bringt Paul Kirn: Fried‑ rich der Weise und die Kirche. Seine Kirchenpolitik vor und nach Luthers Hervortreten im Jahre 1517. Dargestellt nach Akten im Thüringischen Staatsarchiv zu Weimar, Berlin 1926 (ND Hildesheim 1972), S. 61–63. 50 Für das Spätmittelalter sind zu nennen: Karl Anker: Bann und Interdikt im 14. und 15. Jahrhundert als Voraussetzung der Reformation, Tübingen 1919; Hans Dix: Das Inter‑ dikt im ostelbischen Deutschland, Marburg 1913. Zum Interdikt aus kirchenrechtlicher Sicht: Alban Haas: Das Interdikt nach geltendem Recht mit einem geschichtlichen Überblick, Bonn 1928. Weiterhin auch, allerdings unter der Frage nach der Durchsetzung landesherrli‑ cher Gerichtsbarkeit: Martin Kaufhold: Landesherrschaft auf dem Prüfstand. Geistliche Gerichtsrechte und kirchliche Strafgewalt im späten Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 127 (2007), S. 13–31. Speziell zu Kursachsen auch Kirn: Friedrich der Weise und die Kirche, S. 61–63. 51 Peter D. Clarke: The Interdict in the Thirteenth Century: A Question of Collective Guilt, Oxford/New York 2007. 52 Vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 63, mit Beispielen aus dem Kurfüstentum Sachsen. 53 Eine Aufstellung von Interdiktsfällen des späten Mittelalters findet sich im Anhang bei Dix: Interdikt, S. 94–121.
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den die schon skizzierten Konfliktlinien zwischen den oben genannten Akteu‑ ren in konkreten Auseinandersetzungen betrachtet. Als ein Testfall für diese Fragen erscheint das Interdikt aus folgenden Gründen besonders geeignet: Als eine Art Meta‑Ritual ermöglichte es dem Bischof, die Wirksamkeit der Sakra‑ mente und geistlichen Handlungen ein‑ und wieder auszusetzen und auf diese Weise alle kirchlichen Rituale in der Stadt gleichzeitig zu kontrollieren. Tau‑ fen, Hochzeiten, Begräbnisse, auch die Beichte und das Abendmahl konnten nur dann gültig und wirksam ausgeführt werden, wenn der Bischof kein Interdikt verhängt hatte. Auch sakrale Räume wie die Kirche oder der Kirchhof verloren ihre sakrale Funktion, wenn der Bischof sie als entweiht erklärte. Der Kirchhof partizipierte dabei an der besonderen Sakralität der Kirche, in der das Messop‑ fer gefeiert wurde.54 Die auf dem Kirchhof bestatteten Toten wurden auf diese Weise schon räumlich in die kirchliche Heilsvermittlung einbezogen, womit der Kirchhof zum Ort des Fegefeuers wurde.55 Entweiht werden konnten diese Räume, wenn auf ihnen sexuelle Handlungen vollzogen wurden, Blut vergossen oder getötet wurde. All dies machte eine neue Weihe erforderlich.56 Das Interdikt ermöglichte also gleichermaßen die Kontrolle über kirchliche Rituale und geistliche Räume. Da die Verhängung des Interdiktes selbst eben‑ falls rituell vollzogen wurde, kann es so als Meta‑Ritual bezeichnet werden.57 Zweck der kollektiven Bestrafung einer Kirche oder einer Stadt mit dem Inter‑ dikt war es, einzelne Schuldige durch den Entzug der kirchlichen Dienste und vor allem durch den Druck der insgesamt betroffenen Gemeinschaft schnell zum Gehorsam gegenüber der Kirche zurückzuführen. Entsprechend konnte das In‑ terdikt nur dann wirksam sein, wenn die Gemeinschaft die ausgesetzten sakra‑ mentalen Handlungen grundsätzlich wichtig nahm und auch den kirchlichen Hoheitsträger anerkannte, der es verhängte, also im Fall Wittenbergs den Bi‑ schof von Brandenburg.58 Sofern er es erfolgreich durchsetzen konnte und die 54 Vgl. zum Konzept des sakralen Raumes allgemein: Gerd Schwerhoff: Sakralitäts‑ managment. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Ders./Susanne Rau (Hgg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München/Hamburg 2008, S. 38–67; Andrew Spicer/Sarah Hamil‑ ton: Defining the Holy. The Delination of Sacred Space, in: Diess. (Hgg.): Defining the Holy: Sacred Space in Medieval and Early Modern Europe, Aldershoot 2005, S. 1–26. Zur Bedeutung des Messopfers für die Sakralität der Räume vgl. Wolfgang Simon: Die Mess opfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption, Tübingen 2003, S. 133. 55 Vgl. Muir: Ritual, S. 50. Zum Kirchhof als sakralem Ort jetzt auch Jan Brademann/ Werner Freitag (Hgg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne, Münster 2007. 56 Vgl. Simon: Messopfertheologie, S. 134. 57 Zum Vollzug des Interdiktes vgl. unten, S. 58. 58 Dix: Interdikt, S. 81–84 weist umgekehrt darauf hin, dass die Entwöhnung und die da‑ raus folgende Gleichgültigkeit auch eine Folge des Interdiktes sein konnten, wenn die Got‑ tesdienste über lange Zeit ausgesetzt wurden. Ebenfalls als einen Testfall bezeichnet Kauf‑
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bestimmte Aussetzung der Wirksamkeit der gottesdienstlichen Handlungen tat‑ sächlich respektiert wurde, war das Interdikt ein symbolischer Akt, mit dem geistliche Macht manifestiert und demonstriert werden konnte. Eine erfolgreiche Verhängung des Interdiktes zeigte also die Macht des Bischofs über die kirch lichen Rituale und damit zugleich über die Seelen in der Stadt. Im umgekehrten Fall wäre die Wirkung hingegen fatal, eine erfolglose Verhängung des Interdiktes ließe die Machtlosigkeit eines kirchlichen Amtsträgers, welcher mit der Macht über die kirchlichen Rituale letztlich auch jede Gewalt über die Seelen verloren hatte, überdeutlich zu Tage treten. Die Durchsetzbarkeit des Interdiktes kann damit als ein Indikator gelten, bis zu welchem Grade der Bischof tatsächlich über kirchliche Rituale herrschte und für das Seelenheil der Menschen zuständig ge‑ halten wurde. Wie also stand es um den Einfluss des brandenburgischen Bischofs als geistlichen Herren der Stadt Wittenberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts? 1.2.1. Das Interdikt in Wittenberg 1500–1512 Zeiten des Interdiktes waren in Wittenberg in den hier zunächst zu untersu‑ chenden ersten Jahren des 16. Jahrhunderts eher die Regel als die Ausnahme. Obwohl zu den Fällen dieses Zeitraumes keine Akten überliefert sind, lassen sich anhand von Hinweisen in den Wittenberger Kämmereirechnungen zumin‑ dest die wichtigsten Daten mit einigen Einzelheiten nachvollziehen.59 Da es bis auf die Rechnungsnotizen keine weiteren Quellen gibt, sind die im Folgenden dargestellten Fälle zwischen 1500 und 1510 auch in der Literatur nicht bekannt. Schon Ende des 15. Jahrhunderts hatten die brandenburgischen Bischöfe das Interdikt über einzelne Kirchen, über den Kirchhof der Pfarrkirche und auch über die ganze Stadt verhängt.60 Als Bischof Joachim von Bredow um 1502 wie‑ hold das Interdikt, allerdings nicht wie hier für die Reichweite des Einflusses des geistlichen Herrschers. Vielmehr sieht Kaufhold das Interdikt als Grund des Erfolges geistlicher Ge‑ richtsbarkeit und damit als Indikator für eine noch schwache Ordnungsgewalt der weltlichen Gerichte, vgl. Kaufhold: Landesherrschaft, S. 31. 59 Rechnungen als Quelle führen zur Frage nach der Währung, die etwa für die Einschät‑ zung der Höhe von Strafen oder Bußgeldern relevant ist. In Wittenberg galt eine Silberwäh‑ rung, die durch die gemeinsame Münzpolitik der beiden sächsischen Kurfürsten nach ge‑ meinsamem Münzfuß in Annaberg, Freiberg und Schneeberg geprägt wurde. Hauptsächlich in Gebrauch war in Wittenberg der Zinsgroschen, der 12 Pfennige wert war. 21 Groschen machten wiederum einen Rheinischen Gulden (fl.) aus. In dieser Währung waren auch die Ausgaben in den Wittenberger Kämmereirechnungen angegeben. So heißt es auf dem Ti‑ telblatt der Wittenberger Kämmereirechnung von 1503: „Die Summa Locorum und ander Summen in diesem Register sein noch silberinen Groschen, der 21 einen Gulden, und nauen Pfennigen, der 12 einen Groschen gelten, gerechnet“, StAW, KR 1503, Titelblatt, zitiert nach: Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 73. Die Beträge in den Rechnungen wurden haupt‑ sächlich in Groschen (abgekürzt als „gr.“) angegeben, größere Beträge in Groschen Schock („gr. ß“), wobei es sich um den in Sachsen gebräuchlichen neuen Schock handelte, der aus 60 Groschen gebildet wurde. Vgl. auch Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 73 f. 60 Auch für diese Zeit finden sich Hinweise in den Wittenberger Kämmereirechnungen.
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der einmal das Interdikt verhängte, setzte er damit also eine bereits im vorigen Jahrhundert übliche Praxis fort. In diesem Fall bezog sich das Interdikt offen‑ sichtlich nur auf den Kirchhof, welcher nach Meinung des Bischofs durch zwei Jungen entweiht worden war.61 Wie in solchen Fällen üblich sandte der Witten‑ berger Rat einen Boten zur bischöflichen Residenz in der ca. 60 Kilometer ent‑ fernten brandenburgischen Stadt Ziesar, um ein Indult zu erlangen.62 Mit dem Begriff des Indultes, der kirchenrechtlich allgemein einen Gnadenerweis in ei‑ nem Einzelfall meint, bezeichneten die Wittenberger hier jeweils die Loslösung vom Interdikt durch eine erneute Weihe. Dies wird jeweils aus dem Zusam‑ menhang deutlich, wenn der Bischof, wie auch in diesem Jahr, der Bitte nach‑ kam: Die Bemühungen des Rates waren erfolgreich und, wie aus den gemeinen Schankausgaben in den Kämmereirechnungen hervorgeht, bewirteten die Wit‑ tenberger den Bischof noch im selben Jahr mit Wein, als er den Kirchhof erneut weihte.63 Das war möglicherweise auch dringend notwendig, da wenig später Kardinal Raymundo Peraudi die Stadt besuchte, der in der Gegend als Ablas‑ sprediger tätig war.64 Der Frieden währte jedoch nicht lange und noch im gleichen Jahr schickte man wiederum „eynen boten gen Brandenburgk, nach eynem Indult zulouf fenn, als der kirchhof entweyhet seyn solt“.65 In diesem konkreten Fall wurde es vom Bischof zunächst nicht gewährt.66 Im weiteren Verlauf wird deutlich, was der Rat genau erbeten hatte, denn nach weiteren Bitten von Seiten des Ra‑ tes Anfang April 1503 wurde der Kirchhof erneut geweiht.67 Wie aus einem Ein einzelner Fall aus dem 15. Jahrhundert ist auch darüber hinaus gut dokumentiert, näm‑ lich die Verhängung des Interdiktes 1486 durch den damaligen Bischof Joachim von Bredow über „Rat und Gemeinde“ der Stadt Wittenberg. Damals hatte der Pfarrer der Wittenberger Pfarrkirche Clemens Goldhayns dem Allerheiligenstift über zwei Jahre die Abgaben verwei‑ gert. Vgl. dazu: Nikolaus Müller (Hg.): Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt. Briefe, Akten und dgl. u. Personalien, Leipzig ²1911, S. 314; die archivalischen Quellen dazu in T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. Kk 1326. 61 Stadtarchiv Wittenberg, Kämmereirechnungen (fortan zitiert als: StAW, KR) 1502, Bl. 229r „Item 3gr.eynem botten gen Seyzar, als der kirchhofe durch die zween jungen sollt ent weyet seyn“. 62 StAW, KR 1502, Bl. 228r: 8 gr. Botenlohn „gen Seyzar nach dem Indult zuschicken“. Ebd. 229r: „Item 10 fur brieffgelt In gdachter sachen des kirchhofs halben“. 63 StAW, KR 1502, Bl. 349r „Item 2 stobchen geschanckt dem weyBischoff als er den kirch hoff zum heyligen kreutz wider weyhet“. Der „Kirchhof zum heiligen Kreuz“ war nicht der Kirchhof der Pfarrkirche in der Stadt, sondern gehörte zur Kapelle zum Heiligen Kreuz vor dem Elstertor, vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 162 f. 64 StAW, KR 1502, Bl. 359v, 361v. Vgl. dazu auch Kap. I.2. 65 StAW, KR 1502, Bl. 525r. 66 StAW, KR 1502, Bl. 525v. „Item 10 gr. 4 d. eynem bothenn gen Brandenb. eyn indult des kirchhoffs halbenn zuerwerben unnd nichts erlangt“. 67 StAW, KR 1503, Bl. 280v.: „Item 4 gr. eynem Boten Brieffe zue dem Bischoff, des indults halbenn gen Brandenburg zue tragen sabato post Juidicia“; „Item 5 gr. 3 d. einem Boten gen
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undatierten Schriftstück aus dem Hauptstaatsarchiv Weimar hervorgeht, wel‑ ches diesem Zusammenhang zugeordnet werden kann,68 war an dieser Eini‑ gung auch der Kurfürst beteiligt.69 Dieser ergriff eine vermittelnde Rolle, in‑ dem er den Bischof um ein Indult bat und im Gegenzug zusicherte, dass der Tä‑ ter „sich zu abtrag erbotth“ und zu diesem Zweck in Kürze auch beim Bischof vorsprechen werde.70 Wie ebenfalls aus diesem Schreiben des Kurfürsten her‑ vorgeht, hatte der Bischof vorher schon ein zeitlich befristetes Indult für den Kirchhof gewährt, für dessen Verlängerung der Kurfürst sich hier einsetzte. Es ist also davon auszugehen, dass der Einigungsprozess auch in den übrigen Fäl‑ len komplizierter war als die kurzen Angaben in den Kämmereirechnungen er‑ kennen lassen. Es folgten einige Jahre der Ruhe, jedenfalls gibt es in den Quellen hier keine Hinweise auf weitere Eingriffe des Bischofs in Wittenberg. Abgesehen von ge‑ legentlichen Aktivitäten, welche den Bann eines einzelnen Wittenberger Bür‑ gers namens Heinrich Loser betreffen, musste der Rat sich, den Kämmereirech‑ nungen nach zu urteilen, in dieser Zeit nicht mit Bannbeschwerungen des Bi‑ schofs auseinandersetzen. 1507 verstarb Bischof Joachim von Bredow. Die Beziehungen der Stadt mit seinem Nachfolger Hieronymus Schulz begannen zunächst friedlich.71 Der Bi‑ schof besuchte Wittenberg Anfang März 1508 und manifestierte damit seinen Anspruch, selbst in dieser geographisch und politisch abgelegenen Gegend sei‑ nes Sprengels seine geistliche Macht auch tatsächlich auszuüben. Der Rat der Stadt wiederum zeigte seine Akzeptanz dieses Anspruches, indem er den Bi‑ schof auf Kosten der Stadt mit einem für Wittenberger Verhältnisse recht kost‑ spieligen Mahl aus Fisch und Wein bewirtete.72 Brandenburg eins Indults so invor geben furter erstreckung sabato post Invocavit“. StAW, KR 1503, Bl. 333v.: „Item 20 gr. […] für das Indult, dorumb das der kirchoff weihet“. 68 Da hier von einem Interdikt die Rede ist, welches nur den Kirchhof betrifft, erscheint eine Zuordnung zu diesem Fall zumindest wahrscheinlich. In den folgenden Fällen wurde das Interdikt jeweils über den Rat oder die ganze Stadt verhängt. 69 THStA Weimar, EGA, Reg. B 1105. Das Schriftstück trägt den Kanzleivermerk „Zetl an den bischoff von brandenburg des entweyhten kirchhofs halben zu wittenberg“. Wie aus der Anrede „Mein besundr lieben frewnt e.l.“ zu ersehen ist, handelt es sich um den Entwurf eines von Friedrich dem Weisen an den Bischof gerichteten Schreibens. 70 Ebd. 71 Die Wahl des Domherrn Hieronymus Schulz wurde am 6. Oktober 1507 von Papst Ju‑ lius II. bestätigt, die Urkunde ist gedruckt bei Adolph Friedrich Riedel: Codex Diplo‑ maticus Brandenburgensis, Sammlungen der Urkunden, Chroniken und sonstigen Schrift‑ quellen für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten, Berlin 1838–1869, A VII, Nr. 511. Ebenfalls verwendet wird die lateinische Namensform „Sculterus“ oder „Scul‑ teri“; zu Hieronymus Schulz als Bischof von Brandenburg vgl. allgemein Wentz: Hochstift Brandenburg, hier S. 51–54. 72 StAW, KR 1508, Bl. 120r „16 gr. vor etlich fische dem nawhen Bischoff von Brandenburg unserm gnedigen herrn in geistlichen vorereth Freitag nach reminiscere“ und weiter unten:
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Schon kurz darauf kam es jedoch zum ersten Zwischenfall: Einige Studen‑ ten hatten am 26. März den Diener des Bischofs misshandelt.73 Der Rat ging von sich aus gegen diese vor und ließ sie verfolgen, bis sie schließlich an der Elster74 festgenommen wurden. Dennoch verhängte der Bischof kurz darauf das Inter‑ dikt, und zwar diesmal nicht nur über den Kirchhof, sondern die ganze Stadt.75 Wiederum wandte sich der Rat an den Bischof76 und noch am selben Tag, dem 8. April 1508, gewährte der Bischof, nachdem er vom Rat sechs Gulden erhalten hatte, die Relaxation des Interdiktes.77 Die Relaxation hob das Interdikt nicht auf, sondern erleichterte nur seine Folgen für die Bevölkerung, was praktisch meist bedeutete, dass die Sakramente wieder gespendet werden durften. Wittenberg war also im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts mindestens drei Mal vom Interdikt betroffen, wodurch der Rat häufig in Verhandlungen mit dem Bischof stand. Dieser taktierte mit der Aufhebung des Interdiktes, ge‑ währte Indulte nur zögernd, meist erst nach mehreren Anläufen des Rates oder gewährte wie 1508 nur eine Relaxation, ohne das Interdikt ganz aufzuheben. Auf diese Weise zeigte der Bischof zumindest für die städtische Obrigkeit eine starke Präsenz als geistlicher Herr der Stadt – hier bestand keine Gefahr, dass sein Herrschaftsanspruch in Vergessenheit geraten könnte. Inwieweit traf das Vorgehen des Bischofs jedoch die Wittenberger insge‑ samt? Es ist unklar, ob das Interdikt in den genannten Fällen tatsächlich einge‑ halten und so von der Bevölkerung überhaupt wahrgenommen wurde. Einige Hinweise sprechen dagegen: Wurde das Interdikt ernsthaft beachtet, so hatte seine Verhängung neben der seelsorgerischen Belastung durch den Entzug von Gottesdiensten und Sakramenten auch Auswirkungen auf die politische Hand‑ „14 gr. vor 3 stobchen weyn unserm gnedigen herrn von Brandenburg in geistlichen ye das Stobchen vor 4 gr. und 8 d. bezahlt“ 73 StAW, KR 1508, Bl. 101r „6 gr. vorzerth so etlich studenten zu der Elster gefangen wor den die gefrevelt hatten an des Bischoffs von Brandenburg dyner Sonnabnt nach Oculi. Er‑ wähnt wird dieser Fall auch in einem Brief von Christoph Scheurl an Johann von Staupitz (ohne Datum), vgl. Christoph Scheuerl: Briefbuch, hg. v. Franz Freiherr von Soden/ Joachim K.F. Knaake, Potsdam 1867, S. 51. Im Gegensatz zu den vorigen Fällen erwähnt diesen auch Kirn: Friedrich der Weise, S. 9, welcher ebenfalls auf die Kämmereirechnungen und auf Scheuerl verweist. 74 Die Schwarze Elster, mündet etwa 15 km südöstlich von Wittenberg in die Elbe. 75 StAW, KR 1508, Bl. 103v „[…] des interdicts halben, vom Bischoffen von Brandenburg gemeiner Stadt uffgelegt“. 76 Am 8. April (Sonnabend nach Letare) wurde ein Bote nach Ziesar geschickt. Gleich‑ zeitig scheint ein älteres Interdikt über den Kirchhof noch weiter bestanden zu haben, dessen Rekonziliation regelmäßig verlängert wurde, denn aus diesem Grund wurde am selben Tag noch ein weiterer Bote nach Ziesar geschickt: STAW, KR 1508, Bl. 103v „4 gr. eynem bothen keyn siesar zum Bischoffe von Brandenburg uff das seyn gnaaden die Reconciliation des kirch hoffs der pfarren kirchen zu wittenberg uff das mal nicht abschaffen gebethen gesandt. Eo die.“ 77 STAW, KR 1508, Bl. 139r „6 gr. vor die relacation von wegen des interdict […] sonn abend nach letare“. Das Interdikt wurde demnach in diesem Fall nicht vollständig aufgeho‑ ben, sondern nur erleichtert (relaxiert).
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lungsfähigkeit in dem betroffenen Gebiet.78 Da auch die politischen Amtsträ‑ ger, in den Städten insbesondere die Räte, von den Sakramenten ausgeschlossen waren, war die Legitimität der von ihnen gefällten Entscheidungen und voll‑ zogenen Rituale ebenfalls in Frage gestellt. In Wittenberg ließen sich jedoch weder der Rat noch die Universität von den genannten Interdiktsfällen beein‑ trächtigen. Weiterhin fanden regelmäßig Ratswahlen statt, welche auch wie ge‑ wohnt vom Kurfürsten bestätigt wurden.79 Sogar unmittelbar in der mit dem Interdikt belegten Pfarrkirche ließ die Universität die Verleihung der akademi‑ schen Magister‑ und Doktorgrade stattfinden.80 Eine solche Nutzung der ge‑ weihten Räume der Kirche und des Kirchhofes für politische oder wie in die‑ sem Fall akademische Rituale war im späten Mittelalter verbreitet. Die For‑ schung hat in diesem Zusammenhang auf die rechtslegitimatorische Bedeutung des sakralen Raumes für die Wirksamkeit vieler rechtlicher, sozialer und poli‑ tischer Rituale hingewiesen.81 Umgekehrt müsste man demnach bei einem ent‑ weihten Kirchenraum von einer geradezu verheerenden Wirkung für die dort ausgeführten Rituale ausgehen. Solche Befürchtungen lagen jedoch den Wittenbergern fern, die den entweih‑ ten Zustand ihrer Kirche, ihres Kirchhofs und ihrer ganzen Stadt demnach ent‑ weder nicht anerkannten oder, was diesem im Ergebnis gleichkommt, einfach nicht beachteten. Selbst eher religiöse Handlungen, wie die jährlich auf Kosten des Rates veranstalteten Passionsspiele82 und die mit der Verkündigung eines Ablasses verbundene Schau des Wittenberger Heiltums, wurden niemals we‑ gen des Interdiktes ausgesetzt oder verschoben.83 Damit war auch für die vie‑ len auswärtigen Besucher, die jährlich zu diesen Ereignissen in die Stadt kamen, die andauernde Funktionsfähigkeit des kirchlichen Lebens in Wittenberg sicht‑ bar. Die Versuche des Bischofs, mit dem Interdikt geistliche Definitionsmacht auszuüben und so über heilige Räume in der Stadt oder die Geltung kirchlicher 78 Vgl. Jan Brademann: Leben bei den Toten. Perspektiven einer Geschichte des ländli‑ chen Kirchhofs, in: Ders./Werner Freitag (Hgg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft der Vormoderne, Münster 2007, S. 9–49, hier S. 23. 79 Vgl. Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 43. 80 STAW, KR 1502, Bl. 245r „Item 9 gr. pechheintzen von den bencen und vom gestule In der pfarkirchen zuzurichten und auff zuschlaen, als man Baccl. Theol. und Licentiaten medi cine promoviret“. 81 So wurde der Kirchhof etwa als Beurkundungsort und Ort der Gerichtsbarkeit ge‑ nutzt, ebenso fanden hier Belehnungsrituale und Erbhuldigungen statt, vgl. dazu allgemein Brademann: Leben bei den Toten, S. 23. 82 Die Passionsspiele fanden in Wittenberg jedoch nicht in der Kirche, sondern auf dem Markt statt, vgl. z.B.: StAW, KR 1502, Bl. 246v‑246r „Ausgab auf die Passio und andere Spiele: Item 13 gr. 4 pfg. 2 Taglohnern vom Markte zu kehren und das Kehricht wegzubrengen. Item 20 gr. zu Hilfe gegeben zu Judas Kleidern. Item 4 gr. von den Palasten widder abzubrechen und abzunehmen.“ 83 Wie oben ausgeführt war das Allerheiligenstift durch päpstliche Privilegien ausdrück‑ lich vor der Verhängung des Interdiktes geschützt, ausgenommen durch den Papst selbst.
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Rituale zu verfügen, erscheinen aus dieser Perspektive in der Praxis kaum er‑ folgreich. Dennoch wurde das Interdikt keineswegs ignoriert, wie die vielfachen An‑ strengungen des Rates zeigen, immer wieder neue Indulte zu erlangen und die als entweiht erklärten Orte erneut weihen zu lassen. Dafür wurden auch Kos‑ ten in Kauf genommen, welche etwa für Botenlöhne oder als Zahlungen an den Bischof für die neue Weihe anfielen.84 Das Bestreben des Bischofs, seinen geist‑ lichen Einfluss in der Stadt mit befristeten Indulten und immer wieder neuen Interdikten geltend zu machen, war also zumindest teilweise erfolgreich. Noch war der Fall Wittenberg nicht zu seinen Ungunsten entschieden. 1.2.2. Der Fall Glorius Schwan im Jahr 1512 In den folgenden Jahren entwickelten sich die Dinge jedoch weiter zum Nach‑ teil des Bischofs. Als dieser nämlich im Jahr 1512 erneut das Interdikt ver‑ hängte, eskalierte die Situation. Diesmal dauerte es nicht wie bisher nur wenige Wochen, sondern fast fünf Jahre, bis eine Einigung gefunden werden konnte und der Bischof im Jahr 1516 schließlich ein Indult gewährte. Die andauernden Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof und den Wittenbergern, an de‑ nen sich neben dem Rat auch der Kurfürst, die Priesterschaft und die Universi‑ tät beteiligten, sind im Gegensatz zu den bereits genannten Fällen umfangreich und detailliert überliefert.85 Sie beleuchten den Aushandlungsprozess geist 84 Da sich die Kosten für die neue Weihe aber jeweils im Groschenbereich bewegten und kaum höher als die Botenlöhne waren, stellten diese vermutlich weder eine große Belastung für den Rat, noch einen großen finanziellen Gewinn für den Bischof dar. 85 Erhalten ist vor allem die kurfürstliche Überlieferung im Hauptstaatsarchiv Branden‑ burg. Die wichtigsten Bestände dazu: Reg. B: Sachsens Verhältnisse zu Auswärtigen, Aus‑ ländische Bischöfe, Brandenburg: Nr. 1105: „Schriften betr. die Entweihung des Kirchhofes zu Wittenberg und zu dem Bischof zu Brandenburg gesuchte Indult zur Abhaltung bevorste hender Solemnitäten (15..) [sic]“; Nr. 1106: „Schriften betr. die Irrungen der Städte Witten berg, Belzig, Brück, Niemeck, Jessen mit dem Bischof von Brandenburg in geistlichen Ange legenheiten und die darauf erfolgte Belegung mit dem Bann (Interdikt) (1512–1523)“; Reg. Hh: Städte und Bürger, Wittenberg (1517–1545): Nr. 1647 „Schriften betr. die Beschwerde des Raths zu Wittenberg gegen den Bischof Hieronymus von Brandenburg wegen Belegung mit dem Interdict in Folge der Gefangennehmung des eines Todschlags schuldigen Glorius Swan (1512)“; Reg. Kk Klöster, Nr. 1330 „Bericht des Wilhelm von Betschitz an den Churfürsten Friedrich in den Irrungen zwischen dem Churfürsten am einen unnd bürgermeister Rath und Cleresei zu Wittenberg am andern Theile wegen eines gefangenen Clerikers und dessen Lö sung“; Reg. Kk Klöster, Nr. 1367 „Schriften betr. die Beschwerde des Schossers und der Pries terschaft wegen Reichung der Prokurationes, Verweigerung und erfolgten Bannes, Ingleichen das Aufgebot des Markgrafen Joachim von Brandenburg betreffend 1513–14.“ Die Originale der bischöflichen Überlieferung sind im Domstiftsarchiv Brandenburg nicht mehr vorhanden. Überliefert sind jedoch Regesten dieser Quellen in einer Handschrift aus dem 17. Jahrhundert: Alphonse de Vignoles: Index diplomatum Brandenburgensium iuxta chronologiam, 1710, heute in der Universitätsbibliothek Breslau, Signatur Akc. 1949/556, Steinwehr I Q 6 (=Nachlass von Wolf Balthasar Adolf von Steinwehr); einige Originale sind
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licher Definitionsmacht zwischen den beteiligten Akteuren in vielen Einzel‑ heiten. Der Streit begann am 11. Mai 1512, als der Bischof von Brandenburg den Klerus seines Sprengels, darunter auch die Wittenberger Geistlichen, zu einer Synode am 22. Juni einberief.86 Die Wittenberger blieben der Synode fern und weigerten sich anschließend auch, die dort bewilligten Abgaben zu zahlen.87 Am Tag der Synode stellte der Bischof das Fehlen der Wittenberger fest und er‑ klärte sie für entweiht, weil sie seinem Befehl nicht gehorcht hatten. Außerdem verlangte er von ihnen die Zahlung des Tripulum, also der dreifachen Summe der üblichen Abgaben und drohte ihnen, sie bei Weigerung aus dem Schutz der brandenburgischen Kirche zu entlassen.88 Als die Wittenberger Geistlichen wiederum nicht gehorchten, erklärte Hieronymus Schulz sie am 29. Oktober 1512 für exkommuniziert.89 Kurze Zeit später wurde aufgrund eines weiteren Ereignisses die ganze Stadt in den Konflikt mit einbezogen. Der Rat hatte einen gewissen Glorius Schwan90 gefangen genommen, welcher einen Totschlag verübt haben sollte. Der Bischof auch abgedruckt im Quellenanhang der Bistumsgeschichte von Philipp Wilhelm Gercken: Ausführliche Stifts‑Historie von Brandenburg, Braunschweig/Wolfenbüttel 1766 und bei Adolph Friedrich Riedel: Codex Diplomaticus Brandenburgensis. Gercken, der sonst seine Quellen sorgfältig angibt, nennt bei diesen Dokumenten nur „ex cod. Mscpto saec.“ Es handelt sich dabei wahrscheinlich um das sogenannte „Manuscriptum Wittenbergense“, auf welches auch Vignoles in seinen Regesten verweist. Regesten der päpstlichen Überlieferung aus dem vatikanischen Archiv sind wiedergegeben bei: Gottfried Wentz: Regesten aus dem Vaticanischen Archiv zur Kirchengeschichte der Mark Brandenburg und angrenzender Gebiete im Bereich der Diözesen Brandenburg und Havelberg, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 27 (1932), S. 3–23. In der Literatur wird dieser Fall im Gegensatz zu den vorhergehenden mehrfach genannt, am aus‑ führlichsten bei Kirn: Friedrich der Weise, S. 58–59; daneben auch: Gercken: Stifts‑Historie, S. 259–264, Riedel: Codex Diplomaticus Brandenburgensis, S. 85–87. 86 Regest bei Vignoles: Index, S. 149. Vignoles als Gelehrter des 18. Jahrhunderts ver‑ fasste die Regesten zu den deutschen Quellen in französischer, die lateinischen in lateinischer Sprache. Da die Seitenzahlen des Manuskriptes kaum noch lesbar sind, werden sie hier nach der Paginierung der Mikrofilmaufnahme der Universitätsbibliothek Breslau zitiert (vgl. oben, Fn. 85). 87 22. Juni 1512 Instrument über die dem Bischofe Hieronymus auf einer Synode zu Ziesar bewilligten Abgaben und das Ausbleiben des Wittenberger, ediert in: Riedel: Codex Diplo‑ maticus Brandenburgensis, S. 496–471 und Gercken: Stifts‑Historie, S. 676–680. 88 Regest bei Vignoles: Index, Bl. 144v. 89 Regest bei Vignoles: Index, Bl. 144v. Mandat des Bischofs ediert bei Gercken: Stifts‑Historie, S. 680–683: „Hieronimus Episcopus Brandenburgensis mandat consulibus Wittenbergensibus ut incarceratum Clerium sub poena excommunikatione custodia liberent.“ 90 Gregorius Swan de Grobitz (heutiges Gröbitz in Anhalt), Magdeburgensis diocesis im‑ matrikulierte sich im Sommersemester 1511 in Wittenberg, vgl. Karl Eduard Förstemann (Hg.): Album academiae Vitenbergensis, Bd. I, Leipzig 1841, S. 37. Dieser Hinweis findet sich bei Wentz: Regesten, S. 8. In den Quellen findet sich der Name zumeist in der Schreibweise „Glorius Schwan“, welche im Folgenden einheitlich benutzt wird. Seltener wird er auch als „Glorius Schlucker“ bezeichnet.
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sah darin eine Missachtung des privilegium fori, da Schwan ein Geistlicher sei, und drohte am 21. November mit dem Interdikt für alle Wittenberger Kirchen, sofern Schwan nicht binnen zwanzig Stunden freigelassen würde.91 Als die Wit‑ tenberger dieser Forderung nicht nachkamen, verhängte der Bischof kurz da‑ rauf das angekündigte Interdikt über den Rat.92 Die nun folgenden Entwicklungen zeigen deutlich, wie komplex und ver‑ wickelt die kirchlichen Strukturen in Wittenberg durch die Vielzahl der betei‑ ligten Akteure innerhalb und außerhalb der Stadt waren. So wendete sich der Rat zunächst an den weltlichen Herrn der Stadt, den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen. Dieser wiederum schrieb erst selbst an den brandenbur‑ gischen Bischof, um die Aufhebung des Interdiktes zu erreichen.93 Dabei blieb er in der Sache unbestimmt, verteidigte die Wittenberger aber mit deren Unwis‑ senheit über den geistlichen Stand des Verhafteten. Dem Rat, so schrieb er un‑ mittelbar nach der Verhängung des Interdiktes an den Bischof, hätten weder die „formata litterae“ Schwans vorgelegen noch hätte dieser eine „kronen“ (Tonsur) gehabt.94 Andernfalls hätte man ihn selbstverständlich ausgeliefert, wozu der Rat auch grundsätzlich immer noch bereit sei. Man wollte jedoch zu bedenken geben, Schwan wegen Fluchtgefahr besser zu belassen, wo er war.95 In der hier durch den Kurfürsten zitierten Argumentation des Rates wurden damit erst‑ mals zwei Kennzeichen eines Geistlichen genannt, welche in der Diskussion der folgenden Zeit von Bedeutung waren: Die „formata litterae“ und die Tonsur. Beide verwiesen auf die Weihe des Priesters als entscheidendes Abgrenzungs‑ merkmal gegenüber den Laien, welche die Sonderstellung des Priesters in kul‑ tischer, aber auch in sozialer Hinsicht begründete und gegen konkurrierende Kriterien religiöser Hierarchiebildung wie Frömmigkeit oder theologische Bil‑ dung abgrenzte.96 Die „formata litterae“ waren Empfehlungsschreiben eines Bischofs für aus‑ reisende Geistliche, in welchen bestätigt wurde, dass der Betreffende die Diö‑ zese mit Erlaubnis seines Oberen verlassen hatte. Da Schwan aus Grobitz in der Diözese Magdeburg stammte, hatte er dieses Schreiben vermutlich für seine Einschreibung an der Universität Wittenberg in der Diözese Brandenburg benö‑ 91 Die Gefangennahme von Schwan selbst ist nicht genauer zu datieren, das Schreiben des Bischofs ist ediert bei Gercken: Stifts‑Historie, S. 680–682. 92 Vgl. den ersten Teil des Regest bei Vignoles: Index, Bl. 144v: 7. Dezember 1512 „Hie ronymus […] declarat quomodo ob incarcerationem Glorii Schwan, Sententiam Excommuni cationis dixerat contra Senatum Wittenberg.“ 93 Vgl. Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 28. November 1512, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Hh 1647, Bl. 1r. 94 Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 28. November 1512, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Hh 1647, Bl. 1r. 95 Ebd. 96 Vgl. zu solchen konkurrierenden Formen im Spätmittelalter Simon: Messopfertheo‑ logie, S. 145.
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tigt. Ebenso wie dieses Schriftstück war die Tonsur ein Kennzeichen der Weihe, welches die Stellung des Priesters auch nach außen und für jedermann sicht‑ bar signalisierte.97 Nachdem die persönlichen Interventionsversuche des Kur‑ fürsten erfolglos geblieben waren, übergab Friedrich der Weise die Sache sei‑ nem Bruder, Erzbischof Ernst von Magdeburg und Metropolitan des Bischofs von Brandenburg, der wenig später das Interdikt über Wittenberg aufhob.98 Es schien zunächst, als sei die Sache damit gelöst, doch unglücklicherweise hatte sich die Situation in der Zwischenzeit verändert: Glorius Schwan war aus dem Gefängnis ausgebrochen und in das Kloster der Wittenberger Franziskaner ge‑ flohen, wo er sich sicher fühlte, denn als geistlicher Ort unterstand das Klos‑ ter nicht dem Einfluss des Rates. Dennoch ließ der Rat durch den Schosser und einige Helfer Schwan gewaltsam aus dem Kloster herausholen und zurück ins Gefängnis bringen.99 Diese Verletzung kirchlicher Privilegien bestrafte der Bi‑ schof unmittelbar und belegte am 7. Dezember 1512 nicht nur die Stadt Wit‑ tenberg, sondern den gesamten Archidiakonatsbezirk Leizkau mit dem Interdikt.100 Erst danach, am 17. Dezember, antwortete er dem Kurfürsten und rechtfer‑ tigte sich für beide Interdikte. Ebenso wie zuvor der Rat argumentiert auch 97 Zur begrifflichen Herleitung der Tonsur als geistliches Rang‑ und Herrschaftszeichen vgl. Simon: Messopfertheologie, S. 146. 98 2. Teil des Regests bei Vignoles: Index, Bl. 144v: 7. Dezember 1512 „[…] a quo Re laxationem concessit Ernestus Arp.us Magdeb.“ (vgl. oben, Anm. 92.) 99 Hierzu gibt es widersprüchliche Datenangaben: Nach späteren Angaben des Bischofs war Schwan ungefähr am Martinstag (11. November) geflohen und wurde am Andreastag (30. November) zurück ins Gefängnis gebracht (Regest bei Vignoles, 19. Februar 1513, Bl. 144v). Danach müsste aber Schwan schon im Kloster gewesen sein als der Bischof die Frist von 20 Stunden zu seiner Freilassung setzte. Es ist möglich, dass der Bischof über die Flucht noch nicht informiert war. Weiterhin verteidigt der Kurfürst schon am 28. November das Vorgehen der Wittenberger (T hHStA Weimar, EGA, Reg. Hh 1674, Bl. 1), was nicht sinnvoll erscheint, wenn der Geistliche sich bis zum 30. November noch im Kloster befunden hätte. Wahrscheinlicher ist also, dass die erst im Februar gemachten Angaben des Bischofs unge‑ nau sind. 100 Regest bei Vignoles: Index, Bl. 144v: 7. Dezember 1512 „[…] vi ex Monasterio eripu reun ipso in die Andrea omnes reos fortius excomunicar, ob interdictum servetur per totum dis trictum archidoaconatus Litzekensis.“ Der Wittenberger Schosser Anton Nimeck sprach spä‑ ter von der Verhängung des Interdikts über die Orte Zahna, Elster, Seyda und das ganze Amt Seyda und Zahna. Vgl. Anton Nimeck an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1367, Bl. 2r. Auch zum Archidiakonat Leizkau, dessen Oberhaupt der Propst Georg Maschkow vor‑ stand, pflegte die Stadt Wittenberg Beziehungen, wie Wein‑ und Bierausschankausgaben an den Propst und seine Offiziale in den Kämmereirechnungen der Stadt belegen. Vgl. zu dem Verhältnis Wittenbergs zu Leizkau auch Wentz: Bistum Brandenburg, S. 178. Leider gibt es jedoch keinen näheren Hinweis auf die Art der Beziehungen, der einen Vergleich des Verhält‑ nisses der Wittenberger zum Leizkauer Propst mit dem zum brandenburgischen Bischof er‑ möglichen würde. Bekannt wurde der Propst lediglich als Freund Luthers, denn Luther arbei‑ tete 1512 (oder 1515) eine Predigt für Maschkow aus, vgl. WA 1, S. 8–17.
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er in der Frage, ob Schwan ein Geistlicher sei, mit dessen „formata litterae“, welche dem Wittenberger Bürgermeister Thilo Dehne „furgetragen unnd be zeuget“ worden seien.101 Zwar ging der Bischof über das vom Rat vorgebrachte Argument der fehlenden Tonsur hinweg, doch gab es mit den „formata litterae“ offensichtlich ein von allen Parteien anerkanntes Kriterium für die Zugehörig‑ keit zum geistlichen Stand. In der Frage, ob diese Schriftstücke dem Rat vor‑ gelegen hätten, stand hier jedoch Aussage gegen Aussage. Ebenso waren nach Darstellung des Bischofs dessen Gesandte „mit wagen pferden knechten und an der notturft“ nach Wittenberg gekommen und hätten Schwan auf diese Weise problemlos in Gewahrsam nehmen können.102 Die vom Rat angegebene Flucht‑ gefahr habe also nicht bestanden. Auch hätte die Partei des Bischofs angeboten, einen Urfrieden zu schwören, wie es in einem vorherigen Fall schon gehandhabt worden sei, als der Wittenberger Schosser schon einmal einen Geistlichen ge‑ fangen genommen hatte.103 1.2.3. Die Politik der städtischen Akteure im Fall Schwan Für den Bischof war die wiederholte Verhängung des Interdiktes der Versuch, seine geistlichen Herrschaftsansprüche in Wittenberg gegen die ihm entgegen‑ gebrachten Widerstände durchzusetzen. In Frage gestellt worden waren seine Herrschaftsansprüche sowohl durch die Wittenberger Geistlichen, welche ihm die Subsidien verweigerten und der Synode fernblieben, wie auch durch die Weltlichen und deren Übergriffe auf geistliche Orte und Personen. Es ging also darum, den bischöflichen Einflussbereich in der Stadt zu behaupten. Ent‑ sprechend rechtfertigte sich der Bischof gegenüber dem Kurfürsten, er habe das Interdikt „furwar auß keynem mutwillen sunder auß notturftige erforderrung der rechte und zu handhabung geistlicher Immunitett“ über Wittenberg ver‑ hängt.104 Indem Schwan gewaltsam aus dem Kloster geholt worden war, hät‑ ten die Wittenberger „eine gewaldt mit der anderen gemehret“, also der Miss‑ achtung der Immunität einer geistlichen Person noch die Missachtung der Im‑ munität eines geistlichen Ortes hinzugefügt.105 Solche Eingriffe des Rates in Bereiche, die dem Bischof unterstanden, waren in dessen Augen eine „swere furachtung der geistlichen oberkeit und heiligen constitution“106 und bildeten sein Hauptargument in den Verhandlungen der folgenden Jahre.
101 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 17. Dezember 1512, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 2r. 102 Ebd. 103 Vgl. ebd. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 11. Januar 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 19r.
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Doch konnte sich der Bischof damit weiter durchsetzen? Mit seinem An‑ spruch sah er sich nun einer Opposition gegenüber, die aus der Wittenber‑ ger Priesterschaft, dem Rat der Stadt, dem sächsischen Kurfürsten und sogar dem Erzbischof von Magdeburg bestand. Innerhalb der Stadt entwickelte sich so in der folgenden Zeit eine enge Zusammenarbeit geistlicher und weltlicher Akteure, die zu einem starken städtischen Selbstbewusstsein der Wittenberger im Umgang mit geistlichen Dingen führte. Ein erster Hinweis auf diese innerstädtische Zusammenarbeit ist die unge‑ wöhnliche Tatsache, dass die Stadt zu ihren Geistlichen hielt. Das war in Zeiten des Interdiktes nicht selbstverständlich, denn nicht selten wurden dann die städ‑ tischen Geistlichen, welche den Bürgern gezwungenermaßen die Sakramente vorenthielten, angegriffen oder sogar aus der Stadt vertrieben.107 Die Witten‑ berger Priesterschaft hingegen fand eine informelle Einigung mit dem Rat der Stadt: Nur in den Klöstern sollte das Interdikt eingehalten werden, während die Priester die Gottesdienste in der Pfarrkirche und der Schlosskirche wie üb‑ lich feiern sollten. Von dieser Einigung berichteten dem Kurfürsten sowohl der Wittenberger Schosser wie auch der Bürgermeister.108 Wenig später veränderte sich die Lage zu Ungunsten der Stadt, denn am 3. August 1513 verstarb der Erzbischof von Magdeburg, Ernst von Wettin, welcher die Wittenberger bisher unterstützt und auch das vorherige Interdikt relaxiert hatte. Der Bischof von Brandenburg reagierte prompt mit einer er‑ neuten Verhängung des Interdiktes. Nach Angaben des Wittenberger Schos‑ sers war dieses am 8. August 1513 verhängt worden, indem der Bischof ver‑ fügte, dass der Gottesdienst in allen Kirchen, Pfarren, Stiften und Klöstern schweigen sollte.109 Grund dafür war, dass die Wittenberger Geistlichen er‑ neut einer Synode des brandenburgischen Bischofs am 19. Februar 1513 fern‑ geblieben waren.110 Nach dem Tod des Erzbischofs standen also die Dinge für die Wittenberger ungünstiger, denn von seinem Nachfolger Albrecht von Brandenburg, einem Bruder des Kurfürsten von Brandenburg, war wenig Unterstützung zu erwar‑ 107
Beispiele dazu nennt Anker: Bann, S. 71 f. Anton Niemeck, Schosser zu Wittenberg an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1367, 14. August 1513 und Christian Beyer an Fried‑ rich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 8–9. 109 Der Schosser spricht in dem auf den 14. August datierten Brief von einer erneuten Ver‑ hängung des Interdiktes am „vorigen Dienstag“, ebd., Bl. 2v. Die bischöfliche Überlieferung spricht dagegen nicht von einer erneuten Verhängung des Interdiktes, sondern nur von der Anweisung, dieses besonders strikt durchzusetzen, ausgenommen für die Armen. Vigno‑ les: Index, Bl. 145r: 8. August 1513 „Hieronymus […] jubet ut interdictum servetus, paucis exceptis“. 110 Vignoles: Index, Bl. 144v: „1. Februar: Hieronymus D.G. Eps. Brand. Clerum Wit tenb. citat ad Synodum Brandenb. celebr. diem Sabbato quatuor temporum quo cantatus in tret, dat. Ziesar“; „19. Februar a. 1513 die Sabbati post invocavit […] Synodum Brandeb. con gregatur, solis Wittenbergensibus deficientibus“. 108 Vgl.
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ten. Entsprechend verzichteten die Wittenberger auch darauf, sich wegen des erneuten Interdiktes an ihn zu wenden, sondern beriefen sich weiterhin auf die bereits bestehende Relaxation durch den verstorbenen Erzbischof, welche je‑ doch nach Meinung des brandenburgischen Bischofs nur „ad tempus“ gesche‑ hen und daher nicht mehr gültig war.111 Die Wittenberger Geistlichen hielten sich dennoch weiterhin an die inner‑ städtische Vereinbarung und widersetzten sich damit den Anweisungen des Bi‑ schofs. Unterstützt wurden sie dabei von den weltlichen Stadtoberen, indem Bürgermeister, Schosser und Rat dieses Verhalten gegenüber dem Kurfürsten verteidigten. Es kam in der folgenden Zeit zu einem erbitterten Streit zwischen den Wittenbergern und dem Bischof von Brandenburg, in dem beide Seiten dem Kurfürsten brieflich ihre Position darlegten. So argumentierte der neue Bürgermeister Christian Beyer dem Kurfürsten gegenüber wie folgt: „dye geystlichen in den clostern das gelegte Interdict halten, und haltten wellen byß ßo lang der gefangene widerumb restituiert wurde, das dan dem [sic] rechten gemeß ist“.112 Geschickt verwies Beyer darauf, dass die‑ ses „alles vyel args und ergernus bey dem gemeynen volck thuet geben“,113 denn genau das war auch die Befürchtung des Kurfürsten.114 Zum bisherigen Vor‑ gehen des Rates äußerte Beyer sich jedoch kritisch. Inzwischen war ein neuer Rat gewählt worden, dem er nun als Bürgermeister vorstand. Als Doktor beider Rechte war Beyer bereits im vorigen Jahr zu Beginn der Auseinandersetzun‑ gen dem alten Rat vom Kurfürsten als Berater zur Seite gestellt worden. Beyer zeigte wenig Verständnis für die andauernde Weigerung des Rats, den Gefange‑ nen auszuliefern. Diese bringe nur „vergebliche unkost und ergernuß“.115 In ei‑ nem Streit mit dem Bischof, so Beyer, werde die Stadt „lange Iar recht und krieg doch keyn syk erlanggen“.116 Beyer hingegen drängte darauf, dass der Gefan‑ gene restituiert werden müsse und führte als Präzedenzfall die Sache eines ge‑ wissen Jorg von der Kehr an, in der von der juristischen Fakultät entsprechend entschieden worden sei.117 Dagegen hatte der alte Rat stets von der bischöflichen Partei eine „Satisdation und Vorstandt“, eine Art Bürgschaft und finanzielle 111 Vignoles: Index, Bl. 145r: 8. August 1513 „[…] sub praetextu relaxationis arciepiscopi Magdeburg., quae tantum ad tempus erat“. 112 Christian Beyer an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 8v‑9r, hier Bl. 8v. 113 Christian Beyer an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 8r‑9v. 114 Vgl. Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 16. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 13r‑14v. 115 Christian Beyer an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 8v‑9r, hier Bl. 9r. 116 Ebd., Bl. 8v. 117 Auf denselben Fall hatte sich auch der Bischof bezogen, vgl. Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 11. Januar 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 19r.
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Kaution, gefordert und daher den Gefangenen bisher nicht ausgeliefert.118 Beyer bat daher den Kurfürsten, im Sinne der Stadt zu entscheiden. Der neue Rat wies wiederum alle Verantwortung von sich und behauptete, man habe Schwan „auff vorschrift des Marggraven der stadt Berlyn, unnd auch des entleibthen frunt schaft bitlichen ansynnen“ hin gefangen genommen und sei gerne bereit ihn dem Bischof auszuliefern.119 Dabei argumentierte der Rat, nicht nur die ganze Stadt Wittenberg, sondern sogar der ganze Archidiakonatsbezirk sei exempt von der bischöflichen Macht und unterstehe direkt dem Papst. Dieses ist zwar vollstän‑ dig falsch, denn aus heutiger Sicht geht aus den gut überlieferten Exemptions‑ privilegien deutlich hervor, dass nur die Schlosskirche exempt war, je nach Aus‑ legung möglicherweise noch die inkorporierte Pfarrkirche, keinesfalls jedoch die ganze Stadt oder gar der Archidiakonatsbezirk.120 Die Tatsache, dass ein solches Argument dennoch unwidersprochen eingebracht werden konnte und zumindest dem Rat offensichtlich plausibel schien, zeigt jedoch, wie unsicher und verworren die rechtliche Situation für alle Beteiligten war.121 In Wittenberg vermutete man unterdessen auch, der Fall Glorius Schwan sei nur ein Vorwand, während es dem Bischof eigentlich nur um die Subsidien ging. Die Geistlichen, so schrieb der Schosser an den Kurfürsten, stünden we‑ gen des Geldes, das der Bischof „wider biligkeit von in allen fordert“, in großem Zwang.122 Die Wittenberger Priester selbst bestätigten diese Darstellung spä‑ ter, indem sie für den Kurfürsten eine detaillierte Aufstellung der seit längerer Zeit stetig wachsenden Abgaben anfertigten, welche der Bischof von ihnen ver‑ langte. So habe er 1507 mit 15 Gulden bereits das Tripulum gefordert, 1508 ein Quadrupulum (20 Gulden, das Vierfache) und darüber hinaus von jedem Le‑ hen einen halben Gulden, ab 1509 jeweils das Tripulum und einen halben Gul118 Christian
Beyer an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 8–9, hier Bl. 9r. 119 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, ohne Datum, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 10r+v, hier 10r. Ein Eingreifen des Kurfürsten von Brandenburg ist außer in dieser Nachricht des Rates nicht belegt. Bekannt ist jedoch, dass dieser im weite‑ ren Verlauf eine Unterhandlung seiner Räte mit den Räten des sächsischen Kurfürsten vor‑ schlug, vgl. das Dokument „Was mit dem obermarschallen der Brandenburgischen sachen halb zu oschetz ist gehandelt worden“, 11. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 6r‑7r. 120 Zu den Exemptionsprivilegien vgl. oben, S. 32. 121 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, ohne Datum, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 10r+v, hier 10r. Auch am kurfürstlichen Hof hielt man die recht‑ liche Lage für unsicher und wollte eine Erneuerung oder Bestätigung des Privilegs erreichen. So war in einer Gesandtschaft an Papst Julius II. aufgeführt, die Stadt Wittenberg solle wie‑ der, wie sie es dem Vernehmen nach früher war, exempt gemacht werden, damit sie von viel Bann, Zitation und geistlicher Beschwerung der Bischöfe und Offiziale ledig würde, vgl. Reg. O 221, Bl. 6, abgedruckt in Paul Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung in der Schloss‑ kirche zu Wittenberg, Gotha 1907, S. 97. 122 Anton Niemeck, Schosser zu Wittenberg an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1367, Bl. 2r-2v, hier Bl. 2r.
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den.123 Zusätzlich verlangte er jährlich für den „accessus altaris“ fünf Silbergro‑ schen von den Geistlichen, die wegen Armut nicht in ihrem Benefizium residie‑ ren konnten, und widerrief Indulte für Almosensammler und ähnliches, für de‑ ren Erneuerung er 16 märkische Groschen verlangte.124 Auch diesen Forderun‑ gen kamen die Wittenberger Geistlichen in den folgenden Jahren nicht nach, sondern ignorierten die Anordnungen des Bischofs vollständig. Sie erschienen weder zur jährlichen Visitation, zu welcher der brandenburgische Bischof sie re‑ gelmäßig Mitte Oktober in die Pfarrkirche einberief, noch zahlten sie die regu‑ lären Subsidien.125 Gegenüber dem Kurfürsten rechtfertigten sie sich neben dem Zwang ihrer Armut ausdrücklich mit dem „radt der recht vorstendigen“, nach dem sie sich gerichtet hätten und verwiesen damit auf die Wittenberger Universität.126 Auch der Rat der Stadt hatte in diesem Jahr mindestens zweimal mehrere Professo‑ ren der Universität zur Beratung in das Rathaus geladen, wie aus den Kämme‑ reirechnungen hervorgeht.127 Damit hatten die Wittenberger die Entscheidung in einem innerstädtischen Konsens selbst getroffen, durch die lokale Priester‑ schaft umgesetzt und durch die Rechtsgelehrten der Universität vor Ort auch kirchenrechtlich begründen lassen. Diese Form der Entscheidungsfindung in geistlichen Dingen etablierte sich in den folgenden Jahren in Wittenberg im‑ mer stärker. Begünstigt wurde sie auch hier durch die rechtliche Unsicherheit, welche die Etablierung neuer Kompetenzen ebenso wie juristische Plausibili‑ tätsbehauptungen erleichterte. Dies entsprach ganz dem politischen Willen des Kurfürsten. Auch er sah die Entscheidungsgewalt in geistlichen Fragen lieber bei den gelehrten Theo‑ logen und Juristen seiner neu gegründeten Universität als bei einem auswärti-
123
„Gravamina Clerii Sedis Wittenbergensis“, T hHStA Weimar, EGA, Reg Kk 1367, Bl. 4v und 5r (teilweise abgedruckt im Anhang von Kirn: Friedrich der Weise, S. 180); „Eyn un derrichtung von den beswerungen so unser gnädige herr von Brandenburg der cleresey des stuls zu wittenberg hat aufgelegt“, T hHStA Weimar, EGA, Reg Hh 1367, Bl. 6r. 124 „Gravamina Clerii Sedis Wittenbergensis“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Hh, 1367, Bl. 4v und 5r. Vgl. dazu auch Kirn: Friedrich der Weise, S. 58. 125 Vignoles: Index, Bl. 145r: 2. September 1513 „Hieronimus D.G. Episcopus mandat ut feria 2 post Galli compareant in Ecclesia Parrociali Wittenbergensis ad visitationem et subsi dium ordinarium“; Bl. 153, September 1514 „Hieronimus D.G. Episcopus mandat ut Feria Ii ipso die Galli (16. Oktober) in Ecclesia Parrociali Wittenbergensis ad visitationem[…] huic mandato Wittenbergenses non parerunt“ 126 „Eyn underrichtung von den beswerungen so unser gnädiger Her von Brandenburg der cleresey (des stuhls) zu wittenberg aufgelegt“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1367, Bl. 6r. 127 StAW, KR 1512: Rubrik „Ausgabe vor des Raths Geschenke“: „2 gr. 8 d. vor zwehe kann weyn vor ereth, etlichen doctores auff dem rathause, szo In etlichen Sachen handelung gehabt Montag nach presentatio“ […] „2 gr. 8 d. hiernach abermals vorereth 2 kannen weins in massen wie ztruwen etlichen doctoribus vorereth auff dem Rathause Sonnabend nach ka tarine“
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gen Bischof.128 Als sich die Wittenberger im August 1513 nach der erneuten Ver‑ hängung des Interdiktes wiederum an ihn wendeten, schrieb er der Universität mit deutlichen Worten, dass er den Rechtsgelehrten in diesen Fragen die Kom‑ petenz zusprach und von ihnen eine Lösung dieses Falles erwartete. Es sei „er sreklich zu horen das ir als berumbte verstendige und gelerte leut nit die wege finden und furwenden solt, domit man sich des Bischofs mit ordentlichen rechten aufhalten und seiner vermeinten zugefugten beschwerung schutzen mocht“.129 Das weitere Vorgehen legte er in die Hände der Universität: Diese solle „so sich hyrinnen weiter zuthun geburet vnderthenig beschlissen“.130 Die enge Zusam‑ menarbeit der Wittenberger Akteure wurde demnach durch den Kurfürsten nicht nur gebilligt, sondern sogar verlangt. Ganz im Sinne der Universitätssta‑ tuten wurde dabei die Universität sowohl vom Kurfürsten wie auch von den Wittenbergern als ein „Oraculum“ herangezogen, welches in einem solchen schwierigen Fall die Wahrheit finden sollte.131 1.2.4. Die Politik des Kurfürsten im Fall Schwan Der Kurfürst als weltlicher Herrscher war von Anfang an von den Wittenber‑ gern, jedoch ebenso vom brandenburgischen Bischof, als Schlichterinstanz an‑ erkannt worden. Neben dem Erzbischof von Magdeburg war er es, an den sich beide Parteien mit ihren Beschwerden wendeten. Nach dem Tod des Erzbi‑ schofs lag die Sache nunmehr in seiner Hand. Die Reaktion des Kurfürsten war von zwei Grundsätzen geprägt, welche auch allgemein für seine Kirchenpolitik als kennzeichnend gelten: Er vermied ein Urteil in geistlichen Belangen und versuchte gleichzeitig, die Dinge so lange wie möglich zu verzögern.132 So argumentierte er gegenüber dem Bischof zunächst nur formal‑rechtlich, die Sache sei noch beim Erzbischof von Magdeburg „als euer oberhand“ anhängig, und begründete damit „unser bit, Ir wellet das selbe 128 Bereits Anfang November 1512 hatte er zwei seiner Räte aufgefordet, die Sache juris‑ tisch zu beurteilen und dem Wittenberger Rat weitere Handlungsanweisungen zu geben, vgl. Friedrich der Weise an Probst Dr. Wolff und Dr. Christian Beyer, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Hh 1647, Bl. 2v. Die kurfürstlichen Räte erhielten auch das Schreiben des Bischofs vom 17. Dezember und antworteten diesem, sie wollten vorerst noch weitere Erkundigungen ein‑ ziehen, vgl. die kurfürstlichen Räte an den Bischof von Brandenburg, 26. Dezember 1512, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 3r. 129 Friedrich der Weise an die Universität Wittenberg, 16. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 11r‑12v, hier 11v. 130 Ebd. 12r. 131 Vgl. zur Wittenberger Universität und ihrer Funktion als „Oraculum“ ausführlich Kap. I. 3., S. 103–105. 132 Vgl. zu dieser kirchenpolitischen Haltung Friedrichs des Weisen auch Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 377–382; Karl Pallas: Die Entstehung des landesherrlichen Kir‑ chenregimentes in Kursachsen vor der Reformation, in: Neue Mitteilungen aus dem Gebiet historisch Antiquarischer Forschung 24 (1909), S. 129–171.
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vermaintlich interdict und beschwerung […] aufzuheben verfugen damit andr beschwerung so daraus erfolgen mochten.“133 Ganz in der Rolle des Schlichters sicherte er dem Bischof dafür zu, dieser solle „was dan dy von Wittenberg odr ander unseren […] verwanten ewrn g von rechts und billikeit wegen […] schuldig darynn sol euch kein unbillig weigerung begegnen“.134 Damit griff der Kurfürst zwar aktiv in den Streit ein, ohne jedoch in der Sache selbst Stellung zu nehmen. In der Folge spielte er gegenüber dem Bischof vor allem auf Zeit. Da die Wit‑ tenberger das Interdikt ohnehin in der Pfarrkirche und im Allerheiligenstift nicht ausführten, worüber der Kurfürst informiert war,135 bestand zunächst kein akuter Handlungsbedarf. Für seine frühere Befürchtung, dass die Ausset‑ zung der Messen zu Aufruhr im Volk führte, bestand kein Anlass mehr. Da‑ mit befand sich der Kurfürst gegenüber dem Bischof in einer komfortablen Ver‑ handlungsposition. Der Bischof hingegen hatte durch die Regelung der Wittenberger sein letztes Mittel zur Manifestation und Durchsetzung seines Machtanspruches als geist‑ licher Herrscher und damit zugleich auch zur Durchsetzung seiner finanziellen Ansprüche gegenüber den Wittenberger Geistlichen verloren. Damit hatte er ein akutes Interesse an der Lösung des Konfliktes, denn je länger die Wittenber‑ ger trotz des von ihm verhängten Interdiktes ihre geistlichen Dienste ausführ‑ ten, desto deutlicher wurde der Verlust des bischöflichen Machtanspruches. Auf diese Weise gelang es dem Kurfürsten, die Sache über Jahre hinweg zu verschleppen. Die Einzelheiten seines Vorgehens bieten interessante Einblicke in die kurfürstliche Verhandlungspolitik: Während der Bischof den Kurfürsten ständig zum Handeln drängte und um Treffen bat, verzögerte der Kurfürst die Antworten seiner Briefe und fand immer neue Entschuldigungen, das Zusam‑ mentreffen mit dem Bischof wieder und wieder zu verschieben. So ließ Fried‑ rich der Weise zunächst, nachdem er im August um die Aufhebung des erneu‑ ten Interdiktes gebeten hatte, fast ein halbes Jahr verstreichen, bis er sich Ende November wiederum mit diesen Fragen befasste. In der Zwischenzeit hatte der Bischof mehrfach um ein persönliches Treffen in dieser Sache gebeten und war vom Kurfürsten vertröstet worden.136 Auch danach hatte er ihn wohl längere 133 Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 16. August 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 13r‑14v, hier Bl. 13v. 134 Ebd., Bl. 14r. 135 Informiert war der Kurfürst durch den Schosser und den Bürgermeister, vgl. Christian Beyer an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, ThHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 8–9; hHStA Anton Niemeck, Schosser zu Wittenberg an Friedrich den Weisen, 14. August 1513, T Weimar, EGA, Reg. Kk 1367, Bl. 2r. Kirn: Friedrich der Weise, S. 62 schreibt, der Klerus habe das Interdikt nicht gehalten, weil es der Kurfürst verboten habe und bezieht sich dabei auf die Verhandlungen vom Juni 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 62 ff. 136 Der Bischof spricht von der „gnedigen vortrostung […] so uns auf jungst gehaltenem Tag zu Zerbst gescheen ist“; Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 11. Dezember 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 16r.
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Zeit warten lassen und entschuldigte sich für die Verzögerung, er sei „langst wol geneigt gewest in solchen wenigen sachn tag anzusetzn“, wäre jedoch zu sehr mit „gescheften beladn“ gewesen.137 Schließlich bestellte er den Bischof auf den Dreikönigstag (Epiphanias, 6. Ja‑ nuar 1514) nach Wittenberg, um dort „dy sachen allnthalben verhorn ader durch dy unsern statlich verhoren [zu] lassen“.138 Einer solchen Vorladung eines frem‑ den Landesherrn wollte der Bischof jedoch nicht entsprechen und bemühte sich, seine prinzipielle Gleichrangigkeit und Unabhängigkeit von dem sächsischen Kurfürsten deutlich zu machen. Er wollte an dem angesetzten Treffen nur dann persönlich teilnehmen, wenn auch der Kurfürst selbst plane, „auff ernanten tag personlich zuverhoren und zu handeln“.139 Also bat er den Kurfürsten, ihm durch den Briefboten mitteilen zu lassen, ob er dies beabsichtigte.140 Der Kurfürst hingegen nutzte diesen Umstand, um die Sache noch länger hinauszuzögern. So ließ er den Bischof im Ungewissen und antwortete nur, er wisse noch nicht, ob er selbst teilnehmen könne, weil er seine Geschäfte zu die‑ sem Termin noch nicht kenne.141 Schließlich kam der Bischof zu dem genannten Tag nach Wittenberg, der Kurfürst erschien jedoch nicht. Kurz bevor er wieder abreisen wollte, so stellte es der Bischof hinterher dar, erreichte ihn ein Schrei‑ ben mit einer Entschuldigung des Kurfürsten. Eine vorherige Benachrichti‑ gung habe er jedoch nicht erhalten. Er habe auch in seiner Kanzlei danach su‑ chen lassen und nichts gefunden.142 Die Darstellung des Bischofs legt nahe, der Kurfürst habe ihn bewusst versetzt. Auch habe der Wittenberger Bote den Be‑ fehl gehabt, ohne Antwort zurückzukommen.143 Der Bischof hatte damit keine Möglichkeit noch in Wittenberg auf das Schreiben zu reagieren und musste un‑ verrichteter Dinge abreisen. Nach diesen Demütigungen war es nun am Bischof, seinen Rang im Um‑ gang mit dem Kurfürsten und mit den Wittenbergern deutlich zu machen. Ein weiterer, ähnlich erfolgloser Besuch in Wittenberg hätte seine Position gegen‑ über den Wittenbergern nur weiter geschwächt. Entsprechend verhalten rea‑ gierte er auf das Versprechen des Kurfürsten, bald einen neuen Tag anzuset‑ zen und diesen auch in eigener Person zu besuchen. Wegen anderer Geschäfte, so teilte der Bischof mit, könne er den Tag nicht selbst besuchen und sei mög‑ 137 Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 29. November 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 15r+v, hier Bl. 15r. 138 Ebd. 139 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 11. Dezember 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 16r. 140 Ebd. 141 Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 14. Dezember 1513, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 17r. 142 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 11. Januar 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 19r. 143 Zettel mit Nachschrift, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 20r.
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licherweise auch außer Landes. Er versprach aber, seinen Dompropst und wei‑ tere Mitglieder des Domkapitels mit Vollmachten zu diesem Tag zu schicken.144 Auf Druck des brandenburgischen Kurfürsten, der nach einem persönlichen Treffen mit Friedrich dem Weisen in Eilenburg nochmals anmahnte, den Ter‑ min möglichst bald anzusetzen,145 benannte Friedrich der Weise schließlich den 3. April 1514 (Montag nach Judicia) als Termin für das Treffen der Bevollmäch‑ tigten in Wittenberg.146 Die Ergebnisse dieses Treffens in Wittenberg sind im Einzelnen nicht bekannt und es scheint auch zu keiner Einigung gekommen zu sein. Aktenkundig wurde hingegen eine offene Demütigung der brandenbur‑ gischen Abordnung durch die Wittenberger: Der Wagen des Dompropstes und der anderen Mitglieder des Domkapitels wurde vor ihrer Herberge gestohlen und in den Wittenberger Abwasserkanal geworfen.147 Diese Geste der Ernied‑ rigung sollen die Wittenberger in den folgenden Jahren noch häufiger auch mit Symbolen der päpstlichen Kirche durchführen.148 Im Gegensatz etwa zu dem Vorfall mit dem Boten des Bischofs 1508 scheint es in diesem Fall keine Ermitt‑ lungen oder eine Verfolgung der Täter von Seiten der Stadt gegeben zu haben.149 Insgesamt ist also festzustellen, dass der Bischof zwar noch immer nicht voll‑ ständig ignorierte wurde – denn immerhin wurde das Interdikt formal in eini‑ gen Kirchen befolgt und man stand noch in Verhandlungen, doch seine Position wurde zusehends schlechter. Der Bischof drängte in der folgenden Zeit weiter auf einen gütlichen Tag, bei dem der Kurfürst auch persönlich anwesend sein sollte. Er erklärte sich auch bereit, erneut persönlich nach Wittenberg zu kommen, beklagte die „beswe rung, so aus solcher verzogerung erwachsen“,150 und setzte schließlich eine Frist bis Sonntag Trinitatis (11. Juni 1514). Dennoch zögerte der Kurfürst das Tref‑ fen weiter hinaus, bat zunächst um eine Fristverlängerung bis zum Johannis‑ tag (24. Juni).151 Kurz vor Ablauf der Frist war von einem persönlichen Treffen keine Rede mehr und Friedrich der Weise wollte wiederum seine Räte Schla‑ mau und Schurf zu Verhandlungen mit dem Bischof schicken. Dieser wollte 144 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 11. Januar 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 19. 145 Joachim von Brandenburg an Friedrich den Weisen, 20. Februar 1514, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 22r. 146 Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 25. Februar 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 23r‑24v. 147 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, [Datierung nicht lesbar] 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 42. 148 Vgl. unten, S. 138. 149 Vgl. oben, S. 39. 150 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 17. April 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 28r; Hieronymus Schulz an die Räte des Kurfürsten Laurentius Schlamau und Hieronymus Schurf, 29. April 1514, Bl. 19r+v, hier 19r. 151 Friedrich der Weise an seine Räte, 9. Mai 1514 T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106.
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jedoch noch immer mit dem Kurfürsten verhandeln und verzögerte nun seiner‑ seits das Zusammentreffen mit den Räten durch unterschiedliche Entschuldi‑ gungen.152 Eine Einigung ohne Beteiligung des Kurfürsten mit den Räten al‑ lein wollte er vermeiden. Zunächst konnte er sich nicht an einen Brief erinnern, in welchem die Räte ihr Kommen angekündigt hatten. Einen neuen Termin könne er auch nicht nennen, da er im Testament des brandenburgischen Adeli‑ gen Caspar von Kokeritz eingesetzt worden sei und sich nun um dessen Witwe und Kinder kümmern müsse.153 Auf die prompte Antwort der Räte154 reagierte er erst Ende August und entschuldigte sich wieder, da er mit dem brandenbur‑ gischen Kurfürsten außer Landes reisen müsse.155 Schließlich empfing der Bi‑ schof die kurfürstlichen Räte Ende September 1514. Offensichtlich waren die Verhandlungen diesmal erfolgreicher als bisher, denn kurz darauf ließ der Bi‑ schof seine erkennbar kompromissbereite Position durch Wilhelm von Betz‑ schitz, Domherr zu Meißen und Wurzen, an den Kurfürsten übermitteln.156 Zwar betonte er weiterhin die Berechtigung des Interdiktes, welches vor al‑ lem „umb die gewaltsame vorbrechung der immunitet und freyheit der heili gen kirchen geweytten und befreytten stetten“ halben gelegt und durch keine Appellation aufgehoben worden sei.157 Auch verlangte er weiterhin die Subsi‑ dien, welche „uber vorwertte zeit und so langk als zum rechten genug ist, aus al der gutter hergebrachter gewonheidt“ von ihm und seinen Vorgängern genom‑ men worden seien. Damit man ihm jedoch nicht vorwerfen könne, er vermi‑ sche die beiden Dinge miteinander, werde er sich dem Kurfürsten zu Gefallen mit den Weltlichen zu Wittenberg versöhnen, sofern diese „Iren Irthum […] er kennen und bekennen, und zum wenigsten Absolutionem mit geburlicher Re verentz suchen und bitten“.158 Der Bischof zeigte sich damit dem Kurfürsten gegenüber kompromissbereit, ohne jedoch auf seine geistlichen Herrschafts‑ ansprüche in Wittenberg zu verzichten. Tatsächlich leisteten die Wittenberger Bürgermeister und der Rat am 3. April 1515 beim Bischof Abbitte.159 Daraufhin
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Hieronymus Schulz an die Räte des Kurfürsten, 13. Juni 1514, Bl. 31r+v, 32r. Hieronymus Schulz an die kurfürstlichen Räte Laurentius Schlamau und Hieronymus Schurf, 10. Juni 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg B 1106, Bl. 31v‑32r. 154 Die kurfürstlichen Räte Laurentius Schlamau und Hieronymus Schurf an Hierony‑ mus Schulz, 13. Juni 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 34r+v. 155 Hieronymus Schulz an die kurfürstlichen Räte Laurentius Schlamau und Hieronymus Schurf, 28. August 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg B 1106, Bl. 35r+v. 156 Vgl. Hieronymus Schulz an Wilhelm von Betschitz, 11. März 1515, T hHStA Weimar, EGA, Reg B 1106, Bl. 38r‑39r. Anscheinend war es wiederum zu einer Verzögerung gekom‑ men, da Betschitz den ersten Brief des Bischofs offensichtlich nicht erhalten hatte. Der Bi‑ schof wiederholt hier den Inhalt eines Briefes, den er Anfang Dezember, unmittelbar nach dem Abschied der Räte aus Ziesar geschrieben habe. 157 Ebd., Bl. 38r. 158 Ebd., Bl. 38v. 159 Vignoles: Index, Bl. 147r: 3. April 1515 „Requête des bourgermestres et senat de Wit 153
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gewährte dieser am 5. April 1515 eine Aussetzung des Interdiktes, allerdings zeitlich begrenzt bis einschließlich Pfingsten (27. Mai).160 Die Streitigkeiten waren damit also keineswegs beigelegt,161 auch brachte die Fristsetzung den Kurfürsten nicht zum Handeln, wie der Bischof möglicher‑ weise erhofft hatte. Friedrich der Weise griff, wie schon in den vorigen Jahren, erst dann wieder ein, als ihm das Verfahren zu entgleiten drohte. Das war der Fall, als der Bischof den Wittenberger Schosser und einige andere Mitglieder der drei Wittenberger Räte vor den Dechant162 der Stadt Magdeburg, Paul Nik‑ las, zitierte.163 Als der Kurfürst das vom Wittenberger Rat erfahren hatte, be‑ mühte er sich, das Verfahren wieder in seine Gewalt zu bringen und verwies da‑ rauf, dass dieses bereits bei ihm anhängig sei. Er bat den Bischof um eine Frist bis Ostern, dann wolle er die Sache verhandeln lassen.164 Dieses verzögerte sich wieder,165 doch schließlich setzte der Kurfürst nach mehrfachem Drängen des Bischofs den 11. Juni als Tag für die Verhandlungen in Wittenberg an.166 Wie bereits bei den vorherigen Verhandlungen verhielten sich Bischof und Kurfürst zunächst abwartend in der Frage, ob sie persönlich an den Verhandlungen teil‑ nehmen wollten.167 1.2.5. Abschließende Verhandlungen im Fall Schwan 1516 Schließlich erschien keiner der beiden persönlich und die Verhandlungen wur‑ den vom 12. bis 14. Juni 1516 zwischen den Gesandten des Bischofs, Vertretern der Stadt Wittenberg und der Wittenberger Priesterschaft geführt. Von diesem tenberg au prince Jérôme, évêque de Brandenbourg, où lui font satisfaction pour l’affaire de Glorius Schwahn“. 160 Vignoles: Index, Bl. 148r: 5. April 1515 „Hieronymus, D. G. ep. brand., clericis Wit tenbergensibus mandat, ut interdictum occasione Glorii Schwahn prolatum suspendat usque ad festum Pentecostes inclusive“. 161 So stellt es etwa Gercken dar, vgl. Gercken: Stifts‑Historie, S. 260. Wenige Tage spä‑ ter wurde jedoch das Interdikt für die Geistlichen verschärft. Vignoles: Index, Bl. 148r: 10. April 1515 „Hieronymus, D. G. ep. brand. aggravat sententiam Excomjunicationis ad versus Clerum Wittenb. Datum Ziesar 1515“. 162 Dechant bzw. Dekan: Vom Bischof zu ernennender Vorsteher der Priesterschaft meh‑ rerer Pfarreien, insbesondere für Disziplinarsachen zuständig. 163 Vgl. Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 6. März 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 45r. 164 Vgl. ebd. 165 Der Kurfürst entschuldigte sich kurz nach Ostern umständlich für die Verzögerung, hHStA Weimar, vgl. Friedrich der Weise an den Bischof von Brandenburg, 4. April 1516, T EGA, Reg. B 1106, Bl. 52r + v. 166 Vgl. Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 27. Mai 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 57r. 167 Vgl. Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 2. Juni 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 45r; Friedrich der Weise an Hieronymus Schulz, 2. Juni 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 59r‑59v.
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„Tag zu Wittenberg“ ist ein sehr umfangreiches Protokoll überliefert, worin die Äußerungen der verschiedenen Parteien detailliert dokumentiert sind.168 Anhand der Verhandlungen werden die bereits in den Korrespondenzen der vorangegangenen Jahre beobachteten Konfliktlinien und Deutungsansprüche um die Verteilung geistlicher Macht in Wittenberg noch einmal besonders deut‑ lich. Gegenstände waren neben der Gefangennahme des Glorius Schwan durch den Wittenberger Rat, der Nichtbeachtung des Interdiktes und der Verweige‑ rung der Subsidien durch die Wittenberger Priesterschaft auch einige andere Punkte wie die Opfergelder der Annenkapelle im Dorf Kuhlowitz, die Irrun‑ gen zwischen dem bischöflichen Generalvikar und Subkonservator, sowie die Forderung des Bischofs nach Bußgeldern für einen auf Allerheiligen in Witten‑ berg begangenen Totschlag.169 Der erste ausführlich verhandelte Punkt betraf die Frage, ob der vom Rat ge‑ fangengesetzte Glorius Schwan als Geistlicher anzusehen war. Obwohl man Schwan bereits Jahre zuvor an den Bischof ausgeliefert hatte, unter dessen Schutz er nun lebte, war dies noch immer ein strittiges Thema. Tatsächlich war es zu einer Grundsatzfrage über die Definitionsmacht in geistlichen Dingen geworden: Was machte einen Geistlichen eigentlich zum Geistlichen und wer hatte darüber zu entscheiden? Die Art und Weise, wie diese Frage diskutiert wurde, zeigt, dass der Rat während der langen Jahre des Konfliktes mit dem Bischof in diesen Dingen an Selbstbewusstsein gewonnen hatte. Während man sich anfangs darauf zurück‑ gezogen hatte, von dem geistlichen Stand Schwans nichts gewusst zu haben, be‑ stritt der Rat nun gegenüber den Gesandten des Bischofs selbstbewusst das Kle‑ rikat Schwans und entwickelte dabei auch eigene Kriterien. Von beiden Parteien anerkanntes Kriterium waren zunächst die „formata litterae“, welche nach Aussage des Rates nicht vorgelegen hatten, nach Darstel‑ lung des Bischofs jedoch von seinen Gesandten dem Bürgermeister Thilo Dehne vorgetragen worden wären. Nun räumte der Rat ein, die Leute des Bischofs hät‑ ten tatsächlich dem Bürgermeister diese „formata litterae“ zeigen wollen. Nach‑ dem jedoch die Bitte des Bürgermeisters „das er dy ufn Rathaus in beysein des
168 „Handlung uf dem tag zu Wittenberg Mittwoch nach Barnabe, zwischen dem bischof von Brandenburg, der stat und cleresey zu witenberg und andern sachen anno dom 1516“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 62r‑76v. Das Protokoll enthält viele Streichungen und Überschreibungen und ist daher in Teilen schwer lesbar. Die bischöfliche Überlieferung erwähnt diesen Tag ebenfalls: Index, Bl. 151r (Datum unle‑ serlich): „Hieronymus, ep. Brand., sudente Friderico, electore Saconiae, iterum cum comitatu 60 hominum quorum praecipui nominantur, Wittenbergam tendit, quo accessit die Barnabe anni 1516 ibique tractat cum commissariis electoris sed nihil conclusum est clero in sua obsti natione permanente“. 169 Vgl. ebd. auf dem Deckblatt des Protokolls findet sich eine Aufzählung der Verhand‑ lungspunkte.
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sizenden Rates furgetragen“170 abgelehnt worden sei, wollten sie diese nicht an‑ erkennen. Ebenfalls von beiden Parteien wurde die Kleidung des Geistlichen angeführt. Nach Aussage des Bischofs sei Schwan „auch mit seinem habiten und allem wie ein clerik gewesen“,171 wogegen die Wittenberger Priesterschaft aus‑ sagte, er habe „nit claider getragen noch habiten als einem clerik geburt“. Der Rat bestätigte die Aussage der Priesterschaft.172 Auch die Kleidung des Geistli‑ chen war von beiden Parteien ein anerkanntes Erkennungszeichen der Zugehö‑ rigkeit zum geistlichen Stand, die Unstimmigkeiten betrafen nur den konkre‑ ten Sachverhalt. Zusätzlich entwickelte der Rat der Stadt jedoch auch eigene Kriterien für die Definition eines Geistlichen. Aufgrund seines Lebenswandels könnte man Schwan nicht als Geistlichen ansehen, er hätte „vil unfugs geubt“173, und die Priesterschaft fügte hinzu, selbst wenn „Schwan geweiht gewest, vil het ge braucht sich desselben nit“.174 Auf diese Weise behandelten die Wittenberger die Zugehörigkeit zum geistlichen Stand und damit die Zugehörigkeit zum Ein flussbereich des Bischofs als einen verhandelbaren Gegenstand, den sie nach ei‑ genen Kriterien beurteilen wollten. Zumindest im Verlauf dieser Verhandlungen setzten sie sich damit durch, denn am folgenden Tag wurde von den kurfürstlichen Räten protokollarisch notiert, es sei „auch uf diesen tag nit ausfindig, ob der gefangen ain clerik gewe sen oder nit“.175 Für den Bischof bedeutete das jedoch, dass er sich nicht mehr si‑ cher sein konnte, welche Einwohner der Stadt als Geistliche zu seinem Einfluss bereich gehörten. Ähnliches galt für die vom Bischof beanspruchte Herrschaft über geistliche Räume in der Stadt, in diesem Fall das Franziskanerkloster be‑ treffend, aus welchem Schwan gewaltsam entfernt worden war. Erneut beriefen sich die Wittenberger auf päpstliche Exemptionsprivilegien, deren Reichweite jedoch weder ihnen, noch dem Bischof vollständig klar zu sein schien: Hatte der Rat zuvor gegenüber dem Kurfürsten noch argumentiert, das ganze Kurfürs‑ tentum Sachsen sei exempt, war hier nur von dem Kloster die Rede. Der Bischof war hingegen nun der Meinung, er habe auch bei exempten Klöstern die Pflicht,
170 „Handlung Bl. 65r. 171 „Handlung Bl. 63v. 172 „Handlung Bl. 65r. 173 „Handlung Bl. 63v. 174 „Handlung Bl. 64r. 175 „Handlung Bl. 69r.
uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106,
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solche Vergehen gegen geweihte Orte zu ahnden.176 Damit nutzte der Rat auch hier die rechtliche Unsicherheit zu seinem eigenen Vorteil, so dass schließlich weder geistliche Räume noch geistliche Personen in der Stadt deutlich auszu‑ machen waren. Die Wittenberger gingen sogar noch einen Schritt weiter und warfen dem Bi‑ schof nun ihrerseits vor, das Ritual des Interdiktes nicht korrekt ausgeführt zu haben.177 So war schließlich er es, der sich rechtfertigen musste, er habe das In‑ terdikt „mit ordentlich prenen furgenommen“.178 Dieser Ausdruck bezieht sich wahrscheinlich auf die im Mittelalter verbreitete rituelle Form, das lokale In‑ terdikt zu verhängen. Dabei bildeten alle Geistlichen mit brennenden Kerzen oder Fackeln einen Kreis und warfen diese auf ein Zeichen des Bischofs gleich‑ zeitig in die Mitte des Kreises. Mit dem Erlöschen der Lichter war der Bann ri‑ tuell vollzogen.179 Leider gibt es außer der zitierten Stelle aus dem Verhand‑ lungsprotokoll keine weiteren Hinweise, ob dieses Ritual in Wittenberg noch ausgeführt wurde. Zusätzlich beriefen sich die Priester weiterhin auf ihre erfolgreiche Appella‑ tion an den Erzbischof von Magdeburg,180 welche nach Meinung des branden‑ burgischen Bischofs jedoch ungültig war, da er selbst als Suffragan vorher nicht gehört worden war.181 Die rechtliche Lage war demnach auch über das Inter‑ dikt selbst so unklar, dass sie von den Beteiligten jeweils für ihre Zwecke ange‑ führt werden konnte. Entsprechend fiel auch das Ergebnis der Verhandlungen aus: Einzig im Fall Schwan konnte eine Einigung gefunden werden, doch nicht etwa, weil man sich geeinigt hatte, ob Schwan nun ein Geistlicher war oder nicht, sondern nur, weil dieser bereits vor längerer Zeit ausgeliefert worden war und die Wittenberger erneut Abbitte leisteten.182 So gewährte der Bischof 176
„Handlung uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1006, Bl. 64r. 177 „Handlung uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 63r. 178 Ebd. 179 Vgl. Georg May: Artikel „Bann IV. Alte Kirche und Mittelalter“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd V, Berlin/New York 1980, S. 170–182, hier S. 175. 180 „Handlung uf dem tag zu Wittenberg […]“, T hHStA Weimar, EGA, Reg B 1106, Bl. 66v. 181 Dieses hatte der brandenburgische Bischof auch in seiner Appellation an den Papst vorgebracht, vgl. Wentz: Regesten, Nr. 76, 7. April 1513, S. 8–10, hier S. 9. 182 Vgl. Ratschlag des Dr. Heinitz an Friedrich den Weisen, ohne Datum, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 113r., „der artikel in der brandenburgischen sache so jungst zu Witenberg gehandelt, so ist under den eiyner gewesen, des gefangen der sich vor eyn clereick ausgegeben […] sey hyngelegt und vortragen, derhalben ferners handels von unnoten“, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 113r. Vignoles: Index, Bl. 152r: „1516 Ja cobo Groper, vicario curiae episcopalis et Nicolao Cleinswardt, officiali, proconsules et consu les Wittenbergenses errorem suum confitentes quoad incarcerationem Glorii Swahn et veniam petentes a sentenciis excommunicationum et interdicti absoluti sunt. Actum in arce Ziesar, Brandenburgensis diocesis“.
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dem Rat die Absolution und hob das Interdikt über Wittenberg auf.183 Auch die Frage der Subsidien schien zunächst mit der Einigung auf eine Summe von 100 Gulden gelöst, welche der Bischof für alle vorenthaltenen Zahlungen er‑ halten sollte, und die er, falls die Wittenberger den Abschied einhielten, auch auf 80 Gulden reduzieren wollte.184 Dies war zwar insgesamt keine kleine Summe, doch machte sie nur einen geringen Teil der ursprünglichen Forde‑ rungen des Bischofs aus, die nach Angaben der Wittenberger Priesterschaft und des Schossers bereits 1508 jährlich 15–20 Gulden zuzüglich weiterer klei‑ nerer Abgaben betrugen. Da die Wittenberger Geistlichen jedoch offensicht‑ lich seit Jahren überhaupt keine Abgaben gezahlt hatten, bedeuteten der Be‑ schluss und allein das Zustandekommen des Treffens immerhin, dass eine ge‑ wisse, wenn auch geringe, Akzeptanz der bischöflichen Herrschaftsansprüche noch immer bestand.
1.3. Luthers Predigt über den Bann (1518) und das Ende des Streites bis 1520 Doch auch diese Einigung brachte nicht das Ende des Streites, denn bereits im folgenden Jahr war die Stadt wieder mit dem Interdikt belegt. Offensichtlich hatten sich die Wittenberger Geistlichen nicht an die Vereinbarungen gehalten und der Bischof erhöhte seine Geldforderungen wieder. 1517 verlangte er allein für die „ertzeigten Iniurien vngehorsam Schmahe verdris unnd aller erliedene kost scheden“ 600 Gulden zuzüglich der vorenthaltenen Subsidien.185 Es folg‑ ten weitere Verhandlungen zwischen den Räten, die jedoch erfolglos blieben, so dass der kurfürstliche Rat Heinitz schließlich feststellte, der Hochmut sei auf beiden Seiten so weit eingerissen, dass hier schwerlich etwas auszurichten sei.186 1518 entschied Papst Leo X. die in Rom seit Jahren anhängige Frage um die Abgaben der Wittenberger Geistlichkeit im Sinne des Bischofs.187 Die 1516 er‑ folgte Bitte der Wittenberger Priesterschaft an Friedrich den Weisen um Ein‑ flussnahme beim zuständigen Auditor Bartholomeus Pigitio in Rom war of‑
183 Vgl. ebd. 25. Juni 1516: „Hieronymus D. G. Eps. Brand. Cleris Wittenberg. notificasse Proconsules et Consules Wittenb. absolvisse, ideoque sententias excommunicationis in ipsos latas cassat et revocat.“ 184 Vgl. Hieronymus Schulz an Wilhelm von Betschitz, 18. Juni 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 77r‑77v. 185 Der Bischof von Brandenburg an Friedrich den Weisen, 9. April 1517, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 50r. 186 Vgl. Friedrich der Weise an Dr. Heinitz, 9. Juni 1517, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 96r. 187 Vgl. Vignoles: Index, Bl. 158: 7. Juni 1518 „Papst Leo X. mandat Archidiacono Wit tenbergensi ut Decano et Capitulo Brandenburg. a Clericis sui Archidiaconatus Synodaticum et Cathedraticum persolvetur“.
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fensichtlich erfolglos geblieben.188 Die Wittenberger hatten gehört, dass der Präzeptor gegen sie eingestellt sei und erhofften sich eine Einflussnahme über einen Onkel des Auditors, welcher Präzeptor des verstorbenen Erzbischofs Ernst von Magdeburg und Bruder Friedrichs des Weisen war.189 Der Versuch der Einflussnahme in Rom zeigt, dass der Wittenberger Priesterschaft das Ur‑ teil der päpstlichen Gerichte in dieser Sache noch keineswegs gleichgültig war. Auch das sollte sich in den nächsten Jahren ändern. Wie die Konflikte mit der Priesterschaft blieben auch die Konfliktpunkte zwischen Stadt und Bischof nach der Einigung im Fall Glorius Schwan grund‑ sätzlich bestehen: Während der Bischof versuchte, seinen Anspruch auf geist‑ liche Herrschaft in der Stadt zu behaupten, verfolgten die Wittenberger selbst und auch der sächsische Kurfürst gegenteilige Ziele. Bereits kurz nach den Ver‑ handlungen in Wittenberg zeigte sich dieser Konflikt wieder offen, als der Kur‑ fürst aus Rom erfahren hatte, dass der Prokurator des Bischofs, Johann Ku‑ merz, vom Papst die Wittenberger Präbende des verstorbenen Dr. Peuckert erhalten hatte.190 Obwohl der Bischof beteuerte, davon nichts gewusst und überhaupt bis zu den „Wittenbergischen widderwerttigkeiten“ noch nie mit Rom zu tun gehabt zu haben,191 fürchtete der Kurfürst nun, dass die „privile gien und freyheit“ in seiner Residenzstadt durch den bischöflichen Einfluss vor Ort eingeschränkt werden könnten.192 Die Thesen Martin Luthers gegen den Ablass waren also nicht die erste „Wittenbergische Widerwärtigkeit“, mit der man sich in Rom beschäftigte. Vermutlich wäre der Konflikt des Bischofs mit den Wittenbergern noch lange Zeit so weitergegangen wie beschrieben: Die Wittenberger stellten die bischöf‑ liche Autorität zwar äußerst weitgehend, jedoch nicht grundsätzlich in Frage. Auch die Kraft des kirchlichen Bannes als solche hatten die Wittenberger noch nicht bestritten, wie etwa in der Aussage deutlich wird, der Bischof habe das Ri‑ tual des Bannens falsch ausgeführt. Daher bemühte man sich auch nach wie vor um eine Aufhebung des Interdiktes durch den Bischof. Bereits 1518 erhielten die Wittenberger für die Auseinandersetzungen mit dem Bischof jedoch eine ganz neue argumentative Basis, mit der die Legitimität des Interdiktes als kirchliche Strafe als solche in Frage gestellt wurde. Im Mai dieses Jahres hielt nämlich der Augustinermönch und Theologieprofessor Mar‑ tin Luther, der seit 1514 auch eine Predigerstelle an der Pfarrkirche inne hatte, 188 Vgl.
die Wittenberger Priesterschaft an Friedrich den Weisen, 25. Mai 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 56r und v. 189 Vgl. ebd., Bl. 56r. 190 Dr. Heinitz an Friedrich den Weisen, 15. Oktober 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 81r‑82r. 191 Hieronymus Schulz an Friedrich den Weisen, 1516 (keine Tagesangabe), T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 88r‑88v. 192 Dr. Heinitz an Friedrich den Weisen, 15. Oktober 1516, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 81r‑82r, hier 82v.
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eine Themenpredigt über Bann und Interdikt als kirchliche Strafen.193 Diese Predigt wurde in der Forschung bislang im Lichte der bevorstehenden Andro‑ hung des päpstlichen Bannes auf Luther selbst interpretiert: Die Gefahr des ei‑ genen Bannes durch den Papst vor Augen habe er sich mit der Thematik grund‑ sätzlich auseinandersetzen müssen.194 Betrachtet man jedoch die jahrelangen Auseinandersetzungen in Wittenberg mit dem Bischof von Brandenburg in die‑ ser Zeit, die Luther als Priester, Prediger und Universitätsprofessor gekannt ha‑ ben muss, so spricht vieles dafür, eher diese und möglicherweise ähnliche Vor‑ fälle in der Umgebung als Anlass und Hintergrund dieser Predigt zu sehen. Das wird zunächst anhand zweier Briefe Luthers deutlich, in denen er die Predigt erwähnte: Schon im Juli schrieb er an den ehemaligen Wittenberger Augusti‑ nerprior Wenzeslaus Linck, er habe in einer Predigt beiläufig die Tyrannei des ganzen schmutzigen Pöbels der Offiziale, der Kommissarien und der Vikare ge‑ straft.195 An Johann von Staupitz schrieb er im September in ähnlicher Weise, die Predigt sei wegen der harten Quälereien der Offiziale für das Volk sehr not‑ wendig gewesen.196 Damit wird die Predigt klar in den Zusammenhang der bi‑ schöflichen Bannpraxis über das Volk gestellt. In dieser Weise wurde bereits im Anmerkungsapparat der Weimarer Ausgabe darauf hingewiesen, dass die Vor‑ ladung Luthers nach Rom erst am 7. August 1518 erfolgte und der Anlass dieser Predigt demnach wohl eher „besondere Vorkommnisse, die sich unserer nähe ren Kenntnis entziehen“ waren, und weiter vermutet: „Mißstände in der Hand habung desselben [des Bannes] seitens bischöflicher Officiale mochten gerade in Wittenberg hervorgetreten sein.“197 Die schon damals vermuteten Ereignisse in Wittenberg sind nun in diesem Kapitel dargelegt worden. Luthers Predigt kann damit, wie besonders die Briefe an Staupitz und Linck zeigen, als eine aktive Unterstützung der Politik der Wittenberger gegen den brandenburgischen Bischof gesehen werden.198 Zwar war Luthers Predigt ganz 193 Martin Luther: „Sermo de virtute excommuniationis“, in: WA 1, S. 634–643. Mit ähnlichen Grundgedanken veröffentlichte er 1520 in deutscher Sprache einen „Sermon von dem Bann“, vgl. WA 6, S. 63–75. 194 Vgl. etwa Volker Leppin: Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 166; Martin Abra‑ ham: Evangelium und Kirchengestalt. Reformatorisches Kirchenverständnis heute, Berlin 2007, S. 425; Martin Brecht: Luthers reformatorische Sermone, in: Christian Peters/ Jürgen Kampmann (Hgg.): Fides et pietas. Festschrift für Martin Brecht zum 70. Geburts‑ tag, Berlin 2003, S. 15–32, hier S. 22. 195 Luther an Wenzeslaus Linck, 10. Juli 1518, in: WA Br. 1, S. 184–187. 196 Luther an Johann von Staupitz, 1. September 1518, in: WA Br. 1, S. 88–98. 197 Vgl. Luther: „Sermo de virtute excommuniationis“, S. 634 (Vorbemerkung des He‑ rausgebers). 198 Dieser ließ kurz darauf durch einen Boten die Forderung überbringen, man möge zu‑ mindest eine öffentliche Disputation dieses Themas unterlassen, woran Luther sich auch hielt. Davon berichtete Luther an Wenzeslaus Linck, 10. Juli 1518, in: WA Br. 1, S. 184–187, hier S. 187. Möglicherweise war dieser Bote wieder der Abt des Klosters Lehnin, den der Bischof bereits 1517 zu Luther geschickt hatte, damit dieser die 95 Thesen gegen den Ablass nicht wei‑
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in Form einer Themenpredigt verfasst und enthielt sich, zumindest in der ge‑ druckten Fassung,199 jeder konkreten Kritik an der bischöflichen Praxis. Den‑ noch schuf sie für die Wittenberger Auseinandersetzungen mit dem Bischof vollständig neue Voraussetzungen. So legte Luther in dieser Predigt dar, dass aus der geistlichen Gemeinschaft mit Gott und anderen Gläubigen niemand ausge‑ schlossen werden könne. 200 Der kirchliche Bann könne daher immer nur einen bereits vollzogenen Bruch mit Gott auch in der äußerlichen Gemeinschaft mar‑ kieren. Der äußere Bann habe aber keine Macht über die Seele.201 Damit brachte er den Wittenbergern das entscheidende Argument, um den bischöflichen Ein‑ flussbereich in der Stadt nicht nur bis an seine Grenzen auszuhöhlen, wie es bis‑ lang schon geschehen war, sondern schließlich vollständig zu delegitimieren. Hatten die rechtskundigen Universitätskollegen Luthers bislang schon häufiger dargelegt, aus welchen Gründen bestimmte Interdikte des Bischofs nicht gül‑ tig wären, so stellte Luther nun von theologischer Seite die Legitimität des In‑ terdiktes insgesamt in Frage. Auch die Praxis der Wittenberger Priester, das In‑ terdikt in der Pfarrkirche nicht einzuhalten, wurde auf diese Weise nachträglich legitimiert, da ein zu Unrecht verhängtes Interdikt auch keine Auswirkungen auf das Seelenheil habe. Da die Überlieferung der Korrespondenzen der Wittenberger mit und über den Bischof von Brandenburg ab etwa 1516 nur noch bruchstückhaft vorhan‑ den ist, kann die Wirkung dieser Predigt auf die Wittenberger nicht unmittelbar nachvollzogen werden. Auffällig ist jedoch, dass das 1517 verhängte Interdikt, soweit bekannt, nie aufgehoben wurde und die Wittenberger hier auch keine Anstrengungen mehr unternahmen. Auch auf das Urteil aus Rom von 1518 ist keine Reaktion der Wittenberger bekannt. Von Seiten des brandenburgischen Bischofs, ab 1521 Dietrich von Hardenberg, 202 findet sich hingegen in den kur‑ fürstlichen Überlieferungen noch 1523 ein Schriftstück, welches belegt, dass dieser sich noch immer über die Wittenberger Geistlichkeit beklagte; doch zu
ter verbreitete, was Luther damals ebenfalls zugesagt hatte, vgl. Riedel: Codex diplomaticus Brandenburgensis, S. 86. 199 Offensichtlich hatte Luther die Predigt selbst zum Druck niedergeschrieben, nachdem sie über die Stadt hinaus Aufsehen erregt hatte. An Staupitz schrieb er, er habe sie selbst ver‑ öffentlicht, um Missverständnissen vorzubeugen, vgl. Luther an Johann von Staupitz, 1. Sep‑ tember 1518, in: WA Br. 1, S. 88–98. 200 Luther: „Sermo de virtute excommunicationis“, S. 642. 201 Ebd. 202 Hieronymus Schulz hatte 1521 auf Betreiben des brandenburgischen Kurfürsten das Bistum Havelberg erhalten. Diese Versetzung hatte jedoch nichts mit der Reformation zu tun, sondern war vielmehr mit den Interessen des Kurfürsten zu begründen, der Schulz als seinen Vertrauten gegen ein opponierendes Havelberger Domkapitel durchsetzen wollte. Dazu und auch zu seinem Nachfolger Dietrich von Hardenberg vgl. Wentz: Hochstift Brandenburg, S. 52–56.
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diesem Zeitpunkt hielt es anscheinend niemand mehr für notwendig, auf seine Klagen auch nur zu reagieren. 203
1.4. Geistliche Macht in Wittenberg: Ein Zwischenfazit Am Anfang dieser Arbeit sollte eine Zustandsbeschreibung oder zumindest eine Bestandsaufnahme darüber stehen, wer um 1500 in Wittenberg in geistli‑ chen Dingen herrschte, um anschließend untersuchen zu können, wie sich diese Machtverhältnisse in den nächsten Jahrzehnten, die als die Epoche der Durch‑ setzung der Reformation bekannt sind, veränderten. Die Beschäftigung mit dieser Frage bringt jedoch vielmehr ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Akteure und Institutionen zutage, die Herrschaft in geistlichen Dingen bean‑ spruchten oder ausübten und sich dabei auf ein noch komplexeres Zusammen‑ spiel behaupteter und tatsächlich bestehender rechtlicher Normen, tradierter Ansprüche und neuer Geltungsbehauptungen stützten. Für die Wittenberger Bevölkerung führte dies dazu, dass die Geltung kirch‑ licher Rituale und Symbole in hohem Maße unsicher war. Nicht nur konnte mit dem Interdikt das Spenden der Sakramente und der Gottesdienst aus‑ und wie‑ der eingesetzt werden, sondern auch die Geltung des Interdiktes selbst war un‑ sicher und Gegenstand von Verhandlungen. Ergebnis dieser Unsicherheit war das widersprüchliche Verhalten der Wittenberger, die das Interdikt zwar kaum ausführten, sich aber dennoch vehement um seine Aufhebung bemühten. Das Vorgehen der Wittenberger Akteure gegen den Bischof von Branden‑ burg lässt sich nur teilweise in die allgemeine Tendenz spätmittelalterlicher Städte und Landesherren einordnen, die geistliche Macht der Bischöfe zu be‑ schneiden. Tatsächlich wurde für das 15. Jahrhundert eine Flut von Klagen ge‑ gen die geistlichen Gerichte und den Machtmissbrauch der Bischöfe von Sei‑ ten der Städte und auch der Landesherren festgestellt. 204 Doch beschränkten 203 Friedrich der Weise an seine Räte Hieronymus Schurf und Nikolaus von Amsdorf, 4. März 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 118r‑118v. Der Kurfürst wies hier die Räte an, die Priesterschaft der Städte Wittenberg, Belitz, Brück, Niemeck und Jessen, über deren „widerseyigkeit […] der subsidien und anderes halben“ der Bischof sich beschwert hatte, nach Belitz einzuberufen, da sie nach Meinung des Kurfürsten „aus altem herkommen und billigkeit“ die Abgaben bezahlen sollten. Der Kurfürst bezog sich dabei auf eine Eini‑ gung, die man vor einem Jahr in dieser Sache getroffen hatte, über die sich jedoch sonst keine Hinweise finden. Auch waren die Geistlichen schon öfter aus diesen Gründen nach Belitz bestellt worden, denn der Kurfürst bot an, man könne auch die dortigen Räte hinzuziehen, welche schon öfter mit dieser Sache befasst waren. 204 Vgl. Anton Störmann: Die städtischen Gravamina gegen den Klerus am Ausgang des Mittelalters und in der Reformationszeit, Münster 1916; Martin Schulze: Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991, S. 126 f.; Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488– 1525, Tübingen 2008.
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sich die Maßnahmen der Landesherren, soweit die vorliegenden Studien dies erkennen lassen, auf die Kritik illegitimer Kompetenzausweitungen der Bi‑ schöfe. 205 Der Wittenberger Situation am ähnlichsten erscheinen die von Nor‑ bert Schnitzler beschriebenen erfolgreichen Versuche des Hildesheimer und des Stralsunder Rates, religiöse Delikte dem bischöflichen Gericht zu entziehen und vor dem Ratsgericht zu verhandeln. 206 Doch fanden die hier dargestellten weitergehenden Bestrebungen jeweils in der „reformatorischen“ Zeit der 1520er und 30er Jahre statt. In diesem Punkt ist der Wittenberger Fall mit den Ergeb‑ nissen J. Jeffery Tylers zu Augsburg und Konstanz vergleichbar, denn auch dort gab die Reformation den städtischen Autoritäten den entscheidenden Anstoß, die schon zuvor begonnene Ablösung von der bischöflichen Gewalt zu vollen‑ den. 207 Anders als in diesen Reichsstädten spielten jedoch in Wittenberg die von Tyler als Hauptmotivation benannten Unabhängigkeitsbestrebungen des Rates kaum eine Rolle. Denn während in Konstanz und Augsburg mit dem Bischof zugleich auch der Landesherr aus der Stadt vertrieben wurde, bezogen sich die Wittenberger Auseinandersetzungen allein auf den geistlichen Einfluss des Bi‑ schofs. Die Versuche des Wittenberger Rates erscheinen in diesem Zusammenhang betrachtet schon vor dem Einfluss der reformatorischen Predigt sehr weitge‑ hend, was mit der dargestellten, für Wittenberg spezifischen Konstellation der Akteure begründet werden kann: Hier gab es einen Landesherrn mit großem Interesse an der Stadt, die er als Residenz gewählt hatte, eine neu gegründete Universität, die eng mit Rat und Landesherrn zusammenarbeitete und schließ‑ lich einen räumlich weit entfernten und auch politisch schwachen Bischof. In dieser Situation hatte sich, wie die Auseinandersetzungen mit dem Bi‑ schof von Brandenburg zeigen, bereits in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts eine enge Zusammenarbeit zwischen Hof, Stadt, Universität und Klerus ent‑ wickelt, die bereits an diesem Punkt zu dem starken städtischen Selbstbew usst sein führte, eine eigene Sicht der „Wahrheit“ auch in geistlichen Dingen zu ver‑ treten. Für das Finden dieser Wahrheit waren nun immer weniger der Bischof und immer mehr die gelehrten Theologen und Juristen der Wittenberger Uni‑ versität zuständig. Während der Bischof langsam herausgedrängt wurde, ent‑ wickelte sich die Universität zu einem neuen Zentrum der Wahrheit auch in geistlichen Fragen, das vom Kurfürsten, der lokalen Priesterschaft und vom 205 Vgl. Störmann: Städtische Gravamina, S. 192–228; Schulze: Geistliche Reformpo‑ litik, S. 126 f. mit den Beispielen Worms und Naumburg; Volkmar: Reform statt Reforma‑ tion, S. 226–250. 206 Vgl. Norbert Schnitzler: Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996, S. 168 f.; Ders.: „Kirchenbruch“ und „lose Rotten“. Gewalt, Recht und Reformation (Stralsund 1525), in: Jussen/Koslofsky (Hgg.): Kulturelle Reformation, S. 310 f. 207 Vgl. Tyler: Episcopus Exclusus, S. 60.
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Rat der Stadt zur Entscheidungsfindung herangezogen wurde. Auf diese Weise machten die Wittenberger neben dem Interdikt und den kirchlichen Abgaben im Fall Glorius Schwan auch die geistlichen Personen und Orte zu einem ver‑ handelbaren Gegenstand. Um es mit dem anfangs genannten Konzept Berndt Hamms zu fassen, erfuhr Wittenberg hier einen Schub „normativer Zentrierung“, der dazu beitrug, die dargestellte „spätmittelalterliche Komplexitätskrise“ zu überwinden. Mit dem Begriff der „normativen Zentrierung“, verstanden als die Ausrichtung von Re‑ ligion und Gesellschaft auf eine orientierende, regulierende und maßgebende Mitte hin, beschreibt Hamm die theologischen, aber auch die rechtlichen, so‑ zialen und politischen Veränderungsimpulse der Reformationszeit vom 15. bis ins 17. Jahrhundert. Im vorreformatorischen Wittenberg war dieser Prozess durch unterschiedliche Faktoren wie die Residenzbildung, die Universitäts‑ gründung und sowohl städtische wie auch landesherrliche Interessen bedingt. Ausdruck fand er zunächst politisch in der Verringerung der Anzahl konkur‑ rierender Akteure und der Etablierung der Universität als Zentrum der Wahr‑ heit in geistlichen wie weltlichen Dingen. Entscheidend normativ zentrierend wirkte schließlich aber die Predigt Luthers gegen den Bann, welche die Diskus‑ sion um die bischöfliche Gewalt in radikaler Weise auf eine neue Argumenta tionsbasis stellte: Die Heilskraft der Sakramente sollte nun unabhängig vom In‑ terdikt gelten. Als Luther und seine Anhänger in den folgenden Jahren begannen, in der Stadt die evangelische „Wahrheit“ und ihre Forderungen nach Kirchenrefor‑ men zu predigen, trafen sie so nicht auf feste und etablierte kirchliche Struktu‑ ren, sondern nahmen an einem bereits bestehenden Prozess der Aushandlung geistlicher Macht mit symbolischen Mitteln teil. Mit vielen Punkten der refor‑ matorischen Lehre, etwa dem Priestertum aller Gläubigen und der frührefor‑ matorischen Kritik am Verständnis der Messe als gutes Werk, stellten sie die Umwertung der kirchlichen Rituale dabei freilich auf eine ganz neue, radika‑ lere Basis, die sich, wie in den folgenden Kapiteln darzustellen ist, schließlich nicht mehr nur gegen den Bischof, sondern gegen die gesamte kirchliche Hier‑ archie bis zum Papst wendete. Und so gelang den Wittenberger Anhängern der Reformation im Jahr 1521 ironischer Weise schließlich genau das, woran der Bi‑ schof in den Jahren zuvor mit der Verhängung des Interdiktes gescheitert war: Sie setzten das Schweigen der Messe durch und demonstrierten damit ihre Ver‑ fügungsgewalt über die kirchlichen Rituale.
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2. Schlosskirche und Heiltum: Der Ausbau Wittenbergs zum Ort des Heils und zur kurfürstlichen Residenzstadt Ende des Jahres 1502 bereitete sich die Stadt Wittenberg auf einen wichtigen Besucher vor. Die Wittenberger putzten ihren Marktplatz, befreiten die Stra‑ ßen vom Abwasser und richteten den Kirchhof her. Man erwartete den päpst‑ lichen Ablasskommissar Raimundo Peraudi, Vorgänger des bekannten Johann Tetzel. 208 Peraudi erreichte Wittenberg kurz vor Jahresende 1502, weihte dort am 17. Januar 1503 die neu erbaute Schlosskirche und verkündete ein päpstliches Ablassprivileg, welches für den Besuch der Kirche und Anwesenheit bei der Re‑ liquienausstellung an bestimmten Feiertagen einen Ablass von einhundert Ta‑ gen und einer Quadragene209 gewährte, und auf dessen Grundlage in den fol‑ genden Jahren die öffentliche Schau der kurfürstlichen Reliquiensammlung, die „Heiltumsweisung“, stattfinden konnte. 210 Mit dem Besuch Peraudis in Wittenberg soll hier der Beginn einer neuen Phase durch den Kurfürsten geprägter intensiver Frömmigkeit gesetzt werden, in der Wittenberg zum überregional bedeutsamen Ort des Heils wurde. Beson‑ dere Bedeutung kam dabei der Schlosskirche mit ihren materiellen und imma‑ teriellen Schätzen an Reliquien und Ablässen zu, die sich in den folgenden Jah‑ ren durch weitere Stiftungen, neue Ablässe und Reliquienerwerbungen stetig vergrößerten.
208 Dies belegt das Verzeichnis der Ausgaben in StAW, KR 1502, Bl. 361v „1 gr. vom markte zuschuppen und zukeren als der cardinale eynrite“ „item ein tagloner hat helffen 2 tage moder vom marckte und von der gassen in den bach furen“ „4 gr. fur 2 brette und etliche nagel do mit den eyserne schranke am kirchhofe zu bedecken, als der Cardinal eynritte“. 209 Eine Quadragene umfasst einen Zeitraum von 40 Tagen und war neben Tagen und Jahren eine gebräuchliche Einheit zur Bemessung von Ablässen. Ihr Ursprung liegt im 40tägigen Fasten Christi. 210 Die Urkunde wurde am 1. Februar 1503 in Magdeburg ausgestellt und bezog sich auf die Feiertage Allerheiligen (1. November), Johannis Baptiste (24. Juni), St. Viti (15. Juni), St. Kiliani (8. Juli) und den Tag der Kirchweihe. Eine Abschrift findet sich im T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 219, Bl. 2–3; auch ist das Ablassprivileg wiedergegeben in der Bulle Leos X. „Illus, qui pro“. Der Text der Bulle ist abgedruckt bei Kalkoff: Forschungen zu Luthers rö‑ mischem Prozess, Rom 1905, S. 184–186, Variantenvergleich mit der Abschrift bei Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 9, Anm. 2.
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Ebenso wie die beiden anderen Wittenberger Großprojekte, die 1502 gegrün‑ dete Universität und der 1498 begonnene Bau des Wittenberger Schlosses, waren diese Maßnahmen Teil des Ausbaus Wittenbergs zur Residenzstadt Friedrichs des Weisen. Zusammen mit der etwa gleichzeitigen Gründung der Universität als eigener Stätte der Wahrheitsfindung in kirchenrechtlichen wie theologischen Fragen bildeten die Weihe der Schlosskirche und der Beginn der Heiltumswei‑ sungen dabei wichtige Einschnitte auf dem Weg zu einer weitergehenden Un‑ abhängigkeit von überregionalen geistlichen Herrschaftsträgern. Schlosskirche und Heiltum verliehen Wittenberg als aufstrebender, überregional angesehener „Hauptstadt“ des Kurfürstentums Sachsen eine spezifische sakrale Dignität. Kennzeichnend für die Entwicklungen in Wittenberg in den ersten Jahrzehn‑ ten des 16. Jahrhunderts war damit nicht nur die Abgrenzung in Fragen geistli‑ cher Autorität von dem außerterritorialen Einfluss des Diözesanbischofs, son‑ dern ebenso, wie im Folgenden zu zeigen ist, die Stärkung der Autonomie in geistlichen Dingen nach innen. Diese Entwicklung hatte tiefgreifende Auswir‑ kungen auf die Verteilung geistlicher Macht zwischen den Wittenberger Akteu‑ ren ebenso wie auf die religiöse Praxis in der Stadt. Die Wittenberger Schlosskirche und das Heiltum mit ihren Auswirkungen auf das Wittenberger Kirchenwesen werden hier als eine spezifische und neuar‑ tige Entwicklung begriffen, die kennzeichnend für die Situation zu Beginn des 16. Jahrhunderts war. Dieses steht im Gegensatz zu bisherigen Positionen der Forschung. Der Blick auf den Forschungsstand zeigt zunächst allgemein, dass Schlosskirche und Heiltum insgesamt wenig beachtet wurden: Hier bildete an‑ scheinend, wie schon zeitgenössisch, das größere und bekanntere Hallesche Heiltum als Gegenstand historischer und kunsthistorischer Studien zur landes‑ herrlichen Repräsentation eine zu starke Konkurrenz. 211 Thematisiert wurde das Wittenberger Heiltum hingegen vor allem von der älteren Reformations‑ forschung im Zusammenhang mit der Frage nach der Hinwendung Friedrichs des Weisen zur Reformation. Während das Fortbestehen des Ablass‑ und Re‑ liquienwesens vielen Reformationshistorikern als augenscheinlicher Beleg sei‑ nes Verharrens im bzw. Festhaltens am alten Glauben galt, 212 bemühten sich 211 Dieses gilt besonders für die Fragestellungen der Residenzenforschung; zu Halle aus dieser Perspektive vgl. Michael Scholz: Residenz, Hof und Verwaltung der Erzbischöfe von Magdeburg in Halle in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Sigmaringen 1998; spe‑ ziell zum Heiltum: Andreas Tacke (Hg.): Ich armer sundiger mensch: Heiligen‑ und Re‑ liquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter, Göttingen 2006; neuerdings auch Ursula Timann: Bemerkungen zum Halleschen Heiltum, in: Andreas Tacke (Hg.): Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg, Renaissancefürst und Mäzen, Bd. 2: Essays, Regens‑ burg 2006, S. 255–283. Einen Vergleich der Heiltümer auf Grundlage der Heiltumsbücher bietet Kerstin Merkel: Die Reliquien in Halle und Wittenberg, ihre Heiltumsbücher und Inszenierung, in: Andreas Tacke (Hg.). Cranach. Meisterwerke auf Vorrat. Die Erlangener Handzeichnungen der Universitätsbibliothek, München 1994, S. 37–50. 212 Von protestantischer Seite zunächst bedauernd: Julius Köstlin: Friedrich der Weise
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umgekehrt die Vertreter der These, der Kurfürst sei schon früh ein überzeug‑ ter Anhänger Luthers gewesen, eine frühe Abschaffung des Heiltums und der Heiltumsweisungen nachzuweisen. 213 Beide Positionen in dieser Debatte zei‑ gen jedoch für den Forschungsstand insgesamt, dass das Heiltum jeweils ent‑ sprechend der Sichtweise Luthers thematisiert wurde, nämlich als Überrest längst vergangener Zeiten, als Symbol einer überkommenen, bestenfalls miss‑ verstandenen Religiosität des Mittelalters. Erst in den letzten Jahren begann man dagegen, einzelne Elemente der Wittenberger Schlosskirche und des Heil‑ tums auch unabhängig von der Reformation in ihren liturgischen und repräsen‑ tativen Elementen zu untersuchen. So wurden die Zeigung des Wittenberger Heiltums in die überregional vergleichenden Untersuchung der „Ostensio Reliquiarum“ des Theologen Kühne aufgenommen, 214 die bauliche Erweiterung der Kirche durch den kleinen Chor kunstgeschichtlich untersucht215 und besonders das ausgezeichnet überlieferte Heiltumsbuch sowohl aus kunst‑, wie auch aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive thematisiert. 216 Die hier gewählte Perspektive soll dagegen die Fragestellungen beider Forschungsstränge verbin‑ den, indem sie Schlosskirche und Heiltum gleichermaßen in ihren herrschafts‑ repräsentativen Funktionen wie auch mit ihren Auswirkungen auf die religiöse Praxis und die Verteilung geistlicher Macht betrachtet, um so anschließend die „reformatorischen“ Entwicklungen der frühen 1520er Jahre in das gezeichnete und die Schlosskirche zu Wittenberg, Berlin 1892; später Nikolaus Paulus: Ablassfeiern zu Wittenberg in den Reformationsjahren, in: Historisch‑Politische Blätter für das katholi‑ sche Deutschland 168 (1921), S. 503–515. Paulus richtet sich hauptsächlich gegen Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung; ähnlich bereits: Johann Gottfried Schadow: Ablass in der Stiftskirche Aller Heiligen zu Wittenberg noch im Jahre 1520, nebst anderer Nachrich‑ ten über diese Kirche aus derselben Zeit, in: Provinzialblätter für die Provinz Sachsen (1838), S. 411–416. 213 Zuerst bei Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung; ähnlich, wenn auch weniger zu‑ gespitzt Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 397–440. 214 Vgl. Hartmut Kühne: Ostensio Reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch‑deutschen Regnum, Berlin 2000. 215 Franz Bischoff: Die Einrichtung des sogenannten Kleinen Chores an der Witten‑ berger Schloßkirche durch Kurfürst Friedrich den Weisen Auftrag und Ausführung, in: Sachsen und Anhalt 25 (2007), S. 147–208. 216 Vgl. dazu aus kunsthistorischer Perspektive Livia Cárdenas: Friedrich der Weise und das Wittenberger Heiltumsbuch. Mediale Repräsentation zwischen Mittelalter und Neu‑ zeit, Berlin 2002 und unter kommunikationsgeschichtlichen Fragestellungen: Sabine Hei‑ ser: Andenken, Andachtspraxis und Medienstrategie – Das Wiener Heiltumsbuch von 1502 und seine Folgen für das Wittenberger Heiltumsbuch von 1509, in: Andreas Tacke (Hg.): Ich armer sundiger Mensch. Heiligen‑ und Reliquienkult in der Zeitenwende Mitteldeutsch‑ lands, Göttingen 2006, S. 208–237; speziell zum Wittenberger Heiltumsbuch vgl. Frank Eiser m ann: Die Heiltumsbücher des späten Mittelalters als Medien symbolischer und prag‑ matischer Kommunikation, in: Rudolf Suntrup (Hg.): The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times, Frankfurt am Main u.a. 2005, S. 37–56; zum Vergleich mit Halle vgl. Merkel: Reliquien.
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Gesamtbild der Situation Wittenbergs zu Beginn des 16. Jahrhunderts einzu‑ ordnen.
2.1. Die Weihe der Schlosskirche um 1502 als Neubeginn Der Besuch Peraudis in Wittenberg mit der Weihe der Schlosskirche und der Verkündung des großen Ablasses für die Heiltumsweisung soll hier als An‑ fangspunkt einer neuen Phase gesetzt werden. Dieses bedarf einer näheren Er‑ läuterung, denn sowohl die Schlosskirche wie auch das Heiltum und einige um‑ fangreiche Ablassprivilegien bestanden bereits im 14. Jahrhundert, als Witten‑ berg unter den askanischen Herzögen schon einmal als Residenzstadt genutzt wurde. Aus diesen Gründen wäre es durchaus denkbar, dass Wittenberg, wie es etwa der Kirchenhistoriker Bernd Moeller formulierte, bereits in dieser Zeit „zu einem heiligen Ort wurde“. 217 Bildeten die Stiftungen und Heiltumswei‑ sungen der Schlosskirche demnach zu Beginn des 16. Jahrhunderts, wie von der Reformationsgeschichte dargestellt, nur einen Höhe‑ und zugleich Schluss‑ punkt der überkommenen Frömmigkeitspraktiken des späten Mittelalters? Tatsächlich war die Stiftskirche Allerheiligen bereits Mitte des 14. Jahrhun‑ derts von dem Askanier Herzog Rudolf I. von Sachsen gegründet worden, der eine Kapelle aus Pratau in Wittenberg neu aufbauen ließ. 218 Dazu hatte Bischof Otto von Magdeburg bereits 1338 gegen eine Entschädigungszahlung die Er‑ laubnis erteilt, 219 der Stiftsbrief Rudolfs I. datiert allerdings erst vom 24. Februar 1353. 220 Auch das Kollegiatstift Allerheiligen ist schon in dieser Zeit nachweis‑ bar. 221 Bereits bei seiner Gründung war das Stift eng mit Ablass und Reliquien‑ verehrung verbunden. So war die Kirche nach einer 1346 durch Clemens VI. 217 Vgl. Bernd Moeller: Die letzten Ablasskampagnen, in: Ders. (Hg.): Die Reforma‑ tion und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, Göttingen 1991 [zuerst 1989], S. 53–72, hier S. 57. 218 Zur Geschichte des Allerheiligenstiftes von seiner Gründung bis ins 16. Jahrhundert sind vor allem die Urkunden aus dem Universitätsarchiv der Universität Wittenberg in Halle überliefert, welche das Archiv des Allerheiligenstiftes schon im 16. Jahrhundert übernahm, da die Universität die Rechtsnachfolge für das Stift antrat. Regesten der Urkunden bietet Fried‑ rich Israel: Das Wittenberger Universitätsarchiv, seine Geschichte und seine Bestände. Nebst den Regesten der Urkunden des Allerheiligenstiftes und den Fundationsurkunden der Universität Wittenberg, Halle 1913, Anhang I: Regesten der im Wittenberger Universitäts‑ archiv befindlichen Originalurkunden des Allerheiligenstiftes, S. 24–95. Zur Geschichte des Stiftes dieser Zeit immer noch zentral: Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 75–164. 219 Eine besondere bischöfliche Erlaubnis war notwendig, da die Kapelle auf diese Weise aus dem Bistum Magdeburg in das Bistum Brandenburg versetzt wurde. Die Urkunde Ottos von Magdeburg datiert vom 29. November 1338, UAH, Urkunden I Nr. 2; vgl. auch Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 81. 220 Stiftsbrief Herzog Rudolf von Sachsens, Wittenberg, 14. Februar 1353, Regest bei Is‑ rael: Universitätsarchiv, S. 28–30. 221 Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 83.
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ausgestellten Urkunde neben der Verehrung des heiligen Wenzel und anderer Heiliger vor allem zur Aufbewahrung der kostbaren Reliquie eines Dornes von der Krone Christi errichtet worden, den Herzog Rudolf I. von dem franzö‑ sischen König Philipp IV. als Geschenk erhalten hatte. 222 Bald nach der Grün‑ dung der Kirche kamen weitere Reliquiengeschenke hinzu, welche den Grund‑ stock für die spätere Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen bildeten. 223 Ebenso hatte schon Rudolf I. mehrere Ablassprivilegien erlangt, mit denen für den Besuch der Wittenberger Allerheiligenkapelle an bestimmten Feiertagen ein Ablass von 40 Tagen gewährt werden konnte. 224 Politisch lassen sich diese Ablassprivilegien aus dem 15. Jahrhundert auf die engen Beziehungen der aska‑ nischen Herzöge zum Prager Hof zurückführen, welche seit der Wahl Karls IV. zum römisch‑deutschen König bestanden. 225 Das ebenfalls im 14. Jahrhundert gegründete Prager Allerheiligenstift mit seiner Reliquiensammlung diente da‑ her wohl als Vorbild des Wittenberger Stiftes, dessen Hauptaltar so der Schutz‑ herrschaft aller Heiligen und die Nebenaltäre dem Schutz der böhmischen Hei‑ ligen Wenzel und Sigismund unterstellt wurden. 226 Das erste große Ablasspri‑ vileg erhielt das Wittenberger Allerheiligenstift jedoch erst 1398 mit dem so genannten „Portiunkula‑Ablass“ Papst Bonifaz’ IX. Damit konnte den Besu‑ chern der Schlosskirche am Allerheiligentag derselbe außerordentliche Ablass gewährt werden, der am 1. und 2. August in der namensgebenden Portiunku‑ lakapelle bei Assisi erworben werden konnte. 227 Als Plenarablass beinhaltete dieser die vollständige Befreiung von allen Sündenstrafen „a poena et culpa“. Noch zwei weitere große Ablassprivilegien kamen hinzu: Johann XXIII. ge‑ währte am 17. Oktober 1411 in einem zunächst auf zehn Jahre begrenztem Ab‑ lassprivileg für den Besucher der Kapelle an bestimmten Feiertagen einen Ab‑ lass von sieben Jahren und sieben Quadragenen. 228 Wenig später wurde dieser 222 Es
handelte sich dabei um eine der drei Urkunden von 1346, mit denen die Kirche unmittelbar dem Papst unterstellt und damit exempt von der bischöflichen Gerichtsbarkeit wurde, vgl. oben, S. 32 f. Zum politischen Hintergrund dieser Reliquienschenkung vgl. Wentz: Kollegiatstift Al‑ lerheiligen, S. 82. 223 Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 81. 224 Urkunde ausgestellt von mehreren Bischöfen, Avignon, 10. September 1342, Regest bei Israel: Universitätsarchiv, S. 24–25. 225 Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 83; Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 404 f. 226 Kühne weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Rudolf I. 1339 an der Weihe des Allerheiligenstiftes auf der Prager Burg teilnahm, vgl. Kühne: Ostensio Reli quiarum, S. 404. 227 Urkunde von Bonifaz IX. vom 19. Juli 1398, Regest bei Wentz: Kollegiatstift Aller‑ heiligen, S. 108. 228 Urkunde vom 17. Oktober 1411, Abschrift im Vatikanischen Archiv Reg. Lat. 153, Bl. 30, nennt als Feiertage für den Ablass die Herrentage, Marienfeste, Neujahr, Fronleichnam, Pfingsten, Johannestag, Peter‑und Paulstag, Allerheiligen und die Kirchweihe. Angaben nach
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Ablass 1415 auf dem Konstanzer Konzil erweitert, indem die zeitliche Begren‑ zung aufgehoben und das Ablassquantum auf zehn Jahre und zehn Quadrage‑ nen erhöht wurde. 229 Beide Urkunden beziehen sich auf die Schau des Witten‑ berger Heiltums, das am Montag nach Misericordias Domini zur Schau gestellt werden sollte. 230 Demnach verfügte Wittenberg bereits unter den Askanierfürs‑ ten Anfang des 15. Jahrhunderts über die sakralen Grundlagen eines prestige‑ trächtigen Residenzortes, dem durch wertvolle Reliquien und damit verbun‑ denen Ablässe gleichzeitig sakrale Dignität wie auch überregionale Bedeutung hätte zukommen können. Unklar ist jedoch, ob es dazu überhaupt kam. Es ist zwar denkbar, dass auf Grundlage der genannten umfassenden Ablassprivilegien bereits in dieser Zeit Pilger nach Wittenberg kamen, um das Heiltum zu sehen. Für den gesamten Zeitraum des 14. und 15. Jahrhunderts liegen jedoch keine Hinweise auf solche auswärtigen Besucher vor, es ist noch nicht einmal nachweisbar, dass das Heil‑ tum überhaupt gezeigt wurde. 231 Dieses mag aufgrund der allgemein schlechten Quellenlage dieser Zeit nicht verwundern, doch ist gerade die Urkundenüber‑ lieferung des Allerheiligenstiftes im Universitätsarchiv Halle sonst sehr dicht. Demnach wären hier Hinweise auf eine öffentliche Heiltumsschau zu erwarten gewesen, etwa in Form von Ausschreiben der Fürsten an die Untertanen oder an die Bischöfe und Geistlichen, welche neue Ablässe und Heiltumsweisungen an‑ kündigen. Solche Quellen, die für das 16. Jahrhundert überliefert sind, 232 fehlen in den Urkunden der vorigen Jahrhunderte. Hinzu kommt, dass der umfang‑ reiche Portiunkula‑Ablass bereits 1402 widerrufen wurde, der sächsische Hof sich jedoch erst ab 1505 unter Friederich dem Weisen in Rom für eine Erneue‑ rung des Ablassprivilegs einsetzte. 233 Die Bedeutung Wittenbergs als Ort des Heils, so sie denn bestanden hatte, schwand vollkommen, als 1422 nach dem Tod des letzten askanischen Kurfürsten Albrecht III. das Fürstentum Sachsen an die Dynastie der Wettiner überging. Die Wettiner nutzten Wittenberg zu‑ nächst nicht als Residenz und hatten daher auch kein Interesse am Allerheili‑ genstift. Im Gegenteil fühlte sich das Stift durch ihre weltliche Herrschaft wirt‑ schaftlich so ausgebeutet, dass es sich 1434 mit Beschwerden über die Vorent‑ haltung der Einkünfte und Beschwerung mit Abgaben an das Konzil von Basel
Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 108; Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 7 datiert die Urkunde auf das Jahr 1400 und weist sie Bonifaz IX. zu. 229 Urkunde vom 12. Januar 1415, Abschrift im Vatikanischen Archiv, Reg. Lat. 185, Bl. 53; vgl. auch Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 108. 230 Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 108. 231 Vgl. Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 412. 232 Vgl. unten S. 79–80. 233 Moeller: Die letzten Ablaßkampagnen, S. 58, geht hingegen davon aus, dass dieser Widerruf „in Wittenberg nicht zur Kenntnis genommen“ wurde und der Ablass dennoch wei‑ ter genutzt wurde.
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wandte. 234 Die Allerheiligenkapelle wurde in dieser Zeit als Aufbewahrungsort der Wittenberger Schlossbibliothek und möglicherweise auch des Urkunden‑ archivs genutzt. 235 Aus diesen Gründen erscheint eine öffentliche Zeigung des Heiltums und Verkündung des Ablasses nahezu ausgeschlossen. So kann der Besuch Peraudis, welcher die neu erbaute Schlosskirche weihte und einen erneuerten Ablass verkündete, als Beginn einer neuen Phase der kur‑ fürstlich geprägten religiösen Praxis gesehen werden, in der Wittenberg zu ei‑ nem überregional bedeutsamen Ort des Heils wurde. Die religiöse Praxis an der Wittenberger Schlosskirche mit ihren Stiftungen, der Reliquienschau und die damit verbundenen Ablässe werden demnach im Folgenden nicht als ein Überrest vergangener Zeiten betrachtet, sondern als eine spezifische Neuerung zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die nur innerhalb der sozialen und politischen Situation Wittenbergs zu verstehen ist, und die ihrerseits die Konstellation der städtischen Akteure in den Aushandlungsprozessen um geistliche Macht ebenso wie die religiöse Praxis in Wittenberg nachhaltig beeinflusste. In engem Zusammenhang stand der Neubeginn Wittenbergs als Ort des Heils mit dem Ausbau der Stadt als Residenz durch Friedrich den Weisen. So markierte das Jahr 1503 mit der Weihe der Schlosskirche und dem Beginn der Heiltumsweisungen für die Wittenberger nicht nur im Hinblick auf die reli‑ giöse, sondern auch auf die politische Symbolik einen wichtigen Neuanfang. Mit der Errichtung und Erneuerung der Stiftungen, Ablässe und des Reliquien‑ schatzes an der Schlosskirche wurde den Wittenbergern gleichzeitig auch vor Augen geführt, dass sie nun Einwohner einer kurfürstlichen Residenzstadt und damit nicht nur städtische Bürger, sondern auch unmittelbar landesherrliche Untertanen waren. Schlosskirche und Heiltum waren damit auch Teil des von Friedrich dem Weisen seit Ende des 15. Jahrhunderts begonnenen Ausbaus Wit‑ tenbergs zur Residenzstadt. Die neuere Residenzenforschung hat verstärkt auf die Bedeutung sakraler Stätten für die Residenzbildung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Herrscher hingewiesen: Dieser Prozess habe sich nicht auf die durch zunehmende Schriftlichkeit und Aktenbildung notwendige Ein‑ richtung einer Zentralverwaltung beschränkt. Vielmehr seien die entstehenden Zentralorte der Herrschaft darüber hinaus zu kulturellen Zentren der Territo‑ rien geworden, welche gleichermaßen die fürstliche Landesherrschaft, die Dy‑ nastie des Herrscherhauses und insgesamt das Territorium als solches repräsen‑ tierten. 236 Als kennzeichnende Elemente dieser repräsentativen Funktion wird 234 Urkunde des Konzils von Basel, 8. Juli 1434, Regest bei Israel: Universitätsarchiv, S. 52–53. 235 Vgl. Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 88–89. 236 Hans Patze/Werner Paravicini: Zusammenfassung der Ergebnisse der 1. und 2. Residenztagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte 1984/85, in: Diess. (Hgg.): Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen Europa, Sigmaringen 1991, S. 462–488, hier: S. 484–485. Speziell zur frühen Neuzeit: Kurt Andermann: Zur sakralen
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dabei neben der Gründung einer Universität und dem Bau eines Wohnschlos‑ ses insbesondere auch der zum Schloss gehörende Sakralbau genannt, welcher häufig auch als Sitz des Residenzstiftes und Ort der dynastischen Grablege diente. 237 Dass eben diese Elemente auch aus der Sicht des Hofes in Wittenberg von Bedeutung waren, zeigt der 1506 durch den Wittenberger Magister Andreas Meinhardi verfasste und 1508 veröffentliche „Dialogus illustrate“, eine Art Werbeschrift für die Stadt Wittenberg, mit der auswärtige Studenten angezo‑ gen werden sollten. 238 Obwohl diese Schrift primär für die Universität werben sollte, wird hier zunächst eine ausführliche Beschreibung des Heiltums und der Schlosskirche vorangestellt, da auch ein Student bei der Wahl seines Studienor‑ tes „zuerst nach dem Reiche Gottes trachten muss“. 239 Dies verweist auf die be‑ sondere Bedeutung der sakralen Dignität des neuen Zentralortes, für welche Reliquienschätze und Ablässe eine entscheidende Rolle spielten. Zusammen mit der dynastischen Grabstätte trugen sie zu einer transpersonellen Legitimation fürstlicher Herrschaft im gesamten Territorium bei, welche mit der Abschaf‑ fung der Reiseherrschaft und Errichtung von Zentralorten nötig wurde. 240 Da‑ mit ist die herrschaftsrepräsentative Funktion von Heiltum und Schlosskirche in der Residenzstadt als ein wichtiger Faktor für die Ausgestaltung der reli‑ giösen Symbolik zu beachten, denn sie trug wesentlich zur sakralen Dignität von Wittenberg als neuem Zentrum des Kurfürstentums bei. Im Folgenden ist daher zu klären, auf welche Weise eine solche sakrale Dignität hergestellt wer‑ den konnte und welche Auswirkungen dieses auf die Machtverhältnisse in geist‑ lichen Dingen innerhalb Wittenbergs hatte, wobei besonders das Verhältnis von politischer und religiöser Symbolik thematisiert wird.
2.2. Wie erschafft man einen Zentralort von sakraler Dignität? Für den Ausbau Wittenbergs zu einem zentralen, überregional bekannten Ort des Heils betätigte sich Friedrich der Weise auf den folgenden Gebieten: Grund‑ lage war zunächst der Bau der Schlosskirche und Aufbau des Heiltums selbst durch das Sammeln von Reliquien und anderen Kunstgegenständen. Ihren voll‑ Dimension von Residenzen, in: Ders. (Hg.): Residenzen. Aspekte hauptstädtischer Zentra‑ lität von der Frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie, Sigmaringen 1992, S. 159–187. 237 Vgl. Birgit Studt: Artikel „Residenz“ in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Stuttgart 1999, Sp. 756–757. 238 Vgl. Andreas Meinhardi: „Dialogus illustrate ac augustissime urbis Albiorene vulgo Wittenberg dicte […]“, Leipzig 1508. Hier verwendet nach der deutschen Übersetzung von Martin Treu (Hg.): Andreas Meinhard, Über die Lage, die Schönheit und den Ruhm der hochberühmten Stadt Alboris, gemeinhin Wittenberg genannt, Leipzig 1986, S. 142. 239 So lautet der Titel des siebten Kapitels, ebd., S. 131. 240 Vgl. zu diesem von der Residenzenforschung eher wenig beachteten Aspekt Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 666–677.
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ständigen sakralen Wert erhielten Kirche und Heiltum jedoch erst durch Ab lassprivilegien, welche die Gewährung eines bestimmten Quantums an Ablass für den Besuch der Schlosskirche oder die Anwesenheit bei der Zeigung des Heiltums ermöglichten. Die liturgische Ausgestaltung der Schlosskirche er‑ folgte schließlich mit der Errichtung von Stiftungen, welche die tägliche gottes‑ dienstliche Praxis in der Kirche gewährleisteten und gleichzeitig auf den Stif‑ ter verwiesen. 2.2.1. Reliquien und Ablassprivilegien: Der Aufbau und Ausbau des Heiltums Materielle Grundlage der Heiltumsweisung und des Ablasses war die umfang‑ reiche Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen. Die hohe Zahl der Tage an Ablass, die bei der Wittenberger Heiltumsschau erlangt werden konnte, stand in direktem Zusammenhang mit der Anzahl der gezeigten Reliquien und war an die Anwesenheit bei der Heiltumsschau gebunden. 241 Obwohl einzelne Re‑ liquien schon aus früheren Zeiten stammen, wie zum Beispiel ein Daumen der Heiligen Anna, den Friedrich der Weise von seiner Reise ins Heilige Land mit‑ gebracht hatte, 242 begann der Kurfürst erst relativ spät, nämlich im Zusammen‑ hang mit dem Ausbau Wittenbergs als Zentralort, seine Reliquiensammlung planmäßig auszubauen. Zu diesem Zweck erwirkte er 1507 auf dem Konstanzer Reichstag ein päpstliches Breve, das Bischöfe und Prälaten des Reiches auffor‑ derte, ihm Heiltümer aus ihrem Besitz zu geben. 243 Ab 1510 ist die umfangrei‑ che Korrespondenz im Zusammenhang mit Reliquienerwerbungen überliefert. Diese Briefe wurden von Paul Kalkoff und neuerdings noch einmal von Stefan Laube detailliert ausgewertet und müssen daher hier nicht näher besprochen werden.244 Insgesamt kann hier festgehalten werden, dass das Heiltum äußerst schnell wuchs, wie anhand der von Spalatin erstellten Heiltumsregister und des Heiltumsbuchs von 1509 leicht nachzuvollziehen ist: Wurden in der ältesten Aufstellung von 1506 erst 80 Reliquiare verzeichnet, so nennt die jüngste Auf‑ zeichnung aus dem Jahr 1520 eine Zahl von 18.970 Reliquien und Partikeln, für 241 Vgl.
Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 408. Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 355. 243 So formulierte es die Ablassurkunde Peraudis, vgl. Anmerkung 210; vergleichend mit der Hallenser und Magdeburger Heiltumsweisung dazu Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 408. 244 Vgl. Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 68; Stefan Laube: Zwischen Hybris und Hybridität. Kurfürst Friedrich der Weise und seine Reliquiensammlung, in: A ndreas Tacke (Hg.): „Ich armer sundiger Mensch“. Heiligen‑ und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter, Göttingen 2006, S. 170–207. Kritisch sei jedoch auf die These Laubes hingewiesen, der Fürst habe mit seinen Reliquienerwerbungen beispiellosen Umfangs eine „Sammelleidenschaft“ entwickelt, die von jedem „Bezug zum Inhalt entkop‑ pelt“ worden sei, vgl. ebd., S. 172. Eine solche abwertend anmutende Beurteilung der Motive des Kurfürsten scheint aus den vorhandenen Quellen kaum belegbar. 242 Vgl.
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die Spalatin ein Ablassquantum von 1.902.202 Jahren, 270 Tagen und 1.915.983 Quadragenen errechnete. 245 Neben der heilbringenden Wirkung durch Ablässe für die Bevölkerung wurde das Heiltum auch Gästen des Hofes gezeigt, wie der Reisebericht des bayerischen Adeligen Hans Herzheimer belegt.246 Herzheimer hatte zwei sei‑ ner Söhne an die Universität Wittenberg und einen weiteren Sohn nach Ingol‑ stadt zum Studium gesandt. 247 Nachdem er 1518 nach dem Tod Maximilians I. aus dem kaiserlichen Dienst ausgeschieden war, beschloss er, seine Söhne zu be‑ suchen. Er erreichte Wittenberg im Februar 1519, wo er zunächst gemeinsam mit Friedrich dem Weisen an den Trauerfeierlichkeiten für Kaiser Maximilian teilnahm. Herzheimer beschreibt dabei detailliert die Reliquien, als deren be‑ deutsamste er den Daumen der Heiligen Anna nennt, erwähnt die Herkunft ei‑ niger und widmet daneben einen eigenen Absatz ihren wertvollen Fassungen. Das Heiltum scheint bei seinem Besuch fast vollständig gewesen zu sein, denn er nennt eine Anzahl von 18.652 Reliquien und Partikeln. 248 Zu überregionaler Bedeutung gelangte die Reliquiensammlug vor allem in Zusammenhang mit dem immateriellen Wert an Ablässen, der mit ihr verbun‑ den war. Auch unabhängig von dem Bau der Schlosskirche hatte Friedrich der Weise sich bereits seit dem 15. Jahrhundert bemüht, Ablässe auf seinem Gebiet zu monopolisieren und damit die Abgaben seiner Untertanen für fremde Ab‑ lässe möglichst gering zu halten. Für diese Politik der sächsischen Fürsten gibt es zahlreiche Beispiele. 249 Der bekannteste Ablass, den beide Fürsten in ihren Territorien nicht zuließen, ist wohl der Mainz‑Magdeburgische Ablass, des‑ sen Verkündigung durch den Johann Tetzel Luthers Thesenanschlag ausgelöst haben soll. Während Kursachsen hier argumentieren konnte, der Kaiser habe 245 Das Anwachsen des Heiltums nach den genannten Quellen dokumentierte ausführlich bereits Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 64–66 und Wentz: Kollegiatstift Al‑ lerheiligen, S. 105, ebenfalls Laube: Hybris, S. 182–184, eine zusammenfassende Darstellung unter Berücksichtigung aller verfügbaren Überlieferungen findet sich bei Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 410. 246 Der Reisebericht ist Teil einer 300 Folioseiten umfassenden Chronik Hans Herzhei‑ mers der Jahre 1514–1519 und liegt handschriftlich in der Kunstblättersammlung des Museum für angewandte Kunst in Wien vor (ohne Signatur). Die Beschreibung des Wittenbergaufent‑ haltes findet sich auf Bl. 271r‑292v. 247 Eine kurze Einführung zu Herzheimer und Beschreibung der Handschrift bietet Karl Amon: Hans Herzheimer in Wittenberg 1518/19, in: Remigius Bäumer (Hg.): Re‑ formatio ecclesiae. Festschrift für Erwin Iserloh, Tübingen 1977, S. 301–319, hier S. 301–307. 248 Vgl. Herzheimer: Reisebericht, Bl. 272v. 249 Bei der Entscheidung über die Zulassung von Ablässen spielten teilweise die schon im letzten Kapitel diskutierten personellen Beziehungen eine Rolle. So ließ Friedrich der Weise 1504 den Ablass des Deutschen Ordens in Livland zu, nachdem ihn sein Bruder, Erzbischof Ernst von Magdeburg, dazu aufgefordert hatte, vgl. Nikolaus Paulus: Johann Tetzel als Ablassprediger, Mainz 1899, S. 10 ff. Beispiele für eigene Ablässe nennt Kirn: Friedrich der Weise, S. 124.
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diesen Ablass nicht genehmigt, 250 war der Türkenablass, den Peraudi 1502 ins Land brachte, bereits vom Reich angenommen. Mit der Weihe der Wittenberger Schlosskirche und dem dazugehörigen Ablass blieb Friedrich dem Weisen nur noch, die Anwesenheit des Legaten bestmöglich für sein Land zu nutzen.251 Der Gewinn dieser Ablasspolitik war zunächst ein finanzieller, denn auf diese Weise blieb das Geld der Untertanen im Land und konnte für eigene Zwecke verwen‑ det werden. Bereits der Kirchenhistoriker Paul Kirn warnte jedoch, man habe „kein Recht“, „den Erwerb von Ablässen nur auf materielle Absichten, die da‑ ran ohne Zweifel auch beteiligt sind, zurückzuführen“. 252 Auch wenn über die wahren Glaubensüberzeugungen des Kurfürsten, auf die Kirn sich besonders bezieht, auf Grundlage der vorhandenen Quellen kaum mehr zu entscheiden ist, lassen sich dennoch auch weitere Ebenen der Wirkung dieser Ablässe nen‑ nen, welche über einen rein finanziellen Nutzen hinausgehen. So brachte die Monopolisierung von Ablässen die Möglichkeit für die Untertanen, das Heil im eigenen Territorium zu erlangen. Allgemeiner gesprochen, gelang es dem Fürs‑ ten auf diese Weise, Einheit in seinem Territorium herzustellen und das Streben der Untertanen nach dem Heil auf die Zentralpunkte seiner Herrschaft hin aus‑ zurichten. Bereits in der von Peraudi ausgestellten Urkunde sind beide Aspekte erkennbar: Um den Ablass zu erhalten, sollten die Gläubigen neben dem Be‑ such der Reliquienausstellung auch vor der Reliquie des heiligen Dorns von der Krone Christi für die Herzöge Friedrich und Johann beten, andererseits brachte der Ablass mit der Beisteuer zum Kirchenbau finanziellen Nutzen. 253 Dieses Bestreben des Kurfürsten, Ablässe in seinem Territorium zu zentrieren, ist je‑ doch nicht in einem einseitig‑funktionalen Sinne zu verstehen, denn nicht zu‑ fällig legte der Kurfürst auf gerade diese Elemente der Herrschaftsrepräsenta‑ tion und Stiftung territorialer Einheit besonders viel Wert: Sie entsprachen dem Verständnis des christlichen Fürsten, welcher auch in geistlichen Dingen für das Wohl seiner Untertanen sorgte. 254 Im Bezug auf die Frage nach der Aus‑ handlung geistlicher Definitionsmacht kann diese Politik als einer von vielen Schritten auf dem Weg zur Einung der Stadtgemeinschaft in der religiösen Pra‑ xis festgehalten werden, welche gleichzeitig eine Zentrierung derselben auf den Kurfürsten als Stadtherrn bedeutete. Besonders deutlich wird dieser Aspekt 250 Vgl. Felician Gess (Hg.): Briefe und Aktenstücke zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 1: 1517–1524, Leipzig 1905, Einleitung, S. 67–80. 251 Vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 123. 252 Ebd. 253 Ebd. 254 Ein frühes Beispiele dieser Politik bildet ein Ausschreiben des Kurfürsten vom 30. April 1490, worin er seine Amtsleute und Untertanen zu Gebeten und Prozessionen für eine gute Ernte auffordert: T hHStA Weimar, EGA, Reg. Rr 317, Bl. 4, abgedruckt bei Kirn: Friedrich der Weise, S. 178. Ein weiteres Beispiel ist ein 1513 gemeinsam mit Herzog Georg von Sachsen erlassenes Mandat gegen Gotteslästerung und das Zutrinken: T hHStA Weimar, EGA, Reg. Rr 353, Bl. 104.
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auch anhand der Gestaltung des Heiltumsbuches, dessen Titelbild nicht etwa das Heiltum, sondern ein Doppelbildnis der sächsischen Fürsten zeigte, und in dessen zweiter Auflage sogar auf der letzten Seite eine Kreuzig ungszene heraus‑ genommen wurde, um noch ein Wappen abbilden zu können. 255 Nachdem Heiltum und Heiltumsschau in den ersten Jahren des 16. Jahrhun‑ derts begründet worden waren, bemühte sich der Kurfürst in den folgenden Jahren aktiv und erfolgreich, weitere Reliquien und Ablässe für die Wittenber‑ ger Schlosskirche zu erwerben und damit den Wittenberger Gnadenschatz zu erhöhen. 1510 bestätigte Papst Julius II. in der Bulle „Pastoris aeterni“ den so‑ genannten „Portiuncula‑Ablass“, der 1402 allgemein widerrufen worden war, und erweiterte ihn gleichzeitig auf eine beliebige Anzahl von Beichtvätern. 256 Es handelte sich dabei um einen besonders prestigeträchtigen Ablass, mit dem Friedrich der Weise zu diesem Zeitpunkt schon werben ließ, es gebe ihn sonst nur in Assisi und in dem schwedischen Ort Vaalstend in der Kapelle der heili‑ gen Brigitte. 257 Diese Bewertung war offensichtlich übertrieben, denn gerade Bonifaz IX. gewährte solche Plenarindulgenzien in inflationärer Weise.258 Eine erneute päpstliche Bestätigung erschien also dringend geboten. Durch diese wurde der Ablass für eine noch höhere Anzahl von Pilgern zugänglich und das Allerheiligenfest zum zentralen Termin der Wittenberger Heiltumsschau. Wie oben gezeigt, weist die Tatsache, dass man sich erst jetzt um die Er‑ neuerung eines bereits seit mehr als 100 Jahren ungültigen Ablasses kümmerte, darauf hin, dass die Heiltumsweisungen für den Anfang des 16. Jahrhunderts neuartige Ereignisse in Wittenberg waren. Für die Neuheit dieser Vorgänge spricht auch, dass die rechtliche Stellung der Schlosskirche und des Heiltums den Beteiligten selbst in hohem Maße unklar war. Um Klarheit über den Um‑ fang der Privilegien aus der Zeit der Askanier zu erhalten, ließ der Kurfürst daher seinen Rat Wolfgang Reißenbusch aus den vorhandenen Urkunden ein Gutachten erstellen, was dieser im Juli 1512 vorlegte. 259 Doch selbst der gelehrte Jurist Doktor Reißenbusch konnte auch nach der Lektüre der vorhandenen Ur‑ kunden weiterhin nicht mit Sicherheit einschätzen, ob die Ablässe des Stiftes kirchenrechtlich noch gültig waren. Er vermutete jedoch, die alten Ablassprivi-
255
Eisermann: Heiltumsbücher, S. 50. Bulle „Pastoris aeterni“ Julius’ II. über den Allerheiligen‑Ablass, Rom, 8. April 1510, teilweise gedruckt bei Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 94–95; vgl. auch Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 108. 257 So heißt es in der genannten Wittenberg‑Werbeschrift für zukünftige Studenten, vgl. Meinhardi: „Dialogus Illustrate“, S. 154. 258 Vgl. Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 405 mit Verweis auf Karlheinz Frankl: Papstschisma und Frömmigkeit. Die „Ad‑instar‑Ablässe“, in: Römische Quartalsschrift 72 (1977), S. 57–124 und S. 184–247, dort bes. S. 109–112. 259 Gutachten des Dr. Reißenbusch über die Ausnutzung des Allerheiligen‑Ablasses, An‑ fang Juni 1512, gedruckt bei Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 97–98. 256
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legien hätten ihre Geltung verloren, da die Kirche verändert und versetzt wor‑ den war. Gleichzeitig glaubte er zwar, dass das Stift bereits früher in Rom um eine Bestätigung der Privilegien gebeten hatte, wovon jedoch wiederum keine Aufzeichnungen existierten. Eine erneute Bestätigung erschien ihm also not‑ wendig. Ebenso wenig Klarheit konnte er aus den vorliegenden Akten über den kirchenrechtlichen Status der Stadt Wittenberg insgesamt erlangen und er schlug daher vor zu „suppliciren, dass die stadt widder exempt wurde und kei nen obergeistlichen richter erkennet dan den probst doselbigst und den papst, wi sie dan, als ich hor, vorgewest ist“.260 Über die rechtliche Lage gab es also auch in diesem Punkt nur unsicher tradiertes Wissen. Nun sollte sie durch päpstliche Bestätigungen verschriftlicht und damit abschließend zugunsten des Kurfürs‑ ten gegenüber dem Diözesanbischof entschieden werden. Neben der Unsicherheit über die rechtliche Lage zeigen die Vorschläge Reißenbuschs auch, dass die von lokalen geistlichen Amtsträgern verhängten Kirchenstrafen des Interdikts oder der Exkommunikation in Kursachsen weit verbreitet waren. Ebenso wie der Wittenberger Rat erkannte Reißenbusch diese bis zu einem gewissen Grad an, denn er betrachtete sie als Problem, das es auf kirchenrechtlichem Wege zu umgehen galt. Seine Vorschläge dazu bezogen sich sowohl auf die konkrete Situation in der Stadt Wittenberg, durch deren Exemp‑ tion „das folk von vil bands, citation und geistlicher beschwerung der bischof und official entlediget“, als auch auf mögliche Pilger. So schlug er vor, das Ab‑ lassprivileg um die päpstlichen Reservatfälle ausweiten zu lassen, so dass auch diejenigen, die von Kirchenstrafen „als mit excommunication, interdict, suspen sion etc.“ behaftet sind, den Ablass erhalten konnten. 261 Damit waren die Ein‑ flussmöglichkeiten der Diözesanbischöfe auf die Seelen maximal beschränkt: Das Heil war nun ungeachtet der von ihnen verhängten Strafen durch päpstliche Gnaden im kurfürstlichen Allerheiligenstift zu erlangen. Weitere Vorschläge Reißenbuschs zielten wiederum darauf, immer größere Massen von Pilgern be‑ wältigen zu können. War die Anzahl der Beichtväter schon 1510 auf eine be‑ liebige Anzahl erhöht worden, so sollten nun auch Priester mit minderen Ge‑ lübden den Pilgern die Beichte abnehmen dürfen. Schließlich schlug Reißen‑ busch noch die Supplikation um ein finanziell nützliches Privileg vor, wonach man sich mit zu Unrecht erworbenen Gütern, deren Besitzer nicht ausfindig ge‑ macht werden konnte, der Kirche zuwenden konnte. 262 Gegen eben diese Pra‑ xis wendete sich Luther wenige Jahre später als besonderen Missbrauch kirchli‑ cher Macht. Er wagte es jedoch offensichtlich nicht, das Wittenberger Heiltum
260
Ebd., S. 98. Gutachten des Dr. Reißenbusch über die Ausnutzung des Allerheiligen‑Ablasses, An‑ fang Juni 1512, gedruckt bei Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 97–98, hier S. 98. 262 Ebd. 261
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direkt zu kritisieren und bezog seine Kritik auf das Hallesche Heiltum, welches über ein solches Privileg gar nicht verfügte. 263 Die Vorschläge Reißenbuschs wurden in Rom verhandelt und schließlich 1516 durch Papst Leo X. bestätigt, 264 jedoch erst 1518 zusammen mit der Gol‑ denen Rose in Altenburg den kurfürstlichen Räten übergeben. 265 Damit erhielt die Stellung Wittenbergs als sakrales Zentrum von überregionaler Bedeutung eine erneute päpstliche Bestätigung, welche die heilbringende Wirkung der bei‑ den religiösen Großereignisse der Heiltumsweisungen am Sonntag nach Mi‑ sericordias Domini und am Allerheiligentag für noch mehr Pilger zugänglich und von allen denkbaren Einflussmöglichkeiten der Diözesanbischöfe unab‑ hängig machte. Insgesamt war dies jedoch nur eine Erweiterung bestehender Privilegien, und es ist davon auszugehen, dass der Beginn der Wittenberger Heiltumswei‑ sung als religiöses Großereignis mit überregionaler Wirkung bereits mit der päpstlichen Bestätigung von 1510266 anzusetzen ist: Bereits kurze Zeit später er‑ ließ der Kurfürst ein Ausschreiben an Amtsleute und Adelige seines Kurfürs‑ tentums, mit dem diese die Heiltumsschau und die damit verbundenen Ablass gnade in der Bevölkerung bekannt machen sollten.267 Zudem ließ er durch sei‑ nen Bruder Ernst, Erzbischof von Magdeburg, und den Bischof von Meißen dafür sorgen, dass Nachricht von den neuen Wittenberger Gnaden durch die Pfarrer auf den Kanzeln verbreitet wurde. 268 Über den Ablauf der Wittenberger Heiltumsweisung ist nur das Folgende bekannt: Sie fand auf dem Platz vor der Schlosskirche statt und war damit auch ein städtisches Großereignis. Zunächst erfolgte eine feierliche Verkündi‑ 263 Vgl.
Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 27. Bulle „De Salute Gregis“ vom 31. März 1516 dehnte den Ablass zu Allerheiligen auf die ganze Oktave des Allerheiligenfestes aus, gestattete die Absolution in päpstlichen Reservatfällen bis auf wenige Ausnahmen, ebenso das Behalten von unrechtmäßig erwor‑ benem Gut. Abschrift Spalatins in: T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 219, Bl. 39r‑42v. Regest bei Kalkoff: Forschungen, S. 63. Die Bulle „Illius qui pro“, die ebenfalls vom 31. März 1516 datiert, bestätigt den von Raimundo Peraudi verkündeten Ablass für den Montag nach Mise‑ ricordias Domini, weitet diesen auf sechs weitere, vom Kurfürsten zu bestimmende Tage aus und erhöht das Ablassquantum um 100 Tage und ebenso viele Quadragenen für jede Reliquie, Abschrift Spalatins in T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 219, Bl. 37–39, gedruckt bei Kalkoff: Forschungen, S. 184–187. 265 Vgl. Wentz: Kollegiatstift, S. 110. 266 Vgl. oben S. 73. 267 Ausschreiben Friedrichs des Weisen an Adelige und Amtsleute, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Q 126a. 268 „Befehl Erzbischof Ernsts zu Magdeburg an alle Geistlichen seiner Diözese ihre Pfarr kinder zu ermahnen dass sie den alljährliche Montags nach Misericordias domini zu veran staltenden Umgängen mit den Reliquien in der Allerheiligenstiftskirche zu Wittenberg we gen des damit verbundenen reichlichen Ablasses fleißig und andächtig beiwohnen möchten,“ 6. März 1510, UAH, Urkunden. II, Nr. 87. Dieselbe Urkunde, ausgestellt von Bischof Johann von Meißen, Stolpen, 14. März 1510, UAH, Urkunden II, Nr. 88. 264 Die
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gung des Ablasses, der für die Anwesenheit bei der Präsentation der Reliquien erlangt werden konnte. 269 Anschließend wurden die Reliquien in einer be‑ stimmten Reihenfolge den Pilgern vorgeführt, wobei ihre Herkunft und das Leben der Heiligen, von denen sie stammten, erläutert wurden. Ebenfalls geht aus dem überlieferten Heiltumsregister hervor, dass die Reliquien in ihren Be‑ hältern von den „vornemste person“ der Kirche, also vermutlich den Mitglie‑ dern des Stiftskapitels und Priestern, in der Hand gehalten und dabei dem Volk vorgeführt wurden. 270 Ausdrückliche Angaben darüber, wie viele Pilger tatsächlich nach Witten‑ berg kamen, existieren nicht, es gibt jedoch mehrere Hinweise, die für den Er‑ folg der Werbemaßnahmen des Kurfürsten sprechen. So schrieben die Stiftsher‑ ren 1513, der „concurs, der zwei mal im Jahr stattfindet“, finde großen Zuspruch bei auswärtigen Gästen. 271 Von einem Pilgerstrom nach Wittenberg zeugt auch die Tatsache, dass 1513 die Landstraßen um Wittenberg zur Zeit der Heiltums‑ weisung bewacht wurden, um die Pilger auf ihrem Weg dorthin zu schützen.272 Und schließlich zeugt auch eine Beschwerde des Bischofs von Brandenburg im Jahr 1517 von einem großen Pilgerstrom nach Wittenberg, der monierte, dass so viele Pilger aus seiner Diözese den Ablass dort suchten, dass andere, lokale Heilsangebote darunter litten. 273 2.2.2. Die neue Schlosskirche und ihre sakrale Ausstattung mit Stiftungen Den zweiten Bereich der Betätigung der Kurfürsten neben Heiltum und Ab‑ lass für den Ausbau Wittenbergs als Ort des Heils bildeten die Errichtung der 1503 durch Peraudi geweihten Schlosskirche und ihre Ausstattung mit Stiftun‑ gen. Auch für den Bau von Schloss und Schlosskirche galt Halle mit der Mo‑ ritzburg neben der Albrechtsburg in Meißen als Vorbild. Die Schlosskirche 269 „Register
der Heiligthümer in der Stiftskirche zu Wittenberg in den 12 Gängen“, hHStA Weimar, EGA, Reg. O 211; „Ordnung in welcher das Heiligthum in Wittenberg T Montag nach Misericordias Domini gezeigt wird“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 212. Zu den Heiltumsregistern vgl. auch Fritz Harksen/Marieluiese Bellmann: Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg, Weimar 1979, S. 260–264. 270 Ebd. 271 Kühne: Ostensio Reliquiarum, S. 419. 272 Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 356 zeigt dieses anhand von Rechnungsposten: 1. November 1512: Verpflegungsgeld für Edelleute und Schulzen in Marzahna; 10. April 1513: Verpflegungsgeld für Edelleute aus Wittenberg, die drei Tage und Nächte auf den Straßen ge‑ streift hatten. Solche Wachen wurden noch 1520 entlohnt: Sieben Reiter, welche die Grenze und Felder zu Marzahna und Wittenberg in der Zeit der „Zeigung“ schützten, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. Bb 2773, Bl. 38v. 273 Ratschlag des Dr. Heinitz an Friedrich den Weisen, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. B 1106, Bl. 113r., „der artikel in der brandenburgischen sache so jungst zu Witen berg gehandelt, so ist under den eiyner gewesen, des gefangen der sich vor eyn clerick ausge geben […] sey hyngelegt und vortragen, derhalben ferners handels von unnoten“. Vgl. zum Hintergrund dieses Dokumentes oben, S. 58.
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wurde äußerst prächtig gestaltet, allein ihre innere Ausstattung kostete den Kurfürsten 200.000 Gulden. 274 Ebenso wie die Heiltumsweisung ließen viele Elemente der Ausstattung der Schlosskirche den Bezug zum Stifter klar er‑ kennen, so kann etwa anhand von Rechnungen belegt werden, dass das kur‑ fürstliche Wappen in den farbigen Glasfenstern der Kirche dargestellt war. 275 Auch der bereits genannte bayerische Adelige Herzheimer beschrieb die präch‑ tige Ausstattung der Kirche in einem Kapitel seines Reiseberichtes unter dem Titel „von der solskirichen zier“. Dabei widmete er jeweils einen eigenen Ab‑ schnitt den „khunstlichessten schonen tafelln“, also den Altaraufsätzen, ebenso den „schon ornaten“, also den liturgischen Gewändern, die ihm in der Sakristei gezeigt wurden, und zeigte sich beeindruckt von der Vielzahl von Altären und Emporen. 276 Die Schilderung Herzheimers lässt zwei Aspekte erkennen, die anschei‑ nend im Mittelpunkt der Führung standen, die er durch Spalatin erhielt und die dem Hof bei der Präsentation der Kirche offenbar besonders wichtig waren: Er nannte die Elemente der Ausstattung der Schlosskirche erstens jeweils im Zusammenhang mit dem Kurfürsten als Stifter, etwa seien die Altartafeln „ir. churf. gn. aus weitten und frembden kunigkreichen geschickt worden“, 277 und stellte sie zweitens in den Zusammenhang ihrer liturgischen Bedeutung: Die Vielzahl der Ornate und Altartücher in der Sakristei dienten ebenso wie die vie‑ len Altäre mit den prächtigen Altaraufsätzen und Emporen dazu, eine ununter‑ brochene Abfolge von Messen zu gewährleisten, die sich zeitlich über Tag und Nacht und räumlich über die gesamte Schlosskirche erstreckten: „Also so die auf dem Cleynen Chor hinden im thuem ir zeitten geendet haben, so heben die auf dem vorderen chor ir tagzeiten alsdan auch an: und also singen sie endzbischen[?] fur und fur alle tag ire tagzeiten“. 278
Grundlage dieser täglichen Horen und Messen waren Stiftungen des Kurfürs‑ ten, mit denen er die Schlosskirche in den ersten Jahrzehnten ausstattete. 1505 wurde der so genannten „kleine Chor“ fertiggestellt, der unter der Empore der Schlosskirche lag. 279 Die liturgische Funktion des Chores wurde in der Stif‑ tungsurkunde vom 11. November 1506 festgelegt und konzentrierte sich auf den Marien‑ und Annenkult. 280 Zur Ausführung der gestifteten Messen wurden vier neue Priester eingestellt, von denen einer zugleich Organist war, sowie 274
Vgl. dazu im Einzelnen Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 98–99.
275 Ebd. 276
Herzheimer: Reisebericht, Bl. 271v‑272r. Ebd, Bl. 271v. 278 Ebd. 279 Vgl. Bischoff: Einrichtung. 280 Vgl. auch zum Folgenden: Stiftungsurkunde in Buchform, unterschrieben von Fried‑ rich dem Weisen und seinem Bruder Johann, Coburg 11. November 1506, Regest bei Israel: Universitätsarchiv, S. 62–66. 277
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vier Chorschüler. Die Stiftung beinhaltete nach der Stiftungsurkunde täglich verschieden gesungene und gelesene Marienmessen zu bestimmten Tagzeiten. Zusätzliche Messen gab es an zahlreichen Marienfeiertagen. Jeweils dienstags nach der Marienmesse sollten die Reliquien der heiligen Anna in einer Prozes‑ sion der Chorschüler auf den Altar im kleinen Chor getragen und darauf hin die Messe der heiligen Anna unter Orgelbegleitung gehalten werden. Finanziert wurde die neue Stiftung laut Stiftungsurkunde aus dem Schoss oder aus Teilen des Schosses der umliegenden Dörfer, sowie aus deren Naturalabgaben. Eine Abschrift der Stiftungsurkunde wurde in der Kirche neben dem Chor auf einer Tafel angebracht und mit einer Kette befestigt, so dass die sächsischen Fürsten als Stifter für jeden Besucher der Schlosskirche erkennbar waren. 281 Gleichzeitig wurde die Schlosskirche auch als Begräbnisort der sächsischen Fürsten ausgestaltet. Zu diesem Zweck enthielt die Stiftungsurkunde des klei‑ nen Chores eine Stiftung von vier Quatemberbegängnissen des großen und kleinen Chores für die Mitglieder des Fürstenhauses, die an den vier Bußtagen (Quatemben) des Kirchenjahres stattfanden. 282 Am Mittwoch der Quatember sollten beide Chöre eine Vigilie singen, am Donnerstag sollte im großen Chor das Seelamt abgehalten werden, wobei das Grabmal mit 36 anderthalb Pfund schweren Kerzen mit den Wappen von Sachsen, Thüringen und Meißen um‑ stellt werden sollte. Das gesamte Stiftspersonal war an den Quatemberbegäng‑ nissen, bei denen insgesamt 60 Seelämter gelesen werden sollten, beteiligt und erhielt jeweils drei rheinische Gulden als Präsent. Am Quatember‑Donnerstag sollten Geld und Lebensmittel an die Armen verteilt werden. 283 Diese Begäng‑ nisse entsprachen wiederum der Funktion der Schlosskirche als Residenzkir‑ che und begründeten mit dem Verweis auf die Vorfahren der Dynastie in den Wappen eine neue Tradition der Wittenberger Schlosskirche als Grabstätte der Ernestiner. Der Gottesdienst im Allerheiligenstift wurde in den folgenden Jahren durch zahlreiche weitere Stiftungen und weiteres Personal noch erheblich ausgewei‑ tet. Eine Zusammenfassung der ersten Stiftungen durch die Fürsten Friedrich und Johann von Sachsen findet sich in der bereits genannten Bulle Julius’ II., der die Stiftungen schriftlich bestätigte. 284 Ebenso wie bei den Ablässen zur Schau des Heiltums ließ der Kurfürst auch die Stiftungen erst nach dieser päpst‑ lichen Bestätigung öffentlich in Wittenberg bekanntmachen. 285 Es folgte 1511 281
Wentz: Kollegiatstift, S. 100 zeigt anhand von Rechnungen, dass dieses tatsächlich ausgeführt wurde. 282 Die vier Bußtage sind jeweils der erste Sonntag der Fastenzeit, der Sonntag nach Pfingsten, das Fest der Kreuzeserhöhung am dritten Septembersonntag und der dritte Ad‑ ventssonntag. 283 Urkunde vom 9. April 1514, Regest bei Israel: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 77–79. 284 Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 95–97. 285 Friedrich der Weise an den Rat der Stadt Wittenberg, 1511, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 166, ein Blatt.
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die Stiftung zum Begängnis der heiligen Leiden Christi, welche die Wittenber‑ ger Klöster in den Gottesdienst am Stift mit einbezog, denn die jeweils freitags zu singenden vier Messen waren im Sommer von den Augustinern und im Win‑ ter von den Franziskanern zu halten. 286 Weitere Begängnisse wurden für zahl‑ reiche Heiligenfeste gestiftet, darunter besonders die kurfürstlichen Patrone Se‑ bastian, R ochus und St. Hiob. Die Marienfeste wurden durch weitere Gesänge und Messen aufgebessert, für sie stiftete der Kurfürst 1513 auch eine reich ver‑ zierte neue Marienstatue. 287 Kontinuierlich erweitert wurden auch die Begäng‑ nisse für die Eltern und Vorfahren des Kurfürsten mit neuen Seelämtern, Ker‑ zen und Spenden für Arme, womit die neu begründete dynastische Tradition der Herrschaft der Wettiner auch in den täglichen liturgischen Abläufen immer mehr sichtbar und präsent wurde. Lagen die Schwerpunkte der Stiftungen bisher auf dem Marien‑ und Annen‑ kult, so kam in der folgenden Zeit die Passion Christi durch zwei neue Stiftun‑ gen als weiteres entscheidendes Element hinzu. 1517 errichtete der Kurfürst die „Stiftung der Abnahme des Bildnisses unseres lieben Herrn und Seligmachers vom Kreuz“, auf die 1519 die „Stiftung zur Betrachtung der heilwertigen Lei‑ den Christi“ folgte, anhand derer im Folgenden die rituellen Abläufe der Stif‑ tungen im Einzelnen beispielhaft näher zu betrachten sind. Für die Ausstattung der Schlosskirche mit Stiftungen insgesamt ist festzustellen, dass deren erklär‑ tes Ziel eine möglichst dichte und lückenlose Abfolge von Messen und sonsti‑ gen liturgischen Handlungen war, welche über die Kirche verteilt an verschie‑ denen Altären in der Schlosskirche stattfinden sollten. Eine Lücke in diesem Ablauf wurde geradezu als ein Missstand angesehen, den es zu beheben galt: So bemängelte Spalatin in einem Bericht an den Kurfürsten über den allgemeinen Zustand der Schlosskirche neben Trunkenheit des Küsters und baulichen Män‑ geln auch, dass zwischen der Frühmesse und dem „Amt unserer lieben Frau“ keine Messe in der Kirche gehalten werde. 288 Um solche Missstände zu beheben, gründete der Kurfürst 1518 noch einmal eine Stiftung. Diese bereits dem Na‑ men nach eher unspektakuläre „Stiftung von den 4 neuen Priestern“ war kei‑ nem besonderen Heiligen oder sonstigen Kult gewidmet, sondern diente eher dazu, die Lücken im Gesamtkonzept der Messen in der Schlosskirche zu füllen, indem sie diesem jeweils weitere vier Messen mittwochs, donnerstags, sams‑ tags und sonntags hinzufügte. 289 Und so konnte bereits im folgenden Jahr Hans 286 Vgl.
Wentz: Kollegiatstift, S. 101.
287 Ebd.
288 Bericht durch [Spalatin] und Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 1517, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 181, Bl. 6r‑7v, hier 7v. 289 „Stiftung von den 4 Neuen Priestern am Sonntag, Mittwoch, Donnerstag und Samstag in der Stiftskirche zu Wittenberg“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 222, Bl. 2–8 (Entwurf); Reg. O 158 „Von den vier Newen priestern auf den Sontag, Mitwoch, Donerstag und Sambs tag. In aller heylign kirchen ztu wittembergk alle donerstag, freytag und sonabend gehalten soll werden 1518“, Bl. 33–36 (Ausfertigung).
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Herzheimer bei seinem Besuch in Wittenberg von den ununterbrochenen Mes‑ sen, Gebeten und Gesängen in der Schlosskirche berichten.
2.3. Religiöse Ceremonien und Herrschaftsrepräsentation Die ununterbrochenen Messen, Psalmen und Gebete in der Schlosskirche waren Teil der Herrschaftsrepräsentation eines besonders christlichen Herrschers in seiner neuen Hauptstadt Wittenberg und wurden gegenüber wichtigen auswär‑ tigen Besuchern wie Herzheimer auch als solche genutzt. Eben dieses Grund‑ prinzip der liturgischen Gestaltung der Stiftungen an der Wittenberger Schloss‑ kirche sollte jedoch wenig später, beginnend bereits im Jahr von Herzheimers Besuch, grundsätzlich in Frage gestellt werden, mit nachhaltigen Folgen für die Diskussion um die Gestaltung kirchlicher Ceremonien in Wittenberg und da‑ rüber hinaus. Bevor diese Entwicklungen an der Wittenberger Schlosskirche anhand von zwei Beispielen im Einzelnen näher untersucht wird, ist das Prinzip der vielen Messen zunächst kurz mit seinen theologischen Grundlagen in Bezug zu setzen und kirchengeschichtlich vor dem Hintergrund der spätmittelalterli‑ chen Religiosität zu verorten. Diese Grundlagen des Bestrebens, möglichst viele Messen und Gebete lesen zu lassen, sind kirchenhistorisch im frühen Mittelalter zu finden. Wie beson‑ ders der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt vielfach gezeigt hat, liegen ihre Ursprünge in der Entwicklung des frühmittelalterlichen Klosterwesens unter Einfluss des irofränkischen Bußsystems. Auf dieses geht die häufige Beichte bei allen, und nicht nur besonders schweren, Vergehen zurück, ebenso die Möglich‑ keit der stellvertretenden Buße. 290 Da gleichzeitig die Klöster verstärkt von den Bischöfen unabhängig wurden und durch ihre eigene Weihehoheit immer mehr Priester weihen konnten, entstand das System von „Gabe und Gegengabe“, wel‑ ches für die mittelalterliche Kirche prägend werden sollte: Die Klöster wurden von laikalen Gemeinschaften zu Priesterkonventen und konnten so in großer Zahl Messen als Bußleistungen zelebrieren und dafür Opfergaben in Form von Geld und Land entgegennehmen. Im Gegenzug vollbrachten die Klöster dafür sowohl geistliche Fürbitten in Form von Messen und Gebeten wie auch mate‑ rielle Sühneabgaben, indem sie sich um die Armen kümmerten. 291 Indem das 290 Vgl.
speziell dazu: Arnold Angenendt: Stiftung und Fürbitte, in: Gudrun Litz/ Heidrun Munzert/Roland Liebenberg (Hgg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmig‑ keitstheologie, Leiden 2005, S. 3–15, hier S. 4–5; im Zusammenhang einer überblicksartigen Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Liturgie vgl. Arnold Angenendt: Liturgie im Mittelalter, in: Helwig Schmidt‑Glintzer (Hg.): Liturgie, Ritual, Frömmigkeit und die Dynamik symbolischer Ordnungen, Wiesbaden 2006; ausführlicher: Arnold Angenendt: Liturgik und Historik. Gab es eine organische Liturgie‑Entwicklung?, Freiburg 2001, S. 134– 140; Ders.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 31997, S. 373–378. 291 Angenendt: Stiftung, S. 6.
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Verständnis der Sühnewirkung bald auch auf die Toten ausgedehnt wurde, war die Grundlage für die Seelenmessen geschaffen. Dieses System des Tausches geistlicher gegen materielle Gaben führte von Anfang an zu Kritik, zu Begren‑ zungsversuchen und Gegenbewegungen, die jedoch punktuell blieben und das System insgesamt nicht zu verändern vermochten. 292 Für die mittelalterliche Religiosität hatte das vielfache Folgen, von denen ei‑ nige hier besonders relevant sind: Messe und Gebet erhielten auf diese Weise ei‑ nen Wert an sich und setzten bei korrekter Ausführung eine bestimmte Wir‑ kung frei. Folglich vergrößerte sich dieser Wert, je häufiger Messen gelesen wur‑ den. 293 Damit einher ging auch eine Neubewertung von Stundengebeten und der Messe als „Officium“, also als die pflichtgemäße Erfüllung eines Dienstes durch dafür bestimmte Priester.294 Immer stärker entwickelte sich so auch die Auffassung eines „selbstwirksamen Kultes“: Danach kam es bei den als Sühne‑ leistungen für den Stifter vollzogenen Messen nicht auf die innere Zustimmung oder Teilnahme des Priesters oder des Stifters an, sondern die Wirksamkeit der gelesenen Messe schöpfte sich immer stärker aus ihrer „objektiven“, äußerlich korrekten Ausführung. 295 Durch den skizzierten Prozess der Ritualisierung im frühen Mittelalter, mit dem der objektive, äußerlich korrekte Vollzug gegenüber der subjektiven, inneren Beteiligung immer wichtiger wurde, verlor die Litur‑ gie ihren selbsterklärenden Charakter und musste in ihren einzelnen Bestand‑ teilen erläutert und gedeutet werden.296 Die mittelalterliche Messe wurde so von der Mysterienfeier, die in der unmittelbaren Erfahrung der göttlichen Präsenz im Sakrament aufging, immer mehr zur historischen Darstellung, indem ein‑ zelne Bestandteile der Messe Stationen des Lebens und der Passion Christi zu‑ geordnet wurden. 297
292
Ebd., S. 14.
293 Vgl. Arnold
Angenend: Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1–71. 294 Vgl. Angenendt: Liturgie im Mittelalter, S. 49. 295 Vgl. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität, Darmstadt 1997, S. 380 f. 296 Auf diese Weise entstand die Allegorese, die Erläuterung der Zeichen und Hand‑ lungen der Messe, welche von der Vorstellung eines göttlich eingestifteten Sinnes ausgeht, vgl. Angenendt: Liturgik und Historik, S. 139–144; Angenendt: Liturgie im Mittelalter, S. 50. 297 Vgl. zur historischen Bedeutung, die den einzelnen liturgischen Gesten unterlegt wurde: Rudolf Suntrup: Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in la‑ teinischen und deutschen Auslegungen der Messe des 9. bis 13. Jahrhunderts, München 1978; vgl. im Bezug auf die Bedeutung die Osterliturgie: Andreas Odenthal: „Surrexit Dominus vere“. Osterfeiern um das Heilige Grab als Ausdruck eines veränderten religiösen Empfin‑ dens im Mittelalter, in: Theologische Quartalschrift 189,1 (2009), S. 46–65, hier S. 58.
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Insgesamt entstand so immer stärker ein Verständnis der Liturgie zu einer „Verobjektivierung“ hin, in der die rechte Geste und das rechte Wort als ent‑ scheidend galten, der subjektive Anteil hingegen unbedeutend wurde. 298 Zu eben diesen Vorstellungen und Praktiken bildeten die Frömmigkeitsbewegun‑ gen des späten Mittelalters mit ihren „Verinnerlichungstendenzen“ eine Gegen‑ bewegung, die, wie die jüngere Reformationsforschung vielfach herausgestellt hat, wiederum in einer Kontinuität zur reformatorischen Ritualkritik steht.299 Wie Berndt Hamm gezeigt hat, führten diese Entwicklungen auch zu einem Zentrierungsschub der Frömmigkeit.300 Die Darstellung des Leidens Christi erschien so in besonderer Weise geeignet, den Verinnerlichungstendenzen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit zu entsprechen. 301 Der leidende Christus wurde zusammen mit Maria zur „normativen Zentralgestalt“ des ausgehenden Mittelalters. Ihren Ausdruck fand dies unter anderem in populären Passions‑ spielen ebenso wie in einer besonders ausdifferenzierten Passionsliturgie, die durch die im Folgenden zu diskutierenden beiden Stiftungen des Kurfürsten auch in der religiösen Praxis der Wittenberger Schlosskirche in den Mittelpunkt gerückt wurde. 2.3.1. Passionsfrömmigkeit: Die Karwoche zwischen Stadt und Hof Eine besondere Bedeutung der Passionsfrömmigkeit ist auch in Wittenberg festzustellen, gerade die Karwoche wurde in der Stadt und am Hof mit großem Aufwand begangen. Mit der „Abnehmung des Bildnis unseres lieben Herrn und Seeligmachers und der Besuchung des Grabes von den 14 Mannspersonen zu Wittenberg“ errichtete der Kurfürst 1517 eine Stiftung, welche fortan die Gestaltung der Karwoche in der Wittenberger Schlosskirche prägen sollte.302 Solche „Kreuzesabnahmespiele“ sind allgemein seit dem 10. und bis ins 17. Jahrhundert in regional jeweils sehr unterschiedlicher Weise nachweis‑
298 Vgl.
Angenendt: Liturgie im Mittelalter, S. 40–42.
299 Vgl. Thomas Lentes: „Andacht“ und „Gebärde“. Das religiöse Andachtverhalten, in:
Craig Koslofsky/Bernhard Jussen (Hgg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1700, Göttingen 1999, S. 29–67; Berndt Hamm: Gott berühren. Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffes, in: Ders./Volker Leppin (Hgg.): „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“. Mystik im Mittelal‑ ter und bei Martin Luther, Tübingen 2007, S. 111–138; zur Weiterentwicklung in der Theolo‑ gie der Reformation vgl. Volker Leppin: Transformationen der spätmittelalterlichen Mystik bei Luther, in: Ebd., S. 165–186; Sven Grosse: Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zum Werden der reformatorischen Theologie, in: Ebd., S. 187–236. 300 Vgl. Hamm: Normative Zentrierung, S. 172. 301 Vgl. Angenendt: Religiosität im Mittelalter, S. 138–141. 302 „Die Stifftung der abnemung des bildnus unsers liebn hern und Seligmachers vom Creutz und wie die besuchung des grabs von den viertzcehn mansspersonen ztu wittenberg in aller heyligen kirchen bescheen soll 1517“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 158, Bl. 24r‑31v.
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bar und bildeten eine volkstümliche Erweiterung der Passions‑ und Oster‑ liturgie.303 Bereits vor dieser Stiftung finden sich in den Wittenberger Kämmereirech‑ nungen Hinweise darauf, dass in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts in der Karwoche auf dem nah bei der Pfarrkirche gelegenen Wittenberger Marktplatz populäre Passionsspiele veranstaltet wurden. Eine ausführliche Aufstellung der Ausgaben findet sich dazu unter dem Titel „Ausgaben uff die passio und ander spile“ in der Kämmereirechnung von 1502,304 auch in den Rechnungen der fol‑ genden Jahre finden sich unter der Rubrik „gemeine ausgaben“ teilweise ähn‑ liche Posten.305 Die ausführlichen Rechnungsposten von 1502 geben einigen Aufschluss über den Inhalt der Spiele: So erfahren wir hier von den dargestellten Figuren Luci‑ fer und Satanas,306 wobei Satanas mit einer ganzen „Gesellschaft“ auftrat, 307 daneben gab es den Bauern und den Teufel,308 und auch die Figur des Judas wird genannt.309 Als Kulisse der Spiele dienten jeweils mehrere Paläste, deren Auf‑ und Abbau der Rat jährlich finanzierte.310 Auch wenn der eigentliche Ab‑ lauf der Spiele nicht überliefert ist, so wird doch anhand der beteiligten Rol‑ len und der Kulisse deutlich, dass es sich wohl um die Darstellung der Höl‑ lenfahrt, des sogenannten „descensus ad inferos“ handelte, welche ein Teil von populären Osterspielen war.311 Diese Spiele waren zwar zeitlich an die kirch‑ liche Passionszeit angelehnt, fanden jedoch außerhalb des liturgischen Ablau‑ fes und zumeist auch außerhalb des Kirchengebäudes statt, so in Wittenberg auf dem Marktplatz.312 Sie bezogen sich auf den Abstieg Jesu in die Hölle, welcher im apostolischen Glaubensbekenntnis mit der Formel „descendit ad inferos“, 303 Die Liturgiewissenschaft unterscheidet hier zwischen der liturgischen Feier und dem populären Spiel, vgl. zu den damit verbundenen Diskussionen: Jürgen Bärsch: Ist Liturgie Spiel? Historische Beobachtungen und theologische Anmerkungen zu einem vielgestaltigen Phänomen des christlichen Gottesdienstes, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 47 (2007), S. 1–24. 304 StAW, KR 1502, Bl. 246v. 305 Vgl. z.B. StAW, KR 1503/04, Bl. 443v‑444r. 306 „Item 9 gr. gegeben Lutciver zur farbe in dy cleiyder und zu trankgelde; Item 8 gr. zu machen dem Schneider von Lucivers, Satanas und zweyer scherchen röcke und hosen und an derem mehr zumachen“, StAW, KR 1502, Bl. 246v. 307 „Item 11 gr. fur 8 ellen unnd 3 virtel breite Leynwant und 3 loth blawen zwirn Inns Spile Sathanas mit seyner geselschafft zu kleidenn“, ebd. 308 „Item 15 gr. von eynem pauire und der teufell kleider Ins spile zu molen“, ebd. 309 „Item 15 gr. zuhilffe gegeben zu Judas kleide“, ebd. 310 „Item 6 gr. gegeben pethhe zu selbdrette von 25 tagen das holtz zubeschlaen unnd die pallast zumachen […] Item 2 gr. fur 2ß bretnagel zum pallasten […] Item 4 gr. von den pal lasten wider abezubrechen unnd abezunehmen“, ebd. 311 Eine neuere Zusammenfassung bietet Nikolaus Henkel: Der „Descensus ad in‑ feros“ im geistlichen „Drama“ des Mittelalters, in: Markwart Herzog (Hg.): Höllen‑Fahr‑ ten. Geschichte und Aktualität eines Mythos, Stuttgart 2006, S. 87–108. 312 Dies belegt der folgende Posten, der sich ebenfalls unter der Überschrift „Ausgaben
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„Hinabgestiegen in das Reich der Toten“ angedeutet, und im apokryphen Ni‑ kodemus‑Evangelium näher ausgeführt wird. Die in den Wittenberger Rech‑ nungen nachgewiesenen Figuren Lucifers, Satanas’ und anderer Teufel mit ihren Gesellen lassen etwa auf Szenen der Verbannung Luzifers in die Hölle schlie‑ ßen oder auf solche, in denen Satanas seine Unterteufel ausschickte, um neue Seelen für die Hölle zu holen, nachdem Christus die bisherigen Insassen befreit hatte.313 In diesen Darstellungen traten Repräsentanten verschiedener Gruppen der städtischen Gesellschaft auf, welche aufgrund ihrer Sündhaftigkeit von den Teufeln in die Hölle geführt werden.314 Neben ihrem unterhaltsamen und er‑ zieherischen Charakter wird den Spielen damit auch eine Integrationsfunktion für die städtische Gesellschaft zugeschrieben, deren verschiedene Gruppen an‑ gesichts von Tod und Teufel als gleichermaßen sündhaft und erlösungsbedürf‑ tig dargestellt wurden.315 Die Ausgaben dieser Passionsspiele, die schon in den Anfangsjahren des 16. Jahrhunderts nur unregelmäßig verzeichnet wurden, er‑ scheinen ab 1509 nicht mehr in den Rechnungen, was möglicherweise darauf hindeutet, dass sie nicht mehr stattfanden. Da die Spiele jedoch nur unregel mäßig verzeichnet wurden und vermutlich nicht in jedem Jahr erneute Kosten verursachten, bleibt unklar, wie lange und wie häufig sie in Wittenberg tatsäch‑ lich durchgeführt wurden. Die Stiftung der Kreuzesabnahmespiele in der Schlosskirche knüpfte so je‑ denfalls um 1517 an eine in Wittenberg bereits bekannte Tradition an, stellte diese in einen liturgisch geordneten, im engeren Sinne kirchlichen Kontext und brachte sie damit gleichzeitig aus dem städtischen in den kurfürstlichen Raum. Lehnten sich die Höllenszenen auf dem Marktplatz nur sehr schwach an die Liturgie der Karwoche an, so bildete die hier im Mittelpunkt stehende Grable‑ gung des Kreuzes, die „depositio crucis“, dagegen eine unmittelbare Ergänzung zur Liturgie des Karfreitags.316 Auch hier sind also Zentrierungstendenzen fest‑ zustellen, die unmittelbar mit dem Ausbau Wittenbergs zur kurfürstlichen Re‑ sidenz zusammenhängen.
uff die passio und ander spile“ findet:„Item 13 gr. 4 d. 2 taglonern vom markte zu keren und das kericht wegk zubringen“, StAW, KR 1502, Bl. 246v. 313 Vgl. Henkel: Descensus, S. 103–105. 314 Ebd. 315 Ebd., S. 108. 316 Zur Kreuzesgrablegung innerhalb der Liturgie des Karfreitags vgl. Odenthal: Sur rexit Dominus vere“, S. 46–65; Columban Gschwend: Die Depositio und Elevatio Crucis im Raum der Alten Diözese Brixen. Ein Beitrag zur Geschichte der Grablegung am Karfrei‑ tag und der Auferstehungsfeier am Ostermorgen, Sarnen 1965; Hansjörg Auf der Maur: Feiern im Rhythmus der Zeit, Bd 1: Herrenfeste in Woche und Jahr, Regensburg 1983, S. 106– 113; Gerhard Römer: Die Liturgie des Karfreitags, in: Zeitschrift für katholische Theolo‑ gie 77 (1955), S. 39–93, hier S. 63; Christoph Petersen: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004.
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Der Ablauf dieser Stiftung ist in einer bisher kaum beachteten317 Ausferti‑ gung der Stiftungsurkunde im Weimarer Archiv ausführlich beschrieben und wird auch in dem Reisebericht Herzheimers erwähnt.318 Herzheimers Darstel‑ lung ist ein Hinweis darauf, dass die Stiftung auch tatsächlich so ausgeführt wurde wie in der Stiftungsurkunde festgelegt, denn Herzheimer verbrachte die Karwoche in Wittenberg und nahm nach eigenen Angaben selbst an den Got‑ tesdiensten in der Schlosskirche teil. Nach der Stiftungsurkunde sollten die Vorbereitungen im Zusammenhang mit der Stiftung bereits in der Mitte der Fastenzeit beginnen, nämlich am Samstag vor dem Mittfastensonntag Laetare, an dem der Amtmann oder Schosser als Vertreter des Hofes den Rektor der Universität, den Dechanten des Stiftes und den Bürgermeister der Stadt vor dem Schloss versammeln sollte. Als Vertreter ihrer Institutionen sollten sie unter den ihnen unterstehenden Wittenberger Einwohnern gemeinsam 14 bedürftige Männer für die Stiftung auswählen. Diese sollten „hausarme leuth, arme stu denten, durfftige schuler, guts lebens, wesens und gemuths“ sein, zwar bedürf‑ tig, aber nicht zu schwach, um die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Stif‑ tung auszuführen.319 Diese Auswahl der Teilnehmer trug der Eigenständigkeit der verschiedenen Rechtsbereiche innerhalb Wittenbergs Rechnung, welche durch die gemeinsame Teilnahme an der Stiftung zu einer städtischen Einheit zusammengefügt wurden, die wiederum auf den Kurfürsten als Stifter ausge‑ richtet war. Weiter verstärkt wurde diese Wirkung, indem neben den hervorge‑ hobenen 14 Repräsentanten auch die ganze Stadt einbezogen wurde: So sollte am Palmsonntag von allen Wittenberger Kanzeln angekündigt werden, dass am Dienstag vor Ostern alle Bedürftigen aus Wittenberg um acht Uhr morgens im Schloss eine Spende von einem Hering, einem Brot und einem Pfennig erhal‑ ten sollten.320 Die ausgewählten Armen wurden nun in der Karwoche eingekleidet und erhielten auf Kosten des Hofes „rock, hoßn, wames, kogell oder kappen und hembde“ aus schwarzem Tuch, ebenso sollte darauf geachtet werden, „das sie alle yr gurttel, schueh, nestel oder senckeln, bad, beicht und opfergelt haben“.321 Dieser Teil der Stiftung diente der persönlichen Vorbereitung der 14 Männer auf das Geschehen der kommenden Tage: Nachdem sie das Badehaus besucht 317 Diese Quelle nennt bisher einzig die ältere kunsthistorische Darstellung Robert Brucks, welche die Stiftung als eine „kirchliche Feier […]“ bezeichnet, „die uns recht deutlich noch einen Rest der alten kirchlichen Schauspiele im Mittelalters beschreibt“, Robert Bruck: Friedrich der Weise als Förderer der Kunst, Straßburg 1903, S. 212–213. 318 „Die Stifftung der abnemung des bildnus unsers liebn hern und Seligmachers vom Creutz und wie die besuchung des grabs von den viertzcehn mansspersonen ztu wittenberg in aller heyligen kirchen bescheen soll 1517“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 158, Bl. 24r‑31v. 319 Ebd., Bl. 26v. 320 Ebd., Bl. 27v. Der Wortlaut der Verkündigung von den Kanzeln war fest vorgeschrie‑ ben und beinhaltete auch einen allgemeinen Hinweis auf die Stiftung. 321 Ebd., Bl. 27r.
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und gebeichtet hatten, versammelten sie sich am Gründonnerstag in ihrer neuen Kleidung, am „allerheiligsten wachsleichnam“, wo sie kniend mit brennenden Lichtern in den Händen beteten und ihren Pfennig als Opfer geben sollten. Am Abend des Gründonnerstags begann nun das eigentliche Geschehen der Stiftung, in deren Mittelpunkt die Aufrichtung, Grablegung und Erhöhung des Kreuzes stand. Das Kreuz wurde von den 14 Armen am Kreuzesaltar aufge‑ stellt, wozu vor dem Altar ein ausgehauenes Loch vorgesehen war. Diese Auf‑ richtung des Kreuzes am Gründonnerstag wurde hier demnach in vergleichs‑ weise einfacher Art und Weise vorgenommen: Auf eine Enthüllung des Kreu‑ zes, 322 welche liturgiegeschichtlich den Ursprung der Kreuzesverehrung bildete, verzichtete man anscheinend, ebenso wie auf andere im späten Mit‑ telalter verbreitete Praktiken, wie das Herunterreißen der Altartücher, was als Darstellung der Entkleidung Christi gedeutet werden konnte,323 die Waschung des Altars mit Wasser und Wein oder das Auslöschen und erneute Entzünden der Lichter.324 Es gibt zwar Hinweise, dass solche eher volkstümlichen Erwei‑ terungen der Liturgie zumindest einigen Wittenberger Studenten bekannt wa‑ ren, doch stammten diese Kenntnisse wohl nicht aus der Stiftung des Kurfürs‑ ten, sondern aus Erfahrungen der Studenten an ihren Heimatorten, möglicher‑ weise deuten sie auch auf nicht näher bekannte Feiern in anderen Wittenberger Kirchen hin.325 Die Stiftung des Kurfürsten beschränkte dieses Geschehen des Gründonners‑ tags, welches bereits im Zeichen der österlichen Freude gedeutet wird,326 dage‑ gen auf das praktisch notwendige Hereintragen des Kreuzes. Der Schwerpunkt lag auf dem der Passion gewidmeten Teil, der nun folgenden „depositio crucis“, der Bestattung des Kreuzes. Am Karfreitag „bald nach der Passion“ zogen sich die 14 Armen zusammen mit vier Kaplänen in die Sakristei zurück, um sich um‑ zuziehen: Während die vier Kapläne sich als Juden verkleideten, zogen die 14 Ar‑ men „kappen in clag weyss“ als Zeichen der Trauer an und nahmen jeweils ein mit
322 In diesem Akt wurde das verhüllte Kreuz feierlich aus dem Chor zum Altar getra‑ gen und auf den Altarstufen enthüllt, vgl. Ulrich Köpf: Artikel „Passionsfrömmigkeit“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 27 (1997), S. 722–764. 323 Vgl. Römer: Liturgie, S. 63. 324 Vgl. Auf der Maur: Feiern, S. 106. 325 In einem Brief vom Dezember 1521 findet sich ein Hinweis auf die Drohung durch Studenten, das man „auf kuenfftig gruenen Donerstag soll alle padtmaid [Badmägte] bestel len, all solche aptgottische altaria mit herber laugen alle wegk waschen“, vgl. „Zeittung aus Wittenberg, bald nach 6. Oktober 1522“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 151– 167, hier S. 153. Diese Androhung eines Antirituals, welche durch das Waschen der Altäre durch die Badmägte anstatt die Priester und mit Lauge anstatt mit Weihwasser auf eine Des‑ akralisierung zielt, deutet darauf hin, dass der Gründonnerstagsbrauch in seiner traditio‑ nellen Form bekannt war; vgl. dazu auch Jens‑Martin Kruse: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–22, Mainz 2002, S. 338. 326 Vgl. Odenthal: „Surrexit dominus vere“, S. 50–51.
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einem Wappen geschmücktes Licht in die Hände.327 Unterdessen bereitete der Küster die Kreuzesabnahme vor, indem er zwei Leitern an das am Vortag aufge‑ stellte Kreuz legte. Bei Beginn der Vesper gingen die 14 Armen, gefolgt von den als Juden verkleideten Kaplänen, in einem feierlichen Zug zum Kreuz. Dort knie‑ ten sie in zwei Reihen zu je sieben mit den Lichtern und Wappen in den Händen auf beiden Seiten des Kreuzes nieder. Die vier Kapläne stiegen auf die Leiter und nahmen die Christusfigur vom Kreuz ab, legten sie auf eine Bahre und bedeck‑ ten sie mit Tüchern, wobei das Gesicht frei gelassen wurde. Anschließend tru‑ gen sie die Bahre, gefolgt von den 14 Armen in einer feierlichen Prozession durch die Kirche.328 Besonders interessant erscheint in der Wittenberger Stiftung, dass hier nicht wie an anderen Orten üblich das Kreuz begraben, sondern die Effigies, „das Bildnis“ vom Kreuz abgenommen und zusammen mit dem „hochwürdigen Sakrament“, also mit der Hostie „ins Grab“ gelegt wurde.329 Der Stiftungsur‑ kunde entspricht hier die Beschreibung Hans Herzheimers, der ebenfalls davon spricht, dass man „die pildnus herab nymbt“ und auch „das hochwirdig sacra ment In das grab bringt“.330 Es handelte sich hier also um eine Mischform zwi‑ schen der „depositio crucis“ und der „depositio hostiae“, welche die Liturgiewis‑ senschaft typisierend unterscheidet.331 Über das „Heilige Grab“ selbst, in das hier Hostie und Corpus gelegt wurden, ist nichts Näheres bekannt, es könnte sich sowohl um einen Hohlraum im Altar selbst, wie auch um einen gesondert aufgestellten Reliquienschrein oder eine Holztruhe gehandelt haben.332 Die Ar‑ men verblieben nach der „depositio crucis“ betend um das Grab, steckten an‑ schließend ihre mit Wappen geschmückten Lichter auf einen Leuchter und ver‑ ließen als Letzte die Kirche. Wie Herzheimer schrieb, mussten sie „piss zw der
327 „Die Stifftung der abnemung des bildnus unsers liebn hern und Seligmachers vom Creutz und wie die besuchung des grabs von den viertzcehn mansspersonen ztu wittenberg in aller heyligen kirchen bescheen soll 1517“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 158, Bl. 24r‑31v, hier Bl. 28v. 328 Ebd., Bl. 29v. Zurück beim Altar vollzogen sie nun die eigentliche „depositio crucis“, die Grablegung des Kreuzes. Dieser Ritus ist erstmals im 10. Jahrhundert im Zusammen‑ hang mit der Karfreitagsliturgie in England nachweisbar, verbreitete sich jedoch schnell auch auf dem Kontinent und ist im späten Mittelalter in zahlreichen liturgischen Ordnungen zu finden. Auf der Maur: Feiern, S. 112 nennt Salzburg (1160), Brixen (1372), Trier (14. Jhd.), Almkerke (Holland, 1422), Prag (1508). Möglicherweise hatte auch an dieser Stelle das Prager Allerheiligenstift eine Vorbildrolle für Wittenberg, denn das kurz zuvor erschienene Prager Missale enthielt dieses liturgische Element ebenfalls, vgl. ebd. 329 „Die Stifftung der abnemung des bildnus unsers liebn hern und Seligmachers vom Creutz und wie die besuchung des grabs von den viertzcehn mansspersonen ztu wittenberg in aller heyligen kirchen bescheen soll 1517“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 158, Bl. 24r‑31v, hier Bl. 30r. 330 Vgl. Herzheimer: Reisebericht, Bl. 291r. 331 Vgl. Auf der Maur: Feiern, S. 112. 332 Diese Formen sind von anderen Orten bekannt, vgl. ebd., S. 113.
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urstendt“, bis zur Auferstehung, also die ganze Nacht und den darauf folgenden Tag hindurch, in der Kirche bleiben.333 Liturgisch basierte diese Stiftung des Kurfürsten auf der „depositio crucis“, der Kreuzesgrablegung, die in der Liturgie der Kartage zwischen der Aufrich‑ tung des Kreuzes, am Gründonnerstag und der erneuten Aufrichtung, der so genannten „Kreuzeserhöhung“ stand. Wie von der Liturgiewissenschaft ge‑ zeigt wurde, liegt ihre Funktion darin, den eigentlich österlichen Brauch der Kreuzeserhöhung und ‑verehrung durch die karfreitägliche Trauer zu unter‑ brechen.334 Der Schwerpunkt der Wittenberger Stiftung lag damit auf dem Ge‑ schehen des Karfreitags, auf dem Gedenken an die Passion, welche hier zusätz‑ lich durch die Trauerkleidung der beteiligten 14 Armen unterstrichen wurde. Das oben dargestellte mittelalterliche Verständnis der Messe anhand der Sta‑ tionen des Lebens Christi wird in der Liturgie der Karwoche, welche die Lei‑ den und Sterben Christi in einem chronologischen Ablauf darstellte, besonders deutlich.335 Die Wittenberger Stiftung zeigt hier einen besonders geringen Grad der Abstraktion: Wird liturgiehistorisch die Grablegung des Kreuzes bereits als eine Steigerung des dinglichen Ausdrucks mittelalterlicher Frömmigkeit gese‑ hen,336 so bildet die Wittenberger Praxis, den Körper vom Kreuze abzunehmen und ihn gemeinsam mit der Hostie zu begraben, noch eine Verstärkung. Der Leib Christi wurde so doppelt, sowohl in dem historisierenden Repräsentanz‑ symbol des Wachsleichnams wie auch in der sakramentalen Präsenz der Hostie ins Grab gelegt.337 Auch wurde nicht, wie sonst zumeist üblich, das Kreuz, wel‑ ches in abstrakter Weise Leiden, Sterben und Auferstehung insgesamt symboli‑ sierte, begraben und wieder erhoben, sondern ein „byldnis“, ein „allerheiligster wachsleichnam“, so dass es sich mit der Abnahme des Körpers vom Kreuz nun vielmehr um das Nachspielen eines konkret verstandenen, historischen Gesche‑ hens handelte.338 Weiter unterstrichen wurde dieser Charakter einer histori‑ schen Darstellung etwa auch durch die Verkleidung der Kapläne als Juden.339 So verband die Wittenberger Stiftung mit dieser Art der Grablegung beides, 333 Dieses würde dem 40-stündigen Gebet am Grab entsprechen, das von der Grablegung am Karfreitag bis zur Ostervigil am Morgen des Ostersonntags dauerte. Dieses Gebet der 40 Stunden war aus der Wache am Grab entstanden, vgl. Auf der Maur: Feiern, S. 113. 334 Vgl. Odenthal: „Surrexit dominus vere“, S. 52. 335 Vgl. Odenthal: „Surrexit dominus vere“, S. 58. 336 Vgl. ebd. 337 Petersen: Ritual und Theater, S. 227 sieht genau hier das Unterscheidungskriterium zwischen Liturgie und Spiel: Die Präsenz des Auferstandenen sei in der liturgischen Feier gegeben, im historischen Osterspiel hingegen nicht. Die Wittenberger Praxis kann danach zugleich als Liturgie und Spiel gesehen werden. 338 „Die Stifftung der abnemung des bildnus unsers liebn hern und Seligmachers vom Creutz und wie die besuchung des grabs von den viertzcehn mansspersonen ztu wittenberg in aller heyligen kirchen bescheen soll 1517“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 158, Bl. 24r‑31v, hier Bl. 29v. 339 Vgl. ebd., Bl. 28v.
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eine dinglich‑unmittelbare, leibliche Präsenz des Heiligen in der Hostie mit ei‑ ner historisch‑konkretisierenden Darstellung des Körpers Jesu in dem Abbild der Figur, die vom Kreuz abgenommen und Teil des Nachspielens des Lebens und Sterbens Jesu wurde. Ganz im Gegensatz dazu steht die rein abstrakte Darstellung des Kurfürsten als Stifter. Charakteristisch ist etwa im Vergleich mit der benachbarten geist‑ lichen Residenz Halle, dass Friedrich der Weise als weltlicher Fürst nicht per‑ sönlich an seiner Stiftung teilnahm. Dieses entspricht einerseits dem oben dar‑ gestellten Verständnis der Messestiftungen, wonach deren Fürbitten in arbeits‑ teiliger Weise dem Stifter zugute kommen sollten, lässt jedoch auch auf seine Art der Herrschaftsrepräsentation schließen. Während Kardinal Albrecht von Brandenburg als Herrscher eines geistlichen Territoriums in seiner Residenz Halle am Gründonnerstag ausgewählten 14 armen Männern die Füße wusch,340 entschied man sich in Wittenberg für die eher nüchterne Vorgehensweise, den Armen Geld für das Badehaus zu geben.341 So präsentierte sich Friedrich der Weise als ein christlicher weltlicher Herrscher, der zwar Stiftungen zu seinem und seiner Untertanen Besten errichtete, jedoch seine eigene Herrschaft oder Person in keiner Weise als sakral verstand und dargestellt wissen wollte. Eine abstrakte Präsenz als Stifter war dennoch gewährleistet, und zwar in Form der Repräsentation der Dynastie durch die Wappen, welche gut sichtbar an den Kerzen befestigt waren und von den 14 Armen fast während des gesamten Ab‑ laufes der Grablegung des Kreuzes und auch während der Wache am Grab ge‑ tragen wurden. Besonders stark findet sich der Bezug auf den Stifter in der Beschreibung der Stiftung durch Hans Herzheimer, welche auch hier die Perspektive als Besucher des Hofes erkennen lässt. Die Liturgie des Karfreitags und die depositio crucis selbst waren ihm wohl aus seiner Heimat in ähnlicher Form bekannt.342 Sie be‑ eindruckten ihn daher scheinbar nicht sehr und nehmen in seiner Beschreibun‑ gen keinen großen Raum ein.343 Besonders häufig erwähnte er dagegen die ho‑ hen finanziellen Aufwendungen des Kurfürsten für diese Stiftung, wie etwa die großen Ausgaben für die Beleuchtung des Grabes über Nacht „mit eytel wachscherzen“ und für die Präsenzgelder der Chorsänger, die Tag und Nacht ihre Horen und Psalter beim Grab sangen.344 So schloss er auch seinen Bericht über die Stiftung mit Berechnungen über ihren finanziellen Gesamtwert: Er 340 Vgl.
Jan Brademann/Gerrit Deutschländer: Ritual und Herrschaft im Zeichen der Reformation. Die Karwoche des Jahre 1531 in Halle, in: Jahrbuch für hallesche Stadtge‑ schichte 4 (2006), S. 11–42; diese Geste entsprach der Praxis vieler Herrscher und wurde etwa von den Habsburgern und Wittelsbachern ausgeführt, aber auch noch von der protestanti‑ schen Elizabeth I. und von den Päpsten bis heute. 341 Vgl. oben, Anm. 321. 342 Vgl. Gschwend: Depositio. 343 Herzheimer: Reisebericht, Bl. 290v. 344 Ebd., Bl. 291r.
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hatte beobachtet, wie über 80 Gulden abgerechnet worden waren. Aber selbst darin, so vermutete er, war noch nicht einmal alles enthalten, denn hinzu ka‑ men Kosten für die allgemeine Spende und der Zuschuss, den alle 64 beim Stift beschäftigten Personen für ihr Mahl am Osterabend erhalten hatten. Die Stif‑ tung der Karwoche trug damit ebenso wie die übrigen Stiftungen, das Heiltum und die Ablassprivilegien dazu bei, Wittenberg nach außen als eine mit mate‑ riellen wie immateriellen Gütern reich ausgestattete Residenz eines christlichen Fürsten darzustellen. Während die liturgische Ausgestaltung der Stiftung his‑ torisch‑darstellende mit dinglich‑konkreten Elementen verband, blieb die Dar‑ stellung des Kurfürsten als Stifter dabei eine überpersonelle, abstrakte Reprä‑ sentation der Dynastie. Die dargestellte Praxis der zählbaren Frömmigkeit steht so im Zusammenhang mit einer bestimmten Art der Herrschaftsrepräsentation: Es war nicht notwendig, die innere Anteilnahme und Frömmigkeit des Herr‑ schers hervorzuheben, vielmehr sprachen dessen zählbare Stiftungen für sich selbst, um ihn als christlichen Fürsten darzustellen. Auf diese Weise sollten sich mit dem veränderten Verständnis der kirchlichen Ceremonien in Wittenberg in den kommenden Jahren auch die Formen der Repräsentation der sächsischen Kurfürsten als christliche Herrscher verändern. 2.3.2. Vom Sinn und Nutzen religiöser Ceremonien: Die Stiftung der Leiden Christi Noch bedeutsamer wurde die Passionsfrömmigkeit am Allerheiligenstift durch eine weitere Stiftung, die Friedrich der Weise 1519 auf den Rat seines Beicht vaters Jacob Vogt ins Leben rief. Mit dieser „Stiftung der Betrachtung des heil‑ samen Leidens unseres lieben Herrn und Seligmachers“ wurde die Passions‑ liturgie in den Gottesdienst des ganzen Jahres aufgenommen. Dazu wurden zwei neue Priester und acht Chorsänger angestellt, die jeweils donnerstags, frei‑ tags und samstags ein Offizium abzuhalten hatten.345 Diese Stiftung ist des‑ halb von besonderem Interesse, weil der Hof in diesem Zusammenhang erst‑ mals Luther in einer Frage über die Gestaltung von kirchlichen Ceremonien um Rat fragte. Von Seiten des Hofes hatte der kurfürstliche Sekretär Georg Spa‑ latin gemeinsam mit dem Beichtvater des Kurfürsten Jacob Vogt eine detail‑ lierte Ordnung der Stiftung ausgearbeitet.346 Spalatin hatte in dieser Zeit beim Kurfürsten neben seiner Tätigkeit als Geheimsekretär auch als geistlicher Be‑ rater eine besondere Vertrauensposition erlangt und war für die Geschäfte im Zusammenhang mit dem Allerheiligenstift zuständig. Dass neben den beiden geistlichen Beratern auch Luther hinzugezogen wurde, ist wohl eher auf die 345 Wie aus den Statuten zu ersehen ist, erhielten die Priester dafür ein Jahresgehalt von 12 Gulden, die Chorsänger von jeweils 5 Gulden, vgl. T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 158, Bl. 38–50. 346 ThHStA Weimar, EGA, Reg. O 222, Bl. 69–73.
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private Initiative Spalatins zurückzuführen, der mit Luther in dieser Zeit ver‑ stärkt an der Universität zusammenarbeitete,347 denn als offizielle Anfrage des Hofes zu werten. Der Ablauf der Stiftung war an die Liturgie der Karwoche angelehnt, deren wichtigste Messen in einer gut organisierten Abfolge durch die Priester zu lesen und zu singen waren, ergänzt durch das beständige Lesen und Singen von Psal‑ men durch die Chorsänger. Die beiden Priester sollten die Messen teilweise ge‑ meinsam lesen, bei besonders wichtigen Messen wie der an jedem Freitag abzu‑ haltenden Karfreitagsmesse oder in dem für den Samstagabend vorgesehenen „Ambt der heyligen messe von den bitteren mitleyden der gebenedeyten mutter gottes“ sollte jeweils einer der Priester die Messe lesen und der andere singen.348 Aus dem detailliert und planvoll aufgezeichneten Entwurf der Stiftung lassen sich vor allem zwei Ziele ablesen: Spalatin und Vogt bemühten sich erstens, die Stiftung besonders nah am Vorbild der Liturgie der Karwoche zu gestalten und dabei zweites einen organisatorischen Ablauf zu erstellen, der eine stetige, un‑ unterbrochene Abfolge der liturgischen Elemente bei Tag und Nacht gewähr‑ leistete. So wurden die zumeist für das Psalmieren zuständigen Chorsänger in zwei Gruppen aufgeteilt, die sich gegenseitig ablösen sollten, wenn die jeweils andere Gruppe zu Tisch ging. Die Reihenfolge, in der die Gruppen die Mahl‑ zeiten einnehmen durfte, war dabei täglich zu ändern, um „unvleis und unwil len“ zu vermeiden.349 Eben gegen dieses Vorgehen wendete sich Luther in seinem Gutachten ent‑ schieden: Hatte er schon auf die erste Anfrage Spalatins hin grundsätzlich sein Missfallen an der Stiftung geäußert, da hier „ein Mann für bestimmte Stunden anwesend sein sollte, ohne dass jemand dabei sei, dem es nütze“,350 also die Stif‑ tung Messen ohne Gemeindebeteiligung vorsah, so setzte er sich in den folgen‑ den Wochen dennoch mit den Vorschlägen Spalatins und Vogts auseinander. Das Gutachten, welches Luther darauf hin am 20. August an Spalatin schickte, wurde in der Literatur auch von der Lutherforschung wenig beachtet oder nur beiläufig als ein weiterer Beleg für Luthers schon frühe Ablehnung des „äußer‑ lichen Zeremoniendienstes“ genannt.351 Luther beurteilte die Stiftung insge‑ samt kritisch und vertraute Spalatin in dem Brief auch an, er schätze an der Stiftung hauptsächlich, dass sie Menschen, die sich dem Studium der Heiligen Schrift widmeten, ein Einkommen bot.352 347 Vgl. Irmgard Höss: Georg Spalatin. 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Human is mus und der Reformation, Weimar 1954, S. 106–117. 348 Vgl. ebd., Bl. 70r, 72v. 349 Vgl. ebd., Bl. 70r (für den Tag), 71r (für die Nacht). 350 „hominem in horas certas addici, nisi sint, qui prosit“, Luther an Spalatin, 1. Drittel August 1519, in: WA Br. 1, S. 434–435. 351 Vgl. Martin Brecht: Martin Luther, Bd. 1: 1483–1521, Stuttgart 1987, S. 335. 352 Luther an Spalatin, 20. August 1519, in: WA Br. 1, S. 504. Tatsächlich wurden die
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Daneben bietet dieses Gutachten jedoch gerade im Vergleich mit den Vor‑ schlägen Spalatins und Vogts auch eine erste grundsätzliche Auseinanderset‑ zung der Wittenberger mit der Frage nach der Funktion kirchlicher Ceremo‑ nien. Diese lehnte Luther nämlich keineswegs vollständig ab, vielmehr lässt sich anhand seiner Argumentation eine allgemeine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Ceremonien nachvollziehen. So machten schlechte Ceremonien die Menschen „hart, dürr und völlig untauglich in allen Dingen und zur geist lichen Gesinnung“.353 In Fall der Stiftung gründete sich diese Sorge Luthers da‑ rauf, dass sich die beteiligten Priester und Chorsänger, nachdem sie viele Worte gemurmelt und sich stundenlang beschäftigt hatten, völlig unberührt und si‑ cher fühlten, „selten zerschlagen, noch seltener brünstig, am allerseltensten in Selbsterkenntnis“.354 Luther kritisierte also genau das, was Spalatin und Vogt mit ihrer Gestaltung der Stiftung bewusst zu erreichen versucht hatten: Die Ge‑ währleistung einer ununterbrochenen Folge gesungener und gelesener Messen und Psalmen. Damit traf diese Kritik nicht nur die neue „Stiftung der Leiden Christi“, sondern ebenso den Kern der liturgischen Ausgestaltung der gesam‑ ten Stiftungen des Kurfürsten, die darauf angelegt waren, dass in der Witten‑ berger Schlosskirche bei Tag und Nacht an einem der vielen Altäre eine Messe gelesen wurde. Auf diese Weise sollte die Schlosskirche in bestmöglicher Weise ausgenutzt werden. Diese Ausgestaltung der Stiftungen entspricht dem oben dargestellten Verständnis der Stundengebete und Messen als „Offizium“, wel‑ ches von dem hierfür angestellten Personal pflichtmäßig zu vollziehen war. Ge‑ rade die Kontrastierung der Vorstellungen des Hofes mit denen Luthers zeigt so auch weitere damit verbundene Vorstellungen, wie etwa die eines „selbstwirk‑ samen Ritus“.355 Die innere Haltung der Priester oder Chorsänger spielte dem‑ nach keine Rolle, so lange diese die Stiftung äußerlich korrekt ausführten. Die Wirkung der Stiftung auf die Priester oder sonstige Anwesende war nach die‑ sem Verständnis nicht von Bedeutung, solange sie der äußeren Form nach die Karfreitagsliturgie abbildete. Eben diese Merkmale machte Luther zum Charakteristikum schlechter Ce‑ remonien. Seine Herangehensweise an die Frage, wie die Ceremonien zu ge‑ stalten waren, war damit eine grundsätzlich gegensätzliche. Während der Vor‑ schlag zur neuen Stiftung, ebenso wie das Gesamtkonzept der bisherigen Stif‑ tung, von der heilbringenden Wirkung für den Stifter ausging, veränderte er diesen Charakter und konzentrierte sich auf die unmittelbar am Geschehen Be‑ teiligten. Die Vorschläge Spalatins und Vogts waren so gestaltet, dass die Stif‑ riester und Chorsänger der Stiftung aus dem Kreis der Studentenschaft ausgewählt, vgl. P T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 204, Bl. 9. 353 „duros, ardios, difficiles et plane ineptos in omnem rem et affectus spiritualis vigorem“, Luther an Spalatin, 20. August 1519, in: WA Br. 1, S. 504. 354 „eunt secure, raro cumpuncti, rarius fervidi, rarissime sui congnoscentes“, ebd. 355 Vgl. oben S. 84–86, vgl. Angenendt: Geschichte der Religiösität, S. 378–382.
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tung durch möglichst viele Wiederholungen eine heilbringende Wirkung für den Stifter, und damit mittelbar für das ganze Gemeinwesen haben sollte. Für Luther hingegen nützten sie niemandem, es sei denn dem Personal der Stiftung selbst. Gute Ceremonien in diesem Sinne waren solche, die den unmittelbar Be‑ teiligten nützten, indem sie sie innerlich berührten und ihnen Selbsterkennt‑ nis brachten. Sein Vorschlag zur „Stiftung der Betrachtung des heilsamen Lei‑ dens unseres lieben Herrn und Seligmachers“ war demnach der ursprüngli‑ chen Intention Spalatins und Vogts völlig entgegengesetzt: Es gefalle ihm, so Luther, dass die Priester nur wenige Tage in der Woche für diese Stiftung tätig waren, noch besser wäre es, wenn sie sich auf wenige Stunden an diesen Tagen beschränkten und zudem lange Pausen zwischen den Diensten hätten. Auf diese Weise sollten sich die Priester auch innerlich auf ihren Dienst einlassen können. Schlechte Ceremonien, so lässt sich das Gutachten Luthers zusammenfassen, dienten als Werk an sich selbst. Durch anstrengende, stundenlange Wiederho‑ lungen bewirkten sie, dass der ausführende Priester zu einer inneren geistlichen Erkenntnis erstens durch Ermüdung nicht mehr in der Lage war und er diese zweitens auch nicht mehr anstrebte, da er durch das vollbrachte Werk der Mes‑ sen eine falsche Sicherheit empfand. Gute Ceremonien hingegen brachten dem Priester, der sie ausführte, zu eben dieser inneren geistlichen Hinwendung und Selbsterkenntnis. Wenn die Pries‑ ter nur weniges in einer einzelnen Stunde vornahmen und dazwischen Pausen machten, würden sie „munter sein, so viel der Teufel zuläßt“,356 also geistig in der Lage, sich auf ihre Gebete zu konzentrieren. Nicht das Lesen und Singen der gestifteten Messen als solches sei demnach als heilbringend anzusehen, im Gegenteil wiegten sie die Menschen als gute Werke in einer falschen Sicherheit. Eine Ceremonie war vielmehr dann eine gute Ceremonie, wenn sie die unmit‑ telbar Beteiligten, das waren in diesem Fall die ausführenden Priester, inner‑ lich berührte. Denn nicht das Ausführen der Ceremonien selbst war nützlich, sondern ihre Wirkung auf die innere Haltung der Anwesenden, die durch gute, maßvoll ein‑ gesetzte Ceremonien „zerschlagen, brünstig und in Selbsterkenntnis“ die Messe verlassen.357 Luther hatte also bereits hier ein Verständnis davon, wie gute Cere‑ monien zu gestalten waren, welches freilich das vom Hof intendierte Verständ‑ nis der Stiftungen des Allerheiligenstiftes vollständig, und sicherlich bewusst, verkehrte. Das hier entwickelte positive Verständnis der Ceremonien bezog sich noch rein auf deren Charakter als geistliche Übungen der Verinnerlichung, sollte jedoch bald um soziale Aspekte erweitert werden.
356 Luther an Spalatin, 20. August 1519, in: WA Br. 1, S. 505: „hic enim tediosi, illic alacres erunt, quantum sinit diabolus.“ 357 Ebd., S. 504: „compunciti“, „fervidi“, „cognoscentes“.
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2.4. Städtische Integration und landesherrliche Zentrierung: Die Schlosskirche in der Stadt Mit der Aufwertung der Schlosskirche und ihrer vielfältigen Ausgestaltung ver‑ änderte sich auch die Stellung dieser Kirche innerhalb der Stadt, indem Univer‑ sität und Pfarrkirche institutionell mit ihr verbunden wurden. Die damit er‑ folgte Zentrierung auf die Schlosskirche als geistliches Zentrum wurde nicht nur in Verträgen festgelegt, sondern auch in städtischen Ritualen performativ hergestellt. 2.4.1. Institutionell: Die Zusammenlegung von Stift und Universität und ihre Folgen für die Besetzung der Pfarrstellen Ein wichtiger Schritt der Verbindung der geistlichen Institutionen innerhalb der Stadt erfolgte durch die Vereinigung von Stift und Universität, welche 1507 von Papst Julius II. bestätigt wurde.358 Nominell wurde damit die Universität durch ein Inkorporationsverhältnis dem Stift unterstellt. Wie die Verhandlun‑ gen der folgenden Zeit zeigen, gestaltete sich das Verhältnis jedoch schon wenige Jahre später in der Praxis eher umgekehrt. Die Vereinigung war zunächst darin sichtbar, dass die Stiftskirche um die Funktion als Universitätskirche erweitert wurde. So konnte etwa Hans Herzheimer berichten, dass sich am 18. Februar 1519 „all geistlichkeit, all doctor und gantze universittet“ zu einem Totengottes‑ dienst für Kaiser Maximilian in der Schlosskirche versammelten, an dem auch Herzheimer selbst teilnahm.359 Darüber hinaus bestand die enge Verbindung von Stift und Universität vor allem über das Personal: Mit dem Zusammenschluss von Stift und Universität wurde die Anzahl der Mitglieder des Stiftskapitels von sieben auf zwölf erwei‑ tert.360 Acht dieser Kanonikate waren mit einer Professur an der Universität verbunden und für alle Stiftsherren bestanden bestimmte universitäre Lehrver‑ pflichtungen und Predigtdienste in den verschiedenen Kirchen der Stadt.361 Be‑ deutsam für die Frage nach der Aushandlung geistlicher Macht in Wittenberg und entscheidend für die Möglichkeiten der Veränderung kirchlicher Ceremo‑ nien sollte in den folgenden Jahren das Recht zur Besetzung der Kanonikate am 358 Diese Bestätigung geschah in der von Papst Julius II. ausgestellten Bulle vom 20. Juni 1507, welche auch die Propsteien Kemberg, Klöden und Schlieben, die Pfarrkirchen zu Orla‑ münde, Eisfeld, Schalkau, Schmiedeberg, Liebenwerda, Weyder und Jessen, sowie ferner die Kapelle auf dem Marienkirchhof zu Wittenberg einschloss. Die Urkunde ist vorhanden im UAH, Urkunden II, Nr. 83, Regest bei Israel: Universitätsarchiv, S. 66–68. 359 Herzheimer: Reisebericht, Bl. 271r. 360 Finanziert wurde diese Erweiterung durch eine Stiftung im Testament des Meißner Domherrn Dr. Thomas Loser, vgl. dazu Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 90. 361 Eine Übersicht des Stiftspersonals um 1508, deren Stellung, Einkünfte und Lehrver‑ pflichtungen bietet Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 92–93.
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Stift, der Universitätsprofessuren und schließlich auch der Pfarrstellen werden. Da die Stiftsherren nun auch an der Universität lehrten, beanspruchte der Se‑ nat ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Stellen am Stift. Schließlich ei‑ nigte man sich auf ein Vorschlagsrecht des Universitätssenates für Kandidaten der neu zu besetzenden Stellen, welche vom Kurfürsten zu bestätigen waren.362 Daneben war auch die für die Durchsetzung kirchlicher Reformen so ent‑ scheidende Besetzung von Pfarrstellen von dem Zusammenschluss von Stift und Universität betroffen. Um den gleichzeitig an Stift und Universität beschäf‑ tigten Kanonikern ein ihrer neuen Tätigkeit angemessenes Einkommen zu er‑ möglichen, erhielten diese nun neben den üblichen Präsenzgeldern des Stiftes je‑ weils das Benefizium einer dem Stift inkorporierten Pfarre. Auf diese Weise er‑ hielt etwa Andreas Karlstadt als Archidiakon des Allerheiligenstiftes die Pfarre in Orlamünde, auf die er sich später zurückzog. Daraufhin sah sich die Uni‑ versität nun zur Besetzung der Pfarrstellen in den jeweiligen inkorporierten Dörfern und Pfarren berechtigt, doch auch das Stiftskapitel beanspruchte dieses Recht, ebenso wie teilweise die Bischöfe, in deren Sprengel die Pfarren gelegen waren.363 Weiterhin erschwert wurde die Lage auch hier durch die Unsicherheit der Beteiligten über die Rechtsverhältnisse, so dass auch der Hof selbst häu‑ fig nicht genau wusste, welche Pfarren nun dem Stift inkorporiert waren und welche nicht.364 Die Frage des von der Universität beanspruchten Nominations‑ rechtes für Stiftskanonikate und Pfarrstellen konnte damit nicht abschließend gelöst werden, sondern wurde auch weiterhin im Einzelfall ausgehandelt. Festgehalten werden kann jedoch an dieser Stelle, dass die Inkorporation der Universität unter das Stift ein weiterer Schritt hin zu einer Vereinheitlichung der Vielzahl der Wittenberger Akteure bedeutete. Eine Auswirkung dieses Zu‑ sammenschlusses war, dass die Universität das alleinige Nominationsrecht über die Pfarrstellen in und um Wittenberg beanspruchte und auch immer stärker durchsetzen konnte. Die Entscheidungshoheit auf einem für die Durchsetzung kirchlicher Reformen so wichtigen Gebiet, welches zuvor ganz verschiedenen Akteuren, von lokalen Pfarrern bis zu Diözesanbischöfen, zukam, wurde da‑ mit immer stärker in Wittenberg und bei der Universität zentriert. Eine solche Zentrierung der Wittenberger Akteure wurde, wie anhand der folgenden Bei‑ spiele zu zeigen ist, nicht nur normativ festgelegt, sondern gerade auch in der re‑ ligiösen Praxis performativ hergestellt und dargestellt.
362 Vgl.
Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 91. ebd. 364 Als der Senat Ende 1518 den Priester Simon Kruger für die Pfarre in Wiederau nomi‑ nierte und den Kurfürsten bat, diesen zur Institution dem meißnischen Offizial vorzuschla‑ gen, antwortete dieser, seiner Kenntnis nach sei die Pfarre zu Wiederau dem Stift zu Witten‑ berg inkorporiert und fragte bei der Universität um Klärung der Rechtsverhältnisse an, vgl. T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 193; Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 91. 363 Vgl.
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2.4.2. Performativ: Herstellung und Darstellung städtischer Einheit und fürstlicher Zentralisierung Mit der Gründung der Schlosskirche wurde das kirchliche Leben in Witten‑ berg nicht nur einseitig auf den Kurfürsten als Stadtherrn hin ausgerichtet, viel‑ mehr bewirkten die Stiftungen und anderen liturgischen Neugründungen des Kurfürsten auch für die Stadt eine Einheit nach innen. Dieses geschah, so soll im Folgenden gezeigt werden, indem die verschiedenen sakralen Orte und Got‑ tesdienste immer stärker in ein die gesamte Stadt durchdringendes Liturgiesys‑ tem integriert wurden. Unter theologischen Gesichtspunkten wurde eine solche Tendenz von dem Liturgiewissenschaftler Angelus Häußling anhand der frühmittelalterlichen Klosterliturgie unter dem Stichwort der „Stationsliturgie“ beschrieben. Häuß‑ ling versteht darunter die in frühmittelalterlichen Klosterstädten aufkommende Tendenz, die Messe über das Kirchenjahr verteilt an verschiedenen geweihten Altären innerhalb eines Klosters oder sogar der ganzen Stadt zu feiern, woraus sich ein jeweils das Gemeinwesen räumlich und zeitlich durchdringende Litur‑ giesystem entwickelte.365 Im Bezug auf die Wittenberger Verhältnisse kann dieses Konzept sowohl auf die Schlosskirche wie auch auf die Stadt im Gan‑ zen angewendet werden. Zum einen war die Schlosskirche mit ihren verschie‑ denen Altären und den dazugehörigen gestifteten Messen als ein in sich ge‑ schlossenes liturgisches System angelegt, innerhalb dessen durch zeitlich abge‑ stimmte Messstiftungen zu jeder Zeit an einem der vielen Altäre Messe gehalten w urde.366 Zum anderen, und dieser Punkt erscheint an dieser Stelle entschei‑ dend, war die Schlosskirche ihrerseits Teil der Gesamtheit der sakralen Orte in Wittenberg, welche wiederum eine Einheit bildeten. Explizit deutlich wird dieses Prinzip in der „Ordnung der Stiftskirche“ von 1508, welche die unterschiedlichen Feiertage und Messdienste erstens inner‑ halb der Schlosskirche unter dem Personal des Stiftes und in einem zweiten Teil auf die Kirchen in der Stadt verteilte.367 Notwendig geworden war eine solche neue Zuordnung der Kompetenzen aufgrund der Erhöhung der Anzahl der Ka‑ nonikate von fünf auf zwölf mit dem Zusammenschluss von Universität und Stift. Die Ordnung von 1508 kann als ein Zwischenergebnis nach umfangrei‑ chen Verhandlungen zwischen Hof und Stiftsherren um neue Stiftsstatuten ge‑ sehen werden, die jedoch in vielen Punkten noch keineswegs abgeschlossen wa‑ ren.368 Besonders deutlich wird in diesem Dokument das Bemühen, die Messen 365 Vgl.
1973.
366 Ebd.
Angelus Albert Häussling: Mönchskonvent und Eucharistiefeier, Münster
367 „Ordnung der Stifftkyrchenn zw Wittenbergk“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 159, Bl. 105r‑115v. 368 Hermann Barge: Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd. II: Karlstadt als Vorkämp‑ fer des laienchristlichen Puritanismus, Leipzig 1905, S. 525–529, der dieses Aktenstück teil‑
2. Schlosskirche und Heiltum
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und Horen der vielen Feiertage in den verschiedenen Kirchen in eine einheit‑ liche Ordnung zu bringen. So sollten der zeitliche Ablauf der Gottesdienste folgendermaßen gestaltet werden: Die Predigt an Festtagen in der Stiftskirche war um acht Uhr vormittags zu beenden, danach sollte die Predigt in der Pfarr‑ kirche beginnen, anschließend die in den Klöstern um 12 Uhr mittags gehalten werden. Eine gleichmäßige Verteilung der Liturgie des Kirchenjahres über die ganze Stadt sollte daneben dadurch gewährleistet sein, dass wichtige Festtage auf die verschiedenen Kirchen Wittenbergs verteilt wurden und so „eyn yede kirchen der andern mit den predigen weychen“ sollte. Damit der „gots dinst da mit nit gemyndert“ sollten an diesen Tagen jeweils alle drei Predigten in dieser Kirche stattfinden.369 Ebenso wie die Verteilung der Feste innerhalb der Stifts‑ kirche an den Funktionen der Altäre orientiert war,370 entsprach auch die Ver‑ teilung der Feiertage auf die verschiedenen Kirchen in der Stadt den Funktionen der Kirchen: Der Schlosskirche zugeordnet wurden besonders solche Feste, die mit den dortigen Stiftungen in Verbindung standen, so die Heiltumsweisung und die Marien‑ und Annenfeste; in der Pfarrkirche sollte an den wichtigen Fes‑ ten des Kirchenjahres wie etwa Ostern, Pfingsten, Weihnachten gepredigt wer‑ den, dagegen erhielten das Augustiner‑ und das Franziskanerkloster neben we‑ niger wichtigen Feiertagen wie dem zweiten Pfingsttag eher solche Heiligen‑ feste, die in Verbindung mit den Orden standen oder traditionell von diesen begangen wurden. Damit die Gemeinde sich in dieser Ordnung zurechtfand, sollte „in denselbigen festen, das volgk yn dieselbe kirchen, dar alsdann die feste seyn, durch die prediger zuvor geweyst werdenn“,371 womit die Zusammengehö‑ rigkeit der Kirchen in der Stadt demonstriert wurde. Die neue Ordnung wurde auch für die Wittenberger Einwohner bekannt gemacht. Standen die verschie‑ denen sakralen Orte Wittenbergs bisher durch unklare Zuständigkeiten in ei‑ nem gewissen Konkurrenzverhältnis nebeneinander, so wurde das religiöse Le‑ ben Wittenbergs nun geordnet und damit zu einer Einheit zusammengefügt. Dieses Prinzip einer übergreifenden, integrierenden Liturgie, welche die Stadt performativ als eine Einheit des Sakralen schuf, wurde nicht nur in der Organisation der Liturgie über die Stadt insgesamt, sondern auch in einzelnen Ceremonien deutlich. Besonders anschaulich erscheint es in der Gestaltung der Liturgie des Palmsonntags, zu welcher mit dem Reisebericht Hans Herzhei‑ weise abdruckt, liest es als eine abschließend festgesetzte Ordnung. Dagegen spricht jedoch, dass die „Ordnung“ von 1508 als Teil von Verhandlungen um die neuen Stiftsstatuten abgelegt ist (T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 159), die noch 1517 nicht abgeschlossenen waren. 369 „so sal eyn yede kirchenn auf die feste, so yre nachgelassenn, die drey predigenn, wie obsteht, bestellenn.“ Ebd., Bl. 113r. 370 So fanden etwa die der Passion Christi gewidmeten Messen am Altar des Heiligen Kreuzes statt, ebenso die Marien‑ und Annenmessen an den diesen Heiligen geweihten Al‑ tären. 371 Ebd., Bl. 113v.
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mers eine Quelle über die Wittenberger Praxis vorliegt.372 Herzheimer beginnt mit der Beschreibung einer Prozession, zu der sich das Personal des Stiftes und der Universität aufstellte, er spricht dabei von 64 Personen, die zum Stift ge‑ hörten.373 Die Ordnung der Prozession lässt die Ordnung der Stiftsangehöri‑ gen, beginnend mit dem Probst und Dechant, erkennen und zeigt auch, dass die Vereinigung von Universität und Stift für die Stadt allgemein sichtbar war, denn auch „all studenten […] alda mit den rector und doctores“ waren Teil die‑ ser Prozession. In dieser Prozession, so berichtet Herzheimer, seien nun die Stiftsangehörigen am Palmsonntag „aus dem sloss und thuemkirchn“, also aus dem dem Hof zugeordneten Bereich innerhalb Wittenbergs, „hin ab auf den platz“ gegangen.374 Bei diesem Platz handelte es sich wohl um den zwischen Schloss‑ und Pfarrkirche, aber näher bei der Pfarrkirche, gelegenen Wittenber‑ ger Marktplatz, der damals zum Kirchhof der Pfarrkirche hin offen war. Hier trafen sie mit den Wittenberger Bürgern und Einwohnern zusammen, die dem Zug aus der Pfarrkirche in einer eigenen Prozession entgegenkamen. Die Zuge‑ hörigkeit der Wittenberger zu Hof und Stadt war auf diese Weise deutlich zu unterscheiden, dennoch waren sie durch die gemeinsame Beteiligung an dem‑ selben Palmsonntagsgeschehen zu einem übergreifenden Ganzen verbunden. Mit der Prozession bewegte sich die dem Kurfürsten zugeordnete Gruppe der Stifts‑ und Universitätszugehörigen in den städtischen Raum hinein und auf die Gruppe der Wittenberger Bürger und Einwohner zu, welche ihnen entgegen‑ kam. Beide Gruppen trafen sich in der Mitte und vereinigten sich nun, indem sie gemeinsam „den actus volbracht[en]“, also eine nicht näher benannte gemein‑ same Messe feierten.375 Das eigentliche Hochamt mit einer vierstimmigen Pas‑ sion fand jedoch nach der Rückkehr in die Schlosskirche statt.376 Ebenso wie die Gesamtkonzeption der Liturgie des Kirchenjahres entwarfen die Ceremo‑ nien des Palmsonntags auf diese Weise die Stadt Wittenberg als eine Einheit des Sakralen, die trotz aller integrierenden Elemente zwischen städtischem und hö‑ fischem Bereich in ihrer Gesamtheit jedoch auf das Allerheiligenstift als sakra‑ les Zentrum und damit auf den Kurfürsten als Stadtherrn verwies.
372
Vgl. zu dieser Quelle ausführlich oben, Anm. 246. Herzheimer: Reisebericht, Bl. 290v. 374 Ebd. 375 Ebd. 376 Ebd.: „Nach der widerkunfft In die Schlos kirchen, finge man an das hochambt, und den passion mit 4 stymmen, Andechig zu singen, und also Zum ende volbringen“. 373
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3. Die neue Universität als Ort der Wahrheit und Konfliktherd in der Stadt Die Statuten der Universität Wittenberg, welche der Kurfürst seiner 1502 ge‑ gründeten Universität im Jahr 1508 gegeben hatte, beschrieben ihre Rolle, ihre Zielsetzung und ihr Selbstverständnis wie folgt: „ut et nos denique cum fidelibus nostris et circumjacentibus populis ad id tanquam oraculum aliquod in rebus arduis tuto confugere et, sicut dubii et incerti accedere, ita firmissimi certis simique accepto responso redire valeamus“.377
Als ein solches „oraculum“, welches in zweifelhaften und unsicheren Fällen eine sichere und anerkannte Antwort geben sollte, sollte die Wittenberger Universi‑ tät dem Kurfürsten und seinen Landsleuten dienen. Der Begriff des „oraculum“ brachte ihre wichtige Stellung unter den Wittenberger Akteuren, die bereits in verschiedenen Einzelfällen deutlich wurde, auf den Punkt: Mit der Universität hatten die Stadt Wittenberg und das Kurfürstentum Sachsen ein eigenes Zen‑ trum der Wahrheitsfindung erhalten, welches es dem Kurfürsten und seinen Räten, immer stärker aber etwa auch dem Rat der Stadt Wittenberg, ermög‑ lichte, in wichtigen Fragen eine eigene Deutungshoheit zu entwickeln und deren legitime Geltung auch nach außen zu behaupten.378 Neben allgemeinen Fragen des Rechtes und der Herrschaftsausübung umfasste diese Deutungshoheit von Anfang an auch geistliche Dinge. Daher soll im Folgenden die Universität, auf die sich die in den vorangehenden Kapiteln dargestellten Integrations‑ und Zen‑ trierungsprozesse geistlicher Macht immer stärker fokussierten, nun schließlich selbst in den Blick genommen werden. Friedrich der Weise folgte mit der Gründung der Universität Wittenberg im Jahre 1502379 einer allgemeinen Tendenz, möglicherweise sogar einem kaiser 377 Statuten der Universität Wittenberg, 1. Oktober 1508, abgedruckt in: Walter Frie‑ densburg (Hg.): Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 2 Bände, Teil 1 (1502–1611), Magdeburg 1926, S. 18–58, Zitat S. 18–19. Verfasst hatte die Statuten der Nürnberger Huma‑ nist Christoph Scheurl, der kurz zuvor nach Wittenberg berufen worden war, vgl. Walter Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg, Halle 1917, S. 50–53. 378 So etwa in den Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg, vgl. oben, S. 49/50. 379 Zur Universität Wittenberg immer noch zentral: Friedensburg: Geschichte; Reges‑ ten und teilweise Editionen wichtiger Urkunden und Akten bietet Ders. (Hg.): Urkunden‑ buch, weitere Regesten und Teilabdrucke von Urkunden finden sich daneben bei Israel:
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lichen Befehl,380 zur Gründung von Landesuniversitäten, denn mit Wittenberg erhielt Kursachsen als vorletztes Kurfürstentum eine eigene Universität.381 Ihr Gründungsprivileg hatte die Universität im Jahr 1502 als eine der ersten Uni‑ versitäten nicht vom Papst, sondern von Kaiser Maximilian I. erhalten.382 Eine päpstliche Bestätigung erfolgte jedoch bereits wenig später auf den ausdrückli‑ chen Wunsch des Kurfürsten hin bei dem Besuch des Kardinallegaten Peraudi in Wittenberg, als dieser auch die Schlosskirche weihte und wichtige Ablass privilegien erteilte.383 Dabei stellte Peraudi der Universität verschiedene päpst‑ liche Privilegien aus: Neben der Bestätigung des kaiserlichen Stiftsbriefes384 er‑ teilte er ein Privileg, das der Universität die Promotion von vierzig Klerikern im bürgerlichen Recht erlaubte, 385 hinzu kam ein weiteres über die Promo‑ tionen in Theologie und im Kirchenrecht,386 sowie die Erlaubnis für Univer‑ sitätsangehörige, zwei nach Kirchenrecht unvereinbare Pfründen zu besitzen, und schließlich noch ein so genannter „Butterbrief“, der den Mitgliedern der Universitätsarchiv; einen Überblick über die Universitätsgründung im Zusammenhang mit ihrer inhaltlichen Ausrichtung bietet auch Kruse: Universitätstheologie, S. 31–41; Perspek‑ tiven und Forschungsdesiderate zeigt Martin Treu: Die Leucorea zwischen Tradition und Erneuerung. Erwägungen zur frühen Geschichte der Universität Wittenberg, in: Heiner Lück (Hg.): Martin Luther und seine Universität. Vorträge anlässlich des 450. Todestages des Reformators, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 31–51. Zur Universitätsgründung durch Friedrich den Weisen vgl. Dieter Stievermann: Friedrich der Weise und seine Universität Witten‑ berg, in: Sönke Lorenz (Hg.): Attempto – oder wie stiftet man eine Universität. Die Uni‑ versitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich, Stuttgart 1999, S. 175–197. Zum Verhältnis von Universität und Stadt vgl. Heiner Lück: Die Universität als Verwaltungs‑ und Wirtschaftsfaktor. Zur Ausstrahlung der Leucorea auf die Stadt Witten‑ berg und deren Umland. Ausgewählte Beispiele, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 95–111; Ulrike Ludwig/Insa Christiane Hennen: Wittenberg und die Leucorea, in: Uwe Koch (Hg.): Zwischen Katheder, Thron und Kerker: Leben und Werk des Humanisten Caspar Peucer 1525–1602. Ausstellung 25. September bis 31. Dezember 2002, Bautzen 2002, S. 34–39. 380 Ob Maximilian I. beim Wormser Reichstag tatsächlich den Kurfürsten befahl, eine Landesuniversität zu gründen, sofern sie noch über keine verfügten, ist umstritten, vgl. dazu Friedensburg: Geschichte, S. 9, auch Kruse: Universitätstheologie, S. 35. 381 Gefolgt nur noch von Brandenburg mit der Gründung der Universität in Frankfurt an der Oder 1506. 382 Gedruckt bei Israel: Universitätsarchiv, S. 96, vgl. auch: Anton Blaschka: Der Stiftsbrief Maximilians I. und das Patent Friedrichs des Weisen zur Gründung der Witten‑ berger Universität, in: Leo Stern (Hg.): 450 Jahre Martin‑Luther-Universität Halle-Witten‑ berg, Bd. 1: Wittenberg 1502–1817, Halle 1952, S. 69–85. 383 Vgl. oben, S. 70. 384 Diese Urkunden sind im Universitätsarchiv Halle noch heute vorhanden. Urkunde ausgestellt am 2. Februar 1503 in Magdeburg, UAH, Rep. I, Tit. III, Nr. 5, Regest bei Frie‑ densburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 5. 385 Urkunde, ausgestellt am 21. Januar 1503 in Wittenberg, UAH, Rep. I, Tit. III, Nr. 3; Regest bei Israel: Universitätsarchiv, S. 103; Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 4. 386 Urkunde, ausgestellt am 2. Februar 1503 in Magdeburg, UAH, Rep. I, Tit. III, Nr. 2, teilweise gedruckt bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 5.
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Universität den Verzehr von Milchprodukten in der Fastenzeit erlaubte.387 Da‑ mit war die Wittenberger Universität mit allen wichtigen Privilegien ausgestat‑ tet und konnte etwa Geistliche für den Dienst im Allerheiligenstift und in den sächsischen Pfarren ausbilden. Von Anfang an kamen daher auswärtige Geist‑ liche zum Studium nach Wittenberg, die anschließend in ihre Heimatpfründe zurückkehrten, so dass die Stadt Wittenberg seit Gründung der Universität ne‑ ben dem Zuzug von Studenten eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Priestern als weitere Gruppe neuer Einwohner erhielt. Diese neue Konstellation der Wit‑ tenberger Bevölkerung führte in den folgenden Jahren zu beständigen, teilweise gewaltsam ausgetragenen Konflikten, deren bekanntesten die so genannte „Wit‑ tenberger Bewegung“ bildete.388 Konflikte zwischen Studenten und Bürgern, die nicht selten auch zu gewalt‑ samen Auseinandersetzungen führten, waren ebenso wie Konflikte der Stu‑ denten untereinander keine Wittenberger Besonderheit, sondern entsprachen der Situation in den meisten Universitätsstädten.389 Während im Folgenden die vielfältigen für Wittenberg spezifischen Konfliktpunkte herauszuarbeiten sind, kann als Grundkonflikt bereits hier die privilegierte Stellung der Studenten in‑ nerhalb der Stadt benannt werden: Die Angehörigen der Universität unterstan‑ den einem eigenen Rechtsbereich mit eigener Gerichtsbarkeit und vielfältigen Privilegien und waren damit vor dem Zugriff der städtischen Gerichtsbarkeit, sowie dem der städtischen Ordnungshüter, der Ratsknechte oder der Nacht‑ wächter geschützt. Für die Angehörigen der Universität war das Universitäts‑ gericht zuständig und auch disziplinarische Maßnahmen und die Aufrechter‑ haltung von Ruhe und Ordnung unter den Studenten oblagen der Universität.
3.1. Der Bischof wird aus Universitätsangelegenheiten hinausgedrängt Die Geistlichen unter den Studenten wiederum unterstanden keinem der beiden Gerichte, denn die geistliche Gerichtsbarkeit an der Universität wurde von spe‑ ziellen vom Papst eingesetzten „Conservatoren“ ausgeführt. Wie in den Univer‑ sitäten des Reiches üblich erhielten das Amt des Conservators mit dem Bischof 387 Beide Privilegien datieren vom 2. Februar 1502, ausgestellt in Magdeburg, UAH, Rep. I, Tit. III, Nr. 4, Regesten bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 5–6. 388 Vgl. dazu unten, Kap. II. 389 Vgl. zum Verhältnis von Stadt und Universität allgemein Heinz Durchhardt (Hg.): Stadt und Universität, Köln/Weimar/Wien 1993; Einzelstudien zu Studentenhändeln und Konfliktfeldern bieten etwa: Barbara Krug‑Richter: Du Bacchant, quid est grammatica? Konflikte zwischen Studenten und Bürgern in Freiburg im Breisgau in der Frühen Neuzeit, in: Dies./Ruth E. Mohrmann (Hgg.): Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neu‑ zeit, Münster 2004, S. 79–104; Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Münster 2003, S. 278–331, letzterer mit einigen Beispielen aus Wittenberg in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
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von Brandenburg, dem Bischof von Merseburg und dem Propst des Moritz‑ klosters von Naumburg hohe Vertreter der lokalen Bistümer.390 Dem Bischof von Brandenburg, der bereits seit Jahren vergeblich versuchte, seinen Einfluss in geistlichen Dingen auf diese widerspenstige Stadt geltend zu machen, kam die‑ ses Amt sehr gelegen. Er versuchte in der folgenden Zeit mehrfach, Gebrauch von diesem Recht zu machen, was den Interessen der Universität, der Stadt und insbesondere auch des Kurfürsten entgegenstand. Wie anhand des Falles des Glorius Schwan, der zugleich Student und Geistlicher war, ausführlich gezeigt werden konnte, stellten sich Universität, Stadt und Hof in diesen Fällen gemein‑ sam gegen den Bischof. Dieser wiederum schützte wie im Fall Schwan auch in anderen Fällen straffällig gewordene Geistliche, um auf diese Weise seine eige‑ nen Rechte gegenüber den Wittenbergern durchzusetzen. Neben Glorius Schwan wäre hier etwa der allerdings weit weniger gut doku‑ mentierte Fall des Wittenberger Stiftsherren Paul Penckau zu nennen: Penckau war aus unbekannten Gründen391 von der Universität relegiert worden, behielt jedoch seine Pfründe am Allerheiligenstift und sein damit verbundenes Ein‑ kommen. Die Universität versuchte dagegen vorzugehen,392 der Kurfürst zö‑ gerte jedoch aufgrund der unsicheren rechtlichen Lage, in diesem Fall einzu‑ schreiten.393 So zog sich Penckau schließlich unter dem Schutz des Bischofs von Brandenburg nach Ziesar zurück und lebte dort bis zu seinem Tod 1515 von seiner Pfründe am Allerheiligenstift.394 Aufgrund solcher unliebsamer Einmi‑ schungen versuchte die Universität nun auch auf dem rechtlichen Weg, den Bi‑ schof seines Amtes als Conservator zu entheben und wandte sich schließlich er‑ folgreich nach Rom. Auf Wunsch der Universität Wittenberg ersetzte Leo X. am 12. Oktober 1513 den Bischof von Brandenburg im Amt des Conservators durch den Propst des Naumburger Moritzklosters. Damit war es der Univer‑ sität gelungen, sich endgültig vom Einfluss des brandenburgischen Bischofs zu lösen. Die anderen Conservatoren hatten, da die Stadt außerhalb ihrer geist‑ lichen Herrschaftsgebiete lag, kein vergleichbares Interesse an einer Einfluss‑ nahme in die Wittenberger Verhältnisse.
390 Urkunde an die Bischöfe von Meißen und Brandenburg und den Abt des Klosters Saal‑ feld, ausgestellt in Bologna am 21. Dezember 1506, UAH, Tit. III, Nr. 7; Regest bei Friedens‑ burg (Hg.): Urkundenbuch, S. 13 f. 391 Im „Album Academiae Vitenbergense“ ist nur vermerkt „propter suam contumaciam est exclusus et a matricula deletus“, vgl. Förstemann (Hg.): Album, S. 47. 392 Die Universität an Friedrich den Weisen, 17. März 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 254, Bl. 1; Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 72–73. 393 Friedrich der Weise an die Universität, 19. März 1514, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 254, Bl. 2–3; Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 73. 394 Vgl. ebd.; vgl. dazu auch Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 227.
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3.2. Studentenunruhen in Wittenberg vor 1520: Eine Frage der Überlieferung Der Beginn der Reformation in den Städten wird allgemein, und so auch in Bezug auf Wittenberg, mit der Entstehung einer reformatorischen Volksbewe‑ gung gekennzeichnet.395 Das bisher nur in Predigten und Schriften verbreitete Wort führte zu gesellschaftlichen Forderungen und damit nicht selten zu städti‑ schen Unruhen. Städtische Unruhen waren jedoch nicht neu oder für die Phase der frühen Reformation spezifisch, sondern sind aus jeweils unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Trägerschichten in der gesamten Epoche der Vormoderne zu beobachten und gelten gerade für die spätmittelalterliche Stadt sogar als kennzeichnend.396 Daher erscheint es notwendig, so genannte „reformatorische Unruhen“ oder „reformatorische Bewegungen“, und so auch die besonders bekannte Episode der „Wittenberger Unruhen“ oder „Wittenber‑ ger Bewegung“, im Zusammenhang mit den spezifischen städtischen Konflikt‑ strukturen zu untersuchen. In Wittenberg entstanden solche Unruhen, wie im Folgenden zu zeigen ist, in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts besonders als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen durch die 1502 ge‑ gründete Universität. Diese Unruhen werden hier im Hinblick auf Ursachen, Trägerschichten und Konfliktpunkte untersucht, um so anschließend die als „reformatorische Unruhen“ bekannten Ereignisse der frühen 1520er Jahre in ei‑ nen Kontext allgemeiner städtischer Unruhen in Wittenberg einzuordnen. Da die Geschichte der Universität Wittenberg für die erste Hälfte des 16. Jahr‑ hunderts bislang wenig erforscht ist, ist auch über studentische Unruhen dieser Zeit bislang kaum etwas bekannt.397 Während die Wittenberger Studentenun‑ ruhen des späten 16. Jahrhunderts das Interesse der allgemeinen Universitäts‑ geschichte gefunden haben,398 liegen vergleichbare Studien für die erste Hälfte 395 Vgl. dazu ausführlich die Darstellung des Forschungsstandes in der Einleitung und die Darstellung in Kap. II., S. 170–179. 396 Vgl. grundlegend: Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter. 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 190–198; Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, Mün‑ chen 1998. 397 Die ausführlichste Darstellung bietet hier noch immer Walter Friedensburgs Univer‑ sitätsgeschichte, welche auch die vorreformatorische Zeit der Universität berücksichtigt, je‑ doch nur wenige Quellennachweise bietet, vgl. Friedensburg: Geschichte. Zu den studen‑ tischen Unruhen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts S. 86–87, 150–51; zur allgemeinen Universitätsgeschichte vgl. Kap. I, Anm. 379. 398 Vgl. Ulrike Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg: Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozess Kur‑ sachsens (1576–1580), Münster 2009, S. 51–55 und S. 125–146; Andreas Gössner: Diszipli‑ niertheit an der lutherischen Universität der Frühen Neuzeit, in: Daniela Siebe (Hg.): „Orte der Gelahrtheit.“ Personen, Prozesse und Reformen an der protestantischen Universität des Alten Reiches, Stuttgart 2008, S. 103–118.
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des Jahrhunderts nicht vor. Einzig eine Episode von Unruhen während weniger Tage des Sommers 1520 sowie der Mord an dem Universitätsrektor durch einen Studenten im Jahr 1512 fanden bislang Erwähnung in der Forschung.399 Dieses hat vor allem überlieferungstechnische Gründe, welche die Darstellungen der Studentenunruhen bis heute prägen. Relevant sind für die studentischen Unruhen zwei Überlieferungsstränge: Erstens die landesherrliche Überlieferung mit den Akten der kurfürstlichen Kanzlei und zweitens die Überlieferung der Universität mit Akten zu Diszi‑ plinarsachen und zur Gerichtsbarkeit. Letztere sind jedoch erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts erhalten,400 so dass die Überlieferung der Universität nur in Einzelfällen Hinweise auf Studentenunruhen oder Konflikte zwischen Studen‑ ten und Bürgern bietet und daher bislang auch nicht auf diese Fragestellung hin ausgewertet wurde.401 Die kurfürstliche Überlieferung ist hingegen bereits für diese Zeit im Haupt‑ staatsarchiv in Weimar umfassend vorhanden. Da die Akten aus der kurfürst‑ lichen Kanzlei vergleichsweise detaillierte Schilderungen der Konflikte bieten, bilden sie auch hier einen wesentlichen Teil der Quellengrundlage. Sie enthalten jedoch entsprechend ihrer Provenienz nur solche Fälle, die ein Eingreifen des Kurfürsten erforderten. Der größte Teil der alltäglichen Konflikte von Studen‑ ten wurde hingegen durch die universitäre Gerichtsbarkeit selbst geregelt und ist hier nicht erfasst. Die Darstellung der Wittenberger Studentenunruhen ist daher notwendigerweise überlieferungsbedingt ungleich gewichtet, was sich im Einzelnen folgendermaßen darstellt: In den erhaltenen Akten aus der kurfürst‑ lichen Kanzlei sind für den hier untersuchten Zeitraum zwei Konflikte erfasst. Der erste fand im Jahr 1512 statt und wird in der archivarischen Beschriftung als Auseinandersetzung zwischen sächsischen und fränkischen Studenten be‑ zeichnet,402 der zweite ereignete sich im Jahr 1520 als Folge von Auseinanderset‑ 399 Da hierzu einige Briefe Luthers vorliegen, wurden diese Ereignisse von der Lutherfor‑ schung im Zusammenhang mit der Entwicklung von Luthers Obrigkeitsverständnis thema‑ tisiert; vgl. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 282–284; hierzu korrigierend Ulrich Bubenheimer: Luthers Stellung zum Aufruhr in Wittenberg 1520–1522 und die frühreformatorischen Wur‑ zeln des landesherrliche Kirchenregiments, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechts‑ geschichte, Kanonistische Abteilung 71 (1985), S. 147–214, hier S. 150–157; Friedensburg: Geschichte, S. 150–151. 400 Die Akten des Archivs der Universität Wittenberg sind heute im Universitätsarchiv Halle unter der Signatur UAH, Rep. I integriert. 401 Diese finden sich im Universitätsarchiv Halle unter den Signaturen UAH, Rep. I, Nr. 99, UAH, Rep. I, Nr. 100. Einige Akten aus diesen Beständen sind abgedruckt oder in Regesten wiedergegeben in Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, wo sie mit den alten Sig‑ naturen des Universitätsarchivs Halle nachgewiesen werden: WUA Tit. VIII Nr. 3 (entspricht heutiger Signatur UAH, Rep. I, Nr. 99), WUA Tit. VIII Nr. 3a (entspricht heutiger Signatur UAH, Rep I, Nr. 100). 402 Erwähnt wird er nur bei Friedensburg: Geschichte, S. 86–87 im Zusammenhang mit der Ermordung des Rektors.
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zungen zwischen Studenten und Bürgern um Privilegien, insbesondere um das von adeligen Studenten beanspruchte Recht, in der Stadt Waffen zu tragen.403 Wie im Folgenden gezeigt wird, waren die Studentenunruhen dieser Zeit jedoch nicht auf die Jahre 1512 und 1520 beschränkt. Auch wenn die Unruhen in die‑ sen Jahren möglicherweise eskalierten und ein Eingreifen des Landesherrn er‑ forderten, so standen sie doch in einer Kontinuität städtischer Auseinanderset‑ zungen, die eine Folge grundsätzlicher Konflikte zwischen Studenten und Bür‑ gern seit der Gründung der Universität waren. Daher sollen hier die Wittenberger Studentenunruhen des frühen 16. Jahr‑ hunderts erstmals insgesamt und unter Einbeziehung der vereinzelt in der Überlieferung der Universität vorhandenen Akten untersucht werden. Zieht man diese Überlieferung hinzu, so zeigt sich nämlich ein ganz anderes Bild: Schon der chronologisch früheste Hinweis auf Studentenunruhen steht nicht im Zusammenhang mit den genannten Ereignissen, sondern wurde zufällig in den Universitätsakten überliefert: Im Dezember 1509 hatte es beim Rektor Klagen über den Studenten Fabian Gortler gegeben, der zusammen mit anderen nachts gewaltsam in Bürgerhäuser eingebrochen war und dort Zerstörungen angerich‑ tet hatte. Da Gortler nicht aufgefunden werden konnte, ließ der Rektor ihn durch öffentlichen Anschlag zu sich fordern.404 Ähnliche Fälle hatten sich vermutlich schon in den ersten Jahren nach der Universitätsgründung ereignet, denn bereits die Universitätsstatuten aus dem Jahr 1508 legten Strafen fest für nächtliche Ruhestörungen, gewaltsame Ausei‑ nandersetzungen, das Tragen von Waffen auf den Straßen und den Aufenthalt auf den Straßen nach neun Uhr abends ohne Licht.405 Auch wenn die Motive der Studenten hier unklar bleiben und keine Einzelheiten bekannt sind, zeigen diese Hinweise doch, dass es bereits im ersten Jahrzehnt nach der Universitäts‑ gründung Zusammenstöße zwischen Studenten und Wittenberger Bürgern gab. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Bürgern steigerten sich offensichtlich trotz der Bestimmungen in den Statuten in den 403
Letzterer wird auch in der genannten Sekundärliteratur thematisiert, vgl. Anm. 449. „diversorum civium domos vi et violentia nocturno tempore una cum nonnullis suis complicibus infringere et devastare nititur“, notariell beglaubigtes öffentliches Edikt („edic‑ tum publicum“) des Rektors der Universität Simon Steyn, Wittenberg, 30. Dezember 1509 (Datum auf dem Schriftstück 1510 wegen des üblichen Jahresbeginns an Weihnachten), UAH, Rep. I, Nr. 100, 1. Blatt des unfoliierten Konvolutes. 405 Statuten der Universität Wittenberg vom 1. Oktober 1508, unter dem Abschnitt „De pace servanda et ejus violatoribus. caput vigesimum primum“, in: Friedensburg (Hg.): Ur‑ kundenbuch, S. 18–31, hier S. 28. Da der damalige Universitätsrektor, der bekannte Huma‑ nist Christoph Scheuerl, als Verfasser der Statuten gilt, bezieht sich wahrscheinlich auf diese Bestimmung in den Statuten die lobende Bemerkung im Rektoratsbuch der Universität, Scheuerl habe als neuer Rektor der Universität der Stadt ihren Frieden zurückgegeben, indem er den Studenten das lange Kneipensitzen und das Waffentragen verboten habe, so dargestellt bei Friedensburg: Geschichte, S. 85, leider ohne weitere Nachweise. 404
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folgenden Jahren dermaßen, dass bereits im Jahr 1511 ein Abkommen zwischen der Universität und dem Rat getroffen wurde, um solches in Zukunft zu ver‑ meiden.406 Diesmal richteten sich die Bestimmungen auch gegen die Bürger, de‑ nen, ebenso wie den Studenten, das Tragen von Waffen in der Stadt, besonders nachts und ohne Licht, verboten wurde. Um die Bestrafung von Tätern zu er‑ leichtern, erlaubte die Universität auch den Knechten des Rates gegen Angehö‑ rige der Universität vorzugehen, falls die bevollmächtigten Famuli der Universi‑ tät nicht zur Stelle waren. In diesem Fall sollten die Knechte des Rates den Stu‑ denten ihre Waffen abnehmen oder sie sogar festhalten, was in den folgenden Jahren zum wesentlichen Streitpunkt wurde.407 An der Entstehung dieses Ver‑ trages war der Kurfürst anscheinend selbst beteiligt, denn bereits wenige Tage später schrieb er an die Universität, er habe mit Befremden gehört, dass nach seinem Abreiten aus Wittenberg „mehr Mutwillen als zuvor“ getrieben wurde und dabei der Bürger Blasius Nyendorf getötet worden sei. Der Kurfürst ver‑ langte erneute Verhandlungen der Universität mit dem Rat, um solches in Zu‑ kunft zu verhindern.408
3.3. Die Unruhen des Jahres 1512 als Konflikte zwischen Studenten und Bürgern Die nun folgenden Unruhen im Sommer des Jahres 1512 sind in der kurfürst‑ lichen Überlieferung umfassend dokumentiert.409 Im Mittelpunkt standen zu‑ nächst Auseinandersetzungen zwischen fränkischen und sächsischen Studen‑ ten. Obwohl die Statuten der Wittenberger Universität die Gründung von Landsmannschaften ausdrücklich verboten, spielte die Herkunft der Studen‑ ten hier, wie auch in den folgenden Jahren, eine wichtige Rolle in den Konflik‑ ten. So berichtete der Wittenberger Schosser dem Kurfürsten am 22. Juli 1520 von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sachsen und Franken,410 der Bericht der Universität folgte am kommenden Tag.411 Dem Bericht des Rek‑ tors nach entzündeten sich die Unruhen, als die Franken das Fest des Heiligen Kilian, ihres Landespatrons, begingen und sich im Anschluss daran scherzhaft gegenseitig ins Wasser warfen. Die sächsischen Studenten hatten sie dabei be406 Abkommen von Universität und Rat, 23. Dezember 1511, UAH, Rep. I, Nr. 100; Re‑ gest in: Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 62. 407 Ebd. 408 Friedrich der Weise an Rektor und Reformatoren der Universität, 6. Januar 1512, in: T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 2r+v. 409 Vgl. T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459. 410 Der Wittenberger Schosser Anton Nymeck an Friedrich den Weisen, 22. Juli 1512, in: T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 3r‑4v. 411 Bericht der Universität Wittenberg an Friedrich den Weisen, 23. Juli 1512, in: T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 9r.
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obachtet und eine solche Art der Verehrung des Landespatrons verspottet.412 Daraufhin jagten am folgenden Samstag einige fränkische Studenten die Sach‑ sen auf den Straßen. Die zunächst harmlos erscheinenden Auseinandersetzun‑ gen eskalierten, als sich am Sonntag die Franken vor dem Haus der Wittenber‑ ger Bürger Urban und Stefan Moler, der Herberge der sächsischen Studenten, versammelten und diese herausforderten.413 Da nun auch ein Bürgerhaus be‑ troffen war, griff der Rat ein und auch weitere Bürger kamen zu Hilfe. Es kam schließlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen zwei Bürger verwundet wurden. Die fränkischen Studenten stürmten ein weiteres Bürgerhaus, verbarrikadierten sich dort und bewarfen die Bürger aus den obe‑ ren Stockwerken mit Gegenständen. Nach einiger Zeit gelang es den Bürgern, das Haus zu stürmen und fünf der beteiligten Studenten zu stellen, darunter drei namentlich genannte Adelige. Als diese sich vor dem Bürgermeister und der Universität verantworten sollten, verhielten sie sich jedoch ausweichend und leugneten ihre Beteiligung an den Unruhen, die sie zuvor dem Schosser bereits gestanden hatten. Gegenüber dem Kurfürsten war die Universität be‑ müht, sich von den fünf Studenten, die alle geistlichen Standes waren, zu distan‑ zieren: Diese würden wenig studieren und seien „weltlichen Wesens“.414 Dieser Vorwurf an die Studenten erinnert an den Fall Glorius Schwan, dem die Stadt Wittenberg ebenfalls ein weltliches Benehmen vorgeworfen hatte, und verweist damit auf einen weiteren Grundkonflikt, der in den städtischen Auseinander‑ setzungen eine Rolle spielte: Neben Studenten und Bürgern, die jeweils ihre Privilegien zu verteidigen versuchten, standen als dritte Gruppe die Geistli‑ chen, die zwar zugleich auch Studenten sein konnten, jedoch keinem der beiden Rechtsbereiche vollständig unterstanden. Eben dieses Argument benutzten die nun festgenommenen geistlichen Stu‑ denten gegenüber der Universität, um für ihre Taten nicht belangt werden zu können. Auch alle an den Unruhen im Juli 1520 beteiligten fränkischen Studen‑ ten waren Geistliche. Diese bemühten sich mit allen Mitteln, ihre drohende Re‑ legation von der Universität zu verhindern, und erreichten, dass sich die eben‑ falls in Wittenberg studierenden welfischen Prinzen als prominente Fürspre‑ cher an den Kurfürsten wendeten.415 Die drohende unehrenhafte Entlassung 412 „zu inen geret, so sie, die Sachssen, ihren patron begehen, wollen si im anders ehr tun dan sich ins wasser werffen“, ebd. 413 Ebd. 414 Ebd. Andere Lesart bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch: „wertlichen Wesens“, S. 66. 415 Die Studenten Wittch von Stein, Domherr zu Würzburg, Geiß von Herspergk, Chor‑ herr von S. Burkhard zu Würzburg, Georg von Honnspergk, Michael Keller, Chorherr zu Ansbach und Balthasar von Gleichanderwisen an die Herzöge Otto und Ernst von Braun‑ schweig‑Lüneburg, 24. Juli 1512, ThHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 5r+v; das Schreiben der Prinzen an den Kurfürsten datiert vom 25. Juli 1512, ThHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 6r‑7r.
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von der Universität hätte die Geistlichen besonders hart getroffen, da sie nicht nur, wie auch bei anderen Studenten, den Verlust ihrer Privilegien und Ehre nach sich gezogen hätte, sondern auch den Verlust ihrer geistlichen Pfründen in Würzburg.416 Ihre Verteidigung erstreckte sich auf verschiedene Ebenen, sie ar‑ gumentierten zunächst, sie hätten niemanden beschädigt, dann, sie hätten allein aus Notwehr zum Schutz ihrer Ehre und ihres Leibes gehandelt und schließlich, man könne ihnen auch nichts nachweisen, denn sie seien „in keiner handthaff tigen that begriffen“ worden.417 Der Kurfürst reagierte unmittelbar, indem er die Universität anwies, die Stu‑ denten zunächst nicht zu relegieren, sondern sie in ihren Gelübden zu behalten; mit den weiteren Verhandlungen wurden seine Räte und der Schosser in Wit‑ tenberg beauftragt.418 Auch wenn die Überlieferung im kurfürstlichen Archiv an dieser Stelle abbricht, ist aus den Universitätsakten ersichtlich, dass die frän‑ kischen Studenten damit keinen Erfolg hatten, denn sie wurden Anfang Sep‑ tember 1512 relegiert. Einer von ihnen, Balthasar Fabri aus Gleichanderwys‑ sen, kehrte jedoch am 3. Oktober 1521 heimlich nach Wittenberg zurück, um sich an Ulrich Erbar, dem Rektor der Universität zu rächen, und erschlug die‑ sen mit einem eisernen Wurfkreuz.419 Der Stadtrichter konnte den geflüchte‑ ten Fabri einholen und so wurde dieser am 21. Oktober auf dem Wittenberger Marktplatz hingerichtet.420 Das Ausmaß der Konflikte ging jedoch weit über den Einzelfall im Juli 1512 hinaus, wie die weiteren Erklärungen der Universität an den Kurfürsten deutlich 416 „[…] welchs unns unnd den unsernn zu grossem Schadenn und schmacheyt mocht ge deyhenn und zuvorlust vnsers lehenn unnd Canonicaten so wir Inn loblichenn Thum Stifften, got lob, genugsam vorsehenn sein“, die Studenten Wittch von Stein, Domherr zu Würzburg, Geiß von Herspergk, Chorherr von S. Burkhard zu Würzburg, Georg von Honnspergk, Michael Keller, Chorherr zu Ansbach und Balthasar von Gleichanderwisen an die Herzöge Otto und Ernst von Braunschweig‑Lüneburg, 24. Juli 1512, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 5r+v, hier 5r. 417 Ebd., Bl. 5r. 418 Friedrich der Weise an die Universität, 30. Juli 1512, in: T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 8r. 419 Diesen Fall schildert das „Album Academiae Vitenbergensis“: „Balthazar Fabri de Gleichanderwyssen […] in matriculam relatus deinde propter sua facinora die iovis nona sep tembris ad paternos lares et juxta decretum Decretum Dominorum civitatem istam exivit, non reversurus in biennio, tamen, quo spiritu ductus nescitur, die dominica que erat tertia Octobris, sero clam reversus et paratis insidiis eundem Rectorem de cena euntem (cui prius iuraverat) cruce ferrea a tergo peciit, ledendo ictu caput eius, unde die lune undecima eiusdem mensis Octobris obiit, tandem prefatus Balthazar deprehensus propter huiu modi sua deme rita publice in foro capite punitus fuit cuius anima in christi die […]“ vgl. Förstemann (Hg.): Album, S. 42. Dem entspricht der folgende Eintrag in den Kämmereirechnungen StAW, KR 1512 „2 gr. Tyho Dhenen, burgermeister, hat 1 ferd gelihen dem richter, so er den studenten, den rectoren geworfen mit eim worfkreuze, nachgeeilt.“ Diesen Vorfall erwähnt auch Frie‑ densburg: Geschichte, S. 86. 420 StAW, KR 1512 „15 gr. dem scharfrichter, so er Baltazar den studenten enthoubt dins tags nach Luce“, vgl. Friedensburg: Geschichte, S. 86.
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machen. Diese schrieb, die Studenten stellten keine einheitliche Gruppe mehr dar, die der universitären Gerichtsbarkeit unterstehe. Vielmehr waren einige un‑ ter ihnen überhaupt nicht eingeschrieben und hatten sich entsprechend auch we‑ der durch den Kurfürsten noch durch die Universität eidlich auf die Statuten verpflichten lassen, andere hatten den Studentenstatus bereits wieder abgelegt oder waren aus disziplinarischen Gründen von der Universität ausgeschlossen worden.421 All diese hielten sich dennoch weiterhin in Wittenberg im Umfeld der Universität auf und sorgten für Unruhe. Die Universität hatte aus diesen Gründen nachts im Kollegium eine „Visitation“ durchgeführt und zwei der dort zu Unrecht angetroffenen Bewohner entlassen. Es habe sogar einen öffentlichen Anschlag gegeben, der die Studenten dazu aufforderte, die Statuten nicht zu hal‑ ten. Auch in diesem Fall ging die Universität von einem Geistlichen als Täter aus, denn man wollte, auch wenn die Täter bisher nicht namentlich bekannt waren, durch den Konservator einen gemeinen geistlichen Prozess gegen diese anstren‑ gen lassen, um sie, wenn möglich, exkommunizieren zu lassen. Diese Argumente dienten sicherlich auch dazu, die Universitätsleitung gegenüber dem Kurfürs‑ ten zu entlasten und zu vermeiden, dass das Ansehen der gesamten Universität durch die Unruhen Einzelner in Frage gestellt wurde. Gleichzeitig zeigen sie je‑ doch auch, dass die Ereignisse im Juli 1512 kein zufälliger Zusammenstoß zwi‑ schen Sachsen und Franken waren, sondern vielmehr Ausdruck eines längerfris‑ tigen Konflikts in der Stadt zwischen Studenten, Bürgern und Geistlichen.
3.4. Kontinuitäten der Auseinandersetzungen bis 1520 Entsprechend setzte sich dieser Grundkonflikt auch in den folgenden Jah‑ ren fort und führte zu immer neuen Auseinandersetzungen. Im nächsten Jahr waren es zunächst die Studenten, die sich diesmal ihrerseits über gewaltsame Übergriffe seitens der Bürger beklagten, daneben aber auch über alltägliche Dinge wie das Fehlen eines Druckers vor Ort, zu hohe Mieten und zu hohes Kostgeld.422 Der kurfürstliche Schosser hatte den Auftrag erhalten, der Sache nachzugehen und leitete die Klagen wiederum an den ehemaligen Rektor Mar‑ tin Polich von Mellerstedt weiter.423 Polich wiegelte jedoch ab, wie der Schosser dem Kurfürsten berichtete: Wenn die Studenten sich auf ihr Studium konzen‑ trierten, würden sie auch nicht überfallen werden; der Drucker sei nur erkrankt und das erhöhte Kostgeld ergebe sich aus der Preissteigerung des Korns.424 Er 421 Vgl. auch zum Folgenden: Bericht der Universität Wittenberg an Friedrich den Weisen, 23. Juli 1512, in: T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 9r. 422 Vgl. die Wittenberger Studenten an Friedrich den Weisen, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 459, Bl. 11r. 423 Das Schreiben des Kurfürsten und die Antwort Polichs sind nicht erhalten. 424 Vgl. der Schosser Gregor Burger an Friedrich den Weisen, 19. September 1521, T hHStA Weimar, EGA, 24. Juli 1512, Reg. O 459, Bl. 10.
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versprach aber, darauf zu achten, dass die Studenten sich weiterhin friedlich verhielten. Tatsächlich sind aus den folgenden Jahren keine weiteren Unruhen, sondern nur kleinere Streitigkeiten bekannt. So klagte die Universität etwa, der Schosser habe einigen Studenten, die in der Elbe badeten, die am Ufer deponier‑ ten Kleider weggenommen, während sich die Stadt ihrerseits über das unrecht‑ mäßige Fischen und Baden der Studenten beschwerte.425 Auch wenn aus den oben genannte Gründen gewaltsame Auseinanderset‑ zungen für die Zeit zwischen 1512 und 1520 nicht überliefert sind, muss es solche dennoch gegeben haben, denn im Februar 1520 griff der Kurfürst erneut ein: Er habe nun lange genug gewartet, dass die Universität gegen die gewaltsa‑ men Übergriffe der Studenten selbst Maßnahmen ergreife. Seit der Ermordung des Rektors vor wenigen Jahren seien weitere Bürger durch die Studenten ums Leben gekommen, darüber hinaus beklagte er die „erregung etlicher aufleuft“, Angriffe auf Bürgerhäuser und allgemein „manichfeltige beschwerliche felle“, welche dem Ansehen der Universität großen Schaden zufügten.426 Da „von tag zu tag die mutwilligkeit ferner einwachsen wil“, habe er nun selbst eine neue Ordnung für die Stadt geschaffen, die sowohl für Bürger und Einwohner wie auch für Studenten gelten sollte. Die Unruhen von 1512 waren demnach nicht punktuell auf die Auseinandersetzungen zwischen Sachsen und Franken be‑ zogen, wie es durch die Anordnung der Akten im kurfürstlichen Archiv zu‑ nächst erscheint und auch in der vorhandenen Literatur wiedergegeben wird.427 Vielmehr waren die Ereignisse von 1512 umgekehrt Teil der anhaltenden ge‑ waltsamen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Bürgern, die sich, der Darstellung des Kurfürsten nach zu urteilen, in den folgenden Jahren sogar noch verstärkten. Die Auseinandersetzungen zwischen Franken und Sachsen waren hier nur ein Auslöser, der die schon damals seit längerer Zeit schwelen‑ den Konflikte eskalieren ließ. Gerade durch das beständige Fortdauern dieser Unruhen in den nächsten Jahren und die gleichzeitige Untätigkeit der Universi‑ tät sah sich der Kurfürst nun zum Einschreiten gezwungen. Nur so erklärt sich auch sein Vorwurf, es seien „etliche irer cf. gn. frome burger daselbs zu Witten 425 Vgl. Friedrich der Weise an den Schosser Gregor Burger, 25. Oktober 1518, T hHStA Weimar, EGA, 24. Juli 1512, Reg. O 296, Bl. 1–2; Friedrich der Weise an die Universität, un‑ datiert, T hHStA Weimar, EGA, 24. Juli 1512, Reg. O 296, Bl. 3; letzteres Aktenstück ist aus‑ schnitthaft abgedruckt in Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 88. 426 Friedrich der Weise an Wolfgang Reißenpusch, Präceptor zu Lichtenberg und Kanzler der Universität und Christoph Groß, Amtmann zu Belzig, Mitteilungen für die Universität, 14. Februar 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 235, Bl. 2–3. 427 Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 152 verweist zwar auf einen vagen Zusammen‑ hang mit den Ereignissen von 1511/12, der durch die Erwähnung der Ermordung des Rektors in dem kurfürstlichen Schreiben offensichtlich ist, entkräftet diesen jedoch gleich wieder: „Die hier erwähnte Ermordung des Universitätsrektors […] stand allerdings im Zusammen‑ hang mit Kämpfen zwischen sächsischer und fränkischer Nation.“ Diese Darstellungsweise findet sich auch schon bei Friedensburg: Geschichte, S. 85.
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bergk jemerlich entleibt und umbkomen“,428 denn aus dem Jahr 1512 ist nur der Tod des Rektors bekannt. Die von Kurfürst erwähnten Todesfälle müssen sich also in der Zwischenzeit ereignet haben.
3.5. Studentenunruhen im Sommer 1520 Aus diesem Grund erließ der Kurfürst nun die Ordnung vom Februar 1520.429 Ihr erster und zentraler Punkt war das Verbot des Tragens von Waffen in der Stadt, welches gleichermaßen für Bürger, Einwohner und Studenten gelten sollte. Ausgenommen wurden davon nur die Mitglieder der drei Räte, die verei‑ digten Ratsdiener und die Pedelle der Universität, also diejenigen, die von Amts wegen für die Wahrung der Ordnung zu sorgen hatten. Beim erstmaligen Ver‑ stoß gegen dieses Verbot war ein Bußgeld von drei Groschen vorgesehen, Wie‑ derholungstäter sollten durch den Rat oder die Universität relegiert bzw. aus der Stadt verbannt werden. Außerdem wurde eine Sperrstunde im Sommer auf zehn Uhr, im Winter auf neun Uhr festgesetzt, wer danach noch auf den Stra‑ ßen angetroffen wurde, sollte durch die Nachtwächter über Nacht in Gewahr‑ sam genommen werden. Diese Ordnung wurde der Universität und dem Rat durch den Präzeptor des Antoniterklosters zu Lichtenberg, Wolfgang Reißenbusch, der das Amt des Kanzlers der Universität innehatte, und einen der kurfürstlichen Amtsleute zur Zustimmung vorgelegt.430 Nach Beratungen und geringfügigen Änderun‑ gen wurde sie wenige Tage später angenommen und in der Stadt öffentlich ver‑ kündet.431 Obwohl die Ordnung mehrfach betonte, dass sich die kurfürstlichen Verbote gleichermaßen an Studenten wie an Bürger und Einwohner richteten, waren es gerade ihre Bestimmungen, die in den folgenden Monaten zu Unru‑ hen führten. Das Verbot des Tragens von Waffen vom Februar 1520 war dem‑ nach nicht auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen des Jahres 1520 erlassen 428 Friedrich der Weise an Wolfgang Reißenpusch, Präceptor zu Lichtenberg und Kanzler der Universität und Christoph Groß, Amtmann zu Belzig, was diese im Namen des Kurfürs‑ ten an die Universität werben sollen, 14. Februar 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 235, Bl. 2–3, Bl. 2v. 429 Entwurf der Ordnung vom 14. Februar 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 235, Bl. 4–9. 430 Vgl. Friedrich der Weise an Wolfgang Reißenpusch, Präceptor zu Lichtenberg und Kanzler der Universität und Christoph Groß, Amtmann zu Belzig, was diese im Namen des Kurfürsten an die Universität werben sollen, 14. Februar 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 235, Bl. 2–3. 431 Vgl. Friedrich der Weise an Wolfgang Reißenpusch, Präceptor zu Lichtenberg und Kanzler der Universität und Christoph Groß, Amtmann zu Belzig, was diese im Namen des Kurfürsten an die Universität werben sollen, 17. Februar 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 235, Bl. 10–11. Die geänderte Ordnung: Ebd., Bl. 12–15. Die Universität hatte versucht, zusätzlich eine Ausnahme von dem Waffenverbot für die Doktoren und ihre Diener zu errei‑ chen, was aber wohl nicht durchgesetzt werden konnte.
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worden,432 sondern trug selbst maßgeblich zu deren Eskalation bei. Die gewalt‑ samen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Bürgern begannen erst im Juli 1520, also ein halbes Jahr nach dem Erlass der Ordnung. Der Streit fing diesmal mit einer Beschwerde einiger adeliger Studenten ge‑ gen den Stadtrichter und seine Knechte an, die das kurfürstliche Verbot des Waffentragens bei den Studenten restriktiv anwendeten und gegen die Adeli‑ gen unter ihnen besonders gewaltsam vorgingen. Die dem Rat unterstehenden Bürger und Einwohner, insbesondere Lukas Cranach und seine Gesellen, wür‑ den hingegen unbehelligt weiter Waffen tragen.433 So habe der Richter bereits unmittelbar nach dem Erlass der kurfürstlichen Ordnung den dänischen ade‑ ligen Studenten Ivo von Bruska „angegriffen, geschlagen und seines Baretts be raubt“434 und auch der fränkische Adelige Wallenselser wurde zusammen mit seinem Knecht überwältigt und geschlagen.435 Ein besonders gravierender Vorfall, der wohl den unmittelbaren Anlass zu den Unruhen bot, war der Angriff des Stadtrichters auf den adeligen Studen‑ ten Alexander von Stutternheim, den der Richter und seine Knechte auf dem Kirchhof angriffen, ihn dort an den Haaren schleppten, seinen Kopf mit Flegeln wundschlugen und ihn schließlich „vor dodt“ liegen ließen. Auch er wurde sei‑ nes Baretts beraubt und mit Schmähworten gegen den Adel bedacht. Stuttern‑ heim hatte nach Angaben der Studenten sofort zugegeben, dass er ein Messer trug, und wäre auch bereit gewesen, sich ohne Widerstand zu seiner Bestrafung durch die Universität führen zu lassen. Am Montag darauf wurde ein weiterer Adeliger, Niklas von Tannenberg, nach Auskunft der Studenten zusammen mit vier anderen ohne Ursache nachts schlafend in ihren Betten durch den Richter und seine Gesellen überfallen, die sich durch Einschlagen der Türen gewaltsam Zutritt verschafft hatten. Auch hier ist von „Gewalt und Spott“ durch den Rich‑ ter und die Knechte die Rede. Der Konflikt entzündete sich also an der Durchsetzung der kurfürstlichen Ordnung, bei der sich die Studenten durch den Stadtrichter und seine Knechte ungerecht behandelt fühlten. Dieses galt insbesondere für die adeligen Studen‑ ten, die zum bevorzugten Angriffspunkt wurden, da das Privileg des Waffen‑ tragens in besonderem Maße zu ihrem Selbstverständnis als Gruppe gehörte. Gerade diesen die Waffen wegzunehmen, während man die eigenen behielt, kann daher als Demonstration (stadt‑)bürgerlichen Selbstbewusstseins ge‑ wertet werden. So machen auch die Beschimpfungen des Richters und seiner Knechte, sowie die Tatsache, dass den Angegriffenen jeweils das Barett geraubt 432 So
Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 152. adelige Studenten an Friedrich den Weisen, 14. Juli 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 2–3. 434 Als Datum wird „Freitags vor Fastnacht“ angegeben, was dem 17. Februar entspricht, dem Tag der Verkündung der neuen Ordnung durch den Rat, ebd. Bl. 2v. 435 Ebd. 433 Einige
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wurde, deutlich, dass der adelige Stand der Studenten den Angreifern in beson‑ derem Maße ein Dorn im Auge war. Die Angriffe waren damit nicht bloße Ge‑ walttaten, sondern richteten sich gezielt gegen die Zeichen adeliger Standesehre. Die Hintergründe des Vorfalls auf dem Kirchhof im Juli 1512, auf die sich die Beschwerden der adeligen Studenten bezogen, lassen sich aus einem Bericht des Schossers an den Kurfürsten und aus mehreren Zeugenaussagen von Bürgern rekonstruieren: Am Donnerstag, dem 12. Juli 1520 kam es auf dem Kirchhof zu den bereits genannten gewaltsamen Auseinandersetzungen des von Stuttern‑ heim mit dem Stadtrichter und seinen Knechten. Was die Studenten nicht er‑ wähnt hatten, möglicherweise auch nicht wussten, war die Tatsache, dass früher an demselben Abend einer der Wächter angegriffen worden war und man ihm „mit einer Bleikugel auf den Kopf eine große Grube ins Hirnhaupt geschlagen“ hatte.436 Nach Darstellung des Schossers war der Täter nicht notwendigerweise von Stutternheim.437 Es handelte sich also um zwei unterschiedliche, zeitlich getrennt voneinander stattfindende Vorfälle.438 Ganz unschuldig an der Eska‑ lation der Situation waren jedoch auch die Studenten nicht, denn nach Aussage der Wächter wurden sie erst angegriffen, nachdem sie sich bereits zum zweiten Mal an diesem Abend auf dem Kirchhof versammelten.439 Doch war von Stut‑ ternheim möglicherweise nur zur falschen Zeit am falschen Ort, als er von den Wächtern auf dem Kirchhof angetroffen wurde. Der gewaltsame Angriff auf von Stutternheim führte nun zur Eskalation der ohnehin vorhandenen Unru‑ hen bei den Studenten. Am folgenden Tag, dem 13. Juli, überfielen die Studenten die Stadtknechte früh morgens in ihren Häusern und drohten, sie zu töten.440 Nachmittags beob‑ achtete der Schosser, wie die Studenten „haufenweise“ zum Kloster der Franzis‑ 436
Bericht [des Schossers Gregor Burger] an Friedrich den Weisen, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 9–10; Datum und Verfasser lassen sich aus dem vermutlich dazu gehörenden Anschreiben ersehen, das vom 14. Juli datiert. Der Schosser verweist hier auf einen „angelegten zedel“, in dem er, soviel ihm bewusst, zu erkennen gebe, wie sich die Empörung der Studenten erhoben habe. Beschreibung beider Briefe bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 101. Der Bericht liegt, ebenso wie die im Folgenden zitierten Aus‑ sagen der Studenten, ediert vor: Karl Eduard Förstemann (Hg.): Der Studenten-Auflauf zu Wittenberg im Jahr 1520, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch antiquarischer Forschung 6 (1842), S. 51–71, hier S. 57–59, Zitat S. 57. 437 „soll ein Student, so es Stutternheym nicht selbs gethan, einen Wächter mit einer Bleikugel auf den Kopf eine große Grube ins Hirnhaupt geschlagen“, Bericht [des Schossers Gregor Burger] an Friedrich den Weisen, ohne Datum, zitiert nach Förstemann (Hg.): Stu‑ denten‑Auflauf, S. 57. 438 Anders bei Bubeheimer: Aufruhr, S. 153. 439 „Sind darnach auf dem Kirchhofe abermals zusammen gekommen, haben die Wäch ter und Stadtknechte den Stutternheim bei seinem Haar genommen, wol gerauft und vom Kirchhofe gezogen“, Bericht des Schossers an Friedrich den Weisen, zitiert nach Förstemann (Hg.): Studenten‑Auflauf, S. 57. 440 Dies erfuhr der Schosser jedoch nach eigener Aussage erst am Nachmittag durch den Bürgermeister, vgl. ebd., S. 58.
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kaner strömten und sich auf dem dortigen Kirchhof versammelten. Zuvor war ein Zettel angeschlagen worden, auf dem die Studenten zu dieser Versammlung aufgefordert wurden. Dieser Zettel spielte in dem späteren Prozess eine maß‑ gebliche Rolle, denn sein Verfasser, nach mehreren Zeugenaussagen Balthasar von Brumnitz, galt als Urheber des Aufruhrs.441 Wie der Schosser beobachten konnte, wurde dort ein Eid geschworen und einer der Studenten stellte sich auf den Predigtstuhl und sprach zu den anderen.442 Der Schosser selbst war jedoch außer Hörweite und so brachten erst spätere Zeugenaussagen verschiedener Bürger Einzelheiten über die Versammlung zu Tage. Zumeist handelte es sich bei diesen Zeugen um Hauswirte der Studenten, die ihre Mieter belauscht hat‑ ten, oder Bürger, deren Söhne an der Versammlung auf dem Franziskanerkirch‑ hof teilgenommen hatten. Danach hatten die Studenten dort eine gewisse Or‑ ganisation vorgenommen, sich in vier „Haufen“ geteilt und drei Hauptmänner gewählt.443 Der Redner auf dem Predigtstuhl habe zunächst von der Misshand‑ lung des adeligen Studenten am Vorabend gesprochen und daraufhin die An‑ deren aufgefordert, ihre Waffen zu holen.444 Die geplante Aktion sollte sich ge‑ gen den Stadtrichter und die Stadtknechte richten, nach einigen Aussagen wollte man diese töten.445 Der vom Schosser beobachtete Eid beinhaltete offensicht‑ lich das Versprechen, dass man zum Adel stehen wollte und, „so sie einen rele gieren, sie alle relegieren müssten“.446 Schließlich habe es bei dieser Versamm‑ lung noch den Beschluss gegeben, falls man sich gegen die Bürger nicht durch‑ setzen könnte, wollte man einzelne Häuser in Brand setzen oder sogar die ganze Stadt anzünden.447 Nach der Versammlung vor dem Franziskanerkloster rüste‑ 441 Aussage des Adrianus Friedrich, der sich dabei auf einen „Knaben aus der Badstuben“ bezog: „derselb Knabe gesaget, dass er gehört, das Bromnitz den Zedel angeschagen“, ebd., S. 66. Aussage des Christoph Zeigeler: „das Bromnitz die Zedel an das Collegium geschlagen, dass die Studenten allesammt sich auf der Mönche Kirchhof versammeln sollten“, ebd., S. 68. 442 „die Finger aufgereckt, sich zusammen vereidet, was oder wie weiß ich nicht“, Bericht [des Schossers Gregor Burger] an Friedrich den Weisen, ohne Datum, ebd., S. 58. 443 Aussage des Walter Kersten: „Darnach haben sie sich in Viertel getheilt und eins Theils geschworen und ein Theil nicht“, ebd., S. 63; Aussage des Adrianus Friedrich: „und seien ihrer drei als Oberste erkoren, die die andern in 4 Haufen getheilet“, ebd., S. 66. 444 Dieses findet sich übereinstimmend in vielen Zeugenaussagen, so z.B. Aussage des Barthel Schober: „sei einer aufgestanden auf den Predigtstuhl und sie gebeten, sie wollten ihre Büchsen und Messer holen und ihnen getreulich beistehen“, ebd, S. 63. Aussage des Urban Glaser: „der Prediger oder der auf dem Predigtstuhl gestanden, habe sie vermahnet, sie sollten ihre Gewehre, Büchsen und andere Waffen holen und sollten ihnen getreulich beistehen“, ebd. 445 Aussage des Ulrich Schneider: „sei unter anderm auf dem Kirchhofe beschlossen, sie wollten den Richter und alle Stadtknecht zu Tod schlagen“, ebd. 446 Aussage des Christoph Krapp: „zusammengeschworen, wo man unter ihnen einen re legieren würde, sollte man sie alle relegieren, und was einen anginge sollte alle betreffen“, ebd., S. 68. 447 Die Aussagen der Bürger über das Ausmaß des geplanten Feuers sind unterschiedlich, häufig findet sich die Metapher des „roten Hahns“, den man über die Häuser laufen lassen wollte: Aussage des Conradus Nascher: „hat gehört von einem Studenten, auf den er nicht
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ten sich die Studenten mit Waffen aus und versammelten sich anschließend vor dem Haus des Richters Caspar Teuschel.448 Gegen ihn als Verantwortlichen für den Angriff auf den adeligen Stutternheim am Vorabend richteten sich die Ag‑ gressionen der Studenten hauptsächlich. Vergeblich forderten sie ihn heraus und belagerten das Haus bis vier Uhr nachmittags. Anschließend versammelten sie sich vor dem Schloss und der Propstei.449 Der Schosser begab sich unterdessen in die außerhalb der Stadtmauer gelegene Bastei, um dort neue Waffen zu ho‑ len. Die Studenten versuchten das zu verhindern, indem sie die Bastei stürmten, was ihnen jedoch nicht gelang.450 Inzwischen hatte sich auch herumgesprochen, dass die Studenten planten, die Stadt anzuzünden, worauf hin der Rat die Wa‑ chen für die Nacht auf 60 Mann verstärkte. Zusätzlich erbot sich die Hälfte der Bürgerschaft, nachts Wache zu stehen.451 Nach Aussage einiger Zeugen wurde an diesem Abend von Seiten der Studenten aus den Kollegien geschossen.452 Der Kurfürst selbst wurde erst am folgenden Tag, am Samstag, dem 14. Juli infor‑ miert, und zwar zum einen durch den oben genannten „Klagzettel“ der adeli‑ gen Studenten, welchen der mutmaßliche Urheber des Aufruhrs Balthasar von Brumnitz zusammen mit einem Magister namens Johann Heß im Auftrag der Universität selbst zum Hof brachte,453 und zum anderen durch den genannten Bericht des Schossers.454 Der Kurfürst reagierte prompt und schickte bereits in der Nacht zum Mon‑ tag seinen Marschall Hans von Dolzig mit Truppen in die Stadt. Dolzig er‑ reichte die Stadt gegen zwei Uhr nachts, was nach seiner eigenen Aussage pro‑ blemlos verlief und begann um acht Uhr im Auftrag des Kurfürsten mit der Universität zu verhandeln.455 In Ausführung eines kurfürstlichen Befehls be‑ Achtung gehabt, sie müsten einst ‚einen rotten hahn‘ über die Häuser laufen lassen“, ebd., S. 65. Aussage des Hans Hauskeller: „wo es geschähe, das das Collegium von Burgern ange gangen und von ihnen Feuer angelegt, hätten sie gewonnen Spiel“, ebd. Aussage des Leunius Nawhert „das sie wollten ein Haus oder achte anstecken“, ebd. Aussage des Jacob Schwabe: „würden sie vor das Collegium ziehen, wollten sie, einen rotten hahn oder siben machen, das wir genug zu tun haben sollten“, ebd. 448 Vgl. Bericht [des Schossers Gregor Burger] an Friedrich den Weisen, ohne Datum, ge‑ druckt bei Förstemann (Hg.): Studenten‑Auflauf, S. 58. 449 Brecht: Luther, Bd. 1, S. 282 schreibt, „die Studenten in das Schloss eindringen [woll‑ ten], um das sich jedoch die Bürger scharten“. Darauf gibt es jedoch keinen Hinweis, wie auch schon Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 155 feststellte. 450 Vgl. Bericht [des Schossers Gregor Burger] an Friedrich den Weisen, ohne Datum, zi‑ tiert nach Förstemann (Hg.): Studenten‑Auflauf, S. 58. 451 Ebd. 452 Zeugenaussage des Cunradus Wens, Valten Lenz, Jacob Pull und Georg Zcigler: „am Freitag um 8 Uhr nach Mittag haben sie aus beiden Collegien geschossen.“, ebd., S. 67. 453 Dieses geht aus dem Begleitschreiben der Universität hervor: Capellan, Rector Ma‑ gistri und Doctores zu Wittenberg an den Kurfürsten, 14. Juli 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 4. 454 Vgl. zu diesem Dokument oben, Anm. 436. 455 Vgl. Hans von Dolzig an Friedrich den Weisen, Montag, 16. August 1520 abends um
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gannen nun Verhöre von Zeugen und möglichen Tätern; gleichzeitig blieben die Tore geschlossen, um zu verhindern, dass die Täter entkamen. Besonders sollte in den folgenden Tagen herausgefunden werden, wer die Versammlung initiiert hatte, wer dabei Waffen getragen hatte, von wem der Zettel mit dem Aufruf zur Versammlung stammte und woher die Drohung mit dem Feuer ge‑ kommen war.456 Der Zustand der Einschließung und die Verhöre dauerten län‑ gere Zeit an, so dass die Universität sich am 27. Juli darüber beschwerte: Die in Wittenberg anwesenden Studenten seien alle unschuldig, wenn es Verbrecher gegeben habe, so seien diese längst entkommen. Die Schließung der Stadt und die Anwesenheit der Truppen hätten die Studenten erschreckt, so dass man be‑ fürchtete, sie könnten an andere Universitäten abwandern.457 Der Kurfürst ließ sich jedoch auf das Argument des Ansehensverlustes seiner Universität nicht ein, seine Antwort lautete, die Maßnahmen seien notwendig, um die Schuldigen zu bestrafen, die „ehrliebenden“ Studenten hätten hingegen nichts zu befürch‑ ten.458 Schließlich wurden die Studenten auf kurfürstlichen Befehl wie folgt be‑ straft: Die zwölf als Anführer identifizierten mussten binnen Monatsfrist die Stadt verlassen. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie in unschicklicher Weise vor den Rektor getreten waren, dabei unbefugt stellvertretend für die Anderen ge‑ handelt und mit der Versammlung auf dem Kirchhof eine allgemeine Gefahr dargestellt hätten. Der Rektor sollte nochmals die Universität zusammenru‑ fen und ihnen die nun um ein allgemeines Versammlungsverbot erweiterte kur‑ fürstliche Ordnung vorhalten.459 Damit war diese Episode des Studentenaufruhrs zunächst beendet. Dass die Ereignisse von 1520 im Gegensatz zu vorherigen und späteren ähnlichen Kon‑ flikten hier im Detail beschrieben werden konnten, ist kein Zufall und soll diese auch nicht als besonders bedeutsam hervorheben; es ist vielmehr das Resultat der oben beschriebenen Überlieferungssituation. Die Akten dieses Konfliktes sind im Gegensatz zu anderen aus zwei Gründen in so großer Zahl überliefert: Erstens gilt auch hier die Grundvoraussetzung, dass sie den kurfürstlichen Hof betreffen und daher in der kurfürstlichen Überlieferung enthalten sind, die im Gegensatz zur Universitätsüberlieferung grundsätzlich umfangreicher ist. Der zweite Grund ist, dass in diesen Dokumenten der Name des Malers Lucas Cra‑ nach genannt wird, was die Aufbewahrung der Dokumente innerhalb dieser 6 Uhr, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 12, Bl. 14, gedruckt bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 101. 456 Vgl. Hans von Dolzig an Friedrich den Weisen, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 34, Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 104. 457 Vgl. die Universität an Friedrich den Weisen, 27. Juli 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl, 5–6, teilweise gedruckt bei Förstemann: Studenten‑Auflauf, S. 54. 458 Vgl. Friedrich der Weise an die Universität, 30. Juli 1520, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 7; teilweise gedruckt bei Förstemann: Studenten‑Auflauf, S. 55. 459 Vgl. Aufzeichnungen Hans von Dolzigs, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 33r‑34r; Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 105.
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Überlieferung erklärt. Cranach galt als wichtige Persönlichkeit der Reforma‑ tionszeit, was die Akten für die Registratoren bedeutsam und bewahrenswert erscheinen ließ.460 Die hier ausführlich dargestellten gewaltsamen Auseinander‑ setzungen zwischen Studenten und Bürgern bildeten also nur einen Ausschnitt aus den Wittenberger Studentenkonflikten, der nicht aus sachlichen Gründen, sondern aufgrund der Überlieferungssituation notwendigerweise hervorgeho‑ ben erscheint. Sie waren jedoch Ausdruck eines grundsätzlichen Konfliktes zwischen Bür‑ gern und Studenten um Privilegien, der mit der Gründung der Universität ent‑ standen war und auch nach 1520 weiter andauerte. Die Gegenstände dieses Konfliktes reichten von alltäglichen Streitpunkten wie Wohnungs‑ und Kost‑ geld oder nächtlichen Ruhestörungen bis hin zu gewaltsamen Übergriffen, Mord und Totschlag. Eine wichtige Rolle spielte dabei jeweils die Verteidigung der Privilegien der eigenen Gruppe, die sich auf bestimmte Kennzeichen der ei‑ genen Gruppenidentität konzentrierte. Etwa die Frage nach dem Recht, in der Stadt Waffen zu tragen, spielte so von Anfang an eine besondere Rolle in den Auseinandersetzungen. Ebenso konnte beobachtet werden, dass die Angriffe der Bürger besonders gegen bestimmte Gruppen von Studenten gerichtet wa‑ ren, nämlich gegen Geistliche und Adelige, die gegenüber den anderen Studen‑ ten besonders privilegiert waren. Erstere Gruppe stand in den Auseinanderset‑ zungen mit den Bürgern um 1512 im Mittelpunkt, während das Vorgehen der Bürger sich 1520 besonders gegen Adelige richtete. Diese grundsätzlichen Konflikte zwischen Studenten und Bürgern blieben, auch nachdem sich die Lage im Sommer 1520 vorläufig beruhigt hatte, bestehen und sollten bereits im folgenden Jahr erneut eskalieren. Ihr Verlauf war auch 1521 wieder ähnlich: Sie begannen mit den bereits bekannten Klagen der Uni‑ versität über zu teure Wohnungen und die allgemeinen hohen Lebenshaltungs‑ kosten in der Stadt im Juni,461 einen Monat später kam es wieder zu nächtlichen Gewalttaten, als Bürger der Stadt die Häuser universitätsangehöriger Geistli‑ cher stürmten.462 Der weitere Verlauf dieses Konflikts im Herbst 1521 wurde unter dem Stichwort der „Wittenberger Bewegung“ bekannt und wird in Kapi‑ tel II weiter untersucht.
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Eine solche Interpretation legt zumindest der Titel des entsprechenden Aktenkonvolu‑ tes nahe. Er lautet: „Der Studenten‑Auflauf wieder Lucas Cranach den Mahler anno 1520“. Cranach wird jedoch in den Akten nur beiläufig erwähnt, da er und die Mitarbeiter seiner Malerwerkstatt weiterhin Waffen trugen, was von den Studenten als besondere Provokation empfunden wurde. 461 Vgl. die Universität an Friedrich den Weisen, 17. Juni 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 319, Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 111. 462 Vgl. die Universität an Friedrich den Weisen, ohne Datum, Juli 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 315, gedruckt in: Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 115 f.
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3.6. Die Wittenberger Professorenschaft und die Studentenunruhen Die Studentenunruhen im Juli 1520 betrafen jedoch nicht nur Studenten und Bürger, sondern führten auch zu Auseinandersetzungen in der Wittenberger Professorenschaft, an denen maßgeblich auch Luther beteiligt war. Ebenso wie in den Konflikten zwischen Studenten und Bürgern selbst, lassen sich auch in der Wahrnehmung derselben Kontinuitäten zu den Konflikten der folgenden Jahre aufzeigen. Die Universitätsprofessoren wurden zunächst im Juli 1520 durch die Studen‑ ten in die Verhandlungen mit einbezogen. Bubenheimer geht davon aus, dass bei der Versammlung auf dem Franziskanerkirchhof ein Ausschuss von zwölf Stu‑ denten gewählt worden sei, der die studentischen Forderungen bei Universität und Rat durchsetzen sollte und unmittelbar nach der Versammlung eine Au‑ dienz beim Rektor erzwang.463 Eine solche Darstellungsweise ist zwar nicht di‑ rekt belegbar, wird jedoch von einigen Hinweisen in den Quellen gestützt.464 Bekannt ist jedenfalls, dass die Forderungen der Studenten parallel zu den Ak‑ tionen auf der Straße bei einer Senatssitzung in der Universität verhandelt wur‑ den. Dabei stellten sich nicht wenige Professoren auf die Seite der Studenten, da‑ runter auch, wie der ebenfalls anwesende Luther empört feststellte, der Rektor Peter Burkhard. Bei dieser Sitzung wurde schließlich beschlossen, den Forde‑ rungen der Studenten nachzugeben und gegen die Ordnung des Kurfürsten al‑ len Studenten das Tragen von Waffen wieder zu gestatten.465 Luther selbst hatte die Senatssitzung zu diesem Zeitpunkt bereits aus Pro‑ test verlassen und bat Spalatin am folgenden Tag, sich dafür einzusetzen, dass der Kurfürst einen harten und scharfen Brief an den Rektor schrieb.466 Seiner Meinung nach war hier der Satan am Werk, der auf diese Weise dem in Witten‑ berg neu aufkommenden Wort Gottes schaden wollte.467 Diese Bemerkung ver‑ weist auf mehrere interessante Aspekte. Zunächst stellte Luther die Studenten‑ unruhen in den Zusammenhang apokalyptischer Dimensionen und deutete so 463 Vgl.
Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 154. wurden anschließend an die Unruhen ungefähr 12 Studenten festgenommen, die für die Anführer gehalten wurden, vgl. Johann von Dolzig an den Kurfürsten, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 33–34. Ihnen wurde unter Anderem auch vorgewor‑ fen, in unangemessener Weise vor den Rektor getreten zu sein. Daher ist anzunehmen, dass irgendwann in diesen Tagen eine größere Gruppen von Studenten, „in Hauffen“ vor den Rek‑ tor getreten ist und ihre Forderungen vorbrachte, ein Vorgehen, was anschließend ausdrück‑ lich verboten wurde, vgl. Friedrich der Weise an die Universität Wittenberg, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 460, Bl. 16, teilweise gedruckt bei Friedensburg (Hg.): Ur‑ kundenbuch, S. 105 f. Dieser Artikel wurde als Ergänzung den Artikeln des Kurfürsten vom Februar hinzugefügt, vgl. ebd., S. 106 Anm. 1. 465 Vgl. Luther an Spalatin, 14. Juli 1520, in: WA Br. 2, S. 142–143. 466 Vgl. ebd. 467 Ebd., S. 143: „Scio Satane esse negocium, qui, cum nusquam possit nocere verbo die apud nos redenti, hac arte saltem ei infamiam querit.“ 464 So
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auch eine frühere Himmelserscheinung, die „lyrarische Vision“, als Vorzeichen dieses Aufruhrs.468 Entscheidend erscheint in diesem Zusammenhang auch der Bezug auf Luthers Reformwerk, welches er durch den Aufruhr gefährdet sah. Der Studentenaufruhr wurde so als eine Strafe Gottes für den mangelhaften Glauben der Wittenberger beschrieben, indem der Satan sich unter den Kin‑ dern Gottes eingeschlichen habe.469 Diese Deutung des Geschehens war nicht nur einer kurzfristigen Verärgerung geschuldet, denn Luther wiederholte sie auch in Briefen gegenüber Anderen, wenn er von dem Wittenberger Studenten‑ aufruhr berichtete.470 Wie Bubenheimer herausgestellt hat, wurde mit dieser Deutung der Situation der Studentenaufruhr in Luthers apokalyptischer Welt‑ sicht als Teil eines umfassenden Kampfes zwischen Gott und Teufel eingeord‑ net: Nach dem Kampf gegen Cajetan in Augsburg 1518, dem Kampf gegen Eck bei der Leipziger Disputation 1519 folgte nun der Kampf gegen die Wittenber‑ ger Studenten 1520.471 Der Satan war nach Leipzig und Heidelberg nun in den eigenen Reihen in Wittenberg angekommen, wo er auch in den folgenden Jah‑ ren sein Unwesen treiben sollte. Diese Deutungsweise konkretisierte sich im Verlaufe des Konfliktes in der Stadt immer stärker: Am Tag nach der Senatssitzung und der Studentenver‑ sammlung auf dem Kirchhof, dem 15. Juli, also einen Tag bevor die landesherr‑ lichen Truppen eintrafen, verurteilte Luther den Aufruhr in seiner Sonntags predigt in der Pfarrkirche scharf.472 Die Predigt führte jedoch nicht zu einer Beruhigung der Lage, sondern schürte eher den Konflikt unter Studenten wie Professoren. Angeblich hatten einige Studenten nach der Predigt sogar gedroht, Luther zu ermorden.473 Diese Drohungen, die von Bürgern in Zeugenverhören wiedergegeben wurden, trugen deutliche antiklerikale Züge: „wirth der monch solcher predigt meher thuen, welt ehr einen stein nhemen und den monch in der kirchen uff den kopf ader platten schlahen.“474 Aber nicht nur unter den Stu‑ denten, sondern auch unter Luthers Kollegen aus der Professorenschaft führte die Predigt zu Unmut, man warf ihm vor, sich gegen seine Universität auf die
468 „Visionem illam Lyranam, mi Spalatine, nihil aluid arbitramur esse, quam hanc ipsam seditionem.“ Luther an Spalatin, 17. Juli 1520, in: WA Br. 2, S. 144–145. Vermutlich ist eine Himmelserscheinung gemeint, die in Lier (Belgien) beobachtet worden war. Spalatin hatte Luther zuvor deshalb befragt, vgl. WA Br. 2, S. 145 Amn. 1. 469 Vgl. ebd. 470 So schrieb er an den Prior des Erfurter Augustinerklosters Johann Lang: „Satan ten tauit nuper seditionem apud nos mouere“, 29. Juli 1520, in: WA Br. 2, S. 150–151. 471 Vgl. Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 158. 472 Vgl. Luther an Spalatin, 17. Juli 1520, in: WA Br 2, S. 144–145. 473 „wurde ehr dieses predigen nicht abgehen, so wollten sie es mit im bald ein ende ma chen.“ Zeugenaussage des Thomas Feuerlein, zitiert nach Förstemann: Studenten‑Auflauf, S. 62. 474 Ebd.
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Seite des Stadtrates gestellt zu haben.475 Luther verteidigte seine Predigt gegen‑ über Spalatin, er habe keine Partei ergreifen wollen, sondern nur allgemein ge‑ gen Aufruhr gepredigt.476 Daran anschließend folgte in diesem Brief nochmals eine nachträgliche Deutung der Ereignisse aus Luthers Sichtweise, die über die genannte heilsgeschichtliche Einordnung hinausgeht und die, wie noch zu zei‑ gen ist, für die spätere Wahrnehmung der zukünftigen Entwicklungen in Wit‑ tenberg entscheidend wurde: Bisher galt Wittenberg in der Semantik Luthers als der Ort, von dem Gott die neu entdeckte Wahrheit des Evangeliums aus‑ gehen ließ. Die Wittenberger – „nos Wittenbergenses“ – waren die ersten, de‑ nen das Wort Gottes verkündet wurde, was innerhalb Wittenbergs insbeson‑ dere in der Universität und der Stadtkirchengemeinde geschah. Diese Gruppe war in Luthers Wahrnehmung nach dieser Predigt nun erstmals geteilt. Gegen‑ über Spalatin beschrieb er die Reaktionen der Gemeinde auf seine Predigt in Anlehnung an Mt. 3,12 als das Sieb, das die Spreu vom Weizen trennen musste: „Oportet enim hoc cribro paleas et triticum discerni.“477 Die Einwohner Wit‑ tenbergs wurden nun in zwei Gruppen geteilt, diejenigen, welche die „theolo gia nostra“ in Wahrheit, und diejenigen, welche sie nur zum Schein gehört hat‑ ten.478 Hier konkretisierte sich das, was Luther in seinen Bemerkungen über das Wirken des Teufels bei der Senatssitzung bereits angedeutet hatte: Schon zu die‑ sem Zeitpunkt sah er seine Wittenberger in eine Gruppe wahrhafter und eine Gruppe nur scheinbarer Christen gespalten, eine Deutungsweise, die in den fol‑ genden Jahren von entscheidender Bedeutung für die Selbstdeutung der Refor‑ matoren und damit für den Gruppenbildungsprozess des reformatorischen La‑ gers werden sollte.
475 „Clamant me partes senatus egisse“, Luther an Spalatin, 17. Juli 1520, in: WA Br. 2, S. 144–145, hier S. 144. 476 Vgl. Luther an Spalatin, 22. Juli 1520, in: WA Br. 2, S. 147. In der Interpretation Buben‑ heimers ist diese Tatsache entscheidend, denn sie erlaubt es, von einer grundsätzlichen Aver‑ sion Luthers gegen den Aufruhr des Volkes zu sprechen, die nicht erst mit der Wittenberger Bewegung entstand, vgl. Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 159. 477 Luther an Spalatin, 17. Juli 1520, in: WA Br. 2, S. 144–145, hier 144. 478 „qui vere et qui ficte nostram theologiam audierunt“, ebd.
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4. Der päpstliche Bann über Wittenberg Diese Entwicklung wurde jedoch in den nächsten Monaten vorerst unterbro‑ chen, denn zunächst geriet im Herbst 1520 die Universität selbst zusammen mit Luther durch den römischen Prozess unter Druck. Der Ärger in der Profes‑ sorenschaft über die Position Luthers während der Studentenunruhen war be‑ reits nach wenigen Wochen verklungen, es galt nun, sich gemeinsam gegen eine äußere Bedrohung der Universität durchzusetzen.479 Da das Vorgehen Roms gegen Luther und das Taktieren des kurfürstlichen Hofes in dieser Sache insge‑ samt gut erforscht ist, wird es hier nur im Hinblick auf seine Bedeutung für die Stadt und Universität Wittenberg kurz skizziert.480
4.1. Wittenberg und die Bannandrohung Die als „Bannandrohungsbulle“ bekannte päpstliche Bulle „Exsurge Domine“ erreichte die Universität Wittenberg am 10. Oktober 1520 zusammen mit einem Begleitschreiben Johannes Ecks.481 Das Dokument war dem Universitätsrektor Peter Burkhard durch einen Leipziger Stadtknecht zugestellt worden, da der für die Verbreitung der Bulle zuständige Johannes Eck sich entweder nicht auf kur‑ sächsisches Gebiet wagte482 oder eine Verweigerung der Annahme verhindern
479 Luther schrieb am 5. August an Spalatin, er habe zunächst abwarten wollen, bis sich die Wogen geglättet hätten, bevor er wieder an Spalatin schrieb: „Diu non scripsi, expectans, dum resideret in te, quem amici suscitauerunt tumultum“, Luther an Spalatin, 5. August 1520, in: WA Br. 2, S. 163–164, hier S. 163. 480 Zu Luthers römischem Prozess und der Vorgeschichte der Verhängung des Bannes vgl. Karl Müller: Luthers römischer Prozess, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903), S. 46–85; korrigierend dazu mit umfangreicher Quellenarbeit: Paul Kalkoff: Zu Luthers römischem Prozeß, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 25 (1904), S. 90–147, S. 273–290, S. 399–459, S. 503–603; Ders.: Kleine Nachlese zu Luthers röm. Prozeß, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 44 (1925), S. 213–225; Wilhelm Borth: Die Luthersache (Causa Lutheri). Eine Frage von Frieden und Recht, Tübingen 1970; Brecht: Luther, Bd. 1, S. 371–378; Kruse: Universitätstheologie, S. 256–266; ebenso die Quellensammlung Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hgg.): Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), 2. Teil: Vom Augsburger Reichs‑ tag bis zum Wormser Edikt, Münster 1991. 481 Dr. Johann Eck an die Universität Wittenberg, 3. Oktober 1520, Regest bei Friedens‑ burg (Hg.): Urkundenbuch, S. 106–107. 482 So Brecht: Luther, Bd. 1, S. 382.
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wollte.483 Die Bulle verurteilte 42 Sätze der Lehre Luthers als häretisch, irr‑ tümlich und Ärgernis erregend, bereits gedruckte Bücher Luthers sollten ver‑ brannt werden.484 Sie forderte die Gefangennahme Luthers und seiner Anhän‑ ger und drohte allen Orten mit dem geistlichen Interdikt, sofern sie den Aufent‑ halt Luthers oder seiner Anhänger duldeten.485 In dem Begleitschreiben Ecks wurde der Universität Wittenberg unter An‑ drohung des Verlustes ihrer päpstlichen Privilegien die Lehre dieser Artikel ver‑ boten, außerdem wurden namentlich Martin Luther, Andreas Karlstadt und Johann Dölsch genannt, die, falls sie der Ketzerei nicht abschworen, nach ei‑ ner Frist von 60 Tagen nicht mehr an der Universität zu dulden seien.486 Der Rektor veröffentlichte die Bulle nicht, sondern sandte das Begleitschreiben, da Friedrich der Weise abwesend war, an Herzog Johann. Dabei verwies er auf die rechtlich zweifelhafte Art der Zustellung sowie auf die fehlenden Beglau‑ bigungsschreiben und die ebenfalls fehlenden Vollmachten, weitere Personen in die Bannandrohung mit einzubeziehen. Auch sei Eck für seine Feindschaft gegenüber Wittenberg bekannt,487 der Kurfürst sollte daher dafür sorgen, dass Luther vor einer unparteiischen Kommission verhört würde.488 An der Wittenberger Universität und am kursächsischen Hof war die Bulle seit längerer Zeit erwartet worden.489 Friedrich der Weise hatte seine Haltung in der Luthersache im April 1520, nachdem er offiziell über die bevorstehende Verurteilung seines Professors informiert worden war, noch einmal deutlich ge‑ macht: Die Forderung Luthers nach Rom werde als unrechtmäßig angesehen, solange Luthers Irrtümer nicht von dem zuständigen Richter bewiesen worden seien, da viele Gelehrte Luthers Ansichten als christlich und wohlbegründet betrachteten.490 Bereits im April hatte Spalatin den Wittenberger Juristen Hie‑ ronymus Schurf aufgefordert, ein Gutachten über Maßnahmen zu verfassen, die 483
Der Rektor der Universität, Peter Burkhard sprach von einer Übermittlung „auf die bische Art, mit bübischen Listen“, WA Br. 2, S. 194. 484 Eine kritische Edition der Bulle mit deutscher Übersetzung und Kommentar bieten Fabisch/Iserloh: Dokumente, S. 338–412. 485 Ebd., S. 404 (lateinisch), S. 405 (deutsch). 486 Vgl. ebd., S. 335. 487 Aus der Leipziger Disputation, in der Martin Luther, Andreas Karlstadt und Philipp Melanchthon die Wittenberger Theologie vertreten hatten. 488 Vgl. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 384; Fabisch/Iserloh (Hgg.): Dokumente, S. 335. 489 Der Hof war über den Stand des römischen Prozesses genau informiert, auch offiziell wurde der Kurfürst im April 1520 erstens durch Raffael Riario und den Vertreter Albrechts von Mainz, Valentin Tetleben ausdrücklich auf die bevorstehende Verurteilung Luthers als Ketzer hingewiesen und aufgefordert, Luther zum Widerruf zu zwingen. Die Briefe sind ge‑ druckt bei Kalkoff: Luthers römischer Prozeß, S. 587–593. Vgl. zu den Verhandlungen des sächsischen Hofes mit der Kurie ebd., S. 450–512; Borth: Luthersache, S. 72–77; Brecht: Luther, Bd. 1, S. 378–382. 490 Vgl. die Antwortschreiben des Kurfürsten an Kardinal Riario und Valentin Tetleben, gedruckt bei Kalkoff: Römischer Prozess, S. 593–594, vgl. auch Borth: Luthersache, S. 73.
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zu treffen waren, falls Luther, der Kurfürst, die Universität oder die ganze Stadt Wittenberg von Rom mit dem Interdikt belegt würden.491 Die Universität selbst hatte sich bereits zu Beginn des römischen Prozesses im September 1518 mit ei‑ ner Supplikation an Leo X. gegen Luthers Vorladung nach Rom gewendet.492 Kurz nachdem die Bannandrohungsbulle Wittenberg erreicht hatte, rieten die rechtskundigen Professoren der Universität Herzog Johann von der Ausliefe‑ rung Luthers ab: Man solle abwarten, um Zeit zu gewinnen.493 Der Fortgang der Verhandlungen, die schließlich in dem Verhör Luthers vor dem Wormser Reichstag, der Verhängung der Reichsacht und seiner Entfüh‑ rung auf die Wartburg mündeten, ist bekannt. Festzuhalten ist an dieser Stelle im Bezug auf die Universität, dass die Bannandrohung als eine Bedrohung der gesamten Universität aufgenommen wurde, die mehrere ihrer Mitglieder zu Unrecht betraf, und man gemeinsam mit dem Hof versuchte, auf juristischem Wege ihre Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen. Einmal mehr bewies die Univer‑ sität hier, wie schon zuvor in den vielfältigen Bannandrohungen und -verhän‑ gungen des Bischofs von Brandenburg, ihre bedeutende Stellung als „oraculum“, das mit der Kompetenz der hier versammelten Gelehrten in schwierigen Fällen Handlungsanweisungen geben konnte.494 Diese Kompetenz der Wahrheitsfin‑ dung durch die Universität erstreckte sich neben kirchenrechtlichen auch auf theologische Fragen, in denen das Urteil von Gelehrten nun über das der römi‑ schen Kurie gestellt wurde. Von der Universität selbst wie auch vom Kurfürsten wurde damit ein neues Verständnis der Rolle der gelehrten Theologen und Juristen vertreten, wel‑ ches in den vorherigen Jahren durch die Etablierung der Disputation als In‑ strument der Wahrheitsfindung in Glaubensfragen vorbereitet worden war.495 Über Wahrheit und Unwahrheit theologischer Sachverhalte entschieden nun nicht mehr Bischof oder Papst, sondern unabhängige Gelehrte. Dieses für die Durchsetzung der Reformation grundsätzlich entscheidende neue Verständnis von Prozessen der Wahrheitsfindung in geistlichen Dingen hatte sich innerhalb der Stadt Wittenberg in den letzten beiden Jahrzehnten durch die enge Ver‑ bindung der Universität mit dem Allerheiligenstift als sakralem Zentrum der 491 Spalatin an Hieronymus Schurf, 14. April 1520, gedruckt bei Kolde: Friedrich der Weise, Anlage II, S. 41–42. Das Gutachten ist nicht erhalten, vgl. Borth: Luthersache, S. 74. 492 Die Universität an Papst Leo X., 25. September 1518; das Schreiben selbst ist nicht erhalten, wird aber in der Universitätsmatrikel erwähnt, vgl. Friedensburg (Hg.): Urkun‑ denbuch, S. 88. 493 Vgl. die Professoren Stählin, Schurf und Beyer an Herzog Johann, 23. Oktober 1520, in: Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 107. 494 Der Begriff des „oraculum“ stammt aus den Statuten, die der Kurfürst der Universität 1508 verliehen hatte, vgl. zur Rolle der Universität als Instanz der Wahrheitsfindung oben, S. 48/49 und S. 103. 495 Vgl. dazu ausführlich: Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa, Frankfurt 22006, S. 42–47.
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Stadt und durch ihre wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen mit dem Bi‑ schof von Brandenburg schrittweise entwickelt. Bereits in den letzten beiden Jahrzehnten hatten die Wittenberger gezeigt, dass auch genuin geistliche Dinge, die nach dem Kirchenrecht unzweifelhaft in den Machtbereich des Bischofs fie‑ len, praktisch zu verhandelbaren Gegenständen werden konnten, indem der Rat und insbesondere die Universität hier eigene Deutungsansprüche stellten. Ge‑ rade die Verhängung eines Interdiktes, die nun mit der Bannandrohungsbulle erneut drohte, fürchtete man kaum noch. Der Bischof als geistlicher Herr der Stadt war aus Entscheidungsprozessen in geistlichen Dingen längst hinausge‑ drängt worden. Auf diese Weise war die Delegitimierung der alten kirchlichen Ordnung in Wittenberg in einem bereits seit Jahren andauernden Prozess mit symbolischen Mitteln schrittweise vollzogen worden und wurde in dem sym‑ bolischen Akt der Verbrennung des kanonischen Rechtes und der Bannandro hungsbulle am 10. Dezember 1520 nun abschließend besiegelt.
4.2. Die Verbrennung der Bannandrohungsbulle In der Stadt wurden die Auswirkungen der Bannandrohungsbulle erstmals öf‑ fentlich sichtbar, als Anfang Dezember 1520 eine Gruppe geistlicher Studenten unter großem Tumult die Universität verließ, nachdem sie von ihren Landes‑ herren in Folge der Bannandrohung dazu aufgefordert worden waren.496 Auch wenn der Abzug der Studenten aus Wittenberg, wie Heinrich Boehmer bereits 1921 nachgewiesen hat, nicht so spektakulär war wie von der älteren Litera‑ tur dargestellt, wurde er dennoch von der Universität zunächst als Bedrohung angesehen und war wohl auch für alle Einwohner Wittenbergs deutlich wahr‑ nehmbar.497 Als Spalatin auf die Nachricht der Universität hin am 3. Dezem‑ ber in Wittenberg eintraf, hatte sich die Lage jedoch bereits wieder beruhigt.498 Schon wenige Tage später konnte er berichten, zwar hätten 150 Studenten die Universität verlassen, doch kämen täglich neue hinzu. Besonders die Vorlesun‑ gen Melanchthons und Luthers seien gut besucht, ebenso wie ein großer An‑ drang zu Luthers Predigten in der Pfarrkirche und Klosterkirche des Augusti‑ 496 Davon berichtet Spalatin an Friedrich den Weisen, 3. Dezember 1520, gedruckt bei Kastner (Hg.): Quellen zur Reformation. 1517–1555, Darmstadt 1994, S. 107–109, Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 108. 497 Während die ältere Literatur von einem Abzug von etwa 150 Studenten spricht, die unter großem Lärm gleichzeitig die Stadt verließen, woraufhin unter den Bürgern eine Panik ausgebrochen sei, korrigierte Boehmer dieses dahingehend, dass weder die Gleichzeitigkeit des Abzuges der 150 Studenten noch der Abzug als demonstrativer Akt, noch die Panik unter den Bürgern belegbar ist, vgl. Heinrich Boehmer: Luther und der 10. Dezember 1520, in: Luther‑Jahrbuch 2/3 (1920/21), S. 7–53 hier S. 33–34. 498 Vgl. Spalatin an Friedrich den Weisen, 3. Dezember 1520, Regest bei Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 108.
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nerklosters zu verzeichnen sei.499 Spalatins Darstellung lässt erkennen, dass er bemüht war, gegenüber dem Kurfürsten die wichtige Position Luthers an der Wittenberger Universität und als Prediger in den Kirchen der Stadt herauszu‑ stellen. Auch andere Professoren der Universität verwendeten sich beim Kur‑ fürsten für Luther.500 Die Bannandrohung gegen ihre Mitglieder wurde zu ei‑ ner gemeinsamen Bedrohung für die gesamte Universität, immer mehr Profes‑ soren bekundeten ihre Solidarität mit Luther und Karlstadt. So zitierte Spalatin etwa den Propst des Allerheiligenstiftes „er heldet von der Bullen nichts“, ob‑ wohl auch er aufgefordert worden war, sich nach Erfurt zu begeben, wolle er in Wittenberg bleiben „domit man nit durf sagen, er sei aus forcht von dan nen geschiden“.501 Das Eintreffen der Bannandrohungsbulle führte damit an der Wittenberger Universität zu einem verstärkten inneren Zusammenhalt der akademischen Gemeinschaft. Dieser wurde durch die von Luther initiierte Zu‑ schreibung der Bulle an den Ingolstädter Professor Johannes Eck, der den Wit‑ tenbergern aus der Leipziger Disputation bekannt war, verstärkt ermöglicht: Indem die Bulle als eine Fälschung Ecks behandelt wurde, richtete man sich nicht gegen den Papst, sondern gegen die akademische Konkurrenz des Nach‑ barterritoriums.502 Inwieweit auch die Wittenberger Einwohner über den drohenden Bann in‑ formiert waren, ist unklar. Die bewusst unauffällige Art der Zustellung der Bulle lässt vermuten, dass sie zunächst nur an der Universität bekannt war. Von einer Veröffentlichung in der Stadt, für die der Bischof von Brandenburg zu‑ ständig gewesen wäre, ist hingegen nicht die Rede.503 Unmittelbar betroffen hätte die Wittenberger das mit Luthers Bann drohende Interdikt über die ganze Stadt, was in dem Begleitschreiben Ecks noch einmal bekräftigt worden war. Da die Stadt sich in den letzten Jahren fast ständig im Interdikt befunden hatte, ohne dass dieses Auswirkungen auf die gottesdienstliche Praxis gehabt hätte, sondern Wittenberg im Gegenteil gerade in dieser Zeit weithin wahrnehmbar 499 „Die pfarrkirchen und closter werden doctor Martinus schier vil zu clain zu seiner pre dig. sein prior besorgt, das folk wird im einst das haus eindrucken.“ Spalatin an Friedrich den Weisen, zwischen 3. und 7. Dezember, gedruckt in: Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 109. 500 Ebd. 501 Der Propst Henning Goede hatte als Dekan der juristischen Fakultät und Kanoniker an der Stiftskirche Beatae Mariae Virginis in Erfurt gewirkt, bis er 1509 die Stadt verließ und 1510 eine Professur an der Universität Wittenberg sowie die damit verbunde Stelle des Props‑ tes des Allerheiligenstiftes annahm. Da in dem Schreiben Spalatins davon die Rede ist, dass der Propst „von den von Erffurt bezalt werde“, ist davon auszugehen, dass er zumindest die dortige Stiftspfründe noch behalten hatte, was seine Abforderung nach Erfurt erklärt, vgl. ebd. 502 Dieses Vorgehen hatte Luther unmittelbar nach dem Eintreffen der Bulle in Witten‑ berg vorgeschlagen, vgl. Luther an Spalatin, 11. Oktober 1521, in: WA Br. 2, S. 195. 503 Spalatin schrieb dazu am 3. Dezember 1520: „Sie wissen hie noch nit, wo der bischoff von Brandenburg im land sey.“ Vgl. Kastner (Hg.): Quellen, S. 107–109, hier S. 108.
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zu einer Pilgerstätte und einem besonderen Ort des Heils geworden war, ist zu vermuten, dass man das Interdikt nicht besonders fürchtete. Gleichzeitig galt jedoch die päpstliche Autorität im Gegensatz zur bischöflichen bisher aus Sicht aller Wittenberger Akteure unvermindert, denn sie hatte dem Wittenber‑ ger Rat, der Universität und auch dem Kurfürsten gerade dazu gedient, die Au‑ tonomie der Stadt in geistlichen Dingen gegenüber dem Bischof zu stärken. Während Eck mit der Veröffentlichung der Bulle an vielen Orten scheiter‑ te,504 verfolgte nun auch die Wittenberger Universität eine offensive Medien strategie. Der Text der Bannandrohungsbulle wurde in einer Übersetzung Spa‑ latins veröffentlicht und Luther verfasste eine Flugschrift „Von den neuen Ecki schen Bullen und Lügen“, in der er die Darstellung der Bulle als Fälschung Ecks weiter verbreitete.505 In weiteren Flugschriften setzte Luther sich auch detail‑ liert mit den Lehren der Bulle auseinander und erneuerte dabei besonders seine Feststellung, dass der Papst der Antichrist sei.506 Den Höhepunkt dieser Me‑ dienstrategie bildete schließlich die bekannte Verbrennung der Bulle vor dem Elstertor durch Luther, die bis heute als einer der zentralen Erinnerungsorte des Luthertums gelten kann.507 Wie bereits Heinrich Boehmer gezeigt hat, war diese seit langem geplant und angekündigt, es handelte sich dabei keineswegs um eine spontane Reaktion des Reformators. So ist es etwa eine sicherlich zu‑ fällige, dennoch ironische zeitliche Parallele, dass genau am 10. Juli 1520, als 504 Nicht nur in Wittenberg, sondern auch in anderen Städten erwiesen sich die Verkün‑ digung der Bulle und die im Zusammenhang damit vorgesehene Verbrennung von Luthers Schriften als nur schwer durchführbar. Wie der päpstliche Nuntius Aleander berichtete, kam es dabei besonders in Leipzig, Zeitz und Erfurt zu Widerstand und Unruhen, in Erfurt so‑ gar zur Verbrennung der dort verbreiteten Drucke der Bulle, vgl. Boehmer: Luther und der 10. Dezember, S. 23. Vgl. zu den Ereignissen in Erfurt auch: Robert W. Scribner: Die Ei‑ gentümlichkeit der Erfurter Reformation, in: Ulman Weiss (Hg.): Erfurt 741–1992. Stadt‑ geschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, S. 241–254, hier S. 244. 505 Martin Luther: „Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen“, in: WA 6, S. 579– 594. 506 Vgl. dazu im Einzelnen Kruse: Universitätstheologie, S. 159–263. 507 Eine Rezeptionsgeschichte dieses Ereignisses ist dennoch bis heute ein Forschungs‑ desiderat. Seit dem wegweisenden Aufsatz von Heinrich Boehmer, der die zahlreichen vor‑ handenen Berichte erstmals einer Quellenkritik unterzieht und daran anschließend zentrale Fragen aufwirft, ist das Thema in der Forschung nicht mehr aufgegriffen worden. Boehmer stellt u.a. die Frage, woher die Rede von der Verbrennung der Bannandrohungsbulle kommt, während zeitgenössische Quellen zumeist nur die Verbrennung des kanonischen Rechtes the‑ matisieren, vgl. Boehmer: Luther und der 10. Dezember. Zum Ablauf der Verbrennung und den darauf folgenden studentischen Aktionen vgl. außerdem: Brecht: Luther, Bd. 1, S. 403– 406; Kruse: Universitätstheologie, S. 267–273; Hans Beschorner: Die sogenannte Bann‑ bulle und ihre angebliche Verbrennung durch Luther am 10. Dezember 1520, in: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Zum 60. Geburtstag von Helmut Kretzschmar, hg. von der staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat für innere Angelegenheiten, Berlin 1953, S. 315–328. Zu den Fragen von Ritual und Inszenierung vgl. zuletzt Anselm Schubert: Das Lachen der Ketzer. Zur Selbstinszenierung der frühen Reformation, in: Zeitschrift für Theo‑ logie und Kirche 108, 4 (2011), S. 405–430.
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die Studentenunruhen zu eskalieren schienen und die Studenten drohten, einen „roten Hahn“ über die Häuser der Stadt laufen zu lassen, Luther eine Schrift veröffentlichte, in der er seinen Gegnern ebenfalls mit Feuer drohte. Einen „ro ten Haufen“ sollte man aus den Gesetzbüchern des Papstes machen, so heißt es in der großen Reformschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“, die genau an diesem Tag herauskam.508 Die Ereignisse des 10. Dezember lassen sich aus den zahlreichen, sich teil‑ weise widersprechenden zeitgenössischen Berichten509 wie folgt rekonstruieren: Am 10. Dezember, dem Tag, an dem die in der Bulle genannte Widerrufsfrist von 60 Tagen endete, wurden die Studenten der Wittenberger Universität nun durch einen Anschlag an der Tür der Pfarrkirche510 aufgefordert, sich zur Ka‑ pelle zum Heiligen Kreuz zu begeben.511 Dort sollten die Bücher der päpstli‑ chen Gesetze und der scholastischen Theologie verbrannt werden. Gegen neun Uhr fanden sich Studenten und Professoren am genannten Ort vor dem Elster‑ tor ein. Die Hauptrolle bei dem nun folgenden „spectaculum“512 kam dem Ma‑ gister Johann Agricola zu, der einen Scheiterhaufen entzündete und darin einige Ausgaben des kanonischen Rechtes, die „summa angelica de casibus conscien tiae“ und verschiedene Schriften Ecks und Emsers verbrannte.513 Die ebenfalls geplante Verbrennung der Bücher der scholastischen Theologie scheiterte da-
508 „sein doch in dem ganzen geystlichen Bapsts gesetz nit zwo zeyllen, die einen frummen Christen mochten unterweyszen, und leyder szoviel yrriger und ferlicher gesetz, das nit besser weere, man mecht einen Rotten hauffen darausz.“ Martin Luther: „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“, in: WA 6, S. 381–469, hier S. 443. Anfang Dezember hatte Luther gegenüber Spalatin zunächst angekündigt, die Bulle während der Predigt auf der Kanzel zu verbrennen, worüber auch der Kurfürst informiert war, vgl. etwa Kruse: Universitätstheologie, S. 267; Boehmer: Luther und der 10. Dezem‑ ber, S. 31–33. 509 Als Augenzeugenberichte können gelten: Die Briefe Luthers an Spalatin vom 10. De‑ zember sowie an Staupitz vom 14. Januar, protokollarische Aufzeichnungen des Johann Agricola vom 10. Januar, ein wenig später in Leipzig gedruckter Bericht eines unbekannten Studenten mit dem Titel „Exustionis Antichristianorum decretalium acta“. Darüber hinaus berichten über das Ereignis verschiedene Flugschriften, die Annalen Spalatins, sowie ein in‑ haltlich stark abweichender Bericht des Bischofs von Brandenburg, der jedoch nach eigenen Angaben kein Augenzeuge war. Die wichtigsten Quellen sind abgedruckt in: Julius Jor‑ dan: Luther und der Bann in seinen und seiner Zeitgenossen Aussagen. 2. Flugschrift der Luther‑Gesellschaft, Leipzig 1920, vgl. auch WA 7, S. 181–186. 510 Dort fand nach der vom Kurfürsten gegebenen Ordnung der Gottesdienste in Witten‑ berg von 1508 die Frühmesse statt, vgl. oben, S. 100. Damit wäre die Frage Boehmers beant‑ wortet, warum der Zettel nicht an der Schlosskirche angeschlagen wurde. 511 Der Wortlaut des Anschlages ist erhalten, vgl. WA 7, S. 183. 512 So lautet die Bezeichnung in dem Bericht „Exustionis Antichristianorum decretalium acta“ des anonymen Studenten, in: WA 7, S. 184–186. 513 Die Verbrennung der „summa angelica“ erklärte Luther später als Kritik an der Buß‑ praxis, da diese ein maßgebliches Beichthandbuch war. Zum Inhalt der verbrannten Schriften vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 267.
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ran, dass niemand sein Exemplar dafür zur Verfügung stellen wollte.514 An‑ schließend warf Luther, zumindest nach Angabe einiger Berichte,515 ein Exem‑ plar516 der päpstlichen Bulle ins Feuer, sprach dabei einige Worte in lateinischer Sprache,517 worauf die Umstehenden mit „Amen“ antworteten. Während das „spectaculum“ für die Professoren damit beendet war, blieben die Studenten beim Feuer und begannen ihr eigenes Schauspiel: Gegen zehn Uhr, so heißt es in dem anonymen Studentenbericht, inszenierten sie beim Feuer eine Totenmesse für die verbrannten Bücher.518 Anschließend fuhren ei‑ nige verkleidete Studenten auf einem Bauernwagen durch die Stadt, auf dem an einer langen Stange eine Papstbulle befestigt war, die wie ein Segel im Wind flat‑ terte.519 Einer von ihnen spielte Trompete, was die Wittenberger Bürger herbei‑ rief, die nun den Wagen in einem Zug begleiteten. Unterwegs sammelte man auf dem Wagen weitere Exemplare des kanonischen Rechts, sowie Schriften Ecks und anderer Gegner der Wittenberger Professoren, etwa des Leipziger Profes‑ 514 Vermutlich deshalb, weil diese im Lehrbetrieb der Universität nach wie vor gebraucht wurden und den Professoren auch als Vorlage für Kontroversschriften dienten. Auch Luther selbst fehlte offensichtlich beim Verfassen seiner Kritik des kanonischen Rechtes sein ver‑ branntes Exemplar, denn er zitierte ungenau aus dem Gedächtnis, vgl. Boehmer: Luther und der 10. Dezember, S. 26. 515 In der Frage, welche Schriften von wem verbrannt wurden, widersprechen sich die Be‑ richte am stärksten. Nach Agricola verbrannte Luther nur die Bulle, nach dem ungenannten Studenten auch die Bücher, der Aufruf nennt die Bulle überhaupt nicht, sondern spricht nur von der Verbrennung des kanonischen Rechtes, ebenso der Bericht des Bischofs von Branden‑ burg und die später verfassten Annalen Spalatins. 516 Vermutlich handelte es sich dabei um eine Kopie, die der Universität zugestellt worden war. Über ein Original mit päpstlichen Siegeln, wie es viele Darstellungen der Verbrennung zeigen, verfügten die Wittenberger nicht, vgl. Paul Kalkoff: Das neugefundene Original der Verdammungsbulle, in: Luther‑Jahrbuch 2/3 (1920/21), S. 54–57, hier: S. 55. 517 Nach dem Bericht Agricolas „Quia tu conturbasti veritatem Dei, conturbet te hodie Dominus in ignem istum“, nach dem Bericht des ungenannten Studenten „Quia tu conturbasti sanctum Domini, ideoque te conturbet ignis aeternus“, zitiert nach Boehmer: Luther und der 10. Dezember, S. 16. 518 Über die Einzelheiten dieser studentischen Aktionen berichtet allein die Flugschrift des anonymen Studenten „Exustionis Antichristianorum decretalium acta“, in: WA 7, S. 184– 186, hier S. 185. Wahrscheinlich lag diese Schrift auch dem Bischof von Brandenburg vor, denn dieser vermischte in seinem Bericht anscheinend die beiden Aktionen und schreibt so etwa im Bezug auf die Verbrennung der Bücher durch Luther, man habe einen der Umste‑ henden als Papst verkleidet und ans Feuer geführt und dort seine „coronam“ (gemeint ist wohl die Tiara) ins Feuer geworfen, vgl. Walter Friedensburg (Hg.): Die Verbrennung der Bannbulle durch Luther (10. Dezember 1520). Ein zeitgenössischer Bericht, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven 1 (1889), S. 320–321. 519 Kruse: Universitätstheologie, S. 269 verweist auf einen möglichen Bezug der Inszenie‑ rung der Wittenberger Studenten zu dem von Karlstadt 1519 publizierten Flugblatt „Him‑ mel‑ und Höllenwagen“, das die Fahrt der Papstkirche auf einem Wagen in Richtung des Höl‑ lenschlundes darstellt. Rublack: Reformation, S. 26 bezeichnet den Wagen der Studenten als „Narrenschiff“, offensichtlich in Anspielung auf das bekannte Motiv der verkehrten Welt aus dem 1494 gedruckten gleichnamigen Werk Sebastian Brandts.
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sors Hieronymus Dungersheim von Ochsenfahrt. Der Zug endete schließlich wieder bei dem Scheiterhaufen vor dem Elstertor, wo die gesammelten Bücher nun unter großem zeremoniellem Aufwand verbrannt wurden: Der Trompeter blies die Ostervigil, die Studenten zogen mit ihren päpstliche Bullen darstellen‑ den Fahnen um das Feuer, man sang „Te deum laudamus“, das volkstümliche Lied „Oh du armer Judas“520 und mit Bezug auf das dargestellte Begräbnis der Bullen „Requiem in aeternam“.521 Die theologischen Schriften wurden ebenso wie die Bannandrohungsbulle unter Gelächter der Menge laut verlesen, verspot‑ tet und ins Feuer geworfen. Anschließend sammelte man Geld, um Seelenmes‑ sen für die verbrannten Bücher zu lesen. Während die Verbrennungsaktion am Morgen nur von den Angehörigen der Universität wahrgenommen wurde und wohl auch nur diesen verständlich war, richtete sich das „spectaculum“ der Studenten an alle Einwohner der Stadt und machte die Verbrennung der päpstlichen Bücher und Schriften erst allgemein bekannt. Damit erhielt die von der Professorenschaft ausgehende Kritik am Papsttum erstmals aktive Unterstützung, nicht nur von Seiten der Studenten, sondern von der ganzen Stadt. Auf diese Weise schuf die gemeinsame Beteili‑ gung von Studenten und Bürgern an den Verbrennungsritualen am Nachmittag eine Gemeinschaft aus Studenten und Bürgern in Ablehnung der päpstlichen Kirche. Die städtische Heilsgemeinschaft aus Kirche, Universität und Bürgern, die sich in den vorangehenden Jahren in vielfältigen Formen der gottesdienst‑ lichen Praxis nach innen und gegenüber dem Bischof von Brandenburg in Ab‑ grenzung nach außen konstituiert und gefestigt hatte, richtete sich nun erstmals gemeinsam auch gegen die päpstliche Gewalt. Diese Entwicklung verlief von Anfang an parallel zu den innerstädtischen Unruhen zwischen Bürgern und Studenten, die sich auch in dieser Zeit und in den folgenden Jahren fortsetzten. Die gemeinsame Aufführung des „spectaculum“ gegen die päpstlichen Schriften fand zwar unter der Führung der Studenten, jedoch mit aktiver Beteiligung der Bürger statt, die sich an dem Umzug durch die Stadt beteiligten und gemeinsam mit den Studenten das Requiem für die verbrannten Schriften sangen. Betrachtet man die beschriebenen Aktionen von Studenten und Professoren im Einzelnen, so zeigt sich, dass beide nicht zufällig gewählt waren, sondern be‑ kannten rituellen Ausdrucksformen aus dem kirchlichen und städtischen Kon‑ text folgten.522 Die Ausdrucksformen des Vormittags sowie des Nachmittags 520
Das Judaslied wurde auch bei späteren ikonoklastischen Aktionen in anderen Städten gesungen, vgl. Scribner: Ritual and Reformation, hier S. 119. Das Singen des Judasliedes wird auch erwähnt in Berichten über schweizerische Bilderstürme, so etwa in Basel 1529, vgl. Norbert Schnitzler: Der Vorwurf des Judaisierens in den Bilderkontroversen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder, S. 333–356, hier S. 354. 521 Vgl. den Bericht des anonymen Studenten „Exustionis Antichristianorum decretalium acta“, in: WA 7, S. 184–186, hier S. 186. 522 Dieses Prinzip zeigte zuerst Natalie Zemon Davis anhand der „Riten der Gewalt“
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bewegten sich jeweils zwischen verspottender Ablehnung und selbstverständ‑ licher Aneignung bekannter ritueller Praktiken. So manifestierte die Verbren‑ nungsaktion der Professoren zwar den Bruch mit der gesamten Ordnung der päpstlichen Kirche, bediente sich dazu jedoch eben der symbolischen Akte, mit denen die Kirche selbst einen endgültigen Bruch mit bestimmten Perso‑ nen, Dingen oder Lehren vollzog. Die Verbrennungsaktion der Wittenberger folgte in ihrem Ablauf hier unmittelbar den Praktiken der inquisitorischen Ket‑ zer‑ oder der Bücherverbrennung, welcher als Folge der Bannandrohungsbulle in anderen Städten kurz zuvor auch Luthers Schriften zum Opfer gefallen wa‑ ren. Die Wittenberger Professoren führten damit die Bulle eben der Strafe zu, die sie eigentlich selbst über Luthers Schriften verhängen sollte. Über diese kon‑ krete Verkehrung der inquisitorischen Feuerstrafe hinaus ist in einem weite‑ ren kulturellen Bezugsrahmen auf die reinigende und strafende Bedeutung des Feuers hinzuweisen, welche in der mittelalterlichen Strafpraxis, aber auch etwa in Praktiken der reformatorischen Bilderstürmer eine Rolle spielte.523 In ähnli‑ cher Weise kann auch das Lesen von Seelenmessen für die Bullen und der Ge‑ sang kirchlicher Begräbnislieder durch die Studenten einerseits als Verspottung und Delegitimierung der traditionellen Messpraxis gesehen werden, deren Be‑ deutungszuschreibungen hier jedoch übernommen wurden, um den symboli‑ schen Tod der Bullen zu verdeutlichen. Auch die Studenten handelten also im Rahmen eben der kulturellen Praktiken, die sie zugleich verspotteten. Der Vergleich der Ereignisse des Vormittags und des Nachmittags lässt je‑ doch auch Unterschiede in den Bezugskategorien der Rituale der Gruppen deutlich werden. So sind in dem Handlungsrepertoire der Professoren die kir‑ chenrechtlichen Bezugskontexte der gelehrten Theologen und Juristen zu er‑ kennen, was zudem ihrer Verbrennungstat einen ernsteren und ruhigeren Cha‑ rakter gab. Das „spectaculum“ der Studenten und Bürger war hingegen an tra‑ ditionelle Karnevalsbräuche, Verkehrungs‑ und Schandrituale angelehnt und bediente sich damit einer bekannten und im städtischen Kontext etablierten Formsprache. Ihr Spiel ist in seiner Funktion der Auseinandersetzung mit städ‑ tischen Ordnungsdiskursen zu vergleichen mit populären geistlichen Spielen, in Frankreich im 16. Jahrhundert auf, indem sie auf die enge Verbindung von religiöser Ge‑ waltanwendung und gesellschaftlichen Werten hinwies, deren Zeiten, Orte und Formen aus dem Arsenal der gesellschaftlich üblichen Straf‑ und Reinigungsriten stammten und die der Struktur von Ritual und Drama folgten. Vgl. Natalie Zemon Davis: Die Riten der Gewalt, in: Dies. (Hg.): Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1973), S. 171–209. Im Bezug auf die deutsche Reformationsgeschichte wurde es im Anschluss daran auf das Handeln der Bilderstürmer angewendet, vgl. zuletzt Schnitzler: Ikonoklasmus, S. 211–235. 523 Vgl. allgemein: Jaques LeGoff: Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984; im Bezug auf den reformatorischen Bildersturm vgl. Margret Aston: Iconoclasm in England: Rites of Destruction by Fire, in: Robert W. Scribner/Martin Warnke (Hgg.): Bilder und Bil‑ dersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1990, S. 175–202.
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wie etwa den „Höllenfahrten“, welche in Wittenberg in der Karwoche nachge‑ wiesen werden konnten.524 Der Umzug der Studenten am Nachmittag des 10. Dezember erinnert mit seinen Verkleidungen, Gesang und Musik dabei am stärksten an Fastnachts‑ spiele, welche die Inszenierung von Normverkehrungen mit der fastnächtlichen „Narrenfreiheit“ ermöglichten und einen anerkannten Rahmen der Darstellung devianten Verhaltens und der Äußerung von Kritik boten. 525 Wie in Witten‑ berg wurde das Fastnachtstheater in den folgenden Jahren auch an anderen Or‑ ten häufig genutzt, um in soziale und religiöse Konflikte einzugreifen.526 Ro‑ bert W. Scribner hat in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass gerade der aus dem Karneval stammende Gedanke der „verkehrten Welt“ für die rituelle Durchsetzung reformatorischer Forderungen besonders geeignet erscheint, da diese sowohl die Verkehrtheit der alten Ordnung wie auch die Freude über die Wiedererlangung der rechten Ordnung durch den neuen Glauben spiegeln.527 So finden sich in dem Wittenberger „spectaculum“ beide Aspekte, die Freude über den Sieg der neuen Ordnung in dem gemeinsamen Gesang des „Te deum laudamus“ sowie die Verspottung und Verbrennung der Bücher als Repräsen‑ tanten der alten Ordnung der Kirche. Im Sinne eines Schandrituals hatten be‑ reits die Professoren als Ort der Verbrennung der Bücher den Schindanger vor den Toren der Stadt ausgewählt, wo der Abdecker sein unehrliches Gewerbe ausführte.528 Die Bücher, welche die Autorität der Papstkirche repräsentierten, wurden so durch ihre Verbrennung nicht einfach zerstört, sondern in besonde‑ 524 Vgl. oben, S. 87. Im Gegensatz zu den vom Rat geplanten und finanzierten geistlichen Spielen handelte es sich hier um eine spontane, ungeplante Aktion, die jedoch in ihrer Funk‑ tion vergleichbar erscheint. 525 Vgl. Klaus Ridder: Fastnachtstheater. Städtische Ordnung und fastnächtliche Ver‑ kehrung, in: Ders. (Hg.): Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kultu‑ rellen Kontexten, Tübingen 2009, S. 65–82. 526 Robert W. Scribner weist für die Jahre 1520–1525 19 Fastnachtsspiele nach, in de‑ nen ein Zusammenhang zur reformatorischen Bewegung zu erkennen ist, vgl. Robert W. Scribner: Reformation, Karneval und „verkehrte Welt“, in: Richard van Dülmen/ Norbert Schindler (Hgg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.‑20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984, S. 117–152; zum Zusammenhang von Refor‑ mation und Fastnacht vgl. auch Eckehard Simon: Fastnachtspiele inszenieren die Refor‑ mation. Luthers Kampf gegen Rom als populäre Bewegung in Fastnachtsspielzeugnissen, 1521–1525, in: Ridder (Hg.): Fastnachtsspiele, S. 115–135. Simon zählt das Wittenberger Spiel jedoch ausdrücklich nicht zu seinem Untersuchungsgegenstand der „textierten Fast‑ nachtspiele“, da es sich hier um einen „Umzug ohne Text“ handelte, vgl. ebd., S. 133. 527 Scribner: Reformation, Karneval und „verkehrte Welt“, S. 151. 528 Vgl. zur sozialen Stellung des Scharfrichters und Abdeckers und seiner Wirkungsstätte außerhalb der Stadt allgemein: Richard van Dülmen: Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 44; zur Be‑ deutung von Schandritualen, Fäkalien und unehrenhaften Orten in der Zeichensprache der reformatorischen Bewegung allgemein auch Robert W. Scribner: Volkskultur und Volks‑ religion, in: Peter Blickle/Andreas Lindt/Alfred Schindler (Hgg.): Zwingli und Eu‑ ropa. Referate und Protokoll des Internationalen Kongresses aus Anlass des 500. Geburtsta‑
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rer Weise entehrt.529 Die Bücher des kanonischen Rechtes, welche die alte Ord‑ nung mit dem Papst an ihrer Spitze symbolisierten, wurden ihrer ursprüngli‑ chen Funktion beraubt, verspottet und verbrannt. Eine neue Bedeutungszuwei‑ sung, welche die alte Ordnung ersetzt hätte, fehlte bislang und musste folgen.
4.3. Wirkung, nachträgliche Bedeutungsstiftung und Erinnerung Wie aber wurden die vielfältigen Geschehnisse des 10. Dezember 1520 zu einem Schlüsselereignis der Reformationsgeschichte und warum wird unter ihnen ge‑ rade die Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Luther erinnert – und nicht etwa das viel mehr Aufsehen erregende Spektakel der Studenten oder die in ihrer Symbolik weitaus folgenreicher erscheinende Verbrennung des kano‑ nischen Rechtes durch Johann Agricola? Tatsächlich spielte Luther bei der von Agricola und Melanchthon organisierten und durchgeführten Verbrennung der Schriften zunächst eher eine Nebenrolle. Auch wenn er nach den überlieferten Berichten wohl tatsächlich noch die Bulle ins Feuer warf, erscheint dieser Akt im Gegensatz zu den übrigen Aktionen des Tages nur am Rande wahrgenom‑ men worden zu sein und wäre vielleicht schnell in Vergessenheit geraten. Gleich am folgenden Tag nahm Luther jedoch die Fäden wieder in die Hand und erläuterte zunächst seinen Studenten zu Beginn der Vorlesung die Bedeu‑ tung der Verbrennungsaktion.530 Nach der Darstellung in der Flugschrift des anonymen Studenten wählte er dabei drastische Worte, indem er von seinen Hörern nichts Geringeres als die Wahl zwischen ewiger Hölle und zeitlichem Martyrium verlangte. Wer weiterhin der Religion der „Papisten“ anhinge und ihre geistlichen Handlungen „sacra“ unwidersprochen zulasse, verliere seine Se‑ ligkeit und das ewige Leben. Wer ihnen aber widerspreche, bringe sich nun in Lebensgefahr.531 Der Akt der Verbrennung der Bannandrohungsbulle diente Luther dabei als Symbol zur Selbstverortung seiner Aufgabe in einem heilsge‑ schichtlichen Kontext: Sie markierte den Wendepunkt, an dem der Papst öffent‑ ges von Huldrych Zwingli vom 26. bis 30. März, Zürich 1985, S. 151–161, hier S. 159; vgl. auch Rublack: Reformation, S. 65 und das Titelbild. 529 Ein solches Vorgehen ist besonders häufig in den späteren Bilderstürmen vorzufin‑ den, so etwa in dem auch zur Fastnachtszeit stattfindenden Basler Bildersturm von 1529, vgl. L ucas Burkhart: Aus der Fastnacht in den Bildersturm. Knaben und junge Männer schänden und verbrennen das Kruzifix aus dem Basler Münster, in: Cecile Dupreux/P eter Jetzler/Jean Wirth (Hgg.): Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Aus‑ stellung, Zürich 2000, S. 128. 530 Vgl. den Bericht des anonymen Studenten „Exustionis Antichristianorum decretalium acta“, in: WA 7, S. 184–186, hier S. 186. 531 „,Nisi‘, inquit, ,toto corde dissentiatis a regno papali, non potestis assequi vestrarum animarum salutem‘ […] Ideoque aut hic aut vita futura pereundum esse cuique ad sacra ho dierne ecclesiae aspiranti, quin huic operationi erroris contradicere non audit, Sin autem contradixerit, vitae suae dispendio fieri oportere.“ Ebd., S. 186.
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lich als Antichrist erkennbar wurde. Sein Bann war nun nicht mehr zu fürch‑ ten, doch machte dieser Schritt ein aktives Bekenntnis der Gläubigen zur Ab‑ lehnung der Papstkirche notwendig. Die Art, wie Luther in dieser Flugschrift dargestellt wurde, zeigt, dass diese Selbstverortung von den Hörern übernom‑ men und auf die Person Luthers übertragen wurde, so dass der berichtende Stu‑ dent in Luther den Engel aus der Offenbarung des Johannes sah, der die Schafe Christi in dem Wort der Wahrheit weidete.532 Diese Forderung traf die Wittenberger Studenten jedoch nicht unvorberei‑ tet, sondern knüpfte, ebenso wie die Verbrennungstat selbst, an bekannte Dis‑ kurse an, was ihre schnelle Annahme durch Studenten und Bürger verständ‑ licher macht. So war die Auseinandersetzung mit dem Bann in Wittenberg nicht neu und die Wittenberger hatten sich über lange Zeit mit dem kollekti‑ ven Bann, dem Interdikt über die ganze Stadt, auseinandergesetzt.533 Und be‑ reits 1518 hatte Luther sich in einer Themenpredigt über den Bann gegen diese Kirchenstrafe gewendet und seine Gemeinde von ihrer Bedeutungslosigkeit zu überzeugen versucht.534 Hatte der Bann als Mittel der Durchsetzung geistlicher Herrschaft in Wittenberg schon in den vorangegangenen Jahrzehnten immer mehr seine Kraft verloren, so wurde er nun vollständig bedeutungslos. Der in dem symbolischen Akt der Verbrennung der Schriften des kanonischen Rechtes vollzogene Bruch mit der alten Ordnung der Kirche war aufgrund der für die Wittenberger Situation spezifischen, ihrerseits mit symbolischen Mitteln voll‑ zogenen Entwicklungen der Zentrierung geistlicher Herrschaft und Integration gottesdienstlicher Praxis möglich, welche in den vorangehenden Kapiteln be‑ schrieben wurden. Der Bruch mit der alten Ordnung geschah so, ebenso wie im theologischen Diskurs,535 auch in der sozialen Praxis in Wittenberg nicht plötz‑ lich, sondern innerhalb eines jahrelangen Prozesses der Loslösung von den al‑ ten Amtsträgern geistlicher Autorität zugunsten des Kurfürsten als weltlichem Stadtherrn und der Universität als gelehrtem „oraculum“.536 Gleichzeitig formierten sich in dem Akt der Verbrennung und den damit ver‑ bundenen Handlungen die Wittenberger wiederum als eine Heilsgemeinschaft, als eine Gruppe derer, die sich für das Martyrium und gegen die Hölle entschie‑ 532
Vgl. auch Rublack: Reformation, S. 26. Vgl. Kap. I.1. 534 Dieser „Sermon von dem Bann“ wurde 1520 noch einmal in deutscher Sprache ge‑ druckt, doch stand, soweit erkennbar, keine der beiden Fassungen in direktem Zusammen‑ hang mit dem Bann über Luthers Person, vgl. vorne, S. 60/61. 535 Zu dieser Entwicklung in der Theologie Luthers und seiner Anhänger vgl. Leppin: Martin Luther, S. 168–170. 536 Volker Leppin betont in seiner Lutherbiographie die entscheidende Bedeutung des akademischen Doktorgrades Luthers für dessen Autorität, den Bruch mit der alten Ordnung der Kirche zu vollziehen, vgl. Leppin: Martin Luther, S. 170. Diese Beobachtung kann durch die hier gewählte Perspektive aus der Entwicklung in der Stadt Wittenberg der letzten Jahr‑ zehnte bestätigt werden. 533
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I. Geistliche Herrschaft, liturgische Praxis und städtische Konflikte 1500–1520
den hatten. Diese Gruppe war nun, nachdem Luther sie in den Studentenunru‑ hen 1520 bereits in endzeitlicher Erwartung in Spreu und Weizen getrennt gese‑ hen hatte, gegenüber dem römischen Antichrist als gemeinsamen äußeren Feind zunächst wieder vereint. Diese Einheit in Abgrenzung gegen die Würdenträger der päpstlichen Kirche wurde auch in der folgenden Zeit fortgesetzt. So führ‑ ten die Studenten bereits wenige Wochen später in der Karnevalszeit erneut ein „spectaculum“ in der Stadt auf, indem sie einen als Papst verkleideten Darsteller mit einem Gefolge aus Kardinälen, Bischöfen und Dienerschaft zunächst „mit großem Pomp“ in der Stadt herumführten, ihn auf dem Marktplatz in den Bach werfen wollten und ihn anschließend mit seinem Gefolge nach einem „über‑ aus witzigen Plan“ durch die Stadt jagten. Luther bezeichnete diese Aktion der Studenten gegenüber Spalatin ausdrücklich als angemessen und besonders wit‑ zig.537 Ähnlich wie in der Verbrennung der Bannandrohungsbulle wurde hier die alten Ordnung, diesmal anhand ihrer Repräsentanten dargestellt, zunächst verspottet und anschließend aus ihrem Funktionskontext herausgerissen und entehrt. Auch hier findet sich durch das angedeutete „in den Bach Werfen“ wie‑ der ein Element der Entehrung mit Fäkalien, denn der genannte „Bach“ auf dem Wittenberger Marktplatz, in den bereits in früheren Jahren der Wagen des Bischofs von Brandenburg geworfen worden war,538 war ein städtischer Abwas‑ serabfluss. Ihre eigentliche Wirkung innerhalb und außerhalb der Stadt erreichte die Verbrennung des kanonischen Rechtes und der Bannandrohungsbulle jedoch erst durch nachträgliche Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen. Während die Tat selbst den Augenzeugenberichten nach eher unspektakulär, in Anwesenheit weniger Studenten und mit nur geringer Beteiligung Luthers stattfand, wurde ihre Bedeutung als Befreiungstat des Reformators auch den Wittenberger Studenten erst in der Ansprache Luthers vor der Vorlesung am nächsten Tag deutlich gemacht. In dieser nachträglichen Deutung wurde sie schnell über Wittenberg hinaus bekannt, zunächst durch die genannte Flug‑ schrift des anonymen Studenten,539 welche die Rede Luthers am nächsten Tag mit einschließt und durch eine ebenfalls wenige Tage später veröffentlichte Flugschrift Luthers, in der er seine Tat rechtfertigte.540 Ähnliche Schriften der Anhänger und Gegner Luthers folgten.541 Auf diese Weise wurde die Verbren‑ nung des kanonischen Rechtes, die heute hauptsächlich als Verbrennung der 537
Luther an Spalatin, 17. Februar 1521, in: WA Br. 2, S. 265 f., hier S. 266. Vgl. oben, S. 53. 539 „Exustionis Antichristianorum decretalium acta“, in: WA 7, S. 184–186. 540 Unter dem Titel „Warumb des Bapsts und seyner Jungernn bucher von Doct. Martino Luther vorbrannt seynn“, in: WA 7, S. 161–182. 541 Auch diese Flugschriftenkontroverse ist bisher nur ansatzweise untersucht, eine um‑ fassende Rezeptionsgeschichte fehlt bislang; vgl. Adolf Laube: Flugschriften der frühen Reformationsbewegung, 2 Bd., Vaduz 1983, Bd. 1, S. 58–171; Kruse: Universitätstheologie, S. 270–273. 538
4. Der päpstliche Bann über Wittenberg
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Bannandrohungsbulle erinnert wird,542 bereits unmittelbar nach dem Ereignis selbst zum Erinnerungsort der Reformation. Eine frühe Rezeption von Luthers Flugschrift zeigt der Reisebericht „Sabbata“ des Schweizers Johannes Kessler, der Wittenberg im Sommer 1522 besuchte. Der Text der Flugschrift Luthers ist in diesem Reisebericht wörtlich wiedergegeben. Kessler spricht hier allerdings noch nicht von der Verbrennung der Bannandrohungsbulle, sondern erwähnt nur „dem papst sine gesatzbucher, decreta und decretales genannt“.543 Bei sei‑ nem Aufenthalt in Wittenberg besichtigte Kessler den Ort vor dem Elstertor in Erinnerung an die Verbrennungstat des Reformators, was er vermerkte, um seinem Bericht zusätzliche Plausibilität zu verleihen: „Die walstat hab ich ge sechen“.544 Der Ort vor dem Elstertor war damit bereits im Sommer 1522 zur historischen Stätte geworden, die auswärtigen Besuchern gezeigt wurde, was das Wissen der Wittenberger um die historische Bedeutsamkeit ihrer symboli‑ schen Handlungen anschaulich belegt.
542 Einige Überlegungen zu dieser Bedeutungsverschiebung, die im 19. Jahrhundert statt‑ fand, finden sich bei Boehmer: Luther und der 10. Dezember, S. 24. 543 Johannes Kessler: Sabbata. Mit kleineren Schriften und Briefen, hg. vom his‑ torischen Verein des Kantons St. Gallen unter Mitwirkung von Emil Egli und Rudolf Schoch, St. Gallen 1902, S. 72. 544 Ebd.
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II. Wittenberger Unruhen? Neue Deutungsmuster und städtische Konflikte (1521–1522) Die nun folgenden Ereignisse sind heute unter dem Begriff der „Wittenberger Bewegung“ oder auch „Wittenberger Unruhen“ als eine von Gewalt und Radi‑ kalität geprägte Phase der Wittenberger Geschichte bekannt, die etwa im Sep‑ tember 1521, also während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg,1 begann und erst mit seiner Rückkehr nach Wittenberg im März 1522 endete. Da sie als ent‑ scheidend für die frühe Reformationsgeschichte gelten, sind sie im Gegensatz zu den vorherigen städtischen Unruhen in Wittenberg besonders gut überliefert und für die Forschung erschlossen.2 Ihre Bedeutung für den Verlauf der Refor‑ mationsgeschichte erhielten sie als erstes Beispiel einer städtischen reformato‑ 1 Luther hielt sich seit seiner Rückkehr vom Wormser Reichstag Anfang Mai 1521 auf der Wartburg versteckt. 2 Vgl. Hermann Barge: Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd. I, Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Leipzig 1905; Ders.: Frühprotestantisches Gemeindechristen‑ tum in Wittenberg und Orlamünde. Zugleich eine Abwehr gegen Karl Müllers „Luther und Karlstadt“, Leipzig 1909; Emil Fischer: Zu den Wittenberger Unruhen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 23 (1902), S. 615–626; Karl Müller: Luther und Karlstadt. Stücke aus ihrem gegenseitigen Verhältnis, Tübingen 1907. Eine sozialgeschichtliche Kontextuali‑ sierung bietet Stefan Oehmig: Die Wittenberger Bewegung 1521/22 und ihre Folgen im Lichte alter und neuer Fragestellungen. Ein Beitrag zum Thema (Territorial‑) Stadt und Re‑ formation, in: Ders. (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, Weimar 1995, S. 97–130. Jeweils unter spezifischen Fragestellungen der Lutherforschung: Ulrich Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 147–214; Ders.: Scandalum et ius divinum. Theologische und rechts‑ theologische Probleme der ersten reformatorischen Innovationen in Wittenberg 1521–22, in: Zeitschrift der Savigny‑Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 90 (1973), S. 263–342. Aus theologischer Sicht liegen zwei detaillierte und materialreiche Analysen der „Wittenberger Bewegung“ vor, jeweils im Rahmen größerer Arbeiten mit anderem The‑ menschwerpunkt. Im Zusammenhang der Wittenberger Theologen als Diskussionsgemein‑ schaft: Kruse: Universitätstheologie, S. 317–371, sowie der Messopfertheologie Luthers: Simon: Messopfertheologie, S. 419–511; mit Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Karlstadt und Luther auch: Wolfgang Simon: Karlstadt neben Luther. Ihre theologische Differenz im Kontext der „Wittenberger Unruhen“ 1521/22, in: Gudrun Litz/Heidrun Munzert/ Roland Liebenberg (Hgg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contribu‑ tions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, Leiden/ Boston 2005, S. 639–653.
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II. Wittenberger Unruhen?
rischen Bewegung,3 mit dem ersten reformatorischen Bildersturm zugleich je‑ doch auch als erster Ausbruch radikaler und gewaltsamer Tendenzen. Diese bis heute in der Forschung durchgehend anzutreffende Darstellungs‑ weise gibt jedoch, wie noch näher auszuführen sein wird, nur eine unter vielen möglichen zeitgenössischen Wahrnehmungen wieder, denn sie folgt einem be‑ stimmten Traditions- und Überlieferungsstrang, dessen Ursprung in Luthers eigener Darstellung der Ereignisse zu finden ist und der sich über die Ordnung der Archive bis in die heutige Forschung fortsetzt.4 Die Kategorie der „Wittenberger Bewegung“ erscheint so zwar im Hinblick auf eine Rezeptionsgeschichte der frühen Reformation besonders aufschluss‑ reich, ist jedoch für andere Fragestellungen aufgrund der implizierten inhaltli‑ chen und zeitlichen Begrenzungen kritisch zu hinterfragen. Entsprechend sol‑ len die Ereignisse von 1521/22 im Folgenden auch nicht isoliert betrachtet, son‑ dern in die Zusammenhänge der im ersten Teil dieser Arbeit herausgearbeiteten Faktoren der städtischen Integration und des Konfliktes eingebunden und neu bewertet werden. Der bekannte zeitliche Rahmen, der eine Einheit der Ereig‑ nisse suggeriert, muss dabei jedoch auch hier in heuristischer Absicht zunächst beibehalten werden, da es nur so möglich ist, die Ergebnisse im Forschungskon‑ text zu diskutieren. Da die Ereignisse zwischen Herbst 1521 und Frühjahr 1522 aus den ge‑ nannten Gründen als ausführlich untersucht gelten können, sollen hier nur bestimmte, für die Frage nach der Macht über religiöse Ceremonien relevante Aspekte herausgegriffen werden. Dabei lassen sich zwei übergeordnete Fra‑ gestellungen unterscheiden: Zum einen sind die rituellen Handlungen der Wit‑ tenberger Studenten und Bürger, die in der Forschung bislang eher summarisch als Ausdruck einer „reformatorischen Bewegung“ behandelt wurden, im Ein‑ zelnen als Akte symbolischer Kommunikation zu untersuchen, um so auf die Wahrnehmung der Wittenberger Bürger und Einwohner und deren Aneignung reformatorischer Ideen zu schließen. Zum anderen sind die als „Wittenberger Bewegung“ bekannten Ereignisse hier in eine Kontinuität städtischer Konflikte und der Auseinandersetzungen um geistliche Macht in der Stadt einzuordnen.
3 Vgl. bes.: Robert W. Scribner: The Reformation as a Social Movement, in: Ders. (Hg.): Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London 1987, S. 145–174. 4 Vgl. dazu unten, S. 385–388 (Epilog). Zur Frage der Konstruktion der „Wittenberger Bewegung“ als historisches Ereignis ausführlicher: Natalie Krentz: Auf den Spuren der Erinnerung. Wie die „Wittenberger Bewegung“ zu einem Ereignis wurde, in: Zeitschrift für historische Forschung 36,4 (2009), S. 563–595.
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1. Ritualwandel und kulturelle Deutungsmuster Gilt die Reformation mit ihrer grundlegenden Ritualkritik einerseits als eine „Revolution der Ritualtheorie“ (E. Muir),5 so wurde ihre Durchsetzung im städtischen Umfeld zugleich vielfach als ein „ritueller Prozeß“ (R. W. Scrib‑ ner) bezeichnet, der seinerseits von karnevalesken und ikonoklastischen Ritua‑ len und Antiritualen getragen wurde.6 Diese beiden Punkte sollen im Folgenden aufeinander bezogen werden, indem die rituellen Handlungen der Wittenberger Studenten und Bürger in der Stadt auf das hier zum Ausdruck kommendes Ri‑ tualverständnis befragt werden sollen. In dieser Weise hat die Reformationsforschung im Anschluss an die grund‑ legenden Arbeiten von Natalie Zemon Davis zu religiösen Unruhen vor einiger Zeit begonnen, die zuvor pauschal als „reformatorische Unruhen“ klassifizier‑ ten Handlungen der städtischen Bürger und Einwohner als eigene rituelle Aus‑ drucksformen ernst zu nehmen und dabei besonders die Aneignung bekannter kultureller Semantiken und deren Transformation in neue Bedeutungszusam‑ menhänge herauszustellen.7 Die rituellen Praktiken der Laien, die besonders in den ikonoklastischen Aktionen der oberdeutschen „Bilderstürmer“ greifbar werden, wurden dabei jeweils als Ausdruck der Aneignung eines umfassenden kulturellen Transformationsprozesses von der körperlichen Immanenz zur ab‑ strakten Transzendenz interpretiert. Heilige Gesten, Orte und Gegenstände seien der ihnen bisher zugeschriebenen immanenten Sakralität enthoben wor‑ den,8 wobei sich die rituellen Akte der Desakralisierung ihrerseits einer aus tra‑ 5 So überschreibt Edward Muir das entsprechende Kapitel in seinem Handbuch, vgl. Muir: Ritual, Kap. III.5.: The Reformation as a Revolution in Ritual Theory, S. 155–184. Vgl. auch oben, Einleitung, S. 3. 6 Grundlegend dazu vgl. Scribner: Social Movement, S. 145–174; einen neueren For‑ schungsüberblick bietet Muir: Ritual, Kap. III.6.: The Reformation as a Ritual Process, S. 185–228. 7 Grundlegend zu dieser methodischen Neuorientierung der Untersuchung von reli‑ giösen Unruhen allgemein vgl. zusammenfassend: Natalie Zemon Davis: From „Popular Religion“ to Religious Cultures, in: Steven Ozment (Hg.): Reformation Europe. A Guide to Research, St. Louis 1982, S. 321–341; Dies.: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt am Main 1997. Im Bezug auf die Reformationsforschung: Robert W. Scribner: Volkskultur und Volksreligion, S. 151–161; Ders.: Ritual and Reformation, in: Ronnie Po‑Chia Hsia (Hg.): The German People and the Reformation, Ithaca 1989, S. 122–144. 8 Scribner zeigt am Beispiel des Bildersturmes in Ulm 1530, dass diese Desakralisierung
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II. Wittenberger Unruhen?
ditionellen kirchlichen Kontexten bekannten Formensprache bedienten.9 Dabei bezeichnet besonders der Begriff der Desakralisierung den kulturellen Trans‑ formationsprozess, der in diesen Handlungen Ausdruck fand.10 Mit diesen Ansätzen konnten die reformatorischen „Unruhen“ der Stadt‑ bevölkerung mit den Umdeutungen von Sakralität durch die reformatorische Theologie und den damit verbundenen Prozessen der Verlagerung von Fröm‑ migkeit ins Innere des Menschen in Bezug gesetzt werden.11 Die rituellen Prak‑ tiken, so lassen sich die Ergebnisse dieser Forschungen zusammenfassen, zeig‑ ten nicht nur die Rezeption der reformatorischen Theologie durch die Laien, sondern vollzogen darüber hinaus selbstständig einen Bedeutungswandel an sakralen Gegenständen. Bereits Scribner betonte dabei immer wieder, dass der Kommunikationsprozess dabei keineswegs einseitig von „oben nach unten“ verlief, indem die Laien das gepredigte Wort in die Tat umsetzten, sondern dass den rituellen Aktionen durchaus eigenständige Interpretationen zugrunde la‑ gen, die sich ihrerseits wiederum auf theologische Schriften und Predigten aus‑ wirkten.12
1.1. Angriffe auf die Antoniter 1521 Nach dem Fastnachtsspiel der Studenten im Februar 152113 ereignete sich der nächste überlieferte Vorfall städtischer Unruhen am 5. und 6. Oktober dessel‑ ben Jahres. Dieser ging wiederum von den Wittenberger Studenten aus und
in den drei Stufen eines „Übergangsritus“ (van Gennep) ablief: Die sakralen Objekte wurden ihrem ursprünglichem Kontext entnommen und an profane Orte gebracht, in einem zweiten Schritt wurden sie rituell degradiert durch das Bewerfen mit Dreck, das Untertauchen in ei‑ nem Fluss oder die Aufforderung, ihre Sakralität zu demonstrieren. So ihrer Sakralität be‑ raubt, wurden die Bilder schließlich in einem dritten Schritt in ihren Funktionskontext rein‑ tegriert, indem sie entweder wieder aufgehängt oder für neue, jetzt profane Zwecke genutzt wurden, vgl. Scribner: Volkskultur und Volksreligion, S. 191. 9 Dazu erstmals grundsätzlich: Davis: Riten der Gewalt, vgl. auch oben, Kap. I.4., S. 134, und die dort genannten Literatur. 10 Robert W. Scribner: Reformation and Desacralisation. From a Sacramental World to a Moralised Universe, in: Ders. (Hg.): Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe, Wiesbaden 1997, S. 75–92. 11 Kritisiert wurden an dieser Sichtweise insbesondere die allzu vereinfachende Dichoto‑ mie von Laien und Klerikern und die damit verbundene Überschätzung der magisch‑sinnli‑ chen Komponente im religiösen Selbstverständnis der Laien. In Auseinandersetzung mit der Kritik an dem Begriff der Volkskultur zuletzt: Robert W. Scribner: Ist eine Geschichte der Volkskultur möglich?, in: Ders.: Religion und Kultur, S. 41–65 [zuerst veröffentlicht als: Is a History of Popular Culture Possible?, in: Ideas 10 (1989), S. 175–191]. 12 Vgl. Robert W. Scribner: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften als Mas‑ senmedium der Reformationszeit, Stuttgart 1981, S. 65–76. 13 Vgl. dazu oben, S. 138.
1. Ritualwandel und kulturelle Deutungsmuster
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richtete sich diesmal gegen stadtfremde Antonitermönche, die als Terminierer in die Stadt gekommen waren, um dort ihre traditionellen sakralen Handlun‑ gen zu vollziehen und dabei Spenden für ihren Orden zu sammeln.14 Die An‑ toniter aus dem Kloster Prettin bei Lichtenberg verfügten in Wittenberg über ein Anwesen mit Kapelle,15 ihre Praxis des Terminierens hatte schon in frühe‑ ren Jahren zu Konflikten mit dem Rat, dem Stift und den Klöstern geführt.16 Solche Konflikte mit Terminierern waren in spätmittelalterlichen Städten nicht ungewöhnlich und gerade die Antoniter waren für ihre aggressiven Praktiken des Bettelns bekannt und wurden als Konkurrenz zu den lokalen Geistlichen von den Städten bekämpft.17 Über die Angriffe auf die Antoniter im Herbst 1521 liegen zwei Berichte vor, die beide an den Kurfürsten gerichtet sind. Der erste stammt von dem kur‑ fürstlichen Kanzler Gregor Brück und fand Eingang in die wichtigste Quellen edition zur „Wittenberger Bewegung“.18 Der zweite, bislang von der Forschung unberücksichtigte Bericht wurde von dem Präzeptor des Klosters, Wolfgang Reißenbusch, selbst verfasst und lässt erkennen, dass an jenem 5. Oktober nicht nur einige beliebige Antonitermönche, sondern Reißenbusch selbst „nach al ter gewohnheit“ nach Wittenberg gekommen war, da er dort seine „botschafft mit dem heiligthumb zu wittenberg“ hatte.19 Am Samstagabend, dem 5. De‑ zember, schickte Reißenbusch nun – „auch nach alter gewohnheit“ – seine Die‑ ner in die Stadt, wo diese, wie beim Terminieren üblich, mit einer Glocke der Stadtbevölkerung ihre Ankunft und damit die Messen mit dem dort zu erlan‑ genden Heil ankündigten. 20 Während die Diener wie üblich in der Stadt um‑ her ritten und mit ihren Schellen klingelten, wurden sie bereits vor ihrer Her‑ berge mit Kot sowie später vor dem Kollegiengebäude der Universität auch mit 14 Der kurfürstlichen Kanzler Gregor Brück an Kurfürst Friedrich von Sachsen, 8. Ok‑ tober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19–21. Wolfgang Reißenbusch an Friedrich den Weisen, 7. Oktober 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 781, Bl. 7r+v. Nach Inhalt, Aufbau und Datum der Texte erscheint es gut möglich, dass der Bericht Brücks eine gekürzte Zusammenfassung des Berichtes Reißenbuschs für den Kurfürsten darstellt. Da die Reformationsforschung sich bislang nur auf den sehr summarischen Bericht Brücks stützte, blieben die Ereignisse hier teilweise unklar. Unbekannt blieb etwa, dass Reißenbusch selbst anwesend war und auch die Bezeichnung des „Boten“ oder „Dieners“ konnte aufgrund der fehlenden Bezugsperson nicht zugeordnet werden. 15 Vgl. Timpe: Antoniterkapelle. 16 Vgl. oben, S. 29. 17 Auch Luther hatte in Wittenberg schon gegen die aggressive Vorgehensweise der Anto‑ nitermönche gepredigt, vgl. WA 6, S. 450 f. Vgl. zum Betteln der Antoniter und Vorgehen der Städte dagegen allgemein Ocker: „Rechte Armut“ und „Bettler Orden“, S. 129–157. 18 Gregor Brück an Kurfürst Friedrich den Weisen, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19–21. 19 Wolfgang Reißenbusch an Friedrich den Weisen 7. Oktober 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 781, Bl. 7r+v. 20 Ebd., Bl. 7r.
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II. Wittenberger Unruhen?
Steinen beworfen und, 21 wie Reißenbusch hinzufügte, „auch getroffen“.22 Als Reißenbusch am Sonntag predigte, störten die Studenten die Predigt dermaßen, dass er sie kürzen musste. Einer der Studenten soll dabei gerufen haben „ey, wie wol thut dir das klingellenn, du must langhe klingenn, ehr ich dir eynen pfe nig geben werde“. 23 Als Reißenbusch schließlich in die Herberge der Studenten kam, um dort Wasser zu weihen, verhinderten die Studenten dieses, indem sie den Eimer umstießen. Zudem waren noch Zettel mit Spott gegen die Antoni‑ ter an der Kirche angebracht worden. 24 Aufgrund all dieser Vorfälle bat Reißen busch schließlich darum, bei dem nächsten turnusmäßigen Termin der Antoni‑ ter in Wittenberg, dem Kirchweihfest im Januar, nicht mehr selbst dort erschei‑ nen zu müssen. 25 Betrachtet man das Vorgehen der Wittenberger Studenten gegen die Anto‑ niter genauer, so zeigt sich ein Zusammenspiel der in den vorangehenden Ka‑ piteln herausgearbeiteten typischen Bedingungsfaktoren städtischer Konflikte in Wittenberg: Hier spielten sowohl innerstädtische Konflikte eine Rolle wie auch die gemeinsame Ablehnung außerstädtischer geistlicher Einflüsse, deren Praktiken nun zudem nicht mehr dem Stand der an der Universität gelehrten und immer häufiger auch in der Stadtkirche gepredigten neuen Theologie zu entsprechen schienen. 26 Weiterhin waren nach beiden Berichten die alleinigen Träger der Unruhen Studenten und diesen war Reißenbusch kein Unbekann‑ ter. Vielmehr hatte Reißenbusch selbst in Wittenberg studiert, kehrte nach sei‑ ner Promotion in Bologna nach Wittenberg zurück, um dort an der Universität zu lehren und hatte 1511 sogar das Rektorat inne. 27 Auf diese Weise war er der Professorengeneration wohlbekannt und galt etwa als guter Freund Luthers. 28 Da er jedoch bereits im Jahr 1515 zum Präzeptor des Antoniterklosters bei Pret‑ 21 Gregor
Brück an Kurfürst Friedrich den Weisen, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19–21, hier S. 20. 22 Wolfgang Reißenbusch an Friedrich den Weisen 7. Oktober 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 781, Bl. 7r. 23 Darüber berichtet nur Gregor Brück an Kurfürst Friedrich den Weisen, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19–21, hier S. 20, anscheinend aus einer anderen Quelle. 24 Ebd. 25 Wolfgang Reißenbusch an Friedrich den Weisen 7. Oktober 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 781, Bl. 7r+v. Der Kurfürst bestand jedoch auf Reißenbuschs persönlichem Er‑ scheinen, gewährte ihm aber Geleit und Schutz durch bewaffnete Wachen, vgl. Friedrich der Weise an Wolfgang Reißenbusch, Oktober 1521, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 781, Bl. 8r. Die Fahrten nach Wittenberg brachten den Antonitern zwar finanziellen Gewinn durch die eingenommenen Spenden, für den Kurfürsten gehörten die Dienste des von ihm gestifteten Klosters jedoch gleichzeitig, wie sich hier zeigt, zur geistlichen „Ausstattung“ seiner Resi‑ denzstadt, auf die er nicht verzichten wollte. 26 Auch Luther hatte in Wittenberg schon mehrfach gegen die Antoniter gepredigt, vgl. WA 6, S. 450–451. 27 Zur Biographie Reißenbuschs vgl. Vossb erg: Luther rät Reißenbusch, S. 92–160. 28 Vgl. dazu Vossb erg: Luther rät Reißenbusch, S. 97–100.
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tin und gleichzeitig Kanzler der Universität geworden war, kannten ihn die Stu‑ denten im Jahr 1521 wohl nur noch in der letzteren Funktion. Als Kanzler war er dort als Vertreter des Papstes für die geistliche Gerichtsbarkeit zuständig und damit unter den Studenten, die zudem noch kurze Zeit zuvor päpstliche Bullen verbrannt hatten, wahrscheinlich nicht eben beliebt. Demnach mag neben der allgemeinen Kritik an den auswärtigen Terminierern auch die Person Reißen‑ buschs eine Rolle gespielt haben. Vor dem Hintergrund der genannten Faktoren aus städtischen und persönli‑ chen Konflikten demonstrierten die Studenten hier, dass man in Wittenberg den Anspruch der Antoniter, sakrale und heilbringende Handlungen in der Stadt zu vollziehen, nicht mehr akzeptierte. Die Spende, die Teilnahme an der Messe und das von den Antonitern geweihte Wasser wurden abgelehnt und mit den Hand‑ lungen der Studenten für wirkungslos erklärt. Auffällig ist dabei, dass sich diese Ablehnung hier anscheinend noch nicht gegen die sakralitätsspendenden Ce‑ remonien und ihre Wirkung selbst richtete, sondern zunächst nur gegen dieje‑ nigen, die sie vollzogen. 29 Man wollte den Mönchen kein Geld geben, da man ihre Messen nicht brauchte, zwang Reißenbusch zum Abbruch der Predigt und schüttete den Wassereimer aus, bevor das Wasser geweiht war.30 Im Gegensatz zu späteren ikonoklastischen Akten, die darauf zielten, sakralen Gegenstän‑ den und Riten performativ ihre immanente Heiligkeit abzusprechen, ging es hier wohl noch nicht um Desakralisierungen, sondern zunächst um die Ver‑ hinderung von Ceremonien in einer Phase der Unsicherheit und der Auseinan‑ dersetzung um geistliche Macht. Nicht der Messe oder der Weihe des Wassers wurde hier ihre heilbringende Wirkung abgesprochen, sondern den Antonitern die Autorität, diese zu vollziehen. Die in Wittenberg bereits aus früheren städ‑ tischen Konflikten bekannte erniedrigende Geste des Bewerfens mit Kot rich‑ tete sich hier nicht gegen sakrale Objekte oder Ceremonien selbst, sondern ge‑ gen die Antoniter, deren Anspruch, in der Stadt sakrale Handlungen zu vollzie‑ hen, man nicht mehr akzeptieren wollte. Wie bereits in den Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg und bei den Karnevalsspielen sollte auch hier einem Auswärtigen der geistliche Einfluss abgesprochen werden, der seit langer Zeit sowohl in finanzieller wie auch in seelsorgerischer Hinsicht als störend für die städtische Gemeinschaft empfunden wurde. Über geistliche Macht, verstanden als die Macht über das Seelenheil, das mit der Verwaltung der Sakramente und den entsprechenden fi‑ nanziellen Vorteilen verbunden war, verfügten die Antoniter zu diesem Zeit‑ 29 Ähnliches beobachtete Berndt Hamm an der frühen Reformation in Nürnberg, vgl. Hamm: Bürgertum und Glaube, S. 72–73. 30 Dieses geht eindeutig aus der Formulierung Brücks hervor: „zculetzst nach mittagk, do er das wasser vor der herberge hadt weyen sollen, haben sy jm dasselbig mit dem kubell vmb gestoßenn, hadt keyns weyen durffenn“, Gregor Brück an Kurfürst Friedrich den Weisen, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19–21, hier S. 20.
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II. Wittenberger Unruhen?
punkt, nach den vorhergehenden Auseinandersetzungen mit dem Allerheiligen‑ stift, nur noch in geringen Maße. An den ihnen zugesprochenen Tagen bean‑ spruchten sie jedoch ihr Recht, diese heilsrelevanten Ceremonien auszuführen, und genau dagegen richteten sich die Studenten nun vor dem Hintergrund der reformatorischen Predigt, die auch hier – ähnlich im Fall des brandenburgi‑ schen Bischofs – zu einer endgültigen und vollständigen Ablehnung eines schon stark ausgehöhlten außerstädtischen Einflusses führte. Wie die Aktionen im Einzelnen zeigen, vollzogen die Wittenberger Studenten und Bürger dabei je‑ doch noch keine „Ritualrevolution“ und keinen radikalen Bruch mit bislang gültigen Glaubens‑ und Wertvorstellungen. Die Aktionen waren Teil eines seit langem bestehenden Kampfes um geistliche Macht, der mit symbolischen Mit‑ teln ausgetragen wurde.
1.2. Störungen der Heiltumsweisung und der Messe in der Pfarrkirche Die nächste öffentliche Aktion der Studenten erwartete man für das Allerhei‑ ligenfest am 1. November, dem Tag der zweimal jährlich stattfindenden großen Heiltumsweisung vor der Wittenberger Schlosskirche, zu der viele auswärtige Pilger die Stadt besuchten. Bereits Anfang Oktober berichtete der kurfürst liche Kanzler Brück an Friedrich den Weisen, er habe von Plänen der Witten‑ berger Studenten gehört, die Fahnen, die zu diesem Fest vor der Kirche aufge‑ stellt würden, mit Kot zu bewerfen und sie anschließend zu verbrennen.31 We‑ nig später wandte sich das Stiftskapitel mit einem Vorschlag der Umgestaltung des Festes selbst an den Kurfürsten.32 Die Stiftsherren schlugen vor, die Heil‑ tumsweisung wie bisher „mit aller herlikeit [sic], singen und leßen vnd allen ampten“ zu halten und auch die üblichen zusätzlichen Beichtväter zu bestel‑ len, welche notwendig waren, um die Pilgermassen zu bewältigen. Verzichten wollte man hingegen auf „bebstliche zceichen“ wie das Umhertragen der päpst lichen Ablassbullen, auf den äußeren Schmuck der Kirche mit Stäben und Fah‑ nen und auf die Verkündigung des Ablasses.33 Damit richteten sich auch hier die angedrohten Aktionen der Studenten ebenso wie die Änderungswünsche der Stiftsherren nicht gegen die sakralen Ge‑ genstände oder Handlungen selbst, sondern gegen die Autorität, die diesen ihre Sakralität verlieh. Das war in diesem Falle der Papst, dessen Gewährung der Ab lassgnade in den „päpstlichen Zeichen“ durch das Herumtragen der Bullen mit 31 Gregor Brück an Kurfürst Friedrich den Weißen, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19–21, hier S. 20–21. 32 Das Stiftskapitel der Schlosskirche an Friedrich den Weisen, 10. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 24–26; Friedrich der Weise an das Stiftskapitel der Schlosskirche, 12. Oktober 1521, S. 30–31, hier S. 30. 33 Ebd., S. 25.
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den Ablassprivilegien in der Stadt,34 und der öffentlichen Verkündigung dieser Privilegien demonstriert wurde. Gegen diese Symbole der päpstlichen Gnaden‑ gewährung richteten sich die Maßnahmen der Stiftsherren, die der Kurfürst ohne Einwände billigte. So lautete der Plan der Studenten nicht etwa, das Heiltum selbst, welches nach wie vor öffentlich vor der Kirche aufgestellt werden sollte, mit Kot zu bewerfen, sondern er richtete sich nur gegen die von den Stiftsher‑ ren als „päpstliche Zeichen“ bezeichneten Elemente. Auch hier ging es also nicht um eine Ablehnung des bisher gültigen religiösen Zeichensystems durch die De sakralisierung heiliger und heilbringender Gegenstände, Orte und Handlungen, sondern vielmehr um die Ablehnung der päpstlichen Autorität, diese zu spenden. Was die Wittenberger in den Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg und den auswärtigen Bettelmönchen angefangen hatten, weiteten sie nun auch auf den Einfluss des Papstes aus. Im Hinblick auf das Allerheili‑ genfest 1521 wurde damit jene demonstrative, öffentliche Ablehnung der geist‑ lichen Autorität des Papstes fortgesetzt, die mit der Verbrennung des päpstli‑ chen Rechtes und der Bannandrohungsbulle begonnen worden war. So weist auch die Symbolsprache beider Aktionen deutliche Parallelen auf: Wiederum planten die Studenten eine Verbrennungsaktion, bei der, wie bei dem studenti‑ schen „Spectaculum“ am 10. Dezember 1520,35 erneut Fahnen verbrannt wer‑ den sollten. Auch der Verzicht auf das Herumtragen der päpstlichen Bullen er‑ klärt sich leicht daraus, dass solche Bullen als Zeichen der päpstlichen Heils‑ mittlerschaft in Wittenberg seit dem 10. Dezember 1520 nicht mehr besonders hoch im Kurs standen. Die Aktionen der Wittenberger Studenten schlossen sich damit unmittelbar an die Verbrennung der Bannandrohungsbulle und des ka‑ nonischen Rechtes an und waren ebenso wie diese Teil eines langfristigen Pro‑ zesses der Delegitimierung bestimmter geistlicher Amts‑ und Würdenträger, der von unterschiedlichen politischen und theologischen Faktoren geprägt war. Dieser Prozess war nun in Wittenberg fortgeführt und schließlich bis zur Dele‑ gitimierung der päpstlichen Autorität ausgedehnt worden. In dem nächsten Schritt richteten sich die Aktionen der Wittenberger schließlich gegen die sakramentale Heilsvermittlung durch den Klerus über‑ haupt und stellten damit auch die Heilsmittlerschaft der städtischen Priester partiell in Frage. So kam es am 3. Dezember 1521 zur Störung der Messe in der Pfarrkirche durch Bürger und Studenten. Wie der Rat noch am selben Tag an den Kurfürsten berichtete, nahmen die Störer den Priestern die Messbücher weg und vertrieben sie von den Altären, so dass die Messe nicht fortgesetzt werden 34 Vermutlich in Umzügen, wie sie von Tetzel bekannt sind, vgl. Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 26, Anm. 2. 35 Die Studenten hatten bei ihrer Aktion im Anschluss an die Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Luther am Nachmittag des 10. Dezember 1520 Kopien der Bulle als Fahnen getragen und diese anschließend zusammen mit den Bullen verbrannt, vgl. oben, S. 132.
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konnte. Bereits am frühen Morgen desselben Tages waren die Priester während des Marienoffiziums mit Steinen beworfen worden, bis auch diese Messe abge‑ brochen wurde.36 Auf ähnliche Weise wurde auch in den folgenden Tagen die Messe in der Pfarrkirche verhindert.37 Wiederum richtete sich das Vorgehen der Bürger und Studenten auf die Ver‑ hinderung bestimmter Ceremonien: Ebenso wie den Antonitern das Weihen des Wassers verwehrt worden war, hinderte man nun die Priester am Lesen der Messe. Wie in den vorherigen Aktionen wurde auch hier nicht die Messe selbst, auch nicht einzelne liturgische Elemente oder sogar ihr Kern, die Konsekration der Hostie, gestört oder desakralisiert. Die Wittenberger verhinderten hingegen nur, dass die Priester die Messe überhaupt durchführen konnten. Den Angriffs punkt bildeten wiederum die ausführenden Priester als Vermittler des Heils, weniger die Sakralität ihrer Handlungen.38 Diese Akte der Delegitimierung, die sich zunächst nur auf bestimmte Gruppen insbesondere auswärtiger Geist‑ licher bezogen hatten, richteten sich nun auch gegen die Wittenberger Priester‑ schaft. Auch das Franziskanerkloster war durch die Studenten bedroht worden und bat um Schutz des Rates.39 Von tatsächlich durchgeführten Angriffen auf das Kloster ist jedoch nichts bekannt, so dass sich die Aktionen der Bürger und Studenten gegen die städtischen Priester wohl in engen Grenzen hielten und der Schwerpunkt weiterhin auf der Ablehnung auswärtiger geistlicher Autoritäten lag. Zudem sind die Angriffe auf die lokalen Priester, wie im zweiten Teil die‑ ses Kapitels ausführlich nachzuweisen ist, auch im Lichte längerfristiger inner‑ städtischer Konflikte zu betrachten, die zunächst unabhängig von der reforma‑ torischen Predigt bestanden.40 Jedoch auch im Hinblick auf Konflikte um geistliche Belange im engeren Sinne, also die Aushandlung und Zuschreibung geistlicher Definitionsgewalt, waren die Aktionen der Wittenberger Studenten und Bürger im Winter 1521 Teil eines Prozesses, der bereits Jahrzehnte zuvor in den Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg begonnen worden war. Bereits damals hat‑ ten die Wittenberger geistliche Würde zu einem verhandelbaren Gegenstand ge‑ macht und in den Auseinandersetzungen mit dem Bischof, etwa im Fall Glorius Schwans, eigene, insbesondere moralische, Kriterien für die Zugehörigkeit zum 36 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 3. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 73–74. 37 Davon berichtet der Student Hermann Mühlpfort an seinen Vater, den Zwickauer Bür‑ germeister: „Sendbrief durch Hermannum Mulpforten studenten zu wittenberg Hermanno Mulpforten Burgermeistern zu zcwigkaw geschrieben“, Wittenberg 1521, in: Mitteilungen des Altertumsvereins für Zwickau und Umgebung 11 (1914), S. 26–28. 38 Das bedeutet dennoch nicht, dass die Aktion besonders friedlich verlief, so erwähnt Mühlpfort etwa, dass dabei ein Leuchter zerbrochen wurde, vgl. ebd., S. 26. 39 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 5. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 77–78. 40 Vgl. unten, S. 170–214.
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geistlichen Stand entwickelt. Damit war geistliche Definitionsmacht in Witten‑ berg schon in früheren Jahren nicht normativ festgelegt, sondern hatte als Ge‑ genstand von Aushandlungsprozessen in der Praxis bereits damals zur Delegiti‑ mierung bestimmter kirchlicher Amtsträger zugunsten weltlicher städtischer Akteure geführt. Die Ablehnung des gradualistischen Systems der Heilsvermittlung durch den Klerus kann so im Bezug auf Wittenberg als ein schrittweise, über Jahre hinweg vollzogener Prozess der Delegitimierung dieser Ordnung beschrieben werden, der zunächst unabhängig von theologischen Diskussionen begann und nur innerhalb der spezifischen politischen Situation Wittenbergs zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu verstehen ist, jedoch bald durch die von der Universität aus‑ gehende neue Theologie unterstützt und in radikaler Weise fortgeführt wurde.
1.3. Antiklerikalismus und Antiritualismus in Wittenberg – ein Zwischenfazit Gemeinsam ist den bisher genannten Fällen aus Wittenberg, dass es sich hier noch kaum um rituelle Schändungen oder Desakralisierungen handelte, son‑ dern um die Verhinderung der Ausführung sakraler Handlungen. Diese spre‑ chen gerade nicht für eine grundsätzliche Ablehnung der Ceremonien, son‑ dern zeigen vielmehr eine Verunsicherung, ob diese in der richtigen Art und Weise und von den richtigen Personen vollzogen wurden. Diese Zielrichtung entsprach auch den Predigten, die in dieser Zeit in Wittenberg gehalten wurden: Besonders der Augustinermönch Gabriel Zwilling und der Jurist und Theologe Justus Jonas, der seit 1521 Propst des Allerheiligenstiftes war, predigten öffent‑ lich gegen die Messe in ihrer bisherigen Art und Weise sowie gegen die Mönchs‑ gelübte.41 Damit machten sie die Themen, die zu diesem Zeitpunkt an der Uni‑ versität diskutiert wurden, in der Stadt bekannt.42 Gleichzeitig begannen auch die ersten Mönche, ihre Klöster zu verlassen und zeigten sich in weltlicher Klei‑ dung auf der Straße, wobei sie als ehemalige Mönche zunächst an der Tonsur er‑ kennbar blieben.43 Die Kritik an der bisherigen Ordnung der Geistlichkeit hatte damit bereits hier zu einem offenen Bruch mit derselben geführt. Die Ablehnung der Messe war so auch in Wittenberg mit der Ablehnung der gegenwärtigen Geistlichen eng verbunden, welche das Evangelium nicht in der richtigen Weise verkündeten und die Messe in einer falschen, von den Predigern 41 Von solchen Predigten berichtet der Prior des Wittenberger Augustinerklosters Kon‑ rad Helt an den Kurfürsten, 12. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 67–69. 42 Zur theologischen Diskussion an der Universität und den einzelnen Positionen vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 282–287. 43 Vgl. der Prior des Augustinerklosters Konrad Helt an Friedrich den Weisen, 12. No‑ vember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 67–69.
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nun als blasphemisch bezeichneten Art und Weise hielten.44 Doch handelte es sich hier nicht einfach pauschal um „Antiklerikalismus“, denn die Aktionen richteten sich nicht wahllos gegen alle Mitglieder des geistlichen Standes, son‑ dern waren, wie anhand der Einzelfälle gezeigt werden konnte, jeweils Teil län‑ gerfristiger sozialer und politischer Konflikte in der Stadt, in deren Zusammen‑ hang sie im folgenden Teil dieses Kapitels einzuordnen sind. Ebenso erscheinen die hier untersuchten frühen Aktionen der Wittenberger Studenten, Bürger und Einwohner auch nicht als Ausdruck einer prinzipiellen Ablehnung der äußeren Ceremonien. Während die neuere kulturwissenschaft‑ lich orientierte Reformationsforschung die ikonoklastischen Aktionen an ande‑ ren, zumeist oberdeutschen, Orten als Ausdruck grundsätzlich neuer religiöser Wahrnehmungsform im oben dargestellten Sinne einer „Ritualrevolution“ deu‑ ten konnte, standen Akte der Desakralisierung hier noch nicht im Vordergrund. Dies sollte sich in den folgenden Jahren, gerade auch nach der Rückkehr Luthers und dessen Predigten gegen das Allerheiligenstift, verändern. Auch im Verlauf des Winters 1521/22 ist bereits ein einzelner Fall zu nennen, der in diese Rich‑ tung weist. In der Christnacht, also am 24. Dezember, wurden „etliche“ aus der Pfarr‑ kirche vertrieben, weil sie dort „groß mutwillen“ getrieben, Lampen zerschla‑ gen und einen Priester bedroht hatten. Nachdem die Täter aus der Kirche ver‑ wiesen worden waren, lärmten sie draußen auf dem Kirchhof weiter, sangen weltliche Lieder und heulten „wie die hunde und wolffe“.45 Anschließend gin‑ gen sie in die Schlosskirche, wo sie von der Empore aus die Priester beim Le‑ sen der Christmette störten und verspotteten.46 Viel deutlicher als bei der Mes‑ sestörung Anfang Dezember ist hier bereits der Versuch, den Sakralraum der 44
Die Untersuchung der Aktionen der Studenten gegen bestimmte traditionelle religiöse Ceremonien erlaubt an dieser Stelle eine Einordnung des Befundes in einen weiteren Aspekt der Diskussion um Stadt und Reformation. Während ein Teil der Forschung den Aspekt des „Antiklerikalismus“ als den entscheidenden Faktor ansah, wurde von anderer Seite dagegen immer wieder die ausschließliche Motivation der Unruhen in der Rechtfertigungslehre her‑ vorgehoben oder zumindest die „Unhintergehbarkeit“ des Faktors Religion betont, vgl. zu diesen Forschungskontroversen ausführlich unten, S. 170 f. Auf diesen älteren Studien auf‑ bauend entwickelte schließlich in einer der jüngsten Untersuchungen zu diesem Thema der Kirchenhistoriker Berndt Hamm ein Modell, welches mit einer neuen Gewichtung beide Faktoren berücksichtigte. Für die reichsstädtische reformatorische Bewegung bezeichnet Hamm als kennzeichnend die „Kritik am Klerus und an der Hierarchie des Papstes, der Bi‑ schöfe, der Pfarrer und Ordensvorgesetzten“, wobei es jedoch gleichzeitig nie um eine „prin‑ zipielle Kirchen‑ und Klerusfeindlichkeit“ gegangen sei. Der Begriff „Antiklerikalismus“ sei dabei insofern irreführend, als mit dieser Kritik an der Klerikerhierarchie gleichzeitig eine gesteigerte Kirchlichkeit und Frömmigkeit einhergegangen sei, vgl. Hamm: Bürgertum und Glaube, S. 72–73. 45 Vgl. Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthäus Beskau und andere Stiftskanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134, hier S. 133 f. 46 Vgl. ebd.
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Kirche und das Lesen der Messe mit Lärm, weltlichen Liedern und gewalt‑ samen Handlungen zu profanieren, erkennbar. Auch dies war in Wittenberg nicht vollständig neu, denn der mangelnde Respekt der Wittenberger Studen‑ ten vor dem Sakralraum des Kirchhofes hatte zwar auch schon in früheren Jah‑ ren zu Konflikten mit der Stadt geführt, allerdings war hier der Innenraum der Kirche noch nicht betroffen.47 Auch in den folgenden Jahren kam es im Zusammenhang mit der reformatorischen Predigt zu ähnlichen Vorfällen.48 Im Winter 1521/22 waren diese Aktionen der Bürger und Studenten jedoch noch stark von den Unsicherheiten der Übergangszeit geprägt. Gezielte Akte der Desakralisierung sind über den Vorfall in der Christnacht hinaus in dieser Zeit nur noch einmal festzustellen, nämlich am 10. Januar 1522, als die Augustiner‑ mönche in ihrem Kloster unter der Leitung von Gabriel Zwilling im Hof des Klosters ein Feuer machten und darin Inventar aus der Klosterkirche, darunter die hölzernen Altäre sowie geschnitzte Bilder, Fahnen, Kerzen und Leuchter verbrannten. Außerdem schlugen sie steinernen Heiligenstatuen die Köpfe ab und verwüsteten Gemälde in der Klosterkirche.49 Hier finden sich die auch für spätere Bilderstürme typischen Handlungen, wie symbolische Strafmaß‑ nahmen an Skulpturen und die Demonstration der Machtlosigkeit der Kult objekte.50 Bezeichnend ist hier der Unterschied zwischen theologisch gebil‑ deten Mönchen und Stadtbevölkerung. Die Augustinermönche vollzogen mit ihren ikonoklastischen Handlungen rituell den Bruch mit ihrer eigenen Ver‑ gangenheit, denn viele von ihnen verließen danach das Kloster, um sich ent‑ weder in Wittenberg einem Beruf zuzuwenden oder die Stadt zu verlassen. 51 Das galt jedoch bislang hauptsächlich für die Mönche des Augustinerklos‑ ters, die in die theologische Diskussion stärker und früher eingebunden waren. In den übrigen genannten Fällen zeugen die Handlungen der Wittenber‑ ger Stadtbevölkerung hingegen von einer weiter bestehenden Hochachtung der Präsenz des Heiligen, welche sich in sakralen Gegenständen und Ceremonien 47
Vgl. oben, S. 116 f. Vgl. unten, S. 269 und S. 313. 49 Am ausführlichsten berichtet über diesen der Zwickauer Stadtschreiber Johann Pfab, der sich damals in Wittenberg aufhielt, um dem Zwickauer Bürgermeister von den Ereignis‑ sen zu berichten, vgl. „Nawe gezeiten von Johan pfaben Burgermeister Ern Hermann Mul pforten von Wittenberg geschriben“, in: Ernst Fabian (Hg.): Zwei gleichzeitige Berichte von Zwickauern über die Wittenberger Unruhen 1521–1522, in: Mitteilungen des Alter‑ tumsvereins für Zwickau und Umgebung 11 (1914), S. 28–30; vgl. dazu auch Bubenheimer: Scandalum, S. 265–267. 50 Vgl. dazu grundlegend Scribner: Volkskultur und Volksreligion, bes. S. 191. 51 Den Anstoß dazu hatten die Beschlüsse der damals in Wittenberg tagenden Reform‑ kongregation der Augustiner gegeben, die einen Austritt aus dem Kloster ermöglichten, vgl. Theodor Kolde: Die deutsche Augustiner‑Congregation und Johann von Staupitz. Ein Beitrag zur Ordens‑ und Reformationsgeschichte nach meist ungedruckten Quellen, Gotha 1879, S. 378; Kruse: Universitätstheologie, S. 359. Die Beschlüsse des Kapitels sind abge‑ druckt bei Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 147–150. 48
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manifestierte. Diese Zusammenhänge zwischen dem reformatorischen Zei‑ chen‑ und Ritualverständnis einerseits und den Rezeptions‑ und Aneignungs‑ prozessen desselben andererseits sollen im Folgenden anhand eines weiteren, besonders gut überlieferten Beispiels genauer beleuchtet werden: Der ersten Feier des Abendmahls unter beiderlei Gestalt durch Andreas Karlstadt am Weihnachtstag 1521 in der Wittenberger Schlosskirche.
1.4. Vielfältige Wahrnehmungen des Ritualwandels: Die Abendmahlsfeier Andreas Karlstadts Weihnachten 1521 Weihnachten 1521 feierte der Archidiakon des Wittenberger Allerheiligenstif‑ tes und Theologieprofessor der Wittenberger Universität Andreas Bodenstein von Karlstadt in der Wittenberger Stiftskirche eine „evangelische“ Messe mit dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt: Er stellte dabei die Predigt in den Mit‑ telpunkt, trug ein Laiengewand, sprach die Einsetzungsworte auf Deutsch, ver‑ zichtete auf die Elevation der Hostie und gab den Kommunikanten Hostien und den Kelch selbst in die Hand. Diese wahrscheinlich erste öffentlich gehaltene „evangelische“ Messe gilt neben dem später noch zu besprechenden angeblichen Bildersturm als eines der zentralen Elemente der Reformation in Wittenberg.52 Karlstadts Weihnachtsmesse ist in fünf ausführlichen Augenzeugenberich‑ ten überliefert, von denen zwei von Wittenberger Studenten stammen, einer von der reformgegnerischen Partei der Stiftsherren, einer von Karlstadt selbst und einer von einem unbekannten Verfasser. Den ersten Bericht verfasste der Baccalaureus Artium Gregor Korn bereits am 26. Dezember in einem Brief an seinen Schwager in Zeitz,53 den zweiten der Student Felix Ulscenius am 1. Ja‑ nuar 1522 an seinen ehemaligen Basler Hochschullehrer, dem späteren Straß‑ 52 Diese
Abendmahlsfeier wird allgemein in den Luther‑ und Karlstadtbiographien be‑ sprochen: Brecht: Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation, Stutt‑ gart 1981, S. 42–44; Herrmann Barge: Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd. I, Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Nieuwkoop 21986, S. 358 ff.; mit Blick auf die hier zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen theologischen Positionen der Wittenberger Re‑ formatoren vgl. Simon: Messopfertheologie, S. 496–500 und Kruse: Universitätstheolo‑ gie, S. 349–357. Speziell zu dieser Abendmahlsfeier gibt es bislang nur einen einzigen Bei‑ trag: Thomas Kaufmann: Abendmahl und Gruppenidentität in der frühen Reformation, in: Martin Ebner (Hg): Herrenmahl und Gruppenidentität, Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 194–210. 53 Der Brief wurde überliefert, weil er als Beleg über die Neuigkeiten von dem bischöfli‑ chen Statthalter in Zeitz als Beleg mit dessen Bericht der Neuigkeiten an das Kloster Tegern‑ see gesandt wurde. Das Original ist zwar nicht mehr vorhanden, doch wurde im Kloster Te‑ gernsee noch im Zusammenhang mit einer Chronik der aus Zeitz berichteten Ereignisse im späten 16. Jahrhundert eine Abschrift angefertigt, die heute in der Staatsbibliothek München aufbewahrt wird (Cod. germ. 1585, Bl. 272); vgl. Karl Schottenloher (Hg.): Erfurter und Wittenberger Berichte aus den Frühjahren der Reformation nach Tegernseer Überliefe‑ rungen, S. 71–91, Abdruck des Briefes S. 84–85. Gregor Korn kam aus Zeitz und hatte sich im
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burger Reformator Wolfgang Fabricius Capito.54 Der Bericht des Stiftskapitels war von der reformgegnerischen Mehrheit der Stiftsherren unterzeichnet wor‑ den, welche sich bereits zuvor als Mitglieder des Universitätssenates in einem Gutachten gegen die Reform der Messe ausgesprochen hatten.55 Er ist zugleich Rechtfertigung der gegen das Verbot des Kurfürsten durchgeführten Liturgie‑ reform und Beschwerde über die dafür verantwortliche Minderheit im Stifts kapitel mit dem Archidiakon Andreas Karlstadt an ihrer Spitze. Ein vierter Bericht, der anscheinend ebenfalls von einem Augenzeugen ver‑ fasst wurde, stammt aus einem anonymen Dokument mit dem Titel „Zeittung aus Wittenberg“.56 Dieser Bericht weist unter quellenkritischen Gesichtspunk‑ ten einige Schwierigkeiten auf, denn er ist nicht nur anonym und undatiert, son‑ dern auch nicht im Original überliefert. Vorhanden ist nur ein Abdruck in ei‑ ner Quellensammlung aus dem späten 18. Jahrhundert, die als Quelle nur angibt „aus einer alten Copie“.57 In dem Verfasser des Berichtes sieht die Forschung in Anschluss an die Edition Nikolaus Müllers den Geistlichen Ambrosius Wil‑ ken, der 1521 als Pfarrer des Dorfes Dobien in der Nähe von Wittenberg tätig war. Müller schließt aus dem Satz „dergleichen hab ich zu Mayn in dorfflein, auch bey einem halb hundert menschen gespeist auff den Christag“.58 Da es kein Dorf Mayn in der Nähe Wittenbergs gab, vermutet Müller, dass es sich um ei‑ nen Lesefehler handelt und eigentlich das Dorf „Dobien“ gemeint war, dessen Pfarrer der genannte Ambrosius Wilken war. Da jedoch auch Müller das Ori‑ ginal nicht vorlag und ein Versionenvergleich nicht möglich war, bleibt seine Zuordnung aufgrund des angenommenen Lesefehlers schließlich eine Vermu‑ tung. Auch ist die Datierung Müllers „kurz nach 6. Januar“ aus dem Inhalt des
Wintersemester 1514 an der Universität Wittenberg eingeschrieben, vgl. Förstemann (Hg.): Album, S. 54. 54 Capito befand sich damals im Dienste des Kurfürsten von Mainz; ein Felix Ulscenius findet sich unter diesem Namen nicht in der Universitätsmatrikel. Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 12, Anm. 2 identifiziert ihn unter dem Namen „Felix Beyer Tigerinnus Constan. dioc.“, eingeschrieben 1521. Über die Weihnachtsmesse Karlstadts schrieb Felix Ulscenius in zwei Briefen an Capito, die beide vom 1. Januar 1522 datieren. Sie sind abge‑ druckt bei Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 135 und 136 f. 55 Der Bericht über Karl stadts Weihnachtsgottesdienst war unterzeichnet von Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthaeus Beskau, Otto Beckmann, Sebastian Küchenmeister, Georg Elner, Johann Rachals und Johann Volmar, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134. 56 „Zeittung aus Wittenberg“, kurz nach dem 6. Januar 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 151–164. Vgl. zu dieser Quelle ebenfalls ausführlich: Thomas Kauf‑ mann: Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen‑ und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Mühlhausen 2010, S. 75–86. 57 Georg Theodor Strobel (Hg.): Miscellaneen literarischen Inhalts, 5. Sammlung, Nürnberg 1781, S. 117–122. 58 Ebd., S. 154.
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Berichtes zwar gut begründet,59 jedoch lässt die Formulierung im Titel „wie es Anno 1521 und 22 als Lutherus in Pathmo war vnd Carlstatt anfing zu stuer men, sey zugegangen“ auf einen größeren zeitlichen Abstand schließen.60 Ge‑ rade die Bezeichnung des Wartburgaufenthaltes Luthers als „Patmos“61, ebenso wie die inhaltliche Zuspitzung auf Karlstadt und das „Stürmen“ lässt darauf schließen, dass dieser Bericht erst nach der Rückkehr Luthers und mit Kennt‑ nis der Invokavitpredigten verfasst wurde.62 Er soll daher hier im Gegensatz zu den anderen genannten Briefen nicht als unmittelbarer Augenzeugenbericht be‑ trachtet werden. Als Augenzeugenbericht ist schließlich fünftens auch eine von Karlstadt selbst verfasste Flugschrift zu nennen, in der er kurz darauf die Predigt des Gottesdienstes veröffentlichte und damit seine Gottesdienstreformen rechtfer‑ tigte und gleichzeitig überregional bekannt machte.63 Die gute Überlieferungssituation zeigt, dass die Messe Karlstadts bereits von den Zeitgenossen als bedeutsam angesehen wurde, ebenso jedoch auch von nachfolgenden Generationen, welche die Berichte in unterschiedlichen Archi‑ ven und Beständen unabhängig voneinander für aufbewahrenswert hielten. Gleichzeitig bieten die Berichte sehr unterschiedliche Blicke auf das Ereignis: Während in den Studentenbriefen die Sensation der Neuigkeiten im Vorder‑ grund steht, im Bericht der Stiftsherren die Beschwerde und in der anonymen Quelle nachträgliche Bedeutungszuschreibungen erkennbar sind, so diente die Flugschrift Karlstadts sowohl der Rechtfertigung seiner Taten wie auch der Be‑ kanntmachung über Wittenberg hinaus. Daneben wird der Gottesdienst auch in weiteren Briefen dieser Zeit erwähnt, ausführlicher etwa in einem späteren 59 Erwähnt wird Karlstadts Hochzeit als noch bevorstehend, die Beschlüsse des Kapitels der Wittenberger Augustiner hingegen nicht, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 152. 60 Vgl. „Zeittung aus Wittenberg“, kurz nach 6. Januar 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 151–164, hier S. 151. 61 Zur Deutung des eigenen Exils als „Pathmos“ bei Wilhelm von Ockham und Luther vgl. Volker Leppin: Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reforma‑ tion, in: Margarethe Drewsen/Mario Fischer (Hgg.): Die Gegenwart des Gegenwärti‑ gen. Festschrift für Gerd Haeffner, Freiburg/München 2006, S. 376–391, hier S. 389 f. 62 Denkbar wäre zwar auch, dass die zusammenfassende Überschrift erst nachträglich hinzugefügt wurde, was jedoch aufgrund der im 19. Jahrhundert nicht mehr gebräuchlichen Verwendung des Wortes „Zeitung“ im Sinne von „Nachricht“ oder „Neuigkeit“ eher un‑ wahrscheinlich erscheint, während sie im 16. Jahrhundert gerade für Anlagen von Briefen mit Nachrichten von allgemeinem Interesse gebräuchlich war, vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Artikel „Zeitung“, in: Deutsches Wörterbuch, 33 Bände, Leipzig 1854–1971, Bd. 31, Sp. 590–600, hier Sp. 592. Es bleibt jedoch die Möglichkeit, dass der Titel in der Zwischenzeit, etwa im späten 16. oder 17. Jahrhundert, hinzugefügt wurde. 63 Andreas Karl s tadt: „Vom Empfang des heiligen Sakramentes“, in: Hans‑Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (1501–1530), Mikrofiche Serie, Zug 1978–1987, Mf. 334, Nr. 943.
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Bericht des Sekretärs Georgs von Sachsen, Thomas von der Heyde, der jedoch kein Augenzeuge war,64 nur kurz hingegen in einem Brief des Wittenberger Stiftspropstes Justus Jonas und den Annalen Spalatins nach einem nicht mehr vorhandenen Brief des Wittenberger Goldschmieds Christian Düring.65 Trotz der erheblichen Unterschiede in Perspektive und Bewertung der Er‑ eignisse, lassen sich in den Berichten doch auch bestimmte Gemeinsamkeiten ausmachen. So steht im Mittelpunkt jeweils das Abendmahl unter beiderlei Ge‑ stalt und nicht, wie nach der theologischen Diskussion an der Universität zu vermuten wäre, die Auslassung des Kanons und damit die Verbannung des Op‑ fergedankens der Messe.66 Während in der theologischen Diskussion eher diese liturgischen Reformen im Vordergrund standen und auch Karlstadt selbst bei der Ankündigung seiner „evangelischen Messe“ das Abendmahl unter beider‑ lei Gestalt nur als einen Punkt unter anderen erwähnte, rückte es in den Augen‑ zeugenberichten in das Zentrum der Darstellungen. Dennoch war die Forderung nach dem Laienkelch Weihnachten 1521 nicht neu, sondern spielte bereits seit einigen Monaten in der theologischen Diskus‑ sion an der Universität in Luthers Abwesenheit eine Rolle.67 Auch Luther hatte diese Forderung bereits 1519, also vor seinem Wartburgaufenthalt, im Rahmen einer allgemeinen Lehre von den Sakramenten entwickelt.68 In Wittenberg war das erste Abendmahl in der neuen Form tatsächlich schon früher, nämlich be‑ reits am 29. September 1521, von Philipp Melanchthon mit einigen Studenten 64 Thomas von den Heyde: Neue Zeitung, Dresden nach 1. und vor 19. Januar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 170–171. 65 Justus Jonas an Johann Lang, 8. Januar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewe‑ gung, S. 164–167; Christian Düring an Georg Spalatin, bald nach 25. Dezember, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 126–128, hier S. 126. 66 Vgl. dazu ausführlich Kruse: Universitätstheologie, S. 282–317. 67 Vgl. zur Diskussion an der Universität seit dem Sommer 1521 besonders Kruse: Uni‑ versitätstheologie, S. 301–305. 68 Martin Luther: „Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des wahren Leich nams Christi und von den Bruderschaften“ (1519), in: WA 2, S. 738–758. Dies begründete Luther zum einen historisch, da die Laien in früheren Zeiten Brot und Wein erhalten hätten, zum anderen mit der Einsetzung Christi, der das Sakrament in beiden Gestalten für alle Men‑ schen eingesetzt habe, ebd. S. 743. Vgl. dazu zuletzt Simon: Messopfertheologie, S. 227–257; Wendebourg: Essen, S. 45–47. Luther, der diese Reform damals noch durch ein allgemeines Konzil umgesetzt sehen wollte, konnte sich hier nicht nur auf die altkirchliche, sondern auch auf die mittelalterliche Praxis berufen, vgl. Christopher Spehr: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Münster 2010, S. 186. So war die so genannte „communio sub utraque“ zwar seit dem 12. Jahrhundert zunehmend umstritten, wurde jedoch noch bis ins 15. Jahrhundert praktiziert, bis das Konzil von Kon‑ stanz 1514 ein Verbot des Laienkelchs aussprach. Die Forderung nach dem Laienkelch wurde nach dem Tod von Jan Hus zum entscheidenden gruppenbildenden Moment der Hussiten und brachte Luther daher von Seiten Herzog Georgs von Sachsen schon früh den Vorwurf der hussitischen Ketzerei ein, vgl. Spehr: Luther und das Konzil, S. 188, Volkmar: Reform, S. 456–459.
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gefeiert worden. Es fand jedoch wahrscheinlich im privaten Rahmen statt und wurde deshalb in der Stadt zunächst nicht bekannt.69 Für die Weihnachtsmesse wird der Eindruck eines starken Verlangens der Laien nach der communio sub utraque durch die Aussagen Karlstadts in sei‑ ner nachträglich veröffentlichten Predigt bestätigt: „Dieweil jr aus guter begird bewegt seit das hochwirdig sacrament zu empfahen […] dan euwer inbrünstige hitz vnd vnmäßige begird zu der hailigen mess tringet vnd treibt mich eüch in fleiß und wolgefallen zu dienen“.70 Was Karlstadt hier wohl auch der Rechtfer‑ tigung seines Handelns diente, wird jedoch in weiteren Augenzeugenberichten bestätigt. So beschrieben ebenfalls die reformgegnerischen Wittenberger Stifts‑ herren einen regelrechten Ansturm der Laien auf das Sakrament: „dem umbste henden volck das sacrament beider gestalt gereicht. Do zu das volck mit hauffen gedrungen“.71 Auch der Brief des Studenten Gregor Korn zeigt, dass dieser dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt eine große Bedeutung beimaß; mit der Auf‑ zählung der „obristen, purgermaister, Ratßherrn, Doctores, prelaten, Rectoren, Schrifftweisen“, die das Sakrament ebenfalls „sub utraque specie“ genommen hatten, stellte er dieses als eine obrigkeitlich gebilligte Handlung dar.72 Weiter unterstrichen wird die Bedeutsamkeit dieser Handlung hier, indem Korn den Briefboten als Zeugen benennt, der selbst auch das Abendmahl unter beiderlei Gestalt genommen habe und danach befragt werden sollte.73 In ähnlicher Weise beschrieb schließlich auch der Student Felix Ulscenius das Abendmahl unter beiderlei Gestalt als das zentrale Moment der Erkenntnis des neuen Glaubens in dieser Messe: „Videas multitudinem vescencium vel plebeie turbe, ut plane opus dei esse agnosceres, deflentis sui hactenus seductionem.“ 74 Nicht nur im Bezug auf das Verlangen der Menschen, sondern auch bezüg‑ lich der Anzahl derer, die die Kommunion „sub utraque“ nahmen, waren sich die Verfasser der Berichte weitgehend einig: Es soll sich dabei insgesamt um ca. 2000 Menschen gehandelt haben.75 Bei einer Einwohnerzahl von 2000 Men‑ 69 Der Student Sebastian Helmann an Johann Heß, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 19. 70 Karl s tadt: „Vom Empfang“, Mf. 334, Nr. 943. 71 Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthäus Beskau und andere Stiftskanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134, hier: S. 132. 72 Gregor Korn an seinen Schwager in Zeitz, 26. Dezember 1521, in: Schottenloher (Hg.): Erfurter und Wittenberger Berichte, S. 84 f., hier S. 85. 73 Ebd. 74 Felix Ulscenius an Wolfgang Capito, 1. Januar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 136–137, hier S. 136. 75 Der Sekretär Georgs von Sachsen Thomas von der Heyde, der jedoch nicht selbst an‑ wesend war, spricht von 2000 Personen am Christtag, vgl. Thomas von den Heyde: Neue Zeitung, Dresden nach 1. und vor 19. Januar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewe‑ gung, S. 170–171, hier S. 170. Der anonyme Pfarrer nennt für Neujahr und den darauf folgen‑ den Sonntag jeweils 1000 Menschen, vgl. Zeitung aus Wittenberg, kurz nach 6. Januar 1521,
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schen hätte so, wie der Stiftspropst Justus Jonas treffend berichtete, tatsächlich „pene urbs et cuncta Civitas“ das Abendmahl unter beiderlei Gestalt genom‑ men.76 Karlstadts „evangelische“ Weihnachtsmesse war demnach das Ereignis mit der bisher größten Beteiligung der Wittenberger Bürger und Einwohner, die auf diese Weise ihre Zustimmung zu den Reformen zeigten. Karlstadt traf hier, wie Scribner formulierte, einen Nerv des Volkes („struck a popular chord“). 77 Worin liegen die Gründe für die Forderung der Wittenberger nach dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt? Diese Frage erscheint entscheidend, denn diese Forderung, die hier erstmals öffentlich in die Praxis umgesetzt wurde, wurde bald zentral für die „reformatorische Bewegung“ insgesamt und gilt in der Forschung bis heute als Merkmal der Durchsetzung der Reformation.78 Für die spezifische Situation dieser ersten Abendmahlsfeier in Wittenberg dabei soll hier zum einen nach der sozialen Funktion und den Möglichkeiten der Durch‑ setzung der Reformen in der Stadt und zum anderen nach der Rezeption der Re‑ formen durch die Laien gefragt werden, welche in den Reaktionen auf die verän‑ derte gottesdienstliche Praxis zum Ausdruck kommt. Im Hinblick auf die soziale Funktion der veränderten Abendmahlspra‑ xis ist hier zunächst das Moment der Gemeinschaftsstiftung und Gruppenbil‑ dung hervorzuheben: Die Teilnahme an der veränderten Abendmahlspraxis er‑ möglichte die Konstituierung der Wittenberger als Gruppe der Evangelischen, indem sie die Unterscheidung zwischen einem Innen und Außen der Gruppe erst schuf. 79 Die Teilnahme an der „evangelischen Messe“ 80 und besonders an dem Abendmahl bot den Laien die Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu manifestieren und ihrer Zustimmung zu den Reformen Ausdruck zu verleihen. Während sich die Stadtgemeinschaft der Wittenberger seit der ge‑ meinsamen Verbrennung der Bannandrohungsbulle und den vorhergehenden in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 151–164, hier S. 154. Gregor Korn schreibt an seinen Schwager in Zeitz von mehr als tausend Menschen, Gregor Korn an seinen Schwager in Zeitz, Wittenberg den 26. Dezember 1521, in: Schottenloher (Hg.): Erfurter und Wit‑ tenberger Berichte, S. 71–91, hier S. 85. 76 Justus Jonas an Johann Lang, 8. Januar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewe‑ gung, S. 164–167, hier S. 165. 77 Vgl. Scribner: Social Movement, S. 148. 78 Dieses gilt sowohl für die Konversion einzelner Personen, als auch für ganze Städte oder Länder, vgl. dazu kritisch Kaufmann: Abendmahl, S. 196. 79 Zur spätmittelalterlichen Abendmahlspraxis in diesem Zusammenhang umfassend: Miri Rubin: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991; aus soziologischer Perspektive neuerdings: Volkhard Krech: Die semantischen und sozial‑ strukturellen Kontexte der Mahlfeier. Eine religionssoziologische Typologie, in: Martin Ebner (Hg.): Abendmahl und Gruppenidentität, Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 39–58. 80 Diese Bezeichnung der neuen Messliturgie wurde von Karlstadt benutzt und von Geg‑ nern wie Befürwortern übernommen, so heißt es etwa in dem Bericht der Stiftsherren „eine messe, die er nennet ewangelisch, widder gemeynen gebrauch geleßen“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 132.
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Aktionen zunächst in negativer Weise aus der gemeinsamen Ablehnung des al‑ ten kirchlichen Systems der Heilsvermittlung konstituiert hatte, wurde diesem nun ein neues Gefüge kirchlicher Ceremonien entgegengesetzt. Insofern war diese erste „evangelische Messe“ Karlstadts, und dabei insbe‑ sondere das Abendmahl unter beiderlei Gestalt, tatsächlich ein wichtiger Be‑ standteil des Prozesses, in dem sich die Wittenberger als Gruppe der wahren „evangelischen“ Christen formierten. Das Abendmahl bildete damit einen Dis‑ tinktionsritus, der die „Evangelischen“ als Gruppe abgrenzte und von denjeni‑ gen trennte, die das Sakrament nicht in der neuen Art und Weise empfingen.81 Mit dieser sozialen Funktion soll die Abendmahlsfeier Karlstadts hier zu‑ nächst als Teil des längerfristigen umfassenden Gruppenbildungsprozesses der Stadt Wittenberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts betrachtet werden. Innerhalb dieses von unterschiedlichen politischen, sozialen und theologischen Faktoren bedingten Prozesses der Vereinheitlichung, Zentrierung und Abgrenzung hatte sich die Stadtgemeinschaft der Wittenberger in geistlichen Fragen als eine von äußeren Einflüssen unabhängige Gemeinschaft konstituiert, die sowohl sym‑ bolisch wie auch institutionell auf Allerheiligenstift und Universität hin ausge‑ richtet war. So war das Stift in den letzten Jahrzehnten zum Zentrum des Heils und die Universität zum Zentrum der Wahrheit geworden.82 In diesem Zusam‑ menhang betrachtet, war es nur noch ein kleiner Schritt von der mit symboli‑ schen Mitteln schrittweise vollzogenen Ablösung vom gradualistischem Heils‑ system und der kirchlichen Hierarchie hin zur Etablierung neuer, eigener Ce‑ remonien durch einen Stiftsgeistlichen und Professor der Theologie. Nur war dieser Professor in diesem Fall nicht, wie noch bei der Verbrennung der Bann androhungsbulle, Martin Luther, sondern Andreas Karlstadt. Das Abendmahl unter beiderlei Gestalt war so nur ein weiterer, wenn auch wichtiger Schritt in einem bereits einige Zeit andauernden Prozess, in dem sich die Wittenberger durch Abgrenzung nach außen und Festigung nach innen zu einer Gemein‑ schaft der wahren „Evangelischen“ formiert hatten. Demnach soll das Abendmahl hier als ein Distinktionsritus verstanden wer‑ den, mit dem sich die Wittenberger gegenüber dem altgläubigen Klerus und ge‑ genüber den Nicht‑Wittenbergern abgrenzten, welche weiterhin der päpstlichen Klerikerhierarchie anhingen. Hingegen finden sich für eine Abgrenzung einer „religionspolitischen Gruppierung“ innerhalb der Stadt gegenüber den übrigen, noch nicht überzeugten Wittenbergern, welche die Forschung hier vermutet, we-
81 So auch Kaufmann: Abendmahl, S. 200 f., der die Abendmahlsfeier Karlstadts jedoch sehr negativ beurteilt. Diese war nach Kaufmann „kein Ort des Heilsempfangs […], sondern eine gemeinschaftliche Manifestation rechtgläubiger religiöser Gesinnungstat, ja ein Akt der Selbstkonstitution einer ihrer Identität gewissen religionspolitischen Gruppierung“, ebd., S. 201. 82 Dieser Prozess ist ausführlich dargestellt in den Kapiteln I.2. bis I.4. dieser Arbeit.
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der in den Berichten der Befürworter noch der Gegner der Reformen Belege.83 Gegen eine solche Interpretation sprechen auch die genannten hohen Teilneh‑ merzahlen und die Formulierung, Karlstadt habe das Abendmahl denen, „die es wollten“ unter beiderlei Gestalt gereicht.84 Festgehalten werden kann damit zunächst, dass der neue Abendmahlsritus eine Distinktionsfunktion in einem Gruppenbildungsprozess der Wittenberger als Heilsgemeinschaft erfüllte. Diese soziale Funktion schließt jedoch weitergehende religiöse Wahrneh‑ mungsebenen nicht aus. So ist im Folgenden nach den unterschiedlichen For‑ men der Wahrnehmung des Sakralen zu fragen, die in den Augenzeugenberich‑ ten zum Ausdruck kommen. Besonders deutlich werden die unterschiedlichen Wahrnehmungen hier anhand von zwei Elementen, die auch zentral in Karl stadts Predigt waren, nämlich anhand der Vorbereitung auf den Empfang des Abendmahls und des Umgangs mit dem Sakrament selbst. Karlstadt brachte in seinen liturgischen Reformen ein völlig neues Zeichen‑ verständnis zum Ausdruck, das sich unter zwei für die reformatorische Theo‑ logie zentralen Schlagworten zusammenfassen lässt: Ritualkritik und Verin‑ nerlichung.85 So forderte er in seiner Predigt, die bald darauf auch im Druck erschien, die Menschen auf, das Sakrament entgegen der sonst üblichen Vorbe‑ reitung auf den Kommunionsempfang auch dann zu nehmen, wenn sie nicht zu‑ vor gebeichtet oder gefastet hätten: Nicht das sei notwendig, sondern ein star‑ ker Glaube.86 Damit lehnte er äußere ritualisierte Handlungen wie das Beichten 83 So heißt es bei Thomas Kaufmann, dass diese Messe „zögerliche, indifferente oder reli‑ gionspolitisch deviante Gemeindemitglieder, die zu einer Demonstration ihrer evangelischen Gesinnung noch nicht bereit waren, ausschloß oder aber im rituellen Akt selbst gleichsam ‚überrumpelte‘ und zu etwas ‚zwang‘, dem sie sich in der liturgischen Situation selbst kaum entziehen konnten.“ Kaufmann: Abendmahl, S. 202. Ähnlich formulierte bereits Frieder Schultz: „Vor allem wurde die Gemeinde unter Tumulten und Nötigung z.B. zum Empfang sub utrque überfahren.“ Frieder Schultz: Luthers liturgische Reformen. Kontinuität und Innovation, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 25 (1983), S. 249–275, hier S. 257. Eine solche Deutung des Geschehens entspricht hingegen der Darstellung Luthers und findet sich erst‑ mals in den so genannten „Invokavitpredigten“, die Kaufmann und Schultz neben anderen Lutherschriften auch als Quellengrundlage dienen, vgl. unten, S. 215–242. 84 Vgl. Gregor Korn an seinen Schwager in Zeitz, 26. Dezember 1521, in: Schotten‑ loher (Hg.): Erfurter und Wittenberger Berichte, S. 84 f., hier S. 85. Dem entspricht auch die Formulierung in dem Schreiben der kurfürstlichen Räte an den Bürgermeister Christian Beyer über die Ankündigung der Messe durch Karlstadt im Gottesdienst am 22. Dezember, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 125 f. 85 Kulturwissenschaftliche Perspektiven sehen eher in ersterem, kirchengeschichtliche eher in letzterem Konzept die zentrale Bedeutung der Reformation. Zur Ritualkritik vgl. un‑ ten, S. 164. Zum kirchengeschichtlichen Verinnerlichungskonzept vgl. den neueren Sammel‑ band: Berndt Hamm/Volker Leppin (Hgg.): „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007. 86 Karl s tadt: „Vom Empfang“, Mf. 334, Nr. 943; so auch wiedergegeben in dem Bericht der Stiftsherren, vgl. Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthaeus Beskau und andere Stifts‑ kanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Be‑ wegung, S. 131–134, hier S. 132.
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und Fasten zwar nicht vollständig ab, erklärte sie jedoch für nicht heilsnotwen‑ dig. Der bloße Vollzug sakraler Handlungen sollte bedeutungslos sein, allein re‑ levant war hingegen die innere Beteiligung, der „starke Glauben“ des einzelnen Kommunikanten. Die in dieser Predigt geäußerten Grundgedanken zur würdi‑ gen Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang hatte Karlstadt bereits im Som‑ mer in einer Flugschrift veröffentlicht.87 Den genannten Prinzipien entspra‑ chen auch die weiteren Veränderungen der Liturgie: Karlstadt trug ein Laien gewand, verzichtete auf die „Schirmschläge“, d.h. die Kreuzeszeichen über der Hostie, ebenso wie auf die Elevation, trat über den Altar vor die Gemeinde und sprach die Einsetzungsworte laut und deutsch.88 Gleichzeitig vermied er durch das Auslassen von Offertorium und Kanon jeden Hinweis auf den Opfercha‑ rakter der Messe. Die vielfältigen theologischen Implikationen der Veränderungen Karlstadts sind von der theologischen Kirchengeschichtsschreibung ausführlich disku‑ tiert worden und werden daher hier nicht im Einzelnen dargestellt.89 Festge‑ halten werden soll hier nur, dass mit allen Veränderungen ein neues Verständ‑ nis von äußeren Zeichen und Ritualen verbunden war, welches zu einer Abwer‑ tung der äußeren Geste gegenüber dem abstrakten Verstehen und dem inneren Glauben führte. Gerade in der Wittenberger Schlosskirche, die in den voran‑ gegangenen Jahrzehnten durch die ununterbrochenen Messen und liturgischen Übungen zu einem besonderen Ort des Heils geworden war, erklärte Karlstadt nun den äußeren Vollzug sakraler Handlungen für irrelevant. Eine solche Ver‑ änderung war von weitreichender Konsequenz, da nicht nur das gesamte kirch‑ liche Heilssystem, sondern auch die frühneuzeitliche ständische Gesellschaft auf der Verbindlichkeit von Ritualen beruhte.90 Dass die Akzeptanz von reli‑ giösen Ceremonien mit ihrer gesellschaftlichen Bedeutung aufs Engste verbun‑ den war, wird in Wittenberg etwa anhand der dargestellten Zusammenhänge des Systems von Heilsökonomie und Herrschaftsrepräsentation der Wittenber‑ ger Schlosskirche deutlich. 87 Andreas Karl s tadt: „Von den Empfahreren Zeichen vnd zusag des heyligenn Sacra ments fleysch vnd bluts christi“, in: Hans-Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (1501–1530), Mikrofiche Serie, Zug 1978–1987, Mf. 357, Nr. 996. Wie Kruse: Universitätstheologie, S. 301–305 zeigt, entsprach die hier geäußerte Position dem Stand der Diskussion an der Universität. 88 Der Text der Einsetzungsworte folgte allerdings dem Kanon, nicht dem neuen Testa‑ ment. Daneben wurde für den größten Teil der Liturgie die lateinische Sprache beibehalten, weshalb von liturgiewissenschaftlicher Seite der Kompromisscharakter der Messe Karlstadts betont wird, vgl. etwa Simon: Messopfertheologie, S. 501. 89 Sie wurden gerade jüngst noch einmal in zwei theologischen Arbeiten in ihren Unter‑ schieden zur Stellung Luthers und der anderen Wittenberger Reformatoren ausführlich dar‑ gelegt, auf die im Folgenden punktuell zurückgegriffen wird: Simon: Messopfertheologie, S. 496–503, Kruse: Universitätstheologie, S. 349–357. 90 Vgl. Stollberg‑Rilinger: Magie der Promotion.
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Die hier zum Ausdruck gebrachte Position Karlstadts entsprach in diesem zentralen Punkt nicht nur der Diskussion an der Universität um die Abschaf‑ fung der Messe im Sommer 1521,91 sondern war durchaus mit der Position ver‑ gleichbar, die Luther bereits drei Jahre vorher in seinem Gutachten zur Ausge‑ staltung der „Stiftung zur Erinnerung der heilwertigen Leiden Christi“ gefor‑ dert hatte. Bereits damals hatte Luther die Funktion der religiösen Ceremonien des Allerheiligenstiftes radikal, wenn auch praktisch weniger folgenreich in Frage gestellt, indem er den „Nutzen“ der liturgischen Handlungen allein auf den ausführenden Priester bezog und damit das Verständnis der Messe als „Of‑ ficium“ und Opfer radikal umkehrte.92 Aus dem hier zum Ausdruck kommenden neuen Zeichenverständnis folgte jedoch nicht nur eine Abwertung der liturgischen Gesten, sondern auch eine Neubewertung der dinglichen Zeichen, in diesem Fall von Hostien und Wein.93 Besonders deutlich wird diese Umwertung im Verständnis Karlstadts anhand einer Einzelheit, die kein Teil der eigentlichen Liturgie war, jedoch bei den Ver‑ fassern der Berichte besondere Aufmerksamkeit erregte: Karlstadt gestattete den Laien das Sakrament zu berühren, also den Kelch und die Hostien94 selbst in die Hände zu nehmen. Schließlich fielen, während Karlstadt das Sakrament spendete, einige Hostien versehentlich zu Boden. Wie die Stiftsherren berich‑ teten, forderte er die umstehenden Laien mit den Worten „es were nit, als die pfaffen dovon sagethen“ auf, diese aufzuheben.95 Ein solcher Bericht von Seiten der reformkritischen Stiftsherren könnte als bewusste Diffamierung betrach‑ tet werden, doch findet sich diese Aussage auch in dem davon völlig unabhängi‑ gen Bericht Thomas von der Heydes in leicht veränderter Form. Karlstadt habe die zu Boden gefallenen Hostien nicht beachtet und dazu gesagt „Es liege, wo es wolle, ßey es eben gleich, das man nuhr mit fuessen nit darvff trete“.96 In die‑ sem Umgang mit dem Sakrament machte Karlstadt seine ritualkritische Posi‑ 91 Dieses weist Kruse: Universitätstheologie, S. 301–305 anhand der in dieser Zeit disku‑ tierten Thesen nach. Kruse weist allerdings auch darauf hin, dass die bereits hier entwickelte Anwendung der Unterscheidung zwischen Fleisch und Geist in Johannes 6,63 auf die Abend‑ mahlsworte später zu einer Schlüsselstelle Karlstadts zur Leugnung der Realpräsenz wurde, vgl. ebd., S. 302, Anm. 138. 92 Die Grundzüge dieses Verständnisses wurden oben anhand der kurfürstlichen Stiftun‑ gen in der Schlosskirche ausführlich dargestellt, vgl. S. 81–82. 93 Vgl. dazu ausführlich Kruse: Universitätstheologie, S. 301–305. 94 Es wurden anscheinend tatsächlich Hostien gereicht, so heißt es in dem deutschen Be‑ richt der Stiftsherren ausdrücklich „die ostien und den wein“, während das lateinische „pane ac vino“ (etwa bei Felix Ulscenius, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 136) wohl bildlich zu verstehen ist. 95 Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthäus Beskau und andere Stiftskanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134, hier S. 132. 96 Thomas von der Heyde: Neue Zeitung, Dresden 1522 (ohne Datum), in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 170–172, hier S. 170.
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tion noch weiter deutlich: Nicht die Hostie als materieller Bedeutungsträger konnte das Heil transportieren, sie war als solche wertlos; entscheidend sollte hingegen die innere Haltung der Kommunikanten sein. Mit der Bemerkung, man solle nicht mit den Füßen darauf treten, sprach sich Karlstadt zwar gegen einen expliziten Akt der Profanierung aus. Doch war ein solcher nach seinem neuen Symbolverständnis auch gar nicht mehr notwendig: Die Hostie als solche hatte keine Heilsbedeutsamkeit mehr, sondern erhielt ihre Sakralität erst durch das glaubend angenommene Wort des Heilsversprechens, welches in den Ein‑ setzungsworten verkündet wurde.97 Diese sakramentstheologische Grundthese hatte Luther ausführlich in einer seiner großen Reformschriften des Jahres 1520 dargelegt.98 Im Sommer 1521 wurde sie an der Universität Wittenberg in verschiedenen Thesenreihen und Schriften von Melanchthon, Karlstadt und Nikolaus Amsdorf diskutiert.99 Mit der hier erarbeiteten Theologie einher ging eine grundlegende Neubewertung des Verhältnisses von Wort und Zeichen. Hatte die mittelalterliche Theologie den Sakramenten eine besondere Stellung zugesprochen, wonach sie eine ei‑ gene, heiligende Kraft besäßen und nicht nur bezeichneten, sondern auch be‑ wirkten, wurde ihnen diese in der reformatorischen Reformdiskussion um 1520 abgesprochen, was nicht nur der Messe ihren Opfercharakter nahm, sondern auch die Gesamtheit der kirchlichen Kulthandlungen und Sakraleinrichtun‑ gen in Frage stellte.100 Eine dieser Konsequenzen der neuen Betonung des inne‑ 97 Die nur wenige Jahre später so bedeutsame Frage nach der Realpräsenz spielte in der Diskussion unter den Reformatoren zu diesem Zeitpunkt noch kaum eine Rolle. Karlstadt lehnte eine figürliche Deutung der Einsetzungsworte im Oktober 1521 in der Auseinander‑ setzung mit Zwilling explizit ab, vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 301. 98 Martin Luther: „De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium“, in: WA 6, S. 497– 573, hier: S. 512–518. 99 Vgl. zur theologischen Entwicklung des Messverständnisses unter den Wittenberger Reformern Kruse: Universitätstheologie, S. 302–303; Wilhelm Neuser: Die Abendmahls‑ lehre Melanchthons in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1519–1539), Neukirchen 1968, S. 254–256. Die neuere kirchengeschichtliche Forschung hat jedoch auch darauf hingewie‑ sen, dass Luther und Karlstadt schon damals in einigen Punkten unterschiedliche Meinun‑ gen vertraten. Simon: Messopfertheologie, S. 302 nennt hier die unterschiedliche Auffassung des Laienpriestertums, welche in Karlstadts Verzicht auf die Priesterkleidung zum Ausdruck kommt und eine vollständige Aufhebung des priesterlichen Amtes beinhaltet, während bei Luther die Berufung zum Predigeramt eine große Rolle spielte. Ebenso verweist Simon auf Karlstadts Tendenz, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt als heilsnotwendig anzusehen. 100 Vgl. zu diesen Konsequenzen aus zeichentheoretischer Sicht Bruno Quast: wort und zeychen. Ritualkritik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Sebastian Brant, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Michel de Montaigne, in: Internationales Archiv für Sozial‑ geschichte der deutschen Literatur 27,2 (2002), S. 1–19, hier S. 10–14, S. 18 f.; Stollberg‑ Rilinger: Magie der Promotion; Nikolaus Staubach: Kultsymbolik im Wandel: Die Eucharistie als Opfer und Zeichen, in: Elizabeth Harding/Natalie Krentz (Hgg.): Symbolik in Zeiten von Krise und gesellschaftlichem Umbruch. Darstellung und Wahrneh‑ mung vormoderner Ordnung im Wandel, Münster 2011, S. 19–30; mit Bezug auf Karlstadt auch S chnitzler: Ikonoklasmus, S. 35.
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ren Glaubens des Einzelnen war eine neue Wahrnehmung der dinglichen Zei‑ chen. Sakralität sollte nun nicht mehr an heilige Gegenstände, Orte und Zei‑ chen, ja nicht einmal mehr an die Hostie als solche gebunden sein.101 In diesem Sinne wurde die Hostie als dingliches Symbol in diesem Gottesdienst tatsäch‑ lich de‑sakralisiert. Karlstadt vertrat damit in seiner Predigt und seinen liturgischen Verände‑ rungen ein neues Verständnis der dinglichen Zeichen, welches von der For‑ schung als charakteristisch für die „reformatorische Bewegung“ herausgear‑ beitet wurde, die etwa in Bilderstürmen, Hostienschändungen und anderen ri‑ tuellen Akten der Desakralisierung die Nichtsakralität von vormals als sakral wahrgenommenen Gegenständen und Orten aufzeigte.102 Wie oben dargestellt sind solche Desakralisierungen jedoch damals in den Aktionen der Wittenberg Studenten und Bürger noch kaum erkennbar, hier standen vielmehr konkrete Auseinandersetzungen mit Geistlichen um Einfluss in der Stadt im Vorder‑ grund.103 Entsprechend sind auch ikonoklastische Handlungen in Wittenberg, wie noch zu zeigen ist, kaum in der Pfarrkirche, sondern fast ausschließlich un‑ ter den Mönchen des Augustinerklosters festzustellen.104 Entsprechend zeigt das Verhalten der Laien bei der Abendmahlsfeier eine sehr unterschiedliche Aneignung des von Karlstadt intendierten Verständnisses. Zunächst wurde der Verzicht auf die Kommunionsvorbereitung in den Berich‑ ten unterschiedlich bewertet: Die reformkritischen Stiftsherren interpretierten 101 Zu dieser Veränderung der religiösen Wahrnehmung allgemein vgl. Lentes: „An‑ dacht“ und „Gebärde“, S. 29–68, bes. das Kapitel „Vom Bildgedächtnis zum Schriftgedächt‑ nis, S. 45–54. 102 So interpretiert Robert W. Scribner die quasi‑rituell überformten Aktionen der Bil‑ derstürmer als Ausdruck einer epochalen ontologischen Verschiebung der Transformation der sakramentalen in eine antisakramentale Auffassung der sinnlichen Welt, vgl. Robert W. Scribner: Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit, in: Ders./Martin Warnke (Hgg.): Bil‑ der und Bildersturm im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1990, S. 9–20, hier S. 19, vgl. dazu auch Schnitzler: Ikonoklasmus, S. 230 ff. Speziell zur Aneignung des neuen Bildverständnisses durch die „reformatorische Bewegung“ vgl. Scribner: Volkskul‑ tur und Volksreligion, S. 151–161. Auch Bernd Moeller sieht, wenn auch aus einer ganz an‑ deren Perspektive, das Moment der Desakralisierung als entscheidend an, da sich hier zeigt, dass es auch in den Bilderstürmen um die „Heilsfrage“ ging, vgl. Bernd Moeller: „Bil‑ dersturm“. Ein Ausstellungskatalog und ein Sammelband, in: Archiv für Reformationsge‑ schichte 93 (2002), S. 391–396; Scribner verwies jedoch an anderer Stelle auch auf Ungleichzei‑ tigkeiten wie das Fortbestehen „magischer“ Praktiken im Protestantismus, vgl. Robert W. Scribner: Ritual and Popular Religion in Catholic Germany at the Time of the Reformation, in: Journal for Ecclesiastical History 35,1 (1984), S. 44–77. 103 Gegen eine pauschale Verortung gewaltsamer ritueller Aktionen in religiösen Kontex‑ ten wandte sich auch Norbert Schnitzler und plädierte in seiner Studie des Bildersturmes von Stralsund für eine Verortung der Aktionen in spätmittelalterlichen städtischen Konflikten, da nur so die lokalen Verschiedenheiten der Abläufe adäquat zu erfassen seien, vgl. Schnitzler: „Kirchenbruch“ und „lose Rotten“, S. 285–315. 104 Vgl. zum Bildersturm im Augustinerkloster oben, S. 153, zum vermeintlichen Bilder‑ sturm in der Pfarrkirche unten, S. 200–205.
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ihn tatsächlich im Sinne einer Desakralisierung und spitzten den Verzicht auf das vorherige Fasten negativ zu, indem sie behaupteten, einige Kommunikan‑ ten hätten zuvor Branntwein getrunken.105 Diese Reaktionen zeigen, dass sie als gelehrte Theologen die von Karlstadt intendierte Bedeutung des Umgangs mit dem Sakrament verstanden, als Re‑ formgegner jedoch die mit diesem neuen Zeichenverständnis verbundene De sakralisierung ablehnten. Auch der Bericht des anonymen Pfarrers zeigt an die‑ ser Stelle, dass dieser Geistliche die von Karlstadt intendierte Bedeutung ver‑ stand, diese im Gegensatz zu den Stiftsherren jedoch positiv bewertete. Auch hier wird die Art der Kommunionsvorbereitung besonders thematisiert, und zwar im Bezug auf eine eigene Messe, die der Verfasser nach dem Vorbild Karl stadts am Weihnachtstag hielt: Von 50 Menschen, denen er das Abendmahl spendete, habe er nur von fünf die geheime Beichte gehört und die übrigen „all zugleich auff ein hauffen absoluiert“ und diesen keine andere Buße gegeben, als „nymer thun, das ist, nach vermoegen dem allten leben vnd suend feindt wer den. Ein neu leben jm glauben vnd lieb uben, von tag zu tag daryn zuzune men“.106 Anders stellt sich dieses Thema in den Berichten der Laien dar: Der Student Gregor Korn erwähnt nur kurz, die Menschen hätten das Sakrament „gebeicht und ohngebeicht“ genommen, in den anderen Berichten wird es überhaupt nicht erwähnt.107 Dem Verzicht auf die Vorbereitung zum Kommunionsempfang wurde also nur in den Berichten der Geistlichen besondere Bedeutung beige‑ messen, die den von Karlstadt intendierten Bedeutungswandel nachvollzogen und unterschiedlich bewertet. Die übrigen Berichte erwähnten Karlstadts Han‑ deln weder im positiven noch im negativen Sinne als Akt der Desakralisierung. Noch deutlicher wird diese Diskrepanz zwischen Laien und Geistlichen im Hinblick auf den Umgang mit den heruntergefallenen Hostien. Während dieser 105 Vgl. Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthäus Beskau und andere Stiftskanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134, hier S. 132. In ähnlicher Weise beschrieb der Sekretär Georg von Sachsens, Tho‑ mas von der Heyde, die Messe des Wittenberger Augustinermönches Gabriel Zwilling, der am Neujahrstag in Eilenburg das Abendmahl unter beiderlei Gestalt spendete und ebenfalls auf die Kommunionsvorbereitung verzichtete: „Gabriel hat auch offentlich gesagt, welhem die tzeit zu langk wurdt, der solt heym gehen, eyn Suppen Essen vnd darnach widderkomen, wolt er yn Eben wol Comuniciren“, vgl. Thomas von der Heyde: Neue Zeitung, Dresden 1522 (ohne Datum), in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 170–172, hier S. 171. Der Vor‑ wurf der Reformgegner, dass die Menschen durch den Verzicht auf die Kommunionsvorbe‑ reitung betrunken zum Abendmahl erschienen, war auch Luther zu Ohren gekommen. Er griff ihn in den Invokavitpredigten auf, vgl. unten, S. 227. 106 Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthäus Beskau und andere Stiftskanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134, hier S. 132. 107 Gregor Korn an seinen Schwager in Zeitz, 26. Dezember 1521, in: Schottenloher (Hg.): Erfurter und Wittenberger Berichte, S. 84 f., hier S. 85.
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Vorfall in den Berichten der Stiftsherren und Thomas von der Heydes zentral ist und ebenso wie der Verzicht auf die Kommunionsvorbereitung als Desakrali‑ sierung des Sakramentes besonders negativ vermerkt wurde, fand er in den übri‑ gen Berichten überhaupt keine Erwähnung. Die Laien thematisierten den neuen Umgang mit dem Sakrament hingegen in einer ganz eigenen Weise und verkehr‑ ten damit den von Karlstadt intendierten Wandel des Symbolverständnisses von der körperlichen Immanenz zur abstrakten Transzendenz ins Gegenteil. Wäh‑ rend Karlstadt mit seinen Liturgieveränderungen ein neues Zeichenverständnis zu etablieren versuchte, war es von Seiten der Laien nicht das abstrakte gepre‑ digte Wort, sondern das dingliche, körperlich erfahrene Sakrament, welches im Mittelpunkt der Berichte dieses Gottesdienstes stand. Die reformkritischen Stiftsherren verstanden die Intention Karlstadts, der durch den neuen Umgang mit dem Sakrament die Ungefährlichkeit von Hos‑ tien und Wein zu zeigen versuchte, durchaus und beurteilten sie entsprechend negativ. Die meisten anderen Teilnehmer des Gottesdienstes hingegen empfan‑ den das Berühren der Hostien und des Kelches jedoch gerade nicht als Akt der Desakralisierung. Im Gegenteil konnte etwa Gregor Korn positiv gewendet be‑ richten, wer sich das Sakrament nicht vom Pfarrer habe reichen lassen wollen, habe es selbst in die Hand nehmen dürfen.108 Das Berühren der Hostien durch die Laien rückte somit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Verfasser. Wie Karlstadt selbst und auch die Stiftsherren berichteten, drängten die Laien nach dem Sakrament und wollten es berühren,109 jedoch nicht, weil man es als neutralen Gegenstand betrachtete, sondern im Gegenteil wohl gerade aufgrund der ihm zugeschriebenen Sakralität. Hostien und Wein waren trotz der neuen Praxis für die Laien hier nämlich keineswegs neutrale Dinge, wie ihr eigener Umgang mit dem Sakrament zeigt. Trotz der Aufforderung Karlstadts fand sich niemand, der es gewagt hätte, die heruntergefallenen Hostien aufzuheben, so dass Karlstadt dieses schließlich selbst tun musste.110 An dieser Stelle wird auch noch einmal die weiterhin bestehende prinzipielle Akzeptanz der Heilsmittlerschaft der Geistlichen deutlich, denn auch als „das Sakrament“ ein zweites Mal herunterfiel, diesmal auf das Kleid eines Mannes, wollten die Laien es nicht selbst berühren und man löste die Situation schließ‑ lich, indem es durch einen anwesenden Priester entfernt wurde.111 Auch Karl stadt selbst wurde also trotz seines Laiengewandes weiterhin in seiner beson‑
108 Ebd.
109 Zum Ansturm der Laien auf das Sakrament siehe die Berichte Gregor Korns, der Stiftsherren und Karlstadts Flugschrift, vgl. oben, S. 158. 110 Lorenz Schlamau, Johann Dölsch, Matthaeus Beskau und andere Stiftskanoniker an Friedrich den Weisen, 29. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 131–134, hier S. 132. 111 Ebd.
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II. Wittenberger Unruhen?
deren sakralen Stellung als Geistlicher wahrgenommen, der die Sakramente be‑ rühren durfte. So ist das Verlangen der Laien, das Sakrament in die Hand zu nehmen, kei‑ neswegs als bewusster Akt der Desakralisierung zu verstehen, wie es von Karl stadt intendiert und von den reformgegnerischen Theologen in diesem Gottes‑ dienst kritisiert wurde.112 Im Gegenteil wurde durch die Reformen Karlstadts in der Wahrnehmung der Laien gerade das dinglich‑körperliche Moment der Sakramentspraxis zum zentralen Geschehen dieses Gottesdienstes. In gewis‑ ser Weise wurde so die sinnliche Schau der Hostie bei der Elevation, welche der Forschung zur spätmittelalterlichen Sakramentspraxis nach für die Laien ent‑ scheidende Moment der Messe war,113 in diesem Gottesdienst durch eine an‑ dere – möglicherweise noch verstärkte – Form der sinnlichen Wahrnehmung des Sakralen ersetzt, nämlich durch das Berühren von Hostien und Kelch. Während Karlstadt gerade in der Wittenberger Stiftskirche, die in den voran‑ gegangenen Jahren nicht nur zum Zentrum des Heils, sondern auch zum Zen‑ trum einer durch äußerlichen Kult und dingliche, materielle Präsenz geprägter Frömmigkeit geworden war, mit seiner Liturgie die theologischen Forderun‑ gen nach Verinnerlichung und Ritualkritik umsetzen wollte, wurde dieses Ver‑ ständnis von den Laien ins Gegenteil verkehrt. Das von Karlstadt eingeführte neue Zeichenverständnis findet seine Entspre‑ chung eher in den vielfältigen Praktiken der Desakralisierung, des Bilderfre‑ vels und der Hostienschändung durch die Laien, welche seit dem 15. Jahrhun‑ dert, verstärkt aber auch in den 1520er Jahren an vielen Orten zu beobachten sind.114 Für Wittenberg konnten solche Desakralisierungen in dem bislang un‑ tersuchten Zeitraum hingegen kaum festgestellt werden, vielmehr handelte es sich in den Aktionen der Wittenberger Einwohner jeweils um Ritualverhinde‑ rungen, die häufig in die Zusammenhänge städtischer Konflikte eingeordnet werden können. Zwar richteten sich die Aktionen auch hier gegen die Geistli‑ chen und gegen bestimmte liturgische Handlungen, doch wurde dabei fast nie kultischen Handlungen oder Gegenständen als solche ihre immanente Sakrali‑ 112 Anders: Schnitzler: Ikonoklasmus, S. 247: „Eine solche rigoros ins Profane gewen‑ dete Auffassung von der sakramentalen Funktion der Hostie wurde – wie sich auch an der massiven Zahl der Teilnehmer am ersten reformierten Abendmahl ablesen lässt – von vielen Gläubigen begrüßt.“ 113 Zur Elevation in ihrem geschichtlichen Kontext grundlegend: Peter Browe: Die Elevation in der Messe, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 9 (1929), S. 20–67; im Bezug auf die damit verbundenen Wahrnehmungsformen des Heiligen vgl. Scribner: Volksfröm‑ migkeit, S. 9–21, ebd. S. 10 f., der diese Art des Schauens mit dem Begriff der „sakramentalen Schau“ als einen Modus der Wahrnehmung bezeichnet, die erkenntnistheoretisch über die „mystische Schau“ hinausgeht, indem sie nicht nur verweist, sondern das Bezeichnete ver‑ wirklicht. Zur theologischen Diskussion und zur Praxis der Laienkommunion im spätmit‑ telalterlichen England vgl. Rubin: Corpus Christi, S. 49–82. 114 Zur Entwicklung dieser Praktiken vom Spätmittelalter bis in die Reformationszeit vgl. Schnitzler: Ikonoklasmus.
1. Ritualwandel und kulturelle Deutungsmuster
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tät abgesprochen. Die äußerste Konsequenz dieses Verständnisses, das im Sinne der reformatorischen Universitätstheologen als ein Miss‑Verständnis bezeich‑ net werden kann, war das Verlangen der Laien nach der Berührung von Hostien und Kelch. Diese Praxis wiederum findet ihre Entsprechung eher in der Hos‑ tienfrömmigkeit des Spätmittelalters, der äußersten Ausprägung einer ding‑ lich‑körperlichen Frömmigkeit, in deren Zusammenhang etwa auch die Praxis der „depositio crucis“, die in der Wittenberger Schlosskirche als „depositio hos tiae“ praktiziert wurde, eingeordnet werden kann. Der Vergleich der Augenzeugenberichte unter Berücksichtigung der ver‑ schiedenen Perspektiven und der darin beschriebenen Reaktionen der Laien auf Karlstadts Ritualveränderungen zeigt so eine Vielfalt der Wahrnehmungswei‑ sen, welche auf die Ambivalenz und grundsätzliche Interpretationsbedürftig‑ keit von Ritualen im Allgemeinen und auf die unterschiedliche Rezeption der Ritualveränderungen Karlstadts durch Laien und theologisch gebildete Geist‑ liche im Besonderen verweist. So betrachteten beide Gruppen die Verände‑ rungen in der Liturgie vor ihrem eigenen spezifischen Erfahrungs‑ und Wis‑ senskontext: Die Stiftsherrn und der anonyme Geistliche ebenso wie Karlstadt selbst innerhalb des universitären theologischen Diskurses, die Laien hingegen innerhalb der bislang üblichen und bekannten religiösen Praktiken, die für eine im oben ausgeführten Sinne „spätmittelalterliche“ Frömmigkeit stehen.
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2. Ritualwandel und städtischer Konflikt Anhand der bislang diskutierten Fälle der Auseinandersetzungen um die Ce‑ remonien in Wittenberg wurde immer wieder deutlich, dass diese Veränderun‑ gen nicht jenseits der üblichen sozialen und politischen Konflikte in der Stadt geschahen. Die Aktionen der Bürger und Studenten im Herbst und Winter 1521/22 sollen daher im Folgenden in die fortdauernden Auseinandersetzungen um geistliche Macht sowie in andere städtische Konfliktzusammenhänge ein‑ geordnet werden.115 Die Forschung zur Wittenberger Reformation hat bei der Untersuchung die‑ ser städtischen Konflikte stets versucht, eines der zahlreichen Modelle der For‑ schung zur Stadtreformation in Reichs‑ oder Landstädten anzuwenden. So steht in der Studie Stefan Oehmigs vor allem die von den Zünften getragene Gemein‑ deopposition im Vordergrund, deren Vordringen ins Stadtregiment nur durch die taktisch kluge Einführung der Reformation durch Rat und Landesherrn habe verhindert werden können.116 Für Bubenheimer ist hingegen die Opposi‑ tion der Stadt Wittenberg gegen den Landesherrn entscheidend.117 In Anschluss an Bubenheimer spricht auch Wolfgang Simon von einem „Kompetenzgeran‑ gel“ zwischen Stadt und Landesherrn in Wittenberg, wobei er sich auf die an‑ 115 Eine
Verortung der antiklerikalen Aktionen in längerfristigen sozialen Konflikten forderte bereits Scribner, der darauf hinwies, dass das Phänomen des „Antiklerikalismus“ zwar mit emotionalen und psychologischen Zuständen verbunden war, jedoch in der Re‑ formationszeit vor allem gruppenbildend werden konnte, indem es in politischen Strategien bewusst als „funktionale Ressource“ eingesetzt wurde, vgl. Robert W. Scribner: Anti klerikalismus und die Städte, in: Ders.: Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. von Lyndal Roper, Göttingen 2002, S. 177–201 [zuerst veröffentlicht als: Anticlericalism and the German Reformation, in: Ders.: Popular Culture and Popular Movements in Ger‑ many, London 1987, S. 243–256]. Die reformatorischen Unruhen als Fortführung von Kon‑ flikten zwischen Stadt und Klerus thematisieren die folgenden Fallstudien: Ulman Weiss: Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (1514–1545), Weimar 1988; Susan Karant‑Nunn: Zwickau in Transition 1500–1547. The Reformation as an Agent of Change, Columbus/Ohio 1987. Eine Deutung der reformatorischen Unruhen in den 1520er Jahren, die sich allein auf den Faktor sozialer Kon‑ flikte stützt, vertritt Adolf Laube: Die Reformation als soziale Bewegung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 33 (1985), S. 424–441; vgl. auch Hans‑Christoph Rublack: Forschungsbericht Stadt und Reformation, in: Bernd Moeller (Hg.): Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1978, S. 27–47. 116 Vgl. Oehmig: Wittenberger Bewegung, bes. S. 106 f. 117 Vgl. Bubenheimer: Aufruhr, bes. S. 177 f.
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hand der Nürnberger Stadtreformation entwickelten Thesen Berndt Hamms bezieht.118 Den starken Einfluss der Arbeiten zur Reformation in Reichsstädten auf die Deutung der Vorgänge in Wittenberg verdeutlicht der Vergleich mit der 1974, also vor diesen Arbeiten, entstanden Studie von James S. Preus, in der we‑ der eine Opposition des Zunftbürgertums gegen den Rat, noch eine solche der Stadt gegen den Landesherrn erwähnt wird, obwohl Preus sich besonders mit der Frage nach politischen Faktoren beschäftigt.119 Die in den genannten Arbeiten vorgenommene unmittelbare Übertragung der Forschungsergebnisse zu Reichsstädten auf die Situation in Wittenberg er‑ scheint grundsätzlich problematisch, da in der Residenzstadt von anderen so‑ zialen und politischen Voraussetzungen als in Reichsstädten oder nordwest‑ deutschen Autonomiestädten auszugehen ist: Wie im Folgenden gezeigt wird, kann in Wittenberg zwar ebenso wie in Reichsstädten ein temporärer Interes‑ sengegensatz zwischen Rat und Bürgerschaft festgestellt werden, doch war die‑ ser im Gegensatz zur Situation in den von der Reformationsforschung unter‑ suchten Reichsstädten insgesamt nicht prägend. Bedeutsamer waren hier hingegen andere Faktoren, die sich aus der in Kapi‑ tel I herausgearbeiteten neuen Rolle der Stadt als kursächsischer Residenzstadt und sakralem Zentrum des Landes ergeben, wie die wachsende Zentralisierung der geistlichen Gewalt und des religiösen Lebens in der Stadt, die Ausrichtung desselben auf Universität und Stift, die gemeinsame Frontstellung von Rat, Ge‑ meinde und Priesterschaft gegen auswärtige geistliche Einflüsse sowie die Aus‑ einandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen von Einwohnern, insbe‑ sondere Bürgern und Studenten, um Privilegien. Vor diesem Hintergrund werden die Wittenberger Ereignisse im Herbst und Winter 1521/22 hier neu betrachtet. In Auseinandersetzung mit den genann‑ ten Modellen der Forschung ist dabei besonders die Rolle der Konflikte zwi‑ schen Rat und Landesherrn zu klären, welche die Forschung zur Reformation in Landstädten hervorhebt, ebenso die der Konflikte zwischen Rat und Bürger‑ gemeinde, welche für Reichsstädte als charakteristisch gelten, sowie schließlich die der Konflikte zwischen Geistlichkeit und städtischen Einwohnern, deren Bedeutung die These des spätmittelalterlichen Antiklerikalismus hervorhebt.
2.1. Städtische Konflikte in der Residenz‑ und Universitätsstadt Zwei Konfliktlinien spielten in den städtischen Auseinandersetzungen in Wit‑ tenberg im Herbst und Winter 1521 eine besondere Rolle. Die erste verlief zwi‑ schen Geistlichen und Bürgern und kann als „antiklerikal“ im oben genannten Sinne bezeichnet werden. Es handelte sich um die Ablehnung bestimmter, zu‑ 118 Vgl.
119 Vgl.
Simon: Messopfertheologie, S. 503. Preus: Carlstadt’s Ordinaciones.
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II. Wittenberger Unruhen?
nächst auswärtiger Geistlicher durch die Wittenberger Studenten und Bürger, die sich von der Ablehnung der bischöflichen auf die päpstliche Autorität und auch auf die lokalen Geistlichen ausgeweitet hatte. Zweitens gab es fortdauernde Konflikte zwischen Studenten und Bürger um Privilegien. Diese Konfliktlinien blieben auch im Herbst und Winter 1521 zentral, wie vereinzelt bereits anhand der in anderem Zusammenhang beleuchteten Angriffe der Studenten auf die Antoniter, der angekündigten Störung der Reliquienausstellung und der Mes‑ sestörung Anfang Dezember 1521 deutlich wurde. Auch für die darauf folgenden Auseinandersetzungen blieben sie kennzeich‑ nend: Kurz nach der bereits thematisierten Messestörung vom 3. Dezember be‑ richtete der Rat der Stadt dem Kurfürsten am 5. Dezember erneut von studen‑ tischen Unruhen: An der Kirche des Franziskanerklosters war ein Zettel mit Schmähungen angeschlagen worden, woraufhin sich vor dem Kloster vierzehn Studenten versammelten, welche die Mönche verspotteten und beschimpften. Deshalb ließ der Rat das Kloster in der kommenden Nacht bewachen.120 Zu‑ sätzlich erfahren wir aus einem Brief des Studenten Hermann Mühlpfort, der seine Erinnerungen allerdings erst einige Wochen später niederschrieb, von einer nächtlichen Ruhestörung durch vierzig „edelleute und studenten“, die in der da‑ rauf folgenden Nacht mit „baugken und pfeiffen“ und „mit wehre woll gerust“ bis Mitternacht durch die Straßen zogen und einen Klostersturm planten.121 Dieses Ereignis wird in der Literatur als Beleg dafür angeführt, dass in der „Wittenberger Bewegung“ Autonomiebestrebungen der Bürger gegenüber dem Kurfürsten zum Tragen kamen.122 In Übertragung der genannten Thesen zur Reformation in Landstädten auf die Situation in Wittenberg wurde damit der Konflikt zwischen Stadt und Stadtherrn auch hier zum zentralen Merkmal der reformatorischen Bewegung erklärt. Explizit belegt wird dieses jedoch nur in der Studie von Stefan Oehmig. Dieser schließt aus der Formulierung des Rates, es seien „edelleute“ an den Unruhen Anfang Dezember beteiligt gewesen, dass es sich hier nicht nur um Unruhen von Studenten, sondern auch von besonders hochgestellten Bürgern handelte. Die Tatsache, dass der Rat keine Beteiligung von Bürgern erwähnt, wird dabei als ein „Herunterspielen“ der Ereignisse ge‑ wertet.123 120 Vgl. der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 5. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 77–78, hier S. 77. 121 So die Formulierung bei Hermann Mühlpfort: „Sendbrief durch Hermannum Mul pforten studenten zu wittenberg Hermanno Mulpforten Burgermeistern zu zcwigkaw ge schrieben“, Wittenberg 1521, in: Mitteilungen des Altertumsvereins für Zwickau und Umge‑ bung 11 (1914), S. 26–28, hier S. 27. Unklar bleibt jedoch, ob es tatsächlich zum Versuch eines Sturmes auf das Kloster kam oder ob Mühlpfort dieses rückblickend aus der vorsorglichen Bewachung durch den Rat schloss. Der Rat selbst erwähnte solche Pläne als Grund der Bewa‑ chung weder an dieser Stelle noch später. 122 Vgl. Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 104 f. 123 So die Argumentation in Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 105. Oehmig schließt
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Betrachtet man die Ereignisse jedoch im Zusammenhang mit früheren Stu‑ dentenunruhen, so wird deutlich, dass der Begriff „edelleute“ in den Akten der Stadt und der kurfürstlichen Kanzlei nicht etwa hochgestellte Bürger, sondern adelige Studenten bezeichnete.124 Diese standen bereits seit früheren Unruhen in besonderer Gegnerschaft zu den Bürgern und zum Rat und waren mit diesem besonders durch Verstöße gegen das Waffenverbot125 in Konflikt gekommen.126 Die Ereignisse im Dezember 1521 bewegten sich also in den gewohnten Bahnen der städtischen Konfliktlinien, es handelte sich einmal mehr um Unruhen durch adelige Studenten, welche der Rat seit Jahren einzudämmen versuchte. Der Rat versuchte also nicht, die Ereignisse gegenüber dem Kurfürsten her‑ unterzuspielen, sondern sah sich hier gar nicht in der Verantwortung. Vielmehr warf er den Studenten, für welche die Universität verantwortlich war, und ins‑ besondere den Edelleuten unter ihnen, erneute nächtliche Ruhestörungen und Verstöße gegen das kurfürstliche Waffenverbot vor. Eine ähnliche Kontinuität dieser Konfliktlinien zeigen die Darstellungen der Messestörung vom 3. Dezember.127 Obwohl hier tatsächlich, wie man ein‑ räumte, auch „etliche layn von denn mitburgern“ an dem Vorfall beteiligt wa‑ ren, bemühte sich der Rat gleichzeitig, die Schuld auf die Studenten zu lenken. So hätten „besonders die der vniversitet vorwant […] blosße Messer vntter jren rocken gehat“.128 Der Rat beschuldigte die Studenten also auch hier, gegen das kurfürstliche Waffenverbot zu verstoßen. Auch vermutete man, die Täter hät‑ ten einen „merckelichen anhangk“, jedoch unter denen „die dan vns nicht vor want“, also unter den nicht der Ratsgerichtsbarkeit unterstehenden Studen‑ ten.129 Dagegen wurden die Unruhen hier zunächst nicht in religiöse Kontexte dieses aus dem Vergleich des auch hier zitierten Berichtes des Rates mit der Darstellung in dem Brief Hermann Mühlpforts und folgert, der Rat habe versucht, die Ereignisse vom 4. De‑ zember her unterzuspielen, da er nur von 14 Tätern, Mühlpfort hingegen von 40 spricht. Al‑ lerdings nennt bereits Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 77 die Lesart „vierzigen“ im Variantenapparat. 124 Vgl. dazu auch Kap. I.3. 125 Vgl. zum 1520 verhängten Waffenverbot oben, S. 115. 126 Dazu passt auch, dass der Rat hier nur von „Studenten“ als Tätern spricht: Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 5. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 77–78, hier S. 77. Die zweite von Oehmig angeführte Belegstelle in dem Schreiben der Räte vom 18. Dezember 1521, welches die Beteiligung „etlicher virtelß meys ter, auch anderer mitburger da selbs“ nennt, deren Namen der Rat verzeichnet habe, bezieht sich hingegen auf die Messestörung in der Pfarrkirche, zu denen der Rat von Anfang an die Beteiligung von Bürgern genannt hatte, vgl. Christopf Groß, Fabian von Bresen und Gregor Burger an Friedrich den Weise, 18. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewe‑ gung, S. 119–121, hier S. 120. 127 Vgl. dazu auch oben, S. 149 f. 128 Der Rat der Stadt Wittenberg an Kurfürst Friedrich von Sachsen, 3. Dezember 1521, Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 73. 129 Der Rat der Stadt Wittenberg an Kurfürst Friedrich von Sachsen, 3. Dezember 1521, Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 73.
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II. Wittenberger Unruhen?
eingeordnet: Weder die Motive der Aufrührer noch der auch in öffentlichen Predigten ausgetragene Streit um die Messe und das Mönchsgelübde wurden mit den Aktionen der Bürger und Studenten in Verbindung gebracht. Für den Rat handelte es sich dabei einfach um „auffroer“, den es zukünftig zu verhüten galt.130 Insgesamt stellten die Unruhen im Winter 1521 demnach eine Kontinui‑ tät bereits vorhandener städtischer Konflikte dar. Im Gegensatz zur Situation in anderen Städten verliefen diese jedoch nicht zwischen einer zünftischen Oppo‑ sition und den alten Ratseliten, sondern, durch die neue Situation Wittenbergs als Universitätsstadt bedingt, zwischen Bürgern und Studenten bzw. zwischen Rat und Universität. Darüber hinaus kann auch die von der Forschung für andere Städtetypen als charakteristisch herausgestellte Konfliktlinie zwischen spätmittelalterlicher städtischer Bürgerbewegung und dem Landesherrn nicht auf Wittenberg über‑ tragen werden. Während für andere Städte von der Forschung gezeigt werden konnte, dass dort die städtischen Emanzipationsbestrebungen gegenüber dem Landesherren mit der Einführung der Reformation schließlich durchgesetzt werden konnten, war hier die Ausgangssituation eine andere. So ist für Wittenberg auch nur ein einziges Ereignis bekannt, welches auf eine mögliche Opposition der Gemeinde gegen den Rat oder gegen den Landes‑ herrn hinweist. Etwa eine Woche nach der Messestörung vom 3. Dezember 1521 trat eine Gruppe von Bürgern in ungestümer Weise vor den Rat und präsentierte ihre Forderungen, unter anderem nach Straffreiheit für die inzwischen verhaf‑ teten Messestörer.131 Nachdem der Rat dem Kurfürsten davon berichtet hatte, beauftragte dieser seine Räte, die Gesamtgemeinde vor dem Schloss zu versam‑ meln und sie an ihre Eide und Pflichten zu erinnern:132 Anstatt „gespreche, con spiracion und gemeine handlung zumachen“, sollten sie sich als „gehorsame Burger“ mit ihren Beschwerden direkt an den Kurfürsten wenden.133 Nähe‑ res ist aus den Quellen über die dem Rat überbrachten Artikel oder die Hin‑ 130 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 3. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 73 f., hier S. 74; der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 5. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 77 f., hier S. 78. Zu den Semantiken des Aufruhrs vgl. unten, S. 188. 131 Der Bericht des Rates an den Kurfürsten ist nicht erhalten. Müller rekonstruiert ihn aus einem späteren Schreiben des Kurfürsten und datierte ihn auf die Zeit zwischen 7. und 12. Dezember 1521, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 81. 132 Eine solche Versammlung der Gesamtgemeinde wurde in Wittenberg Morgensprache genannt und fand zu besonders wichtigen Terminen statt. Zur Teilnahme aufgefordert wa‑ ren alle Männer, die über das Bürgerrecht verfügten, vgl. dazu Eschenhagen: Wittenber‑ ger Studien, S. 51. Anlässe waren die Verabschiedung neuer Gesetze, denen die Gemeinde zustimmen musste oder die Verkündigung landesherrlicher Verordnungen. Zuletzt hatte es eine solche Versammlung im Jahre 1520 gegeben, als das landesherrliche Waffenverbot ver‑ kündet wurden, vgl. StAW, KR 1520 „Item 2 gr. der Gemeinde zur gemeinen Morgensprach zu leuten“. 133 Friedrich der Weise, Instruktion für Christoph Groß, Fabian von Bresen und Gre‑
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tergründe ihrer Überbringung nicht zu erfahren.134 Zusätzliche Informationen liefert hier nur die anonyme „Zeittung aus Wittenberg“, die jedoch vermutlich wesentlich später verfasst wurde.135 Dort heißt es, die sechs Artikel seien „eyner gemayn zu Wittenberg dem Rath fuergehalten, dapey zu pleiben, jrr hab und gut, leib und leben darueber zu lassen“.136 Darüber hinaus bleibt die Art und Weise des Zusammenschlusses in den vorhandenen Quellen weitgehend unklar. Die Forschung geht bislang aufgrund des letztgenannten Zitates davon aus, dass es sich hierbei um eine „conjuratio“, eine Schwureinung der Bürgerge‑ meinde als Instrument der Durchsetzung stadtbürgerlicher Freiheiten gegen den Rat oder gegen den Kurfürsten als Stadtherrn handelte.137 Diese Interpre‑ tation ergibt sich aus der Einordnung der Wittenberger Ereignisse in das ge‑ nannte Phasenmodell der Forschung zu Stadt und Reformation, welches die erste Phase der „reformatorischen Bewegung“ durch die Aktionsformen einer zünftischen stadtbürgerlichen Bewegung geprägt sieht, die sich gegen die al‑ ten Ratseliten im Fall der Reichsstadt bzw. gegen den Landesherrn im Fall der Landstadt wandte. Die Gründung einer Schwureinung gilt dabei als ein gera‑ gor Burger, 15. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 117–119, hier S. 118. 134 Über den Inhalt dieser Artikel ist viel spekuliert worden, da die anonyme „Zeittung aus Wittenberg“, solche sechs Artikel nennt, die aus der Gemeinde dem Rat vorgelegt wurden. Diese lauten: 1. die Freiheit der Predigt zu gewähren, 2. gezwungene Messen abzuschaffen, da diese nicht mit Andacht gehalten werden, 3. Sondermessen und Privatmessen abzuschaf‑ fen, 4. das Abendmahl mit Brot und Wein für den, der es begehrt, 5. Bier und Schenkhäuser zu schließen, sowie 6. alle „Hurenhäuser“ zu schließen, vgl. „Zeittung aus Wittenberg“, nach 6. Januar 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 151–164, hier S. 161. Aus den oben genannten quellenkritischen Gründen ist jedoch davon auszugehen, dass diese „Zeit tung“ vermutlich viel später gedruckt wurde (vgl. oben, S. 155 f.). Da außerdem die Forde‑ rung nach Straffreiheit der Täter nicht erwähnt wird, sind dies vermutlich nicht die Artikel, die dem Rat übergeben wurden. Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 104, vermutet, dass zwei verschiedene Serien von Artikeln dem Rat an unterschiedlichen Terminen übergeben wurden; Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 172 f., nimmt dagegen an, dass der Inhalt der Artikel sich im Wesentlichen entspricht. Die ältere Forschung ging hingegen von den in der anonymen „Zeittung“ genannten Artikeln aus und diskutierte diese aufgrund ihrer sozial‑ politischen 5. und 6. Forderung als „Geburtsstunde für den evangelischen Puritanismus“, so Herrmann Barge: Andreas Bodenstein von Karlstadt, Bd. I, S. 353; Müller: Luther und Karlstadt, S. 39 f. Wolgast: Obrigkeit und Widerstand in der Frühzeit der Reformation, in: Günter Vogler (Hg.): Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis 18. Jahrhundert, Weimar 1994, S. 235–258, hier S. 243, bezeichnet die sechs Artikel der Ge‑ meinde sogar als Vorläufer zu „Erklärungen von 1525“ (Bauernkrieg). 135 Zur Quellenkritik dieser „Zeittung“ vgl. oben, S. 155 f. 136 „Zeittung aus Wittenberg“, nach 6. Januar 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Be‑ wegung, S. 151–164, hier S. 153. 137 Obwohl es hierfür keine weiteren Belege gibt, finden sich in der Literatur teilweise reiche Ausschmückungen der symbolischen Interaktionsformen der Gemeinde: So ist hier die Rede vom „rituellen Zeremoniell von Bannerlauf, Trommelschlag und Aufzug in Waf‑ fen“, Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 123; vgl. auch Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 175 f.
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dezu klassisches Merkmal des wachsenden Organisationsgrades einer solchen Gemeindebewegung.138 Im Falle Wittenbergs ist jedoch, auch wenn man mit der Forschung davon ausgeht, dass es sich hier tatsächlich um eine „conjura tio“ handelte, weder eine über dieses Ereignis hinausreichende Organisations‑ form dieser Gruppe erkennbar, noch ein Zusammenhang von deren Forderun‑ gen mit längerfristigen Zielen wie stadtbürgerlichen Freiheiten gegenüber dem Kurfürsten festzustellen. Im Zusammenhang mit früheren Konflikten betrachtet, zeigen sich hier viel‑ mehr andere Kontinuitäten: Die Bürger griffen auf bekannte rituelle Formen zurück, welche im vorherigen Jahr in ähnlicher Weise von den Studenten zur Durchsetzung ihrer Forderungen gewählt worden waren. Wie die Studenten, die damals in ebenso ungestümer Weise vor den Rektor getreten waren, schwo‑ ren sich auch die Bürger, die vor den Rat traten, nicht auseinander zu gehen, bis ihre Forderungen erfüllt wurden. Auch der Konfliktverlauf entsprach dem des Vorjahres. Wie damals der Rektor, berichtete nun der Rat als Zuständiger dem Kurfürsten von dem Vorfall, welcher seinerseits wiederum eingriff, indem er die Beteiligten an ihre Pflichten und Eide erinnerte. Der Vergleich der bei‑ den Vorfälle zeigt jedoch, dass die Schwureinung der Bürger 1521 als viel we‑ niger bedeutsam oder gefährlich eingeschätzt wurde als die der Studenten vom Vorjahr. Während der Kurfürst im Sommer 1520 seine Truppen sandte und die Stadt besetzen ließ, schien nun eine Gemeindeversammlung durch drei seiner Räte auszureichen, um die Ordnung wiederherzustellen. Insgesamt ist also fest‑ zuhalten, dass es sich um eine Aktion von eher geringem Ausmaß handelte, bei der es möglicherweise zu einer conjuratio kam, deren Organisationsform und Ziele jedoch keinen Zusammenhang mit einer längerfristigen Zunftopposition gegen den Rat oder einer Bürgeropposition gegen den Landesherrn erkennen lassen. Dafür spricht neben dem unmittelbaren Kontext der Konflikte auch die po‑ litische Entwicklung des Wittenberger Stadtregimentes: Auseinandersetzungen zwischen alten Ratseliten und einer Zunftopposition hatte es hier zu Beginn des 15. Jahrhunderts gegeben. Zünfte wurden in Wittenberg erstmals im 14. Jahr‑ hundert erwähnt.139 Die ältesten unter diesen, die vier Gewerke Bäcker, Flei‑ scher, Schuhmacher und Gewandschneider, hatten schon 1422 eigene Statuten 138 Hans‑Jürgen
Goertz bezeichnete sie als Ausdruck der „hohe[n] symbolische[n] In‑ tegration“, welche die innere Festigkeit einer reformatorischen Bewegung ausmache, vgl. Hans‑Jürgen Goertz: Heterogenität, S. 38. Vgl. zu den Schwureinungen als Instrumen‑ ten städtischer Autonomiepolitik in den reformatorischen Konflikten und den damit ver‑ bundenen symbolischen Interaktionsformen ausführlich auch: Ehbrecht: Verlaufsformen, S. 32–38. 139 1350 erkannte der Rat neun Zünfte am: Bäcker, Fleischer, Tuchmacher, Schumacher, Gerber, Schneider, Kürschner, Händler, Böttcher, vgl. Junghans: Wittenberg als Luther‑ stadt, S. 19.
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verlangt und diese durch Kurfürst Friedrich den Streitbaren bei der Erbhuldi‑ gung 1424 auch erhalten.140 Gleichzeitig schlichtete der Kurfürst damit einen Streit zwischen dem Rat und den Gewerken, indem er diesen Sitz und Stimme im Rat zusicherte.141 Als Folge dieser Auseinandersetzungen war der Rat zwar noch nicht vollständig, jedoch zum größten Teil durch die Zünfte besetzt. Wie Eschenhagen anhand von Ratslisten142 nachweisen konnte, war der größte Teil der „Ratsfreunde“, so der Quellenbegriff für die Ratsmitglieder, ihren Berufen nach als Handwerksmeister den Zünften zuzuordnen, während nur eine Min‑ derheit noch den „Geschlechtern“, also alten ratsfähigen Familien, angehörte. Entsprechend dieser sozialen Zusammensetzung wurde auch der Bürgermeis‑ ter entweder aus den Geschlechtern oder den Gewerken gewählt.143 Der Auf‑ stieg der Zünfte in den Rat war so zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Witten‑ berg längst abgeschlossen. Gleichzeitig mit dem Aufstieg des Handwerks und der Zünfte erhielt die Stadt seit dem 14. Jahrhundert immer weitergehende Rechte vom Landes‑ herrn.144 Auch diese Entwicklung kann jedoch bereits Mitte des 15. Jahrhun‑ derts als abgeschlossen gelten. Sie verlief auch, soweit erkennbar, ohne größere Auseinandersetzungen, da die Askanier das Interesse an Wittenberg bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts verloren hatten und die dortige Burg nicht mehr benutzten. Ebenso wie auch noch die ersten wettinischen Kurfürsten hatten sie dagegen einen wachsenden Finanzbedarf und verkauften der wirtschaftlich prosperierenden Stadt die Rechte bereitwillig oder überließen sie ihr gegen die Gewährung von Darlehen.145 Die typischen städtischen Konflikte zwischen pa‑ trizischem Rat und zünftischer Gemeinde sowie zwischen Stadt und Stadtherrn konnten damit seit längerer Zeit als beigelegt gelten. Die Situation zu Beginn des 16. Jahrhunderts war hingegen von ganz anderen Faktoren geprägt: Wittenberg wurde zur kurfürstlichen Residenz, zum zentra‑ len Ort des Heils und zur Universitätsstadt. Zu einer Konkurrenz zwischen Rat und Landesherrn führte dies nicht, vielmehr kam es zu einer stärkeren Zusam‑ menarbeit zwischen Rat und Hof, wobei die Kompetenzen des Rates deutlich
140
Das Privileg ist abgedruckt bei Senf: Fleischer‑Innung, S. 20.
141 Ebd.
142 Eschenhagen nennt keine Quelle ihrer Aufstellung, wahrscheinlich stammen die Mit‑ gliederlisten aus den Kämmereirechnungen, die in jedem Jahrgang eine Aufstellung der Mit‑ glieder des neu gewählten Rates enthalten. 143 Vgl. Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 49 f. 144 Beispielsweise 1330 das Münzrecht, 1332 die niedere Gerichtsbarkeit, 1354 das Markt‑ recht. Als mit Friedrich dem Streitbaren das Herrschergeschlecht von den Askaniern zu den Wettinern wechselt, lässt sich die Stadt 1442 alle bisherigen Privilegien bestätigen und erwirbt 1441 zusätzlich die hohe Gerichtsbarkeit für 1000 rheinischen Gulden, vgl. Junghans: Wit‑ tenberg als Lutherstadt, S. 17. 145 Vgl. Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 46.
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erweitert wurden.146 Auch in geistlichen Belangen erhielt der Rat mit dem Aus‑ bau Wittenbergs zum Zentrum des Heils vielfältige neue geistliche Aufgaben, indem er neben den städtischen nun auch die großen kurfürstlichen Stiftungen und Patronate verwaltete. Auch der Elitenaustausch im Wittenberger Rat verlief nur schrittweise und stand mit den für die Residenzstadt spezifischen Entwicklungen im Zusam‑ menhang: Seit Anfang des 16. Jahrhunderts war der Rat immer stärker von Uni‑ versitätsgelehrten besetzt, was zur Integration der Universität in die Stadt bei‑ trug und ebenfalls die Zusammenarbeit von Rat und Hof verstärkte. Entspre‑ chend kam es in Wittenberg auch nicht zu einem Wechsel der Ratselite, bei dem das aufsteigende Zunftbürgertum die Herrschaft der Geschlechter ablöste, was von der Forschung im Hinblick auf andere Städte als einer der wichtigen Fak‑ toren für die Durchsetzung der Reformation identifiziert wurde.147 Vielmehr blieb der Rat nach 1521/22 mit denselben Mitgliedern besetzt wie bereits in den Jahren zuvor.148 Der Elitenaustausch verlief hier vielmehr schrittweise und un‑ ter anderen Vorzeichen: Während in den Reichsstädten eine von den Zünften getragene Opposition aus der Gemeinde in den Rat drängte, um die Herrschaft der alten Ratsoligarchien abzulösen, wurde der Wittenberger Rat immer mehr mit akademisch gebildeten Juristen und hofnahen kurfürstlichen Räten besetzt. Häufig standen diese in enger Verbindung zur Wittenberger Universität, de‑ ren zentrale Stellung unter den Wittenberger Akteuren auch damit weiter ge‑ festigt wurde. Durch die Universitätsgründung waren auch die städtischen Unruhen der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts wesentlich bedingt: Während über Bür‑ gerunruhen gegen den Rat oder Landesherrn nichts bekannt ist, waren Aus‑ einandersetzungen von Studenten und Bürgern um Privilegien, die insbeson‑ dere Adelige und geistliche Studenten betrafen, weit verbreitet. Gleichzeitig er‑ hielt der Rat mit dem Landesherrn nun einen starken Verbündeten bei seinem schon früher begonnenen Bestreben, den Einfluss des brandenburgischen Bi‑ schofs aus der Stadt hinauszudrängen.149 Eine immer wichtigere Rolle kam in diesem Kräftefeld der Universität als Instanz der Wahrheitsfindung in strittigen Fragen zu, auf deren Urteil sich Landesherr und Rat häufig beriefen. Eben diese Rolle geriet nun mit den Auseinandersetzungen des Jahres 1521 und 1522 um 146 Um die neuen Aufgaben zu bewältigen, bildete der Rat in dieser Zeit immer mehr Ausschüsse für bestimmte Aufgaben, während noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts alle Ent‑ scheidungen vom Gesamtrat getroffen wurden. Eschenhagen: Wittenberger Studien, S. 48 weist dieses anhand der Kämmereirechnungen ab dem Jahr 1513 nach. 147 So etwa Schilling: Politische Elite; Mörke: Rat und Bürgertum; Moeller: Reichs‑ stadt, S. 83. 148 Vgl. die Liste der Ratsmitglieder bei Eschenhagen: Wittenberger Studien, Anlage V. Darauf verweist auch Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 126 149 Ein Interessengegensatz ergab sich hier allerdings im Bezug auf die vom Landesherrn unterstützten Bettelmönche, vgl. oben, S. 27–30.
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die Abschaffung der Messe in eine entscheidende Bewährungsprobe. Das dro‑ hende Scheitern des seit einigen Jahren etablierten Modus der Entscheidungs‑ findung in geistlichen Dingen, und nicht die Auseinandersetzungen zwischen Rat und Zünften oder Stadt und Landesherrn, so ist im Folgenden zu zeigen, bildete das entscheidende Problem der reformatorischen Auseinandersetzungen in der Stadt Wittenberg. Seine Lösung bietet schließlich ein Erklärungsmodell für die Durchsetzung der Reformation in der Stadt.
2.2. Die Krise von Universität und Stift als Orte der Wahrheit und des Heils Die in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts etablierte Funktion von Universität und Stift als Zentrum der Wahrheitsfindung und Zentrum des Heils bestand auch in den ersten Diskussionen um liturgische Veränderungen in Wittenberg im Herbst 1521 zunächst weiter. Nachdem im Sommer 1521 die Ab‑ schaffung der Messe in ihrer bisherigen Form unter den Theologen an der Uni‑ versität Wittenberg ausführlich diskutiert worden war, kam es im Herbst 1521 zu ersten praktischen Reformen, über die auch der Kurfürst informiert werden musste. In diesem Zusammenhang schrieben Ende Oktober 1521 die Stiftsher‑ ren des Allerheiligenstiftes, die größtenteils zugleich Universitätsprofessoren waren,150 an den Kurfürsten, dass sie bestimmte Änderungen bei den Ceremo‑ nien der Feier des Allerheiligenfestes vornehmen wollten.151 Neben den bereits im ersten Teil dieses Kapitels diskutierten Veränderungen selbst erscheint nun deren Begründung besonders aufschlussreich. Das Stiftskapitel legitimierte seine Entscheidung gegenüber dem Kurfürsten damit, dass die Veränderungen „von den, ßo der heiligen schrifft vnd des dings vorstendig, fur gut angesehen“ würden.152 Die Entscheidungsgewalt in geistlichen Fragen, so zeigt das Schrei‑ ben der Stiftsherren, lag nun in Wittenberg nicht mehr beim Bischof oder Papst, sondern bei den gelehrten Wittenberger Theologen. Einmal mehr bewährte sich hier, wie auch schon bei früheren Entscheidungen, die Funktion der Universität als „oraculum“ und deren enge personelle Verknüpfung mit dem Stiftskapitel. Aus diesen Gründen konnte der Kurfürst die Entscheidung akzeptieren, er antwortete zustimmend: „weil ir under euch bedacht vnd beratschlagt, wie es domit sal gehalten werden, lassen wir vnns daselbig eurm anzaigen nach der massen auch gefallen.“153 Zu dem Zweck der Wahrheitsfindung in schwierigen 150 Zur institutionellen und personellen Verbindung zwischen Stift und Universität vgl. oben, S. 98–102. 151 Vgl. zum Inhalt dieses Schreibens ausführlich oben, S. 148. 152 Das Stiftskapitel der Schlosskirche an Friedrich den Weisen, 10. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 24–26, hier S. 25. 153 Friedrich der Weise an das Stiftskapitel der Schlosskirche, 12. Oktober 1521, in: Ebd., S. 30–31, hier S. 30.
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Dingen hatte er die Universität gegründet und eng mit dem Stiftskapitel als Ort des Heils verbunden. Daher war es ganz in seinem Sinne, dass die Gelehrten an Kapitel und Universität sich dieser Aufgaben annahmen. Die Universität galt als Ort der Wahrheitsfindung, während das Stift und auch die Klöster als Orte des Heils ihre gottesdienstlichen Aufgaben zu erfüllen hatte. Auf welche Weise dies geschah, war dem Kurfürsten zunächst eher gleichgültig, solange die Aufgaben von beiden Institutionen nur erledigt wurden und er selbst als Stadtherr in den Entscheidungsprozess mit einbezogen blieb. Problematisch wurde die Lage jedoch, als eben diese Aufgabenverteilung zu scheitern drohte, indem die Gelehrten der Universität untereinander uneinig wurden, wie diese Wahrheit denn nun beschaffen sei, und gleichzeitig die Geist‑ lichen am Stift und in den Klöstern sich weigerten, ihre heilsrelevanten gottes‑ dienstlichen Aufgaben zu vollziehen. Dieses begann bereits im Oktober 1521, als bei den Augustinern das Lesen der Messen ausgesetzt wurde. Das Ausfallen von Messen war in den Augen des Kurfürsten bereits in früheren Jahren, etwa in Zeiten des Interdiktes, immer mit der Befürchtung von Aufruhr verbunden gewesen und hatte stets ein Einschreiten seinerseits geboten. So wählte er auch jetzt, als ihn im Oktober 1521 die Nachricht von den ausfallenden Messen bei den Augustinern erreichte, wiederum den in solchen Fällen seit einigen Jahren etablierten Weg und wandte sich an Stiftskapitel und Universität, seine Witten‑ berger Instanzen der Wahrheitsfindung und des Heils. Über seinen Rat Gregor Brück ließ er diese auffordern, „so vil moglich, die ding wol zubedenncken“ und so „zcwispaldigkait, aufrur vnd ander beswerung“ zu verhindern.154 Die Antwort von Universität und Kapitel zeigt, dass man dort die Kompe‑ tenzzuweisung des Kurfürsten teilte und sich für eine Entscheidung zuständig fühlte: Man habe in dieser Sache bereits mit den Augustinern verhandelt, die sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen ließen. Universität und Stift gründeten nun einen Ausschuss,155 der mit den Augustinern verhandeln sollte, damit diese mit Veränderungen der Messe warteten – entweder bis zu einer Ent‑ scheidung des Vikars ihres Ordens156 oder bis „die ding jn der vniuersitet baß
154 Friedrich der Weise an Gregor Brück, 10. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenber‑ ger Bewegung, S. 26 f, hier S. 27. 155 Der Ausschuss bestand aus Mitgliedern von Universität und Stift. Aufgrund der engen personellen Verbindung gehörten die meisten von ihnen beiden Institutionen an: Tilmann Plettner als Vizerektor der Universität, Andreas Karlstadt als Propst des Allerheiligenstif‑ tes mit Lehrverpflichtung in der Theologie, Johann Dölsch als Kustos der Schlosskirche und Dekan der theologischen Fakultät, Nikolaus von Amsdorf als Mitglied des Stiftes und Uni‑ versitätsprofessor, Hieronymus Schurf, Christian Beyer als kurfürstlicher Rat, Mitglied des Rates der Stadt und Doktor der Rechte und Philipp Melanchthon als Universitätsprofessor ohne Amt im Stift. 156 Wenzeslaus Linck war im Sommer 1520 als Nachfolger von Johann von Staupitz Ge‑ neralvikar der deutschen Augustinerkongregation geworden.
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disputiert vnd beradtslagt werden“.157 Ebenso wie der Kurfürst hielt es dem‑ nach auch die Universität selbst für ihre Aufgabe, eine solche wichtige geistliche Frage zu entscheiden. Obwohl das Augustinerkloster der Universität in keiner Weise Rechenschaft schuldig war, hielt diese ihr eigenes Urteil für ebenso be‑ deutsam wie das des eigentlich zuständigen Ordensvikars. Wiederum wird hier deutlich, dass Wittenberg zu einer städtischen Gemeinschaft in geistlichen Din‑ gen geworden war, in der Entscheidungen in wichtigen geistlichen Fragen nicht mehr von externen Instanzen wie dem Bischof oder den Orden getroffen wur‑ den. Was die Wittenberger Augustiner betraf, sollte auch in Wittenberg ent‑ schieden werden und zwar, wie schon zuvor in vielen anderen Fällen geschehen, auf kurfürstlichen Befehl durch die Gelehrten der Universität. Das Ergebnis der Diskussionen des Ausschusses wurde schließlich in einem Gutachten für den Kurfürsten formuliert.158 In diesem einigten sich die Verfas‑ ser auf eine differenzierte Position, indem sie den Opfercharakter der Messe ab‑ lehnten und den Laienkelch forderten; bei der Frage der Abschaffung der Pri‑ vatmessen aber empfahlen sie, der Position Karlstadts folgend, diese aus Rück‑ sicht auf die Schwachen im Glauben vorerst beizubehalten.159 Abschließend plädierte der Ausschuss für eine schnelle Reform der Messen im gesamten Kur‑ fürstentum.160 Der Kurfürst hatte gegen dieses Gutachten Einwände und forderte den Aus‑ schuss zu einer erneuten Stellungnahme auf.161 Er führte dabei sowohl poli‑ tische und soziale wie auch im engeren Sinne theologische Argumente an, de‑ ren Gewichtung in der Literatur unterschiedlich beurteilt wird.162 Eine Rolle 157 Gregor Brück an Friedrich den Weisen, 11. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 28 f., hier S. 29. 158 Justus Jonas, Johann Dölsch, Andreas Bodenstein, Tilmann Plettner, Hieronymus Schurf, Nikolaus von Amsdorf und Philipp Melanchthon an Friedrich den Weisen, 20. Okto‑ ber 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 35–41. 159 Wie Kruse anhand der vorangehenden Reformdiskussion an der Universität zeigt, in‑ tegrierte das Gutachten verschiedene Positionen seiner Verfasser: Man einigte sich auf die Ablehnung des Meßopfergedankens, die Forderung nach dem Laienkelch und der Notwen‑ digkeit der Predigt bei jeder Messe. Aufgenommen wurden sowohl Karlstadts Bedenken hin‑ sichtlich der Abschaffung der Privatmessen, die nach Karlstadt mit Rücksicht auf die Schwa‑ chen im Glauben noch eine Zeitlang beizubehalten waren. Dagegen hielten Melanchthon und auch der Propst des Allerheiligenstiftes Justus Jonas den Zeitpunkt für die Abschaffung der Privatmessen für angemessen und stimmten dem Handeln der Augustinereremiten zu, vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 324; vgl. zur theologischen Stringenz dieser Positionen in den weiteren Auseinandersetzungen um das Tempo der Reformen auch Simon: Messop‑ fertheologie, S. 476 f. 160 Vgl. Justus Jonas, Johann Dölsch, Andreas Bodenstein, Tilmann Plettner, Hierony‑ mus Schurf, Nikolaus von Amsdorf und Philipp Melanchthon an Friedrich den Weisen, 20. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 50–53. 161 Vgl. Friedrich der Weise an Christian Beyer, 25. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wit‑ tenberger Bewegung, S. 50–53. 162 Genannt werden in dem Schreiben die folgenden Argumente: Es handle sich um eine
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spielte möglicherweise bereits hier der Druck von Kaiser und Reich sowie die Gefahr von Aufruhr bei zu schnellen Veränderungen.163 Entscheidend erscheint jedoch in dem hier beleuchteten Zusammenhang das bisher wenig beachtete Ar‑ gument, dass „ir der ding selbst nit eynig gewest seyt“.164 Die Bedeutsamkeit die‑ ses Argumentes wird weiter deutlich, wenn man beachtet, dass der Kurfürst in seinem Schreiben an den Ausschuss nicht nur einfach ein zweites Gutachten, sondern explizit eine einmütige Lösung von Universität und Kapitel forderte.165 Der Kurfürst, der sich selbst stets als einen in kirchlichen Dingen unkundigen „Leyhen, der der schrifft nicht bericht“ bezeichnete, hatte in diesem Fall kein einhelliges Urteil seiner gelehrten Theologen erhalten, so dass ihm eine Ent‑ scheidung auf dieser Grundlage nicht möglich war.166 Wie Recht der Kurfürst mit seiner Befürchtung hatte, dass die Forderun‑ gen des Gutachtens nicht von allen Mitgliedern der Universität und des Stiftes getragen wurde, bestätigte sich bereits in den nächsten Tagen, als er eine gegen die Reform der Messe gerichtete Darstellung einiger Mitglieder des Stiftskapi‑ tels erhielt, die nicht Teil des Ausschusses waren.167 Der Kurfürst verwies auf die noch ausstehende Antwort zu seiner Anfrage,168 die er Ende November an‑ mahnen ließ.169 Unterdessen wurden die Fragen des Messopfers und des schrift‑ gemäßen Abendmahls besonders von Melanchthon und Karlstadt in Disputa‑ tionen weiter ausdifferenziert und in Flugschriften auch nach außen verteidigt, Sache, welche die ganze Christenheit angehe; niemand konnte dem Kurfürsten sagen, wann die apostolische Art der Messen aufgehört und die missbräuchliche angefangen habe; die Klöster und Stiftungen seien um der Messen willen gestiftet worden, vgl. ebd., S. 52. Bu‑ benheimer: Scandalum, S. 308 weist darauf hin, dass der kurfürstlichen Argumentation der Rechtsgrundsatz „quod omnes tangit debet ab omnibus approbari“ zugrunde liegt und sieht die Vermeidung von Aufruhr als den entscheidenden Grund; dem folgt Simon: Messop‑ fertheologie, S. 478, der zudem als ökonomisches Argument anführt, die Abschaffung der Privatmessen hätte die Existenz der Kirchen und Klöster gefährdet. 163 Vgl. dazu ausführlich unten, S. 210–214. 164 Friedrich der Weise an Christian Beyer, 25. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 50–53, hier S. 53. 165 „das ir sampt den andern glidern der vniuersitet vnnd capittel Alßo in die Sache sehet“, Friedrich der Weise an Christian Beyer, 25. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 50–53, hier S. 52. 166 Ebd. 167 Diese beschwerten sich über das Ausfallen von gestifteten Messen an der Schlosskirche und die gegen die Messe gerichteten Predigten des Augustinermönches Gabriel Zwilling und ihres eigenen Propstes Justus Jonas, vgl. Lorenz Schlamau, Ulrich von Dinstedt, Matthaeus Beskau, Otto Beckmann, Sebastian Küchenmeister, Georg Elner und Johann Volmar an Kur‑ fürst Friedrich den Weisen, 5. November 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 58–66. 168 Vgl. Friedrich der Weise an Lorenz Schlamau, Ulrich von Dinstedt, Matthaeus Bes kau, Otto Beckmann, Sebastian Küchenmeister, Georg Elner und Johann Volmar, 5. Novem‑ ber 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 66–67. 169 Erstmals wohl am 27. November: Friedrich der Weise an die Universität, 27. November 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 71.
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was jedoch nicht zu einer Einigung der Wittenberger untereinander führte.170 Daher musste der Kurfürst nach der Messestörung Anfang Dezember 1521 er‑ neut einen seiner Räte nach Wittenberg schicken, um Stiftskapitel und Univer‑ sität zu einer Einigung aufzufordern, um weiteren „jrthum oder aufrur“ zu ver‑ meiden.171 Wenige Tage später insistierte er noch einmal, dass Kapitel und Uni‑ versität sich mit ihrem Entschluss beeilen sollten, damit weiterer „aufrur und beswerung“ verhindert werde.172 Nun antwortete die Universität schließlich, jedoch nur um einzuräumen, dass man zu keiner Einigung gekommen war und dem Kurfürsten daher meh‑ rere Stellungnahmen zukommen lassen musste.173 Der Ausschuss hatte ein neues Gutachten erstellt, welches neben den Ausschussmitgliedern auch von weiteren Universitätsangehörigen unterzeichnet worden war,174 während an‑ dere, die das erste Gutachten noch mitgetragen hatten, nun eigene Stellung‑ nahmen verfassten.175 Das zweite Ausschussgutachten erneuerte die Forderung nach der Reform der Messe. Gegenüber dem ersten Gutachten sah man nun auch den Zeitpunkt für deren praktische Umsetzung gekommen. Rücksicht auf die Schwachen im Glauben sei nicht mehr notwendig, da die Laien größtenteils von den Forderungen überzeugt seien, während Widerstand nur von den ge‑ bildeten Theologen komme.176 Dem Ausschussgutachten gegenüber stand die Stellungnahme der Mehrheit der Stiftsherren, welche die bisherige Messpraxis 170 Melanchthon bemühte sich in dieser Zeit insbesondere um den Nachweis, dass der Zeitpunkt für die Reformen nun gekommen sei, während Karlstadt die Aufgabe zukam, die Wittenberger Kritik an der Messe in Flugschriften nach außen zu vertreten. Vgl. zu den Po‑ sitionen und Schriften im Einzelnen Kruse: Universitätstheologie, S. 326–329; Simon: Mes‑ sopfertheologie, S. 476 f. 171 Friedrich der Weise an Christian Beyer, 4. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 75 f., hier S. 76. 172 Friedrich der Weise an das Stiftskapitel, 7. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 80. 173 Die Universität an Friedrich den Weisen, 12. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wit‑ tenberger Bewegung, S. 82–84, hier S. 82. Eine Übersicht über die verschiedenen Positionen innerhalb des Senates liefert Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 83, Anm. 4. 174 Unterzeichnet wurde das Gutachten vom 12. Dezember 1521 nun von dem Rektor der Universität Johann Eisermann (Johannes Montanus), Andreas Karlstadt, Hieronymus Schurf, Steffan Wild, Augustinus Schurf, Philipp Melanchthon, Nikolaus Amsdorf, Johannes Bockenheym, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 90. Es fehlt die Unterschrift des Stiftspropstes Justus Jonas, der sich im Urlaub befand. 175 Diese waren die Senatsmitglieder Otto Beckmann, Johann Dölsch und Thomas Eschaus, die jeweils eigene Stellungnahmen verfassten, vgl. Otto Beckmann an die Ausschuss mitglieder, 7. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 91–96; Thomas Eschaus an die Ausschussmitglieder, 7. Dezember 1521, in: ebd., S. 96; Johann Dölsch, Be‑ denken von der Messe, undatiert, in: Ebd., S. 42. Letzteres Gutachten datiert Müller auf den 20. Oktober und ordnet es damit in die Zeit des ersten Ausschussgutachtens ein; Bubenhei‑ mer: Scandalum, Anm. 191, weist jedoch nach, dass sich diese Stellungnahme auf das zweite Ausschussgutachten bezieht. 176 Ebd.
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verteidigte.177 Eine dritte Position vertrat der Theologe Johann Dölsch, der von Anfang an zur Gruppe der Reformer an der Universität gehört hatte und sich nun der Kritik am Messopfer zwar anschloss und das Abendmahl unter beider‑ lei Gestalt befürwortete, die Messe jedoch zunächst in ihrer bisherigen Form belassen wollte.178 Da auf dem etablierten Weg der Entscheidungsfindung durch die Gelehr‑ ten offensichtlich keine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte, ent‑ schied sich der Kurfürst nun, zunächst alle Neuerungen zu verbieten, aus denen Uneinigkeiten „vnschicklichkeit, zcwispaldigkeit, ergernuß ader beswerlichs“ entstehen könnte. Gleichzeitig forderte er Universität und Stiftskapitel jedoch ausdrücklich dazu auf, ihrer Aufgabe nachzukommen und über die Frage nach der Messe zu „disputiren, schreyben, leßen vnd predigen“. 179 Zwei zentrale Probleme hatten sich so mit der theologischen Diskussion um die Abschaffung der Messe im Hinblick auf die Wittenbergpolitik des Kur‑ fürsten ergeben. Durch die Uneinigkeit der Professoren konnte die Universität ihre Funktion als Ort der Wahrheitsfindung, als „oraculum“, in strittigen und schwierigen Fällen nicht weiter wahrnehmen. Gleichzeitig schien das Allerhei‑ ligenstift seinen Dienst als zentraler Ort des Heils zu versagen. Immer mehr gestiftete Messen fielen aus und für wichtige liturgische Aufgaben, wie etwa die der prestigeträchtigen „Stiftung zur Betrachtung der heilwertigen Leiden Christi“, war kein geeignetes Personal mehr zu bekommen.180 Damit drohten die zentralen Ziele, die der Kurfürst beim Ausbau Wittenbergs zur Residenz‑ stadt in den letzten Jahrzehnten unternommen hatte, zu scheitern: Die innere Einheit der Stadt in geistlichen Dingen und deren Ausrichtung und Zentrierung auf die fürstlichen Institutionen des Allerheiligenstiftes und der Universität so‑ wie zweitens die damit verbundene auch nach außen wirkende sakrale Dignität der Stadt als „Hauptstadt“, welche mit den liturgischen Stiftungen, dem Heil‑ tum und dem sakralen Schatz an Ablassprivilegien verbunden war. Problematisch erschien aus der Perspektive des Kurfürsten dabei nicht die Veränderung der Ceremonien als solche, sondern vielmehr ihre Uneinheitlich‑ keit. So konnte er dem anfänglichen Vorschlag der Stiftsherren, die „päpstli‑ 177 Die Stiftsherren verwiesen dabei besonders auf die Begründung der Messe in den Be‑ schlüssen von Kirche und Konzilien, vgl. Lorenz Schlamau, Matthaeus Beskau, Otto Beck‑ mann, Sebastian Kuchenmeister, Georg Elner, Johann Rachals und Johann Volmar, [14. De‑ zember 1521], in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 107–115. 178 Vgl. zur Position Dölschs auch Kruse: Universitätstheologie, S. 343; Simon: Messop‑ fertheologie, S. 486–489; Friedrich Kropatscheck: Johann Dölsch aus Feldkirch, Profes‑ sor in Wittenberg. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte in ihren Anfängen, Greifswald 1898 [Abdruck von Dölschs Separatgutachten]. 179 Friedrich der Weise, Instruktion für Christian Beyer, 19. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 123–125, hier S. 124. 180 Christoph Blanck an Kurfürst Friedrich, 18. März 1522, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 222.
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chen Zeichen“ bei der Heiltumsweisung abzuschaffen, problemlos zustimmen, da die Theologen von Universität und Stift diese gemeinsam beschlossen hat‑ ten. Das vollständige Ausfallen von Messen und Stiftungen als Folge der Un‑ einigkeit der Gelehrten gefährdete jedoch nicht nur die Heilsökonomie mit ih‑ ren herrschaftsrepräsentativen Elementen und damit den Status Wittenbergs als Ort des Heils, sondern darüber hinaus auch die städtische Einheit und Ord‑ nung der Wittenberger mit dem Kurfürsten an der Spitze, für deren symbo‑ lische Konstituierung liturgische Elemente wesentlich waren. All dieses war durch die Uneinigkeit der Theologen und Geistlichen über die Messe in Gefahr, die eine Fortführung der bisherigen Messen verhinderte und gleichzeitig den Anspruch der Stadt, unabhängig von äußeren Einflüssen über Wahrheit und Heil zu verfügen, in Frage stellte. Dieses entspricht auch der Selbstwahrnehmung der Wittenberger Universi‑ tätstheologen und Stiftsherren, deren Selbstbewusstsein als „nos Wittenbergen ses“, als derjenigen, welche Wahrheit und Heil auf ihrer Seite wussten, nur noch von Teilen beider Gruppen getragen wurde. Als die Universität Mitte Dezem‑ ber 1521 eingestehen musste, dass sie sich „eintrechtigs vnterrichts nit voreini gen“ konnte,181 führte dies zu unterschiedlichen Selbstdeutungen der Universi‑ tätstheologen als Gruppe. Deren Selbstverständnis war in dieser Zeit zunächst, wie Kruse überzeu‑ gend gezeigt hat, entscheidend durch das ekklesiologische Konzept des „klei‑ nen Hauffens Christi“ geprägt, welches nun in die Kritik geriet.182 Während die Ausschussmitglieder ihre Forderungen nach der Reform der Messe weiter‑ hin damit verteidigten, es habe „allweg der kleinste und vorachteste hauffe“ die Wahrheit gepredigt, bewerteten die reformgegnerischen Stiftsherren die Tat‑ sache, „das wir von Wittenberg der kleinste hauffe seind“ im Gegenteil als Grund, sich nicht gegen den jahrhundertelangen Gebrauch der Kirche und der Konzilien zu stellen.183 Auch der Stiftssyndikus Otto Beckmann bezweifelte in seiner separaten Stellungnahme gegen das zweite Ausschussgutachten, dass der „kleine Hauffen“ der Wittenberger identisch mit dem kleinen Haufen der ersten Christen sei.184 Hingegen sah Beckmann unter den Wittenberger Theo‑
181 Die Universität an Friedrich den Weisen, 12. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wit‑ tenberger Bewegung, S. 82–84, hier S. 82. 182 Vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 343. 183 Lorenz Schlamau, Matthaeus Beskau, Otto Beckmann, Sebastian Küchenmeister, Georg Elner, Johann Rachals und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 14. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, hier S. 108. 184 „Ist auch meins achtens vnser cleine hauff dem cleinen hauffen, durch den Christus dye welt an den rechten glaubenn gebracht, nicht gleichmessig“, Otto Beckmann an die Aus schussm itglieder, [7. Dezember 1521], in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 91–96, hier S. 91. Das Gutachten war ursprünglich für die Ausschussmitglieder bestimmt, wurde jedoch zusammen mit dem Schreiben der Universität vom 12. Dezember, welches die Un
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logen „fleischliche Klugheit“ am Werk, die auch in der Stadt bereits zum leicht‑ fertigen Gebrauch der christlichen Freiheit geführt habe.185 Befürworter und Gegner der Reform der Messe argumentierten dabei gleichermaßen mit der sakralen Dignität der kurfürstlichen Stadt Wittenberg. Die Gegner der Reformen verwiesen auf die Messstiftungen, welche der Kurfürst als christlicher Herrscher zur Ehre Gottes errichtet hatte, die Befürworter hin‑ gegen wandten sich an den Kurfürsten als den Herrscher der christlichen Stadt, in der das Evangelium seinen Ausgang genommen hatte. Diese unterschiedlichen Verwendungen des Konzeptes sakraler Dignität der christlichen Stadt verweisen auf den Beginn eines Prozesses, der für die Durchsetzung der reformatorischen Neuerungen in den folgenden Jahren entscheidend werden sollte: Dem Transfor‑ mationsprozess des Konzeptes sakraler Dignität von den kurfürstlichen Stiftun‑ gen und Reliquien hin zu Wittenberg als Stadt der Reformation. Der in den letz‑ ten Jahren des 16. Jahrhunderts neu begründete Anspruch auf sakrale Dignität der Stadt wurde so auch durch die Abschaffung der Messen, Stiftungen und Reli‑ quien nicht aufgegeben, sondern nur mit anderen Mitteln fortgesetzt, die im Ein‑ zelnen in den folgenden Kapiteln untersucht werden.
2.3. Warum beschloss der Rat im Januar 1522 eine Liturgiereform? Der Wittenberger Rat bewertete die Situation ähnlich wie der Kurfürst und die Universität: Er sah die Uneinheitlichkeit der gottesdienstlichen Ceremonien als eine Gefahr für den sozialen Frieden und die Kompetenz zu ihrer Verein‑ heitlichung bei den gelehrten Theologen von Universität und Stift.186 Von die‑ sen ließ sich der Rat in Vorbereitung einer neuen Stadtordnung Anfang Januar 1522 im Hinblick auf die Liturgiereformen beraten.187 Als Ergebnis dieser Ver‑ einigkeit der Universität feststellte, und dem Ausschussgutachten an den Kurfürsten ge‑ schickt, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 82–96. 185 „Ich habe aber sorge, vnser kluckheit sey deß fleisches“; „Wyr gebrauchenn vns der Christlichenn freiheit czum boßenn vnde Leichtfertigheit“, ebd., S. 91. Trotz seiner Kritik an der fleischlichen Gelehrsamkeit der Wittenberger sah Beckmann jedoch die Kompetenz der Wahrheitsfindung weiterhin bei den Universitäten, aufgrund der Uneinigkeit der Wittenber‑ ger schlug er vor, dass eine neue Ordnung der Kirche eingeführt werden sollte „durch hilff unde Radt der andern Vniversitet, ßo vnder denn fursten von Sachsenn gelegen“, vgl. ebd., S. 95. 186 „Des Raths zu Wittembergk Antwort vnnd Erklerung vff die vorhaltung wegen Ab schaffung Der Meß, der bilde, bettelorden“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 194–197. 187 Vgl. StAW, KR 1522 „24 gr. an malfasir und wein den herren von der universitaeth und capittell vorerett, so sie uff dme rathshawse gewest der bilder und arm leuth halben, frei tags nach Sebastiani“, gedruckt bei Karl Eduard Förstemann (Hg.): Mittheilungen aus den Wittenberger Kämmereirechnungen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch‑antiquarischer Forschung 3 (1836), S. 103–119, hier S. 111.
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handlungen wurde schließlich am 24. Januar 1522 durch den Wittenberger Ge‑ samtrat, also durch alle drei Ratskollegien, „einhelligklich“ die „Ordnung der Stadt Wittenberg“ beschlossen.188 Obwohl in die Verhandlungen mit den Ver‑ tretern von Stift, Universität und Rat alle wichtigen städtischen Akteure ein‑ bezogen wurden, beruhte die Ordnung doch nicht auf einem innerstädtischen Konsens. Vielmehr hatte der Rat mit dem Rektor der Universität Johann Eiser‑ mann, dem Archidiakon des Stiftes Andreas Karlstadt und dem Propst Justus Jonas sowie den Universitätsprofessoren Melanchthon und Amsdorf als Bera‑ ter zwar jeweils die Inhaber der höchsten Ämter beider Institutionen ins Rat‑ haus bestellt, doch waren diese alle Teil der reformbefürwortenden Minderheit, die das zweite Ausschussgutachten unterzeichnet hatte. Warum also schlug sich der Rat auf diese Weise auf die Seite der Reformbefürworter, obwohl er damit gegen den Befehl des Kurfürsten handelte? Als Ursache wird in der Literatur zur Wittenberger Reformation üblicher‑ weise der Druck aus der Zunftopposition, der „Gemeinde“, genannt, dem der Rat sich hier beugte, um schlimmeren Aufruhr zu vermeiden.189 Im For‑ schungskontext der Stadtreformation betrachtet, entspricht dieses den Thesen zum Verlauf reformatorischer Bürgerbewegungen, in denen eine zünftisch ge‑ prägte Oppositionsbewegung die reformatorischen Forderungen der Stadtbe‑ völkerung nutzte und auf diese Weise schließlich die alten Ratseliten verdrän‑ gen konnte. Eine solche Bürgerbewegung mit Ambitionen des Aufstieges in den Rat ist jedoch in Wittenberg nicht nachzuweisen. Gegen diese These wurde selbst im Hinblick auf solche Städte, in denen tatsächlich eine Bürgeropposition gegen den Rat bestand, von der neueren Forschung eingewandt, dass der Vorwurf 188
Die von Junghans herausgegebene Studienausgabe gibt die Ordnung nach dem Druck „Ain lobliche ordnung der Fuerstlichen Stadt Wittenberg Jm tauscent fuenfhundert vnd zway und zwaintzigstenjar aufgericht“ wieder und berücksichtigt gleichzeitig Varianten einer von dem Zwickauer Ratsschreiber verfassten handschriftlichen Version aus der Zwickauer Rats‑ schulbibliothek, die nach den Angaben von Junghans einen Entwurf oder eine Vorform der eigentlichen Ordnung gebildet hatte: Helmar Junghans (Hg.): Die Ordnung der Stadt Wit‑ tenberg vom 24. Januar 1522, in: Ders./Hans‑Ulrich Delius (Hgg.): Martin Luther. Stu‑ dienausgabe, Bd. 2, Berlin 1979, S. 525–529. 189 So bezeichnet Oehmig die Stadtordnung als ein Signal des Willens zur Wiederherstel‑ lung des innerstädtischen Friedens von Seiten des Rates gegenüber der Gemeinde, vgl. Oeh‑ mig: Wittenberger Bewegung, S. 124. Ebenso heißt es bei Ulrich Bubenheimer, die Zustim‑ mung zu dieser Ordnung sei „nicht bei allen Ratsherren aus voller Überzeugung, sondern unter dem Druck der Bürgerbewegung“ zustande gekommen, vgl. Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 174. Auch in der Lutherbiographie Brechts heißt es: „Daß er [der Rat] von ange‑ sichts der obrigkeitlichen Untätigkeit von sich aus aktiv wurde, dürfte damit zu erklären sein, dass er nach wie vor unter starkem Druck der Gemeinde stand […]“, vgl. Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 47. Ähnlich, wenn auch etwas vorsichtiger, interpretiert auch Kruse, der Rat habe wegen der angespannten Situation in der Stadt Handlungsbedarf gesehen und mit einer den Forderungen der Gemeinde entsprechenden Ordnung die Reformen wieder unter obrig‑ keitliche Kontrolle bringen wollen, vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 363–365.
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II. Wittenberger Unruhen?
des „Aufruhrs“ und die Bezeichnung der Täter mit stigmatisierenden Termini wie „loses Volk“ oder „Rotte“ selbst funktionalen Charakter hatte und kei‑ nen einfachen Rückschluss auf die Trägerschichten erlaubte. Mit diesen Begrif‑ fen, so etwa die Interpretation Norbert Schnitzlers, stellte der Rat den Gegen‑ satz zur Bürgergemeinde erst her, um sich selbst von den Unruhen zu distan‑ zieren.190 Schnitzler selbst betont dagegen, auch mit Bezug auf Wittenberg, dass die Trägerschicht der Unruhen durchaus aus angesehenen Bürgern und vor al‑ lem jungen Leuten bestand.191 Auch wenn die Argumentationsweise Schnitz‑ lers zu Wittenberg im Einzelnen nicht unproblematisch erscheint,192 erweist sich die grundsätzliche Frage nach der Funktion der Aufruhrsemantik auch hier als weiterführend: Der gegenseitige Vorwurf von Konfliktparteien, „Auf‑ ruhr“ oder „Ärgernis“ zu verursachen, ist bereits aus den früheren städtischen Konflikten bekannt und wurde besonders von Studenten und Bürgern bzw. den Verantwortlichen in Universität und Rat angeführt.193 Hintergrund waren hier, ebenso wie in den Auseinandersetzungen mit Geistlichen, die in Wittenberg auf engem Raum aufeinander treffenden konkurrierenden Rechtsbereiche. Daher argumentierte der Rat auch im Dezember 1521, ebenso wie in den Jahren zuvor, gegen die privilegierte Stellung der Studenten in der Stadt, indem er anführte, dass diese Aufruhr und Ärgernis verursachten und besser in der Hand des Ra‑ tes, also unter der städtischen Gerichtsbarkeit, wären.194 Auch für Wittenberg ist so von einer funktionalen Verwendung des Aufruhrbegriffs auszugehen, die im weiteren Verlauf auch in den Auseinandersetzungen der Universitätstheolo‑ gen Anwendung fand.195 190
Schnitzler: Ikonoklasmus, S. 173–175. Vgl. ebd., S. 177–180 (allgemein) und S. 237–241 (zu Wittenberg). 192 Problematisch erscheint zunächst, dass hier Belege aus ganz unterschiedlichen Städten angeführt werden, ohne eine sozialgeschichtliche Kontextualisierung vorzunehmen. Auch die Kritik an der „dualistischen“ Darstellungsweise der älteren Forschung von Bürgerge‑ meinde und Rat scheint eher auf Missverständnissen zu beruhen: Diese etwa in den Darstel‑ lungen Schillings, Ehbrechts und Hamms verwendete Gegenüberstellung von patrizischem Rat und zünftischer Bürgergemeinde impliziert nicht, wie Schnitzler vermutet, dass es sich bei der „Gemeinde“ um „Unterschichten“ handelte. Gemeint ist hingegen eine Zunftoppo‑ sition gegen den Rat, daher scheint Schnitzlers Feststellung, dass in Wittenberg auch Hand‑ werksmeister beteiligt waren, in diesem Sinne wenig überraschend. Darüber hinaus bleibt die These, die Wittenberger Studenten hätten bei dem Bildersturm „tatkräftig mitgeholfen“, den Beleg schuldig, vgl. dazu unten, S. 203. 193 Vgl. Kap. I.3. 194 Der Rat der Stadt Wittenberg an Kurfürst Friedrich, 5. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 77–78. 195 So wiesen die Verfasser der neuen Stadtordnung den Vorwurf der Aufruhrstiftung zurück, indem sie den Gegnern der Reformen ihrerseits Aufruhr verursachendes Predigen vorwarfen, vgl. Johann Eisermann, Justus Jonas, Andreas Bodenstein, Philipp Melanchthon „Des Raths zu Wittembergk Antwort vnnd Erklerung vff die vorhaltung wegen Abschaffung Der Meß, der bilde, bettelorden“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 194–197, hier S. 195. 191
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Die in der Literatur verbreitete Annahme, der Wittenberger Rat habe mit dem Erlass der Stadtordnung auf Druck von Seiten der Gemeinde gehandelt, entsprach so der Selbstdarstellung eines Rates, der sich bewusst war, gegen den Befehl des Kurfürsten zu handeln. In diesem Sinne räumten die Verantwortli‑ chen aus Rat, Universität und Stiftskapitel gegenüber den kurfürstlichen Räten ein: „eß ist war, das vnser gnedigester [her] eyn Commission vnd befel gethan, das keyn newrung mit der messe nach czur czeit vorgenommen werden“.196 Doch habe man Verwirrung und Ärger in der Gemeinde befürchtet und des‑ halb handeln müssen.197 Die vielfachen Hinweise auf das Aufruhrpotential der Einwohner dienten damit wohl auch hier nicht zuletzt der Rechtfertigung ge‑ genüber dem Kurfürsten. Von dem Druck einer Zunftopposition ist selbst da‑ bei an keiner Stelle die Rede. Wie erklärt sich aber dann der Beschluss der Stadtordnung durch den Rat? Als weiterführend erweist sich hier der Blick auf den Inhalt der Ordnung. Wäh‑ rend in der theologischen Diskussion an Universität und Stift die Reform der Messe und seit Januar auch die Bilderfrage im Mittelpunkt stand, nahm die Liturgiereform nur einen relativ kurzen Abschnitt der Stadtordnung ein. Der größte Teil der Ordnung beschäftigte sich hingegen mit sozialen und wirt‑ schaftlichen Fragen. Zentral war dabei die neue Armenordnung, mit welcher der Rat in vielen Punkten an frühere Bemühungen zur Regelung des Armenwe‑ sens anknüpfte. So hatte die Einrichtung eines gemeinen Kastens schon in der auf etwa 1520 datierten „Ordnung des Gemeinen Beutels“198 begonnen und das Vorgehen gegen fremde Terminierer war Gegenstand der „Wittenberger Will‑ kür“ von 1504 gewesen. Bei den Bemühungen zur Neuregelung des Armenwe‑ sens kamen dem Rat nun die reformatorischen Forderungen nach Abschaffung der gestifteten Messen und des Bettelns zugute. So hatte er bereits im Oktober 1521 versucht, die Zustimmung des Stiftskapitels zur Abschaffung der „Bru derschaften, ßo in der Pfarkirchen gestifft“ zu erhalten, um deren Einnahmen den Wittenberger Hospitälern zugutekommen zu lassen; er wollte außerdem die Zinsen aus der Vikarie des verstorbenen Stiftsherrn Urban Rauch für die Versorgung armer Leute verwenden.199
196
Ebd., S. 194.
197 Ebd. 198
Vgl. hierzu Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 112–117; Nikolaus Müller (Hg.): Die Wittenberger Beutelordnung vom Jahre 1521 und ihr Verhältnis zu der Einrichtung des Gemeinen Kastens im Januar 1522. Aus dem Nachlasse des Professors DDr. Nic. Müller, Ber‑ lin, hg. von Karl Pallas, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte 12 (1915), S. 1–45 und S. 100–137; 13 (1916), S. 1–12. 199 Davon berichten die reformgegnerischen Stiftsherren dem Kurfürsten, vgl. Lorenz Schlamau, Ulrich von Dinstedt, Matthaeus Beskau, Otto Beckmann, Sebastian Küchenmeis‑ ter, Georg Elner und Johann Volmar an Kurfürst Friedrich den Weisen, 5. November 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 58–66, hier S. 64.
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Während diese Maßnahmen noch am Widerstand des Stiftes gescheitert wa‑ ren, gelang dem Rat in der Stadtordnung von 1522 mit Unterstützung der ge‑ nannten Mitglieder von Stift und Universität schließlich die Durchsetzung sei‑ ner Ziele. Die früheren Bestimmungen von 1504 und 1520 wurden insofern erweitert, als die Einnahmen des gemeinen Kastens nun nicht mehr nur aus Spenden, sondern darüber hinaus auch aus den nun nicht mehr benötigten Zin‑ sen und Einkünften der zu entlassenden Messpriester und aufzuhebenden Bru‑ derschaften bestanden.200 Daneben enthielt die Ordnung noch zahlreiche wei‑ tere sozialpolitische Maßnahmen, wie Regelungen zur Unterstützung von Wit‑ wen und Waisen und in Not geratenen Handwerkern, zur Gewährung von Darlehen zu gemäßigten Zinssätzen sowie zur Abschaffung der Prostitution. Die Wittenberger Stadtordnung betraf damit zunächst in großen Teilen Kernbereiche der Kompetenzen des Rates in der Stadt und stand zumindest darin nicht im Widerspruch zu den Interessen des Landesherrn. So ist es zwar richtig, dass zentrale reformatorische Forderungen dem Rat zur Durchset‑ zung längerfristiger Ziele, wie der Neuordnung der kommunalen Armenfür‑ sorge dienten und damit gleichzeitig seine Befugnisse erweiterten. Dieses ge‑ schah jedoch nicht auf Kosten des landesherrlichen Einflusses und nicht ge‑ gen den Willen des Kurfürsten, der diese Bestimmungen, welche den Hauptteil der Ordnung ausmachten, weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt kritisierte. 201 Demnach zählte auch der Landesherr die Fragen der städtischen Armenfürsorge und Policeyordnung zu den Kernaufgaben des Rates und sah hier keine Kompetenzüberschreitung. Die Ordnung bildete zumindest in die‑ sen Punkten eine Kontinuität städtischer Fürsorge‑ und Ordnungspolitik, de‑ ren Regelungskompetenz des Rates in keinem Konkurrenzverhältnis zum Kur‑ fürsten stand, und ist daher auch nicht als Produkt städtischer Autonomiebe‑ strebungen des Rates gegenüber dem Kurfürsten zu sehen. 202
200 Vgl. Ordnung des Rates der Stadt Wittenberg (1522), in: Helmar Junghans/ Hans‑Ulrich Delius (Hgg.): Martin Luther. Studienausgabe, Berlin 1979, S. 526; zur Ord‑ nung des gemeinen Kastens im Einzelnen auch Stefan Oehmig: Der Wittenberger Gemeine Kasten in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens (1522/23 bis 1547). Seine Ein‑ nahmen und seine finanziellen Leistungen im Vergleich zur vorreformatorischen Armen praxis, in: Jahrbuch der Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 229–269. 201 In diesem Sinne bemerkt auch Stefan Oehmig, dass die Kritik Luthers sich nicht auf die sozialen, sondern nur auf die liturgischen Veränderungen richtete, vgl. Oehmig: Witten‑ berger Bewegung, S. 113. 202 Anders: Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 175: „In diesem Rahmen ist die in eigener Vollmacht des Rates beschlossene neue ‚Ordnung der Stadt Wittenberg‘, die gleichzeitig eine neue Gottesdienst‑ und Sozialordnung enthielt, auch als ein Akte im Kampf des Rates um Wahrung oder Erweiterung seiner Freiheiten gegenüber dem Landesherrn zu werten“ und neuerdings Simon: Messopfertheologie, S. 503, der sowohl die Gemeindeopposition gegen den Rat wie auch die städtische Autonomiebewegung gegen den Kurfürsten als entscheidend ansieht.
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Im engeren Sinne theologische Fragen behandelt die Stadtordnung hingegen nur in zwei von insgesamt 17 Artikeln: In Artikel 13 die Frage der Bilder und in Artikel 14 die Reform der Messe. 203 Die Ordnung selbst ist in zwei verschie‑ denen Fassungen überliefert, in einer Handschrift aus der Feder des Zwickauer Stadtschreibers Stefan Roth und in einem wesentlich kürzeren Druck. 204 Offen‑ sichtlich wurde gerade der 14. Artikel der Stadtordnung, obwohl er in seinem Ergebnis recht kurz ausfiel, zwischen Rat und Theologen besonders ausführlich diskutiert, denn hier finden sich die meisten Änderungen. Über solche Diskus‑ sionen berichtet auch der kurfürstliche Rat Christian Beyer dem Kurfürsten in einem Brief, der außerdem einige ergänzende Informationen über die hier be‑ schlossenen Liturgiereformen enthält. 205 Einleitend heißt es in Artikel 14 der Stadtordnung über die Messe, diese „so(e)llen nit anderst gehalten werden, dann wie sie Christus am Abentessen hat eingesetzt“.206 Gleichzeitig sollten jedoch „vmbs glauben willen“ die alten liturgischen Formen im Wesentlichen beibehalten werden. Bestehen bleiben sollten „introitu, kyrie, gloria, collecta oder preces, epistel, gradualia, evange lium, credo, offertium, prefatio sanctus“. Ausgelassen werden sollten dagegen die geistlichen Gesänge „sequens“, der „canon maior und „canon minor“, sowie die Schlussformel „ite missa est“, weil diese der „geschrifft nit gemeß seind“.207 Die Veränderungen entsprachen damit dem Stand der Diskussion unter den re‑ formwilligen Theologen und ungefähr den Aussagen des zweiten Ausschuss gutachtens. Strittig ist in der kirchengeschichtlichen Forschung nach wie vor der Einfluss der einzelnen Reformatoren. 208 Festgehalten werden kann jedoch, 203 Vgl.
Junghans (Hg.): Ordnung, S. 527. Die handschriftliche Fassung stammt aus dem Nachlass Stefan Roths in der Zwickauer Ratsschulbibliothek; die hier verwendete Edition der Ordnung von Helmar Junghans in der Luther‑Studienausgabe geht vom Text des Druckes aus, gibt aber jeweils auch den Wortlaut der Handschrift als Variante an. Eine tabellarische Gegenüberstellung der beiden Varianten bietet Simon: Messopfertheologie, S. 504–505. 205 Beyer hatte als kurfürstlicher Rat und Stadtratsmitglied an den Verhandlungen der Ordnung teilgenommen und berichtete dem Hof bereits am 25. Januar 1522 von den be‑ schlossenen Veränderungen, vgl. Christian Beyer an Hugold von Einsiedel, 25. Januar 1525, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 174–175. 206 Ebd. 207 Zu den liturgischen Elementen im Einzelnen vgl. Junghans (Hg.): Ordnung, S. 527, Anm. 33–42. 208 Während nach Kruse keine eindeutige Zuweisung möglich ist, [Kruse: Universi‑ tätstheologie, S. 365, Anm. 512 bemerkt dazu zusammenfassend, dass „alle Forderungen in den verschiedenen Schriften und Predigten der Wittenberger Reformer bereits zu frühe‑ ren Zeitpunkten thematisiert worden sind“], betonte neuerdings wiederum Simon: Mess opfertheologie, S. 504, wie zuvor etwa Müller: Luther und Karlstadt, S. 65, noch einmal den maßgeblichen Einfluss Karlstadts auf die Ordnung. Der Melanchthonforscher Neuser schließlich hebt den Einfluss Melanchthons auf die Ordnung hervor, vgl. Neuser: Abend‑ mahlslehre Melanchthons, S. 166–170 und betont insbesondere die Unterschiede der Bestim‑ mungen der Ordnung zur Gottesdienstpraxis in Karlstadts Weihnachtsgottesdienst. 204
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II. Wittenberger Unruhen?
dass als grundsätzliches Ziel der Ordnung erkennbar ist, die Elemente auszu‑ lassen, welche mit dem Messopfer in Verbindung standen.209 Diese Verwendung der liturgischen Elemente entsprach auch den Vorstellungen Luthers, die er in früheren Schriften entwickelt hatte. 210 Die Auslassungen betrafen in beiden überlieferten Fassungen der Ordnung den großen und kleinen Kanon. 211 Da die Worte des Kanons jedoch ohnehin leise gesprochen wurden, war der zwar theologisch bedeutsame Unterschied in der Wahrnehmung der Laien wohl den‑ noch nicht groß. 212 In der Literatur wird der Ordnung insgesamt, je nach Perspektive, ein „maß‑ voller Charakter“ oder „Kompromisscharakter“ attestiert, da die bekannten liturgischen Strukturen weitgehend beibehalten wurden. 213 So wurde vieles, was Karlstadt in seiner Messe bereits umgesetzt hatte, in der Ordnung nicht an‑ gesprochen, wie etwa die Notwendigkeit der Abendmahlsvorbereitung durch Beichten und Fasten oder die Frage des Messgewandes, der Elevation und der Kreuzeszeichen über der Hostie. Die Verfasser der Ordnung handelten damit nach dem auch ausdrücklich genannten Grundsatz der Schonung der Schwa‑ chen, der in der vorherigen Diskussion um die Messe eine große Rolle gespielt hatte und nahmen nur die Punkte auf, die zu diesem Zeitpunkt durchsetzbar erschienen. Während der theologische Grundcharakter der Ordnung damit deutlich wird, bleibt weiterhin unklar, warum in dieser Situation gerade der Rat eine solche Liturgiereform als Teil einer neuen Stadtordnung verabschiedete. Die Verhandlungen des Rates vor der Verabschiedung der Ordnung, die wahr‑ scheinlich Aufschluss über diese Frage liefern würden, sind aufgrund der feh‑ lenden Ratsprotokolle zwar nicht im Einzelnen überliefert, doch ermöglichen 209 Vgl.
zum Messopfer in der Diskussion der Wittenberger Reformatoren ausführlich Simon: Messopfertheologie, S. 419–472; Simon unterscheidet im Bezug auf die Wittenberger Stadtordnung zwischen der beiden Fassungen zugrunde liegenden Ablehnung des sakramen‑ talen Opfers des Leibes und Blutes Christi, wie es im Kanon vollzogen wird und dem Opfer von Brot und Wein, dessen Ablehnung nur in der handschriftlichen Fassung zum Ausdruck kommt. Während es hier heißt „credo ane Opfer“ erwähnt die Druckfassung ausdrücklich das Offertorium, welches beibehalten werden sollte, vgl. ebd., S. 503–504. 210 Martin Luther: „Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe“, in: WA 6, S. 323. 211 Artikel 14 der Stadtordnung, Junghans (Hg.): Ordnung, S. 527; der Entwurf der Ordnung in der Handschrift Roths erläutert ausführlicher „auch leßt man beide Canones außen dweil sie der gschrift nit gemeß seind“, vgl. Junghans: Ordnung, S. 528, Anm. 43. Ebenso heißt es in dem Bericht Christian Beyers „der canon hat sich verborgen“, Christian Beyer an Hugold von Einsiedel, 25. Januar 1525, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 174–175; der Entwurf der Ordnung in der Handschrift Roths erläutert ausführlicher „auch leßt man beide Canones außen dweil sie der gschrift nit gemeß seind“, vgl. Junghans: Ord‑ nung, S. 528, Anm. 43. 212 Darauf weisen die meisten theologischen Untersuchungen hin, vgl. zuletzt Simon: Messopfertheologie, S. 505. 213 Kruse: Universitätstheologie, S. 366.
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auch die vorhandenen Quellen einige Rückschlüsse. Hinweise auf die Diskus‑ sion bei der Entstehung der Ordnung bietet so ein Vergleich der beiden Über‑ lieferungen der Ordnung, einer längeren handschriftlichen Fassung und eines kürzeren Drucks. 214 Das Verhältnis der beiden Fassungen zueinander wird im Anschluss an die Edition von Junghans zumeist so erklärt, dass es sich bei der handschriftlichen Fassung vermutlich um eine Vorform handelte, während der Druck die überarbeitete Endfassung darstellte. 215 Als Unterschied zwischen den beiden Fassungen kann zunächst festgehalten werden, dass die handschriftliche Fassung wesentlich detailliertere Regelungen enthält und ihre Umsetzung damit eine deutlich stärkere Reform der Messe zur Folge gehabt hätte als die spätere gedruckte Fassung der Ordnung. Neben der bereits genannten Auslassung des Offertoriums wurde so in der Handschrift etwa auch die Predigt zum notwendigen Bestandteil der Messe erklärt, was fak‑ tisch eine Abschaffung der Privatmessen ohne Gemeindebeteiligung bedeutet hätte, denn eine Predigt war nur dann notwendig, wenn es auch Zuhörer gab. 216 Dieser Betonung der Gemeindemesse entspricht auch, dass die Konsekration nach der handschriftlichen Fassung nur dann vollzogen werden sollte, wenn Kommunikanten anwesend waren. 217 Die schließlich in der Druckfassung fest‑ gelegte Formulierung ermöglichte auch Privatmessen, also Messen ohne Betei‑ ligung der Gemeinde. Der Hinweis auf die Notwendigkeit der Predigt in je‑ der Messe wurde gestrichen, dagegen wurde ausdrücklich festgehalten, dass der Priester auch allein, ohne Kommunikanten, die Konsekration durchführen und das Sakrament nehmen konnte. 218 Wie kam es zu dieser Entwicklung der Stadtordnung von der Handschrift zur Druckfassung? Aufgrund fehlender äußerer Hinweise bieten die genann‑ ten inhaltlichen Unterschiede das einzige Kriterium für eine zeitliche Einord‑ nung der beiden unterschiedlichen Fassungen. Den bislang einzigen Versuch 214 Aufgrund dieser Varianten kam es in der Literatur zu unterschiedlichen Darstellungen des Inhalts der Ordnung: Kruse: Universitätstheologie, S. 365 und auch Oehmig: Witten‑ berger Bewegung, S. 108 f., behandeln die Abweichungen der handschriftlichen Fassung als eine Ergänzung zum Druck und kommen damit zu anderen Aussagen als Simon: Messop‑ fertheologie, S. 505, der von der Druckfassung ausgeht und die Handschrift als eine Vorform behandeln, die wieder verworfen wurde. 215 Vgl. Junghans (Hg.): Ordnung, S. 527. Anhand äußerer Merkmale ist jedoch nicht ermittelbar, welches Stadium der Bearbeitung die Handschrift darstellte, so dass darauf nur aufgrund ihres Inhalts geschlossen werden kann. 216 So lautet der 14. Artikel der Handschrift: „Item wan messe gehalten, ßo sall man das wort Gottes vnd Evangelium Christi predigen, alßo das allewege das wort Gottes vnd die messe zugleich gehandelt werden“. Ebenso heißt es in dem Ablauf, der in Art. 15 festgelegt ist nach dem Sanctus „Hiernach fahet man an zu predigen die Evangelische messe“, vgl. Jung‑ hans: Ordnung, S. 528, Anm. 43. 217 Handschrift: Art. 15 „Seint Communiantes, ßo konsecriert man.“ Vgl. ebd. 218 Gedruckte Fassung: „sein communicanten, so consecriert der priester, seind sy nit da, so consecriert er vnd summiert es, hat er anders andacht dartzu“, vgl. ebd.
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einer solchen Zuordnung legte der Kirchenhistoriker Wolfgang Simon vor, der die genannten Veränderungen im Lichte einer theologischen Entwicklung in‑ terpretiert. 219 Neben der von Simon herausgearbeiteten theologischen Entwicklung lassen sich jedoch weitere Unterschiede zwischen den beiden Überlieferungen feststel‑ len, wenn man nach der sozialen Funktion der Ordnung fragt. Betrachtet man so den Artikel der Messe nicht nur im Kontext der theologischen Diskussion, sondern als Ergebnis des Einflusses aller städtischen Akteure, so erscheint auch eine andere Interpretation möglich, welche den Einfluss des Rates stärker be‑ rücksichtigt. Dafür sprechen die folgenden Unterschiede zwischen Druck und Handschrift: Zunächst ist auffällig, dass die längere, handschriftliche Fassung viel mehr theologische Einzelheiten und Erläuterungen enthält als die deutlich kürzere Druckfassung, welche eher einen kurzen Regelungscharakter hat und dadurch viele theologische Konfliktpunkte auslässt. Dieses lässt vermuten, dass die handschriftliche Fassung ein Entwurf von Seiten der gelehrten Theologen war, der in der Diskussion mit dem Rat noch einmal überarbeitet wurde. Die Entwicklung von der Handschrift zur Druckfassung wird hier daher als Produkt der Einflussnahme des Rates verstanden, der ebenso wie der Kurfürst in der Uneinheitlichkeit der religiösen Ceremonien in der Stadt eine Gefähr‑ dung des sozialen Friedens sah. Die Uneinigkeit über die Form des Abendmahls oder sogar eine uneinheitliche Praxis innerhalb der Stadt, die es seit Dezember 1521 in den verschiedenen Kirchen Wittenbergs gegeben hatte, stellte eine Be‑ drohung der Stadt als „Corpus Christianum“ dar und ließ nicht nur die sakrale, sondern auch die politische Stadtgemeinschaft auseinanderfallen. 220 Die Wit‑ tenberger Stadtordnung vereinigte in ihrer abschließenden Fassung somit zwei Hauptziele: Das theologische Anliegen der Eliminierung des Opfercharakters der Messe und der Einführung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt sowie das soziale Anliegen des Rates, eine einheitliche Gottesdienstpraxis in der Stadt wiederherzustellen.
219 Vgl. Simon: Messopfertheologie, S. 506. In dem Verzicht auf die kommunikativ‑ge‑ meinschaftsstiftenden Elemente des Abendmahls erkennt Simon den Einfluss Karlstadts, der bereits in früheren Schriften und Diskussionen dafür plädiert hatte, die Privatmessen zu‑ nächst beizubehalten. Den Gemeinschaftscharakter des Abendmahls habe Karlstadt schon damals eher zurückgestellt, hingegen den Laienkelch, der auch in der Druckfassung der Ord‑ nung explizit herausgestellt wurde, stets befürwortet. Die Entwicklung von der Handschrift zur Druckfassung erklärt Simon daher mit dem Einfluss Karlstadts, der, obwohl etwa auch Vorstellungen Melanchthons erkennbar seien, auf die Endfassung der Ordnung noch einmal maßgeblich eingewirkt habe. 220 Vgl. zum Gedanken der Stadt in der Reformationszeit als „Corpus Christianum im Kleinen“ in der Reformationszeit zuerst Moeller: Reichsstadt. S. 13; zu den Thesen Moel‑ lers zur Stadtreformation vgl. oben, S. 7 f.
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Das Bestreben der Vereinheitlichung wird im Vergleich der beiden Fassun‑ gen besonders im Hinblick auf die Abendmahlspraxis deutlich: Sowohl das Abendmahl unter beiderlei Gestalt wie auch das selbstständige „Nehmen“ von Kelch und Hostien durch die Laien wurde in der Druckfassung der Stadtord‑ nung verbindlich festgelegt. 221 In den sechs Artikeln der Gemeinde vom De‑ zember war die Forderung nach dem Laienkelch hingegen noch mit dem aus‑ drücklichen Hinweis verbunden, dieses sollte „nymant verpotten, noch verhal ten“ werden. 222 Ebenso betonte auch der Entwurf der Stadtordnung mit der Formulierung „welche Communicanten wollen, mugen das Sacrament selbst angreifen“ noch die Freiwilligkeit dieser Regelung. 223 Dieses hätte jedoch das Problem der uneinheitlichen Praxis in der Stadt eher verschärft als gelöst, so dass der Rat in der Stadtordnung vom Januar nun beides, das Anfassen der Hos‑ tien und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt einheitlich festhielt und damit die Einheit der städtischen Abendmahlsgemeinschaft wiederherstellte. Die Wittenberger Stadtordnung etablierte damit eine zwar nach dem Wil‑ len der Universitätstheologen veränderte, aber nach dem Willen des Rates wie‑ derum einheitliche Ordnung der kirchlichen Ceremonien mit dem vom Rat er‑ klärten Ziel „vff das yn der pfar eyn einige, bestendige weiß vnd form mit der meß gehalden wurde“.224 Die Bedeutung der Messreform lag also neben ihrer im engeren Sinne theologischen Bedeutung in der Bewahrung einer einheitlichen Liturgie in der Stadt. Die hier aufgrund des Vergleiches der beiden überlieferten Versionen der Ordnung dem Rat zugeschriebene Position unterstützte damit weder explizit die reformatorischen Neuerungen noch lehnte sie diese ab, son‑ dern verfolgte davon unabhängig das Ziel einer einheitlichen Gottesdienstpra‑ xis. Die schließlich gedruckte Fassung der Ordnung ging so in einigen Punk‑ ten, wie etwa der einheitlichen Form des Laienkelches, sogar weiter als der Ent‑ wurf der Theologen, in anderen, wie etwa der Zulassung von Privatmessen, war sie wiederum konservativer. Erkennbar ist in allen Punkten das Ziel der Wie‑ derherstellung einer einheitlichen Liturgie. Während der größte Teil der neuen Stadtordnung mit Fragen der städtischen Armenfürsorge und Policey Kernaufgaben des Rates betraf und daher vom
221 Junghans (Hg.): Ordnung, S. 528, Anm. 43 weist darauf hin, dass die Formulierung „[…] mag der communicant die consecrierten Hostien in die hand nemen […]“ (S. 528) als Aufforderung oder Gebot zu verstehen ist, nicht als Erlaubnis, da die Formen von „mögen“ in dieser Ordnung durchgängig so gebraucht werden. 222 Vgl. „Zeittung aus Wittenberg“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 163. 223 Der Entwurf ist ediert bei Otto Clemen: Miszellen zur Reformationsgeschichte, in: Theologische Studien und Kritiken 70 (1897), S. 820–822. 224 Johann Eisermann, Justus Jonas, Andreas Bodenstein, Philipp Melanchthon „Des Raths zu Wittembergk Antwort vnnd Erklerung vff die vorhaltung wegen Abschaffung Der Meß, der bilde, bettelorden“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 194–197, hier: S. 195.
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Kurfürsten gar nicht kritisiert worden war, 225 zeigt sich hier, dass der Rat auch mit der Messreform keine sekundären politischen Zwecke verfolgte, wie etwa eine Emanzipation der Stadt von der landesherrlichen Gewalt. Vielmehr stand hier ein anderes klassisches Ziel spätmittelalterlicher städtischer Politik im Vor‑ dergrund, welches gleichermaßen religiöser wie politischer Natur war: Die Be‑ wahrung der Stadtgemeinschaft als Heilsgemeinschaft. Noch weitere Einzelheiten lassen auf einen Einfluss des Rates schließen: Als weiteres Merkmal der Druckfassung gegenüber dem handschriftlichen Ent‑ wurf ist der Versuch zu erkennen, trotz der als notwendig angesehenen Verein‑ heitlichung der Gottesdienstpraxis mögliche Konfliktpunkte mit den anderen städtischen Akteuren zu umgehen und Eingriffe in deren Einflussbereiche zu vermeiden. So hatten die sechs Artikel der Gemeinde noch die Bestrafung von „Studenten, pfaffen, Burgern, Haußleuten [et]c“ gefordert, welche „offentlich hurerey halten“ und zwar ausdrücklich „vnangesehen, das sy vnter dem Rector oder Bischoffe gehoeren“. 226 Eine solche Bestrafung von Geistlichen und Stu‑ denten durch den Rat hätte eine deutliche Kompetenzüberschreitung von Seiten des Rates bedeutet und den Erfahrungen früherer Konflikte nach wahrschein‑ lich für Unruhen gesorgt. Die schließlich in der Stadtordnung getroffene Re‑ gelung bewegte sich hingegen im Kompetenzbereich des Rates. Man beschloss umgekehrt die Schließung des vom Rat betriebenen städtischen Bordells und die Bestrafung der „vnerlich personen“, also der Prostituierten, und beugte so Konflikten mit Studenten und Geistlichen vor. 227 Ebenso vermied der Rat Eingriffe in den Bereich der vielfältigen kurfürstli‑ chen Stiftungen, mit denen der Kurfürst seine Residenzstadt ausgestattet hatte. So ließ die Stadtordnung in ihrer gedruckten Fassung die Privatmessen beste‑ hen, während der handschriftliche Entwurf noch ihre vollständige Abschaffung vorgesehen hatte. Damit schuf die Ordnung schließlich einen Kompromiss, wo‑ nach das für Stadt und Stadtherrn in vielerlei Hinsicht bedeutsame System der Heilsökonomie zunächst grundsätzlich bestehen blieb, jedoch die Gemeinde‑ messe als solche reformiert werden konnte. Insgesamt gelang dem Rat mit der Stadtordnung eine erneute Vereinheit‑ lichung der kirchlichen Ceremonien in der Stadt, deren Herstellung gerade in den letzten Jahrzehnten ein vornehmliches Ziel nicht nur der kurfürstlichen, sondern auch der städtischen Politik gewesen war. 228 Gleichzeitig bemühte man sich, mögliche Konfliktpunkte mit anderen städtischen Akteuren und dem Lan‑ desherrn zu vermeiden und so das empfindliche Gleichgewicht der unterschied‑ 225
Vgl. oben, S. 190. aus Wittenberg“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 163. 227 Vgl. Junghans (Hg.): Ordnung, S. 528. 228 Vgl. Kap. I.2. Die Zusammenfassung der einzelnen gottesdienstlichen Ämter in den Klöstern, im Stift, der Universität und der Pfarrkirche diente dabei der performativen Her‑ stellung und Darstellung städtischer Einheit. 226 „Zeittung
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lichen Rechtsbereiche in der Stadt nicht zu gefährden. Schließlich kam die Re‑ form der Messe auch den reformunwilligen Kräften entgegen, indem sie die tra‑ ditionellen liturgischen Formen soweit wie möglich beibehielt, zugleich jedoch die in der theologischen Diskussion zentrale Forderung nach der Eliminierung des Opfergedankens umsetzte und schließlich eine einheitliche Abendmahlspra‑ xis schuf, welche mit dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt und dem Berüh‑ ren der Hostien durch die Laien auch zentrale Forderungen der Wittenberger Laien berücksichtigte. Indirekt kann so durchaus die Bewahrung des städtischen Friedens als Ziel der Ordnung benannt werden, jedoch nicht verstanden als eine kurzfristige Reaktion auf den politischen Druck oder das Aufruhrpotential ei‑ ner Gemeindeopposition, sondern als ein Versuch des Ausgleichs der Interessen unterschiedlicher städtischer Akteure und insbesondere als Fortführung einer Politik der Vereinheitlichung der kirchlichen Ceremonien durch die Schaffung eines die ganze Stadt mit allen Rechtsbereichen umfassenden liturgischen Sys‑ tems, welche Teil des Prozesses der „normativen Zentrierung“ geistlicher Herr‑ schaft, sakraler Repräsentation und des religiösen Lebens in der Stadt war. 229 Trotz dieser einheitsstiftenden Zielsetzung und des Kompromisscharakters hatte die Ordnung eine entscheidende Schwäche, die in dem Verfahren ihres Zustandekommens begründet lag. Sie beruhte zwar auf einer Einigung von Rat und Universitätstheologen, doch waren sowohl die reformgegnerischen Univer‑ sitätsprofessoren als auch der kurfürstliche Hof nicht an dem Prozess der Ent‑ scheidungsfindung beteiligt worden. Das Problem der Uneinigkeit der Theolo‑ gen war hier nicht gelöst, sondern nur umgangen worden, indem die Reform‑ gegner nicht integriert wurden. Der kurfürstliche Hof wurde über die neue Stadtordnung mit dem bereits genannten Schreiben des Wittenberger Bürgermeisters Christian Beyer an den kurfürstlichen Rat Hugold von Einsiedel informiert. 230 Einsiedel, der sich in dieser Zeit zusammen mit den anderen Räten in Eilenburg aufhielt, 231 leitete das Schreiben Beyers am 2. Februar an den Kurfürsten weiter232 und empfing Beyer am selben Tag in Eilenburg zu einer ersten Unterredung. 233 229 Zur Herstellung eines die ganze Stadt mit ihren unterschiedlichen Rechtsbereichen umfassenden Liturgiesystems vgl. Kap. I.2., S. 100–102. 230 Christian Beyer an Hugold von Einsiedel, 25. Januar 1525, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 174–175. 231 Dieses belegt Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 125, Anm. 2, anhand von Rechnungen des Hofes, aus denen hervorgeht, dass vom 1. Mai 1521 bis zum 1. Mai 1522 das „Lager“ der kurfürstlichen Räte in Eilenburg war. Daraus wird auch deutlich, warum die folgenden Verhandlungen der Wittenberger mit den Räten jeweils in Eilenburg stattfanden. 232 Hugold von Einsiedel: „Was jch meinem gnedigsten Hern sontag vnser liben frawen tag [2. Februar] geschrebenn“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 177. 233 Dieses geht aus den Kämmereirechnungen hervor, in denen eine Entlohnung eines Torknechts verzeichnet ist, der Beyer begleitete, StAW, KR 1521/22, abgedruckt in Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 175.
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Bei dem Gespräch zwischen Beyer und Einsiedel ging es, soweit bekannt, weniger um die Wittenberger Ordnung als um die „vngestümen predigen [sic]“ Andreas Karlstadts und Gabriel Zwillings, die Einsiedel in seinen Aufzeich‑ nungen auch als Ursache für das Gespräch nannte.234 Die Stadtordnung selbst blieb hingegen zunächst unkommentiert. Ergebnis des Gespräches war, dass Beyer zusagte, der Rat werde sich mit dem Problem der Prediger befassen. Zu‑ sätzlich schrieb auch Einsiedel selbst mahnend an Karlstadt und beauftragte Melanchthon mit der Ermahnung Zwillings. 235 Für die folgenden Zusammenhänge sind an diesen ersten Verhandlungen zwischen Beyer und Einsiedel als Vertreter von Stadt und Hof zwei Punkte bemerkenswert: Erstens scheint die wenige Tage zuvor beschlossene Stadtord‑ nung, deren Inhalt sowohl Beyer als auch dem Kurfürsten bereits bekannt war, zunächst keinen Anstoß erregt zu haben. 236 Zweitens wurden hier erstmals Karlstadt und Zwilling als besonders radikale Prediger aus der Gruppe der Wit‑ tenberger Reformer herausgestellt und abgesondert. In der Argumentation gegen die beiden Prediger finden sich bereits hier alle Argumente, die später insbesondere von Luther gebraucht wurden und die schließlich nicht nur zur Vertreibung Karlstadts aus Kursachsen, sondern auch zur Wahrnehmung der Wittenberger Vorgänge als ersten Auswuchs einer neuen reformatorischen Gruppierung führten, nämlich der „radikalen Refor‑ mation“. Ebenso wie später Luther argumentierte Einsiedel bereits zu diesem Zeitpunkt, dass Karlstadt und Zwilling als Prediger nicht ausreichend berufen worden seien, dass ihre Predigten die Gefahr von „auffrur vnnd entberung“ mit sich brachten und dass der „gemein, vnuerstendig mann“ durch die Predigten „geergert vnd nicht gebessert“ werde. Ebenfalls in beiden Briefen sprach Ein‑ siedel den Vorwurf aus, die Prediger handelten eher zur Förderung ihres eige‑ 234 „Item, das jch georsacht auß der ungestumen predigen karlstadt vnd gabriels, noch Doctor cristianus zcuschicken.“ Vgl. Hugold von Einsiedel: „Was jch meinem gnedigsten Hern sontag vnser liben frawen tag [2.°Februar] geschribenn“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 177. 235 Hugold von Einsiedel an Andreas Karlstadt, 3. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wit tenberger Bewegung, S. 177 f.; Ders. an Philipp Melanchthon, 3. Februar 1522, in: Ebd., S. 178–180. Die Begründung, dass er sich nicht direkt an Zwilling, sondern an Melanchthon wandte, liefert Einsiedel in dem Brief selbst: Er sei mit Zwilling nicht bekannt und habe ge‑ hört, dass Zwilling sich derzeit bei Melanchthon aufhalte, vgl. ebd., S. 179. Den Ausschlag hierfür gab möglicherweise auch die höhere soziale Stellung Karlstadts als Archidiakon des Allerheiligenstiftes und Professor der Universität, gegenüber dem Zwilling nur ein einfacher Augustinermönch war. Dieser Unterschied zeigt sich auch in der Formulierung der Brief, so wendete sich Einsiedel an Karlstadt mit wohl erwogener Höflichkeit und formulierte sein Anliegen als eine „freuntlich bitt“, während die Aufforderung an Zwilling eher als eine wohl‑ wollende Ermahnung erscheint. 236 Diese Tatsache bestätigt die von Preuss in seiner Studie der Wittenberger Bewegung getroffene Feststellung, dass das Recht des Rates, eine Stadtordnung zu verabschieden, nor‑ mativ bestand und auch von Seiten des Hofes tatsächlich anerkannt wurde, vgl. Preuss: Carl stadt’s Ordinaciones, S. 40.
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nen Ruhmes als das Heil der Menschen und die Furcht des Wort Gottes zu su‑ chen. 237 Selbst die Wildwuchs- bzw. Unkraut‑Metapher, die später zentral in der Konstruktion der „radikale Reformation“ werden sollte, findet sich bereits hier, wenn Einsiedel sich selbst als jemand beschrieb, „der den Ewangelischen handl auch gern furdert vnd des deuffels samen vnd vnkrauth, der darein ge mengt, nit willig sith auffgehen“. 238 Nachdem Luther schon während des Stu‑ dentenaufruhrs mit ganz ähnlichen Worten das Wirken des Satans zu beobach‑ ten gemeint hatte, zeichnete sich nun eine erneute Abgrenzung der Gruppe der Wittenberger Reformer ab, eine Teilung der Anhänger des Evangeliums in den reinen Weizen und die vom Satan vergiftete Spreu. Die Konzentration auf Karlstadt und Zwilling ging dabei nicht vom Hof aus. Einsiedel reagierte hier vielmehr auf zwei Supplikationen der Stiftsherren und Johann Dölschs, die der Kurfürst kurz zuvor erhalten hatte. 239 Es handelte sich also um die Fortsetzung der Auseinandersetzungen um die Messe, die bereits seit Oktober 1521 zwischen den reformwilligen und reformgegnerischen Theo‑ logen an Universität und Stift stattgefunden hatten. Geändert hatte sich nun aber die Strategie. So waren die Reformgegner von dem Verfassen theologischer Stellungnahmen und Gutachten übergegan‑ gen zum gezielten Vorwurf des Aufruhrs gegen einzelne Prediger. Während der Kurfürst auf erstere jeweils mit dem Hinweis auf sein eigenes Unverständ‑ nis in theologischen Fragen nur beschwichtigend reagiert und eine Einigung der Universität verlangt hatte, so stießen die Reformgegner mit dem Vorwurf des Aufruhrs bei ihm auf offene Ohren, denn die Befürchtung von Unruhen und Aufruhr war in seiner Bewertung von Anfang an zentral. Wie bereits in den Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg fühlte er sich als weltlicher Herrscher für diese Seite der religiösen Konflikte zuständig, so dass die Reformgegner mit dieser Argumentation schließlich Erfolg hatten und ein Eingreifen des Kurfürsten erwirkten. Karlstadt verteidigte sich gegen die Vorwürfe mit dem Argument, er habe nichts als die Heilige Schrift gepredigt, aufgrund seines Amtes im Stift und sei‑ nes Doktorates sei er genügend berufen zu predigen. Auch griff er den Vor‑ wurf des Aufruhrs auf, wies diesen aber von sich und wandte ihn gegen die‑ jenigen, die sich über ihn beschwert hatten: „Got geb, daß meine angeber nit 237
Hugold von Einsiedel an Andreas Karlstadt, 3. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wit‑ tenberger Bewegung, S. 177 f., hier S. 178. 238 Hugold von Einsiedel an Gabriel Zwilling, 3. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 177 f., hier S. 179. 239 Diese Schreiben sind nicht überliefert. Einsiedel erwähnt jedoch später „die supli cacion, Mit welchenn das Capittell vnnd doctor Veldtkirche an Ewr churf. g. gelanget“; weiter heißt es in einem späteren Schreiben des Kurfürsten „So dan doktor Felldtkirch seyn meynung vnnserm gnedigsten herrn auch vbergeben.“, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 176.
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mit der czeit eynen auffrur werden erwecken, der nit gut wirt.“240 Ebenso wie bei den städtischen Konfliktparteien war der Vorwurf der Aufruhrstiftung ge‑ genüber dem Kurfürsten auch zwischen den Theologen ein gegenseitiger. Die‑ ser konzentrierte sich jedoch nun verstärkt auf Karlstadt und Zwilling, so dass diese schließlich unter den Universitätstheologen immer mehr in eine isolierte Stellung gerieten. 241
2.4. Das Eingreifen des Kurfürsten und ein angeblicher Bildersturm: Gab es in Wittenberg Anfang 1522 „Unruhen“? Die neue Stadtordnung hatte damit unter der Regie des Rates einen der beiden wesentlichen Kritikpunkte des Kurfürsten ausräumen können. Mit der Ent‑ scheidung zugunsten der Privatmessen sollte das Stift nun seine Funktion als Ort des Heils zunächst weiterhin ungestört wahrnehmen können. Das zweite wesentliche Problem aber blieb bestehen: Unter den Gelehrten seiner Universi‑ tät, welche eigentlich für die Wahrheitsfindung in geistlichen Belangen zustän‑ dig waren, herrschte noch immer Uneinigkeit, sodass sich weiterhin keine Eini‑ gung zwischen den Gegnern und Befürwortern der Messe abzeichnete. So ließ der Kurfürst schließlich die Vertreter aller maßgeblichen Wittenber‑ ger Akteure von seinen Räten nach Eilenburg einberufen, um dort eine gemein‑ same Einigung zu finden. Zu diesen „Eilenburger Verhandlungen“ erschienen am 13. Februar Vertreter der Universität, des Allerheiligenstiftes und des Wit‑ tenberger Rates, um unter Regie der kurfürstlichen Räte erneut über die stritti‑ gen Fragen der Messreform zu beraten. 242 Das Vorgehen des Kurfürsten, seine Untertanen in Streitfällen durch seine Räte zusammenzurufen, war nicht un‑ gewöhnlich und entsprach seiner bisherigen Regierungspraxis. Auch bei Kon‑ flikten in geistlichen Dingen, welche gerade in Wittenberg in der Vergangenheit häufig vorgekommen waren, hatte der Kurfürst diesen Weg der Streitschlich‑ tung schon früher gewählt und alle Beteiligten durch seine Räte zusammenrufen und anhören lassen, um eine schlichtende Einigung herbeiführen zu können. 243 240 Andreas Karlstadt an Hugold von Einsiedel, 4. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wit‑ tenberger Bewegung, S. 180–181. 241 Vgl. auch Kruse: Universitätstheologie, S. 370 f. Dazu trug sicherlich auch bei, dass Melanchthon sich in seiner Antwort weiter von Zwilling und Karlstadt abgrenzte und damit indirekt den Vorwurf der Reformgegner bestätigte: „Ich khan aber das wasser nicht halden; werde von nodten, das man zu solchen sachen, so der seelen heyl betreffen, ernstlicher thette.“ Melanchthon an Hugold von Einsiedel, 5. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Be‑ wegung, S. 181–182. 242 Instruktion für die Verhandlungen Hugold von Einsiedels, Christian Beyers und der anderen Räte mit den Vertretern der Universität und des Stiftskapitels [spätestens 13. Februar 1522], in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 190–193. 243 Zuletzt bei der Versammlung der Wittenberger Gesamtgemeinde vor dem Schloss, davor bei dem Studentenaufruhr im Sommer 1520. Eine Versammlung von Delegierten be‑
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Der Anlass dieser Verhandlungen war nicht, wie es in der Literatur häufig heißt, der Widerspruch des Kurfürsten gegen die Stadtordnung, sondern die ge‑ nannten beiden Supplikationen der reformgegnerischen Stiftsherren und Johann Dölschs, die sich über die Predigten Karlstadts und Zwillings beschwerten. 244 Gründe waren außerdem die weiterhin bestehende Uneinigkeit der Theologen und die veränderte gottesdienstliche Praxis, die sich in Wittenberg trotz seines Verbotes durchgesetzt hatte. 245 Das Recht des Rates, eine solche Ordnung zu erlassen, stellte der Kurfürst jedoch, obwohl er in verschiedenen Punkten eine nähere Erläuterung verlangte, dabei nicht grundsätzlich in Frage. 246 Darüber hinaus geben die von Einsiedel aufgezeichneten Instruktionen für die Verhandlung auch Aufschluss darüber, wie der Kurfürst die Liturgiereform im Einzelnen beurteilte. Im Mittelpunkt seiner Kritik standen besonders die bereits in den Monaten zuvor beklagte Uneinigkeit der Theologen an Stift und Universität sowie seine Sorge um den Ruf der Wittenberger. Letztere bezog sich hauptsächlich auf den neuen Umgang mit dem Sakrament. Während der Kur‑ fürst in allen anderen Punkten der Liturgiereform nur nach näheren Erläute‑ rungen verlangte, „warumb die annderung jn etlichen stugken nit sein oder sein sollen“, forderte er im Bezug auf die veränderte Abendmahlspraxis nachdrück‑ lich „Das [man] auch vffs aller ordenlichst vnnd Cristlichist [sic] mit dem Sacra ment vmbging, vnnd sunderlich das das Sacrament wurd gereicht vnnd nit ge nomen.“ 247 Das Berühren des Sakramentes, welches auch von den Wittenber‑ ger Laien und Geistlichen in ganz unterschiedlicher Weise wahrgenommen und bewertet wurde, stellte in den Augen des Kurfürsten demnach eindeutig einen Akt der Desakralisierung dar. So war es besonders das „unbedechtig zulauffen zum sakrament“, welches seiner Meinung nach „neben annderm bisher vnge halten form vnnd gebrauch“ 248 dazu führte, „das man gleich schimpfflich von stimmter Konfliktparteien in geistlichen Fragen ist zuletzt aus den Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg aus dem Jahr 1516 bekannt. 244 Diese Supplikationen sollten zu Beginn der Verhandlungen verlesen werden, vgl. [Hu‑ gold von Einsiedel]: Instruktionen Kurfürst Friedrichs für die Verhandlungen Hugold von Einsiedels, Christian Beyers und der anderen Räte mit den Vertretern der Universität und des Stiftskapitels, spätestens 13. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 190–193, hier S. 190. 245 So sollten die Wittenberger an den kurfürstlichen Befehl erinnert werden, dass sie zu‑ nächst keine Neuerungen vornehmen dürften, sondern nur „disputirn, schreiben vnnd pre digen“, ebd. 246 Einsiedel fasste das Ziel des Treffens folgendermaßen zusammen: „Darauff ist zu ar beitten, das sie sich mit einannder vereynten oder genugsam vrsach antzeigen, Warumb die annderung yn etlichen stugken nit sein oder sein sollen.“, ebd., S. 192. 247 Ebd., S. 192. 248 Von diesen anderen Formen und Gebräuchen stellte der Kurfürst die Elevation, auf die man in Wittenberg nun verzichtete, und die nunmehr laut und in deutscher Sprache gespro‑ chenen Konsekrationsworte besonders heraus. Im Gegensatz zur Praxis der Berührung des Sakramentes durch die Laien forderte er hier jedoch nur eine nähere Erläuterung, vgl. ebd., S. 192–193.
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den von Wittenberg redet“.249 Eine solche erwähnte „schimpfliche Rede“ hatte der Kurfürst bereits mehrfach erfahren, besonders war sie ihm durch seinen Vetter und benachbarten Landesfürsten Herzog Georg von Sachsen zugetragen worden. Dieser hatte sich insbesondere gegenüber dem Reichsregiment über die neue Abendmahlspraxis auf kursächsischem Gebiet beschwert und dabei be‑ sonders das Berühren des Sakramentes als Akt der Desakralisierung herausge‑ stellt. 250 Entgegen der Darstellung Friedrichs des Weisen bezogen sich die Be‑ schwerden Herzog Georgs jedoch nicht speziell auf Wittenberg, sondern auf das kursächsische Gebiet im Allgemeinen und die Aktivitäten Gabriel Zwil‑ lings in Eilenburg, das an der Grenze zu seinem eigenen Territorium lag, im Be‑ sonderen. 251 Die Kritik Friedrichs des Weisen an der neuen Gottesdienstpraxis der Wittenberger war auf diese Weise nicht nur durch die Informationen der re‑ formgegnerischen Theologen aus Wittenberg selbst, sondern auch durch die Re‑ aktionen im Nachbarterritorium beeinflusst. Seine besondere Sorge um den Ruf der Wittenberger erklärt sich indes aus der herausgehobenen Stellung seiner Re‑ sidenz Wittenberg als „Hauptstadt“ seines Landes, um deren sakrale Dignität er sich in den vergangenen Jahren besonders bemüht hatte.
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Ebd., S. 191. dem Bericht des Hans von der Planitz’ über die entsprechende Sitzung des Reichsregiments bildeten die Beschwerden über die Abendmahlspraxis den Höhepunkt sei‑ ner Darstellung der Missstände: „das großte were: understunden sich eczliche, under zweiher lei gestalt das heilige sacrament zu entphahen“. Um dieses zu unterstreichen nannte er Ein‑ zelheiten der Abendmahlsfeier Zwillings: Dieser habe das Sakrament in deutscher Sprache geweiht, dabei auf alle liturgische Kleidung verzichtet, für den Wein keinen Kelch benutzt, sondern „2 ubergulten pechern“ und das Sakrament schließlich „den leuten selbst in die hant gegeben, desgleichen die ubergulten kopf, daraus zu trinken“, Hans von der Planitz an Fried‑ rich den Weisen, 16. Januar 1522, in: Hans von der Planitz: Des Kursächsischen Rathes von der Planitz Berichte aus dem Reichsregiment in Nürnberg (1521–1523), hg. v. Ernst Wülker/Hans Virck, Leipzig 1899, S. 67–69, hier S. 67 und S. 68. 251 Gegenüber seinen Söhnen beklagte Herzog Georg zunächst allgemein den „irtumb und misbrauch […] an etlichen orten des furstentumbs Sachsen geschen“, vgl. Georg von Sach‑ sen an seine Söhne Johann d. J. und Friedrich d. J., 25. Dezember 1521, in: Gess (Hg.): Briefe und Aktenstücke, S. 235–237. Den Berichten des kursächsischen Rates Hans von der Planitz zufolge nannte Georg im Reichsregiment zwar nicht ausdrücklich den Namen der Stadt Ei‑ lenburg, sondern sprach nur von einem „namhaftigen Ort“, vgl. Hans von der Planitz an Friedrich den Weisen, 16. Januar 1522, in: Planitz: Berichte, S. 67–69, hier S. 68. Planitz fügte jedoch erklärend hinzu: „domit meinet sein G. Eylebergk“. Zudem hatte Georg kurz vorher in sehr ähnlicher Weise in einem Brief an seine Söhne die Ereignisse in Eilenburg be‑ schrieben und den Ort dabei ausdrücklich benannt: „[…] was sich ein ausgelaufner monch am nechstvergangnen neuenjarstag zu Eyllemburg auf dem sloss […] understanden habe“, vgl. Georg von Sachsen an Johann d. J. und Friedrich d. J., 10. Januar 1522, in: Planitz: Berichte, S. 247. Zur Abendmahlsfeier Gabriel Zwillings in Eilenburg vgl. zuletzt: Volkmar Joestel: Auswirkungen der Wittenberger Bewegung. Das Beispiel Eilenburg, in: Stefan Oehmig (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt, Universität, Reformation. Im Auftrag der Lutherstadt Wittenberg, Weimar 1995, S. 131–142. 250 Nach
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Keine Rede ist in den Beschwerden Herzog Georgs und des Reichsregiments hingegen von einem Bildersturm, der Anfang Februar, also kurz vor den Eilen‑ burger Verhandlungen, durch die Wittenberger Pfarrkirche oder sogar durch mehrere Kirchen „gefegt“ haben soll. 252 Da der Bildersturm in der Reforma‑ tionsforschung auch über Wittenberg hinaus eine Rolle spielt und als seine Hauptquelle dabei jeweils die hier diskutierte Instruktion des Kurfürsten für die Eilenburger Verhandlungen angeführt wird, sollen diese Ereignisse kurz nä‑ her beleuchtet werden. Die viel zitierte Formulierung lautet: „Der bild halben, wu die gleich nit also blutzlich weggebracht, zuhawen vnnd verbrannt, Vnnd, wu die jhenigen, den es zuthun geburtt, gleich willenns weren gewest, die bild auß einem gutten bedengken abzunemen, dennoch solt man solchs offenlich nit außgeschrien haben, auff welchen tag das wergk hett sollen furgenomen werden.“ 253
Wie die Hervorhebungen zeigen, belegt diese Stelle jedoch keinen Bildersturm. Die rätselhaft anmutende Formulierung erhellt sich, wenn man die Instruktion des Kurfürsten, aus der sie stammt, im Zusammenhang der genannten voran‑ gegangenen Verhandlungen betrachtet. Die Antwort des Kurfürsten bezog sich auf das Schreiben Einsiedels und die mitgeschickten, nicht überlieferten Suppli‑ kationen der Stiftsherren und Johann Dölschs, die den Anlass für das Eingrei‑ fen des Kurfürsten geboten und insbesondere den Vorwurf des Aufruhrs an 252 So spricht Barge: Karlstadt, Bd. I, S. 389 von einer „kecken Schar“, die dem Beauf‑ tragten des Magistrats in die Pfarrkirche gefolgt sei: „Wie von elementaren Mächten getrieben drängten andere nach und ein wilder Taumel erfaßte alle“; dagegen sieht Norbert Schnitzler die Täter eher positiv als eine „gut organisierte pressure group“ aus der Gemeinde, welche die Entfernung der Bilder planmäßig und kalkuliert durchgeführt habe, vgl. Norbert Schnitz‑ ler: Wittenberg 1522 – Reformation am Scheideweg?, in: Cécile Dupeux/Peter Jetzler/ Jean Wirth (Hgg.): Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung Bernisches Historisches Museum, Musée de l’æuvre Notre‑Dame, Straßburg/Zürich/Bern 22002, S. 68–74, hier S. 73. Carlos Eire zieht hingegen die von Zwilling geleitete Aktion der Mönche im Augustinerkloster mit dem Bildersturm in der Stadtkirche zusammen: „A band of iconoclasts, reportedly led by the preacher Gabriel Zwilling, pulled down and destroyed many images in Wittenberg“, Carlos Eire: War Against the Idols. The Reformation of Workship from Erasmus to Calvin, Cambridge u.a. 1986, S. 64. Ähnlich spricht Ernst Ull‑ mann: Die Wittenberger Unruhen. Andreas Bodenstein von Karlstadt und die Bilderstürme in Deutschland, in: L’Art et les révolutions, Bd. 4: Les iconoclasmes, Straßburg 1992, S. 117– 126, hier S. 120, von „Tumulten“; Bubenheimer: Scandalum, S. 217, beschreibt eine „ille‑ gale Zusammenrottung“ der Bürger zum Bildersturm. Auch Gottfried Wentz stellte in der Darstellung zur Wittenberger Pfarrkirche in der Reihe „Germania Sacra“ fest, der „Bilder‑ sturm vom 6. Februar 1522“ habe mit der Inneneinrichtung der Pfarrkirche „gründlich aufge‑ räumt“, Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 155. Dagegen konstatierte bisher nur Kruse: Universitätstheologie, S. 369, dass das Ausmaß des Bildersturmes nach Auskunft der vorhan‑ denen Quellen relativ gering gewesen sei und spricht daher im Titel des entsprechenden Ka‑ pitels von „Ansätzen eines Bildersturmes“. 253 Vgl. [Hugold von Einsiedel]: Instruktionen Kurfürst Friedrichs für die Verhandlun‑ gen Hugold von Einsiedels, Christian Beyers und der anderen Räte mit den Vertretern der Universität und des Stiftskapitels, spätestens 13. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenber‑ ger Bewegung, S. 190–193, hier S. 191.
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Zwilling und Karlstadt beinhaltet hatten. Anscheinend hatten sie sich hier auch über einen tumultartigen Umgang mit den Bildern beschwert. 254 Mit diesem Vorwurf hatte sich der Kurfürst an den Wittenberger Rat gewandt, der etwa am 6. Februar einen Boten mit einer Antwort „der bild halben“ zum Kurfürsten nach Allstedt sandte. 255 In seiner Antwort hatte der Rat offensichtlich die Vor‑ würfe der Stiftsherren bestritten, weshalb der Kurfürst in der zitierten Stelle seiner Instruktion einräumte, dass die Bilder eben nicht in einer solchen tumult artigen Weise zerhauen und verbrannt wurden (wie es die Stiftsherren offen‑ sichtlich behauptet hatten). Dennoch wollte er aber die öffentliche Verkündung der geplanten Bilderentfernung durch den Rat kritisieren, welche den „gemeyn Man zu einer auffrur oder hitzigen gemuth hat wollen Reytzen“. 256 Die zitierte Stelle aus der Instruktion bestätigt damit sogar, dass der Kurfürst dem Rat, der den Vorfall bestritt, teilweise Recht gab und nur allgemein, wie bei allen ande‑ ren beschlossenen Neuerungen auch, auf deren Aufruhrpotenzial hinwies. Darüber hinaus weist nur eine einzige zeitgenössische Nachricht auf einen ikonoklastischen Vorfall hin, nämlich eine Notiz aus den Wittenberger Käm‑ mereirechnungen, die besagt, dass der Weißgerber Leonard Knodel vom Rats‑ gericht zu einem Bußgeld von 20 Groschen verurteilt wurde, weil er dort Bilder aus ihren Tafeln gerissen habe. 257 Belegbar ist zudem, dass Knodel kein Einzel‑ täter war, denn gleichzeitig räumten die Wittenberger ein: „etlich seynt entwur den“.258 Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass der „Bildersturm“, so man von einem solchen sprechen möchte, von so geringem Ausmaß war, dass selbst der Kurfürst den Vorfall nur erwähnte, um einzuräumen, dass er hier falsch in‑ formiert war. Die Bedeutung des Bildersturmes ist vielmehr in der späteren Flugschrif‑ tenkontroverse zwischen Luther und Karlstadt über die Bilderfrage zu suchen, in der sich beide Reformatoren auf die Ereignisse in Wittenberg 1522 bezo‑ gen. 259 Den Auftakt zu dieser Kontroverse hatte Karlstadt bereits zum Zeit‑ punkt des angeblichen Bildersturmes gesetzt, indem er am 26. Januar die Flug‑ 254
Zu den Supplikationen vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 176. dieses Schreiben ist nicht überliefert. Müller rekonstruierte jedoch die Absen‑ dung des Schreibens aus einer Notiz über die Entlohnung des Boten in den Wittenberger Kämmereirechnungen, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 185. 256 Vgl. [Hugold von Einsiedel]: Instruktionen Kurfürst Friedrichs für die Verhandlun‑ gen Hugold von Einsiedels, Christian Beyers und der anderen Räte mit den Vertretern der Universität und des Stiftskapitels, spätestens 13. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenber‑ ger Bewegung, S. 190–193, hier S. 191. 257 StAW, KR 1522/23: 20 gr. der weyßgerber, hat auß eigner torst ane bevelh freventlich di bild in der pfarkirchen auß den taffeln gerißen, gedruckt in: Förstemann (Hg.): Mitthei‑ lungen, S. 111. 258 Rat oder Universität Wittenberg an Friedrich den Weisen, Februar 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 194–196, hier S. 195. 259 Vgl. zur Thematisierung des Bildersturmes in der Flugschriftenkontroverse ausführ‑ lich Krentz: Spuren der Erinnerung, S. 581–585. 255 Auch
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schrift „Von der Abthuung der Bilder. Vnnd dass kein Bettler unter den Chris ten sein soll“ veröffentlicht hatte, in welcher nicht nur die Bilderentfernung, sondern auch viele der sozialpolitischen Maßnahmen der Wittenberger Stadt‑ ordnung für ein breites Publikum erläutert wurden. 260 Auch diese Veröffent‑ lichung trug nachträglich dazu bei, die Rolle Karlstadts als Außenseiter weiter zu manifestieren. Im Hinblick auf die unmittelbare Wirkung in Wittenberg ist jedoch aufgrund der genannten Notiz des Kurfürsten und auch der Tatsache, dass das Ereignis in keinem weiteren der zahlreich überlieferten Dokumente der Verhandlungen zwischen Hof und Stadt erwähnt wird, davon auszugehen, dass der „Bildersturm“ zunächst für den weiteren Verlauf der Ereignisse keine Folgen hatte. Ähnliches gilt für das Erscheinen der so genannten „Zwickauer Propheten“ in Wittenberg, das ebenfalls in der Literatur häufig als ein wichtiger Faktor der „Wittenberger Unruhen“ genannt wird. 261 Am 27. Dezember 1521 waren die zwei Tuchmacherknappen Niklaus Storch und Thomas Drechsel und der ehemalige Wittenberger Student Markus Thomae, genannt Stübner, nach Wit‑ tenberg gekommen. Gerade Philipp Melanchthon zeigte sich irritiert von ihren Lehren, besonders von der Ablehnung der Kindertaufe und ihrem Anspruch auf unmittelbare spirituelle Berufung. 262 Melanchthon und Nikolaus von Ams‑ dorf schrieben noch am selben Tag an den Kurfürsten, wobei Melanchthon um die Rückkehr Luthers zur Klärung der Lehrfragen bat und Amsdorf seine Be‑ fürchtung äußerte, die Männer könnten auch in Wittenberg Aufruhr verursa‑ chen, wie sie es in Zwickau schon getan hatten. 263 Der Kurfürst wies dieses An‑ liegen jedoch zurück und zeigte sich vielmehr verständnislos, dass man ihm eine so unbedeutende Sache vorbrachte. 264 Auch der sonst notorisch Aufruhr fürchtende Kurfürst sah also in den „Zwickauer Propheten“ damals keine Ge‑ fahr. Ihr Einfluss war in Wittenberg wohl auf den engeren Kreis der Universi‑ 260 Andreas Karl s tadt: Von Abtuung der Bilder. Und dass kein Bettler unter den Christen sein soll, in: Adolf Laube/Sigrid Looss/Annerose Schneider (Hgg.): Flug‑ schriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), Bd. 2, Vaduz 1983, S. 105–127. 261 Vgl. Kaufmann: Thomas Müntzer, S. 80 ff.; Kruse: Universitätstheologie, S. 360 f. 262 Philipp Melanchthon an Friedrich den Weisen, 27. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 129; Philipp Melanchthon an Georg Spalatin, 27. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 130. 263 Das Schreiben Amsdorfs ist wiedergegeben in den protokollarischen Aufzeichnungen Spalatins, 2. Januar 1522 [oder gleich danach], in: Müller: Wittenberger Bewegung, S. 137– 145. 264 Diese Antwort des Kurfürsten überbrachten die kurfürstlichen Räte bei einem Tref‑ fen mit Melanchthon und Amsdorf: „Weil dan sein C.G. aus iren schrifftlichen berichten nicht vermercken, das die vrsachen, so sie zu solchem schreiben hetten bewegt, so groß vnd darnach weren, Derhalben hett sein C.G. dess beschwerung, das sie die sach auf sein C.G. schieben wolten.“ Protokollarische Aufzeichnungen Spalatins über das Treffen mit den kurfürstlichen Räten Einsiedel und Spalatin, 2. Januar 1522 [oder gleich danach], in: Müller (Hg.): Witten‑ berger Bewegung, S. 137–145, hier S. 141.
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tätstheologen begrenzt, es gibt hier keinen Hinweis darauf, dass sie in der Stadt überhaupt wahrgenommen wurden. Zu dem befürchteten Aufruhr kam es je‑ denfalls nicht und auch für die verunsicherten Theologen löste sich das Pro‑ blem zunächst, da zwei der drei Zwickauer die Stadt bei der Rückkehr Melanch‑ thons und Amsdorfs von dem Treffen mit den kurfürstlichen Räten bereits wie‑ der verlassen hatten. Der Verlauf der Verhandlungen in Eilenburg am 13. Februar 1522 ist aus pro‑ tokollarischen Aufzeichnungen Einsiedels sowie den Stellungnahmen der ein‑ zelnen Akteure und dem Abschlussbericht an den Kurfürsten rekonstruierbar. Deutlich wird hier, dass sich Reformgegner und Reformbefürworter weiterhin gegenseitig der Anstiftung zum Aufruhr beschuldigten. Fortgesetzt wurde da‑ bei die mit den Supplikationen der Stiftsherren begonnene Tendenz, diesen Vor‑ wurf auf Karlstadt und Zwilling zu konzentrieren. Dieses ging nun nicht mehr nur von den reformgegnerischen Stiftsherren aus, sondern wurde auch vom Rat vertreten. 265 Insofern ist die Formulierung, Karlstadt und Zwilling seien zu „Sündenböcken“ gemacht worden, sicherlich nicht unzutreffend. 266 Während in der Außenwahrnehmung durch Herzog Georg und das Reichsregiment die Wittenberger Ereignisse insgesamt nur marginal und als eine Folge der Lehren Luthers und im Zusammenhang der allgemeinen Reformation in Sachsen wahr‑ genommen wurden, spitzte sich innerhalb Wittenbergs die bereits in den Wo‑ chen zuvor begonnene Konzentration auf Karlstadt und Zwilling weiter zu. 267 Das Ergebnis der Verhandlungen wurde noch am selben Tag von den kur‑ fürstlichen Räten als „Abschied“ den Vertretern von Universität und Stiftska‑ pitel übergeben sowie unter dem Titel „Wittenbergische Ordnung“ an den Kur265 Aus den Aufzeichnungen Einsiedels geht hervor, dass die kurfürstlichen Räte das Ar‑ gument des Stadtrates, eine neue Ordnung sei um der Einheitlichkeit willen notwendig ge‑ wesen, nicht mehr gelten lassen wollten, da die Uneinheitlichkeit ja erst durch die Prediger zustande gekommen sei, so dass sich für den Rat eine Distanzierung von den Predigern gera‑ dezu anbot, vgl. Hugold von Einsiedel an Friedrich den Weisen, 14. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 203–206, hier S. 205. 266 Preus: Carlstadt’s Ordinaciones, S. 41; weiterführend: Kruse: Universitätstheologie, S. 170 f. 267 Melanchthon war es unterdessen gelungen, sich vom Vorwurf des Aufruhrs zu distan‑ zieren: Hatte er sich noch im Herbst entschieden für eine sofortige Umsetzungen der Messre‑ form ausgesprochen, so vertrat er nun die Position, mit den Reformen noch zu warten. Karl stadt und Melanchthon hatten damit ihre Positionen sozusagen „getauscht“, so Kruse: Uni‑ versitätstheologie, S. 383. Zur Frage, ob diese Entwicklung der Position Melanchthons dabei als theologisch stringent anzusehen ist vgl. Simon: Messopfertheologie, S. 476 f. Der Kurfürst vertraute dem Urteil Melanchthons im Februar 1522 vollständig und wies seine Räte vor den Eilenburger Verhandlungen eigens an, dessen Meinung einzuholen: „Es ist auch gut, Philli pus [sic] zuuorn auff diese sach werd gefragt, wie es jm doch allenthalb gefall“, [Hugold von Einsiedel]: Instruktionen Kurfürst Friedrichs für die Verhandlungen Hugold von Einsiedels, Christian Beyers und der anderen Räte mit den Vertretern der Universität und des Stiftska‑ pitels, spätestens 13. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 190–193, hier S. 192.
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fürsten geschickt. 268 Trotz großer Kontroversen unter den Theologen gelang es mit dieser Ordnung, einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Posi‑ tionen zu schaffen. Von den liturgischen Reformmaßnahmen wurde beibehal‑ ten, dass der Kanon und die Elevation der Hostie weiterhin ausgelassen wer‑ den sollte, womit die in der theologischen Diskussion zentralen Hinweise auf das Messopfer weiterhin vermieden wurden. Ebenfalls konnten die Reformer durchsetzen, dass die Konsekrationsworte laut und deutsch gesprochen werden sollten, womit der stärkste Hinweis auf das veränderte Abendmahlsverständ‑ nis bestehen blieb. Andererseits sollte den Vorgaben des Kurfürsten nach die Handkommunion und damit das Berühren des Sakramentes durch die Laien vollständig unter‑ sagt werden. Dieses lief den Prinzipien des Rates nicht zuwider: Die Abend‑ mahlspraxis wurde so zwar mit Rücksicht auf die Außenwahrnehmung der Wittenberger wiederum verändert, blieb aber dennoch einheitlich. Neben der Reichung des Sakramentes durch den Priester sollten auch die Fastengesetze wieder eingeführt werden, womit man einen weiteren Punkt aufgriff, der als Akt der Desakralisierung und damit als besonders provozierend empfunden worden war. 269 Mit dem Bemühen, die theologisch unbedingt notwendig er‑ scheinenden Reformen durchzuführen und gleichzeitig alles zu vermeiden, was außerhalb Wittenbergs Anstoß erregte, hatte die Ordnung damit einen stärke‑ ren Kompromisscharakter als die ursprünglich vom Rat beschlossene Version. Insgesamt wurden jedoch gegenüber der Ordnung vom 20. Januar nur wenige Veränderungen vorgenommen, so dass sich die Frage nach der Funktion der Ei‑ lenburger Verhandlungen stellt: Wenn der Kurfürst das Recht der Wittenber‑ ger, eine eigene Stadtordnung zu erlassen, nicht in Frage stellte und zugleich an deren Inhalt nur geringfügige Veränderungen vornehmen wollte, warum war eine aufwändige und langwierige Versammlung der Wittenberger durch meh‑ rere kurfürstliche Räte in Eilenburg nötig? In der Literatur wird diese Frage zumeist damit beantwortet, dass es dem Kurfürsten auf diese Weise gelang, die Ordnung in der Stadt wiederherzustel‑ len: Nachdem der Rat unter dem Druck der Gemeinde in „illegaler“ Weise eine neue Ordnung erlassen hatte und die Situation durch den Bildersturm vollends in Aufruhr und Revolution zu entgleiten drohte, sei es dem Kurfürsten schließ‑ lich in Eilenburg gelungen, Recht und Ordnung in Wittenberg wiederherzustel‑ len. 270 Der Erlass der Ordnung durch den Rat wurde so im Zusammenhang mit 268 Der „Abschied“ für Universität und Stiftskapitel ist abgedruckt in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 201–202; die an den Kurfürsten gesendete Version findet sich ebd., S. 202–203. 269 So hatten die Stiftsherren über die Weihnachtsmesse Karlstadts berichtet, viele Men‑ schen hätten nach Aufforderung Karlstadts vor dem Abendmahl gegessen und getrunken, möglicherweise sogar Branntwein, vgl. oben, S. 166. 270 Vgl. Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 448: „Hinter der Kirchenordnung stand das
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dem aus den Forschungen zu nordwestdeutschen Landstädten übernommenen Muster interpretiert, nach welchem die reformatorischen Forderungen ein „kon‑ geniales Instrument des Rates zur Durchsetzung seiner Freiheitsinteressen“ (Schilling) darstellten. Wie oben beschrieben, waren die Emanzipationsbestre‑ bungen des Rates in Wittenberg in dieser Zeit jedoch bereits seit langer Zeit abge‑ schlossen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Eilenburger Verhandlun‑ gen und die Reaktion des Kurfürsten interpretiert. Da der Rat nach dem Rats‑ wechsel271 im Februar 1522 nun „fürstenfreundlicher“ geworden sei und keine städtischen Autonomiebestrebungen mehr verfolgt habe, sei eine Einigung in Ei‑ lenburg überhaupt erst ermöglicht worden. Daher habe der Kurfürst hier auch nur eine Bestrafung der Prediger angeordnet und den Rat verschont. 272 Dem Kurfürsten sei es so mit Hilfe des neuen Rates und Bürgermeisters bei den Ei‑ lenburger Verhandlungen gelungen, die „Wittenberger Szene“ zu beruhigen. 273 Mit dieser These widersprachen neuere, stärker sozialgeschichtlich ausge‑ richtete Studien der älteren Forschungsmeinung, erst Luther habe mit den In‑ vokavitpredigten Recht und Ordnung wieder hergestellt. 274 Doch auch gegen die neuere sozialgeschichtliche Interpretation, die auf dem Modell der zünfti‑ schen Ratsopposition beruht, sprechen einige gewichtige Gründe. So wurde die Wittenberger Ordnung, wie alle wichtigen Entscheidungen, vom Gesamtrat, also von allen drei Räten gemeinsam beschlossen, so dass es hier zunächst keine Rolle spielte, welcher der drei Räte an der Regierung war. Der im Februar neu eingesetzte Rat war also ebenso wie der alte Rat an der Verabschiedung der Wit‑ tenberger Ordnung beteiligt. Auch findet sich in den Protokollen der Eilenbur‑ ger Verhandlungen kein Hinweis darauf, dass der neue Rat oder Bürgermeister sich von der Ordnung distanziert hätte. Schließlich wurde auch an dem Inhalt der Ordnung selbst, wie oben gezeigt, in Eilenburg nur wenig verändert, so dass von einer radikaleren Ordnung des Rates, der eine gemäßigte, fürstenfreund‑ lichere Ordnung entgegengesetzt wurde, keine Rede sein kann. Im Gegenteil Bestreben, die wilde Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken. Vom Hofe aus ließ man nichts unversucht, um zu Ruhe und Ordnung zu führen.“ 271 Anfang Februar 1522 fand in Wittenberg wie in jedem Jahr ein Ratswechsel statt, bei dem ein anderer der drei Räte zum „regierenden Rat“ wurde und auch das Amt des Bürger‑ meisters auf ein Mitglied dieses neuen Rates überging. Im Februar 1522 wurde auf diese Weise der kurfürstliche Rat Christian Beyer zum regierenden Bürgermeister Wittenbergs. 272 Vgl. Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 111: „Der Wittenberger Rat wird nicht zum Exekutionsobjekt landesherrlicher Strafmaßnahmen!“ 273 Besonders betont bei Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 110, ähnlich bereits bei Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 181; auch Kruse: Universitätstheologie, S. 371 sieht die Wittenberger Situation bereits vor Luthers Rückkehr als beruhigt an, führt dieses jedoch nicht primär auf das Eingreifen des Kurfürsten, sondern allgemein auf die Wittenberger Stadtordnung zurück. 274 Vgl. Goertz: Pfaffenhaß, S. 98; Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 67; ähnlich bereits bei Barge: Karlstadt, Bd. II, S. 480, der das Eingreifen Luthers allerdings negativ beurteilt und diesen als „Exekutor“ einer „katholisch‑kirchlichen Reaktion“ darstellt.
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wurden gerade die Punkte, welche eine Kompetenzerweiterung des Rates mit sich brachten, wie etwa die Einziehung des Kirchengutes, die in den Forschun‑ gen zu anderen Städten als Beleg für die Autonomiebestrebungen des Rates vom Kurfürsten angeführt wurden, durch den Kurfürsten überhaupt nicht in Frage gestellt. Auch dieses Interpretationsmodell erscheint also fragwürdig. Warum lud der Kurfürst nun die Wittenberger zu aufwändigen Verhand‑ lungen nach Eilenburg und erließ eine neue, eigene Ordnung, die nur weni‑ ges veränderte? Vor dem Hintergrund der oben genannten Beobachtungen zu den Eilenburger Verhandlungen und zum Bildersturm ist hier zur Beant‑ wortung dieser Frage von anderen Voraussetzungen auszugehen. Während die entscheidende Frage in der Literatur bislang lautete, wer in Wittenberg Recht und Ordnung wiederherstellte, soll hier die These vertreten werden, dass es in Wittenberg zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine wesentliche Unordnung gab, deren Beseitigung so dringend notwendig gewesen wäre. Die Eilenbur‑ ger Verhandlungen und die Neufassung der Ordnung hatten vielmehr vor‑ nehmlich eine symbolische Funktion und zwar eine doppelte. Erstens ging es um die Darstellung und Behauptung des grundsätzlichen Anspruchs des Kur‑ fürsten, für eine solche Ordnung verantwortlich zu sein. So hatte der Witten‑ berger Rat zwar das Recht, eine Stadtordnung zu beschließen, was der frü‑ heren Praxis entsprach und vom Landesherrn auch in diesem Fall anerkannt wurde. Indem die Wittenberger durch die kurfürstlichen Räte nach Eilenburg zitiert wurden, demonstrierte der Kurfürst jedoch seinen Anspruch, auf die Verhandlungen Einfluss zu nehmen und die Ordnung zu billigen. Die Haupt‑ funktion der Eilenburger Verhandlungen kann damit in der landesherrlichen Machtdemonstration und ‑behauptung gesehen werden. Mit diesem demon strativen Akt der „Wiederherstellung der Ordnung“ gelang es dem Kurfürsten hier, ebenso wie Luther es nur wenige Wochen später in den „Invokavitpredig‑ ten“ tat, seinen Anspruch der Mitwirkung an einer solchen Ordnung oder, all‑ gemeiner formuliert, der Ausübung von Definitionsmacht in geistlichen Belan‑ gen durchzusetzen. Dass dieser Anspruch verhandelbar war und der ständigen Aktualisierung in der Praxis bedurfte, hatte der Machtverlust des Bischofs von Brandenburg gezeigt, dem eben solche symbolisch‑demonstrativen Akte der Machtausübung in geistlichen Dingen immer weniger gelungen waren. Eine solche Hervorhebung des kurfürstlichen Machtanspruchs erschien gerade an‑ gesichts der vermehrten Hinweise auf das Aufruhrpotential in der Stadt beson‑ ders notwendig. Darüber hinaus dienten die Verhandlungen und die neue Ordnung zweitens der Integration der unterschiedlichen theologischen Positionen an der Univer‑ sität. Indem der Kurfürst die Gegner und Befürworter der Messreform an den Verhandlungen teilnehmen ließ, verpflichtete er beide Gruppen gleichermaßen auf das Ergebnis. Damit gelang es dem Kurfürsten auch das zweite Hauptpro‑ blem an den Streitigkeiten über die Messe, nämlich die Uneinigkeit der Univer‑
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sität, zu lösen und damit das in den letzten Jahren etablierte sensible Gleichge‑ wicht in der Stadt wiederherzustellen. Auch wenn das Ergebnis der Ordnung bis auf die wenigen genannten Punkte im Wesentlichen der bereits durch den Rat und die Wittenberger Theologen beschlossenen Fassung entsprach, war es ihm damit gelungen, nach innen, d.h. vor den Wittenbergern, seinen Ein‑ fluss auch in geistlichen Dingen zu demonstrieren und zugleich durch die Ein‑ beziehung von Gegnern und Befürwortern der Reformen unter den Universi‑ tätstheologen die Einigkeit der Universität als Ort der Wahrheit wiederherzu‑ stellen. Entscheidungen in geistlichen Dingen, so demonstrierte der Kurfürst hier erneut, wurden in Wittenberg – wie schon in vielen Fällen zuvor – erstens durch den Rat der Stadt, zweitens auf Befehl und mit Billigung des Kurfürsten und drittens nach Maßgabe des Ratschlages der gelehrten Universitätstheolo‑ gen durchgeführt.
2.5. Distanzierung des Kurfürsten von der Liturgiereform nach außen Umgekehrt verhielt es sich hingegen mit der Demonstration seines Einflusses auf die Wittenberger Situation nach außen. Während der Kurfürst gegenüber den Wittenbergern gerade seine Einflussnahme verdeutlichte, so musste er nach außen mit Rücksicht auf die reichspolitische Situation demonstrieren, dass die reformatorischen Neuerungen ohne sein Wissen und gegen seinen Befehl statt‑ gefunden hatten. Der Grund dafür war, dass sich der Druck der Reichspolitik, unter dem der Kurfürst grundsätzlich seit dem Erlass des Wormser Ediktes stand, seit Anfang des Jahres 1522 zunehmend verschärfte. Nachdem Herzog Georg von Sachsen in persönlichen Briefen seit Monaten ein Eingreifen Friedrichs gegen die reli‑ giösen Missstände auf kursächsischem Gebiet angemahnt hatte, erhielt diese Forderung nun rechtliche Verbindlichkeit. Am 20. Januar 1522 ging von dem mit der Durchsetzung des Wormser Ediktes beauftragten Reichsregiment ein Erlass aus, 275 welcher die reformatorischen Neuerungen auf kursächsischem Gebiet anprangerte. 276 Eine unmittelbare Folge für Friedrich den Weisen war 275 Der Bearbeiter der Reichstagsakten Adolph Wrede weist darauf hin, dass es sich hier‑ bei um einen „Erlass“ und nicht um ein formelles „Mandat“ handelte, da dieser „nicht im Na‑ men des Kaisers und unter dem Siegel des Regiments, sondern im Namen des Regiments und besiegelt vom Statthalter und dem Kurfürsten von der Pfalz“ erging, vgl. Adolph Wrede: Einleitung. Die Anfänge des Regiments, in: Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, hg. von der Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 3: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., bearbeitet von Adolph Wrede, Gotha 1901, S. 1–36, hier: S. 19. 276 Der Erlass des Reichsregimentes war jedoch deutlich milder formuliert, als Her‑ zog Georg gefordert hatte: So ist zwar von Verstößen „wider langhergebrachte ordnung der
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die Ankündigung des Bischofs von Meißen, zur Durchsetzung der Forderun‑ gen des Mandates eine Visitation durchzuführen, für die er von Friedrich dem Weisen „gnedigen beistand, hulf und rat“ erbat. 277 Dass Friedrich der Weise sich dadurch unter Druck gesetzt fühlte, zeigt seine Reaktion gegenüber sei‑ nem Rat Einsiedel, den er in dieser Sache beauftragte: „wir besorgen, man were uns gerne zu. Der man zu Nürenberg 278 feihert nicht.“ 279 Die Anweisungen an Einsiedel, der die Visitation des Bischofs offiziell unterstützend begleiten, tat‑ sächlich aber vielmehr überwachen sollte, waren kennzeichnend für das reli‑ gionspolitische Vorgehen des Kurfürsten in der folgenden Zeit: Einsiedel sollte darauf achten, dass bei der Visitation nicht der Eindruck entstehe, dass wider‑ spenstige Pfarrer auf die Unterstützung des Kurfürsten vertrauen könnten. Zu‑ gleich sollte eine Bestrafung der Pfarrer durch den Bischof jedoch verhindert werden. 280 Die Verhinderung der Einflussnahme der Bischöfe auf kursächsi‑ sches Gebiet entsprach seiner Vorgehensweise der vergangenen Jahrzehnte, die in der Forschung als „vorreformatorisches landesherrliches Kirchenregiment“ bezeichnet wurde. 281 Diese Politik Friedrichs des Weisen war, wie im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt, im Bezug auf seine neue Residenzstadt Wittenberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts besonders ausgeprägt, doch auch hier hatte er sich christlichen kirchen“, von „neuigkeit und vorkehrte[m] gebrauch“, sowie von „neuerungen und misbrauchen“ die Rede, jedoch nicht von Ketzerei. Den Ketzereivorwurf hatte der kur‑ sächsische Beauftragte Hans von der Planitz erfolgreich abwehren können. Indem man die kritisierten Punkte nur als Verstöße gegen Ordnung und Herkommen bewertete, nicht aber als Ketzerei, wurde auf eine Bewertung nach theologischen Maßstäben verzichtet. Damit ging das Mandat des Regiments weniger weit als das Wormser Edikt, denn die theologische Bewertung der ersten praktischen Umsetzungen der neuen Lehre wurde so wieder offen ge‑ lassen, vgl. Eike Wolgast: Die deutschen Territorialfürsten und die frühe Reformation, in: Bernd Moeller (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaft‑ liches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998, S. 407–434, hier S. 415. 277 Johann von Meißen an Friedrich den Weisen, 7. Februar 1522, in: Karl Pallas (Hg.): Briefe und Akten zur Visitationsreise des Bischofs Johannes VII. von Meißen im Kurfürsten‑ tum Sachsen 1522, in: Archiv für Reformationsgeschichte 19, 3 (1908), S. 217–312, Zitat S. 242. 278 Gemeint ist hier Georg von Sachsen, der sich beim Reichsregiment in Nürnberg auf‑ hielt. 279 Friedrich der Weise an Hugold von Einsiedel, 12. Februar 1522, in: Pallas (Hg.): Vi‑ sitationsreise, S. 245. 280 Friedrich der Weise an Hugold von Einsiedel, 13. Februar 1522, in: Pallas (Hg.): Vi‑ sitationsreise, S. 245 f. 281 Eine solche Tendenz findet sich auch allgemein bei spätmittelalterlichen Reichsfürs‑ ten, noch stärker als bei Friedrich dem Weisen etwa bei Georg von Sachsen, der weitaus ak‑ tiver als sein Vetter Entscheidungen in religiösen Belangen traf. Vgl. dazu vergleichend, mit Schwerpunkt auf Georg von Sachsen: Christoph Volkmar/Enno Bünz: Das landesherr‑ liche Kirchenregiment in Sachsen vor der Reformation, in: Enno Bünz (Hg.): Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 2005, S. 89– 110; ausführlich zu Georg von Sachsen: Volkmar: Reform statt Reformation. Vergleichend, mit Schwerpunkt auf Friedrich dem Weisen: Kirn: Friedrich der Weise.
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stets an seine Maxime gehalten, als Laie keine eigenen Entscheidungen in Glau‑ bensfragen zu treffen. Gegenüber dem Bischof von Meißen und kurze Zeit spä‑ ter ebenso gegenüber dem von Merseburg282 musste der Kurfürst seine Abwehr des bischöflichen Einflusses nun so unauffällig fortsetzen, dass diese vor dem Reich nicht als Verhinderung der Durchsetzung des Wormser Ediktes und des Reichsregimentsmandates ausgelegt werden konnte. Entsprechend verhielt sich Friedrich der Weise auch im Hinblick auf die Wit‑ tenberger Stadtordnung, deren geänderte Fassung ihm nach den Eilenburger Verhandlungen von Einsiedel vorgelegt wurde. Ebenso wie in den Bistümern Meißen und Merseburg wählte er auch hier eine differenzierte Strategie, in‑ dem er die Ordnung zwar nicht untersagte, jedoch nach außen hin betonte, dass diese ohne Billigung des Hofes zustande gekommen war. Als Grund für diese Vorgehensweise nannte der Kurfürst ausdrücklich die reichspolitische Situation und antwortete Einsiedel: „du hast zu bedencken, zu was aufflegung solchs vns gereichen mocht; dan du sihest, wie das Regiment vnd bischoff bey vns suchen thun“.283
Ebenso wie bei den bischöflichen Visitationen sollte auch hier nicht der Ein‑ druck entstehen, die reformatorischen Neuerungen seien mit Billigung des Ho‑ fes entstanden. Daher schrieb der Kurfürst erst jetzt, fast einen Monat nach dem Beschluss der Stadtordnung vom 20. Januar durch den Wittenberger Rat, an Einsiedel: „Das sie sich aber vnderstanden, ein ordnung zu machen […] achten wir bey vns, das sich in dem von jnen zu vil vnderstanden, das wir auch mit beswertem gemuet gehort“. 284
Damit distanzierte er sich von der Ordnung, deren Billigung durch den Hof gegenüber den Wittenbergern als Akt landesherrlicher Herrschaftsausübung betont, nach außen hingegen mit Blick auf die reichspolitische Situation ver‑ schwiegen werden sollte. Das Votum des Kurfürsten gegen die Ordnung ist da‑ mit nicht als Protest des Kurfürsten gegen eine unrechtmäßige Kompetenzüber‑ schreitung des Rates zu sehen. 285 Gegen die Ordnung selbst hatte der Kurfürst
282 Dieser kündigte wenig später ebenfalls eine Visitation an, vgl. zu dieser: Karl Pal‑ las: Die Versuche des Bischofs Adolfs von Merseburg, den kirchlichen Neuerungen inner‑ halb seiner Diözese entgegenzutreten, und das Verhalten des Kurfürsten Friedrichs des Wei‑ sen und seines Bruders Herzog Johann dazu, 1522–1525, in: Zeitschrift des Vereins für Kir‑ chengeschichte Sachsens 23 (1927), S. 1–54. 283 Friedrich der Weise an Hugold von Einsiedel, 17. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 206–208, hier: S. 208. 284 Friedrich der Weise an Hugold von Einsiedel, 17. Februar 1522, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 206–208, hier: S. 207. 285 So die in der Literatur weit verbreitete Interpretation, vgl. etwa: Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 181; Leppin: Martin Luther, S. 200; anders: Oehmig: Wittenberger Be‑ wegung, S. 110 und Kruse: Universitätstheologie, S. 373.
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so, obwohl er durch den Rat der Stadt sofort informiert worden war, bislang nicht widersprochen, sondern nur weiterhin darauf gedrängt, dass diese einen Konsens unter den Wittenberger Akteuren von Stift und Universität widerspie‑ gelte und unter Beteiligung der kurfürstlichen Räte entstand. Beides leisteten die Eilenburger Verhandlungen, die zwar inhaltlich wenig an der Ordnung än‑ derten, jedoch alle Akteure in den Entscheidungsprozess mit einbezogen, diese verbindlich an das Ergebnis banden und zugleich durch die Beteiligung der Räte den kurfürstlichen Herrschaftsanspruch demonstrierten. Ob diese Politik aus einer persönlichen Hinwendung des Kurfürsten zur Re‑ formation resultierte, bleibt weiterhin zu bezweifeln. 286 Der Prozess der Eini‑ gung und Durchsetzung unter den Wittenberger Theologen war noch nicht so weit fortgeschritten, dass es ein klares Bekenntnis gegeben hätte, dem der Kur‑ fürst sich hätte zuwenden können. Worin die evangelische Wahrheit bestand, war auch intern noch nicht entschieden. In dieser Phase galt es für den Kurfürs‑ ten zunächst, den Prozess der Wahrheitsfindung in der eigenen Hand, das heißt bei den Theologen seiner Universität, zu behalten. Diese Vorgehensweise ent‑ sprach seiner langjährigen Politik gegenüber dem Bischof von Brandenburg und galt unabhängig von seiner der persönlichen Stellung in theologischen Sachfra‑ gen. Im Gegenteil lehnte er in solchen Fragen eine eigene Stellungnahme ka‑ tegorisch ab, was ebenfalls eine langjährige Kontinuität seiner Politik bildete und sie etwa von der seines Vetters Georg von Sachsen unterschied. 287 Ent‑ scheidungen in geistlichen Dingen hatten in den vergangenen Jahren auf sei‑ nen Befehl die Gelehrten der Wittenberger Universität getroffen, was in den letzten Monaten aufgrund des anhaltenden internen Dissenses unmöglich ge‑ worden war. Diesen Konsens zumindest temporär wiederherzustellen, war nun mit der Versammlung der Wittenberger in Eilenburg gelungen, indem man alle maßgeblichen Akteure in den Entscheidungsprozess mit einbezogen hatte. Ver‑ lierer dieses Einigungsprozesses waren indes die Prediger Karlstadt und Zwil‑ ling. Hatten sich in den innerstädtischen Konflikten grundsätzlich die gegneri‑ schen Gruppen gegenseitig den Vorwurf des Aufruhrs zugeschoben, wie es zu‑ nächst zwischen Universität und Rat und später zwischen Reformgegnern und Reformbefürworten an Universität und Stift geschehen war, so konzentrierte
286 In dieser Weise stellte Spalatin die Politik des Kurfürsten gegen die auswärtigen Bi‑ schöfe für die Nachwelt dar: „Hertzog Friedrich hielt sich aber aus Gottes gnaden alßo mit Christlichem glimpf, auf das er nye zcu keynem Schurgen an keyner geistlichen person wurd. Vnd sonderlich randten sich die starcken Helden, Meintz oder Magdaburg, Meissen oder Mersburg oben genant ser matt an ihm ab, das sie letztlich daheim bleiben.“ Ernst Salo‑ mon Cyprian (Hg.): Georgii Spalatini Annales Reformationis Oder Jahr-Bücher von der Reformation Lutheri, Leipzig 1718, S. 37; Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 480, folgt dieser Interpretation Spalatins. Eine differenziertere Darstellung bietet Kirn: Friedrich der Weise, S. 143–147 und S. 164–177. 287 Vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 125–129.
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sich dieser Vorwurf nun nach der Einigung in Eilenburg, allein auf diese bei‑ den Prediger und wurde in dieser Weise schließlich auch vom Kurfürsten auf‑ gegriffen. 288
288 Zu ähnlichen Schlüssen kommt Kruse: Universitätstheologie, S. 370, der die Bedeu‑ tung des „Bildersturmes“ für die Gruppe der Reformer darin sieht, dass hier durch den kur‑ fürstlichen Hof „erstmals ein Deutungsmodell vertreten [wurde], das in den einzelnen Predi‑ gern die Verantwortlichen für diese negativ qualifizierten Ereignisse sah.“
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3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg als Abgrenzung gegen die „Radikalen“ Die Veränderung der kirchlichen Rituale in Wittenberg wurde von Melanch thon in seinem Vorwort zum zweiten Band der lateinischen Schriften Luthers im Jahr 1546, kurz nach dessen Tod, folgendermaßen charakterisiert: „Nec Lutherus tunc in ritibus quidquam mutabat, imo tetricus disciplinae custos inter suos erat, nec miscuerat aliquid opinionum horridiorum. […] Ritus non mutavit ipse, sed eo ab sente Carolostadius et alii ritus mutarunt. Cumque quaedam tumultiosus fecisset Caro lostadius, rediens Lutherus, qui probaret aut non probaret, editis suae sententiae perspicuis testimoniis declaravit.“ 289
Melanchthon nutzte dieses Vorwort für eine rückblickende Würdigung des Le‑ bens und Wirkens des Reformators, um damit gleichzeitig die Relevanz von dessen soeben edierten Werken herauszustellen. 290 Dabei nannte er mehrere Punkte, die charakteristisch für die Wahrnehmung der reformatorischen Ver‑ änderung kirchlicher Riten wurden: Die Identifizierung von (vorschnellem) Ri‑ tualwandel mit Aufruhr und Unruhen, besonders auch mit der Person Andreas Karlstadts, und die Distanzierung Luthers von solchen Bestrebungen. Melanch‑ thon spielte hier auf die im vorherigen Kapitel diskutierten Veränderungen der Liturgie in Wittenberg und auf Luthers Reaktion nach seiner Rückkehr von der Wartburg an. Bekanntlich hat Luther sich tatsächlich von der Kanzel über die 289 Philipp Melanchthon: „Prefatio Melanchthonis in Tomum secundum omnium ope rum Reverendi Domini Lutheri, Doctoris Theologiae etc. […]“, 1. Juni 1546, in: Carl Gott lieb Brettschneider (Hg.): Corpus Reformatorum. Philippi Melanchthonis Opera, quae supersunt omnia, Bd. 6, Halle 1839 (fortan zitiert als CR), Sp. 155–170, hier Sp. 161–164. „Er änderte damals nichts an den Riten, im Gegenteil war er ein strenger Hüter der Zucht unter den Seinen und hat nie irgendwelche unruhigen Geister aufkommen lassen. […] Luther hat den Ritus nicht selbst verändert, sondern in seiner Abwesenheit haben Karlstadt und andere den Ritus verändert. Als Karlstadt einiges zu tumultartig tat, hat Luther bei seiner Rückkehr seine Meinung über das, was er billigte und was nicht, deutlich ausgesprochen.“ Übersetzung nach Wolfgang Boes: Die reformatorischen Gottesdienste in der Wittenberger Pfarrkirche von 1523 an, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 4 (1958/9), S. 1–27, hier S. 3. 290 Diese „Präfatio“ wurde zu einer entscheidenden Quelle der Lutherbiographie, vgl. Eike Wolgast: Biographie als Autoritätsstiftung. Die ersten evangelischen Lutherbiogra‑ phien, in: Walter Berschin (Hg.): Biographie zwischen Renaissance und Barock. Zwölf Studien, Heidelberg 1993, S. 41–71, hier S. 51–60.
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Dinge, „qui probaret aut non probaret“, deutlich ausgesprochen und einen Teil der Neuerungen wieder rückgängig gemacht.291 Konkret bezog sich Melanch‑ thon dabei auf die als Invokavitpredigten bekannt gewordene Reihe von acht Predigten, in denen Luther beginnend am 9. März, dem Sonntag Invokavit, zu den Reformen in seiner Abwesenheit Stellung nahm. 292 Die Erwähnung in dieser Schrift Melanchthons zeigt, dass Luthers Rück‑ kehr und die Invokavitpredigten schon kurz nach dem Tod des Reformators als entscheidende Ereignisse der Reformationsgeschichte gesehen wurden. Dies gilt bis zur modernen Reformationsforschung, so bezeichnete Leopold von Ranke die Invokavitpredigten als „eine Weltbegebenheit“293 und Bernd Moeller nannte sie „den Text seines [Luthers] Lebens, in dem die Konzentration des Christli‑ chen, um die es ihm ging, wohl am deutlichsten zur Geltung kam“. 294 Ihre Bedeutung liegt für die theologisch‑kirchengeschichtliche Forschung in der Weiterentwicklung der schon in früheren Schriften begonnenen Verhält‑ nisbestimmung von Glauben und Liebe als Grundsatz für weitere Reformen.295 Diese Grundsätze entwickelte Luther aus der Argumentation, die Wittenberger hätten zur Schonung der Schwachen im Glauben die Reformen zunächst nicht verbindlich machen und so erneut Dinge gesetzlich festlegen dürfen, die eigent‑ 291 Vgl. Barge: Karlstadt, Bd. I, S. 431–460; Preus: Carlstadt’s Ordinances, S. 62; Mar‑ tin Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 85; Sigrid Looss: Radical Views of the Early Andreas Carlstadt (1520–1525), in: Hans J. Hillerbrand (Hg.): Radical Tendencies in the Reforma‑ tion. Divergent Perspectives, Kirksville 1988, S. 43–53; Ulrich Bubenheimer: Gelassenheit und Ablösung. Eine psychohistorische Studie über Andreas Bodenstein von Karlstadt und seinen Konflikt mit Martin Luther, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte (1981), S. 250–268; Kruse: Universitätstheologie, S. 386; Rublack: Reformation, S. 53. 292 „Acht Sermone D. M. Luthers von ym geprediget zu Wittenberg in der Fasten“, in: Hans‑Ulrich Delius (Hg.): Martin Luther. Lateinisch‑Deutsche Studienausgabe, Bd. 2, Leipzig 1982, S. 520–558; ebenfalls in: WA, Bd. 10 III, S. 1–64. Im Folgenden wird die Stu‑ dienausgabe verwendet. Luther selbst gab die Predigten nicht zum Druck, sie erschienen je‑ doch nach einer Nachschrift in zahlreichen Ausgaben und Nachdrucken. Zu Überlieferungs‑ geschichte und Textkritik vgl. Susanne Bei der Wieden: Luthers Predigten des Jahres 1522. Studien zu ihrer Überlieferungsgeschichte, Köln u.a. 1999. 293 Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, hg. von Paul Joachimsen, Bd. 2, München 1925, S. 24. 294 Bernd Moeller: Eine Reliquie Luthers, in: Jahrbuch der Akademie der Wissen‑ schaften in Göttingen (1982), S. 33–56, hier S. 51. 295 Die Predigten wurden theologisch in unterschiedlichen Zusammenhängen untersucht: Vgl. Kruse: Universitätstheologie, S. 378–389; Simon: Messopfertheologie, S. 540–552; Jochen Cornelius‑Bundschuh: Die Kirche des Wortes. Zum evangelischen Predigt- und Gemeindeverständnis, Göttingen 2001, S. 157–219; Adam Weyer: Das Eungelium will nit alleyn geschrieben, ßondern viel mehr mit leyplicher stym geprediget seyn. Luthers Invo‑ cavit‑Predigt im Kontext der Reformationsbewegung, in: Heinz‑Ludwig Arnold (Hg.): Martin Luther (Text und Kritik Sonderband), München 1983, S. 86–104; Konrad Gott‑ schick: Zu Luthers Invocavitpredigten, in: Hans Martin Müller (Hg.): Reformation und praktische Theologie. Festschrift für Werner Jetter zum 70. Geburtstag, Göttingen 1983, S. 82–110.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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lich in der christlichen Freiheit standen.296 Luther betonte stattdessen die „Al‑ leinwirksamkeit des Wortes“, auf die es zu vertrauen galt, bis sich die Reformen nach ausreichenden Erläuterungen auch bei den Schwachen im Glauben durch‑ gesetzt hatten. 297 Für die historische Forschung liegt die Bedeutung der Predigten vor allem in der Beendigung der „Wittenberger Unruhen“. 298 Zwar wurde schon mehr‑ fach darauf hingewiesen, dass die „Unruhen“ bereits vor der Rückkehr Luthers durch den Kurfürsten mit Hilfe des neuen Rates und Bürgermeisters Anfang 1522 beendet worden seien, doch ist die Vorstellung, erst der von der Wartburg zurückeilende Luther habe mit den Invokavitpredigten in der Stadt Recht und Ordnung wiederhergestellt, in der Forschung bis heute präsent. 299 Gleichzei‑ tig erscheint jedoch auch die neuere Interpretation, wonach Kurfürst, Rat und Bürgermeister die Unruhen beendet hätten, aus verschiedenen Gründen we‑ nig plausibel.300 Unter der oben ausführlich begründeten Prämisse, dass es in Wittenberg während Luthers Anwesenheit überhaupt keine über das übliche Maß hinausgehende Unruhen gab,301 ist die starke Beharrungskraft der Vor‑ stellung erklärungsbedürftig, dass erst Luther die „Wittenberger Unruhen“ be‑ enden konnte. Wie im Folgenden zu zeigen ist, handelte es sich um Luthers ei‑ gene Deutung des Geschehens in seiner Abwesenheit, zu deren Verbreitung die Invokavitpredigten einen wichtigen Beitrag leisteten. Luther griff hierbei auf Deutungsmuster zurück, die bereits in den Wochen zuvor in unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden waren: Die Ausgrenzung bestimmter Prediger, namentlich Andreas Karlstadts und Gabriel Zwillings, hatte bereits im Eini‑ gungsprozess von Rat, Stift und Hof im Februar 1522 begonnen.302 In den Invo‑ kavitpredigten und ihrem späteren Überlieferungsprozess wurde sie weiter mo‑ difiziert und schließlich auf Karlstadt konzentriert.303 Auch die Distanzierung Luthers von dem Geschehen in seiner Abwesenheit und die Deutung als „Un‑ ruhen“ entstand bereits vor den Invokavitpredigten selbst.
296
Vgl. zu diesem Themenfeld besonders Junghans: Freiheit und Ordnung, S. 98. zu diesem Aspekt besonders Cornelius‑Bundschuh: Die Kirche des Wortes; Weyer: Euangelium. 298 So heißt es etwa bei Hans‑Jürgen Goertz, Luther habe nach seiner Rückkehr „die Re‑ formziele der sogenannten Wittenberger Bewegung widerrufen“, vgl. Goertz: Eine „be‑ wegte“ Epoche, S. 41. Nach Martin Brecht machte er „die seit Dezember erfolgte Neuord‑ nung rückgängig“, vgl. Brecht: Luther, Bd. 2., S. 85. 299 Vgl. zu dieser Kontroverse oben, S. 208. 300 Zum einen waren die Veränderungen, welche von den höfischen Beamten mit dem neuen Rat vereinbart wurden nur sehr gering und zum anderen war in diesen Dingen auch schon zuvor stets der Gesamtrat mit allen drei Ratsgremien tätig gewesen, so dass es gleich‑ gültig ist, welches dieser Gremien gerade den regierenden Rat stellte. 301 Vgl. S. 200–210. 302 Vgl. oben, S. 198 f. 303 Vgl. unten, Kap. II.3., besonders S. 238–242. 297 Vgl.
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II. Wittenberger Unruhen?
3.1. Luthers Rückkehr von der Wartburg und die Entstehung der „Wittenberger Unruhen“ als Deutungskonzept Als Luther am 6. März von der Wartburg nach Wittenberg zurückkehrte, war dies vom kurfürstlichen Hof keineswegs gewollt. 304 Vielmehr befürchtete Friedrich der Weise ernsthafte Schwierigkeiten mit Kaiser und Reich, da Luther nach wie vor unter der Reichsacht stand, und hatte sogar zunächst versucht, die‑ sen von der Rückkehr nach Wittenberg abzuhalten.305 Nachdem Luther diesen Wunsch missachtet hatte, wurde nun der kurfürstliche Rat Hieronymus Schurf beauftragt, gemeinsam mit Luther einen Brief zu verfassen, aus dem hervorge‑ hen sollte, dass er ohne das Wissen und gegen den Willen des Kurfürsten zu‑ rückkehrte.306 In diesem Brief findet sich nun erstmals die Interpretation des Geschehens, welche später prägend werden sollte: Die Wittenberger Ereignisse wurden von der Reformation Luthers distanziert und als „radikaler“ Auswuchs derselben beschrieben. Luther erklärte hier, er kehre zurück, da „durch mein Abwesen, mir der Satan in meine Hürden gefallen ist“ und „etliche Stück zugericht hat“, die er mit keiner Schrift, sondern nur persönlich und „mit lebendigem Mund und Ohren“ stillen könne.307 Damit kündigte Luther die Invokavitpredigten an und distanzierte sich bereits hier öffentlich von dem Geschehen in seiner Ab‑ wesenheit. Gleichzeitig warnte er vor einer „große[n] Empörung in deutschen Landen“, mit der Gott die deutsche Nation für die falsche Aufnahme des Wort Gottes strafen werde.308 Auffällig ist dabei die Parallele zu den Studentenunru‑ hen im Jahr 1512, die er ebenfalls als das Wirken des Satans gegen das wieder entdeckte Wort Gottes gedeutet hatte. Ebenso wie damals wurden nun die Er‑ eignisse des Winters 1521/22 als Teil des endzeitlichen Kampfes zwischen Gott und Teufel interpretiert, den Luther seit den Studentenunruhen nicht mehr nur auf Seiten der altgläubigen Gegner wie Cajetan und Eck, sondern auch in den ei‑ genen Reihen angekommen sah.309 Der Brief wurde zunächst von Spalatin geprüft und dem höfischen Sprach‑ gebrauch angepasst, wobei die Missbilligung der Rückkehr durch den Kurfürs‑ 304 Vgl. zum Folgenden ausführlicher und unter der Frage nach dem „Ereignis Wittenber‑ ger Bewegung“ Krentz: Erinnerung, S. 577–581. 305 Vgl. Instruktion von Friedrich dem Weisen an Amtmann Johann Oswald, ca. 26. Fe‑ bruar 1522, in: WA Br. 2, S. 450–452. 306 Vgl. Instruktion an Hieronymus Schurf, 7. März 1522, in: WA Br. 2, S. 455; Luther an Friedrich den Weisen, 7. (8.) März, in: WA Br. 2, S. 459–462. Luther verfasste diesen Brief am 8. März in Wittenberg, datierte ihn jedoch auf den 7. März zurück, vgl. Gustav Kawerau: Luthers Rückkehr von der Wartburg, Halle 1902, S. 68, übernommen in der WA Br. 2, S. 459. 307 Luther an Kurfürst Friedrich von Sachsen, 7. (8.) März, in: WA Br. 2, S. 459–462, S. 460. 308 Ebd., S. 461. 309 Vgl. Bubenheimer: Luthers Stellung, S. 158; zur Deutung der Studentenunruhen 1512 vgl. oben, S. 122–124.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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ten noch stärker herausgestellt wurde.310 Da der Kurfürst eine Abschrift dieses Briefes an das Reichsregiment weiterleiten ließ, um sich selbst von der Rückkehr Luthers zu distanzieren, wurde die Deutungsweise Luthers schon unmittelbar nach seiner Rückkehr allen im Reichsregiment anwesenden Reichsfürsten und Ständen bekannt.311 Gleichzeitig wurde Luthers Sichtweise damit verschrift‑ licht und damit für die Nachwelt gesichert, so dass der Brief schließlich 1555 und 1557 in die ersten Ausgaben der Lutherwerke gelangte.312 Zusammen mit den Dokumenten, die seinen Entstehungsprozess belegen, gehört er seitdem zum Kanon der in den Lutherausgaben abgedruckten Briefe.313 Die unmittel‑ bare Wirkung des Briefes im Reichsregiment war jedoch nur bedingt erfolg‑ reich, denn das Regiment erklärte die Rückkehr Luthers nach Wittenberg kurz darauf zu einem der religiösen Missstände im Reich, die es zu bekämpfen galt. 314 Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Wittenberg hatte Luther sich mit diesem Brief vor der Obrigkeit des Reiches und durch die Überlieferung für spätere Generationen nachvollziehbar von den Ereignissen in seiner Abwesen‑ heit distanziert und diese als das Wirken des Teufels gegen die Reformation in‑ terpretiert. Diese Sichtweise führte er wenige Tage später in den Invokavitpre‑ digten weiter aus und kommunizierte sie damit auch an die Wittenberger Ge‑ meinde. Da die Predigten gerade von theologisch‑kirchenhistorischer Seite als sehr gut erforscht gelten können,315 werden sie hier nicht noch einmal insgesamt un‑ 310 Luther an Friedrich den Weisen, 12. März 1522, in: WA Br. 2, S. 467–470. Seinen Un‑ mut über manche der geforderten Veränderungen drückte Luther am folgenden Tag in einem Brief an Spalatin aus, besonders habe er sich geärgert, den Kaiser mit „mein allergnädigster Herr“ anreden zu müssen, vgl. Luther an Spalatin, 13. März 1522, in: WA Br. 2, S. 470–471. 311 Eine Abschrift des Briefes schickte Friedrich zunächst an seinen Bruder Johann von Sachsen, der eine weitere Kopie an den kursächsischen Gesandten beim Reichsregiment, Hans von der Planitz, schicken sollte. Diese Kopie des Lutherbriefes sollte Planitz zu „Glimpf und Entschuldigung“ des Kurfürsten im Reichsregiment sehen lassen: Friedrich der Weise an Hans von der Planitz, 16. März 1522, in: Planitz: Berichte, S. 109 f. Am 22. März berichtete Planitz an Kurfürst Friedrich, Luthers Rückkehr sei nun dem Regiment bekannt geworden, daraufhin habe er dem Statthalter, sowie Herzog Georg von Sachsen und dem Bischof von Bamberg den Brief gezeigt, um Kurfürst Friedrich und Herzog Johann zu entschuldigen, vgl. Hans von der Planitz an Kurfürst Friedrich, 22. März 1522, S. 114–117. 312 Jenaer Ausgabe Bd. 2, Bl. 56b‑65a, nach Angabe der Jenaer Ausgabe handelt es sich hier um den Erstdruck; die Wiedergabe in der deutschen Reihe der Wittenberger Lutherausgabe, Bd. 9, Bl. 146–152b von 1557 erfolgte nach Vorlage der Jenaer Ausgabe. Unklar bleibt jedoch, warum beide Fassungen des Briefes von der Rückkehr Luthers und ebenso die Aufforderung Friedrichs, die erste Fassung zu verändern, abgedruckt wurden, was die Konstruiertheit des Briefes offenlegt. Vgl. zur Überlieferungsgeschichte der frühen Lutherausgaben Wittenber‑ ger Luther‑Ausgabe allgemein: Eike Wolgast/Hans Volz: Geschichte der Lutherausgaben im 16. Jahrhundert, WA Bd. 60, S. 429–637. 313 WA Br. 2, S. 451–470. 314 Vgl. den Brief des kurfürstlichen Gesandten Hans von der Planitz an Kurfürst Fried‑ rich, 1. April 1522, S. 126–127. 315 Vgl. oben, Fn. 295.
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II. Wittenberger Unruhen?
tersucht, sondern nur auf bestimmte Aspekte hin befragt. Um die Auswirkun‑ gen von Luthers Rückkehr nach Wittenberg auf den Gruppenbildungsprozess der „Wittenbergenses“ als Gemeinschaft der „Evangelischen“ zu beurteilen, gilt es so zunächst zu klären, was nach Luthers Rückkehr tatsächlich verändert wurde und wie diese erneuten Veränderungen der Liturgie von der Wittenber‑ ger Bevölkerung wahrgenommen wurden. Ebenso ist nach den Auswirkungen auf Luthers Bewertung liturgischer Fragen und religiöser Ceremonien zu fra‑ gen, um vor diesem Hintergrund in den folgenden Kapiteln seine eigenen Got‑ tesdienstreformen zu untersuchen. Insgesamt gilt es dabei zu prüfen, wie in den Predigten, ihrer Wahrnehmung durch die Gemeinde und schließlich in den ver‑ schiedenen Stufen ihrer Überlieferung das oben dargestellte Bild der Unruhen in Luthers Abwesenheit fortgeschrieben wurde und sich teilweise auch verän‑ derte. Aufgrund der Überlieferungssituation der Predigten sind dazu zunächst einige ausführlichere textkritische Überlegungen voranzustellen.
3.2. Die Invokavitpredigten und ihre Überlieferung Die Invokavitpredigten wurden von Luther selbst nicht in den Druck gegeben, sondern sie erschienen erst ein Jahr später in Straßburg und danach in weiteren Drucken.316 Es liegen jedoch mehrere frühere Nachschriften der Predigten vor, die von der Druckfassung abweichen. Als Textgrundlage der Forschung wird bis heute aus Mangel an Alternativen die Druckfassung verwendet, da diese ge‑ genüber den wesentlich kürzeren handschriftlichen Texten als einzige Über‑ lieferung den Anspruch erhebt, die gesamten Predigten wiederzugeben. Doch konnte die jüngere Forschung anhand textkritischer Überlegungen nachweisen, dass die Predigten „zwischen Predigtsituation und Drucklegung“ eine tiefgrei‑ fende Bearbeitung erfuhren.317 Dabei zeigt ein inhaltlicher Vergleich mit den anderen Teilüberlieferungen, dass auch die Druckfassung in gewissen Bereichen unvollständig ist.318 Da ein möglichst „authentischer“ Text, also etwa eine von Luther selbst für den Druck autorisierte Version oder eine unmittelbare Predigtnachschrift, nicht vorliegt, ist als Grundlage der Interpretation der Predigten zunächst ein kurzer Vergleich der unterschiedlichen Überlieferungsformen notwendig, der anschließend je‑ weils für die Analyse der genannten Fragen heranzuziehen ist. Besonders ist da‑ bei zu zeigen, welche inhaltlichen Gewichtungen in den unterschiedlichen Ver‑ sionen vorgenommen wurden und welche Bedeutungsverschiebungen sich da‑ raus für den Inhalt insgesamt ergeben. 316 Vgl.
Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 112–152. Ulrich Bubenheimer: Unbekannte Luthertexte. Analecta aus der Erforschung der Handschrift im gedruckten Buch, in: Lutherjahrbuch 57 (1990), S. 220–241, hier S. 230. 318 So zeigt Susanne Bei der Wieden, dass die Predigtnachschriften teilweise Thesen ent‑ halten, die sich in den Drucken nicht finden, vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 140. 317
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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3.2.1. Die Überlieferung der Drucke Entscheidend für unsere heutige Sicht der Invokavitpredigten wurden die Ge‑ samtdrucke, die als Grundlage der heute verwendeten Editionen der Predigten, etwa in der Weimarer Ausgabe und der Luther‑Studienausgabe, dienten. Der Überlieferungsweg der Gesamtdrucke ist in der Forschung im Einzelnen um‑ stritten, doch gehen alle Bearbeiter davon aus, dass den Drucken ein einheitli‑ cher Text zugrunde lag, möglicherweise in Form einer Mitschrift, wahrscheinli‑ cher aber einer Nachschrift.319 Erst mit der Druckfassung wurden die acht Pre‑ digten Luthers zu „den“ Invokativpredigten in ihrer heutigen Form, vermutlich wurden sie für den Druck nachträglich zu Themenpredigten umgearbeitet.320 Im Druck erschienen die Predigten in sechs Sammelwerken, die alle aus dem Jahr 1523 stammen.321 Schon 1522 wurde jedoch eine der Predigten, die sich mit der Frage beschäftigte, ob Bilder in den Kirchen zu dulden seien, separat ge‑ druckt.322 Als Erstdruck konnte Susanne Bei der Wieden aufgrund von sprach‑ lichen Abhängigkeiten und druckanalytischen Überlegungen eindeutig den Straßburger Druck bestimmen.323 Der Straßburger Entstehungskontext ist da‑ her besonders bedeutsam: Hier erschienen die Predigten erstmals als Sammel‑ druck des Druckers Wolfgang Köpfel, eines Neffen des Straßburger Reforma‑ tors Wolfgang Capito. Dieser brachte sie in einem Band mit wichtigen Luther‑ texten heraus, die für die praktische Umsetzung der Reformation in Straßburg 1523 eine Rolle spielten.324 Die treibende Kraft bei der Druckausgabe der Pre‑ digten war vermutlich Capito selbst, der einige der Invokavitpredigten selbst in Wittenberg als Zuhörer erlebt hatte.325 Der Erstdruck entstand demnach im Zu‑ sammenhang mit der Frage, wie das Gemeindeleben in der Straßburger Refor‑ mation praktisch zu ordnen sei. Unter dieser allgemeinen Fragestellung wurden 319 Pietsch geht in seinem Kommentar in der Weimarer Ausgabe aufgrund von sprachli‑ chen Argumenten, die seiner Meinung nach Textabhängigkeiten erkennen lassen, von einer direkten Mitschrift als Vorlage aus, die zu einer Nachschrift ausgearbeitet wurde und allen Drucken als Grundlage diente. Bei der Wieden sieht hingegen keinen Beleg für einen solchen Überlieferungsweg. Auch sie urteilt aus dem Textbefund aber, da die Drucke untereinan‑ der und auch zu den früheren Einzeldrucken nur geringfügige Abweichungen aufweisen, dass den Druckern wohl ein einheitlicher und weitgehend ausformulierter Text vorlag, den sie selbst kaum mehr bearbeiteten. Vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 120; Paul Pietsch: Predigten des Jahres 1522. Einleitung zu den einzelnen Predigten, in: WA 10 III, S. LXXXIX–LXXXI. 320 Bubenheimer: Unbekannte Luthertexte, hier S. 230. 321 Neben dem Straßburger Erstdruck liegen vier Augsburger und ein Speyerer Druck vor, die jeweils alle acht Predigten enthalten, vgl. die Übersicht in Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 112–114. 322 Vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 119. 323 Vgl. ebd., S. 116. 324 Vgl. ebd., S. 149. 325 Der Drucker Köpfel war mit Capito verwandt und brachte üblicherweise keine Pre‑ digtdrucke heraus. Zu Capitos Aufenthalt in Wittenberg vgl. Brecht: Luther, Bd. 2, S. 23 f.
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II. Wittenberger Unruhen?
die Predigten aus dem Wittenberger Kontext herausgenommen und erhielten in der Sammlung mit anderen liturgischen Schriften eine gewisse Allgemeingül‑ tigkeit. Möglicherweise wurden daher für den Wittenberger Kontext spezifi‑ sche Fragen hier eher ausgelassen. 3.2.2. Handschriftliche Überlieferungen und Augenzeugenberichte Neben den später entstandenen Drucken gibt es mehrere handschriftliche Zeugnisse über die Invokavitpredigten, die wesentlich früher geschrieben wur‑ den und daher von erheblicher Bedeutung für die Interpretation der Predig‑ ten sind. Ein Vergleich der Handschriften untereinander und mit dem später gedruckten Text verspricht zudem Aufschluss darüber, wie die Verfasser der Handschriften den Inhalt der Predigten vor ihrem jeweils eigenen Erfahrungs‑ horizont gewichteten und strukturierten. Die erste Handschrift ist in Zwickau auf dem Vorsatzblatt eines Sammel‑ bandes mit exegetischen Schriften der Jahre 1515–19 überliefert.326 Hier findet sich eine thesenhafte Formulierung der Predigt vom Sonntag Invokavit in la‑ teinischer Sprache. Es handelt sich dabei wohl um eine direkte Mitschrift oder unmittelbare Nachschrift der Predigt, denn die Textverteilung bildet den Pre‑ digtverlauf ab. Häufige Verbesserungen im Text lassen auf einen eigentlich la‑ teinkundigen Schreiber schließen, der spätere Flüchtigkeitsfehler verbesser‑ te.327 Inhaltlich zeigt dieser Text hauptsächlich ein theologisches Interesse an der Rechtfertigungslehre, während dagegen ein Bezug auf die Wittenberger Si‑ tuation oder sogar auf einzelne Wittenberger Prediger fehlt.328 Die zweite Handschrift, ein Textfragment mit dem Titel „Wider die Neue rungen D. Carlstadts“, ist in drei Fassungen überliefert und dabei jeweils Teil einer größeren Sammlung von Lutherschriften.329 Die Bewertung dieses Text‑ fragments ist in der Forschung umstritten, die Annahme der Bearbeiter der Jenaer und der Weimarer Lutherausgabe, es handle sich hier um ein Predigkon‑ zept Luthers, hat Bei der Wieden aufgrund inhaltlicher Bedenken relativiert.330 326
Ediert in: WA 10, 3, S. LV. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 123. 328 Vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 139. 329 Eine der Handschriften findet sich in der Universitätsbibliothek Jena als Teil einer Sammlung frühreformatorischer Briefe und Predigten des Michael Stiefel (Bos.q.25a UB Jena). Zwei weitere Exemplare sind in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vorhanden (Cod. Guelf. 19.15 Aug. 4, HAB Wolfenbüttel) und Cod. Guelf. 11.10. Aug. 2, HAB Wolfen‑ büttel), ebenfalls jeweils als Teil einer Sammlung reformatorischer Briefe und Schriften. Vgl. zur Beschreibung der Handschriften Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 123. 330 Pietsch geht im Kommentar der Weimarer Ausgabe davon aus, dass es sich hier um ein Predigtkonzept Luthers handelte, das dieser möglicherweise auf der Wartburg verfasst hatte, da dieses Konzept mit den Mitschriften keines anderen Schreibers vergleichbar war und zu‑ dem Parallelen zu Luthers Wormser Rede aufweist, vgl. Pietsch: Predigten, S. LXX. Bei der Wieden argumentiert dagegen, dass die unmittelbar vorgebrachten heftigen Vorwürfe an 327 Vgl.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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Demnach ist diese Handschrift eher als eine nachträgliche Zusammenfassung aller acht Predigten durch einen unbekannten Verfasser zu bewerten. Wie schon der Titel der Schrift zeigt, war der Verfasser hauptsächlich an der Auseinan‑ dersetzung zwischen Luther und Karlstadt interessiert und konzentrierte sich bei der Nachschrift der Predigten auf diesen Aspekt. Die Handschrift gibt hier viele Einzelheiten der Predigten wieder, die in den Drucken keine Erwähnung finden. Vermutlich hat der Verfasser das Erinnerte nach seinem spezifischen Interesse gefiltert und die für seine Zwecke relevanten Aspekte in der Darstel‑ lung besonders stark gewichtet. Die dritte handschriftliche Überlieferung der Predigten wurde erst vor eini‑ gen Jahren von Ulrich Bubenheimer auf einem Druck der Lutherschrift „Eyn trew vormanung“ in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel entdeckt.331 Während Bubenheimer bei seinem Fund von einer direkten Predigtmitschrift ausging, zweifelte Bei der Wieden dies überzeugend an, in diesem Fall aus for‑ malen Gründen.332 Der Text enthält keine vollständige Predigt, es handelt sich wohl um eine spätere Niederschrift einzelner Gedanken aus mehreren Predig‑ ten, die der Schreiber auf Grundlage von Aufzeichnungen zusammenfasste.333 Doch ist dieser Text der Form einer Predigt am ähnlichsten, denn der Schreiber gibt direkte Aussagen Luthers wieder. Neben diesen drei von der überlieferungsgeschichtlichen Forschung bear‑ beiteten Predigtmit‑ oder Nachschriften liegen noch einige weitere Texte vor, die ebenfalls als Quellen herangezogen werden. Da sie im Gegensatz zu den ge‑ nannten drei anonymen Predigtnachschriften von namentlich benannten Au‑ genzeugen stammen und zudem datiert sind, werden sie im Folgenden zur Un‑ terscheidung als Augenzeugenberichte bezeichnet. Es handelt sich dabei um Briefe, Chroniken und Widmungsschreiben, die in unterschiedlichem Um‑ Karlstadt im Text kein geplantes rhetorisches Stilmittel in einer Predigt sein könnten, sondern vielmehr auf eine Nachschrift schließen lassen, vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 127. Überzeugend argumentiert sie zudem mit der Differenzierung des Adressatenkreises in „euch und die zu Wittenberg“, die bei einem Predigtkonzept für die Wittenberger Ge‑ meinde nicht erklärbar wäre und auf einen breiteren Rezipientenkreis schließen lässt. 331 Bubenheimer: Unbekannte Luthertexte, S. 230. Die handschriftlichen Eintragun‑ gen, die Bubenheimer als Predigtmitschrift identifiziert, finden sich auf dem folgenden Druck: „Eyn trew vormanung Martini Luther tzu allen Christen Sich tzu vorhutten fur auff ruhr unnd Emporung. Wittemberg.“ HAB Wolfenbüttel, Signatur Yv1648.8 Helmst. Die Mit‑ schrift findet sich auf dem Titelblatt, sowie unter dem Ende des Textes auf der letzten Seite und auf der leeren Rückseite. 332 So ist zunächst nicht belegt, dass die zweite Auflage des fraglichen Druckes vor den Predigten erschien. Darüber hinaus finden sich im Text viele Konsonantenverdoppelungen, ausgeschriebene Präpositionen und Konjunktionen, auch ausgeschriebene Bibelzitate, wo im Fall einer Mitschrift Abkürzungen verwendet worden wären, vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 129–136. 333 Bei der Wieden vermutet, dass der Druck „Eyn trew vormanung“ aufgrund des in‑ haltlichen Zusammenhangs bewusst für die Niederschrift der Invokavitpredigten ausgewählt wurde, vgl. ebd., S. 137.
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II. Wittenberger Unruhen?
fang auf die Predigten Bezug nehmen. Die Nähe zum Geschehen und der Ent‑ stehungszusammenhang ist hier meist klar zu benennen: Kurze Zeit nach den Predigten selbst entstanden die Briefe der Wittenberger Studenten Albert Bü‑ rer von Brugg, Hieronymus Baumgartner von Nürnberg, Joachim Camerarius und Johannes Magenbuch.334 In zwei Briefen berichtete der Jurist Hieronymus Schurf, der Luthers Rückkehr von der Wartburg im Dienste des Hofes beglei‑ tet hatte, dem Kurfürsten sehr positiv über die Predigten Luthers.335 Zusätz‑ lich liegen noch einige wesentlich später verfasste Berichte vor, die ebenfalls von Augenzeugen stammen. So enthält auch der bereits mehrfach herangezo‑ gene Reisebericht Johann Kesslers von 1524 eine ausführliche Darstellung des Geschehens und eine Zusammenfassung der ersten Invokavitpredigt.336 Und schließlich werden die Predigten noch durch den späteren Wittenberger Diakon Sebastian Froeschl erwähnt, der Anfang 1522 nach Wittenberg kam und im Jahr 1565 in einer Widmungsvorrede an Kurfürst August von Sachsen die kirchli‑ chen Zustände von 1522 schilderte.337
3.3. Die Bedeutung von Luthers Rückkehr für die Gottesdienstreformen Mit der reformatorischen Predigt hatte die Ablehnung der auswärtigen geistli‑ chen Gewalten vom Bischof bis schließlich zum Papst in Wittenberg eine neue Legitimationsbasis erhalten. Seit den gemeinsamen rituellen Aktionen im Um‑ kreis der Verbrennung der Bannandrohungsbulle 1520 hatten sich die verfein‑ deten Gruppen von Studenten und Bürgern immer stärker zu einer städtischen Einheit zusammengefunden, die sich gegen äußere Einflüsse in geistlichen Din‑ gen als Gemeinschaft verstand. Dieser Prozess war mit den liturgischen Reformen 1522 fortgeführt worden: Beginnend mit der Ablehnung der Messe an der Universität hatte sich ein Kanon 334 Albert Bürer von Brugg an Beatus Rhenanus, Wittenberg, 27. März 1522, in: Zeit‑ schrift für Kirchengeschichte 5 (1882), S. 332–333; Johannes Magenbuch an Wolfgang Rychar‑ dus in Ulm, Wittenberg, 16. Mai 1522, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 22 (1902), S. 126 f.; Hieronymus Baumgartner an Hektor Poemer in Nürnberg, Wittenberg, 18. März 1522, in: Heinrich Bornkamm (Hg.): Briefe der Reformationszeit aus dem Besitz Johann Valentin Andreäs, in: Archiv für Reformationsgeschichte 34 (1937), S. 145–169, hier S. 148–149. 335 Hieronymus Schurf an Friedrich den Weisen, 9. März 1522 und 15. März 1522, in: WA Br. 2, S. 299 f. und 306 f. 336 Kessler: Sabbata, S. 80–81. 337 Sebastian Froeschl: Alter Wittenbergischer Kirchen‑ und Schulen‑Staat, in: Fort‑ gesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen: darinnen von Büchern, Uhr‑ kunden, Controversien, Veränderungen, Anmerckungen und Vorschlägen u.d.g. nützl. Nachrichte ertheilet wird (1731), S. 689–705. Es handelt sich um die Widmungsvorrede zu der im Druck erschienenen Schrift Froeschls „Vom Priesterthum der rechten wahrhafftigen Christlichen Kirche“.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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an Ceremonien herausgebildet, mit denen sich die „Wittenbergenses“, Studen‑ ten und Bürger, als Gruppe konstituierten und auch nach außen als solche wahr‑ genommen wurden. Festgeschrieben wurden diese Veränderungen der Liturgie zunächst in der „Wittenberger Ordnung“, die im Februar 1522 schließlich nach Verhandlungen in Eilenburg mit einigen Modifikationen unter Beteiligung aller wichtigen städtischen Akteure von Rat, Stift und Universität und unter der Fe‑ derführung des kurfürstlichen Hofes angenommen wurde. Mit den Reformen der neuen Stadtordnung hatten die Wittenberger in Luthers Abwesenheit mit einem breiten städtischen Konsens bestimmte Distinktionsrituale geschaffen, welche die Zugehörigkeit zur Gruppe der Evangelischen unmittelbar erkennbar werden ließen. Auf diese Weise konstituierte sich die religiöse und städtische Ge‑ meinschaft der Wittenberger nun in neuen liturgischen Formen. Besonders das Berühren des Sakramentes durch die Laien, das Abendmahl unter beiderlei Ge‑ stalt und die Laienkleidung der Priester hatten sich dabei als entscheidende und nach außen leicht erkennbare Merkmale herausgebildet.338 Die von Luther nach seiner Rückkehr vorgenommenen erneuten Verände‑ rungen der Liturgie richteten sich gegen eben diesen Prozess der Gruppenbil‑ dung und seine Merkmale. Um die Kritik Luthers und ihre Auswirkungen auf die Wittenberger Gemeinde und später auch auf die evangelischen Liturgiere‑ formen insgesamt zu verstehen, ist zunächst zu klären, gegen welche Punkte sich seine Kritik im Einzelnen richtete und welche praktischen Auswirkungen dies in der Stadt hatte. Diese Fragestellung wurde in der Literatur bislang kaum diskutiert, vielmehr wurde eher pauschal festgestellt, Luther habe mit den Invo‑ kavitpredigten „die“ Neuerungen zurückgenommen oder gar „die Unruhen“ in der Stadt beendet.339 Was also veränderte sich mit Luthers Rückkehr praktisch? 3.3.1. Veränderungen der Gottesdienstordnung nach Luthers Rückkehr Die Invokavitpredigten selbst geben kaum Auskunft über die vorgenommenen erneuten praktischen Veränderungen der Liturgie in der Stadt. Über diese er‑ fahren wir aus der Schrift „Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen“, die zunächst als Handreichung für die Wittenberger Priester dienen sollte und nur wenige Wochen nach den Invokavitpredigten im Druck erschien.340 Zusammen‑ gefasst beinhalteten die hier festgehaltenen Veränderungen das Folgende: Die Messe sollte fortan wieder in lateinischer Sprache gehalten werden, die Priester wieder die traditionelle liturgische Kleidung tragen, die Laien sollten das Sakra‑ ment nur unter einer Gestalt erhalten und durften es nicht mehr berühren.341 338
Vgl. oben, S. 201 f. Vgl. oben, S. 217. 340 Martin Luther: „Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen“, April 1522, in: WA 10 II, S. 11–41. 341 Vgl. ebd., S. 29. 339
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II. Wittenberger Unruhen?
Auch der Ablauf der Messe sollte soweit wie möglich erhalten bleiben, einzig die Offertoriumsgebete, welche auf das Messopfer hinwiesen, wurden gemieden, die Elevation der Hostie wieder eingeführt.342 Auch die von Karlstadt stark be‑ tonten Einsetzungsworte sollten erneut leise – und damit für die Gemeinde un‑ verständlich – gesprochen werden, ersatzweise wurden sie in der Predigt erläu‑ tert. Nur die Privatmessen ohne Gemeindebeteiligung wollte Luther, soweit sie bereits abgeschafft waren, nicht wieder einführen.343 Die Beichte stellte er frei, verwies aber ausdrücklich auf ihre große Bedeutung für den Seelenfrieden der Schwachen im Glauben.344 Betrachtet man diese Neuordnung Luthers im Einzelnen, so fällt zunächst auf, dass die Veränderungen im Vergleich mit der Wittenberger Stadtord‑ nung, die besonders in der in Eilenburg beschlossenen Form ja ebenfalls einen Kompromiss zwischen Reformbefürwortern und ‑gegnern darstellte, praktisch nicht so groß war, wie es der den Invokavitpredigten allgemein beigemessenen Bedeutung nach erscheinen mag. Tatsächlich ging Luther hier nur in wenigen Punkten hinter den Beschluss der „Eilenburger Verhandlungen“ zurück und zwar mit der Wiedereinsetzung der Elevation und den erneut leise zu sprechen‑ den Einsetzungsworten. Bereits in Eilenburg hatte man schon beschlossen, dass die Fastengesetze wieder einzuhalten waren, das Abendmahl zunächst nur un‑ ter einer Gestalt gereicht werden sollte und die Laien das Sakrament nicht be‑ rühren durften.345 Alle beteiligten Parteien, auch die reformatorisch gesinnten Theologen, hatten dieser Ordnung zugestimmt. Wie ist also die nachdrückliche Kritik Luthers in den Invokavitpredigten und die erneute Erwähnung dieser Punkte in der Schrift „Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen“ zu erklären? Unwahrscheinlich erscheint, dass Luther nur schlecht informiert war und den Stand der Reformen nicht kannte,346 denn er stand in regem Kontakt mit den anderen Professoren der Universität. Eine Erklärung wäre, dass die Ordnung in der Praxis nicht umgesetzt wurde. Diese Möglichkeit erscheint jedoch ebenso zweifelhaft, denn mit der Einigung in Ei‑ lenburg endeten die zuvor zahlreichen Beschwerden der altgläubigen Stiftsher‑ ren über die neue Gottesdienstpraxis und auch der Hof scheint von diesem Zeit‑ punkt an die Wittenberger Praxis nicht mehr beanstandet zu haben.347 Es ist
342 Vgl.
ebd. Luther: „Von beider Gestalt“, in: WA 10 II, S. 27–32. 344 Vgl. ebd., S. 32. 345 Vgl. zu den Verhandlungen und Beschlüssen in Eilenburg oben, S. 206 f. 346 So Barge: Karlstadt, Bd. I, S. 444. 347 Die Beschwerden sind im Weimarer Archiv überliefert und finden sich in dem Bestand T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 224 und Reg. O 225; große Teile dieser Akten sind ediert bei Müller (Hg): Wittenberger Bewegung. Da diese Aktenkonvolute weitgehend chronologisch geordnet sind und insgesamt bis März 1522 reichen, ist davon auszugehen, dass solche Be‑ schwerden hier überliefert wären. 343 Vgl.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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also davon auszugehen, dass die in Eilenburg beschlossene Ordnung zumindest weitgehend eingehalten wurde. Demnach bildeten Luthers Invokavitpredigten für die liturgische Praxis in Wittenberg keinen besonderen Einschnitt. Die von ihm durchgesetzten Ver‑ änderungen waren gegenüber den Eilenburger Beschlüssen, die seit Februar in Kraft waren, nicht mehr groß.348 Auch kann die Funktion der Predigten nicht darin bestanden haben, Wittenberg aus Aufruhr und Unruhen zu befreien, wenn man der Argumentation in Kapitel II.2. folgend davon ausgeht, dass es in Wittenberg zu diesem Zeitpunkt keine Unruhen gab, die über das übliche Maß hinausgingen. Die Funktion der Invokavitpredigten musste demnach eine an‑ dere sein. 3.3.2. Luthers Kritik an den Reformen: Das „fleischliche Missverstehen“ der Wittenberger Luthers Kritik an den Veränderungen stützte sich im Wesentlichen auf zwei Punkte, die sich aus seiner Beobachtung der Wittenberger Gemeinde ergaben und die für die zukünftigen Veränderungen der Liturgie von wesentlicher Be‑ deutung sein sollten. Erstens richtete er sich gegen die übermäßige Betonung der äußerlichen Ceremonien überhaupt, die in den letzten Monaten entschei‑ dend für die Formierung der Wittenberger als Gruppe geworden waren. Der Gruppenbildungsprozess der Wittenberger hatte also aus Luthers Sicht unter falschen Voraussetzungen stattgefunden: Indem sie erneut die äußere Form in den Mittelpunkt stellten, hätten sich die Wittenberger „gleich so nerrisch als der Bapsts [sic]“ verhalten.349 Allein das Fleischessen an Fastentagen, das Be‑ rühren des Sakramentes oder der Laienkelch machten noch keinen Christen. Er kritisierte also die Herausbildung einer „evangelischen“350 Gruppenidenti‑ tät aufgrund äußerer Merkmale.351 Das galt nicht nur für das in seinen Augen falsche Selbstverständnis der Gruppe, sondern schadete auch deren Wahrneh‑ mung nach außen, über die Luther gut informiert war: Überall heiße es, zu Wittenberg seien gute Christen „dann sie nehmen das sacrament in die hende vnd greyffen den kelch ann geen darnach hien zum gebranten weyne vnd saüf fen sich vol.“ 352 Ebenso wie der Kurfürst sich um den Ruf seiner Residenzstadt sorgte, sah Luther das Ansehen Wittenbergs als Stadt des neu entdeckten Evan‑ geliums in Gefahr. Nicht aufgrund äußerer Gesten und Rituale sollten sich die 348 Vgl.
Oehmig: Wittenberger Bewegung, S. 125. „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 548. 350 Auch zu diesen Selbstbezeichnungen äußert sich Luther wenig später ablehnend, vgl. Luther: „Von beider Gestalt“, in: WA 10 II, S. 40. 351 Diesen Punkt betont auch Kaufmann: Abendmahl, S. 201. 352 „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 551. Den Ver‑ dacht, dass einige Kommunikanten bei Karlstadts Weihnachtsmesse betrunken waren, hatten zunächst die Stiftsherrn geäußert, vgl. oben, S. 166. 349 Vgl.
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II. Wittenberger Unruhen?
Wittenberger als Gruppe evangelischer Christen verstehen und nach außen er‑ kannt werden. Doch Luthers Kritik ging noch weiter. Sie richtete sich nicht nur gegen die Äußerlichkeit der Merkmale als solche, sondern auch gegen einige bestimmte Ceremonien, die in der Gemeinde besonders zu Missverständnissen geführt hatten. Dies wird deutlich, wenn man Luthers Kritik an den Neuerungen im Zusammenhang mit den Augenzeugenberichten zu Karlstadts Weihnachts‑ messe liest. Anhand dieser Berichte konnte gezeigt werden, dass sowohl Kri‑ tiker wie auch Befürworter der Reformen die neue Abendmahlspraxis nicht in der von den Reformatoren intendierten Weise verstanden: Das Verlangen, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zu nehmen und Hostien und Kelch zu berühren, zeigte im Gegenteil eher eine erneute Betonung dinglicher, äußerer Aspekte der Frömmigkeit, die im Sinne der reformatorischen Theologie unbe‑ dingt abzulehnen war.353 Eben diese Wahrnehmungsweisen hatte auch Luther nach seiner Rückkehr beobachtet und sah seine Gemeinde damit in einem „fleischlichen“ Missverste‑ hen gefangen. In der Schrift „Von beiderlei Gestalt des Sakraments zu nehmen“ schrieb Luther deswegen, viele Wittenberger hätten nach seiner Rückkehr in der Beichte bekannt, das Sakrament berührt oder das Abendmahl unter beider‑ lei Gestalt von einem Priester im Laiengewand und in ungeweihten Häusern genommen zu haben.354 Damit wird die Kehrseite des weiterhin bestehenden oder gar verstärkten dinglichen Verständnisses deutlich. Die Menschen sahen die Desakralisierung heiliger Dinge, Orte oder Personen nach wie vor als ge‑ fährlich an. Dieses zeigte nicht nur ein mangelndes Verständnis der reformato‑ rischen Theologie, sondern stellte zudem ein seelsorgerisches Problem dar, wel‑ ches offensichtlich die Gewissen der Menschen belastete. Daher spielte in Luthers Auseinandersetzung mit liturgischen Fragen die Praxis des Abendmahls unter beiderlei Gestalt und das Berühren des Sakra‑ mentes durch die Laien eine besondere Rolle. Diese Elemente hatten in der Ge‑ meinde einerseits eine starke Identifikationsfunktion entwickelt und ließen gleichzeitig das Missverständnis vieler Wittenberger besonders deutlich wer‑ den.355 Die Diskussion dieser Praktiken nahm den gesamten ersten Teil der 353 Vgl. dazu vorne, S. 163–169. In diesem Sinne kann auch der ironische Brief an Fried‑ rich den Weisen verstanden werden, in dem Luther kurz vor der Rückkehr von der Wartburg dem Kurfürsten mit Anspielung auf dessen Reliquiensammlung zu seinem „neuen Heilig‑ tum“, also der erneuten Betonung äußerer, dinglicher Aspekte der Frömmigkeit in Witten‑ berg, gratuliert, vgl. Luther an Kurfürst Friedrich den Weisen, ca. 24. Februar 1522, in: WA Br. 2, S. 451–453. 354 Luther: „Von beider Gestalt“, in: WA 10 II, S. 17, S. 25. Das Problem, dass falsch ver‑ standene Freiheit zu Anfechtungen der schwachen Gewissen führt, hatte Luther bereits in der ersten Invokavitpredigt ausführlich dargelegt, dort mit dem Beispiel des Fleischessens an Fastentagen, vgl. „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 534. 355 Auch Herzog Johann Friedrich, dem Sohn Friedrichs des Weisen und späteren Kur‑
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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Schrift „Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen“ ein.356 Auch in den In‑ vokavitpredigten und besonders in der Predigt „vom Sacrament“ am Donners‑ tag nach Invokavit behandelte Luther diese Themen sehr ausführlich. Er begann hier mit der Kritik am altgläubigen Reinheitsverständnis, was er beispielhaft mit dem Verbot, das Altartuch von Frauen waschen zu lassen und der Praxis, Laien, welche das Sakrament versehentlich berührt hatten, die Finger abzu‑ schneiden, illustrierte.357 Die Ablehnung dieses Verständnisses sei grundsätz‑ lich richtig, doch hätten die Wittenberger auch hieraus kein Gebot machen, son‑ dern „alleine das wort gottes handeln lassen“ sollen.358 Luther verdeutlichte die Kritik an den dinglichen Aspekten, indem er zwischen äußerem und innerem Empfang des Sakraments unterschied: „das reych gottes stehet nit in eüsserlichen dingen das man greyffen oder empfinden kann sond[ern] im glaübe[n].“ 359 Zwar bezeichnete er das Berühren des Sakramentes ausdrücklich nicht als Sünde,360 doch fand er gerade hier sehr starke Worte: Die Wittenberger wären schlechte Christen, wenn sie glaubten, das Berühren des Sakramentes und das Nehmen beider Gestalten sei entscheidend, denn „mit der weiyße künde auch wol ein Saw ein Christen sein sie hette jo so eyne[n] grossen ryessel das sie das sacrament eüsserlich neme[n]“.361 Indirekt drohte er sogar mit einer göttlichen Strafe, die Wittenberger hätten „also gehandelt mit dem sacrament welchs vnser ho[e]chs ter schatz ist das nit wunder were der donner vnd plitz hette euch in die erden geschlagen[n].“ 362 Und schließlich stellte Luther das Berühren des Sakramen‑ tes auch noch als persönliche Kränkung dar: „Es hat mir kein feindt wie wol sie mir vil leyds hab[n] gethan Also getroffen als jr mich getroffen habt“,363 und wie‑ derholte zum Abschluss der Predigt noch einmal: „das mir von allen meyne[n] feynden die bißher wider mich waren nit so wee Gescheen ist als vo[n] eüch“.364 Diese Heftigkeit der Formulierungen geht zwar ausdrücklich nur aus dem Text der Drucke hervor, aus denen allein nicht auf die Predigtsituation geschlossen werden kann. Doch wird dieses Thema in den früheren handschriftlichen Be‑ richten ebenfalls besonders häufig erwähnt, was für eine inhaltliche Überein‑ stimmung der Versionen in diesem Punkt spricht, so berichtete etwa Schurf: fürsten, antwortete er eher ablehnend, als dieser anfragte, ob er das Abendmahl unter beider‑ lei Gestalt nehmen und mit den Händen anfassen dürfe, vgl. Luther an Herzog Johann Fried‑ rich, 18. März 1522, in: WA Br. 2, S. 477–478. 356 Vgl. Luther: „Von beider Gestalt“, in: WA 10 II, S. 11–23. 357 „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 548. 358 Ebd. 359 „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 549. 360 „Wiewol jr keyn sünd gethan habt das jr das sacrament habt angriffen das beken(n) ich“, ebd., S. 549. 361 „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 550. 362 Ebd. 363 Ebd., S. 549. 364 Ebd., S. 551.
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II. Wittenberger Unruhen?
„Und das, am allerhöhesten zu bewegen ist, so haben sie mit ihrem Predigten das Volk zur Nehmung des hochwirdigen Sakraments des Altars, welches allain den betrübten und ge ängsten Gaisten und Conscientien, so von wegen ihrer sünden Beschwerung empfinden und fühlen, nützlich empfangen wird, also gedrungen“.365
Es ist daher davon auszugehen, dass Luther in seiner Kritik der Wittenberger Reformen den Umgang mit dem Sakrament hervorhob, da dieser in besonderem Maße für das „fleischliche“ Missverständnis der Wittenberger stand. Angesichts der Heftigkeit der Formulierungen Luthers erscheint es sogar möglich, dass die Beichten der Wittenberger, die er in der wenige Wochen spä‑ ter erscheinenden Schrift „Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen“ er wähnte,366 Reaktionen auf seine Vorwürfe in den Predigten waren. Vor dem dargestellten Verstehenshorizont der Wittenberger Gemeinde, für die nach wie vor der äußerlich korrekte Vollzug des Sakramentempfangs und der dingliche Charakter des Sakramentes zentral waren, wäre durchaus denkbar, dass nicht nur Karlstadts, sondern auch Luthers eigene Ausführungen missverstanden wurden und die Menschen, die das Sakrament berührt hatten, nun fürchte‑ ten, tatsächlich vom Blitz erschlagen zu werden. In beiden Fällen jedoch bestä‑ tigte die Kritik Luthers, ob nun als Ursache oder Wirkung der Gewissensnöte der Menschen, die bereits in den Augenzeugenberichten zu Karlstadts Weih‑ nachtsmesse zum Ausdruck kommende erneute dingliche Frömmigkeit, die aus der Sicht Luthers ein „fleischliches“ Missverstehen darstellte. Damit benannte Luther ein Wahrnehmungsmuster, welches für die kulturelle Aneignung des re‑ formatorischen Wandels prägend werden sollte: Das Fortbestehen eines „ding‑ lichen“ Verständnisses im Umgang mit den neuen reformatorischen liturgischen Gesten und Zeichen, die von Seiten der reformatorischen Theologen eigentlich zugunsten des abstrakten, gepredigten Wortes ihre inhärente Heiligkeit verlo‑ ren hatten.367 Das Vorgehen gegen die Überreste eines solchen dinglichen Ver‑ ständnisses sollte Luthers Schritte einer eigenen Liturgiereform in den folgen‑ den Jahren weiter prägen.
365
Hieronymus Schurf an den Kurfürsten, 9. März 1522, in: WA Br. 2, S. 463 f. Vgl. oben, Fn. 355. 367 Robert W. Scribner hat dieses für das 17. Jahrhundert anhand zahlreicher Beispiele ge‑ zeigt, vgl. Robert W. Scribner: Die Auswirkungen der Reformation auf das Alltagsleben, in: Ders.: Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. von Lyndal Roper, Göttin‑ gen 2002, S. 303–330, zum Abendmahl bes. S. 312 [zuerst veröffentlicht als: The Impact of the Reformation on Daily Life, in: Mensch und Objekt im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wien 1990, S. 315–343]. 366
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
231
3.4. Funktionen der Invokavitpredigten: Abgrenzung und Autoritätsstiftung Mit den liturgischen Reformen in Luthers Abwesenheit hatten die Wittenberger einen Distinktionsritus gegen die altgläubigen Kräfte der Gemeinde geschaffen und damit ein starkes Selbstbewusstsein als Stadt des Evangeliums entwickelt. Aus der Sicht Luthers hatten sie dabei jedoch die äußerliche Form der Ceremo‑ nien, die eigentlich in der christlichen Freiheit stehen sollte, zu stark betont und damit die Gewissen der im Glauben Schwachen belastet. Luthers Kritik rich‑ tete sich jedoch nicht nur gegen die äußere Form als solche, sondern auch ge‑ gen bestimmte Veränderungen, die zu Irritationen bei den Altgläubigen und Missverständnissen in der Gemeinde geführt hätten: Die (wegfallende) Vorbe‑ reitung auf den Abendmahlsempfang, das Berühren des Sakramentes durch die Laien, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt und die (weltliche) Kleidung der Priester. Aus der Sicht Luthers und vieler anderer Wittenberger Reformatoren war damit ein erneuter Distinktionsritus notwendig. Es musste eine Art und Weise gefunden werden, mit denen sich die Gruppe der „evangelischen“ Wittenber‑ ger nun nicht mehr nur gegen die päpstliche Kirche, sondern auch gegen die als vorschnell angesehenen liturgischen Veränderungen der ersten Wittenber‑ ger Stadtordnung abgrenzen konnte, die fortan als „radikal“ galten.368 Dazu reichte es nicht aus, die Reformen zurückzunehmen, wie es zu einem großen Teil schon mit den Eilenburger Verhandlungen geschehen war. Vielmehr galt es, einen Wendepunkt zu markieren, welcher eine Diskontinuität sowohl zu den bisherigen Neuerungen der Liturgie, als auch zu den traditionellen altgläubigen Formen deutlich machte. Das richtige Medium war hier nicht die Veränderung der zeichenhaften Gesten, sondern das abstrakte Wort der Predigt. Dennoch bediente sich Luther auch zeichenhafter Mittel der Inszenierung: Um zu zeigen, dass geistliche Kleidung zu den freien Dingen gehören sollte, welche die Schrift weder gebot noch verbot, trat er mit frisch geschnittener Tonsur und Kutte vor die Gemeinde. Aus Nächstenliebe sollten die geistlichen Kleider zunächst beibehalten werden: „die kappe erwürget dich nicht wan du sie schon tra(e)gest“.369 Bereits an dieser Stelle konnte also die Verkündigung des Wortes nicht ohne zeichenhafte Mittel der Inszenierung auskommen. Und 368
Auf diese Weise entstand neben den reformunwilligen, altgläubigen Kräften und den reformatorischen eine dritte Richtung, nämlich die der radikalen Reformation. Für ein sol‑ ches kulturgeschichtliches Verständnis von „Radikalität“ plädiert auch Goertz: Radikali‑ tät reformatorischer Bewegungen, S. 29–42. Speziell zu den Invokavitpredigten und Karl stadt vgl. Ulrich Bubenheimer: Martin Luthers Invocavitpredigten und die Entstehung religiöser Devianz im Luthertum. Die Prediger der Wittenberger Bewegung 1521/22 und Karlstadts Entwicklung zum Kryptoradikalen, in: Günter Mühlpfort/Ulman Weiss (Hgg.): Kryptoradikalität in der Frühneuzeit, Stuttgart 2009, S. 17–37. 369 „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 548.
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II. Wittenberger Unruhen?
nicht zuletzt waren auch die Predigten selbst über ihre unmittelbare instrumen‑ telle Funktion der wortgestützten Erläuterung reformatorischer Prinzipien hi‑ nausgehend ein symbolischer Akt, der zum einen die oben dargestellte Diskon‑ tinuität zu den vorherigen Reformen markierte und zum anderen Luther als charismatische Spitze der Wittenberger Gemeinde inszenierte. Denn nicht zuletzt demonstrierte Luther auf diese Weise auch, dass er selbst und niemand anders Herr über die Ceremonien in der Stadt Wittenberg war.370 Den Wittenberger Predigern war im Winter 1521/22 genau das gelungen, was der Bischof von Brandenburg mit der Verhängung des Interdiktes jahrelang er‑ folglos versucht hatte: Sie ließen die Messen in der Stadt schweigen. Hatten die erfolglosen Versuche des Bischofs, die Sakramente und Ceremonien temporär für ungültig zu erklären, seine Machtlosigkeit als geistlicher Herr der Stadt mehr als deutlich gemacht, so zeigte das Schweigen der Messen nun umgekehrt den Erfolg der Prediger, welche den Messen grundsätzlich und für alle Zeiten die Heilswirksamkeit abgesprochen hatten. Mit den Invokavitpredigten gelang es Luther zu zeigen, dass die Befugnis, solche Änderungen vorzunehmen, nicht bei den (anderen) Predigern lag, sondern von ihm selbst in Zusammenarbeit mit dem Hof vorgenommen werden sollten. Entsprechend betonte er auch in den Predigten selbst, dass die Veränderungen in seiner Abwesenheit illegitim wa‑ ren. Diese seien „ohne alle Ordnung“ geschehen, man hätte „die Oberen“ dazu nehmen sollen und hätte Luther um Rat fragen können, er sei nicht so weit weg gewesen, dass man nicht hätte nach ihm rufen können.371 Dass die Gottes dienstreform vor seiner Rückkehr unter der Leitung des Hofes und mit Einbe‑ ziehung aller städtischen Akteure geordnet worden war und dabei sogar meh‑ rere schriftlich fixierte Ordnungen entstanden waren, blieb dabei unerwähnt. Luther selbst war offenbar tatsächlich durch den Wittenberger Rat zurück‑ berufen worden,372 wobei jedoch unklar bleibt, zu welchem Zweck dies gesche‑ hen war.373 Symbolisch wurde seine Legitimation durch die weltliche Obrig‑ keit ebenfalls durch seine Kleidung unterstützt: Wie die Kämmereirechnungen erkennen lassen, schenkte der Rat Luther im Laufe des Jahres 1522 eine neue 370 Vgl. auch schon James S. Preus: „Leadership was the fundamental course and meaning of Luther’s Return from the Wartburg“, Preus: Carlstadt’s Ordinaciones, S. 51 f. 371 „hettet ir mich auch künden darjnn frage[n]. ich bin nit so ferne gewest. jr hetten mich künde[n] mit Schriefften erreiche[n]“, „Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Stu‑ dienausgabe, S. 533. 372 StAW, KR 1525: XLII gr. [Enders liest „fl.“] hat Doct. Martin luther vorzehret, do er uff Erforderung des Rats und gemeiner Stadt von der insel Pathmos kommen ist, in diesem Jahr allererst bezahlt worden, zitiert nach Enders (Hg.): Luthers Briefwechsel 3, S. 298, Fn. 1. Möglicherweise konnte Luthers Unterstützung durch den Rat erst 1525 abgerechnet werden, da Luthers Rückkehr zumindest offiziell gegen den Willen des Kurfürsten erfolgt war. 373 Ebenso hatte anscheinend der Kreis der Wittenberger Universitätstheologen um Luthers Rückkehr gebeten, wie aus einem Schreiben Melanchthons hervorgeht: „Lutherum revocavimus ex heremo sua magnis de causis.“ Melanchthon an Michael Hummel, 12. März 1522, in: WA Br. 2, S. 460; vgl. auch Kruse: Universitätstheologie, S. 377.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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Mönchskutte. Falls er dieses von der städtischen Obrigkeit geschenkte Gewand bei den Predigten trug, kann dies als zusätzliches Zeichen der Legitimation sei‑ nes Handelns durch die Obrigkeit gedeutet werden.374 Einige Einblicke in den Aneignungsprozess der Predigten durch die Ge‑ meinde bieten die Augenzeugenberichte, die unmittelbar nach dem Geschehen verfasst wurden. Die Eindrücke der Verfasser werden hier in einem jeweils in‑ dividuellen und situationsabhängigen Verstehenskontext geschildert. Der Brief Hieronymus Baumgartners lässt eine persönliche Betroffenheit des Schreibers erkennen, der sich offensichtlich selbst zu den Anhängern der Reformen zählte und sich für diese Überzeugung – und möglicherweise auch seine Handlun‑ gen – nun schämte: „Per hanc septimanam nihil aliud egit [=Luther], quam quod restaurauit collapsa et acer rime ac uehementissime castigauit nos. In summa, pessime egimus, adeo ut totum mundum scandalo impleueriums.“ 375
In Albert Bürers Brief vom 27. März 1522 wird hingegen Luthers Eindruck als der eines charismatischen Predigers besonders deutlich: „vox eius suavis et sonora, atque etiam ita ut admirer suavem loquentiam hominis. Piissi mum est quidquid loquitur, quidquid docet, quicquid agit“.376
Und schließlich hatte der höfische Rat Hieronymus Schurf noch am Tag der ersten Predigt für Friedrich den Weisen einen ausführlichen Bericht verfasst und summierte am 15. März, also nachdem Luther alle Predigten gehalten hatte, diese hätten große Freude bei Gelehrten und Ungelehrten ausgelöst, „dann er [Luther] dadurch uns armen verführten und geärgerten Menschen vermittelst göttlicher Hülfe wiederumb auf den Weg der Wahrhait täglichen wiset mit un widersechtlichen Anzeigung unsers Irrtums, darinne wir von den ingedrunge nen Predigern jämmerlich geführet“.377 Damit zeigen diese unmittelbar nach dem Geschehen verfassten Augenzeu‑ genberichte insgesamt, dass die Predigten die genannten beiden Hauptfunktio‑ nen erfüllten: Sie markierten eine deutliche Zäsur zu den vorherigen Reformen und Ereignissen in Luthers Abwesenheit, bewirkten eine innere Distanzierung der Wittenberger von diesen und machten Luthers Position als geistliches Ober‑ 374
Kruse: Universitätstheologie, S. 378; Preus: Carlstadt’s Ordinaciones, S. 62. Baumgartner an Hektor Poemer in Nürnberg, Wittenberg, 18. März 1522, in: Bornkamm (Hg.): Briefe, S. 148–149, hier S. 149. 376 Albert Bürer von Brugg an Beatus Rhenanus, Wittenberg, 27. März 1522, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 5 (1882), S. 332–333, hier S. 333. Übersetzung nach Willy Brändly: „dass ich die angenehme Beredsamkeit des Mannes bewundere. Was er sagt, was er lehrt, was er tut, ist sehr fromm, auch wenn es von seinen höchst gottlosen Feinden anders gesagt wird.“ Aus: Willy Brändly: Albert Bürer über Luther und die Wittenberger Verhältnisse Anno 1521 und 1522, in: Zwingliana 9,3 (1959), S. 176–179. 377 Hieronymus Schurf an Friedrich den Weisen, 15. März 1522, in: WA Br. 2, S. 472. 375 Hieronymus
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II. Wittenberger Unruhen?
haupt der Gemeinde unumstritten deutlich. Das eingangs genannte Zitat Me‑ lanchthons und die Darstellung in der modernen Forschung zeigen, dass diese Wirkung der Predigten auch langfristig Bestand hatte. Das Bild, das sie von den Ereignissen in Wittenberg vermittelten, wurde jedoch mit ihrer weiteren Über‑ lieferung um einige weitere Bestandteile ergänzt.
3.5. Nachträgliche Bedeutungsverschiebungen der Invokavitpredigten Auch wenn die Invokavitpredigten bereits in der Wittenberger Gemeinde er‑ folgreich die Abgrenzung der Reformation Luthers und seiner Anhänger von den Reformen im Winter 1521/22 bewirkt hatten, so beschränkte sich deren Wahrnehmung zunächst auf die Stadt und auf einige Bekannte, die durch Briefe von den Predigten erfuhren.378 Da Luther nach wie vor unter der Reichsacht stand, war ein Druck seiner Predigten zunächst nicht denkbar, zumal deren Inhalt kein gutes Licht auf die Situation in Wittenberg geworfen hätte.379 Die Drucklegung erfolgte deswegen erst über ein Jahr später und zudem an anderen Orten.380 So wurden die Invokavitpredigten und damit Luthers Interpretation der Wittenberger Ereignisse zwar schließlich doch über Wittenberg hinaus be‑ kannt, jedoch aus einer rückblickenden Perspektive, die von späteren Entwick‑ lungen geprägt war. Eine besondere Rolle spielte dabei die immer stärker disku‑ tierte Bilderkontroverse und der eskalierende Streit zwischen Luther und Karl stadt. 3.5.1. Bilderfrage und Bildersturm Die Predigt vom Mittwoch nach Invokavit, die sich mit der Bilder‑ und Fasten‑ frage beschäftigt, erschien früher als der Sammeldruck in einem Separatdruck zunächst in Augsburg und erzielte schnell eine hohe Auflagenzahl.381 Ihre Ver‑ öffentlichung erklärt sich aus einem verstärkten Interesse an der Bilderfrage im Laufe des Jahres 1522, die zuerst besonders im Nordosten des Reiches und in den oberdeutschen Reichsstädten schnell an Bedeutung gewann.382 Das Inter‑ esse an den Positionen der Wittenberger war dabei nicht unbegründet, denn tat‑ sächlich war Wittenberg die erste Stadt, in der die Entfernung der Bilder durch den Rat der Stadt beschlossen worden war und die Ende Januar 1521 von Karl 378 So etwa Hektor Peomer in Nürnberg durch den Brief des Hieronymus Baumgartner, Beatus Rhenanus in Basel durch den Brief des Albert Bürer und Wolfgang Rychardus durch den Brief des Johannes Magenbuch in Ulm, vgl. oben, S. 224. 379 Vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 119. 380 Ebd. 381 Vgl. ebd. 382 Vgl. Schnitzler: Ikonoklasmus, S. 145–149.
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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stadt veröffentlichte Schrift „Von Abtuung der Bylder […]“ eine der ersten re‑ formatorischen Flugschriften, die sich mit der Bilderfrage beschäftigte.383 Da‑ her erscheint es naheliegend, dass eine von Luther in dieser Zeit dazu gehaltene Predigt schnell das Interesse der Drucker fand. Die Konzentration auf die Bilderfrage in dem Separatdruck wird schon darin deutlich, dass der Titel des Druckes nur „Sermon von den Bildnissen“ lautete, obwohl sich die Predigt etwa zu gleichen Teilen mit der Bilder‑ und der Fasten‑ frage beschäftigte.384 Geht man mit Bubenheimer davon aus, dass die Predig‑ ten erst mit dem Gesamtdruck zu Themenpredigten umgearbeitet wurden, so ist nicht einmal klar, ob Luther den Bildern ursprünglich überhaupt eine ganze Predigt gewidmet hatte.385 Durch das wachsende Interesse an der Bilderfrage erhielt dieser Punkt nachträglich ein größeres Gewicht, was sich nicht nur auf die Wahrnehmung von Luthers Predigten, sondern auch der Wittenberger Si‑ tuation auswirkte. Da nun aus der Gesamtheit von Luthers Predigten zunächst und vor allem die Kritik an der Entfernung der Bilder bekannt wurde, erschien umgekehrt die Bilderfeindlichkeit der Wittenberger als besonders gravierend. Ein städtischer Wittenberger Bildersturm wurde allerdings auch in dem Druck der Bilderpredigt, ebenso wie in dem späteren Gesamtdruck, nicht erwähnt.386 Eine solche spätere Akzentverschiebung hin zur Bilderproblematik lässt sich auch in den Augenzeugenberichten feststellen. So erwähnten die unmittelbar nach den Predigten entstandenen Berichte die Kritik an den Bildern kaum, ei‑ nen Bildersturm in der Pfarrkirche überhaupt nicht. Der Student Albert Bürer beschrieb in seinem Brief vom 27. März 1522 die Rückkehr und die Predigten Luthers als ein Ereignis unter vielen. Obwohl er sich von Luthers Predigten und der Kritik an den Wittenberger Neuerungen beeindruckt zeigte, erwähnte er die Bilderfrage nicht.387 Ebenso findet sich in seinem recht detaillierten Bericht von Neuigkeiten aus Wittenberg kein Wort über einen Bildersturm in der Pfarr‑ kirche, wohl aber wird die Verbrennung der Bilder im Kloster der Augusti‑ ner beschrieben.388 Auch der Student Hieronymus Baumgartner erwähnte we‑ 383 Karl s tadt: „Von Abtuung der Bilder“, in: Laube/Looss/Schneider (Hgg.): Flug‑ schriften. 384 „Ain Sermo durch Marti. Luth. Ecclesia u Witten. Geprediget von den Bildtnussen. Im Iar. 1522. Witenberg“, Erstdruck aus Augsburg 1522, gedruckt von Melchior Ramminger, HAB Wolfenbüttel Signatur A 131.2 Theol. (21), handschriftlicher Zusatz auf dem Titelblatt „separatis“. 385 Vgl. Bubenheimer: Unbekannte Luthertexte, S. 230. 386 Textabweichungen zwischen dem Separatdruck und den Gesamtdrucken sind insge‑ samt nicht festzustellen. 387 Vgl. Albert Bürer an Beatus Rhenanus, 27. März 1522, in: Zeitschrift für Kirchenge‑ schichte 5 (1882), S. 332–333, Übersetzung nach Brändly: Bürer, S. 176–179. 388 „In diesem Jahr sind am 11. Januar die Bilder in der Kirche der Augustiner verbrannt worden; weshalb es geschah, dafür wurde am folgenden Tag Rechenschaft gegeben“, vgl. ebd., S. 179.
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der den Bildersturm noch Luthers Kritik an den Bildern.389 Zwei weitere zeit‑ nahe Augenzeugenberichte, der des Hieronymus Schurf und der des Studenten Magenbuch, benannten zwar die Bilderfrage, jedoch nur als eins von mehre‑ ren Beispielen für die durch Luther kritisierten äußerlichen Dinge und nicht im Zusammenhang mit einem Bildersturm in der Pfarrkirche.390 Ebenso wie bei Baumgartner war der Bezugspunkt hier eindeutig die Verbrennung der Bilder im Augustinerkloster.391 Während Luthers Kritik an den Bildern und der Bildersturm in diesen un‑ mittelbar nach den Predigten entstandenen Augenzeugenberichten noch kaum eine Rolle spielten, so zeigt sich in den nach 1524 verfassten Berichten ein ganz anderes Bild. Die Erinnerungen der Augenzeugen, die ihre Berichte nach dem Jahr 1524 niederschrieben, scheinen sich vor dem Hintergrund neuerer Ent‑ wicklungen verändert zu haben. Diese Entwicklungen betrafen erstens die Bil‑ derkontroverse und zweitens die Auseinandersetzungen zwischen Luther und Karlstadt. Die Bilderkontroverse war besonders von Seiten altgläubiger Theo‑ logen weitergeführt worden: In direkter Reaktion auf die Bilderschrift ver‑ fasste der Dresdner Hofpredigter Hieronymus Emser eine „Antwort auf Karl stadts Buch von der Abthuung der Bilder“, worin er sich theologisch mit Karl stadts Argumentation gegen die Bilder auseinandersetzte. 392 Ebenso wie sein Dresdner Kollege Wolfgang Wulfer warf Emser Luther vor, sich in den Invo‑ kavitpredigten taktisch von dem entstandenen Aufruhr distanzieren zu wol‑ len, obgleich er eigentlich selbst eine spätere Entfernung der Bilder anstrebte.393 Obwohl keine dieser Flugschriften einen Wittenberger Bildersturm direkt be‑ nannte, wurde durch diese Kontroverse, ebenso wie auch schon durch Karl stadts eigene Flugschrift, die Bilderfrage eng mit den Wittenberger Ereignissen in Luthers Abwesenheit und mit der Person Karlstadts verknüpft. Doch galt Karlstadt aus dieser altgläubigen Perspektive noch als ein Mitstreiter Luthers
389 Vgl. Hieronymus Baumgartner an Hector Poemer in Nürnberg, Wittenberg, 18. März 1522, in: Bornkamm (Hg.): Briefe, S. 145–169. 390 „denn als sollte allein ein rechter guter Christ sein, der da nicht beichte, Priester ver folgete, an Fasteltagen Eier und Flaisch esse, bilder abrisse etc.“, Hieronymus Schurf an den Kurfürsten, 9. März 1522, in: WA Br. 2, S. 463 f., hier S. 463.; „ut ad comburendum imagines, da non confitendum, ad carnes comedendum, ad utrasque Christi species, ita ut etiam onmes credeband se Christianos esse“, Magenbuch an Rychardus, 16. Mai 1522, gedruckt in: Barge: Karlstadt, Bd. 2, S. 127. Beide Berichte entsprechen hier fast wörtlich der späteren Druckver‑ sion der ersten Invokavitpredigt. 391 So wird die Zerstörung der Bilder bei Magenbuch als „concremare“ bezeichnet, was der Verbrennungsaktion im Augustinerkloster entspricht. 392 Hieronymus Emser: Antwort auf Karlstadts Buch von Abtuung der Bilder (Anfang 1522), in: Adolf Laube/Annerose Schneider/Ulman Weiss (Hgg.): Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535), Bd. 1, Berlin 1992, S. 305–343. 393 Ebd., S. 307 f.; Wolfgang Wulfer: Wider die unseligen Aufruhre Martin Luthers (Anfang 1522), in: Ebd., S. 294–304, hier S. 294.
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und nicht als dessen Gegner. Dieses Bild änderte sich mit der darauf folgenden innerreformatorischen Flugschriftenkontroverse. Am 22. August 1524 war es zu einem Streitgespräch zwischen den beiden Theologen im Gasthaus „Zum Schwarzen Bären“ in Jena gekommen, bei dem Karlstadt die Gelegenheit erhalten sollte, sich gegenüber Luther zu rechtferti‑ gen.394 Karlstadt war im Frühjahr 1522 von Seiten des Hofes mit einem Publi‑ kationsverbot belegt worden und hatte sich im Mai 1523 auf die Pfarrstelle in Orlamünde zurückgezogen, deren Einkünfte ihm als Archidiakon des Witten‑ berger Allerheiligenstiftes zustanden und hatte dort weitgehende kirchliche Re‑ formen durchgeführt.395 Bei dem Treffen in Jena eskalierte der Konflikt schließ‑ lich und Karlstadt wurde wenig später auf kurfürstlichen Befehl aus Kursach‑ sen ausgewiesen. Doch hatte Luther in Jena zugesagt, das Publikationsverbot aufheben zu lassen und sich publizistisch mit Karlstadt auseinanderzusetzen, was zu einer scharfen Flugschriftenkontroverse führte, bei der sich beide Par‑ teien auf das Geschehen in Wittenberg 1521/22 zurückbezogen. Schon über das Treffen selbst veröffentlichte der Karlstadt‑Anhänger Martin Reinhard eine Art Gesprächsprotokoll, welches die Überlegenheit von Karlstadts Position deutlich machen sollte.396 Karlstadt selbst verfasste darauf hin acht Flugschrif‑ ten gegen Luther, von denen besonders die Schrift „Ob man gemach fahren und des Ärgernisses der Schwachen verschonen soll in Sachen so Gottes Willen an gehen“ die Wittenberger Reformen von 1522 erneut thematisierte.397 Auf diese Weise wurde Karlstadt als Gegner Luthers weithin bekannt und die Bilderfrage rückte ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Beide Punkte wirkten sich auch auf die Darstellungen der Invokavitpredigten aus. Im Gegensatz zu den frühen Augenzeugenberichten erscheint die Kritik an dem Umgang mit den Bildern in der Pfarrkirche in den Berichten, die nach dem Höhepunkt der Kontroverse zwischen Karlstadt und Luther im Jahr 1524 ent‑ standen, zentral, ja als Synonym für Luthers Kritik insgesamt. So überschrieb Johann Kessler in der Sabbata das entsprechende Kapitel seines Reiseberichtes mit dem Titel „Wie M. Luther die unordenlichen abstellung der bilder und ce remonien zu Wittenberg straft“.398 Ebenso fasste er den Inhalt mit der Phrase „abstellung der mesz, sturmung der bilder und ceremonien“ zusammen. Die Bil‑ 394
Vgl. dazu Barge: Karlstadt, Bd. II, S. 138–143; Leppin: Martin Luther, S. 216–220. sollten die Abgaben, die der Inhaber der Pfarrstelle Karlstadt zu zahlen hatte, jedoch zu Karlstadts Einkommen als Archidiakon des Stiftes beitragen, vgl. zu den Zusammenhängen vorne, S. 99. 396 Vgl. Protokoll des Martin Reinhard, in: WA 15, S. 334–341; Luther selbst bezeichnete dieses Protokoll später als Gemisch aus Lüge und Wahrheit, vgl. Leppin: Martin Luther, S. 216. 397 Andreas Karl s tadt: „Ob man gemach fahren und des Ärgernisses der Schwachen verschonen soll in Sachen so Gottes Willen angehen (1524)“, in: Hans‑Joachim Köhler (Hg.): Flugschriften, Mf. 46, Nr. 28. 398 Kessler: Sabbata, S. 80. 395 Eigentlich
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der erscheinen hier neben den sonstigen Ceremonien als das Hauptthema der Predigten Luthers. Auch in dem wesentlich später verfassten Bericht Sebastian Froeschls wurde der Bildersturm, zusammen mit der für Froeschl relevanten Schulpolitik, als Synonym für die Wittenberger Missstände in Luthers Abwe‑ senheit genannt und deren Beendigung als entscheidender Verdienst Luthers nach seiner Rückkehr gesehen.399 Die ab Mitte 1522 einsetzende Bilderkontroverse führte so zunächst zu ei‑ nem verstärkten Interesse an der Bilderpredigt, die daher separat schon früher als die anderen gedruckt und häufiger aufgelegt wurde. Zusammen mit der Bil‑ derschrift Karlstadts und den altgläubigen Kontroversschriften ließ dies wie‑ derum die Bilderfrage als zentral für die Kritik Luthers und die Wittenberger Zustände erscheinen. Diese Akzentverschiebung spiegelt sich in den beiden Au‑ genzeugenberichten wider, die von theologisch gebildeten Verfassern stamm‑ ten, welche die Kontroversen der Zeit sehr wahrscheinlich mitverfolgten und deren Erinnerungen an die Ereignisse von 1522 von ihrem neuen Wissensstand geprägt waren. 3.5.2. Die Rolle der einzelnen Prediger Eine inhaltliche Akzentverschiebung zeigt der Vergleich der unterschiedlichen Überlieferungsformen auch im Hinblick auf die Beurteilung der Rolle der ein‑ zelnen Prediger in den Wittenberger Reformen. Auch dieser Punkt wurde in der späteren Kontroverse zwischen Luther und Karlstadt noch einmal relevant, denn Karlstadt rechtfertigte sich in dem Gespräch in Jena, er habe die Reformen in Luthers Abwesenheit nicht allein zu verantworten, sondern diese in Abstim‑ mung mit dem Wittenberger Rat durchgeführt.400 In diesem Punkt lässt sich eine inhaltliche Bedeutungsverschiebung nicht nur in den später verfassten Au‑ genzeugenberichten nachvollziehen, sondern auch zwischen den unterschied‑ lichen Druckversionen. Die Druckfassung der Invokavitpredigten räumte den persönlichen Aus‑ einandersetzungen der Wittenberger keinen großen Raum ein, was sich aus dem Entstehungskontext des Erstdrucks im Zusammenhang mit allgemeine‑ 399 Froeschl: Kirchen‑ und Schulenstaat, S. 693: „Dazu fiengen nicht allein an die drey Personen die Schule zu stuermen, sondern auch die Kirchen und Bilder in der Kirchen, dass sie dieselbigen bilder aus der Kirchen wurffen“. Ebd. S. 649: „Da war nun Zeit, dass D. Mart. Luther sel. Wieder ex Pathmo, aus seinem heimlichen Gefaengnis gen Wittenberg kam, und richtet Kirchen und Schule recht wieder an, sonst wäre es alles zu Truemmern gangen, denn fuer ihm mussten sich die obgenannten drey, der Schulen‑Kirchen und Bilder‑Stuermer fürchten“. 400 Das protokollierte Martin Reinhard in dem oben (vgl. Fn. 396) genannten Protokoll, WA 15, S. 337: „Das hab ich nicht allein für genommen, sondern die drey rethe unnd ewer ge sellen etliche, die beschlossen es, darnach zugen sy die köpf uß der schlingen und lyssen mich allein steeen“.
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ren Schriften über die Gottesdienstreformen Luthers erklärt. Namentlich wer‑ den die Prediger hier nur an einer Stelle in der Predigt am Dienstag nach In‑ vokavit erwähnt, im Zusammenhang mit der Frage nach den Gewissensnöten schwachgläubiger Menschen im Sterben: Jeder müsse selbst vor Gott bestehen und könne sich nicht darauf berufen, was „der Probst Doctor Carlestatt Ga briel oder Michael gepredigt“.401 Mit „Gabriel“ bezeichnete Luther wohl einer‑ seits Gabriel Zwilling als verantwortlichen Prediger und spielte dabei anderer‑ seits auf die Erzengel Gabriel und Michael an (1. Gal. 1,8).402 Schwieriger zuzu‑ ordnen ist hingegen die Wendung „der Probst Doctor Carlestatt“, denn Propst des Allerheiligenstiftes war nicht Karlstadt, sondern Justus Jonas. Während Junghans davon ausgeht, Luther sei diese Entwicklung entgangen, weist Bu‑ benheimer auf ein Komma zwischen den Worten „Probst“ und „Doktor Carle statt“ hin, so dass in diesem Fall der Propst Justus Jonas und Karlstadt gemeint wären.403 Diese Lesart erscheint plausibel, nicht nur, weil Luther am Vorabend der Invokavitpredigten mit Justus Jonas im Hause von Hieronymus Schurf zu‑ sammentraf und daher wohl über dessen Position am Stift informiert war, son‑ dern auch, da Jonas in den vorangegangenen Monaten stets unter den vom Hof kritisierten Predigern war.404 Damit war die Gruppe derer, die für die Neue‑ rungen verantwortlich gemacht wurden, mit Jonas, Karlstadt und Zwilling klar umrissen. Doch geschah dies eher beiläufig und ohne direkten Vorwurf an die Prediger. In der Handschrift auf dem Wolfenbütteler Druck findet sich diese Stelle so‑ gar in der Fassung „Gabriel hats gesagt offt Carlstadt offt Martinus [Hervor hebung nicht im Original]“.405 Gleichgültig, welche Namen Luther nun auf der Kanzel nannte: Die Tatsache, dass der Schreiber in dieser zeitnah verfassten Predigtnachschrift aus der Erinnerung oder aus Notizen hier sogar Luthers ei‑ genen Namen einsetzte, macht deutlich, dass diese Stelle nicht primär als An‑ griff auf die Prediger zu verstehen ist. Für die Zwecke des Druckes war diese Auseinandersetzung ebenso wenig von Interesse wie für die Predigtnachschrift auf dem Wolfenbütteler Druck. Dennoch gab es solche persönlichen Angriffe auf einzelne Prediger vermut‑ lich an anderen Stellen der Predigten, wie die Nachschrift mit dem Titel „Wi dir die newerung zu wittenberg angericht durch d. Carolstat weyl d. Marti nus Nach dem reychstag zu wormbs gehalten in seiner pathmo war“ erkennen 401
„Acht Sermone D. M. Luthers“, in: Delius (Hg.): Studienausgabe, S. 539. Junghans: Studienausgabe, S. 539, Anm. 128. 403 Bubenheimer: Invokavitpredigten, S. 31; Junghans: Studienausgabe, Bd. 2, S. 539, Anm. 126. 404 Vgl. Bubenheimer: Invokavitpredigten, S. 31. 405 Handschrift in: „Eyn trew vormanung Martini Luther tzu allen Christen Sich tzu vor hutten fur auffruhr unnd Emporung. Wittemberg.“ HAB Wolfenbüttel, Signatur Yv1648.8, vgl. auch Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 455. 402 Vgl.
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II. Wittenberger Unruhen?
lässt.406 Wie schon der Titel dieser Nachschrift zeigt, stand hier der Konflikt Luthers mit Karlstadt im Vordergrund. Der Text erwähnt Karlstadt ebenfalls an der genannten Stelle: „auch wenns noch ain mal Carolstadt und Gabriel gesagt hetten“.407 Ebenso wechselte Luther nach diesem Text bei den stärksten Vor‑ würfen die Anrede vom allgemeinen „ihr“ zum persönlichen „du“, was Susanne Bei der Wieden als direkte Ansprache an Karlstadt oder Zwilling liest.408 Für diese Lesart gibt es jedoch keinen direkten Anhaltspunkt und sie erscheint auf‑ grund der geäußerten Vorwürfe inhaltlich eher unwahrscheinlich, da diese sich auf die gesamte Gemeinde zu beziehen scheinen: „er hat dich auff das kleyn nar renwerck gefieret, das sacrament anzugreyffen, eyer und fleisch zu essen, das du die weyl des glaubens und der liebe vergessest“.409 Daher zeigt diese Stelle eher, dass die Predigten insgesamt stärkere und direktere Vorwürfe an die Gemeinde beinhalteten, als der spätere Gesamtdruck erkennen lässt. In den frühen Studentenbriefen sind die Aussagen darüber, gegen wen sich der Zorn Luthers richtete, sehr unterschiedlich: Albert Bürer zeigte sich in sei‑ nem Brief vom 27. März beeindruckt von Luther und dessen Predigten und be‑ zog den darin enthaltenen Vorwurf nicht auf die Gemeinde, sondern nur auf die Prediger, namentlich auf Karlstadt und Zwilling: „Venit autem compositu rus quicuid Carolostadius et Gabriel suis concionibus nimio quam vehementibus turbaverunt“.410 Im Gegensatz dazu erwähnte Hieronymus Baumgartner die Prediger nicht und bezog die Vorwürfe Luthers auf die Wittenberger Gemeinde insgesamt: „Per hanc septimanam nihil aliud egit, quam quod restauravit col lapsa et acerrime ac vehementissime castigavit nos.“411 Der Student Magenbuch benannte in seinem Brief vom 16. Mai wiederum „Carolostadius et monachus quidam Gabriel dictue et alii plures“ als Hauptverantwortliche von 1521/22.412 Die 1524 auf dem Höhepunkt der öffentlichen Flugschriftenkontroverse zwi‑ schen Karlstadt und Luther verfasste Chronik „Sabbata“ des Johannes Kessler nennt, ebenso wie die oben diskutierte Predigtnachschrift, bereits allein Karl stadt als Gegner Luthers.413 406 „Widir die newerung zu wittenberg angericht durch d. Carolstat weyl d. Martinus Nach dem reychstag zu wormbs gehalten in seiner pathmo war“, in: WA 10 III, S. LVII–LXIII. 407 Ebd. 408 Vgl. Bei der Wieden: Luthers Predigten, S. 141. 409 „Widir die newerung zu wittenberg angericht durch d. Carolstat weyl d. Martinus Nach dem reychstag zu wormbs gehalten in seiner pathmo war“, in: WA 10 III, S. LVII–LXIII, hier: S. LX. 410 Albert Bürer von Brugg an Beatus Rhenanus, Wittenberg, 27. März 1522, in: Zeit‑ schrift für Kirchengeschichte 5 (1882), S. 332–333, hier S. 332. 411 Hieronymus Baumgartner an Hektor Poemer in Nürnberg, Wittenberg, 18. März 1522, in: Bornkamm (Hg.): Briefe, hier S. 148 f., hier S. 149 (Hervorhebung nicht im Origi‑ nal). 412 Johannes Magenbuch an Wolfgang Rychardius in Ulm, 16. März 1522, Zeitschrift für Kirchengeschichte 22 (1902), S. 126 f., hier S. 127. 413 Kessler ordnet die Rückkehr Luthers und die Invokavitpredigten rückblickend auch
3. Die Rücknahme der Reformen nach Luthers Rückkehr von der Wartburg
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Insgesamt zeigt der Vergleich der unterschiedlichen Überlieferungen und Au‑ genzeugenberichte, dass die Predigten in der Predigtsituation 1522, stärker als die Druckschrift es erkennen lässt, persönliche und heftige Vorwürfe gegen die Gemeinde und gegen einzelne Wittenberger Prediger enthielten. Doch galten die Vorwürfe zu diesem Zeitpunkt noch mehreren Predigern: Andreas Karlstadt, Gabriel Zwilling, möglicherweise auch Justus Jonas. Luther hatte damit in der konkreten Predigtsituation wohl die schon im Einigungsprozess zwischen Hof, Stadt und Universitätstheologen entstandene Kritik an diesen Predigern über‑ nommen.414 Die einseitige Zuspitzung auf Karlstadt ist ein Produkt späterer Ent‑ wicklungen, deren Anfänge in der Predigtnachschrift zu erkennen sind. Die in dem eingangs genannten Zitat Melanchthons vertretenen Vorstellun‑ gen gehen demnach auf Luthers eigene Deutung des Geschehens in seiner Ab‑ wesenheit im Winter 1521/22 zurück, wurden aber zusätzlich von den darauf folgenden Entwicklungen geprägt, die in den Überlieferungen der Predigten ihre Spuren hinterließen. Bereits in der Predigtsituation 1522 – dies zeigt sich anhand der Augenzeugenberichte und frühen Nachschriften – gelang es Luther, seine eigene Reformation von den Ereignissen in seiner Abwesenheit abzugren‑ zen, indem er die Prinzipien der Schonung der Schwachen im Glauben und der Selbstwirksamkeit des Wortes als Leitlinien auch für weitere Liturgiereformen aufstellte. Dabei richtete sich seine Kritik besonders gegen solche Reformen, die zu Missverständnissen in der Gemeinde geführt hatten, wie das Berühren des Kelches und der Hostien, die Gewänder der Priester und das Abendmahl un‑ ter beiderlei Gestalt. Auch die Erfahrungen mit den Reaktionen der Wittenber‑ ger Gemeinde auf die ersten Reformversuche sollten in der weiteren Reform des Gottesdienstes eine Rolle spielen. Schon in der Predigtsituation selbst markierte Luther seine Rückkehr als ei‑ nen Einschnitt im Verlauf der Reformation, welche die „radikalen“ Reformen in seiner Abwesenheit von seiner eigenen Form der Reformation trennte, und in‑ szenierte dabei nicht zuletzt auch sich selbst als den legitimen Reformator Wit‑ tenbergs. Bereits in den Predigten findet sich das schon in dem vorangegange‑ nen Brief an Friedrich den Weisen gezeichnete Bild der Zustände von Aufruhr und Unruhen in Luthers Abwesenheit, wobei hier von einem Bildersturm noch keine Rede ist. Erst im späteren Überlieferungsprozess kam die Fokussierung der Kritik auf Karlstadt und auf die Bilderfrage und den Bildersturm hinzu. Während Luther wohl in der Predigtsituation selbst eher die Gemeinde stärker angriff und Jonas, Zwilling und Karlstadt gleichermaßen als Prediger erwähnte, so rückte auf‑ grund der öffentlichen Auseinandersetzungen Luthers und Karlstadts in den explizit in diesen Zusammenhang ein: „Also ist anfangs der span zwüschend M. Luther und A. Carolostadt entstanden, aber erst hernach im XXIIII. Jar gar mit offentlichen gegenschriften ussbrochen; wie ich hernach verzeichnen will.“ Vgl. Kessler: Sabbata, S. 80. 414 Vgl. oben, S. 206.
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II. Wittenberger Unruhen?
folgenden Jahren Karlstadt retrospektiv immer stärker in den Vordergrund des Geschehens von 1522. Ähnliches gilt für die Bilderfrage, die zuerst nur einen Kritikpunkt Luthers unter vielen ausmachte, im Lichte der späteren Bilderkon‑ troverse jedoch schon in den folgenden Jahren zum Synonym für die Radikali‑ tät der Wittenberger Reformation in Abwesenheit Luthers wurde, was schließ‑ lich zur Vorstellung eines ausufernden „Wittenberger Bildersturmes“ führte.
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III. Die städtische Reformation (1523–24) – Liturgiereform als doppelter Distinktionsprozess Im Frühjahr 1523, also etwa ein Jahr nach den Invokavitpredigten, begannen in Wittenberg erneut Reformen der Liturgie. Nachdem die Gemeinde nun fast ein Jahr lang durch die Predigt des Wortes vorbereitet worden war, war es nun Zeit für Taten. Mit den Invokavitpredigten und der einstweiligen Aussetzung des Reformprozesses war es gelungen, eine Zäsur zu markieren, doch galt es auch weiterhin, diese neuen Reformen sorgfältig gegen die „radikalen“ Reformen in Luthers Abwesenheit abzugrenzen. Da jedoch auch die altgläubigen Kräfte mit dem Allerheiligenstift weiterhin eine bedeutende Stellung in der Stadt hat‑ ten, mussten die ersten Reformen, die ab 1523 unter Luthers Regie durchge‑ führt wurden, nun eine doppelte Distinktionsfunktion erfüllen: Sie mussten als „evangelische“ Reformen erkennbar sein und eine Abgrenzung gegenüber den altgläubigen Kräften in Wittenberg und dem Verständnis der Messe als Opfer und gutem Werk markieren, gleichzeitig jedoch auch von den als vorschnell und „radikal“ bezeichneten Reformen des Vorjahres zu unterscheiden sein. Vor diesem Hintergrund sollen die ersten Liturgiereformen unter der Re‑ gie Luthers in ihrer doppelten Funktion der Abgrenzung gegenüber Altgläubi‑ gen sowie Radikalen untersucht werden. Für beide Wittenberger Kirchen gilt es jeweils zunächst, die Diskussion der Reformen und ihre praktische Umset‑ zung nachzuzeichnen. Dabei ist sowohl nach der Entwicklung der Prinzipien Luthers und der weiteren Akteure in Hof und Stadt zu den Veränderungen der Ceremonien zu fragen, wie auch nach weiteren Bedingungsfaktoren der Um‑ setzung der Reformen. Ebenso soll auch hier wiederum anhand der Reaktio‑ nen der Wittenberger Bürger und Einwohner nach unterschiedlichen Wahrneh‑ mungen der veränderten Ceremonien gefragt werden. Schließlich ist in einem letzten Teil des Kapitels zu zeigen, wie sich dieser Prozess der Abgrenzung ge‑ gen die altgläubigen Kräfte in der Stadt 1524 zuspitzte und im Zusammenspiel von städtischer Obrigkeit und Universitätstheologen zu einer entscheidenden Verschiebung der geistlichen Machtverhältnisse führte.
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1. Erneute Reformen in der Stadt und die Abgrenzung gegen die „Radikalen“ Die ersten Reformen des Gottesdienstes in der Pfarrkirche begannen, dem Grundsatz der Abgrenzung gegenüber den altgläubigen Kräften entsprechend, nicht sofort mit der Reform des Abendmahls unter beiderlei Gestalt, dessen Einführung ein Jahr zuvor zu besonders großem Aufsehen und zu Missver‑ ständnissen geführt hatte. Vielmehr begannen sie zunächst mit der Abschaf‑ fung der Messen und Stiftungen ohne Gemeindebeteiligung in der Pfarrkirche. Dieser Punkt war theologisch von hoher Priorität und hatte in der Diskussion über die Messe an der Wittenberger Universität 1520–1522 eine zentrale Rolle gespielt.1 Ausgehend von der Universität hatte diese Forderung seit dem Som‑ mer 1521 eine große soziale Integrationskraft für die Gruppe der Wittenber‑ ger und ihr Selbstverständnis als diejenigen, welche dem neu entdeckten Evan‑ gelium zugehörten, entfaltet. „Nos Wittenbergenses non audimus missas“ hatte im September 1521 der Student Johannes Helmann in einem privaten Brief ge‑ schrieben, worin er die Stimmung unter den Wittenberger Studenten schilder‑ te. 2 Die Ablehnung der Messen war von der Universität bald auf die gesamte Stadt übergegangen. „Nos Wittenbergenses“ umfasste nun Bürger und Studen‑ ten, welche sich zunächst besonders in der gemeinsamen Ablehnung der Mes‑ sen als Gruppe konstituierten. An diese gemeinsame städtische Ablehnung der Messen ohne Gemeindebeteiligung, welche in die Zeit vor den nun als „radikal“ gekennzeichneten Reformen von 1521/22 zurückreichte, knüpften die ersten neuen Veränderungen der kirchlichen Ceremonien unter der Regie Luthers an, wie im Folgenden anhand der ersten Reformen des Gottesdienstes in der Pfarr‑ kirche, des Fronleichnamsfestes und des Festes der Heiltumsweisung zu zei‑ gen ist.
1 Vgl. zur Diskussion über die Messe an der Wittenberger Universität Kruse: Universi‑ tätstheologie, S. 282–315. 2 Sebastian Helmann an Johann Heß, 8. Oktober 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 15–19.
1. Erneute Reformen in der Stadt und die Abgrenzung gegen die „Radikalen“
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1.1. Die täglichen Gottesdienste in der Pfarrkirche Die ersten praktischen Veränderungen, mit denen Luther im Frühjahr 1523 be‑ gann, betrafen so zunächst die gestifteten Messen und die Stundengebete in der Pfarrkirche.3 Als „Privatmessen“ ohne Gemeindebeteiligung waren diese litur‑ gischen Übungen zu bestimmten Tages‑ und Nachtzeiten, die im Gegensatz zur sonntäglichen Messe ohne Beteiligung der Gemeinde stattfanden, bereits im Sommer und Herbst 1521 besonders in die Kritik geraten. Solche Messen wa‑ ren es auch jeweils, die Anfang Dezember 1521 in der Pfarrkirche, am Heiligen Abend 1521 und erneut am Weihnachtstag 1522 in der Stiftskirche von Bürgern und Studenten gestört wurden. Mit der neuen Stadtordnung des Rates im Januar 1521 waren diese täglichen Messen zunächst vollständig abgeschafft worden, so dass nur noch der sonn‑ tägliche Gemeindegottesdienst blieb. Auch Luther hatte die bereits abgeschaff‑ ten Privatmessen im März 1522 nicht wieder eingeführt.4 Ob seit dem Winter 1521 tatsächlich fast ein Jahr lang keine täglichen Gottesdienste stattgefunden 3 Die Reformen der Stundengebete und täglichen Messen wurden von der kirchen‑ geschichtlichen und liturgiewissenschaftlichen Forschung im Gegensatz zur Reform des Hauptgottesdienstes eher wenig beachtet. Eine Ausnahme bilden hier lediglich die neueren Studien Andreas Odenthals, welche das Thema aus liturgiewissenschaftlicher Sicht anhand einzelner liturgischer Bücher verschiedener protestantischer Stifte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vergleichend behandeln, vgl. Andreas Odenthal: „…matutinae, horae, vesperae, completorium maneant…“. Zur Umgestaltung der Offiziumsliturgie in den Kir‑ chen des frühen Luthertums anhand ausgewählter liturgischer Quellen, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 46 (2007), S. 89–122; Ders.: Die Ordinatio Cultus Divini et Caere‑ moniarum des Halberstädter Domes von 1591. Untersuchungen zur Liturgie eines gemischt‑ konkressionellen Domkapitels nach Einführung der Reformation, Münster 2005, S. 5–18; Ders.: „totum psalterium in usum maneat“. Martin Luther und das Stundengebet, in: Diet rich Korsch (Hg.): Martin Luther – Biographie und Theologie, Tübingen 2010, S. 69–118. Vgl. zusammenfassend jetzt auch Ders.: Liturgie von Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung, Tübingen 2011. Vgl. speziell zur Wittenberger Reformation auch Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 126 f., der auf den Vorbildcharakter dieser Gottesdienste für die zwei Jahre später eingeführten Stundengebete am Zürcher Großmünster hinweist, die Zwingli mit derselben Bibelstelle aus dem ersten Paulusbrief an die Korinther begründet (1. Kor. 14,26 ff.). Zu Luthers Haltung vgl. auch Angelus A. Häussling: Luther und das Stundengebet, in: Heinrich Riehm (Hg.): Freude am Gottesdienst. Festschrift für Frieder Schultz, Heidelberg 1988, S. 419–427. Zur Tagzeitenliturgie in der Reformation allgemein vgl. außerdem Ernst Koch: Fürbitte für die ganze Christenheit. Zur Geschichte des Tagzeitengebets im deutschsprachigen Raum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 45 (2006), S. 81–102, hier S. 82–84; Ingrid Vogel: Die Tagzeitenliturgie, in: Schmidt‑Lauber/Blanck/Bieritz (Hgg.): Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, S. 268–284; Herbert Goltzen: Der täg‑ liche Gottesdienst. Die Geschichte des Tagzeitengebets, seine Ordnung und seine Erneuerung in der Gegenwart, in: Karl Ferdinand Müller/Werner Blankenburg (Hgg.): Leitur‑ gia. Handbuch des Evangelischen Gottesdienstes, Bd. 3: Gestalt und Formen des Gottesdiens‑ tes, S. 99–296, hier S. 187–198. 4 Vgl. oben, S. 226.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
hatten, bleibt dennoch unklar, denn es ist nicht bekannt, ob Luther die tägliche Liturgie in der Pfarrkirche bei seiner Rückkehr tatsächlich vollständig aufge‑ hoben vorfand.5 Auch die wenigen vorhandenen Quellen über die Praxis aus dieser Zeit scheinen hier widersprüchlich: Der Wittenberger Stadtpfarrer Si‑ mon Heins verfügte über zwei Messbenefizien an der Wittenberger Stadtkirche „eyns von Edelleuten, das ander von eynem burger“, die ihm jährlich 18 Gulden einbrachten und für die er eine bestimmte Anzahl von Messen zu lesen hatte.6 Da Heins diese Einkünfte noch Ende 1522 erhielt, ist davon auszugehen, dass er auch damit verbundene Pflichten noch zu erfüllen hatte. Dem gegenüber heißt es jedoch in dem bereits oben zitierten Druck mit Neuigkeiten aus Wittenberg vom Januar 1522, „der pfarher in der stat hot alle syn lehen verlossen“.7 Falls diese Angabe stimmt, so galt sie möglicherweise nur temporär, da der Pfarrer noch 1522 sein Geld erhielt. Insgesamt ist der Sachverhalt also nicht eindeutig zu belegen, doch aufgrund der genannten Hinweise ist davon auszugehen, dass an der Wittenberger Pfarrkirche noch eine gewisse Anzahl von Privatmessen gehalten wurde. Ähnliches gilt für die täglichen Offizien, denn Luther wollte noch im Frühjahr 1523 eine Ersatzform für diese finden. 1.1.1. Wort und Ceremonie – liturgische Maßstäbe der ersten Reformen Diese ersten Reformen der täglichen Messen und Stundengebete sind nun im Wittenberger Kontext näher zu betrachten, weil sie nicht nur den Anfang ei‑ ner Reihe von Liturgiereformen bilden, sondern darüber hinaus auch wichtige Grundsätze der noch folgenden Reformen und des neuen Umgangs mit den Ce‑ remonien insgesamt zeigen. Zu einer Reform der Tagzeitenliturgie hatte Luther sich bereits im Jahr 1519 grundsätzlich geäußert, indem er auf Anfrage Spala‑ tins Vorschläge zur Gestaltung der „Stiftung zur Betrachtung der heilwertigen Leiden Christi“ gemacht hatte.8 Die als „Offizium“ verstandene tägliche Litur‑ gie war damit auch der erste Bereich gewesen, in dem Luther sich auf Anfrage des Hofes in liturgischen Fragen geäußert hatte.9 Bereits damals hatte er Vor‑ schläge gemacht, welche das Verständnis dieser liturgischen Übungen vollstän‑ dig umkehrten. Während das ursprüngliche Ziel dieser Stiftung, wie auch der 5
Die Weimarer Ausgabe geht davon aus, vgl. WA 12, S. 31. Das geht aus einer von Nikolaus Müller aufgefundenen Quittung im Wittenberger Rats‑ archiv vom 29. November 1522 hervor, die der Pfarrer Simon Heins dem Rat über den Emp‑ fang der Zinsen ausstellte. Vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 279, Anm. 5. Ori‑ ginalquittung im Wittenberger Stadtarchiv, Bestand „Acta, die vom Rathause zu Wittenberg verschrieben Jährlichen Erb‑ und wiederkäuflichen Zinnßen Dem Gottes Kasten zu entrich ten usw.“ 7 „Sendtbrif D. Andree Boden. von Carolstat meldende seiner wirtschaft Nuwe gschicht von pfarren etc.“, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 209–211. 8 Vgl. oben, S. 94–97. 9 Zum Verständnis der Liturgie als Offizium vgl. Kap. I.2., S. 85–86. 6
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Offizien der Schlosskirche insgesamt war, mit der ununterbrochenen Abfolge von Messen, Gebeten und Gesängen eine besonders hohe heilbringende Wir‑ kung für den Stifter und das Gemeinwesen zu erreichen, hatte Luther mög‑ lichst viele Pausen vorgeschlagen, um einer Ermüdung der beteiligten Priester und Sänger vorzubeugen. In diesem Zusammenhang hatte er eine Unterschei‑ dung zwischen guten und schlechten Ceremonien entwickelt, wonach allein die Wirkung auf die Anwesenden entscheidend war. Während schlechte Ceremo‑ nien die Beteiligten in einer falschen Sicherheit wiegten, ein gutes Werk voll‑ bracht zu haben, und gleichzeitig durch häufige Wiederholungen eine innere geistige Beteiligung geradezu verhinderten, hatten gute Ceremonien den ge‑ genteiligen Effekt: Maßvoll eingesetzt führten sie bei den Beteiligten zu innerer geistiger Erkenntnis und Berührung. Dieses positive Verständnis der Ceremo‑ nien als geistliche Übungen zur Verinnerlichung entwickelte Luther mit seinen ersten eigenen Liturgiereformen an der Wittenberger Pfarrkirche nun weiter. Die theologischen Maßstäbe der neuen Reformen legte er auf Anfrage der kursächsischen Gemeinde Leisnig im Frühjahr 1523 in der Schrift „Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine“ dar.10 Diese Schrift, die zunächst in Wittenberg und danach an zahlreichen anderen Orten im Druck erschien,11 enthält grund‑ sätzliche Überlegungen zu einer Liturgiereform nach evangelischen Maßstäben und konkrete Anweisungen für die ersten Reformen nach den Invokavitpre‑ digten in Wittenberg. Als leitendes Prinzip kann dabei die Formulierung „das das wort im schwange gehe und nicht widerumb ein loren und dohnen daraus werde“ gelten, welche sich mehrfach in der Schrift findet: Alle Teile der Messe sollten ihren Wert und ihre Berechtigung nur danach erhalten, dass sie einem inneren Verständnis des Evangeliums, des „Wortes“, dienten.12 Entsprechend wurde die Schriftlesung und ‑auslegung unverzichtbar, nicht nur für den sonn‑ täglichen Gemeindegottesdienst, sondern gerade auch für die täglichen Stun dengebete, wenn diese beibehalten werden sollten.13 Im Einzelnen sah Luther dazu zweimal täglich eine Schriftlesung und -ausle‑ gung morgens und abends von etwa einer halben Stunde vor. Eine weitere halbe 10 Martin Luther: „Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde“, in: WA 12, S. 35–37. Zur Anfrage der Gemeinde Leisnig vgl. WA 12, S. 5. 11 Die Weimarer Ausgabe listet zehn selbstständige Drucke und drei weitere in Sammel‑ werken auf, vgl. WA 12, S. 32–34. Obwohl viele Drucke Wittenberg als Druckort nennen, trifft dies wohl nur auf einen einzigen aus der Druckwerkstadt Cranachs und Dörings zu, dem die Textausgabe folgt. Die Tatsache, dass Wittenberg fälschlicherweise als Druckort ge‑ nannt wird, weist jedoch darauf hin, dass die Stadt bereits zu diesem Zeitpunkt als Vorbild in Fragen der Gottesdienstgestaltung gelten konnte. 12 Ebd., S. 37. Vgl. zur Interpretation dieser Formulierung auch Karl‑Heinz Bieritz: „Daß das Wort im Schwang gehe“. Lutherischer Gottesdienst als Überlieferungs‑ und Zei‑ chenprozess, in: Ders. (Hg.): Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt, Stuttgart 1995, S. 82–106, bes. S. 94. 13 „Darumb wo nit gotts wort predigt wirt, ists bessser, das man wider singe noch lese, noch zu samen kome.“, Luther: „Von Ordnung“, S. 35.
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Stunde wurde anschließend für Gebete und Gesänge von Psalmen bestimmt.14 Insgesamt sollte jedoch die Lektion nicht länger als eine Stunde dauern, damit die Seelen „nicht mude und uberdrussig“ würden.15 Wie Luther es bereits 1519 gefordert hatte, grenzte sich die neue Form auch hier wieder ausdrücklich da‑ gegen ab, „wie bis her in klostern und stiften sie sich mit esels arbeit beladen ha ben“.16 Den bloßen Ceremonien an sich wurde nun kein Wert mehr beigemes‑ sen, mit ihnen hätte man in Klöstern und Stiften „nur die wende […] angeble het“.17 Nur im Zusammenhang mit der Schriftlesung und Auslegung konnten sie zu „guten Ceremonien“ werden, indem sie zu einem verinnerlichten Ver‑ ständnis des Wortes beitrugen, dass das Wort Gottes „ym schwang gehe und die seelen ymer auffrichte und erquicke, das sie nicht lassz werden“.18 Hatte Luther schon 1519 den maßvollen Einsatz der liturgischen Übungen betont, so wurde deren positiver Charakter als geistliche Übungen der Verinnerlichung nun wei‑ ter ausgebaut, indem sie in einen untrennbaren Zusammenhang mit der Schrift‑ lesung und ‑auslegung gestellt wurden. Die Ceremonien der Stundengebete und täglichen Messen verloren damit ihren Wert an sich, sie sollten nicht mehr als „Offizien“ vollzogen, sondern nur zur Unterstützung der Verkündigung des Wortes eingesetzt werden. Die Liturgie wurde so gestaltet, dass sie der Beleh‑ rung der Gemeinde diente.19 Dieser Grundsatz, der bei späteren Reformen des Gottesdienstes beibehalten werden sollte, steht hier auch im Zusammenhang mit der konkreten Funktion, welche Luther den Tagzeitengebeten zuwies: Sie sollten der Unterweisung der Jugend in der Schrift dienen. 20 Die Horen wurden damit zu „Lern‑Zeiten des Glaubens umgedeutet“. 21 Dieser Zweck wird auch in Luthers Anweisung deutlich, dass die Schriftlesung und ‑auslegung fortlaufend in Form der lectio continua geschehen sollte, so dass nach und nach alle bibli‑ schen Texte ausgelegt wurden. 22 Zielgruppe der täglichen Schriftlesungen wa‑ 14 Goltzen
geht jedoch davon aus, dass Luther hiermit keine Reihenfolge von Lesung, Predigt und anschließenden Gesängen und Gebeten festlegen wollte, sondern diese Elemente nur ihrer Priorität nach aufzählte und für die praktische Durchführung die Ordnung des Magdeburger Breviers voraussetzte, vgl. Goltzen: Der tägliche Gottesdienst, S. 193. Da‑ gegen spricht jedoch der Wortlaut der Schrift, welcher mit „darauf“ einen zeitlichen Ablauf nahe legt, vgl. Luther: „Von Ordnung“, S. 35. 15 Luther: „Von Ordnung“, S. 35. 16 Ebd., S. 36. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Nach Goltzen: Der tägliche Gottesdienst, S. 191, wirkte sich dieser erzieherische Zweck verhängnisvoll für das Weiterleben des Stundengebets im Luthertum aus. 20 Dieser Gedanke findet sich explizit in der wenig später erschienenen Schrift „Formula Missae et Communionis“, in: WA 12, S. 219, vgl. unten, S. 252 Anm. 42. 21 Odenthal: „matutinae, horae […] maneant“, S. 103. 22 „Nemlich das man eyn buch fur sich neme und eyn Capitel odder zwey oder eyn halbes leße bis es aus sey, dar nach eyn anders fur nehmen, und so fort, bis die gantze Biblia ausgelesen werde“, vgl. Luther: „Von Ordnung“, S. 36.
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ren so die Schüler der Lateinschulen und Priester der Kirchen, 23 die auch bisher in der Wittenberger Pfarrkirche die Horendienste versehen hatten. 1.1.2. Praxis der ersten Reformen in der Pfarrkirche Ob die Schrift „Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde“ bereits eine Zu‑ standsbeschreibung der Wittenberger Praxis als Leitfaden für die Gottesdienst‑ reform der Leisinger und anderer Gemeinden darstellte oder ob Luther hier eher zukünftig umzusetzende Reformvorstellungen für seine Wittenberger Ge‑ meinde formulierte, ist letztlich nicht zu klären, besonders, da das genaue Ent‑ stehungsdatum der Schrift unbekannt ist. 24 Der früheste bekannte Nachdruck lag am 19. Mai 1523 in Zwickau vor, so dass sie einige Zeit vor diesem Datum entstanden sein muss. 25 Dies kann jedoch noch immer nach der Einführung der neuen Praxis in Wittenberg gewesen sein, denn Luther kündigte hier die Reformen bereits in seiner Predigt vom 11. März an. Am Schluss der Predigt dieses Sonntags heißt es, fortan werde in Witten‑ berg keine Messe mehr an Wochentagen gehalten. Nur noch sonntags solle eine Gemeindemesse stattfinden, es sei denn, jemand begehrte das Sakrament an ei‑ nem Wochentag.26 Auch zu den Wochengottesdiensten mit täglicher Schriftaus‑ legung, welche die Schrift „Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine“ aus‑ führlich begründete, finden sich hier konkrete Anweisungen: Die Geistlichen und Schüler sollen an einzelnen Tagen für zwei Stunden morgens und abends zusammenkommen, um morgens das Neue und abends das Alte Testament zu lesen und auszulegen.27 Unabhängig davon, ob die Schrift nun vor oder nach der Umsetzung der Reformen in Wittenberg erschien, kann damit festgehalten wer‑ den, dass ihre Bestimmungen im Frühjahr 1523 in Wittenberg praktisch umge‑ 23 „Auch ob solchs tegliches gottis diensts villeicht nicht die gantze versammlung gewartten kunde, sollen doch die priester und schuler […] solchs tun“, ebd. 24 Die letztere Meinung vertritt Theodor von Kolde: Martin Luther. Eine Biographie, Gotha 1893, Bd. 2, S. 107, erstere Gustav Kawerau als Herausgeber der Weimarer Ausgabe, vgl. WA 12, S. 32, sowie Emil Sehling als Herausgeber der evangelischen Kirchenordnungen, vgl. Emil Sehling (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, 4 Bd., Leipzig 1902, Bd. I, S. 2. 25 Vgl. die Einleitung des Herausgebers in: WA 12, S. 32. 26 „Post hunc sermonem locutus est de missa abroganda, ne scilicet singulis diebus habe retur missa, sed solum dominicis, nisi quispiam participare velit mense domini in septimana, tum celebrandam missam dicebat“, Predigt über das Ave Maria, 11. März 1523, in: WA 11, S. 59–62, hier S. 61. Da Georg Rörer, aus dessen Mitschriften die Predigten Luthers ab 1523 überliefert sind, den Predigttext jeweils in der indirekten Rede wiedergibt und die Verbfor‑ men daher ohnehin im Konjunktiv stehen, ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob es sich hier um Feststellungen Luthers („fortan wird keine Messe mehr gehalten“) oder um Forderungen für die Zukunft („fortan soll keine Messe mehr gehalten werden“) handelt. 27 „Item addidit de ordinatione servanda, ut clerus et scholastici singulis diebus conveniret duas horas mane et vesperi, ut mane liber novi testamenti legeretur et interpretaretur, vesperi veteris testamenti.“ Predigt über das Ave Maria, 11. März 1523, in: WA 11, S. 59–62, hier S. 62.
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setzt wurden. Dies bestätigen auch die Aufzeichnungen in der Chronik Spala‑ tins, wo es heißt: „Feria II post Judica Vuittenbergae in Templo Parochiali, ut mihi inde Andr. Pretinus meus scripsit, autore Doctore Mart. Luthero, abrogatis omnibus missis privatis.“ 28 Die Autorität und Vorbildfunktion dieser ersten liturgischen Neu‑ ordnungen zeigen sich in den vielen Nachdrucken der Schrift, die teilweise mit dem Nachsatz warben: „Solche ordnung halt man zu Wittenberg als oben ge schriben stodt allen tag.“ 29 Obwohl unklar bleiben muss, ob der Übergang von der alten zur neuen Form der täglichen Gottesdienste ein nahtloser war, wird in den hier skizzierten Re‑ formen ein deutliches Bestreben deutlich, an bestehende Formen anzuknüpfen und Kontinuitäten zu schaffen. Die Uhrzeiten, welche Luther nannte, morgens früh um vier oder fünf Uhr und abends um fünf oder sechs Uhr,30 orientierten sich an der Mette und der Vesper. Damit blieb der Rahmen des Tagesablaufes für Priester und Schüler bestehen, die frei werdenden Zeiten tagsüber konnten an‑ ders genutzt werden. Im Gegensatz zur Stiftskirche war die Umgestaltung der Tagzeitenliturgie an der Pfarrkirche jedoch praktisch viel einfacher durchführ‑ bar: Als Gemeindekirche war ihre Funktion in dem System der Heilsökonomie nicht ausschließlich auf die Horendienste als Offizien beschränkt, diese konn‑ ten hier leicht durch andere Aufgaben, wie hier die der Schriftlesung und Aus‑ legung, ersetzt werden. Das einzige organisatorische Problem bestand zunächst darin, einen geeigneten Prediger für die Auslegung des Evangeliums zu finden und dessen Bezahlung durch Spenden aus der Gemeinde zu organisieren.31
1.2. Die Formula Missae et Communionis Im Gegensatz zu den täglichen Gottesdiensten war die sonntägliche Messe in der Pfarrkirche, zu welcher die ganze Gemeinde versammelt wurde, zunächst weitgehend in ihrer bisherigen Form belassen worden.32 Luther hatte den Zu‑ sammenhang von Stadtgemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft in seinen 28 Spalatin: „Chronicon Sive Annales“, in: Mencke (Hg.): Scriptores, Sp. 590–664, hier Sp. 620 f. 29 WA 12, S. 37. 30 Luther: „Von Ordnung“, S. 35 f. 31 Noch am 6. April, dem zweiten Osterfeiertag, ermahnte Luther das Volk, nicht nur die Armen zu unterstützen, wie sie früher die Mönche unterstützt hätten, sondern auch dem Ausleger des Evangeliums ein Einkommen bereitzustellen. Am Ende der Predigt heißt es so: „primo admonuit populum, ut qui antea assueti fuissent dare vas ziti monachis, ut hoc iam daretur in usum pauperum: si prius diabolo, iam deo daretur. Secundum de lectione Euange lica, ut huic daretur, qui praeesset ei rei, stipendium.“ Predigt am Abend des zweiten Oster‑ feiertages, 6. April 1523 (Nachschrift Georg Rörers), in: WA 11, S. 85–87, hier S. 87. Vgl. auch Brecht: Luther, Bd. 2, S. 126. 32 Luther: „Von Ordnung“, S. 37.
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Schriften hergestellt, und für Rat und Kurfürst war sie bei allen Reformen stets das vorrangige Ziel gewesen. Als besonders schwerwiegend kann daher gelten, dass die städtische Abendmahlsgemeinschaft mit der Rücknahme der Reformen durch Luther im März 1522 nun getrennt wurde: So konnten diejenigen, welche im Glauben gefestigt genug waren, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt emp‑ fangen, was jedoch zur Schonung der Schwachen außerhalb des regulären Got‑ tesdienstes geschehen sollte.33 Alle anderen sollten jedoch weiterhin das Abend‑ mahl nach altem Gebrauch unter einer Gestalt nehmen, bis das Wort genug ge‑ predigt worden war, um die notwendigen Reformen zu veranlassen.34 Hinzu kam jedoch zunehmend eine dritte Gruppe, die offensichtlich selbst den mode‑ raten Reformen in der Pfarrkirche misstraute und nun das Sakrament im Aller‑ heiligenstift nehmen wollte, das von allen Änderungen unberührt geblieben war. Um die auf diese Weise getrennte Gemeinde wieder zu einen, begann Luther nun, fast zwei Jahre nach den Invokavitpredigten, die Gemeinde in Predigten auf eine erneute Reform des Gottesdienstes vorzubereiten, mit der unter ande‑ rem das Abendmahl unter beiderlei Gestalt als verbindlich für die ganze Ge‑ meinde eingeführt werden sollte. Diese Forderung hatte Luther erstmals schon im Januar 1523 gegenüber Spalatin geäußert, und zwar mit Blick auf die Stifts‑ herren, welche jede Messreform verweigerten: Auf die Schwachen sei nun ge‑ nug Rücksicht genommen worden.35 Diese Äußerung ist jedoch nur als Angriff auf die kompromisslose Haltung der Stiftsherren zu verstehen. Im Gemeinde‑ gottesdienst war eine Abendmahlsreform zu diesem Zeitpunkt hingegen noch nicht angesprochen oder gar durchgeführt worden, wie die Predigten der fol‑ genden Zeit zeigen.36 Gegenüber der Wittenberger Gemeinde in der Pfarrkirche begann Luther mit entsprechenden Erläuterungen erst in der Passionszeit 1523, in der wie üblich über das Sakrament gepredigt wurde.37 In der Nachmittags predigt vom 15. März verwies er so gegenüber der Gemeinde auf die zentrale Bedeutung der Einsetzungsworte „Edite, hoc est corpus“; allein von diesen her sei die Bedeutung des Sakramentes zu verstehen: „ad hoc verbum posuit deus signum panis.“ Brot und Wein als Zeichen seien allein nichts wert: „es lig mer an 33 Dieses sollte auf einem besonderen Altar und zu anderen Zeiten geschehen, vgl. Luther: „Von beider Gestalt“, S. 32. 34 Ebd., S. 25. 35 „Utraque speciem libere dandam & accipiendam deinceps censeo. Satis enim hactenus infirmis indultum est.“ Luther an Spalatin, 14. Januar 1523, in: WA Br. 3, S. 16; vgl. dazu aus‑ führlicher unten, S. 270. 36 Anders: Brecht, Martin Luther, Bd. 2, S. 125. 37 Predigt über das Ave Maria, 11. März 1523, S. 59–62, hier S. 61: „Post hunc sermonem locutus est de missa abroganda, ne sicilet singulis diebus haberetur missa, sed solum dominicis, nisi quispiam participare velit mense domini in septimana, tum celebrandem missam dicebat.“ Luthers Predigten sind in lateinischen Nachschriften seines Schülers und Sekretärs Georg Rörers überliefert. Vgl. zu Georg Rörer und seiner Überlieferungstätigkeit zuletzt Stefan Michel/Christian Speer (Hgg.): Georg Rörer (1492–1557). Der Chronist der Wittenber‑ ger Reformation, Leipzig 2012.
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den worten den signo.“ 38 Das Abendmahl sei der Einsetzung Christi entspre‑ chend unter beiderlei Gestalt zu nehmen, denn da Christi Blut für alle vergossen wurde, sollten auch alle davon trinken.39 Der Gebrauch des Abendmahls unter beiderlei Gestalt stand so in unmittelbarem Zusammenhang mit dem veränder‑ ten Sakramentsverständnis und war mit dem wörtlichen Verständnis der Ein‑ setzungsworte begründet.40 Was Luther zuvor für die Ceremonien der Messe festgestellt hatte, sollte nun auch für die dinglichen Zeichen gelten. Anschließend an diese allgemeinen Bemerkungen gibt Georg Rörers Predigt‑ nachschrift einige praktische Anweisungen Luthers für die Abendmahlspraxis der Wittenberger Gemeinde wieder: Die noch immer Schwachen im Glauben wollte Luther nun bitten, sie mögen die Einsetzung Christi höher schätzen als ihre Gewohnheiten.41 Wann das erste von Luther gebilligte Abendmahl unter beiderlei Gestalt in der Wittenberger Pfarrkirche gefeiert wurde, ist im Einzel‑ nen nicht belegt; spätestens fand es jedoch mit der Einführung der ersten, noch lateinischen Gottesdienstordnung Luthers, der „Formula missae et communio nis pro ecclesia Wittenbergensis“ Weihnachten 1523 statt.42 Diese neue Gottesdienstordnung, auf die Luther seine Gemeinde in zwei Predigten im Dezember 1523 vorbereitete,43 sollte als Vorbild für andere Ge‑ meinden dienen und fasste die Reformen zusammen, die er in Wittenberg be‑ reits umgesetzt hatte oder noch umzusetzen plante. Sie orientierte sich in ih‑ rer Struktur noch stark am Vorbild der Römischen Messe, die Luther von den späteren Zusätzen gereinigt wissen wollte.44 Auch hier war wieder die Auslas‑ 38 Rörer gibt in seinen Predigtnachschriften jeweils die Stellen, die ihm besonders bedeut‑ sam erscheinen, in der deutschen Originalsprache wieder. Predigt am Sonntag Laetare nach‑ mittags, Nachschrift Georg Rörers, 15. März 1523, in: WA 11, S. 65–67, hier S. 66. 39 „Sophistae dicerunt, illa verba dici de sacerdotibus. Si hoc est, cur datur omnibus. Item sanguis pro nobis effusus est omnibus , ergo non solum a sacerdote bibendus.“, ebd. 40 Vgl. Staubach: Kultsymbolik, S. 28. 41 „si tamen aliquis tam infirmus est, faciemus sicut Christus in Euangelio cum Andrea et Philippo hodie, tamen interim petimus, ut volent christi institutionem potuis incipere probare quam consuetudinem.“, ebd. 42 Martin Luther: „Formula missae et communionis pro ecclesia Wittenbergensis“, in: WA 12, S. 197–220. Obwohl die Schrift lateinisch verfasst war und Latein als liturgische Sprache vorsah, entstanden im Druck nur zwei lateinische Ausgaben, hingegen zehn Ausga‑ ben der beiden deutschen Übersetzungen der Schrift. Im Folgenden wird der Text nach der ersten deutschen Übersetzung durch Paul Speratus verwendet, die noch 1523 in Nürnberg erschien. Die Edition von Walch berücksichtigt die Varianten zum lateinischen Wittenber‑ ger Druck: Johann Georg Walch (Hg.): Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften. Band I – XXIII in 25 Bänden, Jena 1740–1753, Nachdruck der 2., überarbeiteten Auflage, St. Louis/ USA, 1880–1910, Bd. X, Sp. 2230–2257. 43 Vgl. Predigt am 2. Advent (6. Dezember) 1523, in: WA 11, S. 207–210, hier S. 209. Ins‑ besondere griff er hier wieder die Frage von Freiheit und Ordnung auf und grenzte die vor‑ sichtige neue Messordnung explizit gegen die zu schnellen und zu radikalen Reformen zwei Jahre zuvor ab. 44 So befasst sich der erste Teil der Schrift mit der Entwicklung der Messe bis hin zu ihrer damaligen Form, vgl. Luther: „Formula Missae“, Sp. 2235–2238.
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sung des Kanons der Messe und der Offertoriumsgebete, die auf das Messopfer verwiesen, zentral: „Darum wollen wir alles unterlassen, so nach Opfer klingt, sammt dem ganzen Canon […]“.45 Im Mittelpunkt stand nun die in jeder Messe zu haltende deutsche Predigt. Auf diese Weise sollte die Messe zunächst in ih‑ rer gewohnten Form belassen, gleichzeitig jedoch in ihrem Verständnis umge‑ deutet werden. In der Lutherforschung wurde die Formula Missae daher als ein „transitorisches Dokument“ beurteilt, welches nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zur „Deutschen Messe“ von 1526 bildete.46 Trotz ihres Übergangscha‑ rakters bildete die Formula Missae als erste agendarisch angelegte Gottesdienst‑ ordnung der Reformationszeit einen Einschnitt, indem sie erstmals die gesamte Messliturgie im Einzelnen regelte. Bis auf wenige Ausnahmen verstanden sich diese Regelungen jedoch ausdrücklich als Vorschläge, welche jeweils an die ört‑ lichen Gegebenheiten anzupassen waren. Die theologische Forschung hat die ersten liturgischen Ordnungen Luthers besonders hinsichtlich der Frage nach Innovation und Kontinuität zur mittelal‑ terlichen und altkirchlichen Tradition ausführlich und kontrovers diskutiert.47 Diese Diskussion soll hier nicht erneut aufgegriffen werden, vielmehr sind die liturgischen Ordnungen in ihrem sozialen Kontext in Wittenberg zu beleuch‑ ten. Dieser wird auch in der Formula Missae selbst deutlich, da Luther sich in seinen Erläuterungen häufig beispielhaft auf die Praxis in Wittenberg bezog. Wie im Folgenden anhand einiger Beispiele zu zeigen ist, orientierte sich die Ordnung an den Erfahrungen in der Wittenberger Gemeinde und nahm die ge‑ 45
Ebd., Sp. 2241. Dorothea Wendebourg: Essen zum Gedächtnis. Der Gedächtnisbefehl in den Abendmahlstheologien der Reformatoren, Berlin 2009, S. 57; ausführlicher auch schon Do‑ rothea Wendebourg: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen? Zur gegenwärtigen Dis‑ kussion über Luthers Gottesdienstreform und ihr Verhältnis zur Alten Kirche, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), S. 437–467, S. 459 f.; Dies.: Noch einmal: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen. Auseinandersetzungen mit meinen Kritikern, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 400–440; so auch Kaufmann: Abendmahl, S. 204. Wendebourg verweist dabei etwa auf die Einsetzungsworte, die hier im Gegensatz zur Deut‑ schen Messe noch nicht „schlackenlos“ zur Geltung gebracht würden. 47 Vgl. Dorothea Wendebourg: Luthers Reform der Messe – Bruch oder Kontinuität?, in: Bernd Moeller/Stephen Buckwalter (Hgg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Göttingen 1998, S. 289–306; Dies.: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen?; Dies.: Noch einmal: Den falschen Weg Roms. Kritisch zu den Positionen Wendebourgs vgl. etwa Ulrich Kühn: Der eucharistische Charakter des Herrenmahls, in: Pastoraltheologie 88 (1999), S. 255–268; Hans‑Christoph Schmidt‑Lauber/Frieder Schulz: Kerygmati‑ sches oder eucharistisches Abendmahlsverständnis? Antwort auf eine kritische Herausforde‑ rung der gegenwärtigen Liturgiewissenschaft, in: Liturgisches Jahrbuch 49 (1999), S. 93–114; Jörg Neijenhuis: Luthers Deutsche Messe als Ermöglichung des Eucharistiegebetes. Eine Auseinandersetzung mit Dorothea Wendebourgs Beitrag: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen?, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 38 (1999), S. 9–39; Frieder Schulz: Eingrenzung oder Ausstrahlungen. Liturgiewissenschaftliche Bemerkungen zu Dorothea Wendebourg, in: Michael Meyer‑Blanck: Liturgiewissenschaft und Kirche: Ökumeni‑ sche Perspektiven, Rheinbach 2003, S. 91–107. 46 Vgl.
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nannten theologischen Umdeutungen innerhalb dieses Rahmens vor. Eine be‑ sondere Rolle spielte dabei noch immer die Notwendigkeit der Abgrenzung ge‑ genüber „altgläubigen“ wie „radikalen“ Tendenzen, also gegen das noch im‑ mer bestehende altgläubige Messverständnis, wie auch gegen die „fleischlichen Missverständnisse“, welche Luther in seiner Wittenberger Gemeinde erfahren hatte. Wie oben dargestellt, hatten bestimmte Merkmale bei den ersten Gottes‑ dienstreformen 1521 besonders zu Irritationen bei den Altgläubigen und Miss‑ verständnissen in der Gemeinde geführt, so etwa die (wegfallende) Vorberei‑ tung auf den Abendmahlsempfang, das Berühren des Sakramentes durch die Laien, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt und die (weltliche) Kleidung der Priester. In der Entwicklung dieser Elemente in der Formula Missae zeigt sich nun, auf welche Weise die theologischen Umdeutungen in Reaktion auf die Er‑ fahrungen in der Wittenberger Gemeinde vorgenommen wurden. Das Prinzip der doppelten Abgrenzung gegen „altgläubige“ und neue „radi‑ kale“ Tendenzen wird so zunächst in der Frage nach der Vorbereitung auf das Abendmahl deutlich. Im Gegensatz zu dem traditionellen Nüchternheitsgebot heißt es in der Formula Missae, es stehe jedem frei, sich mit Fasten und Gebe‑ ten vorzubereiten. Soweit galt der Grundsatz der Freiheit in liturgischen Din‑ gen, welcher der Liturgie in weiten Teilen zugrunde lag. Gleich darauf folgte je‑ doch die Einschränkung, die Menschen sollten „zum wenigsten […] doch nüch tern sein“.48 Die Aufhebung des Nüchternheitsgebotes durch Karlstadt hatte den Reformen damals den Vorwurf eingebracht, einige Kommunikanten hätten zuvor Branntwein getrunken. Luther reagierte auf diese Erfahrungen, indem er sich nun explizit gegen das „überflüssige Fressen und Saufen“ aussprach.49 Die beste Vorbereitung sei jedoch eine innere, „wenn der Mensch mit Sünden, Tod und Anfechtung betrübt und geängstigt, Hunger und Durst hat“. Ebenso abzu‑ grenzen sei die neue Form jedoch gegenüber „abergläubischer Mäßigkeit oder nüchternem Leben, wie [es] im Pabstthum gewesen ist“.50 Beispielhaft zeigt sich hier, wie sich die Erfahrungen aus den ersten Reformen 1521 auf das liturgische Schaffen Luthers auswirkten. Das Fasten als Abendmahlsvorbereitung konnte nicht einfach abgeschafft werden, sondern musste vielmehr in seiner sozialen Funktion belassen und gleichzeitig in dem neuen, evangelischen Verständnis umgedeutet werden. So knüpfte Luther an das alte Vorbereitungsritual an und nahm zugleich eine Umdeutung vom körperlichen Reinheitsgedanken hin zu geistiger, innerer, wortgestützter Vorbereitung vor. Ähnliches gilt für die Kleidung der Priester, auf welche ebenfalls nicht ein‑ fach verzichtet werden konnte. Hatte die weltliche Kleidung Karlstadts in den 48
Luther: „Formula Missae“, Sp. 2249.
49 Ebd. 50 Ebd.
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Augenzeugenberichten der ersten Reformen besonderen Anstoß erregt, so trug Luther diesem Umstand in der Formula Missae Rechnung, indem er eine evan‑ gelisch umgedeutete Form der Weihe von Kleidern vorschlug: In Abgrenzung gegen das altgläubige Verständnis forderte er zunächst, dass „Gepränge und üb riger Ueberfluß“ vermieden werden solle. Der Gebrauch von liturgischer Klei‑ dung sei, ebenso wie alle äußeren Dinge, freigestellt; auch sei die Kleidung der Priester nicht heiliger als gewöhnliche Kleidung und solle deshalb eigentlich nicht geweiht werden. Mit dem Vorschlag eines „gemeinen Segen[s]“, da die Kleider ebenso wie alle anderen Dinge und Kreaturen Gottes durch Wort und Gebet geheiligt seien, bot er jedoch auch hier eine Möglichkeit, an das alte Ri‑ tual anzuknüpfen. Auch wenn es in diesem Fall besonders fraglich erscheint, ob der Unterschied in der Bedeutung des Segens für die Laien erkennbar war, bot doch das Verbot von Pracht und Überfluss eine auch äußerlich deutliche Ab‑ grenzung gegenüber der altgläubigen Praxis, ohne einen „radikalen“ Verzicht auf liturgische Kleidung vorzuschreiben. In besonderem Maße galt dieses Prinzip auch für die Umgestaltung der Abendmahlsfeier selbst, bei der ebenfalls Erfahrungen aus der bisherigen Pra‑ xis in der Wittenberger Gemeinde und Abgrenzungsbemühungen gegenüber „radikalen“ sowie „altgläubigen“ Elementen erkennbar sind. Hatte in den Au‑ genzeugenberichten über die ersten Reformen im Winter 1521 das Berühren des Sakramentes durch die Laien eine fast ebenso große Rolle wie das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gespielt, so wurde es nun überhaupt nicht mehr erwähnt. Nur implizit wird in der mehrfach verwendeten Formulierung, man solle das Abendmahl „dem Volke reichen“ 51, deutlich, dass das „Nehmen“ des Sakra‑ mentes durch die Laien nicht mehr vorgesehen war. Auch wurde die reforma‑ torische Umdeutung auf andere, weniger Anstoß erregende Weise deutlich ge‑ macht, indem bei den Gesängen während des Abendmahls die Worte „aus des geweiheten Priesters Hände“ ausgelassen wurden.52 Auf der anderen Seite stand das Abendmahl unter beiderlei Gestalt als stärks‑ tes äußeres Abgrenzungsmerkmal gegenüber den Altgläubigen. In Wittenberg war dieses wie dargestellt schon seit langem in Predigten vorbereitet und an‑ gekündigt worden und wurde spätestens mit der Formula Missae eingeführt: „Darum sollen hinfort schlechterdings, nach Christi Ordnung, beide Gestalten begehrt und gereicht werden.“ 53 An dieser Stelle äußerte Luther sich vergleichs‑ weise bestimmt und alternativlos: Nachdem nun das Evangelium zwei Jahre lange gepredigt worden sei, müsse man weitere Schwachheit nun für Halsstar‑ rigkeit halten.54 Das Abendmahl unter beiderlei Gestalt sollte, so wollte es die Messordnung, zum Kennzeichen der Gruppe der „Evangelischen“ werden und 51
Ebd., Sp. 2250. Ebd., Sp. 2252. 53 Ebd., Sp. 2250. 54 Vgl. ebd. 52
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
zumindest in Wittenberg Stadtgemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft wieder vereinen. Hatten in den letzten zwei Jahren beide Formen des Abend‑ mahlsempfanges nebeneinander existiert, für die Schwachen „sub una“ im Got‑ tesdienst und für die im Glauben gefestigten „sub utraque“ außerhalb des Got‑ tesdienstes, so wurde diese Möglichkeit jetzt ausgeschlossen: Wem das Abend‑ mahl unter beiderlei Gestalt nicht gefalle, der solle nichts erhalten.55 Gegenüber der traditionellen Abendmahlspraxis wurde die soziale Funktion für die Stadtgemeinschaft auch durch die hier ebenfalls angekündigte Praxis des „Abendmahlsverhörs“ deutlich verstärkt. So waren nur noch diejenigen zum Abendmahl zuzulassen, welche über die Bedeutung des Sakramentes und über ihren Glauben Rechenschaft ablegen konnten.56 Auch sollte der Pfarrer über das sittliche Leben seiner Gemeinde wachen und die mit „öffentlichem Laster“ be‑ rüchtigten ausschließen, sofern sie keine tätige Reue zeigten.57 Das Abendmahl wurde auf diese Weise zu einem öffentlichen Bekenntnismahl, „denn die Nie ßung dieses Sacraments in der Gemeine ist ein Stück christlichen Bekenntnisses“, was durch die räumliche Trennung der Kommunikanten von der übrigen Ge‑ meinde im Gottesdienst auch öffentlich sichtbar dargestellt wurde.58 Die Frage, ob das Abendmahl zwingend unter beiderlei Gestalt zu nehmen war, beschäf‑ tigte neben Luther in den folgenden Jahren auch die anderen Wittenberger Re‑ formatoren.59 55 Vgl.
ebd. Gründonnerstag, dem 2. April des Jahres 1522, äußerte Luther sich in seiner Pre‑ digt über die bevorstehende Osterkommunion: Diese wollte er nur noch einmal um der Schwachheit seiner Gemeinde willen dulden. Doch für die Zukunft sollte man niemand mehr zum Sakrament gehen lassen, ohne ihn vorher zu befragen „wie seyn hertz steet, ob er auch wisse, was es sey unnd warub er hinzu gehe“, Martin Luther: „Eyn Sermon am gruenen Donnerstag“, 2. April 1522, in: WA 12, S. 476–489, hier S. 477–478. Eine solche Praxis der „Abendmahlsverhöre“ wurde einige Jahre später tatsächlich in Wittenberg als Voraussetzung des Kommunionsempfanges eingeführt und führte dazu, dass deutlich weniger Menschen das Abendmahl empfingen. Sie hatte also genau die Konsequenzen, welche Luther bereits damals befürchtet hatte „Da werden wir sehen, wie wenig Christen synd und zum Sakrament geen wurden“, ebd., S. 485. 57 Ebd., Sp. 2248. 58 Ebd., Sp. 2249. 59 Melanchthon hatte dazu 1522 in den „Loci Communes“ geschrieben, man könne das Abendmahl auch unter einer Gestalt nehmen, wenn man dabei bewusst von seiner christli‑ chen Freiheit Gebrauch mache: „Sic et de Eucharistia iudico, non peccare, qui scientes huius libertatis et credentes, alterutra signi parte utantur“, vgl. Philipp Melanchthon: Commu‑ nes rerum theologicarum seu hypothyposes theologicae (1522), in: Karl Gottlieb Bret‑ schneider/Heinrich Ernst Bindseil (Hgg.): Corpus Reformatorum. Opera, quae su‑ persunt omnia, Bd. 21 (1854), S. 59–230, hier S. 204. Bugenhagen äußerte hingegen 1524 in einem Brief an Spalatin Zweifel an der Darstellungsweise Melanchthons: Er könne sich keinen Grund denken, warum jemand mit christlichem Gemüt nicht das gefallen solle, was Christus gefallen habe. Man könne zwar das Ärgernis der Schwachen in Dingen vermeiden, die Mittel‑ dinge sind, doch die Einsetzung Christi zu verachten sei kein Mittelding: „Scandalum vitare debes ob fratrem infirmum in rebus mediis. Christi institutionem damnare res media non est“, 56 Am
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Die neue, nun wiederum einheitliche Liturgie der Formula Missae bildete auf diese Weise ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung für die Wiederher‑ stellung und Festigung Wittenbergs als christlicher Stadtgemeinschaft im Sinne Luthers. Doch war dieses Ziel mit der Formula Missae Ende 1523 noch keines‑ wegs so weitgehend erreicht, wie Luther es in diesen Schriften selbst darstellte. In der Formula Missae fand die Einheit der Wittenberger, und insbesondere de‑ ren gemeinsame Frontstellung gegenüber „Altgläubigen“ und „Radikalen“ ih‑ ren Ausdruck nicht nur in den liturgischen Bestimmungen, sondern wird in den abschließenden Erläuterungen auch explizit mit Blick auf die Wittenberger Si‑ tuation geradezu beschworen: Die Wittenberger Pfarrkirche, welche „mit meh rerer Wahrheit aller Heiligen Haus“ sei, stehe wie der „thurm libani“, der Turm des Libanon aus dem Hohelied Salomos, wider das Allerheiligenstift als „Aller Teufel Haus allhier“.60 Das Allerheiligenstift mit seinen Messen und Stiftungen diente so als Sinnbild altgläubiger Frömmigkeit, gegen welche die in der Pfarr‑ kirche versammelte Stadtgemeinde eine gemeinsame und einheitliche Stellung einnehme: „die andern alle, sammt der ganzen Gemeine, haben einen großen Ekel und Greuel daran.“61 Die Einheit der Wittenberger Gemeinde im evangelischen Sinne erscheint in der Formula Missae jedoch eher als Darstellung einer gewünschten Einheit nach außen und innen, denn als Zustandsbeschreibung. Tatsächlich befürwor‑ teten nämlich keineswegs „alle“ Wittenberger oder die „gesamte Gemeinde“ die neue Liturgie in der Pfarrkirche so geschlossen, wie Luther dies in der Formula Missae darstellte. Zwar traf seine Beschreibung für einen Teil der Menschen zu, wie die fortdauernden Störungen der Messen im Allerheiligenstift zeigen. Auch Luther bezog sich in der Formula Missae auf diese Übergriffe, doch ist seine Formulierung, er halte „das Volk täglich im Zaum“, sicher als übertrieben zu
Bugenhagen an Spalatin, gedruckt in: Otto Clemen: Bugenhagen und Spalatin, in: Zeit‑ schrift für Kirchengeschichte 43 (1924), S. 426 f. Diese Meinung Bugenhagens erscheint kenn‑ zeichnend für den reformatorischen Diskurs in der Stadt um 1524, in dem die einheitliche Abendmahlsfeier unter beiderlei Gestalt in den Auseinandersetzungen mit dem altgläubigen Allerheiligenstift immer wichtiger wurde. Die Vorbildwirkung dieser Meinung Bugenhagens und der Wittenberger Liturgie über Wittenberg hinaus wird besonders in der Publikation der „Pseudobugenhagenmesse“ deutlich, die 1524 erschien und im Titel damit warb, dass Bu‑ genhagen eine solche Messe in Wittenberg halte, vgl. Anneliese Bieber‑Wallmann: Von der Autorität des Stadtpfarrers zu Wittenberg – Bugenhagen und der Sammeldruck „Von der Euangelischen Messz“ (1524), in: Irmfried Garbe/Heinrich Kröger (Hgg.): Johannes Bugenhagen (1485–1558), Leipzig 2010, S. 129–153. Obwohl dieses Messformular nicht von Bugenhagen stammte, wurde die oben zitierte Äußerung Bugenhagens aus dem Brief an Spa‑ latin in das Vorwort der deutschen Übersetzung aufgenommen, die wiederum Spalatin ange‑ fertigt hatte, vgl. ebd., S. 148. Das Abendmahl unter beiderlei Gestalt spielte auf diese Weise für die Außenwahrnehmung der Wittenberger Liturgie eine große Rolle. 60 Ebd., Sp. 2255. 61 Vgl. ebd., Sp. 2255.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
bewerten.62 Vielmehr zeigen die Auseinandersetzungen im folgenden Jahr, dass die Durchsetzung der Gottesdienstreform auch in der Wittenberger Gemeinde nicht unumstritten war und das Stift gerade deshalb noch immer ein starkes Re‑ formhindernis darstellte.
1.3. Weitere frühe Reformen religiöser Ceremonien in der Stadt Ebenso wie die Gottesdienste in der Pfarrkirche wurden in Wittenberg auch die religiösen Ceremonien verschiedener Fest‑ und Feiertage, die im städti‑ schen Raum begangen wurden, schon in dieser frühen Phase der Reformation unmittelbar nach Luthers Rückkehr von der Wartburg im reformatorischen Sinne verändert. Allerdings sind Quellen zur Umgestaltung solcher Festtage, wie überhaupt zu deren Gestaltung, nur in Einzelfällen vorhanden. Daher muss auch hier mit dem Fronleichnamsfest und der zweimal jährlich stattfindenden Schau des Wittenberger Heiltums auf zwei solche Einzelfälle zurückgegriffen werden, die allerdings jeweils zentrale Feste des religiösen Lebens in Witten‑ berg waren und Hof und Stadt miteinander verbanden. Die Veränderungen der Ceremonien dieser Festtage sollen hier mit den oben dargestellten Reformen der Gottesdienste in der Pfarrkirche in Bezug gesetzt werden, um so die Un‑ tersuchungsbasis der herausgearbeiteten Entwicklungslinien des Umgangs mit liturgischen Fragen über den engeren gottesdienstlichen Bereich hinaus zu er‑ weitern. 1.3.1. Die Reform des Fronleichnamsfestes Das Fronleichnamsfest wurde in Wittenberg letztmals im Jahr 1523 begangen, die letzte Fronleichnamsprozession in Wittenberg fand im Jahr 1522 statt.63 Im Juni 1523 schrieb Friedrich der Weise – offensichtlich mit großer Besorgnis – an seinen Bruder Johann, dass in Wittenberg der „Umgang“, also die Prozes‑ sion, unterblieben war.64 Johann antwortete gelassen, Friedrich solle sich des‑ halb „nicht entsetzen“, denn in Thüringen, also den Landesteilen, die unter der Regentschaft Johanns standen, sei man ebenso verfahren und zwar „an alle bes werung“.65 Die Befürchtung Friedrichs, dass die Veränderung von kirchlichen 62
Luther: „Formula Missae“, Sp. 2255. Vgl. zum Fronleichnamsfest im reformatorischen Kontext allgemein: Hansjörg Auf der Maur: Feiern im Rhythmus der Zeit, Bd. 1: Herrenfeste in Woche und Jahr, Regens‑ burg 1983, S. 199–207; Werner Müller‑Greib: Fronleichnamsfest und Eucharistiever‑ ehrung in Äußerungen ausgewählter reformatorischer Stimmen. Eine ökumenische An‑ frage, online erschienen, URL: http://www.rpi‑virtuell.net/workspace/users/43667/Mar‑ tin‑Luther‑und‑Fronleichnam‑Anbetung/Fronleichnam3.pdf [letzter Zugriff: 15. 7. 2011]. 64 Erhalten ist offensichtlich nur die Antwort: Herzog Johann an Friedrich den Weisen, 10. Juni 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. N 17, Bl. 28r+v. 65 Ebd. 63
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Ceremonien mit Aufruhr verbunden war, blieb also auch dann noch bestehen, als diese Veränderungen nicht mehr durch den Bischof von Brandenburg oder durch den Rat der Stadt Wittenberg wie 1521/22, sondern durch Luther selbst vorgenommen wurden. Auf die beschwichtigende Reaktion seines Bruders hin beließ er es jedoch anscheinend dabei, jedenfalls sind keine weiteren Beschwer‑ den bekannt. Luther selbst kommentierte die Gestaltung des Festes in der Predigt dieses Tages,66 die wohl aufgrund ihrer allgemeinen Aussagen über das Abendmahls sakrament mehrfach gedruckt wurde.67 Grundthema der Predigt ist, ähnlich wie schon in der oben diskutierten Predigt vom Donnerstag nach Invokavit, die Unterscheidung zwischen leiblichem und geistlichem Empfang des Sakramen‑ tes. Aufbauend auf dem Predigttext Joh. VI. „Mein Fleisch ist die rechte Speise“, argumentierte Luther, dass das Fronleichnamsfest nicht biblisch begründet sei. Zu Unrecht hätten die Päpste den Predigttext auf das Altarsakrament bezogen, das nach den Worten des Paulus (1. Kor. 11,27 f.) auch zum Schaden genom‑ men werden könne, so es unwürdig genommen werde. Das leibliche Essen des Fleisches habe keinen Nutzen, sofern diesem nicht der Glauben vorangehe und das Sakrament so „geistlich“ empfangen werde. Neben Mariä Empfängnis sei Luther daher dem Fronleichnamsfest am meisten Feind.68 Zur Gestaltung die‑ ses Festes in Wittenberg heißt es in der Predigt, Luther könne „nit weren, das man die Procession helt, man lasß allain das Sacrament hinnen stehen“.69 Dies deutet darauf hin, dass die Prozession 1522 noch durchgeführt wurde, jedoch ohne das Sakrament. Entscheidend für Luthers Anfänge der liturgischen Reformen war auch hier das richtige Verständnis der Abendmahlssakramente. Luther bekämpfte in den alten Ceremonien denselben „äußerlichen“, „fleischlichen“ Umgang mit dem Sakrament, den er in den Reformen Karlstadts im Winter 1521/1522 in der Ge‑ meinde beobachtet hatte. Auch wenn aus seiner Sicht eigentlich das ganze Fest abzulehnen war, verhinderte er doch zunächst nur das Mitführen des Sakra‑ mentes in der Prozession, womit der Kern des falschen Verständnisses, die ding‑ lich‑körperliche Hostienverehrung, zunächst entfernt worden war. Die soziale 66 Die Predigten der letzten Wittenberger Fronleichnamsfeste sind jeweils in Nachschrif‑ ten Georg Rörers überliefert. Die Predigt des Jahres 1522 wurde in der Weimarer Ausgabe zu‑ nächst dem Jahr 1523 zugewiesen und daher in Band 12 unter den Predigten dieses Jahres wie‑ dergegeben, vgl. Martin Luther: „Sermon auf unsers Herrn Fronleichnamstag“ (4. Juni), in: WA 12, S. 578–585, was die Herausgeber später korrigierten, vgl. WA 11, S. 125. Die Pre‑ digt des Jahres 1523 findet sich in: WA 11, S. 125–127, der Text ist nach dem lateinischen Erst‑ druck wiedergegeben. 67 Wie die meisten Predigten Luthers aus dieser Zeit wurde auch diese Predigt erst später gedruckt, es liegen vier Druckausgaben aus Augsburg vor, vgl. WA 12, S. 579. 68 Vgl. Luther: „Sermon auf unsers Herrn Fronleichnamstag“, in: WA 12, S. 578–584, hier S. 581. 69 Ebd., S. 582.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Bedeutung des Rituals konnte hingegen zunächst weitgehend bestehen bleiben, indem der „Umgang“ als solcher weitergeführt wurde. In der neueren Forschung wurden die Funktionen von Fronleichnamspro‑ zessionen allgemein mit der Festigung oder Neugestaltung der sozialen Ord‑ nung der Stadt beschrieben.70 Dabei spielte das Abschreiten des städtischen Raumes eine besondere Rolle, welches, wie von der Forschung dargestellt, zur Identitätsbildung der Prozessionsgemeinschaft durch Einübung der äußeren Grenzen beitrug.71 Auch wenn über diese oder frühere Wittenberger Fronleich‑ namsprozessionen keine Einzelheiten bekannt sind, konnte die soziale Funk‑ tion einer liturgischen Prozession in Wittenberg oben jedoch am Beispiel der Palmsonntagsprozession untersucht werden.72 Dabei konnte gezeigt werden, dass in dieser Prozession besonders die Integration von Hof, Stadt und Univer‑ sität in ein städtisches Ganzes als Element städtischer Neuordnung inszeniert wurde. Diese Integration wurde in der Prozession durch das Zusammentreffen der städtischen und höfischen Gesellschaft auf dem Marktplatz mit der gemein‑ samen Abendmahlsfeier betont. Es ist davon auszugehen, dass auch für die Wittenberger Fronleichnams‑ prozession, ebenso wie für die oben dargestellte Palmsonntagsprozession, der Wittenberger Marktplatz als städtisches Zentrum eine besondere Rolle spielte, denn die Kämmereirechnungen lassen erkennen, dass dieser Platz für das Fron‑ leichnamsfest jeweils gekehrt und mit frischem Gras ausgelegt wurde.73 Ein solcher Eintrag findet sich 1522 zum letzten Mal, was zugleich auch ein wei‑ terer Beleg dafür ist, dass das Fest in diesem Jahr wohl zum letzten Mal statt‑ fand.74 Es ist also davon auszugehen, dass die Vorstellungen Luthers verwirk‑ licht wurden und die Prozession wohl 1522 noch stattfand. Darauf lässt auch die erschrockene Reaktion des Kurfürsten im folgenden Jahr schließen. Die vor‑ läufig beibehaltene Prozession erfüllte ihre soziale Funktion demnach im Jahr 1522 auch ohne das Sakrament, zumindest hatte der Kurfürst die Veränderung scheinbar nicht einmal bemerkt und daher in diesem Jahr auch noch keinen An‑ lass zur Befürchtung von Unruhen oder „beswerung“ gesehen. Bereits im folgenden Jahr hielt Luther es jedoch für notwendig, die Prozes‑ sion insgesamt abzuschaffen. Während die Beibehaltung der Prozession Anfang Juni 1522, drei Monate nach den Invokavitpredigten, noch für die Abgrenzung gegenüber der „radikalen“ Form der Reformation stand, so war bereits im fol‑ 70 Vgl. dazu allgemein: Miri Rubin: Symbolwert und Bedeutung von Fronleichnamspro‑ zessionen, in: Klaus Schreiner (Hg.): Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch‑soziale Zusammenhänge, München 1992, S. 309–318, hier S. 315. 71 Vgl. Rubin: Symbolwert, S. 311. 72 Vgl. oben, S. 101–102. 73 Vgl. StAW, KR 1502, Bl. 80v: „Item 3 gr. vom markte zu keren unnd graß uffn markt zustrawen euff corporis cci“. 74 Vgl. StAW, KR 1522, Bl. 208r.
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genden Jahr eine deutlichere Abgrenzung gegenüber den „altgläubigen“ Kräften in der Stadt von größerer Bedeutung. Der theologisch zunächst als entscheidend dargestellte Verzicht auf das Mitführen des Sakramentes reichte demnach nicht aus, die Abgrenzung sollte deutlicher gemacht werden. In der Predigt des Jah‑ res 1523 bezog sich Luther nicht mehr auf die Wittenberger Praxis, wiederholte jedoch seine Kritik an dem Fronleichnamsfest in schärferer Form.75 Offensicht‑ lich war das Ausfallen der Prozession bereits auf anderem Wege beschlossen und an die Gemeinde kommuniziert worden, die einzige Quelle ist jedoch der oben zitierte Brief des Kurfürsten. Die Predigt des Jahres 1522 wurde umgearbeitet in Luthers Festpostille auf‑ genommen, eine 1527 herausgegebene Sammlung von Predigten und anderen Erläuterungen zu verschiedenen Kirchenfesten.76 Verändert wurde in dieser späteren Fassung vor allem die Äußerung über die praktische Gestaltung des Festes: Es sei nun genug über die päpstlichen Lügen dieses Festes gepredigt wor‑ den, Luther wäre es am liebsten, dass dieses Fest insgesamt abgeschafft werde. „An kainem fest wird got und sein Christus serer gelestert dann an disem tag. Und sonderlichen mit der Procession, die man vor allen Dingen sol abstellen.“ 77 Dies entspricht der allgemeinen Tendenz der Wittenberger Reformatoren, die Zeit der Schonung der Schwachen im Glauben nun als abgelaufen anzusehen. Die Prozession wurde schließlich von einer unbedeutenden Äußerlichkeit, die um ihrer sozialen Bedeutung willen beibehalten werden konnte, zu einer got‑ teslästerlichen falschen Handlung, die unbedingt abgeschafft werden musste. Der Umgang mit der Fronleichnamsprozession in Wittenberg zeigt damit auch, dass die Beurteilung, welche Dinge als frei und welche als notwendig gelten sollten, nicht festgelegt war, sondern sich in dem Prozess der Abgrenzung zu‑ nächst gegen „radikale“ und „altgläubige“ Verstehensweisen durchaus verschie‑ ben konnte, je nachdem, welche Elemente es besonders deutlich zu machen galt. 1.3.2. Die Schau des Wittenberger Heiltums Neben den Gottesdiensten in der Pfarrkirche und der Fronleichnamsprozes‑ sion war auch die zweimal jährlich stattfindende Schau des Wittenberger Heil‑ tums, die „ostensio reliquiarum“ Gegenstand der ersten reformatorischen Re‑ formen in der Stadt. Zwar handelte es sich hier um keine eigentlich städtische Veranstaltung, da die Reliquienschau allein dem Stift und damit dem Hof un‑ terstand. Doch kann die Zeigung der Reliquien ebenso wie die Prozessionen 75 Ein sprachlicher Vergleich der Predigten ist hier allerdings problematisch, da beide Pre‑ digten nur in Drucken überliefert sind und die zweite Predigt für den Druck ins Lateinische übersetzt wurde. 76 Vgl. Martin Luther: Festpostille (1527). „Evangelium am tag des heiligen warleich nams Christi, Euangelion Johannis VI.“, in: WA 17 II, S. 435–441. 77 Ebd., S. 438.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
als eines der Bindeglieder zwischen Stadt und Hof betrachtet werden, denn sie fand auf dem Platz vor dem Schloss statt und war damit auch für die Witten‑ berger Bürger ein bedeutendes spectaculum. Die Frage, ab wann in Wittenberg keine Heiltumsweisungen mehr stattfanden und wann schließlich das gesamte Heiltum aufgelöst wurde, ist somit nicht unerheblich, wenn man die Schloss‑ kirche aufgrund ihres zweifachen Gnadenschatzes an Messen und Stiftungen einerseits und Reliquien und Ablässen andererseits als den zentralen Ort des Heils für die Stadt Wittenberg und für das gesamte kursächsische Territorium begreift, wozu Friedrich der Weise sie im Zuge seiner Residenzbildung gemacht hatte. Da sich die Kritik Luthers in den 95 Thesen bekanntlich am Ablass entzün‑ dete, war nicht nur das Wittenberger Heiltum, sondern besonders auch die Frage des Zeitpunktes seiner Abschaffung schon früh eine zentrale Frage der Reformationsforschung und wurde sehr kontrovers diskutiert.78 Im Gegensatz zu diesen älteren Forschungen sollen die Veränderungen der Reliquienschau hier in die Zusammenhänge der ersten Ritualreformen in der Stadt insgesamt eingeordnet werden. Da sich in der Literatur teilweise bis heute die Meinung findet, das Heiltum oder die Reliquienausstellung sei bereits 1516 bzw. 1518 abgeschafft worden, ist auf diese Diskussion hier kurz näher einzugehen. Diese Darstellungsweise be‑ ruht zumindest teilweise auf dem Missverständnis der Tatsache, dass 1516 die Reliquien aus ihrer bisherigen Aufbewahrung im großen Chor der Schloss‑ kirche herausgenommen und in ein eigens zum Zweck ihrer Verwahrung ge‑ bautes Heiltumshaus gebracht wurden.79 Dies war jedoch vermutlich allein auf die wachsende Anzahl der Reliquien, nicht auf ihre sinkende Bedeutung zu‑ rückzuführen.80 Darüber hinaus ist diese Interpretation jedoch auch auf die Rezeption der Arbeiten des protestantischen Kirchenhistorikers Paul Kalkoff zurückzuführen, welche sich erstmals anhand der archivalischen Quellen mit dem Wittenberger Reliquienkult auseinandersetzte und seitdem als Grundlage vieler weiterer Studien diente.81 Kalkoffs starke Parteinahme für eine Früh datierung der Abschaffung des Heiltums erklärt sich aus dem Interpretations‑ zusammenhang, in welchem das Wittenberger Heiltum von der älteren Refor‑ mationsforschung untersucht wurde. Es ging dabei wesentlich um die Frage nach der Hinwendung Friedrichs des Weisen zur Reformation. Während das Fortbestehen des Ablass‑ und Reliquienwesens insbesondere katholischen Re‑ 78 Vgl. Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung; Köstlin: Friedrich der Weise; Lu‑ dolphy: Friedrich der Weise, S. 397–440; Paulus: Ablassfeier, S. 503–515; Schadow, Ablass in der Stiftskirche, S. 411–416. 79 Vgl. Klaus Niehr: Memorialmaßnahmen. Die Wittenberger Schloßkirche im frühen 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 71 (2008), S. 335–372, hier S. 352. 80 Zu den zahlreichen Reliquienerwerbungen in dieser Zeit vgl. vorne Kap. I.2., S. 73–74. 81 Vgl. Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung.
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formationshistorikern als augenscheinlicher Beleg seines Verharrens in bzw. Festhaltens am alten Glauben galt,82 bemühten sich umgekehrt die Vertreter der These, der Kurfürst sei schon früh ein überzeugter Anhänger Luthers ge‑ wesen, eine frühe Abschaffung des Heiltums und der Heiltumsweisungen nachzuweisen.83 Die ersten Hinweise auf eine Einstellung der Reliquienerwerbungen finden sich im Jahr 1522. Am 28. Juli 1522 schrieb Spalatin an den kurfürstlichen Agen‑ ten in Venedig, Burkhard Schenk von Simau, er solle den Erwerb von Reliquien einstellen. Auch die jüngst übersendeten Reliquien möge er vor Ort verkau‑ fen, in Deutschland gebe selbst das gewöhnliche Volk nicht mehr viel darauf.84 Obwohl diese reliquienfeindlichen Formulierungen eindeutig eher die Meinung Spalatins widerspiegeln, ist dennoch davon auszugehen, dass dieser in einer so wichtigen Frage nicht ohne Wissen und Einverständnis des Kurfürsten han‑ delte. Tatsächlich sind nach diesem Zeitpunkt keine weiteren Reliquienerwer‑ bungen bekannt.85 Die letzten ausdrücklichen Aufträge zur Erwerbung von Re‑ liquien waren 1520 an die Agenten gegangen.86 Kalkoff nimmt hingegen an, Friedrich der Weise wäre im Jahre 1519, vermit‑ telt durch Spalatin, von Luthers Sichtweise auf den Ablass überzeugt worden und hätte die Reliquienverehrung seitdem abgelehnt.87 Da es für einen solchen Sinneswandel des Kurfürsten aber keine Belege gibt und das Heiltum mit Ein‑ schränkungen sogar bis 1523 weiterhin auch für auswärtige Pilger ausgestellt wurde, wurde diese Sichtweise Kalkoffs jedoch schon wenig später von dem ka‑ tholischen Theologen Nikolaus Paulus und von dem Historiker Paul Kirn pa‑ rallel zueinander anhand mehrerer Quellen widerlegt: Noch 1520 ließ Fried‑ rich der Weise durch Spalatin ein neues Ausschreiben verfassen, worin er das Volk einlud, sich die neuen Gnadengaben in Wittenberg zu Nutze zu machen.88 Ebenfalls im Jahr 1520 wurde der Wittenberger Ablass sowohl in einem Brief 82 Von protestantischer Seite zunächst bedauernd: Köstlin: Friedrich der Weise; später von katholischer Seite Paulus: Ablassfeiern, S. 503–515; Kalkoff: Ablass und Reliquienver‑ ehrung; ähnlich bereits: Schadow: Ablass in der Stiftskirche. 83 Zuerst bei Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung; ähnlich, wenn auch weniger zu‑ gespitzt: Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 397–440. 84 Spalatin an Burkhard Schenk, 28. Juli 1522, in: Christian W. Schneider (Hg.): Ze‑ hen Briefe Burkhards Schenken von Sinau an Churf. Friedrich II. und Georg Spalatin 1516– 1524, in: Bibliothek der Kirchengeschichte 2 (1781), S. 1–90, hier S. 66 f; vgl. auch Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 454. 85 Vgl. Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 453; schon im Dezember 1521 hatte Spalatin in einem Brief an Schenk nebenbei bemerkt, dieser solle sich wegen der Reliquien keine Mühe mehr machen. Da Friedrich der Weise jedoch zu diesem Zeitpunkt auf dem Wormser Reichs‑ tag war, handelte es sich damals vermutlich tatsächlich um eine Privatmeinung Spalatins, vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 171. 86 Vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 170. 87 Vgl. Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 115. 88 Vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 171; Paulus: Ablassfeiern, S. 505.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
von Christoph Scheuerl aus Nürnberg, wie auch von dem Wittenberger Stifts‑ herren Johann Rachals als gerade erst wiederbelebte Neuerung aus Wittenberg beschrieben.89 Die letzten Wittenberger Heiltumsweisungen und die dabei graduell vorge‑ nommenen Veränderungen lassen sich aus den Quellen im Weimarer Archiv re‑ konstruieren. Erstmals kam es im Frühjahr 1521 zu einer Veränderung der Heil‑ tumsweisung, als die üblicherweise vor dem Schloss stattfindende öffentliche Schau und Ausrufung der Reliquien erstmals ohne die Verkündigung des Ablas‑ ses stattfand. Dies geht aus einem Schreiben der Stiftsherren aus dem folgenden Jahr hervor, worin diese kurz vor der üblichen Heiltumsweisung am Sonntag nach Misericordias Domini, dem 5. Mai 1522, anfragten, wie mit der Heiltums‑ weisung zu verfahren sei.90 Die Mehrheit der Stiftsherren habe dafür plädiert, es wie üblich zu zeigen, doch dabei auf die Verkündigung des Ablasses zu verzich‑ ten, wie es schon vor einem Jahr geschehen sei. So wollten sie es auch jetzt wieder halten, vorbehaltlich der Änderungswünsche des Kurfürsten. Ebenso baten sie den Kurfürsten um Schutz, damit die Zeigung des Heiltums nicht „mit schreien (wie vorm jahr durch einen mit vorwitz geschehen)“ gestört werde.91 Demnach fand die früheste überlieferte Veränderung und zugleich die erste Störung einer Heiltumsweisung bereits im Frühjahr 1521 statt.92 Der zeitliche Kontext legt hier einen Zusammenhang mit der Delegitimation der päpstlichen Gewalt in Witten‑ berg nahe, welche sich auch in der Verbrennung der Bannandrohungsbulle im Januar 1521 und durch das Karnevalsspektakel manifestiert hatte.93 Aus diesem Grund hatten die Stiftsherren bei der nächsten Heiltumsweisung, am 1. Novem‑ ber 1521, darum gebeten, die päpstlichen Zeichen wie Bullen und Fahnen weglas‑ sen zu dürfen, was der Kurfürst ihnen auch gestattet hatte.94 Im Frühjahr 1522 fragten sie nun erneut beim Kurfürsten an, „ob man das heiligthum nach alter gewonheit unth itzt schirkunfftig zeigen solle“.95 Zu dem Vorschlag der Stiftsherren, wiederum das Heiltum ohne die Verkündigung des 89 Vgl. ebd. In dem Brief Scheuerls vom 1. April 1520 heißt es wörtlich „Es ist doch merk würdig, dass der Ablass gerade dort wieder eingeführt wird, wo seine Vertreibung aus ganz Deutschland ihren Anfang genommen hat.“ Zitiert nach Kirn: Friedrich der Weise, S. 171. Johann Rachals schrieb an Friedrich den Weisen: „Der Ablass zu Allerheiligen tagk und zur zeit der zeigung des manigfaltigen hochwirdigen heiligtumbs worde nahe gar vergessen und ußgelescht, durch got und unsern gten herren erhalden.“ T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 1384, Bl. 7 und 8, abgedruckt bei Kirn: Friedrich der Weise, S. 181. 90 Das Stiftskapitel an Friedrich den Weisen, 24. April 1522, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 216, Bl. 2r. 91 Ebd. 92 Auch dies verweist darauf, dass die „Unruhen“ sich in Wittenberg nicht auf den Herbst und Winter 1521 konzentrierten. 93 Vgl. oben, S. 128–139. 94 Vgl. oben, S. 148–151. 95 Vgl. Das Stiftskapitel an Friedrich den Weisen, 24. April 1522, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 216, Bl. 2r.
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Ablasses zu zeigen, äußerte sich auch Luther am selben Tag, wobei seine Be‑ wertung in der Forschung strittig ist.96 Da die Frage, wie Luther die Ausstel‑ lung der Reliquien gerade zu diesem Zeitpunkt kurz nach den Invokavitpredig‑ ten beurteilte, nicht unwesentlich erscheint, soll die Stelle hier kurz näher be‑ leuchtet werden, sie lautet: „De reliquiis ostendis sic sapio: Esse Scilicet eas iam abunde satis ostensas atque adeo osten tatas & ostentui habitas per orbem. Agent tamen, ut in publicum proferantur in medio choro spectandas omnes vna tabula, ceteris cerimoniis omnibus servatis pro more.“ 97
Paul Kalkoff las dies als eine Kritik an den Vorschlägen der Stiftsherren,98 wäh‑ rend Otto Clemen in dieser Briefstelle keine Missbilligung des Kompromiss vorschlages feststellen konnte.99 Luther äußert sich hier zweifellos zunächst ab‑ fällig über die „ostensio“ der Reliquien, also die Zeigung und Verkündigung der einzelnen Heiligtümer, da diese schon mehr als ausreichend gezeigt worden seien. Der im zweiten Satz geäußerte Vorschlag, das Heiltum in der Mitte des Chores mit allen üblichen Ceremonien auf einem Tisch aufzustellen, lässt sich so als ein Kompromissvorschlag Luthers verstehen.100 Diese einstweilige Duldung der altgläubigen Ceremonien entsprach auch der allgemeinen Haltung Luthers im Frühjahr 1522, denn zu diesem Zeitpunkt stand die Abgrenzung gegen die „radikalen“ Kräfte im Vordergrund. In diesem Zusammenhang erscheint es nur folgerichtig, dass Luther auch die Heiltums‑ weisung mit allen Ceremonien zunächst weiterhin akzeptierte und nur die aus seiner Sicht unbedingt zu verwerfende Verkündigung des Ablasses ablehnte, wie es das Stiftskapitel aber auch ohnehin schon vorgeschlagen hatte. Der Kurfürst antwortete am 26. April und stimmte dem Vorschlag der Stifts‑ herren zu: Da „die zeigung des heiltumbs hie vor des ablas halben bescheen“ und er wisse, „was jetziger zeit davon gehalten“, könne man die Zeigung des Heil‑ tums „wie ytziger zeit die leuft stehen“ diesmal unterlassen. Dennoch solle es „heraus“ [durchgestrichen: „uff den altare“] gesetzt und von einem Priester be‑ aufsichtigt werden.101 Der Kurfürst richtete sich hier also nach dem Vorschlag Luthers, der ihm wohl von Spalatin unterbreitet worden war: Eine öffentliche Heiltumsschau ohne den Ablass erschien ihm nicht sinnvoll, also sollte das Heiltum nur in der Kirche zu sehen sein. Auf diese Weise wurde die von Luther kritisierte „ostensio“, die Aufsehen erregende Reliquienschau vor der Schloss‑ kirche, vermieden, doch das Heiltum blieb für die auswärtigen Pilger und Wit‑ tenberger Gläubigen dennoch erreichbar. Für diese sollten auch „messen, pre 96
Vgl. Luther an Spalatin, 24. April 1522, in: WA Br. 2, S. 511 f. Ebd., S. 511. 98 Kalkoff: Ablass und Reliquienverehrung, S. 58. 99 Vgl. WA Br. 2, S. 512, Anm. 5. 100 So auch Paulus: Ablassfeiern, S. 512. 101 Friedrich der Weise an das Stiftskapitel, 26. April 1522, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 216, Bl. 3r; ein Auszug aus diesem Schreiben ist abgedruckt bei Kolde: Ablass, S. 115. 97
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
digt und andere solennitet [sic]“ in der üblichen Art und Weise stattfinden. Tat‑ sächlich erwartete der Kurfürst auch in diesem Jahr noch eine große Anzahl auswärtiger Pilger, so schrieb er an Rat und Schosser, sie sollten am Tage Mise‑ ricoridas Domini, dem Tag der Heiltumsweisung (5. Mai), „wan vil frembder leut pflegen gen Wittenberg zu kommen“ „etliche trabenten im harnisch verord nen“, die „in der kirche under dem thore und sonst allenthalben“ Aufsicht hal‑ ten, damit kein Aufruhr entstehen möge.102 Die Wachen, die schon 1516 auf den Straßen außerhalb Wittenbergs zum Schutz der Pilger aufgestellt worden wa‑ ren, wurden demnach Anfang 1522 nun auch innerhalb der Stadt eingesetzt, womit der Kurfürst den Bitten der Stiftsherren um Schutz nachkam. Damit kann festgehalten werden, dass auch im Frühjahr 1522 noch eine Heil‑ tumsweisung mit den üblichen Messen, Predigten und Ceremonien stattfand. Gegenüber der letzten Veranstaltung am Allerheiligenfest 1521 wurde jedoch nicht nur auf die päpstlichen Zeichen verzichtet, welche die Wittenberger Stu‑ denten seit der Verbrennung der Bannandrohungsbulle gerne zu verbrennen pflegten, sondern auch eine Veränderung der theologischen Deutung vorge‑ nommen, indem auf die Verkündigung des Ablasses verzichtet wurde. Gleich‑ zeitig wurde die Ausstellung des Heiltums vom Platz vor dem Schloss in das Innere der Kirche verlegt, so dass sie nur noch von denjenigen wahrgenommen wurde, die bewusst zu diesem Zweck in die Kirche kamen. Allerdings war eine wirkliche Umdeutung im Sinne der Rechtfertigungs‑ lehre hier im Gegensatz zu den gleichzeitigen Reformen in der Pfarrkirche nicht möglich, denn, wie der Kurfürst zutreffend bemerkt hatte, war „die zeigung des heiltumbs hie vor des ablas halben bescheen“.103 Die einstweilige Beibehaltung der Heiltumsweisung, die auch von Luther offensichtlich geduldet wurde, war also nur zeitlich begrenzt und erklärt sich aus der Situation in der Stadt insge‑ samt, in der Luther gerade die Duldung der altgläubigen Ceremonien aus Rück‑ sicht auf die Schwachen und zur Vermeidung von Aufruhr propagiert hatte. Ähnlich wie bei der Fronleichnamsprozession wurden auch hier nur so viele Veränderungen vorgenommen, dass die Ceremonien ihre soziale – in diesem Falle herrschaftsrepräsentative – Funktion weiterhin erfüllen konnten. Während seit Anfang der 1520er Jahre viele Studenten und sonstige Gäste Wittenberg schon als Stadt der Reformation besuchten, so etwa der genannte Johannes Kessler, der 1522 den Ort der Verbrennung der Bannandrohungsbulle vor dem Elstertor besuchte,104 war Wittenberg gleichzeitig auch noch eine Pil‑ gerstätte aufgrund des Reliquienschatzes in der Schlosskirche. Noch im Früh‑ jahr 1523 erwartete der Kurfürst auswärtige Pilger. Am 18. April 1523 gab er seinem Schosser Valten Forster Anweisungen, wie in diesem Jahr mit dem Heil‑ 102
Ebd., Bl. 1r.
104
Vgl. Kap. I.4., S. 139.
103 Ebd.
1. Erneute Reformen in der Stadt und die Abgrenzung gegen die „Radikalen“
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tum zu verfahren sei.105 Ein Teil des Heiltums sollte auf den großen Altar ge‑ setzt werden, wie es auch bei anderen hohen Festen üblich wäre, der Rest sollte im Heiltumsgewölbe verwahrt bleiben, dort aber fremden Pilgern gezeigt wer‑ den, wenn diese es zu sehen wünschten.106 Damit wurden zwei Dinge gegen‑ über dem vergangenen Jahr verändert: Das Heiltum wurde nun prominenter auf dem Hauptaltar in der Kirche ausgestellt, was die sakrale Dignität der Reliquien unterstrich – so hatte es der Kurfürst ja auch im vorigen Jahr ursprünglich ge‑ plant. Zweitens sollte nur ein Teil der Reliquien ausgestellt werden, während der Rest im Heiltumsgewölbe verwahrt blieb. Dies geschah aus Sicherheitsgrün‑ den, wie eine nachträglich hinzugefügte Randnotiz auf dem Kanzleikonzept des kurfürstlichen Schreibens von 1523 erkennen lässt, die lautet: „Im v[er] gangen jar montag nach mis [ericordias] dag alles herausgesetzt hat, und wir bericht worden, wo es das Jar besche das dem selben als z[u] besorgen unehre begegnen mecht“.107
Demnach war die Zeigung des gesamten Heiltums im vergangenen Jahr zwar ohne Störung verlaufen, doch befürchtete der Kurfürst 1523 aufgrund der neue‑ ren Entwicklungen nun eine „Verunehrung“ der Reliquien. Diese Befürchtung war nicht unbegründet, denn gerade im Frühjahr 1523 begannen Luther und Jo‑ nas, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, verstärkt gegen das Allerheiligenstift zu predigen und Anfang des Jahres wurde die Messe im Stift in ironischer Weise karikiert und verspottet.108 Diese Anweisung des Kurfürsten aus dem Frühjahr 1523 ist die letzte über‑ lieferte Nachricht über die Zeigung des Heiltums. Es ist also davon auszugehen, dass die Reliquien fortan bis zum Ende des Stiftes 1525 in der hier festgelegten Art und Weise, also teilweise auf dem Altar und teilweise im Heiltumsgewölbe, präsentiert wurden. Insgesamt wurde die Heiltumsweisung so schrittweise mo‑ difiziert und spiegelt in ihrer Entwicklung den Verlauf der Veränderung der Ce‑ remonien in der Stadt insgesamt wider: Am Anfang stand die Kritik am Ab‑ lass, die hier eng mit der Loslösung von der päpstlichen Gewalt verknüpft war. Man verzichtete auf die öffentliche Verkündigung des Ablasses, auf das Her‑ umtragen der päpstlichen Bullen sowie auf Stäbe und Fahnen. Die Zeigung des Heiltums wurde aber bis 1522 dennoch weiterhin mit den üblichen Solemnitä‑ ten aufgeführt, die Heilswirksamkeit der Reliquien funktionierte für die Wit‑ tenberger und die auswärtigen Pilger offensichtlich auch ohne die ausdrück‑ liche päpstliche Legitimation durch die Ablassprivilegien. Entsprechend bezo‑ gen sich auch die befürchteten Störungen der Heiltumsweisungen nicht auf die 105
Über die Heiltumsweisung im Herbst 1522 ist nichts bekannt. Friedrich der Weise an Valten Forster, Schosser zu Wittenberg, 18. April 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 216, Bl. 4r. 107 Ebd. 108 Vgl. unten S. 269–272. 106 Vgl.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Reliquien selbst, sondern nur auf die päpstlichen Bullen und Zeichen. Die ein‑ zige tatsächlich dokumentierte Störung war ein „vorwitziges Schreien“, vermut‑ lich ein lauter Zwischenruf während der Zeigung der Reliquien im Frühjahr 1521. Während noch 1522 das gesamte Heiltum in der Kirche ausgestellt wer‑ den konnte, wenn auch unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen, bewertete der Kurfürst die Lage 1523 anders, so dass nur noch ein kleiner Teil der Reli‑ quien auf dem Altar ausgestellt wurde. Die Beibehaltung der äußeren Ceremo‑ nien, die 1522 in Abgrenzung gegen die Reformen in Luthers Abwesenheit noch entscheidend gewesen war, war nun auch in diesem Punkt 1523 durch die Ab‑ grenzung gegen die altgläubigen Kräfte abgelöst worden.
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2. Reformen an der Schlosskirche und die Abgrenzung gegen die Altgläubigen Die Wittenberger Schlosskirche war zwar der Ort, an dem Karlstadt Weihnach‑ ten 1521 erstmals das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gefeiert hatte, doch waren die regulären Messen und Stiftungen davon unberührt geblieben und fanden noch Anfang 1523 in der üblichen Art und Weise statt. Doch waren es gerade die Privatmessen ohne Gemeindebeteiligung, gegen die sich die Kritik in der Stadt und der Universität seit dem Sommer 1521 am stärksten richtete. Diese Kritik war in den Predigten Gabriel Zwillings und Andreas Karlstadts im Win‑ ter 1521/22 fortgesetzt worden und hatte ebenfalls in einigen Aktionen der Wit‑ tenberger Einwohner ihren Ausdruck gefunden. Solche Aktionen setzten sich in den nächsten Jahren weiter fort, was in der Forschung, die sich bislang nur auf den Zeitraum bis März 1522 beschränkte, kaum beachtet wurde. So kam es schon in der Christnacht 1522 zu einem ähnli‑ chen Vorfall mit einer nunmehr schärferen Vorgehensweise gegen das Stift. Am Heiligabend störten wiederum einige „junge Menschen“ die Messe im Allerhei‑ ligenstift – ob es sich um Studenten handelte ist unklar. Dabei wurde der De‑ kan Otto Beckmann von einem als Priester verkleideten jungen Menschen ver‑ spottet und beschimpft.109 Ihren Höhepunkt erreichten die Messestörungen je‑ doch, wie noch zu zeigen sein wird, im Winter 1524/25 im Zusammenhang der Auseinandersetzungen der Reformatoren mit dem Allerheiligenstift. Die Über‑ griffe der Wittenberger Bürger und Studenten waren also nicht Ausdruck ei‑ ner von besonderer Radikalität geprägten Phase während Luthers Abwesen‑ heit auf der Wartburg, sondern begleiteten den Stadt und Universität umfas‑ senden Gruppenbildungsprozess der Wittenberger als derjenigen, die das neu entdeckte Evangelium auf ihrer Seite hatten, kontinuierlich. 109 Davon
berichtet Spalatin in seiner Chronik: „In nocte Natalis Dominici sub precibus matutinis nonnulli Vuittenbergae juvenum tecti templum omnium Divorum ingressi, direptis & extinctis cereis in choro Beatiss. Virginis, nummos cereos fecerunt, quos celebrantibus mis sam offerent, alii vinum ebiberunt, ex altaribus sublatum. Iuventus est, qui indutus vestem sacerdotalem Ottoni Begmanno Licentiato Juris, Syndico & Canonico illius aedis celebraturo insultaret & illuderet“, in: Georg Spalatin: Chronicon Sive Annales Georgii Spalatini A.M. Augusto Anni MDCIII usque ad finem fere Anni MDCCVI. Ex Autographo Auctoris De‑ scripti, in: Johann Burkhard Mencke (Hg.): Scriptores Rervm Germanicavum, Praecipve Saxonicarvm, Bd.2, Leipzig 1728, Sp. 618.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Entsprechend richteten sich die ersten Reformforderungen der Reformato‑ ren Anfang des Jahres 1523 auch im Stift zuerst gegen die Messen und Stiftun‑ gen ohne Gemeindebeteiligung. Die Kritik an den täglichen Messen stellte das Allerheiligenstift als Institution grundsätzlich in Frage, denn der vornehmliche Zweck des Stiftes bestand ja darin, dass hier für das Seelenheil des Kurfürsten und des ganzen Territoriums möglichst ununterbrochen gestiftete Messen und andere Offizien gelesen und gesungen wurden.110 Eine Umdeutung im evange‑ lischen Sinne wie in der Pfarrkirche war hier nur begrenzt möglich, so dass die Abschaffung dieser Form des Gottesdienstes in letzter Konsequenz das Ende des Stiftes bedeuten musste.
2.1. Die Delegitimierung des Allerheiligenstifts als Ort des Heils Um die Liturgiereform am Stift durchzusetzen, kam es nun zu einer engen Zu‑ sammenarbeit zwischen Luther, Jonas und Spalatin. Mit Luther als Universi‑ tätsprofessor und Senatsmitglied, Jonas als Stiftspropst und Spalatin als kur‑ fürstlichem Sekretär hatten die Reformbefürworter mit Universität, Stift und Hof strategisch geschickt alle relevanten Institutionen in der Stadt mit einbe‑ zogen. Als der Konflikt in den folgenden Jahren von den Reformatoren selbst immer stärker zu einer Sache gemacht wurde, welche die ganze Stadt betref‑ fen sollte, wurden auch der Rat der Stadt und der im Herbst 1524 neu gewählte Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen zu entscheidenden Akteuren in dieser Sache. Luther, Spalatin und Jonas verfolgten ihr Ziel der Abschaffung der Messen im Stift auf mehreren Ebenen: Luther und Jonas predigten in der Pfarrkirche und im Allerheiligenstift und versuchten so, die Gemeinde von der Notwendigkeit der Reformen zu überzeugen. Gleichzeitig wendete sich Luther in Briefen di‑ rekt an das Stiftskapitel und appellierte gemeinsam mit Spalatin an den Kur‑ fürsten als Stiftsherrn. Ebenso versuchte Spalatin die Neubesetzung vakanter Stiftsstellen zu verhindern, um auf diese Weise eine Veränderung zu bewirken – wie noch zu zeigen sein wird allerdings nicht immer erfolgreich. Bereits Anfang Januar 1523 äußerte Luther sich gegenüber Spalatin in ei‑ nem scharfen Tenor gegen das Stift, das er mit Blick auf die liturgische Pra‑ xis als „Bethaven nostra“ bezeichnete.111 Am 14. Januar 1523 schrieb er erneut ungeduldig an Spalatin, auf die Schwachen im Glauben sei nun genug Rück‑ sicht genommen worden und bezeichnete die Messstiftungen als „Sanctificatio nis Amazie“, Amazias’ Götzendienst.112 Ebenso wie Karlstadt und die Refor‑ men im Winter 1521/22 zur Symbolfigur der radikalen Gegner des Evangeliums 110 Vgl.
ebd. Vgl. Luther an Spalatin, 2. Januar 1523, in: WA Br. 3, S. 1. 112 Vgl. Luther an Spalatin, 14. Januar 1523, in: WA Br. 3, S. 16. Amazias war ein Priester des Goldenen Kalbes zu Bethel aus dem Buch Amos (Am. 7,10), der den Propheten Amos am Weissagen hinderte. 111
2. Reformen an der Schlosskirche
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geworden waren, stand das Allerheiligenstift nun für die altgläubigen Kräfte in der Stadt, gegen welche die Gemeinschaft der Evangelischen sich um ihrer Inte‑ grität willen abgrenzen musste. In diese Abgrenzung gegenüber falschen, nicht den Grundsätzen des Evangeliums entsprechenden liturgischen Übungen be‑ zog Luther auch sprachlich nicht nur sich selbst, sondern die ganze Gemeinde mit ein: Am 1. März 1523 forderte er so die Mitglieder des Stiftskapitels auf, das abzuschaffen, „quae in templo et cultu vestro pugnant cum euangelio nostro.“113 Der Wille zur Gottesdienstreform wurde zum Kriterium der Zugehörigkeit zur städtischen Gemeinschaft, welche die Reformgegner nicht mehr mit einschloss. Möglicherweise durch das unmittelbar vorangehende Schreiben Luthers vom 1. März 1523 motiviert bezog zwei Tage später auch der Stiftspropst Justus Jo‑ nas öffentlich Stellung, indem er gegen die täglich gesungenen und gelesenen Messen und Seelämter predigte, diese als „geplerre“ bezeichnete und sich da‑ mit gegen das pflichtmäßige Beten und Singen der Offizien richtete.114 Die erste öffentliche Äußerung gegen das Stift ging damit von dem Inhaber des höchs‑ ten Stiftsamtes aus. Justus Jonas hatte bereits im Winter 1521 ebenso wie Ga‑ briel Zwilling und Andreas Karlstadt durch besonders heftige Predigten gegen die Messe Aufsehen erregt. Wie oben gezeigt, hatte man Jonas daher zunächst auch zu den Unruhestiftern gezählt, was sich jedoch mit den Invokavitpredig‑ ten und besonders mit deren späterer Überlieferung änderte: Der Konflikt mit Jonas, der schon bald nach der Rückkehr Luthers beigelegt worden war, schien aus späterer Sicht im Vergleich zu dem mit Karlstadt nicht mehr relevant.115 Da sich seine Kritik seit Luthers Rückkehr auf das Allerheiligenstift beschränkte, bewegte er sich mit Luther wieder auf einer gemeinsamen Linie. Luther stellte auch in weiteren Predigten Zusammenhänge zwischen dem rechten Gebrauch der Ceremonien und dem Heil der Stadt her: Da das Stift mit den Wittenbergern die Luft, den Ort und alle Dinge teile, so schrieb Luther am 1. März 1523,116 und am 11. Juli, da sie „mit uns in einer Stadt und Sammlung begriffen“ und außerdem den christlichen Namen führten, konnte es nicht ge‑ duldet werden, dass sie wider das Evangelium handelten.117 Während in neu‑ tralen Dingen, „rebus neutris“, auf die Schwachen Rücksicht genommen werden konnte, brachte die Tolerierung von gottlosen Dingen eine Strafe für die ganze 113 Luther an Propst Justus Jonas und die Kanoniker des Allerheiligenstifts, 1. März 1523, in: WA Br. 3, S. 34–36, hier S. 34. [Hervorhebungen nicht im Original.] 114 Über diese Predigt beschwerten sich die Stiftsherren Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar bei Kurfürst Friedrich dem Weisen, 4. März 1523, S. 13–15, hier S. 14. 115 Vgl. oben, S. 238–239. 116 „Participes sunt D.V. huius loci, aeris et omnium rerum, ideo cogitare debent nobis di tuis non esse favendum, ut communicemus vobiscum solitis abominationibus, deditis adversus euangelion“, Luther an den Propst und die Kanoniker des Allerheiligenstifts zu Wittenberg, 1. März 1523, in: WA Br. 3, S. 34–36. 117 Luther an Propst, Dechant und Kanoniker des Allerheiligenstifts zu Wittenberg, 11. Juli 1523, in: WA Br. 3, S. 111–113, hier S. 112.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Stadt.118 Innerhalb der Stadt wurden die Reformkriterien jedoch mit Blick auf die jeweilige Situation unterschiedlich gehandhabt: So galten viele liturgische Fragen für die Gemeinde in der Pfarrkirche selbst noch als „res neutrae“ und konnten mit Rücksicht auf die Schwachen im Glauben flexibel gestaltet wer‑ den. In Abgrenzung gegenüber denen, die nicht der Gruppe der evangelischen Wittenberger angehörten, also in diesem Fall gegenüber den reformunwilligen Stiftsherren, wurden sie jedoch klar definiert. Die liturgische Gemeinschaft der Wittenberger konstituierte sich so, indem sie ihre Grenzen absteckte, und zwar zunächst gegenüber den „radikalen“ Reformen in Luthers Abwesenheit und nun gegenüber dem altgläubigen Allerheiligenstift. Die äußersten Konse‑ quenzen der Zusammenhänge von Liturgie und Gemeinschaft machte Luther deutlich, indem er den Stiftsherren drohte, sie mit dem Bann zu belegen und da‑ mit aus der städtischen Gemeinschaft auszuschließen.
2.2. Luther droht dem Stift mit dem Bann Den unmittelbaren Anlass zu ersten praktischen Vorschlägen einer Liturgiere‑ form am Allerheiligenstift bot jedoch die Predigt Luthers vom 2. August 1523 in der Wittenberger Pfarrkirche. Nachdem seine brieflichen Appelle an das Stift erfolglos geblieben waren, predigte er nun gegen die „päpstlichen Missbräuche“ und „unchristlichen Ceremonien“.119 Falls die Stiftsherren seine Aufrufe zu ei‑ ner Liturgiereform weiterhin ignorierten, wollte er sie mit dem Bann belegen, was zur Folge haben sollte, ihnen die „gemeinschaft der inwoner als gemeinen kauf bir, brot, fleisches und anders zu vorbitten“.120 Mit seiner Bannandrohung war Luther ungleich erfolgreicher als der Bischof von Brandenburg, der jahre‑ lang versucht hatte, mit dem Ausschluss einzelner Gruppen aus der kirchlichen Gemeinschaft, wie der Wittenberger Priesterschaft oder der ganzen Stadt, be‑ stimmte Forderungen durchzusetzen und damit seine Autorität als geistlicher Herr der Stadt immer mehr verloren hatte. Dagegen schätzte man offensicht‑ lich Luthers Autorität in der Stadt bereits zu diesem Zeitpunkt als so hoch ein, dass die Stiftsherren die Wirksamkeit eines solchen Bannes in keiner Weise be‑ zweifelten, obwohl Luther zu dessen Verhängung weder durch sein Prediger118 Luther an Propst, Dechant und die Kanoniker des Allerheiligenstifts zu Wittenberg, 19. August 1523, in: WA Br. 3, S. 129–135, hier S. 131. Mit diesem Schreiben an das Allerheili‑ genstift schuf Luther eine Art Grundlegung des Gebrauches liturgischer Ceremonien, die im Jahr 1524 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Doctor Martinus Luthers verteutschte Schrift an das Capitel zu Wittenberg, wie man die Ceremonien der Kirche bessern soll, al len hohen und nydern Stifften ser dienstlich“ im Druck erschien. Zu dem Druck von Philipp Ulhart in Augsburg vgl. WA Br. 3, S. 129. 119 Luthers Predigt gegen die Domherren im Stift zu Wittenberg, 2. August 1523, in: WA 12, S. 645 f. 120 Die Stiftsherren an Friedrich den Weisen, 3. August 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 21–23, hier S. 22.
2. Reformen an der Schlosskirche
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noch durch sein Professorenamt formal autorisiert war. Sie fühlten sich heftig bedroht und befürchteten, eine weitere seiner Predigten würde für sie „swer lich ane fahr abgehen.“121 Mit der öffentlichen Androhung des Bannes über‑ schritt Luther nicht nur deutlich seine eigenen Kompetenzen, sondern griff zu‑ dem aktiv in den Herrschaftsbereich des Kurfürsten ein, unter dessen Patronat die Stiftsherren standen. Als geistliche Mitglieder eines exempten Stifts hätten die Stiftsherren so eigentlich nur noch den Bann des Papstes fürchten müssen.122 Vor dem Hintergrund von Luthers eigener Kritik an der Bannpraxis der Bischöfe, die er 1518 in dem „Sermon von dem Bann“ in Wittenberg öffentlich geäußert hatte, erscheint es fragwürdig, dass er sich nun wenige Jahre später selbst dieses Instrumentes bediente.123 Diese Predigt, deren Wirkungen in den Auseinandersetzungen der Wittenberger mit dem Bann des Bischofs von Brandenburg im ersten Kapitel dieser Arbeit untersucht wurde, ist nun im Zusammenhang von Luthers eigener Stellung zum Bann näher zu betrachten. Zunächst ist dabei festzustellen, dass Luther den Bann bereits damals trotz seiner Kritik an der Interdiktspraxis der Bischöfe durchaus als notwendiges Mittel der Kirchenzucht anerkannte.124 Der Bann sollte die Möglichkeit ge‑ ben, unbußfertige Sünder, die öffentlich besonders schwere und Ärgernis er‑ regende Sünden begingen, aus der Gemeinde auszuschließen.125 Indem er den Bann jedoch nicht als konstitutiven, sondern als deklaratorischen Akt ver‑ standen wissen wollte, blieb er bei dem theologischen Verständnis des Bannes aus dem „Sermo de virtute excommunicationis“ von 1518: Mit seiner Verhän‑ gung wurde die bereits durch die Sünde vollzogene Trennung von der „ec‑ clesia spiritualis“ für die äußere Kirche, die „ecclesia manifesta“, nur sichtbar gemacht.126 Nur als Folge dieser schon zuvor verlorenen Mitgliedschaft der 121 Ebd. 122
Ein ähnlicher Fall des Bannes durch einen Reformator gegen ein altgläubiges Kloster ist auch aus der Reformation in Jena bekannt: Hier erklärte der Reformator Martin Reinhard das Jenaer Dominikanerkloster, das den altgläubigen Gottesdienst weiterführte, im August 1522 öffentlich im Gottesdienst als mit dem göttlichen Bannfluch belegt. Vgl. dazu Volker Leppin: Zwischen Kloster und Stadt. Die reformatorische Bewegung in der Stadtkirche, in: Ders./Matthias Werner (Hgg.): Inmitten der Stadt – St. Michael in Jena, Petersberg 2004, S. 139–152, hier S. 150. 123 Vgl. Luther: „Sermo de virtute excommunicationis“ (1518), in: WA 1, S. 634–643; Ders.: „Ein Sermon von dem Bann“ (1520), in: WA 6, S. 63–75. Zur Kritik an der Praxis der Bischöfe in diesen Schriften oben, S. 59–63. 124 Zu Luthers Stellung zum Bann allgemein vgl. Hans‑Jürgen Goertz: Artikel „Kir‑ chenzucht III. Reformationszeit“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIX, Berlin/New York 1990 S. 176–183; Johannes Heckel: Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1973, hier S. 179–182; May: Artikel „Bann IV. Alte Kirche und Mittelalter“; Christoph Link: Art. „Bann V. Reformation und Neuzeit“, in: Theologische Realenzyklopädie, Band V , Berlin/New York 1980, S. 182–190. 125 Vgl. Luther: „Ein Sermon von dem Bann“ (1520), S. 75. 126 Vgl. Goertz: Artikel „Kirchenzucht“, S. 177.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
„ecclesia spiritualis“ sollte die äußere Kirche dem Gebannten den Zugang zum Abendmahl versagen dürfen.127 Mit Blick auf den vorliegenden Fall der Bannandrohung an die Stiftsherren ist zu beachten, dass Luther die Folgen des Bannes eigentlich auf den geistlichen Bereich beschränkt sehen wollte: Dem Gebannten wurde das Abendmahl, die kirchliche Trauung und das kirchliche Begräbnis verwehrt.128 Weiterhin durfte er jedoch die Predigt hören, um dadurch nach tätiger Reue wieder in die Ge‑ meinschaft aufgenommen zu werden. Auf diese Weise sollte der Bann als ein seelsorglicher Akt zur Besserung des Sünders begriffen und sein Missbrauch eingedämmt werden. Die weltlichen Folgen des Bannes verwarf Luther hinge‑ gen als unzulässige Vermischung des weltlichen und geistlichen Regiments.129 Im Hochmittelalter war der Ausschluss aus der weltlichen Rechtsgemeinschaft immer stärker zur Folge der Exkommunikation geworden, insbesondere verlor der Gebannte seinen Anspruch auf Rechtsschutz. Ebenfalls gehörte das so ge‑ nannte „Verkehrsverbot“ zu den Folgen der Exkommunikation, wonach nicht nur die gesellschaftlichen, sondern auch geschäftlichen Kontakte mit den Ex‑ kommunizierten untersagt waren.130 Diese schon 1518 bzw. 1520 geäußerten Grundsätze wurden später nicht nur von Luther selbst in seiner Gemeinde an‑ gewendet,131 sondern auch als reformatorische Position etwa in die Schmalkal‑ dischen Artikel übernommen.132 Vor diesem Hintergrund erscheint die Bannandrohung gegen die Stiftsher‑ ren im Jahr 1523 umso auffälliger: Hier drohte Luther mit genau den bürger‑ lichen Rechtsfolgen des Bannes, die er zuvor ausdrücklich abgelehnt hatte, in‑ dem er androhte, die Kontakte der Wittenberger Einwohner und den Verkauf von Nahrungsmitteln an die Stiftsherren zu unterbinden. Auf die Androhung geistlicher Folgen, wie dem Ausschluss aus der Abendmahlsgemeinschaft, ver‑ zichtete er hingegen vollständig. Es handelte sich demnach um eine Ausnahme‑ situation, die besondere Mittel erforderte. Die Tatsache, dass Luther mit wirt‑ schaftlichen Folgen des Bannes drohte, die er grundsätzlich ablehnte, zeigt die hohe Bedeutung, die er der Sache beimaß. Die Abschaffung der Messe am Stift war offensichtlich ein Ziel, das es mit allen Mitteln zu verfolgen galt. Darüber hinaus war die nach Luthers Grundsätzen eigentlich gebotene Androhung ei‑ nes Bannes mit geistlichen Konsequenzen in diesem Fall gar nicht möglich. Der besondere Umgang Luthers mit dem Bann verweist so auch darauf, dass sich 127 Vgl.
Luther: „Sermo de virtute excommunicationis“ (1518), S. 640. Luther: „Ein Sermon von dem Bann“ (1520), S. 67. 129 Vgl. Link: Artikel „Bann V. Reformation und Neuzeit“, S. 186. 130 Vgl. May: Artikel „Bann IV. Alte Kirche und Mittelalter“, S. 176–177. 131 Luther bannte in den 1530er und 40er Jahren einzelne Wittenberger Gemeindemit‑ glieder. Die Fälle sind aufgearbeitet bei Ruth Götze: Wie Luther Kirchenzucht übte, Göt‑ tingen 1958. 132 Vgl. May: Artikel „Bann IV. Alte Kirche und Mittelalter“, S. 177. 128 Vgl.
2. Reformen an der Schlosskirche
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in Wittenberg zu diesem Zeitpunkt zwei konkurrierende Systeme gegenüber‑ standen, welche die Gewalt des jeweils anderen nicht anerkannten. Wie schon der Fall des Bischofs von Brandenburg gezeigt hatte, war die Drohung mit dem Ausschluss aus einer Sakralgemeinschaft nur dann wirkungsvoll, wenn die al‑ leinige Heilsmittlerschaft der geistlichen Autoritäten dieser Gemeinschaft an‑ erkannt und die Verhängung des Bannes auch als legitim betrachtete wurde. Ebenso wie die Wittenberger den Bann des Bischofs nicht mehr fürchten mussten, wenn sie die geistliche Gewalt des Bischofs oder sogar die Heilsmitt‑ lerschaft der Kirche insgesamt nicht mehr anerkannten, hätte auch ein geistli‑ cher Bann Luthers keine Wirkung auf die Stiftsherren gehabt. Die Androhung des Ausschlusses aus der städtischen Sakramentsgemeinschaft hätte diese kaum abgeschreckt, da sie ohnehin nicht Teil dieser Gemeinschaft waren und Luther auch nicht als die geistliche Autoritätsperson anerkannten, zu der er sich selbst mit der Bannandrohung gerade erst machte.
2.3. Die ersten Reformen in der Schlosskirche 1523 Durch die Bannandrohung hatte Luther offensichtlich auch in der Wahrneh‑ mung des Kurfürsten eine Grenze überschritten, denn dieser ließ Luther am 13. August 1523 erstmals durch seine Räte ermahnen.133 Er verwies dabei auf das kaiserliche Mandat134, wonach die Ceremonien bis auf ein zukünftiges Konzil nicht verändert werden sollten. Zudem gebe es in der Stadt Wittenberg bereits genug „Widerwärtigkeit und Unwillen“ und Luther habe sich doch immer ge‑ gen Aufruhr ausgesprochen.135 Aus Sicht des Stiftskapitels war die Bedrohung durch die Intervention des Kurfürsten jedoch scheinbar nicht gemindert, denn in der Folge leitete man erstmals konkrete Reformschritte ein: Der Propst des Stifts sollte im Auftrag des ganzen Kapitels Vorschläge zu Reformen der Gesänge ver‑ fassen und sich dazu bei Luther nach dessen genauen Forderungen erkundigen. Erstmals war Luther damit offiziell um ein Gutachten zur Gestaltung der Ceremonien gebeten worden,136 welches er am 19. August an die Stiftsherren 133 Der Kredenzbrief, der Hieronymus Schurf, Johann Schwertfeger und Philipp Me‑ lanchthon gegenüber Luther als Beauftragte des Kurfürsten auswies, ist zusammen mit der Instruktion Friedrichs des Weisen und dem Bericht Schurfs von der Unterredung gedruckt in: WA Br. 3, S. 122–124. 134 Gemeint ist das im Namen des Kaisers verabschiedete Mandat des Reichsregiments vom 6. März 1523, vgl. WA 12, S. 36. 135 Instruktion Friedrichs des Weisen für Hieronymus Schurf, Johann Schwertfeger und Philipp Melanchthon, 7. August 1523, in: WA Br. 3, S. 121–124. Luther rechtfertigte sich ge‑ genüber den Räten, das Mandat fordere nur die lautere Predigt des Evangeliums und verbiete Neuerungen, die dem Evangelium entgegenstehen. Daher wollte er auch weiterhin gegen das Stift schreiben und predigen, versprach jedoch, das Volk zu ermahnen, nicht tätlich gegen dieses vorzugehen, vgl. ebd., S. 123 f. 136 Zwar war Luther bereits 1519 um eine Stellungnahme zur Gestaltung der Ceremonien
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
sandte.137 Diese Anfrage an Luther zeigt, dass die Stiftsherren die Ansprüche Luthers auf Mitsprache bei der Gestaltung der Ceremonien in der Schlosskirche gezwungenermaßen anerkannten; seine Drohung mit dem Bann zeigte erste Er‑ folge. Auf Grundlage von Luthers Forderungen wollte man dem Kurfürsten nun Reformvorschläge vorlegen.138 2.3.1. Unterschiedliche Positionen und Reformvorschläge Der Kurfürst erhielt schließlich sogar mehrere Stellungnahmen, in denen erst‑ mals die Einzelheiten der Positionen von Reformgegnern und -befürwor‑ tern mit ihren theologischen Hintergründen explizit formuliert wurden: Am 23. August 1523 sandten ihm die Stiftsherren eine von Justus Jonas und Luther gemeinsam verfasste Schrift mit Vorschlägen zur Kultusreform.139 Die entge‑ gengesetzte Position vertrat der Dekan des Stiftes, Matthäus Beskau, der den Kurfürsten in einer eigenen Stellungnahme vom gleichen Tag bat, die alte Ord‑ nung so zu belassen, wie sie war.140 Rückschlüsse auf die Stimmung im Stift ins‑ gesamt lässt schließlich das Begleitschreiben der Stiftsherren zu dem Gutachten von Jonas und Luther zu.141 Einige Editionen datieren zusätzlich ein Schreiben Bugenhagens in diese Zeit, welches hier jedoch aus mehreren, noch zu erläu‑ ternden Gründen den Auseinandersetzungen des folgenden Jahres zugeordnet werden soll.142 Da das gemeinsam von Luther und Jonas verfasste Gutachten nicht über‑ liefert ist,143 muss für die reformatorische Position auf die Reformvorschläge Luthers zurückgegriffen werden, die dieser wenige Tage zuvor an das Stift ge‑ in der Schlosskirche gebeten worden, doch war dieses eher auf die Initiative Spalatins zurück‑ zuführen, der Luthers Meinung persönlich schätzte. 137 Vgl. Luther an Propst, Dekan und Kanoniker des Allerheiligenstiftes, 19. August 1523, in: WA Br. 3, S. 129–133. 138 Vgl. Die Stiftsherren an Friedrich den Weisen, 3. August 1523, in: Pallas (Hg.): Ur‑ kunden, S. 21–23, hier S. 22. 139 Vgl. das Begleitschreiben der Stiftsherren an Friedrich den Weisen, 23. August 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 24–25. Die Schrift selbst ist nicht überliefert. Zumindest liegt kein von Jonas und Luther verfasstes Schreiben dieses Datums vor. Gustav Kawerau identifi‑ ziert diese Schrift mit einem Brief Jonas’ an den Kurfürsten vom folgenden Tag (gedruckt in CR, Bd. 1, S. 628 ff.), vgl. WA Br. 3, S. 134, doch ist hier erstens Luther nicht Mitverfasser und weist zweitens die Formulierung, die Schrift werde „hiermit“ übersendet, darauf hin, dass die Schrift in derselben Sendung verschickt wurde. 140 Vgl. Matthäus Beskau an Friedrich den Weisen, 23. August 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 25–27. 141 Vgl. die Stiftsherren an Friedrich den Weisen, 23. August 1523, in: Pallas (Hg.): Ur‑ kunden, S. 24–25. 142 Vgl. Bugenhagen an die Universität, ohne Datum, in: Otto Vogt (Hg.): Johannes Bugenhagen. Briefwechsel, Stettin 1888, S. 10 f. Zur Datierung und Kontextualisierung vgl. unten, S. 320. 143 Vgl. oben, Anm. 139.
2. Reformen an der Schlosskirche
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sendet hatte.144 Ausführlich erläuterte er die Unterscheidung in „res neutrae“ und „res manifeste impiae“, der darin bestand, dass erstere um der Schwachen willen beibehalten, die letzteren aber nicht toleriert werden dürften. Hier kam erneut der Gedanke der Stadtgemeinschaft als Heilsgemeinschaft ins Spiel, auf die insgesamt die Strafe Gottes zurückfiele, wenn sie das gottlose Treiben Ein‑ zelner in solchen Dingen, die „manifeste impiae“ waren, duldete.145 Abgeschafft werden sollten so „in universum omnes missae et vigiliae mecenariae“, also alle von Stiftern bezahlten Messen, gleichgültig, ob einige das nicht verstünden oder nicht verstehen wollten, denn dieser Gebrauch sei gotteslästerlich. Ebenso seien die Totenmessen und Vigilien abzuschaffen, denn auch von diesen stehe nichts in der Schrift.146 Dennoch hätten Luthers Reformforderungen zu diesem Zeitpunkt noch ein Fortbestehen der täglichen Gottesdienste des Stifts in ihren grundsätzlichen Strukturen erlaubt, denn die allgemeinen Gesänge und Gebete der Tagzeiten‑ liturgie fielen nicht unter diese Forderung: „Tertio matutinae, horae, vesperae, completorium maneant“, die Gebete zu den Tagzeiten sollten bleiben.147 Was Luther also praktisch forderte, war ein nach dem Maßstab der Rechtfertigungs‑ lehre veränderter Horendienst.148 Es sollte jedoch nur noch von schriftgemäßen Heiligen gesungen werden, ebenso sollten die Gesänge, in denen die Heiligen um Hilfe angerufen wurden, durch andere ersetzt werden.149 Weiterhin sollte an den Sonn- und Feiertagen eine Messe gehalten werden.150 Den „Kleinen Chor“ wollte Luther hingegen ganz abschaffen, da er auf die Verehrung Marias als Mittlerin ausgerichtet war. Da der Marienkult einen Schwerpunkt der liturgi‑ schen Ausstattung der Schlosskirche bildete, bedeutete dies jedoch eine erheb‑ liche Einschränkung.151 Mit diesen Vorschlägen wäre zwar zunächst noch ein Weiterbestehen des Stifts möglich gewesen, doch hätten sie die kurfürstlichen Stiftungen stark beschnitten und gleichzeitig nach den Maßgaben der Recht‑ 144 Vgl. Luther an Propst, Dekan und Kanoniker des Allerheiligenstiftes, 19. August 1523, in: WA Br. 3, S. 129–133. 145 Ebd. 146 Luther an Propst, Dekan und Kanoniker des Allerheiligenstiftes, 19. August 1523, in: WA Br. 3, S. 129–133, hier S. 132. 147 Ebd., S. 131. 148 Vgl. den Titel der Studie Andreas Odenthals: Odenthal: „[…] matutinae, horae, vesperae, completorium manean“, die sich allerdings nicht mit Wittenberg beschäftigt, son‑ dern diesen Brief Luthers nur als Ausgangspunkt für seine Untersuchungen über die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts nimmt. 149 Vgl. Luther an Propst, Dekan und Kanoniker des Allerheiligenstifts, 19. August 1523, in: WA Br. 3, S. 129–133, hier S. 132. 150 Ebd., S. 131. 151 „Quinto chorum minorem vel in eundem ordinem redigi aut prorsus aboleri oporteret, ut qui prorsus et solum hoc agit, ut Beatam Virginem colat mediatricem loco Christi“, ebd., S. 131. Zum „Kleinen Chor“ und seiner liturgischen Funktion an der Schlosskirche vgl. auch vorne, Kap. I.2, S. 81 f.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
fertigungslehre und des Schriftprinzips unter völlig veränderte Vorzeichen ge‑ stellt. Diese neuen Maßstäbe waren bereits in den Vorschlägen enthalten, die Luther auf Spalatins Rat 1519 zur Einrichtung der „Stiftung der heilwertigen Leiden Christi“ gemacht hatte. Die Horen und Messen sollten nicht mehr als „Offizium“ zum Heil des Stifters und des Gemeinwesens gehalten werden, son‑ dern der Verinnerlichung der unmittelbar Anwesenden dienen. Wie die Unter‑ suchungen Odenthals zu gemischtkonfessionellen, protestantischen und katho‑ lischen Domkapiteln und Stiften aus dem späten 16. und 17. Jahrhundert zeigen, hatten die hier im Wittenberger Kontext formulierten Grundsätze Vorbildcha‑ rakter für die spätere Gestaltung der Liturgie an Stiften insgesamt. Ihre Anwen‑ dung, so Odenthal, richtete sich in der späteren Zeit wesentlich nach den prak‑ tischen Gegebenheiten ihrer Umsetzbarkeit vor Ort.152 Besonders im Vergleich mit den Äußerungen des Dekans Matthäus Beskau wird der entscheidende Unterschied in diesem Verständnis des Nutzens der Ce‑ remonien deutlich. Beskaus separate Stellungnahme zeigte eine entschiedene Gegnerschaft zu den von Luther geplanten Reformen.153 Seine Betonung der Wirksamkeit der im Stift gehaltenen Messen für die „ganze[n] christenheit, le bendigen und toden“, welche täglich gehalten werden müssten, „da wir auch von tage zu tage sundigen“, zeigte ein Verständnis der Messe als „gutes Werk“, welches der reformatorischen Rechtfertigungslehre fundamental entgegen‑ stand. Praktisch bat Beskau den Kurfürsten um Schutz, um die Ceremonien wie bisher halten zu können. Der Kurfürst möge Luther und Jonas auffordern, nicht mehr gegen die Messe zu predigen.154 Geschickt griff er dabei die schon früher vom Kurfürsten vertretene Position auf, man solle mit Veränderungen auf ein Konzil warten und führte mit dem Verweis auf das kaiserliche Mandat vom 6. März 1523 ein für den Kurfürsten gewichtiges Argument an. Welche Meinung vertraten aber die Stiftsherren zwischen diesen beiden Ex‑ trempositionen? In dem Begleitschreiben, dem als Anlage ursprünglich die ver‑ lorene Reformschrift Jonas’ und Luthers beilag, hatten sie angegeben, sie woll‑ ten sich nicht weiter gegen die Reformen sperren, falls der Kurfürst den Vor‑ schlägen Luthers und Jonas’ zustimmte. Sie baten dazu um die Lösung von ihrer eidlichen Verpflichtung auf die Stiftsstatuten, wonach die kurfürstlichen Stif‑ tungen nicht verändert werden durften.155 Insgesamt lässt das Schreiben der Stiftsherren also keinen besonderen Reformeifer erkennen, vielmehr hoff‑ 152 Vgl. Odenthal: „matutinae, horae […] maneant“, bes. S. 119–122; Odenthal: Ordinatio Cultus Divini, S. 16–18. 153 Vgl. Matthäus Beskau an Friedrich den Weisen, 23. August 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 25–27. 154 Vgl. Matthäus Beskau an Friedrich den Weisen, 23. August 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 25–27, hier S. 26. 155 Vgl. Die Stiftsherren an Friedrich den Weisen, 23. August 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 24–25.
2. Reformen an der Schlosskirche
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ten diese auf eine Entscheidung des Kurfürsten oder wollten sich anderenfalls dem Druck Luthers beugen. Damit ist es unwahrscheinlich, dass das verlorene Schreiben Luthers und Jonas’ eine gemeinsame Erklärung der Stiftsherren mit Reformforderungen beinhaltete.156 Da das Kapitel sich insgesamt eher wider‑ willig zur Annahme der Vorschläge Luthers bereit erklärt hatte, erscheint es hingegen plausibel, dass sowohl Jonas und Luther als auch der Dekan Matthäus Beskau mit Billigung des Kapitels an den Kurfürsten schrieben.157 Die Stifts‑ herren zeigten sich damit in der Sache indifferent und ließen dem Kurfürsten beide Extrempositionen zukommen, um diesem die Entscheidung zu überlassen und sich selbst damit Schwierigkeiten von beiden Seiten zu ersparen.158 Der Kurfürst bestätigte am 27. August 1523 den Empfang der unterschied‑ lichen Schreiben.159 Nur sehr unbestimmt stellte er in Aussicht, die Frage nach Reformen weiter zu bedenken. Die Anspielungen Beskaus auf die Reichspolitik waren offensichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen, denn das Kapitel wurde ex‑ plizit an das kaiserliche Mandat erinnert und auf ein künftiges Konzil verwie‑ sen.160 Die Reformgegner im Stift, welche die Messen verteidigten und alle Ver‑ änderungen ablehnten, hatten nach wie vor die Unterstützung des Kurfürsten, dessen Position zwar auch durch den Druck der Reichspolitik motiviert war, vor allem jedoch sein Selbstverständnis als Stifter widerspiegelte, der „dasjenig, so von unsern vorfarn und voreldern selig gedechtnus und uns gestift“, erhalten wollte.161 Ein Schiedsspruch zwischen den Parteien, auf den das Kapitel wohl gehofft hatte, blieb also aus. Vielmehr wiederholte er nur seinen Befehl, das Ka‑ pitel solle seine Stiftungen „in mitler zeit unvermindert halten und dem kai nen abbruch thun“.162 Praktisch stand also weiterhin der Befehl des Kurfürs‑ ten, keine Veränderungen vorzunehmen, den zu diesem Zeitpunkt noch modera‑ ten Reformforderungen Luthers gegenüber, wobei im Stift die Meinung Luthers 156 So
Gustav Kawerau in: WA Br. 3, S. 134 (Kommentar des Herausgebers). Vielmehr beinhaltete dieses wohl im Wesentlichen die dargestellte Position Luthers, mit der Jonas schon seit längerer Zeit übereinstimmte. 157 Das Kapitel erwähnt am 23. September ein Schreiben, in dem der Dechant einige Dinge „newlich mit unserem wissen e.kf.g. schriftlich angezeigt“ habe, doch ist der Inhalt dieses Schreibens sehr reformkritisch, vgl. das Kapitel an Friedrich den Weisen, 23. September 1525, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 28–30. 158 In den Editionen wird dieser Sachverhalt anders dargestellt: Kawerau argumentiert in der Weimarer Ausgabe, S. 134, Beskau hätte seine Kollegen getäuscht und über den wahren Inhalt des Schreibens in Unkenntnis gelassen. Nikolaus Müller geht in seinem Kommentar in der von Karl Pallas herausgegebenen Edition hingegen davon aus, das Schreiben Beskaus an den Kurfürsten, auf welches sich das Kapitel am 23. September bezog, sei verloren, vgl. Pal‑ las (Hg.): Urkunden, S. 28 Anm. 2. 159 Vgl. Friedrich der Weise an das Stiftskapitel zu Wittenberg, 27. August 1523, in: Pal‑ las (Hg.): Urkunden, S. 27. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
prominent durch den Propst Justus Jonas und die des Kurfürsten durch den De‑ kan Matthäus Beskau unterstützt wurde. Das Kapitel musste also abwägen, ob die Bannandrohung Luthers oder der Befehl des Kurfürsten schwerer wog. 2.3.2. Praxis der ersten Reformen am Stift 1523 Sowohl der Kurfürst als auch Luther akzentuierten ihre Position in der folgen‑ den Zeit noch einmal: Bereits einige Tage später, am 4. September 1523, ver‑ warnte der Kurfürst die Stiftsherren erneut, da er von Veränderungen der Litur‑ gie gehört hatte. Er drohte mit Einkommenskürzungen, falls die Stiftungen nicht den Statuten gemäß ausgeführt wurden.163 Wenig später drohte Luther erneut mit dem Bann und setzte dem Stift ein Ultimatum von einer Woche, um seine Reformvorschläge umzusetzen.164 Nach dieser erneuten Bannandrohung Luthers wollten nur noch wenige Stiftsherren dem Befehl des Kurfürsten folgen und auf Änderungen verzich‑ ten. Das Stiftskapitel trat nun erstmals nicht mehr geschlossen auf und so stan‑ den der reformbefürwortenden Mehrheit nur noch der Dekan Beskau und die Stiftsherren Elner und Volmar gegenüber. Die Mehrheit berief sich einerseits auf ihr Gewissen, andererseits auf das Ultimatum Luthers, welches ihnen die Befolgung des kurfürstlichen Befehls unmöglich machte.165 Mit der Bannan drohung war es Luther gelungen, seine Forderung nach Veränderung der Ce‑ remonien im Stift durchzusetzen. Diese wog für die Stiftsherren offensichtlich schwerer als der Befehl des Kurfürsten. Auf Befehl des Kurfürsten sandte das Stiftskapitel eine Aufstellung der bereits vorgenommenen Veränderungen,166 die wenig später auf Nachfrage des Kurfürs‑ ten durch eine ausführlichere Version ergänzt wurde: Diese „Ordenung der got lichen ampt, wie die sollten zu einem anfang der besserung gehalten werden“ bil‑ dete eine Zustandsbeschreibung der ersten reformatorischen Veränderungen im Stift.167 Sie bestätigt, was zuvor bereits in den Gutachten deutlich wurde: Die an‑ gezeigten Veränderungen waren der Versuch eines Kompromisses zwischen den Interessen des Kurfürsten einerseits und denen Luthers andererseits.
163 Vgl. Friedrich der Weise an das Stiftskapitel zu Wittenberg, 4. September 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 28. 164 Vgl. Das Kapitel der Stiftskirche an Friedrich den Weisen, 23. September 1523, in: Ebd., S. 28–30, hier S. 29. 165 Vgl. ebd. 166 Vgl. ebd. 167 „Ordenung der gotlichen ampt, wie die sollten zu einem anfang der besserung gehalten werden“, 29. September 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 36–38. Diese zweite Fassung wurde, obwohl sie gegenüber der ersten Version keine inhaltlichen Veränderungen sondern nur Präzisierungen beinhaltete, von den Reformgegnern des Kapitels nicht mehr mit unter‑ zeichnet.
2. Reformen an der Schlosskirche
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Abgeschafft hatten die Stiftsherren Requiem, Vigilien und Seelmessen, also alle diejenigen Messen, welche der Fürbitte für die Toten dienten und daher von den Reformatoren besonders scharf kritisiert worden waren.168 Ebenfalls dem Vorschlag Luthers entsprach die Tatsache, dass Horen und tägliche Mes‑ sen, welche zu den Stiftungen des Kurfürsten gehörten, zunächst „ob es wol un christlich“, noch eine Zeit lang bestehen bleiben sollten.169 Zugleich waren die Reformen jedoch weniger weitgehend, als Luther gefordert hatte: Alle ande‑ ren Messen, die nicht dem Totengedenken dienten, sollten im Gegensatz zu den Vorstellungen Luthers noch eine Zeit lang bleiben, ebenso „aller ritus und ce remonien, wie sie itzund seind“.170 Besonders in der zweiten, ausführlicheren Schrift an den Kurfürsten wurde der lückenlose Ablauf der Ceremonien am Stift deutlich gemacht, da nur Vigilien und Seelenmessen durch Lektionen, also durch das Lesen biblischer Texte, ersetzt wurden.171 Betont wurde auch, dass der Marien- und Annenkult, welcher die Verehrung der prestigeträchtigen Reli‑ quie des Daumens der Heiligen Anna mit einschloss, vorerst bleiben sollte, wo‑ mit auf die Schwerpunkte des Kurfürsten Rücksicht genommen wurde. Gleich‑ zeitig wurde hiermit auch ein ganz praktisches Problem vorerst umgangen: Die Abschaffung des Marien- und Annenkultes hätte das Personal des großen und kleinen Chores plötzlich seiner Beschäftigung entbunden und die Frage nach seiner Versorgung gestellt. Weitere Reformen versuchten dem Vorwurf des Kurfürsten zu begegnen, man verweigere die Messen aus Bequemlichkeit: So hatten die Stiftsherren zwei zusätzliche tägliche Lektionen hinzugefügt und die wegfallenden Vigilien durch das Lesen von Psalmen ersetzt. Damit orientierten sie sich an den inzwischen begonnenen Reformen in der Pfarrkirche,172 ver‑ suchten jedoch gleichzeitig, entstehende Lücken in den Abläufen zu vermeiden, denn der lückenlose Ablauf von Gesängen und Gebeten war eines der zentralen prestigeträchtigen Merkmale des Stifts für den Kurfürsten.173 Insgesamt lässt der Vorschlag damit das Bemühen der Stiftsherren erken‑ nen, Luthers Forderungen so weit wie nötig entgegenzukommen, dabei aber die Ordnung des Stifts bestehen zu lassen, um dem Kurfürsten zu zeigen, dass man weiter seinen Dienst am Stift tat. Dieses wiederum stand sicherlich mit dem drohenden Verlust des Einkommens im Zusammenhang und zeigt erneut die Grenzen der Reformierbarkeit des Stifts, denn auch die neuen Gebete und Ge‑ sänge mussten letztlich noch immer als Erfüllung eines Offiziums, eines Diens‑ tes im Auftrag des Stifters, vollzogen werden. 168
Vgl. ebd., S. 29. Ebd., S. 37. 170 Ebd. 171 Vgl. das Kapitel der Schlosskirche außer Beskau, Elner und Volmar an Friedrich den Weisen, 29. September 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 36–38. 172 Vgl. oben, S. 245–250. 173 Vgl. Kap. I.2., S. 80–84. 169
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
2.3.3. Wahrnehmung der ersten Liturgiereformen im Stift Auf diese Weise mit vollendeten Tatsachen konfrontiert, musste sich der Kur‑ fürst nun erstmals ernsthaft mit der Praxis der Liturgiereformen am Stift aus‑ einandersetzen. Dazu holte er zunächst den Rat Spalatins und Wolfgang Rei‑ ßenbuschs ein, wie in der Sache weiter zu verfahren sei.174 Anschließend ließ er die Stiftsherren wegen ihres Ungehorsams Anfang Oktober durch seine Räte in Torgau ermahnen.175 Obwohl sich die Position des Kurfürsten nicht änderte, erscheinen die im Vorfeld des Treffens im Torgau erstellten Gutachten Spalatins und Reißenbuschs sowie die Argumentationsskizze der kurfürstlichen Räte für die Ermahnung der Stiftsherren als solche beachtenswert. Erstmals erfah‑ ren wir hier etwas über die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der ersten Liturgiereformen am Allerheiligenstift unter dem Einfluss Luthers, nachdem diese bereits umgesetzt worden waren. Diese Stellungnahmen sollen im Folgen‑ den mit den vorne untersuchten Reaktionen auf die ersten liturgischen Verände‑ rungen im Winter 1521/1522 in Bezug gesetzt werden, was umso näher liegt, als diese Verbindung von den Protagonisten jeweils auch selbst hergestellt wurde. Der Präzeptor des Lichtenberger Antoniterordens Wolfgang Reißenbusch stand seit 1515 als kurfürstlicher Rat auch im Dienste des Hofes und wurde seitdem vielfach als Ratgeber herangezogen.176 Im Dienste seines Klosters war er im Herbst 1521 auf einer Terminiererfahrt von Wittenberger Studenten ver‑ spottet und mit Dreck beworfen worden und hatte daraufhin darum gebeten, nicht mehr nach Wittenberg kommen zu müssen.177 Seine schlechte Meinung von den Wittenbergern war geblieben, so bat er auch jetzt, dort nicht nament‑ lich genannt zu werden, „dan die leute sind ebenteuerlich“.178 Seine Stellung‑ nahme bestätigte die schon bisher vertretene Position des Kurfürsten: Das Stift sei zum „kirchgehen, singen und messhalten“ gestiftet worden, weshalb diese Dinge nicht verändert werden dürften. Der Kurfürst solle sich auf keine weitere 174 Die Fragestellung geht aus den Stellungnahmen hervor, vgl. Spalatin an Friedrich den Weisen, ohne Datum, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17 und Bl. 18–19; Wolf‑ gang Reißenbusch an Friedrich den Weisen, 28. September 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 33–35. 175 Die kurfürstlichen Räte an Friedrich den Weisen, 3. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 43–45. Wer die mit dieser Sache betrauten kurfürstlichen Räte waren, ist nicht genau bekannt. Namentlich angesprochen wurde in der Instruktion des Kurfürsten nur der Rechtsprofessor und kurfürstliche Rat Johann Schwertfeger. Als Senatsmitglied bekleidete dieser seit mehreren Jahren eine einflussreiche Position an der Universität und hatte im Jahr 1523, also zum Zeitpunkt dieser Instruktion, sogar das Amt des Rektors inne. Schwertfeger war grundsätzlich der Reformation zugeneigt, gerade im vorigen Jahr hatten sich Luther und Melanchthon beim Kurfürsten dafür verwendet, dass er eine Professur erhalten sollte, vgl. Pallas (Hg.): Urkunden, S. 39, Anm. 3. 176 Vgl. Müller in Pallas (Hg.): Urkunden, S. 32, Anm. 1 (Kommentar des Bearbeiters). 177 Zu diesem Ereignis vgl. ausführlich oben., S. 144–148. 178 Wolfgang Reißenbusch an Friedrich den Weisen, 28. September 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 33–35, hier S. 33.
2. Reformen an der Schlosskirche
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Disputation mit den Stiftsherren einlassen, schließlich sei es diesen freigestellt, ihre Lehen zu verlassen.179 Bemerkenswert ist jedoch die Begründung dieser Position, die stark von sei‑ nen persönlichen Erlebnissen in Wittenberg im Herbst 1521 und deren späterer Deutung durch Luther geprägt war. In Reißenbuschs Wahrnehmung war Wit‑ tenberg die Stadt der Unruhe und des Aufruhrs, wo schon in früheren Jahren „vil unbedechtige und unschigkliche hendele“ geschehen waren, die nicht nur dem Kurfürsten, sondern auch dessen „landen und leuten“ noch gut in Erinne‑ rung wären.180 Die jüngsten Liturgieveränderungen im Stift sah er als Fortset‑ zung der Ereignisse im Winter 1521 und wendete entsprechend die Argumente, welche Luther damals gegen die „radikalen“ Reformatoren vorgebracht hatte, nunmehr gegen die Stiftsherren: Bei den Reformen handele es sich um Dinge, „darinne doch […] die seligkait nit stunde“ und deren Veränderung nur zu Auf‑ ruhr führen würde.181 Die Abgrenzungsversuche Luthers von den ersten „radi‑ kalen“ Wittenberger Reformen, welche dieser etwa in den Invokavitpredigten vorgebracht hatte, waren demnach erfolgreich – zu erfolgreich, denn Reißen‑ busch sah nunmehr jede Form der Liturgieveränderung, besonders wenn sie aus Wittenberg kam, als Quelle des Aufruhrs an. Entsprechend konnte er sich nicht vorstellen, dass Luther etwas mit dieser Sache zu tun hatte: Der Kurfürst möge „in keinem weg vormuten, das Doctor Martinus e.g. in dem einigen einhalt und inhalt thun ader [sic] sich einiger unschigkligkeit, wie sie besorgeten, zu gebrau chen understehen wurde“.182 Die Stellungnahme ist in diesem Zusammenhang besonders deshalb interessant, weil Reißenbusch selbst – soweit nachvollzieh‑ bar – im Gegensatz zu den Wittenberger Akteuren in dieser Sache keine eigenen Interessen verfolgte und weder den Reformgegnern noch -befürwortern ein‑ deutig zuzuordnen ist. Er stand mit den reformatorisch gesinnten Kreisen der Wittenberger Universität in enger Verbindung und zeigte schon früh seine an‑ tipäpstliche Gesinnung, 1525 heiratete er auf den Rat Luthers hin.183 Seine Stel‑ lungnahme zeigt daher, wie wenig gefestigt die Wahrnehmung der Gruppen von reformatorisch und altgläubig Gesinnten war und dass Luthers Versuche, die Linien der Abgrenzung der evangelischen Wittenberger zu „Altgläubigen“ und „Radikalen“ klarer zu ziehen, selbst im nahen Umfeld noch nicht überall erfolgreich waren. Gerade die Frage des Umgangs mit den Ceremonien, die von Luther selbst zunächst in den Invokavitpredigten und später gegenüber dem Stift zum Abgrenzungskriterium erhoben worden war, führte offensichtlich selbst bei einem gelehrten Theologen wie Reißenbusch zu Missverständnissen.
179
Ebd., S. 35. Ebd., S. 34. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 34. 183 Vgl. Vossb erg: Luther rät Reißenbusch, S. 145–152. 180
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Ebenfalls auf einem eigenwilligen Verständnis von Luthers Positionen zur Veränderung der Ceremonien beruhte die Argumentation der kurfürstlichen Räte, welche diese vor der Ermahnung der Stiftsherren dem Kurfürsten schrift‑ lich darlegten.184 Auch sie waren mit Luthers Positionen der Invokavitpredig‑ ten vertraut, kannten jedoch offensichtlich aufgrund ihrer Nähe zu Wittenberg auch seine jüngeren Stellungnahmen besser und wussten, dass die jüngsten Ent‑ wicklungen am Stift sein Werk waren. In diesem Fall ist daher weniger von einem Missverständnis der Position Luthers zu sprechen, als von dem Versuch, seine Position zu den Ceremonien als widersprüchlich zu entlarven und ihn so mit sei‑ nen eigenen Waffen zu schlagen. So führten die Räte in Anspielung auf Luthers jüngere Argumentation, das Wort sei nun lange genug gepredigt worden, an, die Menschen auf dem Land und in der Umgebung Wittenbergs wüssten von den Predigten nichts, so dass die Veränderungen der Ceremonien und äußeren Dinge zu „unfrid bei Landen und Leuten“ sowie bei „vilen schwachen zu ergernus“ führen werde.185 Mit der Verbindung von Ritualwandel und Aufruhr erstens und der Forderung nach der Schonung der Schwachen zweitens griffen sie Luthers Argumentation aus den Invokavitpredigten auf. Ebenso spielten sie auf die von Luther selbst häufig betonte Abgrenzung gegen die radikalen Prediger an, indem sie auf die „sorgen, far und beschwerung […] darzu hin und fur die ienen, so sich lutterische prediger nennen, ursach gegeben“ hinwiesen.186 Die Messen und an‑ deren Ceremonien in der Stiftskirche bezeichneten sie, ganz der Argumentation Luthers folgend, als äußerliche Dinge, „in den doch der selen seligkeit nit steet“ und ihre Aufrechterhaltung als Dienst der Nächstenliebe.187 Freilich ist die Übernahme der Argumentation Luthers in beiden Fällen nur eine oberflächliche, denn schon in den Invokavitpredigten hatte Luther keines‑ wegs alle Veränderungen der Ceremonien abgelehnt, sondern schon damals eine Differenzierung zwischen „notwenigen Dingen“ und „freien Dingen“ vorge‑ nommen. Die Abschaffung der gestifteten Messen hatte er zu den notwendi‑ gen Dingen gezählt, die nicht im menschlichen Ermessen standen. Es handelte sich also im Sinne Luthers hier keineswegs um „Dinge, in denen der selen selig keit nit steet“, sondern um „res manifeste impiae“.188 Diese von Luther immer wieder für den rechten Gebrauch der Ceremonien vorgenommene Unterschei‑ dung hatten anscheinend weder Reißenbusch noch die anderen kurfürstlichen Räte mitvollzogen – ob nun aus mangelnder Information oder in bewusstem Widerspruch. Und so brachten bereits geringe Veränderungen die Stiftsherren des Allerheiligenstiftes in den Verdacht der Radikalität und des Aufruhrs, wäh‑ 184 Vgl. die kurfürstlichen Räte an Friedrich den Weisen, 3. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 43–45. Zu diesem Schreiben im Einzelnen vgl. unten, Fn. 199. 185 Ebd., S. 44. 186 Ebd., S. 44. 187 Ebd., S. 45. 188 Vgl. oben, S. 222 und S. 276 f.
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rend gleichzeitig das Festhalten an diesen Ceremonien sie in den Augen Luthers und zumindest eines Teils der Einwohner der Stadt Wittenberg als Anhänger des Papstes und damit Handlanger des Teufels kennzeichnete. Damit zeigt sich bereits in den Reaktionen auf die ersten Veränderungen der gottesdienstlichen Praxis ein grundlegendes Problem für die Frage nach der Notwendigkeit der Veränderung der Ceremonien: Die Unterscheidung zwischen notwendigen und freien Dingen, zwischen „res neutrae“ und „res manifeste impiae“ war zwar an gewissen Kriterien wie dem Schriftprinzip und der Rechtfertigungslehre orien‑ tiert, wurde jedoch von Luther jeweils im Einzelfall entschieden. Vor allem aber erwies sich als besonders problematisch, dass sie nicht allgemeinverständlich war und damit keine sichtbare Abgrenzung von Luthers gemäßigten zu radika‑ len Reformen bieten konnte. Gleiches gilt für die Frage, wann der Zeitpunkt gekommen war, die Rück‑ sichtnahme auf die Schwachen im Glauben zu beenden und mit Reformen zu be‑ ginnen. Gleichzeitig wurde die Veränderung der Ceremonien jedoch, wie Luther es ja durchaus geplant hatte, stets als Merkmal der Abgrenzung gegenüber „Alt‑ gläubigen“ und „Radikalen“ verstanden bzw. missverstanden. Die Tatsache, dass sich solche unterschiedlichen Verstehensweisen schon im näheren Wittenber‑ ger Umfeld fanden, zeigt, dass allein die Erläuterung der theologischen Prinzi‑ pien der Reformen, wie sie in den genannten Predigten geschehen war, nicht aus‑ reichte. Sie musste vielmehr auf eine allgemeinverständliche und gut sichtbare Formel gebracht werden. Den Vorschlag einer solchen Formel, welche zukünf‑ tig von den Reformatoren häufiger verwendet werden sollte, leistete nun die Stel‑ lungnahme Spalatins, die der Kurfürst ebenfalls angefordert hatte. Bei dieser Stellungnahme handelt es sich um ein undatiertes Schriftstück, welches bislang nicht von der Forschung beachtet wurde.189 Aufgrund seines Inhalts kann es in den Zusammenhang der Anfrage des Kurfürsten im Herbst 1523 eingeordnet werden.190 Beachtenswert erscheint es hier zunächst aufgrund der genannten „Formel“, welche Kriterien des reformatorischen Ritualwandels definiert. Gleichzeitig finden sich im zweiten Teil dieses Dokumentes bemer‑ kenswert frühe strategische Überlegungen des Hofpolitikers Spalatin zur Frage der politischen Umsetzung einer Reform der Ceremonien durch den Landes‑ 189 Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17. Es findet sich im Weimarer Archiv zusammen mit einer eher theologischen Begründung in sechs nummerier‑ ten Stichpunkten, warum die Privatmessen abzuschaffen seien. Georg Spalatin: „Causa contra privatam missam“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 18–19. Beide Dokumente fehlen in den Editionen. Auf die Existenz dieser Schriften verwies allerdings schon Höss: Spalatin, S. 240. 190 Spalatin schrieb, ähnlich wie Reißenbusch, er sende sein „Bedencken“ auf Befehl des Kurfürsten, was mit „Messen und andere[n] Ceremonien“ zu tun sei, vgl. Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17, hier Bl. 11r.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
herrn. Dieser zweite Teil des Gutachtens wird im Zusammenhang mit der lan‑ desherrlichen Durchführung der Reformation zu untersuchen sein, während hier zunächst nur der erste Aspekt relevant ist. Die Vorgehensweise, die Spalatin dem Kurfürsten riet, entsprach für die Stadt Wittenberg zunächst der Praxis, die der Hof in schwierigen und strittigen kirchlichen Fragen seit Anfang des Jahrhunderts verfolgte: Die Wittenberger Universität sollte auf Befehl des Kurfürsten einen Ausschuss bilden, welcher das Für und Wider in diesen Fragen bedenken sollte.191 In dieser Weise hatte sich die Universität bereits in den Streitigkeiten um die Abschaffung der Messen im Winter 1521/22 ebenso wie in den zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Brandenburg in früheren Jahren als „Oraculum“ bewährt.192 Aus seiner eigenen Meinung in dieser Sache machte Spalatin kein Hehl, es ging ihm nur noch darum, die Art und Weise der Abschaffung der altgläubi‑ gen Ceremonien zu bedenken, also um die Frage, „welcher gestalt die uberflus sigen und unchristlichen ceremonien abgethan und was besseres und dem got lichen wort neher und gemeßer solt und mocht aufgericht werden“.193 Bei al‑ lem Reformeifer standen aber auch bei Spalatin die Reformen von 1521/22 als Negativfolie im Hintergrund, gegen die es sich abzugrenzen galt. Bemerkens‑ wert ist, dass diese Abgrenzung hier erstmals anhand der sozialen Funktion der Ceremonien vorgenommen wird: Man dürfe nicht nur die alten Ceremonien ab‑ schaffen, sondern müsse an ihre Stelle auch etwas Neues setzen, „sonst wer es heut wie im vorigen Jar“.194 Die vollständige und ersatzlose Streichung der Ce‑ remonien führe notwendigerweise zu sozialen Unruhen. Die neuen, besseren Liturgiereformen sollten nun den grundsätzlichen Wert der Ceremonien aner‑ kennen und diese nur nach den neuen theologischen Maßstäben umgestalten. Das Bestreben, äußere liturgische Strukturen und damit die soziale Funk‑ tion der Ceremonien zu erhalten, ist auch in den ersten praktischen Reform‑ vorschlägen Luthers implizit zu erkennen. Im Gegensatz zu Spalatin begrün‑ dete er diese jedoch zu diesem Zeitpunkt noch ausschließlich mit den seelsorge‑ risch-theologischen Argumenten der Schonung der Schwachen im Glauben und der Selbstwirksamkeit des Wortes, also um die temporäre Beibehaltung eigent‑ lich unnötiger Ceremonien. Dagegen erhielt in der folgenden Zeit, auch wenn diese Grundprinzipien Luthers weiterhin galten, die hier erstmals von Spalatin benannte soziale Funktion der Ceremonien im reformatorischen Diskurs ge‑ rade in Abgrenzung gegen die „Radikalen“ eine immer wichtigere Funktion. 191 „Zum andern so halte ichs fur gut, das man der universithet zu Wittenberg schreib und befehl. Den dingen mit vleis nachzutrachten. Und ein gemeynen Ratschlag durch ein Orden lichen ausschuss zustellen.“, ebd., Bl. 11v. 192 Vgl. zur Funktion der Universität als „Oraculum“ oben, S. 49 und S. 103. 193 Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17, hier Bl. 12r. 194 Ebd.
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Auch Luther handelte wenig später in einem konkreten Fall nach den hier von Spalatin benannten Prinzipien: In einem Brief an den kursächsischen Be‑ amten Michael von der Straßen schrieb er Mitte Oktober 1523, man solle ei‑ nem Prediger zu Olsnitz Einhalt gebieten, welcher die Reformen zu stürmisch voranbringe.195 Mit der Formulierung, der Prediger werfe seine alten Schuhe weg, ehe er neue habe, fand er sogar eine noch eingängigere Formulierung als Spalatin.196 Beispielhaft hielt Luther hier sein eigenes Handeln in Wittenberg nach dem Prinzip der Schonung der Schwachen vor: „Ich habe zu wittenbergk woll ii Jar gepredigt, ehr ichs ins volck bracht habe.“197 Damit war ein Kriterium der Unterscheidung zwischen der richtigen und falschen Art der Umgestaltung der Ceremonien gefunden, welches ein leicht verständliches Merkmal der Abgrenzung zu „radikalen“ Reformen darstellte und die Grundlage für eine obrigkeitlich gebilligte Veränderung der Ceremo‑ nien bieten konnte: Gemäßigte reformatorische Veränderungen modifizierten diese Ceremonien nur, ohne sie ganz abzuschaffen und ohne ihre grundsätz‑ liche soziale und politische Funktion aus den Augen zu verlieren. Dass dies keine Geringschätzung der geistlich-seelsorgerischen Aspekte be‑ deutete, zeigt die ausführliche theologische Begründung der Freiheit der Cere‑ monien nach der Rechtfertigungslehre, welche Spalatin seinen eher funktiona‑ len Überlegungen zur Umsetzung von Liturgiereformen folgen ließ: „das we der in disen noch anderen Ceremonienn. Iha in keynen Werken auf erden […] das heyl und die selickait steeht, sondern allain in dem glauben an Christum“.198 Als Hofpolitiker und Theologe trennte Spalatin jedoch offensichtlich schon vor Luther besonders klar zwischen der sozialen Notwendigkeit, der theologi‑ schen Freiheit der Ceremonien und den äußeren Dingen. Während anfangs die theologisch-seelsorgerischen Argumente im Mittelpunkt standen, sollte dieser Aspekt in den folgenden Jahren, spätestens ab dem Bauernkrieg auch bei Luther zentral werden. Die seelsorgerischen Aspekte blieben dabei nach wie vor der Maßstab der Veränderungen im Einzelnen, doch waren sie allein, wie oben ge‑ zeigt, nicht für jedermann verständlich und führten zu Missverständnissen. Zur allgemeinverständlichen Formel wurde indes die Frage, ob die Ceremonien ver‑ ändert oder ganz abgeschafft werden sollten. Die Tatsache, dass sich diese spä‑ ter zentralen Ideen bereits 1523 in einer Stellungnahme Spalatins finden, zeigt damit zugleich, dass Spalatins Einfluss auf die Umgestaltung der Ceremonien wahrscheinlich größer war als bislang bekannt.
195 Vgl. Luther an den Geleitsmann zu Borna, Michael von der Straßen, 16. Oktober 1523, in: WA Br. 3, S. 170–172. 196 Vgl. ebd., S. 171. 197 Ebd. 198 Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17, hier Bl. 12v‑13r.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Auf die praktische Entwicklung am Stift hatten alle drei Stellungnahmen jedoch keinen unmittelbaren Einfluss. Die Dokumente über das Treffen in Torgau zeigen, dass der Hof weiterhin alle Reformen verweigerte.199 Der Kur‑ fürst hatte sich schließlich gegen den Rat Spalatins entschieden und war dem Reißenbuschs gefolgt. 200 Auf Anweisung des Kurfürsten empfahlen die Räte den Stiftsherren bei diesem Treffen, ihre Stellen am Stift zu verlassen, wenn sie die Aufrechterhaltung der Ceremonien nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. 201 Ebenso hatten die Räte offensichtlich, wie geplant, auch Luther in seine Schranken gewiesen, 202 denn dieser schrieb kurz darauf einen wütenden Brief an Spalatin, worin er dem Kurfürsten unnötige Rücksichtnahme auf die Reichspolitik und mangelndes Gottvertrauen vorwarf. 203 Im Ergebnis blieb die Situation also gleich, es kam zu keiner Einigung, sondern die Gegensätze zwi‑ schen den bestehenden Positionen wurden nur noch weiter verschärft.
2.4. Weitere Bedingungsfaktoren der Reformen am Stift 1522–24 Die Stiftsherren hatten die dem Kurfürsten im September 1523 mitgeteilten Reformen offensichtlich tatsächlich umgesetzt, denn im April 1524 berichte‑ ten sie selbst über die Probleme, die sich aus der neuen Ordnung ergeben hat‑ ten. 204 Darüber hinaus sind weitere Einzelheiten der neuen Praxis aus einem Bericht des Landesrentmeisters Hans von Taubenheim bekannt, der sich im Oktober 1524 im Auftrag des Kurfürsten ein Bild über die Zustände der geist‑ lichen Stiftungen der Schlosskirche machte. 205 Übereinstimmend heißt es in 199 Vgl. die kurfürstlichen Räte an Friedrich den Weisen, 3. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 43–45. 200 Daher war Spalatin vermutlich auch nicht an der Ermahnung der Stiftsherren in Torgau beteiligt, denn wie Höss bemerkt, weist das Schriftstück der Räte (T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 227, Bl. 4–8) im Gegensatz zu den vorherigen Schreiben in dieser Sache keine Spuren von Spalatins Hand auf. Der Kurfürst scheint Spalatin aufgrund des inhaltlichen Dis‑ senses von der Sache abgezogen zu haben, vgl. Höss: Spalatin, S. 239. 201 Vgl. die kurfürstlichen Räte an Friedrich den Weisen, 3. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 43–45. 202 Luther möge das Wort Gottes predigen und sich „bannes oder, was zu unfried oder aufrur dinstlich und im nit zusteet, enthalten“, vgl. ebd. 203 Luther an Spalatin, 12. Oktober 1523, in: WA Br. 3, S. 168–169. Hier überschätzte Luther Spalatins Einfluss, denn dieser hatte sich in seinem Gutachten ganz im Sinne Luthers ausgesprochen, war jedoch vom Kurfürsten offensichtlich nicht gehört worden. Ebenso hielt er Spalatin vor, Justus Jonas zu unfreundlich zu behandeln und keine Rücksicht auf dessen Geldsorgen zu nehmen, mit denen dieser als Familienvater zu kämpfen hatte, vgl. Luther an Spaltin, 16. Oktober 1523, in: WA Br. 3, S. 172–174. 204 Vgl. Justus Jonas und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 25. April 1524, in: Pal‑ las (Hg.): Urkunden, S. 86–93. 205 Vgl. Bericht des Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 181, Bl. 1–5 (Kanzleivermerk auf Bl. 5v: „An den Churfürs ten zu Sachsen 1524“. Das zweite Aktenstück in diesem Konvolut (Bl. 6r+v), das von den Re
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beiden Berichten, das Stift habe Vigilien, Seelenmessen und Requien einge‑ stellt und diese durch Psalmengebete sowie durch eine tägliche deutsche Lek‑ tion im Alten und Neuen Testament ersetzt. 206 Doch entstanden dabei zahl‑ reiche Probleme, die zum Niedergang des Allerheiligenstiftes beitrugen. Als entscheidende interne Faktoren, die den Fortbestand des Stiftes schließlich er‑ schwerten, sind zum einen finanzielle Probleme und zum anderen die Beset‑ zung der Stiftsämter zu nennen. 2.4.1. Finanzielle Probleme Über die neue Ordnung der Ceremonien beklagte sich das Personal des Stifts, also Vikare, Kapläne und Chorschüler, bereits im April 1524: Die Ordnung sei ihnen nachteilig, man wolle die Seelmessen lieber halten wie zuvor. 207 Der von Luther und Jonas formulierte reformatorische Gedanke, dass die liturgischen Übungen in ihrer veränderten Form insbesondere als geistliche Übungen den Sängern und Priestern zugutekommen sollten, hatte sich bei den Beteiligten selbst nicht durchgesetzt. Als nachteilig erwies sich die Ordnung vor allem in finanzieller Hinsicht, denn die Freunde der Verstorbenen, welche die Totenme‑ morien gestiftet hatten, verlangten nun ihr Geld zurück. 208 Auch die allgemei‑ nen finanziellen Probleme des Stiftes erschwerten den gewohnten Ablauf der Liturgie, denn nachdem die Wittenberger Pfarrkirche und auch viele der umlie‑ genden Pfarren wegen der auch dort wegfallenden Einnahmen aus Stiftungen ihre Abgaben an das Stift nicht mehr zahlten, konnten die Stiftsherren ihre Ka‑ pläne nicht mehr entlohnen, die einen großen Teil der liturgischen Aufgaben er‑ ledigten.209 Für die täglichen Stundengebete, die den Vorstellungen Luthers und Jonas’ entsprechend zunächst beibehalten worden waren, waren aber auch im Oktober 1524 noch genügend Chorsänger und Schüler vorhanden. 210
gistratoren irrtümlich für ein Teil dieses Berichtes gehalten wurde, datiert von 1517 und ent‑ stand im Zusammenhang mit der Errichtung der kurfürstlichen Stiftungen, vgl. dazu vorne Kap. I.2., S. 83. 206 „Ffur die vigilien und selMessen [sic] ausserhalb E churf G gestyffter begengnus dahyn geordnet werden drey psalm gelesen“, ebd., Bl. 3v; „furs beste erkant und angesehen, vor die vigilien drei psalm und das benedictus mit einer collecten vor die lebenden und vorstorbe nen und vor das requiem all tag ein deutsche lection im alten und neuen testament zu leßen“, Justus Jonas und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 25. April 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 86–93, hier S. 87. 207 Vgl. ebd., S. 88. 208 Vgl. Justus Jonas und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 25. April 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 86–93, hier S. 87. 209 Vgl. Bericht des Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 181, Bl. 3r. 210 „die chorales und knaben seyn noch In der anzal wie die gestyfft seyn vorhanden“, ebd., Bl. 3v.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Insgesamt zeigen die Berichte, dass die Forderungen der Reformatoren dem Befehl des Kurfürsten entgegen zwar umgesetzt wurden, sich daraus aber im Laufe des Jahres 1524 eine Reihe von internen Streitigkeiten und finanziellen Problemen ergaben, so dass schon hier erkennbar war, dass der Fortbestand des Stiftes in dieser Form schwer haltbar sein würde. 2.4.2. Die Besetzung der Stellen im Stiftskapitel als Reformfaktor Neben den finanziellen Schwierigkeiten war besonders auch die Besetzung der Stellen im Stiftskapitel selbst ein Faktor, durch den zunächst der Weg für noch weitergehende Reformen geebnet und schließlich auch die endgültige Abwick‑ lung des Stifts erleichtert wurde. Dies betraf zum einen die Mehrheitsverhält‑ nisse im Stiftskapitel insgesamt, zum anderen das für den Ceremoniendienst be‑ sonders wichtige Amt des Dekans. a) Mehrheitsverhältnisse im Stiftskapitel Noch 1522 hatte im Stiftskapitel die reformatorisch gesinnte Minderheit einer reformgegnerischen Mehrheit gegenüber gestanden: Befürworter der Refor‑ men waren zunächst nur Justus Jonas, der als Stiftspropst das höchste Amt des Kapitels innehatte, weiterhin Nikolaus von Amsdorf, Johann Dölsch und An‑ dreas Bodenstein von Karlstadt als Archidiakon des Stiftes. Erklärte Reform‑ gegner waren hingegen der Dekan Lorenz Schlamau, Otto Beckmann, Sebas‑ tian Küchenmeister, Georg Elner, Matthäus Beskau und Johann Volmar. Dies hatte dazu geführt, dass das Stiftskapitel unter den städtischen Akteuren in den Reformdiskussionen 1521 und 1522 zunächst eine blockierende, in den Eilen‑ burger Verhandlungen noch eine stark bremsende Haltung eingenommen hatte. Im Jahr 1523 hatte sich die Besetzung des Stiftskapitels aus verschiedenen Gründen zugunsten der Reformbefürworter verändert, denn bis zum Frühjahr 1523 waren drei Kanonikate frei geworden, die zuvor mit Reformgegnern besetzt gewesen waren: Sebastian Küchenmeister hatte sich bereits im Herbst 1522 ohne Erlaubnis aus Wittenberg entfernt. Da er damit seine Residenzpflicht als Stifts‑ herr verletzte, wurde er am 22. Juni 1523 „vmb seins nit residirens vnd vngehor ßams“ seines Kanonikats entsetzt. 211 Otto Beckmann hatte Wittenberg Anfang 1523 verlassen und war in seine westfälische Heimat zurückgekehrt. 212 Sein Fall verhielt sich ähnlich wie der Sebastian Küchenmeisters: Zwar hatte Beckmann zunächst für vier Wochen Urlaub erhalten, doch kehrte er danach nicht wie‑ 211 Die Universität an Friedrich den Weisen, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 209, Bl. 102; vgl. zu diesem Vorgang auch Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 299. Dass ihm die Pfründe „aus Gründen der sittlichen Verwahrlosung“ entzogen wurde, wie es bei Höss: Spa‑ latin, S. 235 heißt, ist hingegen aus den Quellen nicht ersichtlich. 212 Beckmann wurde 1524 Pfarrer in Warburg in Westfalen und wurde 1527 Propst des St. Ägidienklosters in Münster, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 231.
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der zurück und wurde schließlich am 20. Juli 1524 ebenfalls wegen Vernachlässi‑ gung der Residenzpflicht abgesetzt.213 Mit Küchenmeister und Beckmann fehl‑ ten damit praktisch bereits seit Anfang 1523 zwei reformgegnerische Stiftsmit‑ glieder, als im Februar 1523 mit dem Dekan des Stiftes Lorenz Schlamau einer der schärfsten Reformgegner verstarb.214 Auf der Seite der Reformbefürworter verstarb hingegen im Juni 1523 der reformatorisch gesinnte Johann Dölsch. An‑ dreas Karlstadt hingegen, der ebenfalls im Frühjahr 1523 Wittenberg verlassen und sich nach Orlamünde zurückgezogen hatte, 215 gab seine Präbende am Stift erst am 22. Juli 1524 auf, nachdem das Kapitel befunden hatte, dass er über ein Jahr lang seinen Pflichten am Stift nicht nachgekommen war. 216 Der Senat der Universität, der für die Wahl zuständig war, hatte schon im Frühjahr 1523 mit Herrmann Tulken und Johann Gunckel zwei Reformbefür‑ worter als neue Stiftsherren gewählt. 217 Am 22. Juni 1523 meldete er zusätzlich die Wahl von Johann Reuber. 218 Damit bildeten die Reformbefürworter nun eine Mehrheit von fünf Personen im Kapitel (Jonas, Amsdorf, Gunckel, Tulken und Reuber), der nur noch eine Minderheit von drei Reformgegnern (Elner, Beskau, Volmar) gegenüberstand. Nach den Universitätsstatuten mussten die Gewählten aber durch den Kur‑ fürsten bestätigt werden, wozu es erst nach längeren Verhandlungen kam. Ob‑ wohl alle drei den geforderten Eid auf die Statuten geleistet hatten, 219 zeigte der Kurfürst sich unentschlossen und verzögerte die Sache. Als problematisch er‑ schien ihm zunächst, dass die Universität für alle drei Stellen Laien gewählt hatte, die demnach für ihre Verpflichtungen noch geweiht werden mussten, ob‑ 213 Vgl. Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. O 181, Bl. 1v. 214 Vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 319. 215 Die Abgaben der dem Stift inkorporierten Pfarre Orlamünde standen Karlstadt als Ar‑ chidiakon zu. Zu Karlstadts Weggang aus Wittenberg vgl. Barge: Karlstadt, Bd. 2, S. 86–99. 216 Vgl. Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. O 181, Bl. 1v. Nach Taubenheims Angaben verzichtete Karlstadt am 22. Juli 1524 auf die Präbende, nachdem ihm zugesagt worden war, dass er die Einkünfte (Corpus‑ geld) für das laufende Jahr behalten dürfte. Das Corpusgeld für das folgende Jahr sollte an den Kurfürsten gehen. 217 Vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 310. 218 Das gab die Universität Friedrich dem Weisen am 22. Juni 1523 bekannt: Die Univer‑ sität an Friedrich den Weisen, 22. Juni 1523, ThHStA Weimar, EGA, Reg. O 209, Bl. 102, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 310. Johann Reuber hatte sich bereits in den Dis‑ kussionen im Dezember 1521 auf die Seite der Reformbefürworter gestellt, indem er als Mit‑ glied der philosophischen Fakultät der Universität das Gutachten des Ausschusses aus Uni‑ versität und Stift zur Reform der Messe und Abschaffung der Privatmessen mit unterzeich‑ nete, vgl. die Universität an Friedrich den Weisen, 12. Dezember 1521, in: Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 82–84. 219 Das geht aus einem Schreiben des Kurfürsten hervor, in dem er von drei Personen spricht, „welche die statuta zu halten gelobet und geschworen haben“: Friedrich der Weise an seine Räte, 2. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 38–43, hier S. 41.
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wohl man doch in der Mehrheit der Meinung war, „das prister machen und meß halten etc. nit gut sein solt“. 220 Er befürchtete also, dass die Gewählten ihren Pflichten nicht nachkommen würden. Die Wahl der drei neuen Stiftsherren führte auch von Seiten der Reforma‑ toren zu Kritik. In Folge der Wahl der neuen Kanoniker warf Spalatin Luther inkonsequentes Verhalten vor, da er sich einerseits für die Auflösung des Stifts aussprach, gleichzeitig aber die Berufung neuer Kanoniker unterstützte. 221 Luther wies diesen Vorwurf zurück und machte darauf aufmerksam, dass der Beschluss des Senats in seiner Abwesenheit zustande gekommen sei. Erst als die bereits Gewählten ihn um Rat fragten, habe er ihnen dazu geraten, die Wahl an‑ zunehmen. Da die Präsenzgelder ohnehin für diese Zwecke ausgegeben wur‑ den, sollte man verhindern, dass Schlechtere an ihrer Stelle gewählt würden. 222 Damit zeigt sich bereits hier Luthers grundsätzliches Ziel im Vorgehen gegen das Stift: Das Allerheiligenstift sollte nicht von innen heraus reformiert werden, sondern sobald wie möglich fallen, „certe malim hac hora iacere domum illam Satane“ und die Gelder für andere Zwecke der Universität und der Seelsorge verwendet werden. 223 Wie er schon Anfang des Jahres 1523 gegenüber Spalatin geäußert hatte, wollte er aus taktischen Gründen eine Neubesetzung von Stifts‑ stellen vermeiden. Er empfahl, die Einsetzung der Stiftsherren aufzuschieben bis sich die Sache erledigt habe. 224 Die Einsetzung der reformbefürwortenden Stiftsherren war also nur eine Übergangslösung bis zu einem von Luther schon hier angestrebten endgültigen Ende des Stifts. Die Befürchtungen Friedrichs des Weisen wegen des ungeweihten Standes der drei neuen Stiftsherren Reuber, Gunckel und Tulich erwiesen sich als be‑ rechtigt, denn diese hielten sich trotz ihres Eides nicht an die Stiftsstatuten. Wie aus dem bereits oben zitierten Bericht Taubenheims hervorgeht, hatte das Stift im Sommer 1524 erhebliche Probleme, seine liturgischen Verpflichtungen zu bestreiten, da die Leistungen dieser Stiftsherren fehlten.225 Immerhin zeigte der von den kurfürstlichen Räten in Torgau vorgetragene Hinweis, die Kleriker sollten ihre Pfründen verlassen, falls sie keine Messen mehr halten wollten, in einigen Fällen offenbar Wirkung. 226 Im Juli 1524 resignierten sie ihre Pfründen, weil sie den mit ihren Kanonikaten verbundenen priesterlichen Verpflichtun220 Friedrich der Weise an seine Räte, 2. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 38– 43, hier S. 40. 221 Vgl. Luther an Spalatin, 6. November 1523, in: WA Br. 3, S. 185–186. 222 Vgl. Luther an Spalatin, 6. November 1523, in: WA Br. 3, S. 185–186. 223 Ebd., S. 185. 224 „simularetur interim differri Canonicorum institutio, donec res per sese cadat“, Luther an Spalatin, 11. März 1523, in: WA Br. 3, S. 45. 225 Vgl. Bericht des Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 181, Bl. 1v‑2v. 226 Vgl. die kurfürstliche Räte an Friedrich den Weisen, 3. Oktober 1523, S. 43–45, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 43–45, hier S. 45.
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gen nicht nachkommen wollten. 227 Daraufhin machten Luther und Hierony‑ mus Schurf erneut, wie schon vor der Wahl der Kanoniker, den Vorschlag, die damit freiwerdenden Einkünfte der Pfründen für Lektionen an der Universität zu verwenden. 228 In ähnlicher Absicht hatte auch Justus Jonas bereits im Au‑ gust 1523 erklärt, er wolle die Präsenzgelder, die ihm für Totenmessen und Vigi‑ lien zufielen, nicht mehr annehmen. 229 Der Kurfürst äußerte sich jedoch ableh‑ nend und wollte über die Verwendung frei werdender Gelder aus Präsenzen und geistlichen Lehen erst später entscheiden. 230 Insgesamt waren nun, nachdem die drei neuen Stiftsherren das Kapitel wieder verlassen hatten, die Reformbefür‑ worter mit Justus Jonas und Nikolaus von Amsdorf wiederum in der Minder‑ heit. Doch bestand auch die Gruppe der Reformgegner nur noch aus Georg El‑ ner, Matthäus Beskau und Johann Volmar, welche auch bis zum Ende im Stift verblieben. Damit war das Stiftskapitel insgesamt zwar weiterhin ein reform‑ hemmender Faktor in der Stadt, doch stellte es mit nur noch drei verbliebenen Reformgegnern keine starke Kraft mehr dar. Luthers Strategie, einfach auf eine Neubesetzung vakanter Stiftsstellen zu verzichten, erwies sich also als erfolg‑ versprechend. b) Das für den Ceremoniendienst entscheidende Amt des Dekans Neben den allgemeinen Mehrheitsverhältnissen im Stiftskapitel spielte auch die Besetzung strategisch wichtiger Ämter eine große Rolle für die Möglichkei‑ ten der Umsetzung der Reformen. Entscheidend war dabei das Amt des De kans des Stifts, das Anfang 1523 mit dem Tod des Stiftsdekans Lorenz Schla‑ mau am 11. Februar 1523 ebenfalls neu besetzt werden musste. 231 Als Inhaber des zweithöchsten Amtes im Stiftskapitel hatte dieser den stärksten Widerstand gegen jede Veränderung leisten können. Nach den Stiftsstatuten unterstand ihm als Dekan das gesamte Personal der Schlosskirche. Er sollte möglichst häufig in der Kirche anwesend sein, wofür er von Lehrverpflichtungen an der Universi‑ tät weitgehend befreit war. 232 Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Dienste der Priester und Chorsänger zu überwachen, so dass er für den reibungslosen Ab‑ lauf genau der täglichen Messen, Gebete und Gesänge zuständig war, die nun in der Kritik der Reformatoren standen. Sein starker Widerstand gegen deren Abschaffung war neben möglichen persönlichen Überzeugungen wohl auch schon durch seine besondere Verantwortung für den Ablauf der Liturgie dem 227
Vgl. Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Wei‑ mar, EGA, Reg. O 181, Bl. 1v. 228 Vgl. Hieronymus Schurf und Luther an Kurfürst Friedrich, 8. Juli 1524, in: WA Br. 3, S. 319–320. 229 Vgl. T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 229, Bl. 29–35; vgl. Höss: Spalatin, S. 240. 230 Vgl. Friedrich der Weise an Hieronymus Schurf und Luther, 10. Juli 1524, in: WA Br. 3, S. 320–321. 231 Vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 319. 232 Vgl. ebd., S. 306.
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Kurfürsten gegenüber bedingt. Die Neubesetzung dieses Amtes hatte also ent‑ scheidende Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Durchsetzung von Litur‑ giereformen im Stift. Luthers Vorstellung war, als Dekan einen Reformbefür‑ worter aus den Reihen des Stiftskapitels einzusetzen, der bereits Mitglied des Stifts war, so etwa Nikolaus von Amsdorf. Das dann frei werdende Einkommen Amsdorfs sollte für die Universität verwendet werden. 233 Dies entspricht auch der oben dargestellten Vorgehensweise Luthers bei den übrigen Stiftsstellen, die er möglichst gar nicht oder nur aus den eigenen Reihen neu besetzen wollte, um das Stiftskapitel langsam auslaufen zu lassen. 234 Für eine Neubesetzung der Stiftsstellen mit Reformbefürwortern setzte sich indes eher Justus Jonas ein, der schon vor dem Tod Lorenz Schlamaus am 11. Fe‑ bruar seinen Freund Johann Crotus als Nachfolger für das Amt des Dekans vorgeschlagen hatte. 235 Offensichtlich konnte sich aber Luther im Universitäts‑ senat mit seinem Personalvorschlag durchsetzen, denn am 13. März wählte die‑ ser zunächst Nikolaus von Amsdorf, der die Wahl jedoch aus Gewissensgrün‑ den ausschlug, daraufhin Otto Beckmann, der als Syndikus des Stifts eben‑ falls dem Kapitel angehörte. 236 Nachdem Beckmann seine Bedenkzeit bis zum 4. Juni verstreichen ließ, ohne sich zu äußern, wählte der Senat am 16. Juni 1523 den entschiedenen Reformgegner Matthäus Beskau zum Dekan, der die Wahl schließlich annahm. 237 Da der für die Besetzung der Stiftsstellen zuständige Senat der Universi‑ tät in seiner Mehrheit reformatorisch gesinnt war, stellt sich die Frage, warum 233 „Feria Eligentur Decani & Canonicus; quam vellem autem vel Amsdorffium vel si milem fieri Decanum autoritate principis, & Pomerano cedere interim Amsdorfii censum, Si militer Rachals censum alicui in collegio legenti“, Luther an Spalatin, 11. März 1523, in: WA Br. 3, S. 45. 234 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass von einer Meinungsverschiedenheit Luthers und Spalatins, die Irmgard Höss hier sieht, keine Rede sein kann. Höss: Spalatin, S. 236, geht davon aus, Luther habe die Stellen mit reformatorisch gesinnten Männern neu besetzen wollen, während Spalatin eine Neubesetzung der Kanonikate ganz verhindern und damit eine schrittweise Auflösung des Stiftes beginnen lassen wollte. Die oben zitierten Stel‑ len zeigen jedoch, dass eben dieses Luthers Meinung war. Auch die Annahme eines Streites zwischen Spalatin und Luther „voller Ärger und Ungeduld jagte er [Spalatin] mehrere Briefe hintereinander nach Wittenberg“ erscheint spekulativ, die Briefe sind nicht überliefert, vgl. ebd., S. 236. 235 Das berichtete Luther an Spalatin, 9. Februar 1523, in: WA Br. 3, S. 28 f: „Ionas Iustus praepositus Crotum censet idoneum; tu ipse nosti hominem“. 236 Beckmann befand sich damals bereits in seiner Heimatstadt Warburg in Westfalen, nachdem er Wittenberg im Frühjahr 1523 verlassen hatte und kehrte nicht wieder nach Wit‑ tenberg zurück. Vgl. das Schreiben der Universität an Otto Beckmann, 9. April 1523, ThHStA Weimar, EGA, Reg. O 196, Bl. 413. 237 Nach Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 243 wurde Beskau am 22. Juni 1523 als Dekan eingesetzt. Am 23. Juni unterzeichnete er bereits einen Brief an den Kurfürsten in dieser Funktion, vgl. Propst, Dekan und Kapitel der Stiftskirche an Friedrich den Weisen, 23. Juni 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 18–21.
2. Reformen an der Schlosskirche
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mit Beskau ein erklärter Reformgegner in ein so entscheidendes Amt einge‑ setzt wurde. Hatte Beskau sich verstellt oder glaubte der Senat einfach, ihn nach der Ablehnung Beckmanns und Amsdorfs nicht mehr übergehen zu können?238 Vermutlich war die Stellung der Kandidaten zu den Reformen bei der Wahl im Universitätssenat nicht entscheidend. Vielmehr war es, wie die Einzelheiten der Absagen Amsdorfs und Beckmanns zeigen, ein größeres Hindernis, überhaupt einen Kandidaten zu finden, der in der gegenwärtigen Situation noch bereit war, eine Stelle wahrzunehmen, mit der die Verantwortung über die gesamten Cere‑ monien der Schlosskirche verbunden war. Hinzu kam die sinkende finanzielle Attraktivität der Stelle aufgrund schwindender Einnahmen aus den Pfründen in den Dörfern. Besonders aufschlussreich ist hier die Begründung der Ablehnung durch Ni‑ kolaus von Amsdorf, die außergewöhnlich gut überliefert ist. 239 Am 13. März 1523 hatte der Senat Amsdorf als Dekan des Stifts gewählt und am darauf fol‑ genden Tag dem Kurfürsten zur Präsentation vorgeschlagen. 240 Noch am Tag seiner Wahl wendete sich Amsdorf jedoch in höchster Bedrängnis mit einem Brief an Spalatin: „Was soll ich sagen? Was soll ich schreiben? Mein liebster bruder Georgi, foller angst. Und gantz betrubt und entsetzt. Ich bin zu einem dechant gewelt worden.“ 241
Amsdorf bat Spalatin in diesem Schreiben, er möge darauf hinwirken, dass der Kurfürst die Wahl Amsdorfs nicht annehme und ihn nicht als Dekan präsen‑ tierte, so dass es Amsdorf erspart bliebe, die Stelle auszuschlagen. 242 Spalatin sollte den Kurfürsten so auf das Gesuch Amsdorfs vorbereiten, worin sich die‑ ser wenige Tage später mit derselben Bitte an den Kurfürsten wendete. 243 Ge‑ genüber Spalatin nannte er zwei Gründe, warum es ihm nicht möglich war, das Dekanat anzunehmen: Zum einen konnte er die finanziellen Verpflichtungen nicht tragen.244 Zum anderen wog aber die statutengemäße Verantwortung des 238 So die Überlegungen Nikolaus Müllers, vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 242. 239 Vgl. Amsdorf an Spalatin, 13. März 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 178, Bl. 1–3. Die Briefe sind nicht ediert und wurden von der Forschung bislang nicht zur Kenntnis ge‑ nommen, vermutlich auch, da diese frühe Zeit nicht im Fokus der Amsdorf‑Forschung steht, vgl. zuletzt: Irene Dingel (Hg.): Nikolaus von Amsdorf (1483–1565). Zwischen Reforma‑ tion und Politik, Leipzig 2008. 240 Vgl. Müller (Hg.): Wittenberger Bewegung, S. 230. 241 Amsdorf an Spalatin, 13. März 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 178, Bl. 1–3. 242 Explizit wird dieses in dem Nachsatz deutlich: „Wider die wal oder beruffung wil ich mich nicht mit eygenem frevel oder Willen setzen. Aber ich wolt das es unser gendigster herr abschlug.“ Ebd., Bl. 3v. 243 Vgl. Amsdorf an Friedrich den Weisen, 17. März 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 198. 244 An finanziellen Verpflichtungen nannte er: Die Führung eines eigenen Haushaltes mit eigener Küche „solt auch eynen tisch haben“, die Statutengelder sowie die Pensionsgelder für
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Dekans für die Liturgie am Stift besonders schwer, denn im Dekan sah er den „meister, haubtursacher und leyter“ der Messen und Ceremonien, die er persön‑ lich selbst stets „fur gottloß geacht und gesagt.“245 Besonders wollte er als Dekan nicht dazu verpflichtet sein, „wider die lere des evangeliums die Messen vertey digen, und die andern messen zuhalten zwingen“, und damit die Hauptverant‑ wortung für die Messen und Horen im Stift tragen. 246 Genau diese Aufgabe ließ auch Beskau nach seiner Wahl zum Dekan ei‑ nige Bedenken tragen, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Die Statuten, so schrieb er an den Kurfürsten, würden gegenwärtig kaum eingehalten und vom Stiftspersonal habe er in seinem Amt dabei auch keine große Unterstützung zu erwarten. 247 Beskau, der im Kapitel stets als ein Fürsprecher der alten Ordnung aufgetreten war, hatte keine Bedenken gegen die Ceremonien, sondern befürch‑ tete, deren Erfüllung als Dekan nicht durchsetzen zu können. Obwohl Beskaus Befürchtungen sich langfristig bewahrheiteten, stellte seine Wahl als Dekan zu‑ nächst einen erheblichen Rückschlag für die Möglichkeiten von Liturgierefor‑ men im Stift dar. Schon die vollständige Umsetzung der ersten Reformen vom Oktober 1523 scheiterte an seinem Widerstand, was ebenfalls dem genannten Bericht des Hans von Taubenheim über die Zustände am Stift 1524 zu entneh‑ men ist. 248 Demnach hatte Beskau darauf bestanden, zumindest die Seelmessen und Vigilien für die Vorfahren des Kurfürsten nicht zu verändern. 249 Dies ist gleichermaßen mit der persönlichen Überzeugung Beskaus wie auch mit des‑ sen besonderer Verantwortungsposition als Dekan gegenüber dem Kurfürsten zu erklären. Da Beskau sich jedoch gegen die Reformbefürworter im Stiftska‑ pitel nicht vollständig durchsetzen konnte, führte dies nun dazu, dass die Be‑ gängnisse schließlich überhaupt nicht mehr gehalten wurden. 250 Insgesamt war die starke Stellung Beskaus am Stift jedoch nur ein Faktor, welcher ebenso wie die auftretenden praktischen Probleme den Prozess der Liturgiereformen ver‑ zögerte. Mit ihm als Dekan konnte das Stift noch 1524 als letzter Ort des Wi‑ die Pfarrkirche, vgl. Amsdorf an Spalatin, 13. März 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 178, Bl. 1–3, hier Bl. 3r. 245 Ebd. 246 Amsdorf an Spalatin, 13. März 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 178, Bl. 1–3, hier Bl. 1v. 247 „Da keyn ader gar wenig statuta werden, wie sie sollten, gehalden. Den beystand aber, des ich alhy zcugewarten, wirdt, alß zuforchten, kleyn sein, auch der jennigen, ßo mirh do tzu helffen schuldig.“ T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 198. Müller (Hg.): Wittenberger Bewe‑ gung, S. 242 liest diese Stelle hingegen als „Seitenhieb“ auf Beskaus reformatorisch gesinnte Kollegen. 248 Vgl. Bericht des Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 181. 249 Vgl. ebd., Bl. 3r. 250 „Aber die begengnus die E churf G haben styfften lassen, die seyn gar gefallen, aus dem das der techant des kleynen chors an den dreyen psalmen nicht hat begnugig sein wollen und sich wie bisher gepflogen die selmessen und vigilien zuhalten geweigeret“, ebd.
2. Reformen an der Schlosskirche
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derstands gegen die Reformen in der Stadt auftreten, diese jedoch schließlich aufgrund der im Folgenden darzustellenden Entwicklungen im Laufe des Jah‑ res 1524 nicht verhindern.
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3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24) Die Ereignisse der vergangenen Jahre hatten gezeigt, dass Kurfürst Friedrich der Weise die Reformbestrebungen der Wittenberger Reformatoren nicht un‑ terstützen würde. Er hatte zwar die ersten Reformen in der Pfarrkirche still‑ schweigend geduldet, jedoch in der Schlosskirche und im Stift alle diesbezüg‑ lichen Anfragen und Vorstöße von Seiten der Stiftsherren, des Propstes Justus Jonas und Luthers selbst negativ beschieden. Nachdem Ende 1523 der sonntäg‑ liche Gottesdienst in der Pfarrkirche im reformatorischen Sinne verändert und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt eingeführt worden war, gab es nun ein Ungleichgewicht in der Stadt, denn die Reformen in der Schlosskirche standen erst in ihren Anfängen. Diese Konstellation sollte sich auch für den Erfolg der Reformen in der Pfarrkirche als nachteilig erweisen. Mit der ersten Androhung eines Bannes, der den wirtschaftlichen und so‑ zialen Ausschluss der Stiftsherren aus der Stadtgemeinschaft bedeutet hätte, hatte Luther Anfang 1523 einen ersten Erfolg erzielt und Reformen am Stift erzwungen, deren Umsetzung sich jedoch aufgrund verschiedener Umstände auch im folgenden Jahr noch als schwierig erwies. An diesen Erfolg anknüpfend suchten nun die Reformatoren auch in der fol‑ genden Zeit verstärkt die Zusammenarbeit mit der städtischen Obrigkeit, um gemeinsam, trotz des Widerstandes von Kurfürst und Stift, weitere Reformen voranbringen zu können.
3.1. Die „Wahl“ Johannes Bugenhagens zum Wittenberger Pfarrer Als im Sommer 1523 der Wittenberger Stadtpfarrer Simon Heins von Brück verstarb, bedeutete dies einen entscheidenden Einschnitt für die Möglichkeiten von Reformen in der Stadt. Obwohl Brück selbst allem Anschein nach den Re‑ formen in der Pfarrkirche von Anfang an keinen Widerstand entgegengesetzt hatte, zog sein Tod in den folgenden Monaten entscheidende Veränderungen der Situation geistlicher Herrschaft in der Stadt nach sich. 251 251 Das genaue Datum ist nicht bekannt. Heins muss jedoch zwischen Juni und September 1523 verstorben sein, vgl. Wentz: Kollegiatstift, S. 86.
3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24)
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3.1.1. Die Pfarrerwahl wird zur Schicksalswahl für das Stift Wittenberg brauchte nun einen neuen Pfarrer. Seit der institutionellen Vereini‑ gung von Universität und Stift im Jahr 1507 war die Frage der Stellenbesetzun‑ gen im Stift und in den inkorporierten Pfarren schon zuvor ein Streitpunkt zwi‑ schen den beiden Institutionen gewesen, welcher auch in der Diskussion um die Neufassung der Stiftsstatuten nicht gelöst werden konnte. Wurde die Wahl ur‑ sprünglich durch das Stiftskapitel ausgeführt, so hatte die Universität bereits in der Vergangenheit erfolgreich ein Mitspracherecht beansprucht. Die recht‑ liche Situation war demnach auch hier schon in früheren Jahren unsicher und den Beteiligten selbst unklar. Dies galt selbst für den kurfürstlichen Hof, denn der Kurfürst musste nach der Wahl des neuen Pfarrers zunächst beim Stift an‑ fragen, dass man ihm die entsprechenden Artikel aus den Stiftsstatuten „sovil ainen pfarrer belangen tun“ übersenden möge. 252 Unumstritten war hingegen das Recht der „Präsentation“ des gewählten Kandidaten im kirchenrechtlichen Sinne, d.h. dessen förmliche Ernennung, welche nur aus wichtigen Gründen ab‑ gelehnt werden durfte, nach wie vor beim Kurfürsten als Stifter lag und auch weiterhin von diesem beansprucht wurde. Diese Vorbedingungen erleichterten es den Reformbefürwortern, die Wahl des neuen Pfarrers 1523 zu einer Schick‑ salswahl für das Stift zu machen, in deren Folge nicht nur der Modus der Pfar‑ rerwahl, sondern auch die Machtverhältnisse in geistlichen Dingen in der Stadt insgesamt nachhaltig verändert wurden. Da bekanntlich schließlich Johannes Bugenhagen die Pfarrstelle erhielt, wurde diese Wahl bislang hauptsächlich von der biographischen Luther- und Bugenhagenforschung betrachtet, zuletzt auch im Rahmen der Frage nach Luthers Verständnis von Amt und Ordination. 253 Hingegen sollen die Um‑ stände der Wahl hier vor dem Hintergrund der längerfristigen Entwicklung des Gesamtgefüges geistlicher Institutionen in der Stadt und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Delegitimierung alter und Installierung neuer Autoritäten in geistlichen Dingen untersucht werden. Die Initiative zur Wahl des neuen Pfarrers ging vom Stiftskapitel aus, das sich im September 1523 auf die Suche nach einem geeigneten Kandidaten machte. Das Unterfangen wurde dadurch erschwert, dass sich die Pfarrkirche 252 Friedrich der Weise an das Stiftskapitel zu Wittenberg, 14. Okt. 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 47 f., hier S. 48. 253 Martin Krarup: Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation, Tübingen 2007, S. 67–70; Hans‑Günther Leder: Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie, hg. von Volker Gummelt, Frankfurt am Main 2002, S. 183–214; Hermann Hering: Dok‑ tor Pomeranus, Johannes Bugenhagen. Ein Lebensbild aus der Zeit der Reformation, Halle 1888, S. 20–22; Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 77; Martin Bornkamm: Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Das Jahrzehnt zwischen Wormser und Augsburger Reichstag, hg. von Katrin Bornkamm, Göttingen 1979, S. 121.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
seit einigen Jahren in finanziellen Schwierigkeiten befand, so dass das Ein‑ kommen des Pfarrers nicht mehr gesichert und die Stelle entsprechend un‑ attraktiver war. Das jährliche gegenwärtige Einkommen des Pfarrers bezif‑ ferte der Wittenberger Rat auf 111 Gulden insgesamt, davon 75 Gulden Korn aus Naturalabgaben der umliegenden Dörfer, 20 Gulden an Zinsen und 16 Gulden „auß der kirchen“, die jedoch ungewiss seien – gemeint ist vermutlich das Einkommen aus verbliebenen Spenden oder Stiftungen. Der Rat bezwei‑ felte, ob davon die anfallenden Ausgaben des Pfarrers zu bestreiten waren, die aus den folgenden Posten bestanden: Die jährliche Abgabe, „Pension“ von 40 Gulden an das Stift, 254 das Gehalt für zwei Kapläne der Pfarrkirche, ein Pferd, um den Menschen auf den Dörfern das Sakrament zu bringen und weitere Kosten für einen Diener und eine Magd.255 Weiter kam erschwerend hinzu, dass der Pfarrer den Erben des verstorbenen Pfarrers Simon Heins weitere 20 Gulden jährlich schuldete, um diesen die Hälfte der 400 Gulden zurückzu‑ zahlen, die Heins für den Bau des Pfarrhauses aufgebracht hatte. Das größte Problem war jedoch, dass die Einkünfte wegfielen, welche der Pfarrer bisher aus der Gemeinde als Spenden für das Lesen unterschiedlicher Seelenmessen für die Verstorbenen erhalten hatte. Während Stift und Rat grundsätzlich übereinstimmten, dass die finanziellen Belastungen für den Pfarrer nicht zu tragen waren, sahen ihre Lösungsvor‑ schläge denkbar unterschiedlich aus: Nach dem Willen des Rates sollten dem Pfarrer die Abgabe an das Stift erlassen werden. 256 Die Stiftsherren hingegen machten den Rat für den Wegfall der Spenden verantwortlich: „der rat alhi meint wol, das man dem pfarrer nit mehr opfern solle“ – nicht ganz zu Unrecht, war doch die Einführung des „gemeinen Kastens“, welcher nun die Spenden‑ gelder erhielt, durch den Rat mit beschlossen und die Abschaffung der einträg‑ 254 Die
Pension, die der Pfarrer jährlich an das Stift zu zahlen hatte, ergab sich aus dem seit 1400 bestehenden Inkorporationsverhältnis zwischen Pfarrkirche und Stift: Das Kapitel überließ die Pfarrkirche mit ihren Einkünften dem Pfarrer, meist einem Mitglied des Stifts‑ kapitels, der dafür eine jährliche Abgabe an das Kapitel zu entrichten hatte. Bereits 1482 war es zu Auseinandersetzungen mit dem damaligen Pfarrer Clemens Goldhayns gekommen, der über Jahre hinweg mit der Zahlung der Pension im Rückstand war. Damals unterstützte die Stadt, die ohnehin mit dem Pfarrer unzufrieden war, das Stift und erklärte diesen für abge‑ setzt. Der Kurfürst erklärte die Absetzung von Goldhayns für rechtsgültig und das Kapitel berief den Stiftsherren Lorenz Schlamau zum Pfarrer, der zu einer jährlichen Pensionszah‑ lung von 80 Gulden bereit war. Davon sollten 20 Gulden zur Besoldung eines Hilfsgeistlichen verwendet werden, die übrigen 60 wurden unter den Stiftsherren verteilt. Offensichtlich war die Höhe der Abgabe Anfang des 16. Jahrhunderts aus unbekannten Gründen bereits auf 40 Gulden gesenkt worden, denn alle Parteien gehen von diesem Betrag aus. Vgl. dazu insgesamt Wentz: Kollegiatstift Allerheiligen, S. 85 f. 255 Vgl. der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. November 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–85. 256 Der Rat bestätigte dies indirekt, indem er schrieb, es sei dem Pfarrer „ummöglich“ diese Abgaben zu zahlen, vgl. ebd., S. 85.
3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24)
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lichen Seelmessen zumindest geduldet worden. 257 Aus diesen Gründen hatte das Kapitel dem Pfarrer die Pension bereits zweimal erlassen, was wiederum die Stiftsherren ihrerseits in finanzielle Schwierigkeiten brachte, denn auch diese mussten Kapläne bezahlen, um die vielfältigen liturgischen Pflichten der Stif‑ tungen zu erfüllen.258 Die Wittenberger Pfarrkirche brachte dem Stift also die‑ selben finanziellen Probleme wie die anderen inkorporierten Dörfer, Pfarren und Klöster. Doch hätte der Vorschlag des Rates, dem Pfarrer seine Abgaben an das Stift einfach zu erlassen, nicht nur die ohnehin missliche finanzielle Situa‑ tion des Stiftes noch weiter verschlechtert, sondern auch faktisch eine Lösung des Inkorporationsverhältnisses und eine nachhaltige Verschiebung der Kräfte zwischen den geistlichen Institutionen in der Stadt zu Ungunsten des Stifts be‑ deutet. 3.1.2. Die Wahl scheitert: Bugenhagen wird durch Proklamation zum Pfarrer Der Ablauf der Pfarrerwahl schien zunächst wie üblich: Ende September 1523 wählte das Stiftskapitel den Universitätsprofessor Nikolaus von Amsdorf, der die Wahl auch annahm. 259 Die Wahl Amsdorfs zeigt eine grundsätzliche Kompromissbereitschaft des Kapitels bei der Auswahl des Kandidaten, denn Amsdorf galt als enger Vertrauter Luthers und war an der Universität einer der frühesten Anhänger der reformatorischen Rechtfertigungslehre. 260 Mehr Ge‑ wicht hatte für das Kapitel offensichtlich die Tatsache, dass Amsdorf zugesagt hatte, die bis dahin üblichen Abgaben an das Stift „so viel ime […] möglich“ zu zahlen. 261 Darüber hinaus war Amsdorf Mitglied des Kapitels, womit seine Wahl den grundsätzlichen Anspruch des Stifts auf die Pfarrstellenbesetzung und den Einfluss auf die Stadtkirche auch für die Zukunft bekräftigt hätte. Ziel des Kapitels war also offensichtlich nicht, einen altgläubigen Pfarrer zu wäh‑ len, sondern vielmehr, zumindest einen Teil der finanziellen Ansprüche und das Recht der Pfarrerwahl als solches für die Zukunft zu bewahren. Mit der schnellen Wahl eines evangelisch gesinnten Kandidaten, dessen Akzeptanz durch Luther und den reformatorisch gesinnten Teil des Stiftskapitels zu er‑ warten war, hätte das Kapitel diese Ziele erreichen können.
257 Das
Kapitel der Stiftskirche an Friedrich den Weisen, 29. September 1523, S. 35–36, hier S. 35. 258 Vgl. ebd. 259 Dieses wurde am 29. September dem Kurfürsten gemeldet: Das Kapitel der Stiftskirche an Friedrich den Weisen, 29. September 1523, S. 35–36, hier S. 35. 260 Amsdorf hatte Luther zur Leipziger Disputation 1519 und zum Wormser Reichstag 1521 begleitet. Vgl. zu seinem Werdegang zuletzt: Dingel (Hg.): Amsdorf. 261 Das Kapitel der Stiftskirche an Friedrich den Weisen, 29. September 1523, S. 35–36, hier S. 35.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Doch der Plan scheiterte, als Amsdorf seine Zusage widerrief, nachdem das Stiftskapitel ihn dem Rat als neuen Pfarrer vorgestellt hatte. 262 Gründe für den Sinneswandel Amsdorfs nannte keiner der Beteiligten, 263 doch ist ein Einfluss Luthers in dieser Sache zumindest möglich. 264 Letzteres ließe die wenig später erfolgende Berufung Bugenhagens durch Luther weniger als impulsive Tat in ei‑ ner Notsituation, sondern vielmehr als strategisch geplanten Schritt erscheinen. Für einen Einfluss Luthers spricht schließlich auch dessen Eingreifen unmit‑ telbar nach der Absage Amsdorfs, denn er setzte dem Kapitel gemeinsam mit dem Rat der Stadt eine knapp bemessene Frist, eine „enge zeit“, innerhalb wel‑ cher der Pfarrer gewählt werden musste. Anderenfalls, so berichtete das Kapi‑ tel, würden sie (Luther und der Rat) selbst einen Kandidaten bestimmen, wel‑ cher dann keine Abgaben mehr zahlen würde. 265 Daraufhin trug das Kapitel die Pfarrstelle zunächst Luther selbst an, der aus Zeitgründen ablehnte, danach dem ehemaligen Augustinerprior Wenzeslaus Linck, der jedoch inzwischen in Altenburg eine finanziell auskömmlichere Predigerstelle hatte. 266 In der Lite‑ ratur wurde dazu die Darstellungsweise des Rates übernommen, welcher dem Kapitel später vorwarf, bewusst unrealistische Personalvorschläge zu machen, um die Sache zu verzögern.267 Eine solche Motivation des Stiftes ist jedoch zu bezweifeln. Vielmehr zeigt die Tatsache, dass man sogar Luther selbst als Pfar‑ rer wählte, wie verzweifelt das Stift versuchte, überhaupt einen Kandidaten in der von Luther vorgegebenen Frist durchzusetzen, um das Recht auf die Beset‑ zung der Pfarrstelle und die damit verbundenen Abgaben zu behalten. Neben 262 Davon berichtete das Stiftskapitel Friedrich dem Weisen am 13. Oktober 1523, in: Pal‑ las (Hg.): Urkunden, S. 45–46, hier S. 45. 263 Auch der Rat schrieb später nur, Amsdorf sei „sonder zweifell hirvon nicht one bewe gende ursachen abgestanden“. Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. No‑ vember 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–86, hier S. 84. 264 Dafür spricht, dass Amsdorf nach der Wahl zum Dechanten des Stifts ebenfalls Luther um Rat fragte, bevor er die Stelle ablehnte. Einen Einfluss Luthers vermuten, ohne Begrün‑ dung, auch Brecht: Luther, Bd. 2, S. 77, sowie Leder: Bugenhagen, S. 197, der annimmt, Luther habe die Befristung der Stelle durch das Stift auf ein Jahr nicht gefallen. 265 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. November 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–86, hier S. 84. Die Rolle des Rates bleibt unklar, auch, da das Original des Schreibens stark beschädigt ist. Die entsprechende Stelle lautet „Doktor [Martinus neben] dem rath uns eine enge zeit, darinner wir [sie mit einem] pfarner vorsehen sollen, haben ange setzt.“ In Klammern Ergänzungen des Bearbeiters. Das Stiftskapitel an Friedrich den Weisen, 13. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 45–46, hier S. 45. 266 Vgl. das Stiftskapitel an den Kurfürsten, 28. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkun‑ den, S. 82 f. Diese Vorgänge fanden jedoch bereits Anfang Oktober statt, denn die Stiftsherren schrieben in dem Bericht vom 13. Oktober, dass sie die Wittenberger „in solcher enger zeit sie mit einem pfarrer, inen gefellig, nit vorsehen kunnen“, vgl. das Stiftskapitel ab Friedrich den Weisen, 13. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 45 f., hier S. 46. 267 Vgl. der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. November 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–86, hier S. 84. In der Literatur findet sich diese Meinung bei Bornkamm: Martin Luther, S. 121, ebenso bei Leder: Bugenhagen, S. 205, der allerdings die Wahl Amsdorfs ausdrücklich davon ausnimmt.
3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24)
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dem langfristigen Wunsch, das Inkorporationsverhältnis zu erhalten, konnte sich das Stift in der damals ohnehin angespannten finanziellen Lage den Ver‑ lust einer seiner Haupteinkommensquellen schlicht nicht leisten, denn eben dies hatten der Rat und Luther angedroht, falls innerhalb der Frist kein Kandidat ge‑ funden würde: „das [sie ihres] gefallens einen setzen und ordenen und die [pensi]on, so den prebenden in d.kf. g. gestift zugelegt, dovon [thun] wollen, dem einkommen der eldesten prebenden [zum] merklichen abbruch und nachteil.“ 268
Die nun folgenden Ereignisse zeigen, dass Luther spätestens jetzt bewusst auf die Herauslösung der Pfarre aus dem Inkorporationsverhältnis mit dem Stift hinarbeitete. 269 Ziel war offensichtlich nicht nur die Besetzung der Pfarrstelle mit einem evangelisch gesinnten Kandidaten, denn dazu war das Stiftskapitel bereit, es hatte dem Rat sogar freigestellt, einen Kandidaten nach eigener Wahl vorzuschlagen, den das Stift ernennen wollte. 270 Tatsächlich wählte der Rat bald darauf Johann Bugenhagen als Wittenberger Pfarrer, der zunächst zögerte, die Wahl anzunehmen. Doch noch bevor das Stift informiert werden konnte oder Bugenhagen selbst sich entschieden hatte, verkündete Luther diesen „dem volk“ als neuen Pfarrer. 271 Für Luther war diese Proklamation nicht wenig riskant, denn er überging damit gleichzeitig das Stift, den Landesherrn und auch den Rat der Stadt und setzte sich über die bestehenden Rechte und Traditionen der Pfarrerwahl hinweg. Es war also keineswegs eindeutig, dass Bugenhagen nach der Wahl durch den Rat und der Proklamation durch Luther tatsächlich von den Wittenbergern als Pfarrer anerkannt wurde. Eine erfolglose Proklamation hätte öffentlich gezeigt, dass Luther nicht die Autorität besaß, die er sich an‑ maßte. Doch die folgenden Reaktionen aller Beteiligten zeigen, dass Bugenha‑ gen nach der Proklamation durch Luther, wenn auch widerwillig, als Pfarrer akzeptiert wurde. Offensichtlich war Luthers Autorität bei den Wittenbergern so groß, dass auch die Stiftsherren und selbst der Kurfürst meinten, sich dieser hier fügen zu müssen.
268 Das Stiftskapitel Friedrich dem Weisen am 13. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Ur‑ kunden, S. 45–46, hier S. 45. 269 Ähnlich konstatiert auch Krarup: Ordination, S. 69, Luther habe dem Stiftskapitel „zielgerichtet das Berufungsrecht entwendet“. 270 „haben als dan wir dem rath alhie freuntlicher meinung (wie wol nit schuldig), anheim gestelt, si sollten uns einen inen gefellig angeben, sollten wir den, so tuglich, do zu ernennen und vorordenen.“ Das Stiftskapitel Friedrich dem Weisen am 13. Oktober 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 45–46, hier S. 45. Klammern im Original. 271 So das Stiftskapitel am 28. Oktober 1523 an den Kurfürsten, vgl. Pallas (Hg.): Ur‑ kunden, S. 82–83. In welchem Rahmen die Verkündigung an das Volk stattfand, ist nicht be‑ kannt. Mitschriften der Predigten Luthers der vorherigen Sonntage 18. Oktober und 25. Ok‑ tober sind überliefert, vgl. WA 12, S. 668. Dort finden sich jedoch keine Hinweise auf die Verkündung Luthers.
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Die Rolle des Rates bei dieser Aktion lässt sich nicht endgültig klären, ge‑ genüber dem Kurfürsten betonten die Ratsherren fast überdeutlich, dass sie von Luthers Proklamation überrascht worden seien. 272 Auch Bugenhagen selbst war offensichtlich von Luther nicht eingeweiht und zögerte weiterhin, das Amt an‑ zunehmen. 273 Möglicherweise hatte der Rat also tatsächlich zunächst geplant, Bugenhagen den Stiftsherren als Kandidaten vorzuschlagen, wie diese kurz zu‑ vor angeboten hatten. Damit wäre seine Berufung zum Pfarrer auf dem ordent‑ lichen Verfahrensweg erfolgt. Die Wahl des Pfarrers als solche bestritt der Rat jedoch nicht, sondern begründete sie gegenüber dem Kurfürsten, wie in solchen Fällen häufig, mit der Gefahr von Aufruhr. Die Formulierung in der Rechtfer‑ tigung gegenüber dem Kurfürsten, man habe Bugenhagen „nach der evangeli schen lere Sancti Pauli“ gewählt, legt jedoch nahe, dass der Rat von Luther be‑ einflusst war. 274 Dies musste jedoch keine direkte Zusammenarbeit bedeuten, denn im Mai 1523 war Luthers Schrift „Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu beru fen, ein- und abzusetzen“ im Druck erschienen, worin sich dieses Argument ebenfalls findet. 275 Mit seiner eigenmächtigen Proklamation Bugenhagens hatte Luther sein Ziel erreicht und die Wahl des Wittenberger Pfarrers ohne Mitwirkung des Stif‑ tes stattfinden lassen. Wie die folgende Entwicklung zeigt, war es ihm mit die‑ sem Schritt praktisch gelungen, das Inkorporationsverhältnis der Pfarrkirche in das Stift aufzulösen und die Verantwortung für die Pfarrstelle auf den Rat zu übertragen. Denn auch wenn die Inkorporationsurkunde von 1400 formal weiter Bestand hatte, wurden die damit verbundenen Rechte und Pflichten von Seiten der Stadt praktisch nunmehr als gegenstandslos betrachtet: So erklärte der Rat gegenüber dem Kurfürsten schlicht, es sei dem Pfarrer nicht möglich, weiterhin Abgaben an das Stift zu leisten.276 Damit zeigte der Rat seinen An‑ spruch auf die weitere Verwaltung der Pfarrstelle, indem er nicht nur die Wahl des Pfarrers, sondern auch die Verhandlung über dessen finanzielle Verpflich‑ tungen übernahm. Die von Anfang an geäußerte Befürchtung der Stiftsherren, dass ein nicht durch das Kapitel gewählter Kandidat sich auch nicht auf die Zah‑ lung der Abgaben verpflichten ließ, hatte sich erfüllt.
272 Vgl.
der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. November 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–86, hier S. 84. 273 Vgl. ebd., S. 85. 274 Ebd., S. 84. 275 Martin Luther: „Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein‑ und abzusetzen“, in: WA 11, S. 408–416. 276 Vgl. der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. November 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–86, hier S. 84.
3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24)
305
Das Stiftskapitel berief sich zwar weiter auf sein Patronatsrecht und bat noch im April des folgenden Jahres den Kurfürsten, er möge dafür sorgen, dass der Pfarrer die entsprechenden Abgaben zahlte.277 Doch auch die Stiftsherren selbst hatten die Pfarre offensichtlich schon im Frühjahr 1524 aufgegeben und versuchten nur noch, den eigenen Schaden zu begrenzen, indem sie ihre Aus‑ gaben für das neu gebaute Pfarrhaus zurückforderten.278 Der Kurfürst griff die Frage des Inkorporationsverhältnisses nicht mehr auf. Wie schon oft in ähn‑ lichen Fällen verschleppte er die Sache: Erst Ende Mai erhielten die Stiftsher‑ ren eine kurze Notiz, in der sie wegen anderer Geschäfte auf eine spätere Ant‑ wort vertröstet wurden, die jedoch offensichtlich nie geschrieben w urde. 279 Auf diese Weise vermied er die Anerkennung der neuen Rechtsverhältnisse und eine Auseinandersetzung mit der Stadt in einem aussichtslosen Fall. Die Stiftsherren selbst waren zudem seit dem Frühjahr 1524 mit erneuten Predig‑ ten und Reformforderungen Luthers beschäftigt und verfolgten dadurch die Sache nicht weiter. Auf diese Weise wurde durch die Einsetzung Bugenhagens im September 1523 ein neuer Modus der Pfarrerwahl eingeführt, damit gleichzeitig die Wit‑ tenberger Pfarrkirche aus dem Einflussbereich des Stiftes herausgelöst und das Kräfteverhältnis in geistlichen Dingen in der Stadt nachhaltig verändert. Was Luther in Predigten und Briefen bereits mehrfach beschworen hatte, wurde nun auch institutionell umgesetzt: Die Pfarrkirche, und nicht mehr das Stift, wurde nun „aller Heiligen Haus“, also das kirchliche Zentrum der Stadt. Sie war zu ei‑ ner vom Stift unabhängigen Gemeindekirche geworden, in der Luther als Predi‑ ger und Bugenhagen als Gemeindepfarrer wirkten und im evangelischen Sinne predigten. Bugenhagen wurde also nicht, wie später dargestellt, durch eine Wahl des Rates zum Pfarrer, sondern mit der Proklamation durch Luther von der Kan‑ zel. 280 Entscheidend ist jedoch, dass alle Beteiligten und auch der Rat der Stadt selbst in der Verkündung von der Kanzel den konstitutiven Akt sahen, mit dem Bugenhagen zum Pfarrer wurde, denn er schrieb an den Kurfürsten, Luther habe Bugenhagen „auf der canzel als erwelten, zu solchem ampt tuchtig, promo viert und in craft des heiligen evangelion confirmirt und bestetigt.“281 Die Häu‑ 277 Vgl. Justus Jonas und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 25. April 1524, in: allas (Hg.): Urkunden, S. 86–93, hier S. 90. Erneut zeigt hier die Tatsache, dass der Re‑ P formbefürworter Jonas sich für die Abgaben der Pfarre einsetzte, dass das Stiftskapitel trotz gravierender Meinungsverschiedenheiten bis zuletzt funktionierend zusammenarbeitete. 278 „Wo wir der gestalt von der pfarre solten gedrungen werden, were man uns, dem capi tel, schuldig, zu erstatten, das neu aufgebauet pfarhauße“, ebd. 279 Vgl. Friedrich der Weise an das Stiftskapitel, 28. Mai 1524, in: Pallas (Hg.): Urkun‑ den, S. 95. 280 So auch Krarup: Ordination, S. 70. 281 Der Rat der Stadt Wittenberg an Friedrich den Weisen, 2. November 1523, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 84–86, hier S. 85.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
fung der Verben, die für Einsetzungsakte stehen, zeigt das Bemühen des Rates, dem rechts- und traditionswidrigen, aber dennoch erfolgreichen Akt der Beru‑ fung des Pfarrers einen offiziellen Charakter zu verleihen. Auch wenn dies aus der Feder des Rates sicherlich auch dazu diente, die Verantwortung auf Luther zu schieben, so ist dennoch davon auszugehen, dass diese Sichtweise sich in Wit‑ tenberg durchsetzte, denn die Einsetzung Bugenhagens wurde in der Stadt von keiner Seite angezweifelt. 3.1.3. Die Proklamation wird zur Wahl – nachträgliche Umdeutung und Traditionsstiftung Die Einsetzung Bugenhagens als Wittenberger Pfarrer wurde schließlich nachträglich umgedeutet und zum Präzedenzfall für einen neuen Modus der evangelischen Pfarrerwahl in Wittenberg und darüber hinaus gemacht. Wäh‑ rend nicht die Wahl durch den Rat, sondern vielmehr die Proklamation Luthers von der Kanzel entscheidend dafür war, dass Bugenhagen zum Wittenberger Pfarrer geworden war, rückten spätere Berichte die Wahl durch Rat und Ge‑ meinde in den Mittelpunkt und erklärten sie zum Vorbild evangelischer Pfar‑ rerwahlen. Die „Wahl“ Bugenhagens zum Wittenberger Pfarrer ist damit in die Kette von Ereignissen der frühen Wittenberger Reformation einzureihen, welche sie zum Gründungsmythos des Protestantismus machten. So beginnt der gemeinsame Visitationsbericht der ersten beiden Visitationen von 1528 und 1533 mit dem Satz: „In dieser stat ist nicht mehr, dan ein pfar, von anfang der universitet aus dem stift aller hei ligen mit einem pfarrer bestallt gewest. Die erwelunge aber soll hinfur stehen, wie sie mit Ern Johan Bugenhagen angefangen, samptlich bei der universitet und dem rat, nemlich von wegen der universitet rector, seniores und reformatores und von wegen des rats und der ge mein zehen person.“ 282
Die Visitatoren, darunter Luther und Justus Jonas, mussten den tatsächlichen Hergang der Berufung Bugenhagens von 1523 kennen, bei der kein offizielles Gremium aus Rat, Universität und Gemeinde gebildet worden war, sondern vielmehr die Proklamation durch Luther von der Kanzel ausschlaggebend ge‑ wesen war. Doch entschieden sie sich bewusst dafür, die offizielle Regelung, die 1533 getroffen wurde, in eine (unzutreffende) Tradition zu stellen und dadurch gleichzeitig die Wahl Bugenhagens nachträglich als durch ein ordentliches Ver‑ fahren legitimiert darzustellen. Die Anfangsjahre der Reformation in Witten‑ berg waren demnach schon 1533 zu einem Gründungsmythos geworden, denn
282 „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die ver ordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band II. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32, hier S. 1.
3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24)
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sie konnten schon zu diesem Zeitpunkt als legitimitätsstiftend für eine neu ge‑ schaffene Regelung gelten. Bemerkenswert ist, dass die Visitationsordnung nicht nur von einer Wahl durch den Rat sprach, sondern recht detailliert ein Gremium von Wahlberech‑ tigten festlegte, das aus Vertretern von Rat, Universität und Gemeinde bestand. Diese Zusammensetzung der Wahlberechtigten wurde jedoch 1533 nicht neu erfunden, sondern beruhte auf dem Prozess der Neuverteilung von Macht in geistlichen Dingen in Wittenberg. So hatte die hier genannte Konstellation von Entscheidungsträgern in den vergangenen Jahren durchaus schon Vorbilder, wenn auch noch nicht 1523 in der Pfarrerwahl Bugenhagens, so doch in den Er‑ eignissen ab 1524. Eine direkte Verbindungslinie von der noch völlig ungeordneten Berufung Bugenhagens und der formellen Festlegung des Wahlmodus in der Visitation 1533 verläuft über die Ordination Georg Rörers, welche 1525 in Wittenberg stattfand und die erste Ordination eines evangelischen Pfarrers darstellte, der zuvor noch nicht Priester war. 283 Der neue Ritus ersetzte damit die Priester‑ weihe und war vor dem Hintergrund des Priestertums aller Gläubigen ein ent‑ scheidender Schritt der Etablierung neuer Ceremonien. Auch wenn es sich dem‑ nach nicht um eine eigentliche Pfarrerwahl handelte, bildete die Ordination Rö‑ rers dennoch einen Zwischenschritt zur Regelung der Pfarrerwahlen von 1533, denn hier wurde der Kreis der Akteure festgelegt, welche später an der Pfar‑ rerwahl teilnahmen und auch in weiteren Fällen Verantwortung in geistlichen Dingen übernahmen. Über den Ablauf und die Liturgie der ersten Ordination ist nur das bekannt, was Rörer als Randbemerkung zu der Predigt des entsprechenden Tages no‑ tierte. Über der Predigtnachschrift des Nachmittagsgottesdienstes des 14. Mai 1525 heißt es: „Dominca Cantate quae erat 14. Maii quo ordinatus sum in diaconum Ecclesiae Witte[n bergensis] praesente tota ecclesia Wittenbergensi imponentibus mihi manum Luthero, Po merano, Phi[lipo] Consu[‑le/‑ibus], Iudi[cie] Anno 25“. 284
283 Vgl.
Krarup: Ordination, S. 92–95; Otto Mittermeier: Evangelische Ordination im 16. Jahrhundert. Eine liturgiehistorische und liturgietheologische Untersuchung zu Ordi‑ nation und kirchlichem Amt, St. Ottilien 1994, S. 37. 284 WA 16, S. 226. Die Abkürzung „Consu“ lässt nicht erkennen, ob es sich hier um einen oder mehrere der drei Wittenberger Bürgermeister handelte. Ebenso könnte „Consul“ bzw. „Consulibus“ auch einen oder mehrere einfache Ratsherrn bezeichnen. Da wenig später (vgl. unten, S. 315) eine ähnliche Gruppe von Vertretern aus Universität, Hof und Stadt mit zwei Bürgermeistern auftrat, erscheint es plausibel, dass hier ebenfalls zwei Bürgermeister betei‑ ligt waren.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Die Ordination Rörers zum Pfarrer wurde der Gemeinde am vorherigen Sonn‑ tag angekündigt, was dieser in einer Randnotiz zur Predigt des 7. Mai notierte: „Hoc die vocatus ad presbyteratum per Doctorem erat 7 Maij Anno 25“.285
Die neue, reformatorische Ordination bestand demnach im Handauflegen vor der ganzen Gemeinde, wahrscheinlich im sonntäglichen Hauptgottesdienst. Die Geste des Handauflegens war in der Diskussion unter den Wittenberger Reformatoren zuvor umstritten. Noch am 23. April hatte Bugenhagen sich in einer Predigt öffentlich gegen diese Praxis ausgesprochen, da er befürchtete, dass sie in „schwärmerischer“ Weise missverstanden werden könnte, also an Praktiken „radikaler“ Reformatoren wie Thomas Müntzer erinnerte. 286 Auch hier war das Moment der Abgrenzung also ein wichtiges Argument für die Ge‑ staltung der neuen Ceremonien. Bugenhagen setzte sich mit dieser Meinung je‑ doch offensichtlich nicht durch, vermutlich verlor die Kontroverse angesichts des nahen Bauernkrieges auch an Bedeutung. 287 Entscheidend war nun vielmehr die Demonstration der Einigkeit der Wittenberger Reformatoren und ihrer Zu‑ sammenarbeit mit der lokalen und territorialen Obrigkeit. Nur einen Tag nach der Ordination Rörers wurde der Bauernaufstand in Frankenhausen niedergeschlagen. Luther selbst hatte in seiner Vermahnung an die Memminger Bauern die Zustimmung der weltlichen Obrigkeit zur Bedin‑ gung einer jeden Berufung erklärt. 288 Am 16. April war er nach Eisleben gereist und unterbrach seine Geschäfte dort, um in den umliegenden Orten die Men‑ schen predigend zu beruhigen, wobei seine Predigten mehrfach gestört wur‑ den. 289 Vermutlich hatte Luther sich nach seiner Rückkehr am 6. Mai dafür ent‑ schieden, das Thema der Ordination, das in Wittenberg zuvor schon diskutiert worden war, erneut aufzugreifen. Die Schaffung eines eigenen Einsetzungsri‑ tus’ zur Abgrenzung gegenüber radikalen Formen der Reformation erschien nun bedeutsamer denn je. In Hinblick auf die Neuverteilung geistlicher Herrschaft innerhalb der Stadt Wittenberg ist besonders Rörers Aufzählung der an dem Ritus Betei ligten interessant. 290 Rörer nannte an der oben zitierten Stelle Luther, Bugen‑ 285 WA 17 I, S. 193. Der Begriff „vocatus“ bezeichnet wahrscheinlich die Ankündigung der Ordination am nächsten Sonntag und keinen davon getrennten Berufungsritus, denn wie Krarup: Ordination, S. 93, zeigt, fasste Luther in dieser Zeit die Ordination selbst als Beru‑ fung auf, so dass hier keine zwei getrennten Ereignisse gemeint sein können. 286 Vgl. Krarup: Ordination, S. 91. 287 Krarup vermutet, dass Bugenhagen von Luther überzeugt wurde, da er sich schließlich am Ritus beteiligte, vgl. Krarup: Ordination, S. 96. 288 Vgl. ebd., S. 97. 289 Vgl. WA 17 I, S. XXXI f. 290 Auf die Tatsache, dass Rörer von einer Gruppe von Menschen und nicht von Luther allein ordiniert wurde, machte erst Krarup aufmerksam, während es in der älteren Forschung einfach heißt, Luther habe Rörer ordiniert, vgl. Krarup: Ordination, S. 94.
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hagen, Melanchthon, einen (oder mehrere) Bürgermeister und den Stadtrich‑ ter, welche Rörer die Hand auflegten und ihn damit in sein Amt einsetzten. 291 Mit dem Bürgermeister und Richter waren zwei hochrangige Vertreter des Rates an dem Ritus beteiligt, wobei aufgrund der abgekürzten Endung nicht eindeutig festzustellen ist, ob es sich um einen oder mehrere Bürgermeister handelte. Bugenhagen nahm als Stadtpfarrer teil. Da Melanchthon im Jahr 1523/24 Rektor der Universität war, war er wohl in dieser Funktion an dem Ritual beteiligt. Luther schließlich, der sowohl Professor an der Universität wie auch Prediger an der Wittenberger Pfarrkirche war, ist nicht eindeutig zuzuordnen. Mit Universität, Rat und Pfarrer waren somit alle diejenigen städtischen Institutionen an dem Ordinationsritus beteiligt, die nach dem Willen Luthers nunmehr Verantwortung in kirchlichen Dingen übernehmen sollten. 292 Etwa zwei Jahre später fasste erneut Rörer selbst das Ereignis in dem Ver‑ zeichnis seiner Predigtmitschriften folgendermaßen zusammen: „Eadem do mi[nica] q[uae] erat 14 maij anno 25 ego nunc minister verbi G.R. primus ordi natus sum hoc tempore.“ 293 Ihm erschien die eigene Ordination rückblickend demnach vor allem deshalb bedeutsam, weil es sich um die erste Ordination in „hoc tempore“, also im Zeitalter der Reformation, handelte. Die Regelung der Pfarrerwahl in der Visitation von 1533 stand also nicht, wie sie selbst vorgab, in der Tradition der Pfarrerwahl Bugenhagens, doch lassen sich mit Blick auf die beteiligten städtischen Akteure gewisse Kontinuitäten zur Ordination Rörers erkennen. Auch hier waren es Vertreter des Rates und der Universität, welche die Ordination öffentlich in der Kirche vollzogen und da‑ mit zugleich auch ihren eigenen neuen Anspruch auf Mitwirkung bei Entschei‑ dungen in geistlichen Dingen demonstrierten. Für die Entwicklung der Refor‑ mation im Herbst 1523 lässt sich mit der Einsetzung Bugenhagens zum Pfarrer zweierlei konstatieren: Erstens gab es ein verschärftes Vorgehen von Reforma‑ toren und Stadt gegen das Allerheiligenstift, dem das Berufungsrecht und die inkorporierte Pfarrkirche hier faktisch entwendet wurden. Zweitens verweist gerade die nachträgliche Umdeutung zur Wahl auf das Bemühen Luthers, die städtischen Akteure in den Prozess der Reformation einzubinden und die Au‑ torität in geistlichen Dingen nicht auf seine Person zu konzentrieren, sondern 291
Vgl. oben, S. 307. Krarup: Ordination, S. 95 geht davon aus, dass der 1533 festgehaltene Wahlmodus 1525 erstmals ausgeführt wurde. Ob Rörer zuvor von einem ähnlich besetzten Wahlausschuss gewählt worden war, wie es die Visitationsinstruktion vorsah, ist jedoch aus den Quellen nicht ersichtlich. Da Rörer im Gegensatz zu Bugenhagen nicht als Gemeindepfarrer, sondern nur als eine Art Hilfsgeistlicher, als „Diakon“, eingesetzt wurde, verzichtete man möglicher‑ weise auf eine Wahl, was auch erklären würde, warum man sich 1533 auf die Wahl Bugenha‑ gens beziehen musste. 293 WA 17 I, S. XVII. 292
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
durch die Beteiligung der städtischen Obrigkeit und der Universität langfristig zu legitimieren und in dauerhafte Strukturen zu lenken.
3.2. Die Bannandrohung der Wittenberger über das Stift und die Einheit der städtischen Ceremonien Schon bald nach der erfolgreichen Einsetzung Bugenhagens als Wittenber‑ ger Pfarrer setzten die Reformatoren ihr verschärftes Vorgehen gegen das Stift fort, wobei nun gezielt die Mitwirkung der städtischen Akteure gesucht wurde. Im Frühjahr 1524 war die Situation für neue Reformforderungen durch meh‑ rere Faktoren günstiger. Durch personelle Veränderungen im Stiftskapitel hatte sich hier das Blatt zugunsten der Reformbefürworter gewendet, die nun in der Mehrheit waren. 294 Zudem erschwerten praktische und finanzielle Probleme den Ablauf der nun veränderten Ceremonien am Stift zunehmend. All diese Faktoren schwächten die Partei der Reformgegner und erleichterten zweifel‑ los die Durchsetzung neuer Reformen am Allerheiligenstift im Jahr 1524. In der Forschung, welche diese Jahre der Wittenberger Reformationsgeschichte bis‑ lang nur beiläufig im Rahmen von Gesamtdarstellungen behandelte, wurden diese Punkte jeweils als Begründung für den Niedergang des Stiftes herangezo‑ gen. 295 Allerdings war mit dem Dekanat die für die Ceremonien zentrale Stelle weiterhin in der Hand des entschiedenen Reformgegners Matthäus Beskau und die verbliebenen drei reformgegnerischen Stiftsherren leisteten mit der Unter‑ stützung des Kurfürsten weiterhin Widerstand gegen die Reformen. Wie die folgenden Ereignisse zeigen, sind jedoch auch die weitergehenden Reformen des Jahres 1524 nicht allein aus dem Stift selbst heraus, sondern nur im Zusammenhang der Entwicklung in der gesamten Stadt zu verstehen. Um diese Umstände näher zu beleuchten, sind im Folgenden zunächst Reaktionen der Stadtbevölkerung auf die Liturgiereformen und anschließend der Prozess der Durchsetzung der Reformen selbst zu untersuchen. 3.2.1. Reaktionen der Bürger und Einwohner auf die ersten Reformen Mit der Formula Missae war Ende 1523, knapp zwei Jahre nach den Invokavit‑ predigten, in der Pfarrkirche das Abendmahl unter beiderlei Gestalt eingeführt worden – nach erläuternden Predigten und mit gebührendem zeitlichem Ab‑ stand zur Schonung der Schwachen, was eine Distanzierung von den Reformen im Winter 1521 markierte. Durch diesen Schritt war die zwischenzeitlich ge‑ trennte Abendmahlsgemeinschaft der Wittenberger wiederhergestellt und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zum gemeinsamen Merkmal der evangeli‑ 294 295
Vgl. oben, S. 290–293. Vgl. etwa Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 132.
3. Städtische Reformation und Neuverteilung geistlicher Macht (1523–24)
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schen Wittenberger geworden. Diese Einheit der Wittenberger Gemeinde hatte Luther in dem Druck der Formula Missae und in weiteren Predigten nach der Einführung dieser neuen Gottesdienstordnung vielfach betont und dabei be‑ sonders auf die Ablehnung des Allerheiligenstiftes durch die Wittenberger Be‑ völkerung verwiesen. 296 Doch zeigen die Probleme in der Praxis im Jahr 1524, dass diese Einheit zunächst eher ein gewünschter und propagierter Zustand war und die Wittenberger keineswegs die geschlossene Gemeinschaft der Evangeli‑ schen bildeten, die Luther wünschte und darstellte. Tatsächlich hatten sich jedoch auch einige Wittenberger dem Stift zugewandt, um dort weiterhin das Abendmahl unter einer Gestalt zu erhalten. Aus Verwir‑ rung über die liturgischen Reformen in der Pfarrkirche oder Ablehnung dersel‑ ben wollten sie dort der Messe beiwohnen und die Sakramente empfangen. Die sonntägliche Messe im Stift, welche die Reformatoren bislang im Gegensatz zu den Privatmessen befürwortet hatten, führte weiterhin zu einer Trennung der städtischen Abendmahlsgemeinschaft und bildete nun eine ernsthafte Konkur‑ renz. Erstmals vermahnte Luther die Stiftsherren, das Abendmahl nicht mehr „sub una“ zu reichen, als er am Ostersonntag, dem 27. März 1524, wie an Ostern üblich, in der Pfarrkirche über das Sakrament predigte.297 Im Laufe des Jahres 1524 wurde deutlich, dass es auf Dauer nicht zu verhindern war, dass weiterhin einige Wittenberger das Abendmahl in der alten Form im Stift nehmen wollten und dort das Sakrament auch erhielten. Über einen dieser Fälle erfahren wir Genaueres: Am 1. November 1524, also am Allerheiligentag, ließ eine schwangere Fischerin einen Boten in die Stifts kirche schicken, mit der Bitte, man möge ihr das Sakrament reichen lassen.298 Ihre Begründung lautete „sie kunne nit in die pfarrkirchen gehen, auch das den tag kein messe darinne wehre und das sie ire andacht hieher hette“.299 Wie aus dem folgenden Briefwechsel mit Luther weiterhin zu erfahren ist, reichte ihr darauf hin der Dekan des Stiftes, Matthäus Beskau, das Sakrament unter einer
296 Im Frühjahr 1522 hatte die Rücknahme der Reformen durch Luther zu einer vorläufi‑ gen Abtrennung derjenigen, welche das Abendmahl sub utraque außerhalb des Gottesdiens‑ tes nehmen durften, vom Rest der Gemeinde geführt. 297 WA 15, S. 516–519, hier 517: „Quaere qui non intelligit hoc, ne accipiat et unam, si ver bum contemnit, contemnemus et eos. Administrant canonici quibusdam sub una specia, nos non patiemur, ibi est mater ecclesia, cui audire debetis. Iam rogabimus eos, ut desistant, si non, imperabimus eis.“ 298 Das Allerheiligenfest war in Wittenberg traditionell das Fest der Stiftskirche, da an diesem Tag, an dem bis ins Jahr 1523 das Heiltum gewiesen wurde, dort ein besonderer Ab‑ lass zu erlangen war. Die Praxis, schwangeren Frauen vor der Geburt die Beichte abzuneh‑ men und das Abendmahl zu reichen, war nicht ungewöhnlich und erklärt sich aus der hohen Gefahr, bei der Geburt zu sterben. 299 So zumindest wurde die Frau in der Darstellung der reformgegnerischen Stiftsherrn gegenüber dem Kurfürsten zitiert: Matthäus Beskau, Georg Elner und Johannes Volmar an Kurfürst Friedrich, 18. November 1524, S. 95–97.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Gestalt.300 Diese Begründung der Fischerin lässt darauf schließen, dass in ihren Augen die Pfarrkirche durch die Abschaffung der täglichen Messen der Kirche als Sakralraum Abbruch getan hatte und sie deshalb die Schlosskirche für ge‑ eigneter hielt, um dort das Sakrament zu empfangen. Auch wenn die Worte der Fischerin hier nur aus der Feder der Stiftsherren überliefert und daher mit der gebotenen Vorsicht zu behandeln sind, gibt dieser einzige bekannte Fall doch einen Einblick in mögliche Motivationen der Wittenberger, die sich weiterhin dem Stift zuwendeten und verweist damit auch hier auf die vielfältigen Wahr‑ nehmungsmöglichkeiten der veränderten Liturgie. Denn die genannte Begrün‑ dung der Fischerin bezog sich hier nicht auf das Abendmahl unter beiderlei Ge‑ stalt, was ja zu diesem Zeitpunkt im Mittelpunkt der theologischen Diskussion stand, sondern auf die fehlenden täglichen Messen. Ebenso wie die Fischerin hatten sich seit den Reformen in der Pfarrkirche viele Wittenberger dem Stift zugewandt, was Luther schon seit Anfang des Jah‑ res zu unterbinden versuchte.301 Offensichtlich hatte Luther von Beskau auch die Zusage erhalten, dass man den Menschen am Stift nicht mehr die Sakra‑ mente spenden werde, wogegen er in dem Fall der Fischerin jedoch verstieß.302 Dieser Fall ließ den Streit mit dem Allerheiligenstift im November 1524 eska‑ lieren. Luther warf den Stiftsherren daraufhin die Trennung der Gemeinde in „Rotten und Sekten“ vor, drohte erneut mit dem Bann und setzte ein Ultima‑ tum von wenigen Tagen.303 Die Stiftherren reagierten zunächst, indem sie den Propst Justus Jonas zu Luther schickten, der als persönlicher Freund Luthers eine Entschuldigung Beskaus für diesen Vorfall vortragen sollte. 304 Luther wollte jedoch, so heißt es zumindest in dem Bericht der Stiftsherren, die Ent‑ schuldigung nicht annehmen, sondern forderte, alle Messen im Stift abzuschaf‑ fen. Andernfalls wollte er die beiden Wittenberger Bürgermeister305 zum Stift
300 Vgl. Luther an das Allerheiligenstift zu Wittenberg, 17. November 1524, in: WA Br. 3, S. 375–377. 301 Vgl. die bereits zitierte Predigt am Ostersonntag 1524, in: WA 15, S. 516–519, hier S. 517. 302 Darauf berief er sich gegenüber den Stiftsherrn, vgl. Luther an das Stiftskapitel, 17. No‑ vember 1524, in: WA Br. 3, S. 375–377. 303 Vgl. ebd. 304 Dieses berichteten die Stiftsherren Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 18. November 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 95–97. Auch hier zeigt sich wieder, dass die Fronten im Stift zwischen Reformgegnern und Reformbefür‑ wortern nicht so klar verliefen, sondern dass das Kapitel trotz dieser Meinungsverschieden‑ heiten bis zum Ende des Stifts zusammenarbeitete. 305 Warum hier von zwei Bürgermeistern die Rede ist, lässt sich nicht erklären. Niko‑ laus Müller geht in seinen Erläuterungen davon aus, dass hier der Bürgermeister des laufen‑ den Jahres und der des folgenden Jahres gemeint sind, vgl. Pallas (Hg.): Urkunden, S. 97, Anm. 1. Doch war in den Jahren 1524 und 1525 derselbe Mann Bürgermeister, nämlich An‑ ton Niemeck. Vermutlich war also der Vorsitzende von einem der beiden nicht‑regierenden Räte beteiligt.
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schicken, um die Stiftsherren zu ermahnen.306 Wie schon vor den ersten Refor‑ men des Stiftes 1523 drohte Luther hier erneut mit dem Bann, um seine Reform‑ forderungen durchzusetzen. Die Stiftsherren baten den Kurfürsten um Schutz, andernfalls müssten sie sich den Forderungen Luthers beugen.307 Sie berichteten auch von neuen An‑ griffen der Stadtbevölkerung gegen das Stift: In den Wirtshäusern der Stadt sei mehrfach die Rede von einem geplanten Sturm auf das Stift gewesen: „als sie sich ethlich mahl in den bierzechen sollen haben horen lassen, sie wollten uns eins mahls doheim suchen“.308 Im Gegensatz zum Herbst 1521, als die Stiftsherren erstmals um Schutz gebeten hatten, handelte es sich hier nicht nur um eine leere Drohung, denn später wurden dem Dechanten Beskau tatsächlich nachts die Fenster eingeworfen.309 Auch berichteten die Stiftsherren hier, „etliche“ seien vor kurzem in drei aufeinander folgenden Nächten um die „coralei“, das Ge‑ bäude, in dem die Chorschüler und Sänger wohnten, geschlichen, hätten Vigi‑ lien und Seelmessen gesungen und die Stiftsherren „uffs ergste verflucht“.310 Er‑ neut wurde hier, wie schon bei den studentischen Aktionen nach der Verbren‑ nung der Bannandrohungsbulle 1520, der Störung der Christmette 1521 und der Parodie auf die Messe Beskaus Weihnachten 1522, ein Ritual zum Spottri‑ tual gemacht.311 Im Gegensatz zu den meisten früheren Aktionen der Studen‑ ten und Bürger handelte es sich hier tatsächlich um einen Akt der Desakralisie‑ rung; durch das parodierende spöttische Singen wurden die liturgischen Ge‑ sänge ihrer sakralen Funktion beraubt, in einem profanen Kontext gestellt und damit entzaubert.312 Die gezielte Aktion gegen die Chorsänger und die Seelmes‑ sen zeigt darüber hinaus, dass die Kritik der Predigten Luthers und Bugenha‑ gens zumindest von Teilen der Gemeinde in allen Einzelheiten rezipiert wurde: Während 1521 und 1522 allgemeine Verletzungen des Sakralraumes der Kirche stattfanden und gegen die Privatmessen agitiert wurde, so waren die Aktionen im Herbst 1524 spezifischer. Diese richtete sich gezielt erstens gegen die von Luther besonders kritisierten Vigilien und Seelenmessen und zweitens gegen den Dekan Beskau als den Hauptverantwortlichen der Ceremonien. Sie kön‑ 306 Vgl. Matthäus Beskau, Georg Elner und Johannes Volmar an Friedrich den Weisen, 18. November 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 95–97. 307 Vgl. ebd., S. 96. 308 Ebd., S. 96. 309 Vgl. Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 8. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 106 f., hier S. 107. Vgl. zu diesem Vorfall ausführlicher unten, S. 316. 310 Matthäus Beskau, Georg Elner und Johannes Volmar an Friedrich den Weisen, 18. No‑ vember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 95–97. 311 Vgl. oben, S. 321. 312 Solche Verkehrungs‑ und Schandrituale hatten die Wittenberger bereits im Zusam‑ menhang mit der Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungsbulle gebraucht, vgl. oben, S. 132–136 und die dort angegebene Literatur.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
nen damit als eine direkte Folge der Predigten Luthers und Bugenhagens in der Pfarrkirche gegen das Stift gesehen werden. Vermutlich waren die Täter über den Stand der Reformen am Stift dennoch schlecht informiert, denn gerade die hier parodierten Vigilien und Seelmessen waren bereits Anfang des Jahres ab‑ geschafft worden.313 Insgesamt waren die Reaktionen der Wittenberger Bevölkerung auf die Re‑ formen in der Pfarrkirche und die Kritik der Prediger an der altgläubigen Praxis am Stift sehr vielfältig. Einerseits zeigt der Fall der schwangeren Fischerin und der anderen Menschen, die sich wie diese dem Stift zuwendeten, dass die Wit‑ tenberger die Reformen in der Pfarrkirche nicht so geschlossen unterstützten, wie die Predigten und Briefe Luthers das vermuten ließen. Andererseits wird mit den stärker werdenden Angriffen von Bürgern und Studenten auf das Stift deutlich, dass es dennoch in der Stadt auch einige Unterstützung für die Posi‑ tion der Reformatoren gab. Damit zeigen diese Aktionen auch, dass die Tren‑ nung der Stadtgemeinschaft aufgrund einer uneinheitlichen Form der Messe, des Abendmahls und der Ceremonien, die Luther dem Stift schon in der For‑ mula Missae vorgeworfen hatte, an dieser Stelle keine leere Drohung war, son‑ dern in Wittenberg bereits begonnen hatte. 3.2.2. Die Szene der Bannandrohung und die städtischen Akteure Doch obwohl die Bitte der Stiftsherren um Schutz diesmal offensichtlich be‑ rechtigt war, verfuhr der Kurfürst schließlich in derselben Weise wie bei der Bannandrohung Luthers im Vorjahr und beauftragte wiederum seine Räte, diesmal Benedikt Pauli und Hieronymus Schurf, Luther zu ermahnen.314 Das damals von Reißenbusch eingeführte Argument, Luther möge „das wort Gots in dem fal, wie er dan selbs predigen und leren tut, wirken lassen“, war zum Hauptargument des Hofes gegen das Vorgehen Luthers geworden.315 Trotz der Ermahnung durch die kurfürstlichen Räte predigte Luther am 27. November, dem 1. Advent 1524, wie angedroht erneut öffentlich in der Pfarr‑ kirche gegen das Stift.316 Dabei rief er den Wittenberger Rat auf, die Stiftsherren zu ermahnen und drohte sogar, andernfalls die Stadt zu verlassen.317 Nachdem vom Hof keine Unterstützung für Reformen zu erwarten war, wendete Luther sich nun an die städtische Obrigkeit. Dieser Schritt war gerade im Zusammen‑ 313
Vgl. oben, S. 289. Friedrichs des Weisen an Hieronymus Schurf und Benediktus Pauli, 24. November 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 100–101. 315 So der Kurfürst an Matthäus Beskau, Georg Elner und Johannes Volmar an Friedrich den Weisen, 18. November 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 95–97, hier S. 98. 316 Vgl. WA 15, S. 760–774. Erstdruck unter dem Titel „Ain Sermon von der hoechsten gottßlesterung, die die Papisten täglich brauchen, so sy leesen den Antichristlichen Canon in yren Messen. Gepredigt von Do. Mar. Luth. Am ersten Sontag im Aduent zu Wittemberg.“ 317 Ebd., S. 774. 314 Instruktion
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hang mit der Forderung nach einer Einheit der Stadtgemeinschaft als Abend‑ mahlsgemeinschaft durchaus nicht inkonsequent: Von Anfang an hatte Luther gepredigt, die gotteslästerlichen Ceremonien des Stifts gefährdeten das Heil der ganzen Stadt. Auch die Praxis des Abendmahls sub una, die bis Ende 1523 noch in der Stadt üblich war, wurde damit zum devianten Verhalten erklärt, zu einer Form der Sektenbildung, welche die Stadtgemeinschaft spaltete und zu Auf‑ ruhr führte.318 Beides, der Erhalt der städtischen Gemeinschaft und die Verhin‑ derung von Aufruhr, fiel in den Kompetenzbereich des Rates. Mit diesen nun‑ mehr von Luther selbst vorgetragenen Argumenten hatte sich der Wittenberger Rat bereits Anfang 1522 in die Reformdiskussion eingemischt und dabei vor al‑ lem versucht, eine möglichst einheitliche Form der kirchlichen Ceremonien zu wahren.319 Luthers Appell an die städtische Obrigkeit war offensichtlich erfolgreich, denn kurz nach seiner Predigt vom 1. Advent spielte sich, dem Bericht der Stifts‑ herren nach, die folgende bemerkenswerte Szene ab: Eine städtische Abordnung von zwei Bürgermeistern, dem Rektor der Universität, dem Pfarrer der Witten‑ berger Pfarrkirche Johannes Bugenhagen und zehn Ratsherren bewegte sich in Richtung des Allerheiligenstifts.320 Dort angekommen, ermahnte der Pfarrer die Stiftsherren, keine Messen mehr zu feiern, da diese wider das Evangelium seien. Zudem verkündete er, die Einwohner Wittenbergs sollten fortan keine Gemeinschaft mehr mit den Mitgliedern des Stiftes haben, ihnen nichts verkau‑ fen oder sie beschützen.321 Der Kurfürst reagierte zunächst alarmiert über diese konkrete Androhung des Bannes, die er als massive Kompetenzüberschreitung der Stadt und Über‑ griff in seinen eigenen Herrschaftsbereich ansah.322 Besonders wichtig erschien ihm der genaue Verlauf der dargestellten Szene: Wer genau hatte den Text verle‑ sen, in dem es hieß, dass die Stiftsherren gebannt werden sollten? Geschah dies auf Befehl des Wittenberger Rates oder handelte der Pfarrer in eigener Verant‑ wortung? Und welche Rolle spielten bei alldem die Universität und die zehn an‑ wesenden Ratsherren?323 Die Antwort der Stiftsherren liefert weitere interes‑ 318 Vgl. Predigt zum ersten Advent (27. November 1524), in: WA 15, S. 759–774, hier S. 772–774. 319 Vgl. oben Kap. II.2., S. 186–200. 320 Davon berichteten die Stiftsherren Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar, also die bereits bekannten Reformgegner an Friedrich den Weisen, 2. Dezember 1524, in: Pal‑ las (Hg.): Urkunden, S. 101–105, hier S. 103. Auch hier ist unklar, wie diese Anzahl an Rats‑ mitgliedern und Bürgermeistern zustande kam, denn der regierende Rat hatte jeweils nur einen Bürgermeister und nur acht Ratsherren. Vermutlich waren also einige Mitglieder des Gesamtrates und einer der Bürgermeister der anderen beiden Räte mitgekommen. 321 Vgl. ebd., S. 103. 322 Vgl. Friedrich der Weise an Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar, 5. De‑ zember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 105. 323 Vgl. ebd.
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sante Details der dargestellten Szene: Als man sich niedergesetzt hatte, so die Stiftsherren, forderte der Bürgermeister Anton Niemeck den Pfarrer auf, das vorzutragen, was ihm befohlen worden war. Er selbst könne nicht reden, denn er sei heiser. Der Pfarrer sprach die Ermahnung an die Stiftsherren ausdrücklich im Namen der „drei rethe“, also des Wittenberger Gesamtrates, aus.324 Mehrere Einzelheiten dieser symbolisch vielschichtigen Szene der Verkün‑ digung der Bannandrohung erscheinen für die Frage nach der Neuverteilung der Kompetenzen im „evangelischen“ Wittenberg bedeutsam, wobei eine Tren‑ nung von symbolischen und instrumentellen Aspekten hilfreich ist: Die instru‑ mentelle Seite bestand zunächst in der offiziellen „Ermahnung“ der Stiftsherren und Androhung des Bannes für den Fall, dass die Stiftsherren den Reformfor‑ derungen nicht nachkamen. Von den Akteuren selbst wurde dabei offensicht‑ lich die Verlesung des Dokumentes als der entscheidende performative Akt an‑ gesehen, mit dem die Bannandrohung als ausgesprochen galt. Dies zeigt sowohl die Nachfrage des Kurfürsten, wer diese Handlung denn nun tatsächlich voll‑ zogen hatte, wie auch die Weigerung des Bürgermeisters, das Dokument selbst zu verlesen. Mit der Verlesung des Dokumentes durch Bugenhagen war also die Androhung des Bannes offiziell im Namen der ganzen Stadt und der Kirche ausgesprochen.325 Doch erschöpfte sich die Funktion der beschriebenen Szene nicht in diesen instrumentellen Aspekt, denn die Stiftsherren hätten auch, wie schon in den vo‑ rigen Jahren, durch einen Brief darüber informiert werden können, dass ihnen der Bann angedroht wurde. Die Tatsache, dass die Bannandrohung dennoch in der dargestellten aufwändigen Art und Weise persönlich verhängt wurde, ver‑ weist auf ihre symbolischen Aspekte. So war dieser Akt der Bannandrohung zugleich ein wichtiger Schritt in der Neuverteilung geistlicher Macht im refor‑ matorischen Wittenberg. Mit der Beteiligung der Bürgermeister, der Ratsherren und des Rektors (vermutlich Melanchthon) wurde zunächst das Einvernehmen der verschiedenen Rechtsbereiche in dieser Sache dargestellt, aber auch deren grundsätzlicher Anspruch, in geistlichen Dingen Einfluss zu nehmen mani festiert. Nicht zufällig handelte es sich dabei um denselben Kreis von Personen bzw. Institutionen, der im folgenden Jahr an der Ordination Rörers beteiligt war und dessen Mitwirkung an der Pfarrerwahl Bugenhagens zumindest rück‑ wirkend suggeriert wurde. Mit der Anwesenheit Bugenhagens wurde zudem die neue Zugehörigkeit der Pfarrkirche zur Stadt demonstriert, die man mit der faktischen Lösung des Inkorporationsverhältnisses gerade erst erreicht hatte. 324 Vgl. Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 8. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 106–107. 325 Obwohl die Formulierung der Stiftsherren nahe legt, dass Bugenhagen hier den Bann bereits verhängte, wird durch den Kontext deutlich, dass es sich bloß um eine Androhung des Bannes, eine „Vermahnung“ handelte, die den Bann für den Fall androhte, dass die Stiftsher‑ ren den Forderungen der Stadt nicht nachkamen.
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Dabei verdient die Rolle Bugenhagens als Stadtpfarrer bei diesem Gesche‑ hen besondere Beachtung. Der Bürgermeister übergab diesem die Sprecherrolle mit dem etwas merkwürdig erscheinenden Hinweis, er sei heiser. Zwar ist denk‑ bar, dass tatsächlich eine angeschlagene Stimme den Bürgermeister am Sprechen hinderte, doch selbst dann ist bezeichnend, dass das Verlesen der Bannandro hung nicht an den zweiten anwesenden Bürgermeister oder einen der Ratsher‑ ren übergeben wurde, sondern an den Pfarrer. Der Rat wollte vermutlich gegen‑ über dem Kurfürsten nicht offen die Verantwortung für diese Handlung tra‑ gen. Indem Bugenhagen das Verlesen der Bannandrohung übernahm, wurde damit aber gleichzeitig auch die Rolle des Stadtpfarrers neu definiert: Bugenha‑ gen unterstand nun nicht mehr, wie seine Vorgänger, dem Patronat des Stifts, sondern trat als Pfarrer der Stadt auf, der auf Geheiß des Bürgermeisters han‑ delte und sich in diesem Fall sogar gegen das Stift wendete. Nicht zuletzt diente diese Bannandrohung also der Einführung Bugenhagens in seine neue geistliche Führungsrolle in der Stadt. So ist es auch sicher kein Zufall, dass nicht Luther selbst das Verlesen der Bannandrohung übernahm, obwohl dieser hier eindeu‑ tig als die treibende Kraft zu sehen ist. Denn ganz in dessen Sinne verdeut‑ lichte die Szene so schließlich die geplante neue Verteilung geistlicher Kompe‑ tenzen in der Stadt: Da mit der Unterstützung des Kurfürsten bei den aus seiner Sicht nunmehr dringend notwendigen Reformen der Ceremonien am Stift im Moment nicht zu rechnen war, sollten wichtige Entscheidungen in geistlichen Dingen nun unter Einbeziehung der städtischen Obrigkeit und der Universität durch den Pfarrer der Stadt geschehen. Diese Neuverteilung geistlicher Macht wird erneut im weiteren Verlauf des Geschehens deutlich: Nach der Verlesung der Bannandrohung durch Bugenha‑ gen erbat der Dekan des Stifts erstens eine Bedenkzeit von acht Tagen und zwei‑ tens eine genaue Aufstellung der geforderten Reformen.326 Wem wurde nun die Kompetenz zugebilligt, im Namen der ganzen Stadt festzulegen, auf welche Weise die Ceremonien im Allerheiligenstift dem Evangelium gemäß gehalten werden sollten? Die Stiftsherren hatten sich mit ihrer Frage zunächst an Luther gewandt, von dem die Forderung nach Reformen ja ursprünglich stammte. Luther hatte jedoch andere Pläne und verwies die Stiftsherren „zu dem pfar rer und rath“.327 Luther wollte die Zuständigkeit der Neuordnung der Cere‑ monien demnach zumindest formal nicht bei sich selbst, sondern bei Bugen‑ hagen als Wittenberger Stadtpfarrer und dem Wittenberger Rat als der weltli‑ chen Stadtobrigkeit sehen. Damit bekräftigte er noch einmal die Neuordnung der Machtverhältnisse in geistlichen Dingen, die schon in dem Akt der Bann androhung performativ dargestellt worden war. Dieser symbolische Aspekt 326 Vgl. Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar, also die bereits bekannten Re‑ formgegner an Friedrich den Weisen, 2. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 101– 105, hier S. 103. 327 Ebd.
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setzte sich auch in den Schriften zur Reform der Ceremonien selbst fort, welche Bugenhagen und der Wittenberger Rat dem Stift daraufhin jeweils zusendeten. 3.2.3. Die Autorität von Stadtpfarrer und Rat über die Ceremonien Die Originale dieser Schriften sind verloren, doch ist ihre Zuordnung nach den Angaben in den verschiedenen Editionen möglich. Die Stiftsherren hatten beide Schriften an den Kurfürsten weitergeleitet, aus dessen Antwortschreiben zu‑ nächst hervorgeht, dass tatsächlich zwei Schriftstücke den Hof erreichten, denn dieser bestätigte hier, er habe „zwaien zugeschikten verzaichnus, eins deutsch, das ander lateinisch bekommen.“ 328 Als das deutsche „Verzeichnus“ konnte eine Abschrift in der Zwickauer Ratsschulbibliothek identifiziert werden, die im 19. Jahrhundert aufgefunden und ediert wurde.329 Es handelt sich hier um die Stellungnahme des Rates, welche in der Zwickauer Handschrift den Titel „Handlung der christlichen gemeyne zu Wittemberg mit den Schloßpriestern do selbist der Messen halben“ trägt.330 Es ist dieselbe Schrift, die in der Luthe‑ rausgabe Walchs unter folgendem Titel erscheint: „Der Wittenbergischen Uni versität, Raths und Gemeine Suchung bei dem Stift zu Wittenberg, die gottlo sen Ceremonien alle abzuthun“.331 Inhaltlich ist sie wenig bemerkenswert, denn sie benennt keine konkreten oder neuen Reformforderungen, sondern wieder‑ holt nur sehr allgemein die theologische Kritik am Messkanon, der die Messe als Opfer erscheinen ließ.332
328 Friedrich der Weise an Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar, 5. Dezem‑ ber 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 105. 329 Georg Buchwald: Zu dem Streite Luthers mit den Wittenberger Stiftsherren 1523– 1524, in: Theologische Studien und Kritiken 56 (1884), S. 562–577. 330 Ebd., S. 563. Dass das Schriftstück tatsächlich in diesen Zusammenhang gehört, zeigt ebenfalls das oben genannte Schreiben der Stiftsherren an den Kurfürsten, in dem diese auf den dritten Artikel der „deutschen Copien“ verweisen, worin Rat, Universität und Gemeinde als Urheber benannt werden. Die Stiftsherren Beskau, Elner und Volmar an den Kurfürsten, 5. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 105. Vgl. auch den Kommentar Nikolaus Müllers in: Ebd., S. 101, Anm. 2. 331 „Der Wittenbergischen Universität, Raths und Gemeine Suchung bei dem Stift zu Wittenberg, die gottlosen Ceremonien alle abzuthun“, gedruckt in: Walch (Hg.): Luthers Schriften, Bd. XIV, Sp. 1193–1197. Diese Ausgabe wird hier verwendet. Walch druckt die Schrift nach frühen Lutherausgaben ab, das Original scheint verloren. Julius Köstlin hat da‑ rauf hingewiesen, dass auf der Abschrift die bei Walch wiedergegebene Adresse, „An die wür digen Herrn des Kapitels zu Hofe allhier, als nämlich domdechant Johann Staffelstein, Johann Volmar etc. auf Anregen der ganzen Gemeine, samt dem Pfarrherr, Lektoribus, Rektor der Universität, samt den dreien Räthen zu Wittenberg“ fehlt. Köstlin schließt daraus, dass die Zwickauer Abschrift eine ältere Version wiedergibt, das Schreiben also vom Rat zusammen‑ gestellt, anschließend dann der Universität zur Zustimmung vorgelegt wurde und dabei den Nachsatz erhielt, vgl. Zusatz von Julius Köstlin zu Buchwald: Zu dem Streite Luthers mit den Wittenberger Stiftsherren, S. 575. 332 „Der Wittenbergischen Universität, Raths und Gemeine Suchung bei dem Stift zu Wit
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Ganz offensichtlich diente diese Stellungnahme des Rates also nicht dazu, den Stiftsherren konkrete Maßgaben für ihre Reformen darzulegen. Auch ihre Funktion war primär die Darstellung und Verfestigung der neuen Führungs‑ rolle des Gremiums aus Rat, Gemeinde, Stadtpfarrer und Universität in geistli‑ chen Dingen. Zur Legitimierung der eigenen Position verwies der Rat dazu auf die Mitwirkung der Gelehrten der Universität, der Gemeinde und auf die Pre‑ digten in der Pfarrkirche.333 Die Rolle der Universität als Ort der Wahrheit und Ratgeber der weltlichen Obrigkeiten, die sich in den vorangegangenen Jahr‑ zehnten etabliert hatte, sollte also auch weiterhin bestehen bleiben. Auf einen formellen Senatsbeschluss der Universität hatte man hingegen verzichtet, ver‑ mutlich, weil ein solcher nicht durchsetzbar erschien.334 Damit wurde das Pro‑ blem der Uneinigkeit der Professoren untereinander, welches den Reformpro‑ zess 1522 stark behindert hatte, nun durch die Ausgrenzung der Reformgegner umgangen, was inzwischen möglich war, da diese nur noch eine Minderheit bil‑ deten. Doch nicht nur die theologischen Passagen dieser Schrift lassen eine starke Beteiligung der Universitätstheologen vermuten. Auch die Rechtfertigung der neuen Rolle des Rates geschah mit denselben Argumenten, die Luther seit 1523 in Predigten und Briefen immer wieder gegen das Stift vorgebracht hatte: Die Stadtgemeinschaft durfte keine öffentliche Gotteslästerung dulden, da sonst die Strafe Gottes für die ganze Gemeinde zu befürchten wäre. 335 Neu und spezi‑ fisch für die Situation 1524 war hingegen wiederum das Bestreben, dem Rat eine besondere Rolle als Bewahrer der christlichen Gemeinschaft zuzuschreiben, der im Auftrag von Gemeinde und Universität handelte. So heißt es im drit‑ ten Artikel des Schreibens „Derhalben ist ein ehrsamer Rath, von wegen ganzer Gemein und der Universität bewegt, die Herren des Stifts zuerst christlich und brüderlich zu ermahnen […]“.336 Hatte Luther zuvor in ähnlicher Weise an den christlichen Fürsten appelliert, so wurde diese Rolle wegen dessen Reformun‑ willigkeit nun vorerst ganz auf den Rat übertragen. Den Beteiligten war wohl bewusst, dass sie dabei in offenem Widerstand zu ihrem Stadtherrn handelten. tenberg, die gottlosen Ceremonien alle abzuthun“, gedruckt in: Walch (Hg.): Luthers Schrif‑ ten, Bd. XIV, Sp. 1193–1197. 333 So beginnt das Dokument schon mit dem Satz: „Nachdem es wissentlich ist und un leugbar, wie aus der nächsten Predigt gehört, und ein jeglicher selbst lesen und vernehmen kann […]“, ebd., Sp. 1192. 334 Beskau, Elner und Volmar, die als Mitglieder des Stiftskapitels ebenfalls Senatsmit‑ glieder waren, distanzierten sich von dem Schreiben: Sie und auch andere Senatsmitglieder wüssten von einem solchen Senatsbeschluss nichts, vgl. die Stiftsherren Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 2. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): S. 101–105, hier S. 104. 335 „auf daß nicht durch längere Geduld dieses sündlichen und öffentlichen Greuels die ganze Gemeine, so solche Lästerer bei und unter sich leidet, sammt ihnen vor Gott ins schwere Gericht falle“, ebd., Sp. 1193. 336 Ebd.
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
Nur sehr oberflächlich versuchte man dies mit dem Hinweis, es sei bekannt, „daß derselbe gottselige löbliche churfürst niemand heißt noch treibt, Unrecht zu thun“, zu verschleiern. Gleichzeitig wurde Ungehorsam gegenüber dem Fürs‑ ten sogar gefordert, da „in göttlichen Sachen, der Seelen Heil betreffend, nicht allererst auf Fürsten oder Menschen zu warten ist, ja, die Sache der Herren des Stifts nur ärger wird“.337 Solche Aufrufe zu Ungehorsam gegen dem Kurfürsten zusammen mit dem offenen Übergriff in seinen Herrschaftsbereich durch die Bannandrohung hatte es von Seiten des Wittenberger Rates bislang noch nicht gegeben. Damit entsprach der Inhalt dieses Schreibens dem, was zuvor schon in dem Akt der Bannandrohung und auch schon in der Pfarrerwahl dargestellt worden war: Der Rat als städtische Obrigkeit sollte unter Umgehung des Kur‑ fürsten in Zusammenarbeit mit der Universität nun für das Wohl der Stadt in geistlichen Dingen und damit hier konkret auch für die Veränderung der Cere‑ monien zuständig sein. Die herausgehobene Stellung, die der Stadtpfarrer in dieser neuen Konstel‑ lation einnehmen sollte, wird schon damit verdeutlicht, dass dieser ebenfalls ein Gutachten zu erstellen hatte.338 Im Mittelpunkt seiner theologischen Aus‑ führungen stand das Verständnis des Abendmahls von den Einsetzungswor‑ ten her, was den Schwerpunkten der damaligen Diskussion an der Universität entsprach. Ebenso wie im Gutachten des Rates finden sich auch hier Parallelen zu Luthers Vorrede zu der Schrift „Vom Greul der Stillmessen“.339 Wie Luther forderte hier auch Bugenhagen die Abschaffung aller Messen, selbst des sonn‑ täglichen Hochamtes, welches Luther und Justus Jonas im Vorjahr noch hatten bestehen lassen wollen. Bugenhagen argumentierte nun, man dürfte nicht eine einzige Messe beibehalten, auch nicht an den Sonntagen, denn sonst würden die 337
Ebd., Sp. 1194. Bugenhagen an die Universität Wittenberg, in: Vogt (Hg.): Bugenhagen. Brief‑ wechsel, S. 10–14. Im Gegensatz zu dem des Rates ist dieses Schreiben Bugenhagens, also die vom Kurfürsten erwähnte „lateinische Kopie“, weniger eindeutig zuzuordnen. Dieses Schriftstück wurde in den Editionen des 19. Jahrhunderts zunächst den Auseinandersetzun‑ gen im August 1523 zugeordnet, vgl. Vogt (Hg.): Bugenhagen. Briefwechsel, S. 10. Ebenso Buchwald: Zu dem Streite Luthers mit den Wittenberger Stiftsherren 1523, S. 563. Zu den Auseinandersetzungen im Sommer 1523, in die Vogt und Buchwald dieses Schreiben einord‑ nen vgl. oben, S. 276. Es sprechen jedoch verschiedene inhaltliche Gesichtspunkte für die Ein‑ ordnung in den hier gegebenen Zusammenhang. So bezeichnet sich Bugenhagen hier bereits selbst als Pastor, was er im Sommer 1523 noch nicht war. Die Forderung in dem Schreiben Bugenhagens nach der generellen Abschaffung aller Messen am Stift, findet sich im Som‑ mer 1523 im Universitätsdiskurs noch nicht, vgl. dazu ausführlich Wolfgang Schulz: Das Abendmahlssakrament in Aussagen Johannes Bugenhagens 1521 bis Sommer 1525, Greifs‑ wald 1987, S. 78–81. Nicht zuletzt erwähnt Bugenhagen in diesem Schreiben, dass die Kano‑ niker ihn um Beratung gebeten hätten, vgl. Bugenhagen an die Universität Wittenberg, in: Vogt (Hg.): Bugenhagen. Briefwechsel, S. 10–14, hier S. 12. 339 Martin Luther: „Vom Grewel der Stillmesse, so man den Canon nennet (1525)“, in: WA 18, S. 25–37; vgl. auch Schulz: Abendmahlssakrament, S. 80. 338 Vgl.
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Stiftsherren später alles widerrufen.340 Damit hatte Bugenhagen nun in seiner neu definierten Rolle des Wittenberger Gemeindepfarrers die Reformforderun‑ gen der Stadt an das Stift formuliert: Die Messen waren insgesamt abzuschaffen. Die Stiftsherren hatten bereits kurz nach der Bannandrohung geschrieben, dass sie ohne den Schutz des Kurfürsten ihre statutengemäßen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen könnten.341 Ihre Entscheidung, sich den Forderungen zu beugen, wurde wohl auch dadurch beschleunigt, dass dem Dekan in der Nacht, bevor die erbetene Bedenkzeit ablief, die Fenster eingeworfen wurden.342 Fried‑ rich der Weise versprach zwar, deshalb an den Wittenberger Rat zu schreiben. Von den Räten Pauli und Schurf, die Luther wegen seiner öffentlichen Drohun‑ gen ermahnen sollten, hatte er noch immer nichts gehört.343 Vermutlich hat‑ ten diese den Fall bewusst oder unbewusst verschleppt. Erst nach mehrfachen Nachfragen des Kurfürsten reagierten sie und entschuldigten sich, das erste Schreiben sei wohl verloren gegangen. Schurf versprach, soweit es ihm möglich sei, Aufruhr in Wittenberg zu verhindern. 344 Der zu diesem Zeitpunkt schon kranke Kurfürst griff nicht mehr ein, es scheint, als hätte er sich mit den Gege‑ benheiten abgefunden.345 Herzog Johann schrieb ihm kurz darauf, dass „Doc tor Martinus e.l. zu entkeigen handelt, hore ich gantz unghern“.346 Dass seine Duldung der Umstände hingegen aus einer aktiven Hinwendung zur Reforma‑ tion geschah, wie es in der älteren Literatur gelegentlich angenommen wird, ist nicht zu belegen und erscheint auch angesichts der Vorgeschichte sehr unwahr‑ scheinlich.347 Am 2. Dezember 1524 konnte Luther schließlich seinem Freund Nikolaus von Amsdorf melden, die Stiftsherren hätten eingelenkt, dass die Messen am Stift abzuschaffen wären.348
340 Vgl.
Bugenhagen an die Universität Wittenberg, in: Vogt (Hg.): Bugenhagen. Brief‑ wechsel, S. 10–14, hier S. 11. 341 Vgl. Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 2. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 101–105, hier S. 104. 342 Vgl. Matthäus Beskau, Georg Elner und Johann Volmar an Friedrich den Weisen, 8. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 106 f., hier S. 107. 343 Vgl. Friedrich der Weise an Matthäus Beskau, Georg Staffelstein und Johann Volmar, 9. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 107 f. 344 Vgl. Hieronymus Schurf an Friedrich den Weisen, 10. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 108 f. 345 So auch Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 456, Kirn: Friedrich der Weisen, S. 173. 346 Herzog Johann von Sachsen an Friedrich den Weisen, 1. Januar 1525, gedruckt bei Kolde: Friedrich der Weise und die Anfänge der Reformation. Eine kirchenkritische Skizze mit archivalischen Beilagen, Erlangen 1881, S. 58, auch zitiert bei Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 456, Kirn: Friedrich der Weisen, S. 173. 347 Für diese Haltung steht besonders Paul Kalkoff: Friedrich der Weise und Luther, in: Historische Zeitschrift 132 (1925), S. 29–42. 348 „Canonicos nostros perpulimus tandem, ut consentiant missas esse abrogandas“, vgl. Luther an Nikolaus von Amsdorf, in: WA Br. 3, S. 396–397. Amsdorf war seit September 1524 in Magdeburg Pfarrer.
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3.3. Bedingungsfaktoren einer städtischen Reformation 1524 – ein Zwischenfazit Zwischen Oktober 1523 und Dezember 1524 hatten sich die Machtverhältnisse in geistlichen Dingen innerhalb Wittenbergs deutlich verändert: Mit der Pro‑ klamation Bugenhagens als neuen Wittenberger Pfarrer 1523 hatte das Stifts‑ kapitel langfristig nicht nur das Recht der Pfarrerwahl verloren, sondern prak‑ tisch auch die gesamte Pfarrkirche, die bis dahin in das Stift inkorporiert gewe‑ sen war. Indem die Einsetzung Bugenhagens als Pfarrer schließlich nachträglich zu einer Wahl durch Rat, Gemeinde und Universität umgedeutet wurde, schuf man eine Tradition, deren Wurzeln bereits in der neuen Verteilung geistlicher Macht 1524 lagen. Hatte Luther die ersten Reformen an Pfarrkirche und Stift im Jahr 1523 noch allein durchgesetzt und dabei vor allem die Zusammenarbeit des Hofes gesucht, so wurden nun ab 1524 wichtige Entscheidungen in geistli‑ chen Dingen demonstrativ von einer Abordnung von städtischen Akteuren ge‑ troffen, nämlich von Rat, Gemeinde, Universität und Stadtpfarrer. Deren neue Autorität in geistlichen Dingen wurde erstmals bei der Bannandrohung selbst demonstriert, ebenso in den kurz darauf an das Stift gerichteten Schriften mit den Reformforderungen, für deren Erstellung Luther ausdrücklich Pfarrer und Rat als zuständig erklärte. Eben dieser Kreis von Akteuren nahm 1525 schließ‑ lich auch die im engeren Sinne geistliche Aufgabe der Ordination Rörers in der Pfarrkirche vor und wurde schließlich 1533 für die Pfarrerwahl als zuständig erklärt. Auch die Wittenberger Reformation war kurzfristig eine städtische Re‑ formation geworden, was jedoch entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung nicht 1521/22 stattgefunden hatte, sondern 1524. Während der Kurfürst 1522 stets seinen Herrschaftsanspruch durchsetzte und keine Entscheidung in geist‑ lichen Dingen ohne die Beteiligung des Hofes erreicht werden konnte, wurde nun 1524 sowohl durch die Pfarrerwahl wie auch mit dem angedrohten Bann gegen das Stift massiv in den kurfürstlichen Herrschaftsbereich eingegriffen. Wodurch waren diese umfassenden Veränderungen möglich geworden? Ein entscheidender Faktor war offensichtlich zunächst die große Autorität, die Luther in der Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits besaß, denn nur mit dieser konnte Bugenhagens Berufung per Proklamation von der Kanzel erfolgreich verlaufen. Ebenfalls hatte Luther die ersten Reformen 1523, legitimiert allein durch sein Professoren‑ und sein Predigeramt, in der Stadt ohne formale Be‑ schlüsse durchsetzen können, zwar zumeist in Absprache, jedoch keineswegs immer im Einvernehmen mit dem Hof. Insofern ist die Möglichkeit der Verän‑ derungen tatsächlich auf Luthers Handeln in der Stadt zurückzuführen, wel‑ ches dem Typ „charismatischer Herrschaft“ zugeordnet werden kann. Hinzu kommen weitere, strukturelle Faktoren, welche sich aus der spezifi‑ schen Situation in Wittenberg ergeben. Die Strukturen geistlicher Herrschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden im ersten Teil dieser Arbeit herausge‑
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arbeitet: Während zunächst eine Vielzahl geistlicher Autoritäten mit unkla‑ ren Zuständigkeitsbereichen in der Stadt in Konkurrenz zueinander standen, veränderten sich diese Verhältnisse, als Wittenberg zur Residenzstadt wurde. Indem der Kurfürst Wittenberg zu einer politischen „Hauptstadt“ und einem sakralen Zentrum von überregionaler Bedeutung machen wollte, wurde auch das kirchliche Leben in der Stadt immer stärker zu einer Einheit zusammen‑ gefügt und dabei auf das Stift zentriert. Das Stift und die Schlosskirche selbst wurden in diesem Prozess der Zentrierung geistlicher Autorität nach einer lan‑ gen Phase des Desinteresses im 15. Jahrhundert wieder stärker an den Hof und zugleich auch an die neu gegründete Universität gebunden. Während der Bi‑ schof und die auswärtigen Orden in diesen Jahren aus der Stadt gedrängt wur‑ den, etablierten sich Universität und Schlosskirche als Zentren der Wahrheit und des Heils für Stadt und Kurfürstentum. Dieser Prozess der landesherrlichen Zentrierung des Kirchenwesens wurde nun mit der Entmachtung des Stifts zugunsten der Pfarrkirche keineswegs wie‑ der aufgehoben, sondern er bedingte langfristig sogar eine Reihe von Faktoren, welche die Möglichkeiten kirchlicher Reformen stärkten. Zunächst erleichterte die Unklarheit der rechtlichen Situation in vielen Bereichen nach wie vor Verän‑ derungen. Die Wittenberger Bevölkerung hatte geistliche Autorität in den letz‑ ten Jahrzehnten als verhandelbar und veränderbar erlebt und selbst dazu beige‑ tragen, dass der brandenburgische Bischof seinen geistlichen Einfluss schritt‑ weise zugunsten von Stadt, Universität und Kurfürst verlor. Doch auch die starke Stellung des Stifts war noch keineswegs gefestigt und konnte so zumin‑ dest bei Teilen der Stadtbevölkerung durch die Predigten Luthers, Jonas’ und Bugenhagens erfolgreich delegitimiert werden. Doch auch die Zentrierungsprozesse geistlicher Herrschaft auf Stift und Universität selbst hatten die Vorstellungen einer städtischen Einheit des Kir‑ chenwesens befördert, so dass der Rat von Anfang an eine städtische Einheit der Ceremonien gefordert hatte und die Abschaffung der nun als blasphemisch an‑ gesehenen Messen im Stift auch den Bürgern und Einwohnern der Stadt ein An‑ liegen war. Ebenso begünstigte die schon zuvor geschehene Herausdrängung äußerer geistlicher Einflüsse den Reformprozess, denn auf diese Weise war das Stift mit dem Kurfürsten als Stiftsherrn der einzige Reformgegner, den es zu überwinden galt. Zugleich hatte die enge Verbindung von Universität und Stift, die ebenfalls Teil des dargestellten Zentrierungsprozesses war, dazu geführt, dass die Stiftsstellen weitgehend mit Universitätsprofessoren besetzt waren und auf diese Weise Anhänger der neuen Theologie auch in Teilen des Stiftskapitels vertreten waren. Der Prozess der Vereinheitlichung und Zentrierung des Wittenberger Kir‑ chenwesens wurde in den Reformen von 1524 nicht umgekehrt, sondern in ge‑ wisser Weise weitergeführt, wobei jedoch die Pfarrkirche das Stift als Zentrum des Heils ersetzte. Die Universität behielt dabei ihre wichtige Rolle, wie die Be‑
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III. Die städtische Reformation (1523–24)
teiligung des Rektors an der Ordination Rörers, am Akt der Bannandrohung und besonders bei der Erstellung der Reformschriften für das Stift zeigte. An Bedeutung gewann in der neuen Konstellation der Wittenberger Rat, der schon mit dem Ausbau des Stifts gewisse kirchliche Verwaltungsaufgaben an Pfarr‑ und Stiftskirche im Auftrag des Kurfürsten übernommen hatte, nun jedoch durch die faktische Lösung des Inkorporationsverhältnisses der Pfarrkirche vom Stift einen viel stärkeren unmittelbaren Einfluss in geistlichen Fragen er‑ hielt, welcher mit der Beteiligung von Rat und Bürgermeistern bei der Ver‑ mahnung des Stifts öffentlich demonstriert wurde. Mit den Argumentations‑ mustern des zu befürchtenden göttlichen Zornes bei der Duldung öffentlicher Gotteslästerung am Stift und der offenen Ablehnung der fürstlichen Autorität wurde deutlich, dass die Wittenberger Reformation nun, nachdem Luther zwei Jahre lang erfolglos mit Hilfe Spalatins die Zusammenarbeit des Hofes gesucht hatte, zu einer städtischen Reformation geworden war. Entscheidungen in geist‑ lichen Dingen, was in diesem konkreten Fall erneut die Verfügungsgewalt über die kirchlichen Ceremonien bedeutete, wurden nicht mehr, wie es sich Anfang des Jahrhunderts etabliert hatte, auf Befehl des Hofes mit Beratung der Gelehr‑ ten der Universität vom Rat ausgeführt, sondern nunmehr vom Rat eigenstän‑ dig (oder auf Geheiß Luthers), aber weiterhin mit Unterstützung der Universi‑ tät entschieden. Doch neben den genannten begünstigenden Faktoren für Luthers Refor‑ men blieben mit den altgläubigen Mitgliedern des Stiftskapitels und dem Lan‑ desherrn dennoch zwei Hindernisse für eine reformatorische Neuordnung der Liturgie und des Wittenberger Kirchenwesens bestehen. Diese waren zwar auf‑ grund der nunmehr schwachen Stellung des Stiftes im Gesamtgefüge der Stadt und der grundsätzlichen Zurückhaltung des Kurfürsten in geistlichen Fragen nicht stark, doch erscheint es fraglich, wie weit die Toleranz oder Resignation des Kurfürsten in diesen Frage gereicht hätte. Grundsätzliche Reformen, wie die Abschaffung des Allerheiligenstifts als Institution und eine vollständige Neuordnung des Gottesdienstes, waren mit Kurfürst Friedrich dem Weisen kaum denkbar und wurden tatsächlich auch erst nach seinem Tod 1525 möglich.
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IV. Landesherrliche Reformation und Einführung eines neuen Deutungskonzeptes (1525–1533) Das Jahr 1525 bedeutete für die Reformation in Wittenberg in mehrfacher Hin‑ sicht eine entscheidende Wende: In diesem Jahr gelangte die städtische Reforma‑ tion nach der Auflösung des Allerheiligenstift zu einem Durchbruch. Zugleich änderte sich dabei die Machtverteilung in geistlichen Dingen erneut, denn wäh‑ rend die Reformen im Laufe des Jahres 1524 gegen den Willen des Kurfürsten von den städtischen Akteuren getragen worden waren, wurde die Reformation nun erstmals zur Sache des Landesherrn. Damit verschiebt sich der Fokus dieser Untersuchung notwendigerweise zur territorialen Ebene hin. Die landesherrli‑ che Reformation in Kursachsen wurde als einer der ersten Fälle des „landesherr‑ lichen Kirchenregimentes“ bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen dar‑ gestellt.1 Sie wird daher im Folgenden auch nicht in ihrer Gesamtentwicklung untersucht, sondern hauptsächlich in ihrem Bezug auf Wittenberg betrachtet. Für den Übergang von der städtischen zur landesherrlichen Reformation er‑ scheinen zwei Ereignisse des Frühjahres 1525 entscheidend: Erstens verstarb am 5. Mai 1525 Kurfürst Friedrich der Weise, der schon Ende 1524 aufgrund sei‑ ner Krankheit kaum noch seine Herrschaft ausgeübt hatte. Dieses Ereignis be‑ traf den Fortgang der Reformation in Wittenberg maßgeblich, denn im Gegen‑ satz zu Friedrich dem Weisen war dessen Bruder und Nachfolger Johann der Beständige schon seit längerer Zeit ein überzeugter Anhänger der reformato‑ rischen Lehre und zögerte nach Friedrichs Tod nicht lange mit der Umsetzung von Reformen in Kursachsen und besonders auch in der Residenzstadt Wit‑ tenberg. Zweitens hatte der Bauernkrieg gerade Anfang des Jahres 1525 auf die 1 Vgl. Bornkamm: Martin Luther, S. 425–442; Carl August Hugo Burkhardt: Geschichte der sächsischen Kirchen‑ und Schulvisitationen von 1524–1545, Leipzig 1879; Hans Walther Krumwiede: Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments in Kursachsen und in Braunschweig‑Wolfenbüttel, Göttingen 1967; Günther Wartenberg: Luthers Beziehungen zu den sächsischen Fürsten, in: Helmar Junghans (Hg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526–1546, Band 1, Göttingen 1983, S. 549–571, hier: S. 549–554; Karlheinz Blaschke: Wechselwirkungen zwischen der Reformation und dem Aufbau des Territorialstaates, in: Ders: Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Sach‑ sens. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Uwe Schirmer und Andre Thieme, Leipzig 2002, S. 435–452.
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IV. Landesherrliche Reformation
thüringischen Gebiete des Landes übergegriffen und stellte sowohl für die lo‑ kalen und territorialen Obrigkeiten wie auch für die Reformation eine ernst‑ hafte Bedrohung dar. Beide Ereignisse, der Wechsel des Landesherrn und der Bauernkrieg, führ‑ ten damals erneut zu der Frage nach den Zusammenhängen der Veränderung von religiösen Ceremonien mit Aufruhr und politischer Herrschaft. Nicht nur beriefen sich die aufständischen Bauern auf die reformatorische Lehre, auch der Wechsel der Landesherrschaft zu einem reformatorisch gesinnten Fürsten hin stellte die Frage nach der Bedeutung der religiösen Ceremonien für das Selbst‑ verständnis und die Herrschaftsrepräsentation des Fürsten als christlichen Herrscher neu. Für dieses Selbstverständnis des christlichen Fürsten hatte die sakrale Dignität Wittenbergs als Residenzstadt mit den nun abgelehnten alt‑ gläubigen Ceremonien eine entscheidende Rolle gespielt. Im folgenden, letzten Kapitel dieser Arbeit wird daher zunächst der Prozess des Überganges von der städtischen zur landesherrlichen Reformation unter‑ sucht. Im Mittelpunkt stehen dabei die bereits im städtischen Kontext Witten‑ bergs untersuchten Fragen nach den Zusammenhängen von religiösen Ceremo‑ nien, Aufruhr und politischer Herrschaft. Anschließend soll die konkrete Um‑ setzung der landesweiten Veränderungen der Ceremonien mit der Einführung der Deutschen Messe und den ersten Visitationen, in ihren Auswirkungen auf die gottesdienstliche Praxis Wittenbergs untersucht werden. Schließlich ist in einem zweiten Teil danach zu fragen, wie mit den altgläubigen Ceremonien in Wittenberg, die für das Selbstverständnis Friedrichs des Weisen eine entschei‑ dende Rolle gespielt hatten, nach dem Tod des Kurfürsten umgegangen wurde: Zunächst anhand des Begräbnisses Friedrichs des Weisen und schließlich an‑ hand des Umgangs mit dem Heiltum und dem Stift nach dessen Tod wird ge‑ zeigt, wie die Stadt Wittenberg schließlich vom Zentrum des Ablasses zum Zen‑ trum der Reformation umgedeutet wurde.
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1. Die Forderung nach evangelischen Ceremonien für das ganze Land 1.1. Das Jahr 1525 als Zäsur der Wittenberger Reformation? Das Jahr 1525 wurde für die Reformation im Reich vielfach als Epochenjahr bezeichnet. Mit dem Bauernkrieg hatten sich erstmals in einem bislang nicht gekannten Ausmaß soziale und politische Forderungen und schließlich auch gewaltsame Handlungen aus der reformatorischen Predigt ergeben. Damit wurde der Bauernkrieg von ganz unterschiedlichen Forschungsrichtungen als Zäsur betrachtet: Für die theologischen Kirchengeschichte galt der Schock des Bauernkrieges vielfach als entscheidender Faktor zur Erklärung der Verände‑ rung von Luthers Stellung zu abweichenden reformatorischen Gruppen oder zur Rolle der Obrigkeit bei der Umsetzung und Durchsetzung der Reforma‑ tion.2 Auch aus einer sozial‑ oder politikgeschichtlichen Perspektive wurde das Jahr 1525 als entscheidende Wende gesehen, indem man die Niederschlagung des Bauernaufstandes als Beginn einer „Fürstenreformation“ interpretierte. 3 Besonders Peter Blickle entwickelte diese These anhand seiner Untersuchungen der Reformation in oberdeutschen Land‑ und Stadtgemeinden: Während die frühen 1520er Jahre durch eine „Gemeindereformation“ gekennzeichnet seien, in denen eine reformatorischen Bewegung „von unten“ ohne die Mitwirkung der Obrigkeiten agiert hätte, hätten sich nach der Niederschlagung der Bauern‑ aufstände die Fürsten an die Spitze der Bewegung gestellt und diese in eine lan‑ desherrliche und obrigkeitlich gelenkte Reformation kanalisiert.4 Kritik fand die starke Betonung der Wende des Jahres 1525 von mehreren Sei‑ ten: Methodologisch wurde die Setzung starrer Zäsuren und Einteilungen der Reformation in Phasen in Frage gestellt, die zwar als heuristische Instrumente 2 Vgl.
Bornkamm: Martin Luther, S. 314–353; Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 168–167; Spehr: Luther und das Konzil, S. 400. 3 Vgl. zu Kursachen: Eike Wolgast: Formen landesfürstlicher Reformation in Deutsch‑ land. Kursachsen – Württemberg – Brandenburg – Kurpfalz, in: Leif Grane/Kai Horby (Hgg.): Die dänische Reformation vor ihrem internationalen Hintergrund, Göttingen 1990, S. 57–90. 4 Vgl. Blickle: Gemeindereformation, S. 13–16; Peter Blickle: Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 42012.
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IV. Landesherrliche Reformation
dienen könnten, als Beschreibungskategorien jedoch der Vielfalt der Reforma‑ tionen nicht gerecht würden.5 Die Stadtreformationsforschung wandte ein, dass die Entwicklungen in dem von Blickle untersuchten oberdeutschen Raum nicht ohne weiteres auch für norddeutsche Städte gelten können, denn dort wurde ein Fortbestehen der städtischen reformatorischen Bewegung über das gesamte 16. Jahrhundert hinweg konstatiert.6 Auch von theologischer Seite wurde der Begriff der Fürstenreformation kritisiert, da ihm eine zu stark vereinfachende Interpretation der Zwei‑Reiche-Lehre Luthers zugrunde liege.7 Doch trotz die‑ ser vielfältigen Kritik gilt der Bauernkrieg dennoch in fast allen Gesamtdarstel‑ lungen als entscheidende Zäsur, welche die Interpretation sowohl theologischer wie auch politischer und sozialer Entwicklungen weiterhin prägt. Welche Auswirkungen hatte also das Jahr 1525 auf die Wittenberger Refor‑ mation, so dass es gerechtfertigt erscheint, auch für diese städtische Reforma‑ tion eine neue Phase beginnen zu lassen? Schon Stefan Oehmig nahm in sei‑ ner Untersuchung der „Wittenberger Bewegung“ Bezug auf Blickles Modell und wies darauf hin, dass die Wittenberger Stadtreformation nicht erst 1525 zur Fürstenreformation wurde, sondern dass Friedrich der Weise bereits 1521/22 über seine Räte Einfluss auf die Stadtpolitik nahm.8 Dies kann aufgrund der Er‑ gebnisse dieser Arbeit bestätigt und durch die Aussage ergänzt werden, dass die Einflussnahme des Kurfürsten in geistlichen Belangen in Wittenberg vor dem Wormser Edikt, also in dem oben untersuchten Zeitraum zwischen 1500 und 1521, sogar noch stärker ausgeprägt war.9 Für das Territorium wurde seine Poli‑ tik nach 1521 auch als „Aussetzung des landesherrlichen Kirchenregiments“ be‑ zeichnet, welche der Reformation erst den Freiraum gab, sich in Kursachsen zu entfalten.10 Über die Motivation Friedrichs des Weisen zu dieser Politik, insbe‑ sondere über seine persönliche Hinwendung zur reformatorischen Lehre, kann dabei bis heute nur spekuliert werden.11 5 Vgl. Berndt Hamm: Reformation „von unten“ und Reformation „von oben“. Zur Pro‑ blematik reformationshistorischer Klassifizierungen, in: Hans Guggisberg/Gottfried Krodel (Hgg.): Die Reformation in Deutschland und Europa. Interpretationen und Debat‑ ten, Gütersloh 1993, S. 256–293. 6 Vgl. Schilling: Gemeindereformation, S. 325–332. Gegen die Vorstellung, die Refor‑ mation als Volksbewegung sei 1525 durch eine Fürstenreformation beendet gewesen, wendete sich zuerst Franz Lau: Der Bauernkrieg und das angebliche Ende der lutherischen Refor‑ mation als spontaner Volksbewegung, in: Walther Hubatsch (Hg.): Wirkungen der deut‑ schen Reformation bis 1555, Darmstadt 1967, S. 68–100. 7 Vgl. Heiko A. Oberman: Stadtreformation und Fürstenreformation, in: Lewis W. Spitz (Hg.): Humanismus und Reformation als kulturelle Kräfte in der deutschen Ge‑ schichte, Berlin 1981, S. 80–103. 8 Vgl. Oehmig: Wittenberger Bewegung 1521/22, S. 130. 9 Zur Einflussnahme Friedrichs des Weisen im Jahr 1521/22 vgl. oben, S. 200–214. 10 Vgl. Volkmar: Reform statt Reformation, S. 481; Kirn: Friedrich der Weise, S. 150– 164. 11 Sie war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand einer scharfen Kontroverse,
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Für die Entwicklung in Wittenberg bleibt zunächst festzuhalten, dass der Kurfürst weder 1521 noch in den späteren Jahren jemals aktiv reformatorische Veränderungen in der Stadt unterstützte, sondern diese gerade am Allerheili‑ genstift mit einigem Nachdruck zu verhindern versucht hatte. Entsprechend hatten auch die Wittenberger Reformatoren 1524 erkannt, dass ihr Kurfürst re‑ formatorische Neuerungen in der Stadt trotz aller brieflichen Appelle auch wei‑ terhin eher verhindern als unterstützen würde und daher begonnen, die Refor‑ men mit Hilfe der städtischen Autoritäten durchzusetzen. Daher konnten ge‑ rade aufgrund des kurfürstlichen Einflusses wichtige Reformschritte wie die vollständige Auflösung des Allerheiligenstiftes oder die Einführung der Deut‑ schen Messe erst nach dem Tod Friedrichs des Weisen 1525 stattfinden, so dass das Jahr 1525 für Wittenberg einen bedeutenden Einschnitt darstellte. Auch hier wurde die Reformation nun in einem gewissen Sinne zur landesherrlichen Sache. Doch ist der verstärkte Einsatz des Hofes für die Reformation hier, im Gegensatz zu den klassischen von Blickle dargestellten „Fürstenreformatio‑ nen“, nicht primär auf den Bauernkrieg, sondern vielmehr auf den Wechsel des Landesherrn zurückzuführen, denn der ab 1525 regierende Kurfürst Johann der Beständige war zu umfassenden Reformen in der Stadt bereit.
1.2. Der Bauerkrieg als Strafe Gottes Der Gedanke, die Reformation zur Sache des Landesherrn zu machen und eine Einheit der Ceremonien im ganzen Land zu fordern, war beim Regierungsan‑ tritt Herzog Johanns des Beständigen in Kursachsen nicht neu. Bekannt ist, dass Spalatin Friedrich dem Weisen nur wenige Tage vor dessen Tod vorge‑ schlagen hatte, ein Reformationsdekret für das ganze Land zu erlassen, um da‑ mit sein Gewissen zu entlasten.12 Der Kurfürst möge eine „gemeine Schrift“ an Klöster, Stifte und Geistliche im Fürstentum ausgehen lassen, dass diese „Got tes dienst in ihren Kirchen nach dem lautern13 Gotteswort zu richten und nichts anderes von Ceremonien hinfuro zu halten, dan die sich mit dem heil. Evange lio vergleichen“.14 Spalatin deutete hier den „gegenwärtige[n] Aufruhr“ als gött‑ liche Strafe für die mangelnde Predigt des Wortes und die noch immer gedul‑ in der sich besonders Paul Kalkoff und Theodor von Kolde über die Frage auseinander‑ setzten, ob diese Politik des Kurfürsten auf ein persönliches religiöses Bekenntnis zur Re‑ formation schließen lässt. Vgl. dazu zusammenfassend Anni Koch: Die Kontroverse über die Stellung Friedrichs des Weisen zur Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 23 (1926), S. 213–259; wieder aufgenommen wurde die Kontroverse von Ludophy: Friedrich der Weise, S. 481–486. 12 Vgl. Spalatin an Friedrich den Weisen, 1. Mai 1525, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 368, Bl. 12–14, gedruckt in: Kolde: Friedrich der Weise, S. 68–70. 13 Kolde liest „lauten“ (ebd.) 14 Spalatin an Friedrich den Weisen, 1. Mai 1525, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 368, Bl. 12–14, hier Bl. 13.
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deten „abgöttischen und gotteslästerlichen Gottesdienste“, womit er ein Deu‑ tungsmodell Luthers übernahm, mit dem dieser schon den Studentenaufruhr 1520 und die Ereignisse in seiner Abwesenheit auf der Wartburg 1521/22 als das Wirken des Teufels interpretiert hatte.15 Das Eingreifen gegen die „abgöttischen und gotteslästerlichen Gottesdienste“ begriff Spalatin als die Pflicht des Fürsten und anderer Obrigkeiten.16 Obwohl er die aufständischen Bauern nicht wört‑ lich erwähnte, ist der genannte „gegenwärtigen Aufruhr“ auf den Bauernkrieg zu beziehen, der den Hof zu diesem Zeitpunkt stark beschäftigte. Kurfürst Jo‑ hann war schon in die gefährdeten Gebiete gereist und auch Luther hatte eine Reise nach Eisleben abgebrochen, um mit Predigten auf die Aufständischen ein‑ zuwirken.17 Die Deutung des Bauernkrieges als göttliche Strafe für die unzureichende praktische Umsetzung des neu entdeckten Evangeliums wurde auch von Luther in mehreren Predigten der folgenden Zeit angeführt, um die Notwendigkeit ei‑ ner schnellen und landesweiten Reformation zu untermauern. So warnte er in Wittenberg in seiner Leichenpredigt beim Begräbnis Friedrichs des Weisen am 10. Mai eindringlich vor einem kommenden großen Unheil, welches die Strafe Gottes dafür sein werde, dass das Evangelium nur „faul und hynlessig“ auf‑ genommen worden war.18 Nur um des frommen Fürsten Willen sei das Land bislang verschont geblieben. Die Warnung vor der göttlichen Strafe wieder‑ holte Luther ausführlich auch in der Predigt am darauf folgenden Freitag, dem 12. Mai, in der Wittenberger Pfarrkirche.19 An den neuen Kurfürsten gerichtet schrieb Luther im Sommer 1525 die Schrift „Ein Rathschlag, wie in der christ lichen Gemeine eine beständige Ordnung solle vorgenommen werden. Oder: Bedenken, wie jetziger Zeit Aufruhr zu stillen wäre“, welche sich nun expli‑ zit vor dem Hintergrund des Bauernkrieges mit der Frage nach dem Zusam‑ menhang von Ceremonien und Aufruhr auseinandersetzte. 20 Grund des Auf‑ 15 Auf die Parallelität von Luthers Deutungsmodell in den Invokavitpredigten und beim Studentenaufruhr 1520 verwies erstmals Bubenheimer: Luthers Stellung. 16 Dass Spalatin hier nicht auf den Übergangscharakter des landesherrlichen Eingriffs in den geistlichen Bereich verwies, was der späteren reformatorischen Rechtfertigung der ersten Visitationen und des landesherrlichen Kirchenregimentes mit dem Notrecht des Fürsten ent‑ sprochen hätte, ist vermutlich der kurzen und persönlichen Form des Briefes geschuldet. Vgl. Höss: Spalatin, S. 277; Dies: Spalatins Bedeutung für die Reformation und die Organisation der lutherischen Landeskirche, in: Archiv für Reformationsgeschichte 42 (1951), S. 101–135, hier S. 130. 17 Vgl. zuletzt Siegfried Bräuer: Luthers Reise in das Bauernkriegsgebiet, in: Günter Vogler (Hg.): Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart 2008, S. 299–312. 18 „Zwo predigt uber der Leich des Kurfürsten Herzogen Friderichs zu Sachsen anno 1525“, in: WA 17 I, S. 196–227, hier S. 200 f. 19 Vgl. Luthers Predigt vom 12. Mai, in: WA 17 I, S. 228–233. 20 Martin Luther: „Ein Rathschlag, wie in der christlichen Gemeine eine beständige Ordnung solle vorgenommen werden. Oder: Bedenken, wie jetziger Zeit Aufruhr zu stillen wäre“, 1525 (gedruckt 1526), in: WA 19, S. 440–446.
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ruhrs seien die Missstände des geistlichen Standes, allen voran der gottesläster‑ liche Missbrauch der Messe als Opfer und auch als Geldgeschäft. Allein dieser Missstand sei Grund genug, dass „gots zorn uns mitfuere wie mit Sodom und Gomoerrhen“. 21 Mit dem Bauernkrieg richte sich der Zorn nun gegen die Ob‑ rigkeiten, welche diese Missstände nicht verhinderten. Um den Aufruhr zu be‑ enden schlug Luther daher vor, mit einem „entlichen gemeynen urtheyl“ alle Messen abzutun. 22 Ebenso wie Luther noch im vergangenen Jahr gegen die Stiftsherren argu‑ mentiert hatte, ihr altgläubiger Gottesdienst werde den Zorn Gottes auf die ganze Stadt ziehen, und auf dieser Grundlage gemeinsam mit der städtischen Obrigkeit in Wittenberg das Ende der Messen gefordert hatte, so appellierte er nun an die landesherrliche Obrigkeit. Die von der göttlichen Strafe betroffene Gemeinschaft hatte sich nun erweitert und die landesweite Bedrohung durch den Bauernkrieg machte nach dieser Begründung auch eine landesweite Verän‑ derung der Ceremonien notwendig.
1.3. Vorschläge für eine landesweite Einheit der Ceremonien schon 1523 Bemerkenswert ist jedoch, dass der Gedanke einer landesweiten Verände‑ rung der Ceremonien nicht erstmals im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg, sondern bereits 1523 geäußert wurde. Dies legt den Gedanken nahe, dass der Bauernkrieg hier möglicherweise verstärkend, vielleicht auch nur legitimierend für ein ohnehin bestehendes Vorhaben des Hofes wirkte. Wie eine bislang un‑ bekannte Denkschrift Spalatins aus dem Jahr 1523 zeigt, war dieser Vorschlag schon damals dem Kurfürsten vorgelegt und vermutlich am Hof diskutiert wor‑ den. 23 Während sich der bereits oben untersuchte erste Teil dieser Denkschrift mit der Liturgiereform am Allerheiligenstift beschäftigte24, legte Spalatin im zweiten Teil den Vorschlag dar, der Kurfürst möge die Frage der Ceremonien vor die Landstände bringen und mit der Einberufung eines Landtages eine ein‑ heitliche Lösung herbeiführen. 25 Besonders sollten die Landstände nach ihrer Meinung befragt werden „wie man es mit der Messe, beider Gestalt des hoch21
Ebd., S. 442. Ebd., S. 443. 23 Vgl. Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17. 24 Vgl. oben, S. 285–287. 25 „[…] iren Landschafften, manschafften und elteren auf eynen tag hetten lassen antzai gen mit angeheffter begrundung E.C. und f. G. iren getrewen rat was in diesen grossen sachen furzunemen solt sein, mitzuteylen“, Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17, hier Bl. 13v. 22
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wirdigen sacraments und anderen Ceremonien halten solt.“ 26 Die über mehrere Seiten zur Begründung angeführten alt‑ und neutestamentlichen Bibelstellen erscheinen dabei eher willkürlich zusammengestellt und haben teilweise nur ei‑ nen marginalen Bezug zum Thema. 27 Davon unabhängig lautete sein politisches Hauptargument, dass die Zustimmung der Landstände eine problemlose Um‑ setzung der Reformen im ganzen Land ermöglichen würde. 28 Damit schlug Spalatin den Fürsten – er wandte sich sowohl an Friedrich den Weisen als auch an dessen Bruder Herzog Johann – nichts Geringeres vor als die nunmehr offene Missachtung des Wormser Edikts. Ebenso hätte ein solches Vorgehen einen klaren Übergriff in den Machtbereich der Bischöfe bedeutet: Zwar war es dem Kurfürsten, wie der Fall des Bischofs von Brandenburg zeigt, schon zuvor häufig gelungen, de facto Entscheidungen in geistlichen Belangen zu treffen oder zumindest seine Untertanen gegen den Bischof zu unterstützen. Doch hatten die Bischöfe, und selbst der Bischof von Brandenburg in Witten‑ berg, bis dahin zumindest formal ihre Unabhängigkeit als geistliche Herren auf ihrem Gebiet bewahren können. Die Rechtfertigung dieses Schrittes entsprach bereits hier vollständig der des späteren landesherrlichen Kirchenregimentes: Die Fürsten sollten sich damit nicht dauerhaft in geistliche Fragen einmischen. Vielmehr plante Spalatin, dass „die ding mit irem [der Geistlichen] wissen und willen sollten gehalten werden“ und zwar „bis auf verbesserung eynes gemeynen Cristlichen Conciliums“. 29 Die geplante Einbeziehung der Geistlichkeit hätte die Kompetenzüberschreitung des Kurfürsten freilich eher verstärkt als vermindert, da er sich damit als welt‑ licher Herrscher in genuin geistlichen Belangen unter Umgehung der Diözes‑ anbischöfe an ihre Spitze gestellt hätte. Dieses gilt umso mehr, als Spalatin of‑ fensichtlich mit Widerstand von Seiten der „prelaten und andern geistlichen“ rechnete und nur seine Hoffnung ausdrückte, dass auch diese „mer in erkent nuß […] Christi komen und diesen sachen auch geneigter werden, den sie bis her gewest sind“.30 Spalatin ging also durchaus davon aus, dass die Zustimmung der Geistlichkeit nicht ohne landesherrlichen Druck zu erreichen war. Mit dem Verweis auf das zukünftige Konzil wurde das Eingreifen des Landesherrn in kirchliche Belange als Übergangslösung in einer Notsituation zur Gewährleis‑ tung von Einheit und Frieden des Territoriums dargestellt, was der Begrün‑ dung des landesherrlichen Kirchenregiments in den ersten Visitationen wenige 26
Ebd., Bl. 14r. So etwa „dan wo zwen oder drey in meinem nahmen beieinander sein, dasebst bin ich mitten undern Inen“, ebd., Bl. 15v‑17v. 28 „dan solt von E.C.G. etwas an Irer unterthanen bewilligung in disen dingen furgenom men werden. So mocht es alleweg anfechtung und hinderung haben. Was aber mit irem wissen gehandelt werd [Schluss fehlt]“, ebd., Bl. 16r. 29 Georg Spalatin: „Ein unterthenigs Bedencken von den furgenommen Newerung mit den ceremonien 1523“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 10–17, hier Bl. 16r. 30 Ebd. 27
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Jahre später entsprach.31 Eine Antwort auf diese Denkschrift Spalatins ist nicht bekannt, doch gab sie für Herzog Johann möglicherweise einen ersten Gedan‑ kenanstoß für die Politik nach dem Tod seines Bruders. Damit zeigt die Denk‑ schrift, dass schon früher als bislang bekannt und unabhängig vom Bauernkrieg am kursächsischen Hof Pläne Spalatins zum landesherrlichen Kirchenregiment vorlagen.
1.4. Einheitliche Ceremonien als ständische Forderungen? Spalatin hatte also bereits 1523 geplant, die Landstände – geistliche wie weltli‑ che – mit einzubeziehen, um eine Reform der Ceremonien organisatorisch bes‑ ser durchsetzen zu können. Wie standen aber die Landstände selbst, die 1525 tatsächlich zum Träger der Reformen wurden, zu den reformatorischen Verän‑ derungen? Handelten sie 1525 nur als Instrumente des Landesherrn oder waren sie selbst und aktiv an den Veränderungen interessiert? Erstmals wurden diese Themen auf dem Landtag zu Altenburg angespro‑ chen, zu dem Friedrich der Weise seine Landstände Anfang Mai 1523 einbe‑ rief.32 Grund der Einberufung des Landtages war der erhöhte Finanzbedarf des Kurfürsten, weshalb er die Stände um Zustimmung zu einer Sondersteuer, dem zehnten Pfennig, ersuchte.33 In unterschiedlichen Kurien waren bei diesem Landtag auch verschiedene Wittenberger anwesend, nämlich unter den Präla‑ ten und Geistlichen Hieronymus Schurf als Mitglied des Stiftskapitels, unter den Städten der Wittenberger Rat sowie der Wittenberger Schosser.34 Auf dem Landtag wurde wie üblich in vier Kurien getrennt beraten, die anschließend ihre Beschwerdeschriften übergaben. In der Kurie der Geistlichen hatten sich die reformatorisch gesinnten Mit‑ glieder, wie etwa der Wittenberger Stiftsherr Hieronymus Schurf, offensichtlich nicht durchsetzen können, denn die Beschwerdeschrift beinhaltete hauptsäch‑ lich die üblichen Klagen der Geistlichkeit, wie die Weigerung der Untertanen zur Zahlung geistlicher Abgaben oder die Übergriffe der weltlichen Amtsleute 31 Vgl.
Spehr: Luther und das Konzil, S. 399–411. Die Landtagsakten sind größtenteils gedruckt bei: Carl August Burkhardt (Hg.): Ernestinische Landtagsakten, Band I: Die Landtage von 1487–1532, Jena 1902, S. 141–167. Zu diesem Landtag und den dort behandelten Landgebrechen vgl. auch Kirn: Friedrich der Weise, S. 156–158; Ernst Müller: Zur Neuordnung des Kirchenwesens im Kurfürsten‑ tum Sachsen um 1525, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 11 (1984), S. 174–186, hier S. 176 f.; Höss: Spalatin, S. 238 f. und 320 f. 33 „Ursachen, die zu Altenburg auf dem Landtage vorgehalten worden sind, Montag nach cantate“, 4.–7. Mai 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg Q 21; gedruckt in: Burkhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 276, S. 150 f. 34 „Verzeichnis der Ritterschaft, Prälaten, Städte und Schosser, die auf dem Landtage, son hHStA Weimar, EGA, Reg. Q 18, tags cantate zu Altenburg gewesen sind“, 3. Mai 1523, in: T gedruckt in Burkhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 271, S. 147–149. 32
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IV. Landesherrliche Reformation
auf geistliches Gebiet.35 Hinzu kamen auch neue Beschwerden über die refor‑ matorischen Prediger, welche den Menschen im Land Anlass zu Verspottung und Bedrohung der Geistlichen gäben.36 Die Ritterschaft vertrat hingegen eine gegenteilige Meinung zur Reforma‑ tion. Denn neben den üblichen Beschwerden über zu hohe Zinsforderungen der geistlichen Güter oder den Reichtum der Klöster bei gleichzeitiger Armut der Pfarreien findet sich in den Landtagsakten ein weiteres Dokument der Ritter‑ schaft mit dem Titel „Artikel zu götlichem lob und ere“.37 Diese Artikel beinhal‑ teten Forderungen, welche sehr weitgehend in Richtung eines landesherrlichen Kirchenregimentes wiesen und damit die üblichen Klagen über den Missbrauch der geistlichen Privilegien auf eine neue Legitimationsgrundlage stellten. Ähn‑ lich wie die Stadt Wittenberg, die in dieser Zeit ihr eigenes städtisches Selbstbe‑ wusstsein immer stärker daraus ableitete, die Stadt des neu entdeckten Evange‑ liums zu sein, begannen nun auch diese Artikel der Ritterschaft mit dem Satz: „Nachdem icze das heyl unser seligkeyt, das gotlich wort bey uns gnediglichen erscheint, derhalben aus christlicher pflicht der lieb will uns geburn, solcher barmherczigen gnad danckbar zu sein.“ 38 Aus der Sicht der Ritterschaft war demnach Kursachsen das Land des neu entdeckten Evangeliums, woraus die Verpflichtung zu einem gemeinsamen Handeln von Fürst und Ständen im ge‑ samten Territorium abgeleitet wurde. Auch die Artikel im Einzelnen ließen bereits sehr detaillierte Pläne der Rit‑ terschaft erkennen. Gefordert wurden insbesondere die Freiheit der evangeli‑ schen Predigt und der Schutz der Prediger durch den Landesherrn vor den Re‑ pressalien der Bischöfe.39 Die Aufsicht über die Pfarrer sollte sich dabei an den bereits vorhandenen landesherrlichen Verwaltungsstrukturen orientieren und durch die Amtleute und den Adel vorgenommen werden. Die Einkommen aus geistlichen Lehen sollten, sofern sie nicht der Versorgung von Pfarrern dienen konnten, vom Landesherrn durch die Ämter zunächst einbehalten werden, um bei einem späteren Konzilsbeschluss „elende und dürftige“ daraus versorgen zu können.40 Schließlich fand sich noch ein Zusatzartikel mit der Beschwerde über die unziemliche Kleidung der Pfarrfrauen, welche ebenfalls dazu angetan sei, Ärgernis zu erregen.41 35 „Beschwerden der Capläne, Aebte, Dechanten, Domherrn, Stifte und Klöster auf dem Landtage zu Altenburg versammelt“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Q 18, Regest und Teilab‑ druck bei Burckhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 283, S. 154 f. 36 Vgl. ebd., S. 155. 37 Beschwerde-Artikel der Ritterschaft: „Anfänglich die artickel zu götlichem lob und ere“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Q 18, Regest und Teilabdruck bei Burckhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 295, S. 160 f. 38 Ebd. 39 Vgl. ebd., S. 161. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd.
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Die Antwort des Kurfürsten auf die Artikel „zu götlichem lob und ere“ er‑ folgte in der üblichen Zurückhaltung des Hofes: Der Schutz der Prediger ge‑ gen die Bischöfe sei bereits gewährleistet, auch gehe der Hof schon jetzt gegen falsche Prediger vor und habe einige aufrührerische Prediger verhört. Gleich‑ zeitig wurde davor gewarnt, Prediger vorschnell als aufrührerisch darzustellen, wenn es nützlich erscheine, keine Abgaben mehr zu zahlen oder die Predigten dem Einzelnen nicht vorteilhaft erschienen.42 Betrachtet man diese eher verhal‑ tene Stellungnahme, so erscheint die in der älteren Literatur teilweise vertre‑ tene These, der Kurfürst habe den Landständen die Religionsartikel gleichsam diktiert, um sich hier weiteren Rückhalt gegenüber der römischen Kurie zu si‑ chern, nicht überzeugend.43 Vielmehr kamen den Fürsten die Forderungen der Ritterschaft zu diesem Zeitpunkt besonders ungelegen, denn gerade am 6. Mai 1523 hatte das Reichsregiment erneut ein Mandat erlassen, worin unter anderem eine Überwachung der Prediger durch die Bischöfe, die Bestrafung ausgetrete‑ ner Mönche und verheirateter Pfarrer an die Stände übertragen worden war und Friedrich der Weise gesondert aufgefordert wurde, die Verbreitung der Schrif‑ ten Luthers zu unterbinden.44 Die besonders restriktive Haltung, die Friedrich der Weise Anfang 1523 bei den Reformforderungen Luthers für die Stadt Wit‑ tenberg gezeigt hatte, findet sich so auch in der Stellungnahme gegenüber den Landständen. Festzuhalten ist mit Bezug auf die Situation von 1525, dass sich die kursäch‑ sische Ritterschaft bereits 1523 auf dem Landtag aktiv für die reformatorischen Neuerungen einsetzte, während die geistlichen Landstände eher deren Eindäm‑ mung forderten. Ebenso wie die Reformatoren 1525 argumentierte auch die Rit‑ terschaft schon damals mit dem „ergernus“, welches durch nicht‑schriftgemäße Predigt hervorgerufen werde, da die Prediger „den gemeinen unverstendigen man in aufrur bewegen“.45 Doch interpretierte die Ritterschaft den Aufruhr 42 Vgl. „Antwort des Kurfürsten Friedrich und Herzogs Johann auf die Beschwerden, die zu Theil erstlich zu Jena und hernach zu Altenburg zum andern Male übergeben worden sind“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Q 19, Regest und Teilabdruck in Burckhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 295, S. 162–166. 43 So Müller: Neuordnung, S. 177; zuvor schon vertreten in Paul Kalkoff: Der Worm‑ ser Reichstag von 1521, München/Berlin 1917, S. 414, dagegen jedoch auch schon Kirn: Fried‑ rich der Weise, S. 157 f. 44 Friedrich der Weise ließ das Mandat am 25. Mai 1525 in Kursachsen publizieren, vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 155. Der Text ist gedruckt in Wrede (Hg.): Deutsche Reichs‑ tagsakten, Jüngere Reihe, Band 3, S. 448–452. 45 Beschwerde‑Artikel der Ritterschaft: „Anfänglich die artickel zu götlichem lob und ere“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Q 18, Regest und Teilabdruck bei Burckhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 295, S. 160 f. Kirn geht davon aus, dass sich dieser Artikel der Ritter‑ schaft gegen die „Schwarmgeister“, also gegen radikale Prediger richtete, vgl. Kirn: Friedrich der Weise, S. 157. Doch lässt besonders die Antwort der Fürsten erkennen, dass der Vorwurf des Aufruhrs hier den altgläubigen Predigern galt, vgl. Antwort des Kurfürsten Friedrich und Herzogs Johann auf die Beschwerden, „die zu Theil erstlich zu Jena und hernach zu Alten
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IV. Landesherrliche Reformation
nicht als göttliche Strafe oder als möglichen Grund für den zukünftigen Zorn Gottes aufgrund der mangelnden Umsetzung des Evangeliums. Im Gegensatz zur transzendenten Überhöhung durch die Reformatoren blieb Aufruhr hier ein soziales Argument und wurde als menschliche Reaktion auf die mangelnde Predigt des Evangeliums dargestellt. Zu den Forderungen der Ritterschaft selbst ist festzuhalten, dass hier noch nicht der Wunsch nach einheitlichen got‑ tesdienstlichen Ceremonien oder sogar nach einer landesweiten einheitlichen Gottesdienstordnung geäußert wurde. Der Gedanke, dass das gesamte Terri‑ torium einheitliche religiöse Ceremonien benötige und diese über die Land‑ stände umzusetzen seien, wurde damit zwar schon 1523 am Hof durch Spalatin geäußert, erging jedoch nicht, wie in der Literatur teilweise dargestellt, von den Landständen selbst aus.46 Zwar standen zumindest die weltlichen Stände der re‑ formatorischen Predigt positiv gegenüber, jedoch waren hier zunächst andere Fragen, insbesondere der Schutz der Prediger vor den Bischöfen, entscheidend.
1.5. Kurfürst Johann 1525 und die einheitliche Gottesdienstordnung Erneut wurde das Ziel einer landesweit einheitlichen Ordnung der Ceremonien am Hof 1525 kurz nach dem Tod Friedrichs des Weisen formuliert. Im Früh‑ sommer 1525, also kurz nach dem Regierungsantritt Johanns des Beständigen, wurde in der kurfürstlichen Kanzlei eine Art Regierungsprogramm mit einer Zusammenstellung der in Zukunft zu lösenden Aufgaben erstellt.47 Die Vor‑ schläge betrafen alle Bereiche der Landesherrschaft, wie etwa die Hofordnung, die Ordnung der Ämter und Städte oder Bergwerks‑, Münz‑ und Steuerange‑ legenheiten. Dabei berief sich das Programm ausdrücklich auf die ständischen Forderungen des Landtags von 1523, wobei darunter auch die genannten Forde‑ rungen der Ritterschaft „zu götlichem lob und ere“ wieder aufgegriffen wurden: Es sollten Prediger eingesetzt werden, welche die Schrift verständen, alle Pre‑ diger, die von dieser reformatorischen Lehre abwichen, sollten verhört werden, die Verwaltung der geistlichen Güter und das Schicksal der verbliebenen Klös‑ ter musste geklärt werden.48 Neu war gegenüber den Artikeln von 1523 hin‑ burg zum andern Male übergeben worden sind“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. 19, Regest und Teilabdruck in Burckhardt (Hg.): Landtagsakten, Nr. 295, S. 162–166. 46 Anders dargestellt etwa bei Brecht: Martin Luther, Bd. 2, S. 123. 47 Kanzleikonzept mit der Überschrift „1525“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Rr 353, Bl. 9–20. Vgl. Müller: Neuordnung, S. 179; Rudolf Hermann: Thüringische Kirchenge‑ schichte, Band 2, Weimar 1947, S. 21 f. Die Datierung erfolgt nach Herrmann auf Juni oder Juli 1525, da Wenzeslaus Linck in diesem Schriftstück als einer derer genannt wird, die zu ei‑ nem Ratschlag einzuberufen seien. Linck verließ Kursachsen 1525 und ging nach Nürnberg. Das Schriftstück wird ebenfalls in den Landtagsakten erwähnt, dort aber auf Ende 1526 da‑ tiert, vgl. Burckhardt (Hg.): Landtagsakten, S. 187. 48 Vgl. Hermann: Kirchengeschichte, S. 21.
1. Die Forderung nach evangelischen Ceremonien für das ganze Land
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gegen die Forderung nach einheitlichen Ceremonien und einer verbindlichen Gottesdienstordnung für das ganze Land. Insbesondere die Messe, die Taufe und der Gesang sollten im gesamten Territorium in einer einheitlichen Art und Weise gehalten werden. Gerade dieser Punkt wurde mit der Befürchtung von Aufruhr und den gegenwärtigen Bauernaufständen verbunden. So sollte man besonders gegen unchristliche Predigten und Ceremonien vorgehen, nament‑ lich gegen solche, die des Aufruhrs verdächtig waren. Auch ein falscher Ge‑ brauch der Ceremonien galt nun als potentielle Ursache von Aufruhr, die es zu bekämpfen galt. Der Hof hatte demnach die Argumentation Luthers und Spala‑ tins übernommen; sehr wahrscheinlich ist auch, dass Spalatin selbst an der Ver‑ fassung dieser Schrift beteiligt war. Um eine solche Einheit der Ceremonien zu erlangen, sollte nun, so sah es das Regierungsprogramm vor, über Maßnahmen, welche die „Ordnung Gottes und sein heilwertiges Wort“ betreffen, entschieden werden.49 Die Entscheidungs‑ findung oblag dabei, wie schon unter Friedrich dem Weisen etabliert, den ge‑ lehrten Theologen der Universität Wittenberg.50 Als Grundlage für die Arbeit dieser Kommission wurde schon im Voraus ein Kanon von reformatorischen Schriften festgelegt, hauptsächlich jüngere Schriften Luthers und Melanch‑ thons, doch auch etwa die 1525 veröffentlichte Nürnberger Gottesdienstord‑ nung.51 An erster Stelle stand Luthers kurz zuvor verfasster „Rathschlag, wie in der christlichen Gemeine eine beständige Ordnung vorgenommen werden sollte“, welcher die Reform der Messe im ganzen Territorium als Maßnahme gegen den Zorn Gottes und damit zugleich gegen den Bauernkrieg forderte.52 Über die Arbeit der Gruppe ist nichts bekannt, doch zeigt ihre Einsetzung noch einmal die Autorität der Wittenberger Universitätstheologen, nicht nur inner‑ halb Wittenbergs, sondern auch für das gesamte Territorium. Stattdessen finden sich aus den folgenden Monaten nur Hinweise dafür, dass Luther selbst an einer Gottesdienstordnung arbeitete. Luther hatte von verschiedenen Richtungen Bitten um eine deutsche Got‑ tesdienstordnung erhalten, besonders der Zwickauer Pfarrer Nikolaus Haus‑ 49
Zitiert nach Hermann: Kirchengeschichte, S. 22. Benannt wurden elf Theologen, nämlich Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johan‑ nes Bugenhagen, Wenzeslaus Linck, Justus Jonas, Kaspar Güttel, Georg Spalatin, Nikolaus von Amsdorf, Johann Agricola, Gabriel Zwilling und Wolfgang Fues. 51 Die Schriften im Einzelnen waren: Martin Luther: „Ein Rathschlag, wie in der christlichen Gemeine eine beständige Ordnung solle vorgenommen werden. Oder: Beden ken, wie jetziger Zeit Aufruhr zu stillen wäre“, 1525 (gedruckt 1526), in: WA 19, S. 440–446; Philipp Melanchthon: „Eyn schrifft Philippi Melanchthon widder die artikel der Bawern schafft“, in: Robert Stupperich (Hg.): Melanchthons Werke, Bd. 1: Reformatorische Schrif‑ ten, Gütersloh 1951, die Nürnberger Gottesdienstordnung (1525), sowie das Reformpro‑ gramm des Theologen Stephan Agricola aus Augsburg: „Ein bedenken des Agricola Boius wie der wahrhafftig Gottesdienst von Gott selbs geboten und ausgesetzt, möcht mit besserung gemeyner christenheyt widerumb auffgericht werden“ (1524). 52 Vgl. oben, S. 330. 50
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IV. Landesherrliche Reformation
mann, dem Luther bereits die Formula Missae gewidmet hatte, erkundigte sich 1524 mehrfach danach. Luther hatte sich schon damals nicht abgeneigt gezeigt, jedoch fühlte er sich der musikalischen Gestaltung nicht gewachsen.53 Den Vor‑ schlag Hausmanns, ein evangelisches Konzil möge über diese Fragen entschei‑ den, lehnte er jedoch mit Verweis auf die Freiheit der äußeren Dinge mit großer Bestimmtheit ab: Konzilien hätten zu allen Zeiten „mehr von Werken und Sat zungen als vom Glauben gehandelt“.54 Das Vorhaben war von einiger Dring‑ lichkeit, denn in den letzten Jahren waren von anderer Seite bereits deutsche Gottesdienstordnungen entstanden.55 Einer dieser Drucke warb sogar damit, eine deutsche Messe wiederzugeben, wie Bugenhagen sie jeden Sonntag in der Wittenberger Pfarrkirche halte.56 Luther und Bugenhagen dementierten das zwar, doch wurde hier deutlich, dass Wittenberg zu einem Vorbild evangeli‑ scher Ceremonien geworden war, wonach sich viele Pfarrer in der Gestaltung ihrer deutschen Gottesdienste richten wollten. Schließlich kündigte Luther am 27. September 1525 nach einer erneuten Anfrage Hausmanns an, dass er an ei‑ ner Ordnung des Gottesdienstes für das ganze Territorium arbeitete und sich auch beim Fürsten dafür einsetzen wollte, denn er wisse, dass die „institutio uniformibus ceremoniis“ notwendig sei.57 Es ist demnach nicht davon auszuge‑ hen, dass Luther vom Hof zur Verfassung der neuen Gottesdienstordnung ge‑ nötigt worden war und dies gegen seinen Willen tat.58 Umgekehrt war die deutsche Gottesdienstordnung jedoch ebenso der Wunsch des Kurfürsten, der dabei eng mit Luther zusammenarbeitete. So schickte er etwa für die musikalische Ausarbeitung auf Luthers Wunsch hin die beiden höfischen Sangmeister Konrad Rupff und Johann Walther nach Witten‑ berg.59 Herzog Johann erwartete die Gottesdienstordnung offensichtlich drin‑ gend und warb dafür schon vor ihrer Fertigstellung. Kurz bevor der kurfürst‑ liche Hof aus Weimar nach Torgau verlegt wurde, ließ er bereits der dortigen Geistlichkeit durch seinen Amthauptmann Friedrich von Thun in Anwesen‑ 53
Luther an Nikolaus Hausmann, 17. November 1524, in: WA Br. 3, S. 373. Vgl. auch Bornkamm: Martin Luther, S. 416; Spehr: Luther und das Konzil,
54 Ebd.
S. 357. 55 Vgl. Julius Smend: Die evangelischen deutschen Messen bis zu Luthers Deutscher Messe, Nieuwkoop 1967. 56 Es handelte sich bei dieser heute als „Pseudobugenhagenmesse“ bezeichneten Ordnung um eine Abwandlung der Deutschen Messe des Kaspar Kantz aus Nördlingen, vgl. Smend: Messen, S. 88. 57 Luther an Nikolaus Hausmann, 27. September 1525, in: WA Br. 3, S. 582. 58 Anders dargestellt bei Müller: Neuordnung, S. 181. 59 Die beiden Sangmeister sollen sehr positiv von der Zusammenarbeit berichtet und sich beeindruckt von Luthers musikalischer Bildung gezeigt haben, vgl. Friedrich Gebhardt: Die musikalischen Grundlagen zu Luthers Deutscher Messe, in: Lutherjahrbuch 10 (1928), S. 56–169, hier S. 73; Johannes Wolf: Luther und die musikalische Liturgie des evangeli‑ schen Hauptgottesdienstes, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 3 (1901), S. 647–670.
1. Die Forderung nach evangelischen Ceremonien für das ganze Land
339
heit des Kurprinzen Johann Friedrich und der höfischen Räte die neue Messe ankündigen: Nach dem Wegzug des Hofes würden sie eine Ordnung erhalten, der man entnehmen könne, wie man sich nach Gottes Wort mit Singen, Lesen, Messe halten und mit anderen geistlichen Ceremonien zu verhalten habe und wonach man sich richten solle.60 Luther und Herzog Johann zeigten sich also schon während des Entstehungsprozesses der Deutschen Messe gleichermaßen an der neuen Gottesdienstordnung interessiert. Damit kann festgehalten wer‑ den, dass die Forderung nach einheitlichen Ceremonien nicht von den Land‑ ständen ausging, auch wenn die Ritterschaft schon 1523 ein sehr weitgehendes Handeln des weltlichen Landesherrn gegen die Bischöfe gewünscht hatte. Die Forderung nach einer Einheit der Ceremonien war indes vom Hof selbst aus‑ gegangen. Hier hatte es schon weit vor der Bedrohung des Bauernkrieges kon‑ krete Pläne Spalatins gegeben, im ganzen Territorium einheitliche Ceremonien einzuführen und zur besseren praktischen Durchführbarkeit dieser Reformen die Landstände einzubeziehen. Diese Pläne waren zunächst am mangelnden Reformwillen Friedrichs des Weisen gescheitert, wurden jedoch 1525 von Jo‑ hann dem Beständigen wieder aufgegriffen und von Luther umgesetzt.
60 Vgl. Müller: Neuordnung, S. 182; Georg Berbig: Der Anbruch der Reformation im Kreis Weimar. Ein priesterlicher Sendbrief vom Jahre 1525, in: Zeitschrift für Kirchenge‑ schichte 27 (1906), S. 387–398.
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2. Die Deutsche Messe Der erste Gottesdienst nach Luthers neuer Ordnung der Deutschen Messe wurde am 29. Oktober 1525 in der Wittenberger Pfarrkirche gehalten. Luther selbst hielt die Predigt und der erst kurz zuvor ordinierte Georg Rörer zele‑ brierte die Liturgie.61 Am Ende der Predigt erfolgten einige Erläuterungen für die Gemeinde zur neuen Form des Gottesdienstes.62 Luther bezeichnete die Messe dabei als das „fürnehmlichst äußerlich ampt“ und erinnerte daran, dass man „nichts ordnen oder anheben“ solle, außer man wisse, es sei aus Gott.63 Er selbst habe sich einer deutschen Messe lange Zeit widersetzt, um nicht den „Rottengeistern“ zu entsprechen. Aufgrund der vielen Bitten und Anfra‑ gen und auch, weil die „weltlich Gewalt darzu dringet“, habe er die Deutsche Messe verfasst.64 Es handelte sich vermutlich um eine Art Probelauf der Messe in Wittenberg, wobei leider keine Hinweise auf Reaktionen der Wittenberger überliefert sind. Doch verlief dieser anscheinend erfolgreich genug, dass man die Messe Weihnachten 1525 in Wittenberg definitiv einführte.65 Im Januar 1526 wurden die ersten Messbücher von dem Wittenberger Drucker Melchior Lotter gedruckt, der im Laufe des Jahres 1525 noch drei weitere Auflagen an‑ fertigte.66
2.1. Die Deutsche Messe als landesweite Gottesdienstordnung Offiziell landesweit eingeführt wurde die Messe mit einem ersten Ausschreiben des Kurfürsten, das im Februar 1526 erging.67 Der Kurfürst sorgte für die wei‑ tere Verbreitung des Druckes der Deutschen Messe, indem er bei Lukas Cra‑ nach eine große Anzahl von Messbüchern einkaufte und diese zusammen mit 61 Rörer notierte in seiner Predigtmitschrift dieses Tages als Randbemerkung: „Ea domi nica 1. cecini missam germanicam W. anno 25“, WA 17 I, S. 444. 62 Vgl. Predigt am Sonntag nach Simonis und Judae, 29. Oktober 1525, in: WA 17 1, S. 444–459, hier S. 459. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Vgl. WA 17 I, S. 51 (Einführung des Herausgebers zur Deutschen Messe). 66 Vgl. WA 17 I, S. 60 f. (Einführung des Herausgebers zur Deutschen Messe). 67 Dieses erste Mandat ist nicht überliefert, die Tatsache ist nur aus den Annalen Spalatins bekannt, vgl. Spalatin: „Chronicon Sive Annales“, in: Mencke (Hg.): Scriptores Sp. 645.
2. Die Deutsche Messe
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einem zweiten Ausschreiben an die Amtleute und Adeligen des Territoriums verschicken ließ.68 Beide kurfürstlichen Ausschreiben waren bislang nur auf‑ grund eines knappen Eintrags in den Annalen Spalatins bekannt, was in der Li‑ teratur zu verschiedenen Vermutungen über ihre Entstehung und Ziele führte.69 Daher sollen im Folgenden auf Grundlage des nun vorliegenden zweiten kur‑ fürstlichen Ausschreibens selbst und der damit verbundenen Korrespondenzen Einzelheiten über die Vorgehensweise des Kurfürsten und dessen Zielsetzun‑ gen näher beleuchtet werden. In dem zweiten Ausschreiben, welches zusammen mit den neuen Messbü‑ chern erging, wurden den Adeligen und Amtleuten der beiliegende Druck als eine „durch etlichze gelerte und der gotlichen schrifft erfarne leut“ gestaltete Ordnung angekündigt, welche beinhaltete „wie der selben schrift gemeß der kirchen ceremonien“ zu halten seien.70 Damit wurden die Gelehrten der Uni‑ versität Wittenberg auch vor dem ganzen Territorium als für die Gestaltung der kirchlichen Ceremonien zuständig dargestellt. Den weltlichen Amtleuten und Adeligen wurde sodann befohlen, die Pfarrer ihres Herrschaftsbereiches zu‑ sammenzurufen und ihnen zu verkünden, dass sie auf Befehl des Kurfürsten „die Ceremonien mit den messen und anderm nach anzaigung solchs drugks, vnnd vberschickten buchlins“ halten sollten.71 Der Kurfürst tat hier also das, was Spalatin bereits 1523 zur organisatorischen Durchsetzung einer Einheit der Ceremonien im ganzen Territorium geraten hatte: Er bezog die weltlichen Stände ein, welche die Pfarrer in eigentlich genuin geistlichen Dingen unterrich‑ ten sollten. Damit wurden in Kursachsen erstmals Kernaufgaben der Bischöfe auf weltliche Amtsträger übertragen, so dass die Einführung der Messe als ein erster Schritt hin zur späteren Visitation gesehen werden kann, die sich eben‑ falls auf die weltlichen Verwaltungsstrukturen stützte. Zur Durchführung der Liturgie verwies der Kurfürst ausdrücklich auf die Grundsätze, welche Luther der Deutschen Messe vorangestellt hatte: Die Pfar‑ rer sollten die Messe wie in dem gedruckten Buch Luthers verzeichnet halten,
68 Vgl. Kurfürst Johann von Sachsen an Lukas Cranach, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 228, Bl. 1r. Der Kurfürst bestellte hier 100 weitere Exemplare zusätzlich zu denen, die er schon durch Luther erhalten hatte. Cranach hatte damals die Druckerwerkstatt Dörings übernommen, was wohl erklärt, weshalb der Kurfürst an Cranach schrieb, obwohl auf allen vier Wittenberger Ausgaben der Deutschen Messe Christian Döring als Drucker genannt wird. 69 Vgl. Spalatin: „Chronicon Sive Annales“, in: Mencke (Hg.): Scriptores Sp. 645. In Anschluss daran WA 19, 1, S. 51; Müller: Neuordnung, S. 181; Bornkamm: Martin Luther, S. 419; Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte, S. 23. 70 Kurfürst Johann von Sachsen: „Ausschreibn an dy von Adel der Mess und ceremonien halben“, 24. Juni 1526, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 228, Bl. 2r+v. (Identische Kopie des Ausschreibens Bl. 3r+v). 71 Ebd., Bl. 2r.
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IV. Landesherrliche Reformation
„doch nit anders dann wie die vorred desselbigen vermag und ausweyset“.72 In dieser Vorrede hatte Luther, ebenso wie schon in der genannten Wittenberger Predigt, betont, dass man aus der neuen Ordnung kein Gesetz machen solle, sondern dass sie im Sinne der christlichen Freiheit zu gebrauchen wäre.73 In der Literatur, die sich nur auf die Angaben Spalatins beruft, findet sich häufig die Interpretation, der Kurfürst habe mit einem ersten Ausschreiben im Februar 1526 die Durchführung der Messe zu rigoros gefordert und erst auf die Kritik Luthers hin mit dem hier zitierten zweiten Ausschreiben vom Juni 1526 seinen Befehl mit dem Verweis auf die christliche Freiheit relativiert.74 Doch ist dieser Verweis sehr kurz und implizit gehalten und kann daher kaum der Hauptgrund des Ausschreibens gewesen sein. Vermutlich handelte es sich bei dem ersten Ausschreiben, das bei Spalatin genannt wird, um eine einfache An‑ kündigung der Deutschen Messe, während mit dem zweiten Ausschreiben die Messbücher versendet und die Versammlung der Pfarrer angeordnet wurde. Es gab demnach auch hier keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Luther und dem Kurfürsten. Vielmehr arbeiteten Luther und der Kurfürst nun gemein‑ sam an dem Ziel, dass die „Ceremonien dest gleichformiger In vnnserm fursten thumb fortan gehalten vnnd gebraucht werden“.75 Die Einheit der Liturgie war nun von der städtischen zur landesfürstlichen Sache geworden. Sie repräsen‑ tierte nun nicht mehr nur die Einheit der Wittenberger als Stadtgemeinschaft, sondern auch die Einheit des Territoriums und wurde damit Teil einer neuen Form der Herrschaftsrepräsentation, nämlich der des evangelischen christli‑ chen Landesherrn. Ganz in diesem Sinne waren auch die Ausführungen Luthers in seiner Ein‑ leitung zur Deutschen Messe. Im Sinne der christlichen Freiheit sei es nicht seine Absicht, dass das ganze „deutsche land“ die Wittenbergische Ordnung übernehmen müsse.76 Doch sollte der Gottesdienst dort, wo die Menschen un‑ ter der gleichen Herrschaft lebten oder in einer Stadt mit den umliegenden Dör‑ fern, der Gottesdienst nun „auff eynerley weyse“ gehalten werden.77 Indem die Einheit der Ceremonien an die weltliche Herrschaft gebunden wurde, kam sie den Landesherren und Räten der Städte zugute, denn sie stützte die Einheit des Territoriums und wirkte damit letztlich auch stabilisierend und legitimierend für die jeweilige territoriale oder lokale Herrschaft. Auf diese Weise kennzeich‑ nete der Gebrauch derselben kirchlichen Ceremonien die Menschen als Unter‑ 72 Ebd.
73 Vgl. Martin Luther: „Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts“ (1526), in: WA 19, S. 44–113, hier S. 72 f. 74 Vgl. WA 17 I, S. 51 f. (Einführung des Herausgebers zur Deutschen Messe). 75 Kurfürst Johann von Sachsen: „Ausschreibn an dy von Adel der Mess und ceremonien halben“, 24. Juni 1526, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 228, Bl. 2r+v, hier Bl. 2r. 76 Luther: „Deutsche Messe“, S. 73. 77 Ebd.
2. Die Deutsche Messe
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tanen eines bestimmten Landesherrn oder als Bürger einer Stadt, eine Tatsache, die in späteren Jahrzehnten im ganzen Reich bewusst zur Herstellung territori‑ aler Einheit und Sicherung der fürstlichen Herrschaft genutzt wurde.78 Dieser territoriale Charakter der Deutschen Messe ist jedoch nicht als reines machtpolitisches Kalkül des Fürsten zu sehen, sondern ergab sich auch aus der Anlage der Gottesdienstordnung als volkssprachliche Messe. Denn aufgrund der starken sprachlichen Unterschiede in der Frühen Neuzeit konnte diese je‑ weils nur für eine Sprachgemeinschaft gelten und musste schon allein deshalb sprachlich, aber auch in anderen regionalen Gebräuchen, den örtlichen Gege‑ benheiten angepasst werden.79 Diese Sprachgrenzen wurden jeweils den Gren‑ zen der weltlichen Herrschaft angepasst, da die weltlichen Herrscher nach der Entmachtung der Bischöfe fortan für die Festlegung der liturgischen Ordnun‑ gen verantwortlich waren. Auf diese Weise trug die deutsche Volksmesse zur Stützung und Legitimierung der territorialen Herrschaft bei: Das Territorium wurde als eine Einheit auch in geistlichen Dingen für die Untertanen und für Auswärtige an der Gottesdienstform erkennbar und der Kurfürst selbst zum Oberhaupt nicht nur einer weltlichen, sondern auch einer geistlichen Einheit.
2.2. Die Liturgie der Deutschen Messe Die Deutsche Messe wurde von der liturgiewissenschaftlichen und kirchenge‑ schichtlichen Forschung ausführlich untersucht.80 Als bekannteste liturgische Schrift Luthers wurde sie noch stärker als die Formula Missae zum Gegenstand der kirchenhistorischen Diskussionen um Kontinuität und Tradition der luthe‑ 78 Beispiele
für den Fortgang dieses Prozesses finden sich bei Susan Karant‑Nunn: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany, London/New York 1997; Volker Leppin: Theologischer Streit und politische Symbolik: Zu den Anfängen der württembergischen Reformation 1534–1538, in: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1999), S. 159–187, bes. 185 f. 79 Die großen sprachlichen Unterschiede von lokalen und regionalen Messordnungen, die auf den Wittenberger Einfluss zurückzuführen sind, zeigt z.B. ein Vergleich der niederdeut‑ schen Kirchenordnungen Bugenhagens mit denen oberdeutscher Städte wie Nürnberg und Augsburg. 80 Vgl. Frieder Schultz: Luthers liturgische Reformen, S. 256–263; Reinhard Messn ner: Reformen des Gottesdienstes in der Wittenberger Reformation, in: Martin Klöcke‑ ner/Benedikt Kranemann (Hgg.): Liturgiereformen. Historische Studien zu einem blei‑ benden Grundzug des christlichen Gottesdienstes, Münster 2002, S. 381–416; Ders.: Die Messreform Martin Luthers und die Eucharistie der Alten Kirche. Ein Beitrag zu einer sys‑ tematischen Liturgiewissenschaft, Innsbruck/Wien 1989; Reinhard Schwarz: Der herme‑ neutische Angelpunkt in Luthers Meßreform, in: Zeitschrift für Theologie und Kirchen 89 (1992), S. 340–364; Hans‑Bernhard Meyer: Luther und die Messe. Eine liturgiewissen‑ schaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum Messwesen des späten Mittelal‑ ters, Paderborn 1965, S. 180–221; William Nagel: Geschichte des christlichen Gottesdiens‑ tes, Berlin 1970, S. 136–140.
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IV. Landesherrliche Reformation
rischen Liturgie.81 Daher werden hier nur die Grundzüge der liturgischen Neu‑ gestaltung mit Bezug auf ihre soziale Wirkung im Zusammenhang mit ihrem Wittenberger Entstehungskontext dargestellt. Die neue Gottesdienstordnung orientierte sich in ihrem liturgischen Aufbau, ebenso wie schon die Formula Missae, noch immer an der Tradition der Messe. Während der Eingangs‑ und der Schlussteil sonst in ihren Grundzügen belassen wurden wie im römischen Ritus, erfuhr der Abendmahlsteil die stärksten Ver‑ änderungen. Hier wird erneut die schon in der Formula Missae begonnene Ziel‑ richtung gegen das Verständnis der Messe als Opfer vor dem himmlischen Altar deutlich. Waren die entsprechenden Gebete, welche auf das Opfer verwiesen, (der „canon minor“ und „canon missae“) schon in der Formula Missae entfernt worden, so stellte Luther nun den Abendmahlsteil so um, dass das Verständnis des Sakramentes vom Wort her noch stärker betont wurde. Dafür wurden die Einsetzungsworte unmittelbar an die Austeilung von Brot und Wein gerückt.82 Die Einsetzungsworte, die „verba testamenti“ wurden damit zugleich zur Spen‑ denformel, zu „verba consecrationis“.83 Unmittelbar auf die laut gesprochenen Einsetzungsworte sollten Brot und Wein an die Kommunikanten ausgegeben werden, wobei die Austeilung des Brotes unmittelbar an das Brotwort und die Austeilung des Weines unmittelbar auf das Weinwort folgen sollte: „Es dunckt mich aber, das es dem Abendmal gemes sey, das man flux auff die consecration des brods das sacraments reiche und gebe, ehe man den kilch segenet.“ 84 Um diese Neuordnung des Abendmahlsteils zu ermöglichen, wurde das Vaterunser umgestellt und gleich nach der Predigt eingefügt.85 Auf diese Weise wurden die liturgischen Gebete, welche den Abendmahlsteil einleiteten (Präfation, Anam‑ nese, Epiklese) radikal gekürzt und durch das Vaterunser ersetzt.86 Stattdessen fügte Luther hier eine „Vermahnung“ an die Kommunikanten ein, mit welcher sichergestellt werden sollte, dass der Einzelne das Abendmahl im würdigen Zu‑ stand empfing. Die theologische Forschung hat an dieser Stelle auf die Tradition mittelalterlicher Kommunionsansprachen verwiesen.87 Daneben lässt sich die Notwendigkeit einer solchen Regelung auch aus den Erfahrungen der Liturgie‑ reformen in Wittenberg erklären, denn hier hatte das Entfallen der körperlichen Kommunionsvorbereitung mit Beichten und Fasten zu besonders großen Irri‑ tationen und Missverständnissen geführt. Die geistige Vorbereitung, auf deren 81 Vgl.
Wendebourg: Luthers Reform; Dies.: Den falschen Weg Roms zu Ende ge‑ gangen?; Messner: Reformen des Gottesdienstes, S. 414 f.; Meyer: Luther und die Messe; Nagel: Geschichte, S. 137. 82 Vgl. Luther: „Deutsche Messe“, S. 99. 83 Vgl. Schultz: Luthers liturgische Reformen, S. 260. 84 Luther: „Deutsche Messe“, S. 99. 85 Vgl. ebd., S. 96. 86 Vgl. Schultz: Luthers liturgische Reformen, S. 260. 87 Vgl. Meyer: Luther und die Messe, S. 190.
2. Die Deutsche Messe
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Notwendigkeit Luther schon in den früheren Wittenberger Ordnungen 1522 und 1523 verwiesen hatte, wurde so zum Bestandteil der Liturgie. Auch in weiteren Punkten ist der Kontext der Wittenberger Reformen er‑ kennbar: Die Feier des Abendmahls unter beiderlei Gestalt war nun zum Mit‑ telpunkt der Messe geworden, was die theologische Bedeutungsverschiebung der Messfeier von der Opfer‑ zur gemeinsamen Mahlfeier verdeutlicht. Mit dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt wurde damit ein Merkmal in den Mittel‑ punkt gestellt, welches sich in den vergangenen Jahren innerhalb Wittenbergs gerade in den Auseinandersetzungen mit dem Allerheiligenstift, aber auch in der Außenwahrnehmung, zu einem zentralen Merkmal der Gruppe der „Evan‑ gelischen“ herausgebildet hatte.88 Dieses wurde in der Deutschen Messe durch die getrennte Verteilung von Brot und Wein, die unmittelbar auf die jeweili‑ gen Einsetzungsworte folgen sollten, besonders betont und auf den Literalsinn der Einsetzungsworte bezogen. Gleichzeitig waren andere Reformelemente, die kennzeichnend für die „Radikalen“ geworden waren, vollständig in den Hinter‑ grund getreten. Das Berühren von Kelch und Hostien durch die Laien, welches noch 1522 von Beteiligten und auswärtigen Beobachtern mindestens ebenso wie das Abendmahl unter beiderlei Gestalt als Merkmal der „Evangelischen“ galt, wurde hingegen nicht mehr erwähnt. Wie schon die Formula Missae enthielt auch die Deutsche Messe die Anweisung, dass man das Abendmahl „reyche und gebe“, dieses also nicht von den Gläubigen selbst „genommen“ werden sollte. Doch auch die Abgrenzung gegen die altgläubigen Kräfte in Wittenberg, na‑ mentlich gegen die liturgische Praxis am Allerheiligenstift, wurde in der Deut‑ schen Messe weiter fortgeführt. So standen die zahlreichen, pflichtmäßig ab‑ solvierten Gesänge, das „Loren und Drohnen“, der zahlreichen liturgischen Stiftungen an Schloss‑ und Pfarrkirche schon seit 1518 im Mittelpunkt der re‑ formatorischen Kritik, da sie eine innere geistige Anteilnahme eher verhinder‑ ten denn beförderten. Als eine der ersten Maßnahmen waren daher die täglichen Gottesdienste in der Pfarrkirche erstens im evangelischen Sinne verändert und zweitens auf zwei tägliche Gebetszeiten begrenzt worden. Noch weiter einge‑ schränkt wurden sie nun in der Deutschen Messe, wo es heißt, es sollte an Wo‑ chentagen morgens und am Samstag zur Vesper je eine deutsche Lektion gehal‑ ten werden, bei der „Metten, Vespern, Psalmen, Lieder und das Magnificat“ ge‑ sungen werden.89 Ab 1526 sollte demnach nur noch ein einziger Gottesdienst am Tag in der schon 1522 eingeführten reformatorischen Form gehalten werden. Auch in der sonntäglichen Messe selbst wurden die liturgischen Gesänge weiter reduziert, um eine höhere Aufmerksamkeit und innere Anteilnahme der Gemeinde zu erzielen. So sollte das Kyrie nur noch dreimal anstatt wie bislang 88 Zur Bedeutung und Tradition des Abendmahls unter beiderlei Gestalt auch oben, S. 157 f. 89 Luther: „Deutsche Messe“, S. 112.
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IV. Landesherrliche Reformation
neunmal gesungen und das Gloria vollständig ausgelassen werden.90 Eine der auffälligsten Neuerungen ist, dass die Deutsche Messe zwar ein vollständig ge‑ sungener Gottesdienst war, jedoch ohne einen Chor auskam. Die gekürzten und musikalisch an die deutsche Sprache angepassten litur‑ gischen Gesänge wurden wechselnd von dem Liturgen (dem Pfarrer oder ei‑ nem Hilfsgeistlichen) und der Gemeinde gesungen.91 Luther stellte für viele Be‑ standteile der Liturgie (Introitus, Kyrie, Zwischengesang, Credo und Commu‑ nio), die in der traditionellen Messe vom Priester gesungen wurden, mehrere deutsche Gemeindelieder zur Auswahl, teilweise Übersetzungen lateinischer Lieder, teilweise eigene Dichtungen. Durch das gemeinsame Singen von Luther‑ liedern wurde die Gemeinde in die Ausführung der Liturgie mit eingebun‑ den, was wiederum die Aufmerksamkeit des Einzelnen, aber auch die gemein‑ schaftsstiftende Dimension verstärkte. Dies wird besonders in der Veränderung des Glaubensbekenntnisses deutlich, denn hier wurde das bislang vom Pries‑ ter gesungene „symbolum nicaeum“ durch Luthers Gemeindelied „Wir glau‑ ben all an einen Gott“ ersetzt. Die Forschung hat die gemeinschafts‑ und grup‑ penbildende Funktion gerade des gemeinsamen Singens im Luthertum heraus‑ gestellt.92 Dies kann für die Deutsche Messe in besonderem Maße gelten, da die hier ausgewählten Lutherlieder, besonders das Glaubensbekenntnis, zugleich einen gemeinschaftlichen Bekenntnisakt des neuen Glaubens bedeuteten. Insgesamt ist damit auch in der Deutschen Messe noch der oben für die Litur‑ gieveränderungen in Wittenberg herausgearbeitete Grundsatz zu erkennen, die soziale Funktion der Ceremonien möglichst weitgehend beizubehalten und sie im evangelischen Verständnis umzudeuten. So wurden möglichst viele Abläufe beibehalten, damit der Gottesdienst für die Gemeinde weiterhin als „Messe“ erkennbar war. Ebenso orientierten sich die täglichen Gottesdienste weiterhin an den Gebetszeiten der Messe und Vesper, wurden jedoch noch weiter redu‑ ziert. Doch waren die Veränderungen nun ungleich radikaler und machten in vielen Punkten deutlich, dass sich der Charakter der Messe vollständig von der ursprünglichen Opfer‑ und Schaumesse hin zur gemeinschaftlichen Abend‑ mahlsfeier und der Wortverkündigung in Predigt, Liedern und Gebeten gewen‑ det hatte. Mit dem Gemeindegesang und dem veränderten Abendmahlsteil wa‑ ren nun die Modifikationen auch für einen theologisch unkundigen Beobach‑ ter leicht zu erkennen. Dies ist in Luthers Argumentation folgerichtig, denn das Wort war nun schon mehrere Jahre lang gepredigt worden, was die Veränderun‑ gen für die Menschen verständlich machte. Zudem sollte die Deutsche Messe ausdrücklich den örtlichen Gegebenheiten angepasst werden, falls die dortige Bevölkerung noch nicht genügend vorbereitet war. 90 Vgl.
Luther: „Deutsche Messe“, S. 95. Schultz: Luthers liturgische Reformen, S. 260. Siehe auch die Gegenüberstellung bei Boes: Die reformatorischen Gottesdienste, S. 2–20. 92 Vgl. Karant‑Nunn: Reformation of Ritual, S. 196. 91 Vgl.
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Politisch und sozial wünschenswert wurde eine solche Veränderung, weil die evangelischen Veränderungen nun die Konfession des Fürsten darstellten. Mit der aktiven Unterstützung des neuen Bekenntnisses durch Johann den Bestän‑ digen war nun nicht mehr zu befürchten, dass die gemeinschaftliche Zurschau‑ stellung der Veränderungen die Autorität des Fürsten schwächte. Vielmehr ge‑ schahen diese auf seinen Befehl und stärkten durch einheitliche Ceremonien im gesamten Territorium die Gemeinschaft der Untertanen. Diese wurden so auf den Landesherrn, zugleich aber auch auf die Wittenberger Universität und auf Luther zentriert, dessen Gesänge und Gebete, wie schon beim Begräbnis des Kurfürsten, nun jeden Sonntag im gesamten Land erklangen.
2.3. Die Praxis der Deutschen Messe in Wittenberg ab 1526 Allerdings verlief die Einführung der Deutschen Messe in der Praxis langsam und das Territorium war trotz der landesweiten Maßnahmen des Kurfürsten noch weit entfernt von einem einheitlichen Gottesdienst. Die Akten der zwi‑ schen 1527 und 1533 durchgeführten ersten landesweiten Visitationen zeigen ein buntes Bild der unterschiedlichen Praktiken in den einzelnen Pfarreien des Landes, das bereits in mehreren Studien erforscht wurde.93 Auch in Wittenberg selbst wurde der Gottesdienst nicht nach der Deutschen Messe gehalten. Bugenhagen prägte hier vielmehr eine Form, die sich eher nach der Formula Missae richtete und auch von beiden Arten unabhängige Besonder‑ heiten aufwies.94 Rückschlüsse auf die Wittenberger Praxis lassen sich vor allem aus der Kirchenordnung für Wittenberg ziehen, welche in den ersten landes‑ weiten Visitationen 1528 und 1533 erstellt wurde. Wittenberg wurde im Rah‑ men der ersten kursächsischen Visitationen zweimal aufgesucht, wobei die 1528 begonnene Visitation wegen der Pest zunächst wieder abgebrochen wurde. Für die Stadt und das Amt Wittenberg ist aus diesen beiden ersten Visitationen nur ein einziges, gemeinsames Ergebnisprotokoll erhalten.95 Wie Karl Pallas gezeigt hat, lag diesem Dokument die bei der Visitation 1528 entstandene Ordnung zu‑ grunde, in die 1533 einige Änderungen eingetragen wurden.96 Es handelte sich 93 Vgl. zuletzt Heiko Jadatz: Die evangelischen Kirchenvisitationen in Sachsen 1524– 1540, in: Cecile Hollberg/Harald Marx (Hgg.): Glaube und Macht. Katalog zur zwei‑ ten Sächsischen Landesaustellung Torgau, Schloss Hartenfels, Dresden 2004, S. 70–79; Krum w iede: Entstehung, S. 71–91; grundlegend: Carl August Hugo Burkhardt: Kir‑ chen‑ und Schulvisitationen, Leipzig 1879. 94 Vgl. Johannes Bergsma: Die Reform der Messliturgie durch Johannes Bugenhagen (1485–1558), Hildesheim 1966, S. 92–97. Bergsma druckt jedoch nur die Deutsche Messe und die Visitationsordnung von 1533 unkommentiert ab. 95 „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die ver ordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band I. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32. 96 Vgl. Pallas (Hg.): Registraturen, Band I., allgemeiner Teil, S. 200. Pallas erklärt die
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IV. Landesherrliche Reformation
hierbei jedoch weniger um ein Protokoll, welches Befragungen oder praktische Probleme in Einzelheiten schilderte, wie aus anderen Visitationsprotokollen be‑ kannt. Das Schriftstück hat vielmehr die Gestalt einer Kirchenordnung, es stellt eine Zustandsbeschreibung dar und nennt an einigen Stellen von den Visitato‑ ren vorgenommene Korrekturen. Die hier enthaltene Beschreibung der gottesdienstlichen Praxis in Witten‑ berg gibt also den schon 1528 festgestellten Zustand wieder und zeigt in vielen Punkten, dass der Gottesdienst in Wittenberg sich tatsächlich eher an der For‑ mula Missae als an der Deutschen Messe orientierte. Augenfällig ist dies schon in der Sprache, denn die 1533 dargestellte Gottesdienstform beinhaltete deut‑ sche und lateinische Elemente. Besonders bei den Liedern wurden häufig so‑ wohl eine lateinische wie auch eine deutsche Fassung vorgeschlagen oder beide nebeneinander gestellt.97 Dies ist aus den praktischen Bedürfnissen der Univer‑ sitätsstadt Wittenberg zu erklären, die häufig von ausländischen Gelehrten be‑ sucht wurde, welche den sächsischen Dialekt nicht verstanden hätten. In diesem Sinne hatte auch Luther selbst bereits im Vorwort der Deutschen Messe emp‑ fohlen, auch die lateinische Ordnung der Formula Missae, weiterhin im Ge‑ brauch zu lassen, da diese aufgrund des „uns gemeinen Lateins“ die Möglich‑ keit der Evangeliumsverkündung über die Grenzen einer Region hinaus bot.98 Schon hier erklärte er, sie in Wittenberg beibehalten zu wollen, da sie beson‑ ders für die Bildung der Jugend nützlich sei.99 Dies wurde in der Ordnung der Visitatoren noch einmal bestätigt, die konstatierte „Deutsch sollen die schu ler nicht singen, on allein wenn das volk mitsingt“.100 Die lateinische Sprache wurde demnach wohl häufiger auch im Gemeindegottesdienst verwendet, als in der Deutschen Messe vorgesehen. Darüber hinaus findet sich jedoch auch die Reform des Abendmahlsteils, welche für die Deutsche Messe entscheidend war, in der Beschreibung der Wit‑ tenberger Praxis durch die Visitatoren kaum wieder.101 Die Ermahnung vor dem Abendmahl war nicht übernommen worden. Allerdings hatte Luther in Wit‑ tenberg selbst schon 1523 die Praxis des „Abendmahlsverhörs“ eingeführt, wo‑ bei einzelne Kommunikanten über ihr Verständnis des Glaubens Auskunft ge‑ Entstehung des gemeinsamen Dokumentes so, dass dem Schreiber, der 1533 die Visitation zusammenfassen sollte, das Protokoll von 1528 vorlag, in welches er die Ergebnisse von 1533 mit hinein korrigiert, vgl. ebd., S. 201. 97 Vgl. Ordnung der Visitatoren, S. 8 f., zum Beispiel beim Introitus: „danach einen introi tum, zu zeiten lateinisch, zu zeiten deutsch, welches soll sein ein deutscher psalm […] nach der predigt singet man da pacem lateinisch und deutsch“. 98 Vgl. Luther: „Deutsche Messe“, S. 74. 99 Ebd. 100 „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die ver ordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band I. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32, hier S. 10. 101 Ebd., S. 7.
2. Die Deutsche Messe
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ben mussten, so dass eine Kommunionansprache hier möglicherweise weniger notwendig erschien.102 Auch die getrennte Verteilung von Brot und Wein findet sich in der von den Visitatoren festgehaltenen Ordnung nicht mehr.103 Für Wit‑ tenberg lässt darüber hinaus der Vergleich mit der Braunschweiger Kirchenord‑ nung, die Bugenhagen dort 1528 eingeführt hatte, auf dessen starken Einfluss als Wittenberger Stadtpfarrer schließen.104 Vollständig aus der Deutschen Messe übernommen worden war hingegen die Gestaltung der täglichen Gottesdienste, die in der Ordnung der Visitatoren in Anlehnung an die Vorschläge der Deut‑ schen Messe noch mit genaueren Angaben ausgestaltet worden war.105 Probleme, die sich bei der Umsetzung der Deutschen Messe ergeben hatten, können aus dem Visitationsbericht nur indirekt erschlossen werden. So verord‑ neten die Visitatoren, der Küster sollte bei den Gemeindeliedern „darunden bei den leuten auch helfen singen“.106 Ebenso sollte der Diakon die Bauern ermah‑ nen, dass sie „mit iren kindern und gesinde vleissig und recht singen lernen“, was beides auf das später auch von Luther beklagte Problem hindeutet, dass die Wit‑ tenberger sich kaum an das gemeinsame Singen gewöhnten und die neuen deut‑ schen Lieder schlecht lernten.107 Vermutlich ist dies auch der Grund, warum die deutschen Gemeindelieder nur teilweise zum Einsatz kamen und viele Teile der Messe wiederum lateinisch von einem Chor gesungen wurden. Auf diese Weise sollte der Übergang erleichtert werden, bis die Menschen die Lieder tatsächlich lernten, wie die folgende Hilfestellung erkennen lässt, welche die Visitatoren für das in Luthers deutscher Fassung gemeinsam zu singende „te deum laudamus“ vorsahen: Ein „schuelgeselle“ (vermutlich eine Art Hilfslehrer) sollte, wenn nö‑ tig mit weiteren Knaben, auf dem Schülerstuhl mitten in der Kirche sitzen und beim Singen helfen, „bis das volk sich gewenet, solch te deum mitzusingen“.108 Weiterhin finden sich schon hier Hinweise auf Probleme der Kommunions‑ praxis, welche Luther ebenfalls in den späteren Predigten häufig beklagte. Die Vorstellung der Messe als eine gemeinsame, regelmäßige Feier des Abendmahls 102 Die Einführung eines solchen Verhöres kündigte Luther in der Predigt am Gründon‑ nerstag am 2. April 1523 an, vgl. WA 12, S. 476–493, hier S. 479–484. Dieses Abendmahlsver‑ hör wurde ebenfalls in die allgemeinen Visitationsartikel übernommen, vgl. Sehling: Kir‑ chenordnungen, Bd. I, S. 192. (allgemeine Visitationsartikel). 103 Vgl. „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die verordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band I. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32, hier S. 10. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die verordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band I. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32, S. 3. 106 Ebd. 107 Zitat ebd. Zu Luthers späteren Klagen in Predigten vgl. Brecht: Luther, Bd. 2, S. 252. 108 „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die ver ordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band I. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32, hier S. 10 f.
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setzte sich offensichtlich nur sehr bedingt durch. Dies führte auch zu organi‑ satorischen Problemen, denen die Visitatoren zu begegnen versuchten, indem für alle vier Osterfeiertage, am „gueten mittwoch, grün Donnerstag, charfreitag und Oster abendt“, zwei tägliche Predigten und bei Bedarf auch Messen ange‑ setzt wurden.109 Auch sollte der Pfarrer an diesen Tagen durch die Diakone un‑ terstützt werden, die morgens vor der Messe und abends nach der Vesper in der Kirche den Menschen die Beichte abnahmen.110 Ebenfalls auf einen regen An‑ drang zum Sakrament an bestimmten Tagen lässt ein Eintrag in den Witten‑ berger Kämmereirechnungen von 1529 schließen: Der Rat hatte beim Kannen‑ gießer zehn neue „kendlein“ bestellt, die man „uff dem altare gebrauchtt in der kirchen wan vill communicanten seyn“.111 Ebenfalls wurden zwei „fleschlein und schusselchen“ in Auftrag gegebene, welche für die Krankenkommunion ge‑ braucht wurden.112 Wie die Lutherforschung gezeigt hat, geriet Luther in seiner Wittenberger Predigttätigkeit ab 1530 in eine persönliche Krise, er beklagte sich in Predigten über die schlechte Aufnahme der Messe und darüber, dass die Menschen kein Interesse mehr an den Sakramenten zeigten und nicht zum Abendmahl gingen. Anfang des Jahres 1530 stellte er sogar eine Zeit lang seine Predigten in Witten‑ berg vollständig ein.113 Auch kurz vor Ostern 1531, als er seine Predigertätig‑ keit nach dem Aufenthalt auf der Veste Coburg wieder aufgenommen hatte, be‑ klagte er sich wiederum darüber, dass die Menschen an den Ostertagen zum Abendmahl drängten, jedoch das ganze Jahr fernblieben.114 Hier sah er wie‑ derum einen Rückfall in das „fleischliche“ Nehmen des Sakramentes, welches ohne die rechte innere Überzeugung geschah.115 Während diese Klagen Luthers über die Gemeinde aus den Jahren 1530 und 1531 noch nicht anhand anderer Quellen überprüft werden können, existieren ab 1533 Aufzeichnungen über die Anzahl von Kommunikanten an jedem Sonn‑ tag in der Wittenberger Pfarrkirche. Diese finden sich in einem mit „Weynbuch“ überschriebenen Dokument im Wittenberger Pfarrkirchenarchiv.116 Vergleicht man die Angaben zu den einzelnen Sonntagen in diesem Buch über die nächs‑ 109
Ebd., S. 4 f. Ebd., S. 5. 111 StAW, KR 1529, Bl. 101r Rubrik „Ausgabe von wegen der Pfarrkirche“: „6 gr. vor zehn offel kendlein dem newen kannengiesser gegeben so man uff dem altare gebrauchtt in der kir chen wan vill communicanten seyn“. 112 Ebd. „wenzel kannengiesser vor 2 fleschlein und schusselchen geben so die caplan zu den kranken gebrauchen wen sie derselbigen commonicieren“. 113 Vgl. zuerst: Paul Glaue: Der predigtmüde Luther, in: Luther 11 (1929), S. 86–81; Brecht: Luther, Bd. 2, S. 280–285. 114 „Predigt am Mittwoch nach Palmarum“, nachmittags, 5. April 1531, in: WA 34 I, S. 189–199, bes. S. 189 f. und S. 199. 115 Ebd., S. 199. 116 Archiv der Pfarrkirche Wittenberg, Signatur AI 569: „Verzeichnis der Communikan ten und des Verbrauchten Weins ab 1533“. Der Zweck dieser Dokumentation wird nicht deut‑ 110
2. Die Deutsche Messe
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ten zehn Jahre hinweg, so wird deutlich, dass sich das Verhalten der Wittenber‑ ger auch in diesem Zeitraum nicht änderte. An den Osterfeiertagen (Ostersams‑ tag, ‑sonntag, ‑montag und ‑dienstag) zählte man teilweise über dreihundert Kommunikanten am Tag, während an anderen Sonntagen jeweils nur etwa ein‑ hundert Kommunikanten verzeichnet wurden, teilweise auch noch weniger.117 Offensichtlich stand die Zahl der Kommunikanten auch nicht in direktem Zu‑ sammenhang mit einer allgemein höheren Anzahl von Gottesdienstbesuchern an Feiertagen, denn etwa an den Weihnachtsfeiertagen wurden nicht besonders viele Kommunikanten verzeichnet. Das Wittenberger „Weynbuch“ bestätigt damit die schon in der Visitation und in den Predigten Luthers angesprochene Tendenz der Wittenberger, wei‑ terhin das Abendmahl hauptsächlich an den Osterfeiertagen zu nehmen. Doch lassen die absoluten Zahlen dieses Kommunikantenverzeichnisses Luthers Kla‑ gen in anderen Relationen erscheinen, als dies vor den impliziten Maßstäben des modernen Lesers üblicherweise geschieht: Auch wenn an den vier Ostertagen insgesamt fast 2000 Menschen das Abendmahl nahmen, so waren es an den an‑ deren Sonntagen noch immer etwa 100 Menschen, was für eine Stadt von der Größe Wittenbergs dennoch als beachtliche Zahl erscheint. Möglich ist zwar auch, dass die insgesamt recht hohe Anzahl von Kommuni‑ kanten ab 1533 als Erfolg der Mahnungen Luthers und der Visitatoren zu wer‑ ten ist. Doch bleibt die deutliche Tendenz, dass der überwiegende Teil der Wit‑ tenberger hauptsächlich, möglicherweise sogar ausschließlich, an Ostern das Sakrament nahm, auch in den folgenden zehn Jahren bestehen. Damit erscheint es plausibel, dass die Zahlen auch in den vorherigen Jahren ähnliche waren und die Klagen Luthers mit seinen hohen Erwartungen gegenüber den Wittenber‑ gern zu erklären sind. Insgesamt kann damit für die Praxis des Gottesdienstes in Wittenberg fest‑ gestellt werden, dass diese in den Jahren nach 1526 in einer Mischung aus der Deutschen Messe und der Formula Missae bestand und dabei einerseits von praktischen Problemen der Umsetzbarkeit und andererseits von den örtlichen Gegebenheiten Wittenbergs geprägt war. Zu ersterem gehören einerseits die Schwierigkeiten mit der Wittenberger Gemeinde beim Lernen der Lieder und der neuen Abendmahlspraxis, welche die Umsetzung der deutschen Gemeinde‑ messe als gemeinsame Mahlfeier erschwerten. Zu den örtlichen Gegebenheiten, welche die gottesdienstliche Praxis präg‑ ten, gehörte besonders die Tatsache, dass Wittenberg im Gegensatz zu vielen anderen Orten über eine Lateinschule und eine Universität verfügte und da‑ her häufig von auswärtigen Gelehrten besucht wurde. Einer dieser Gelehrten lich, doch ist aufgrund der Jahreszahl zu vermuten, dass sie auf Initiative der Visitatoren entstand. 117 Vgl. ebd. (unfoliiert)
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IV. Landesherrliche Reformation
war der Augsburger Geistliche Wolfgang Musculus, der 1536 Wittenberg zu den Beratungen des dortigen Konkordienkonvents besuchte.118 Aufgrund sei‑ nes Reiseberichts wurde in der Literatur festgestellt, dass die gottesdienstliche Praxis noch eine sehr „päpstliche“ war, die man noch kaum nach reformatori‑ schen Maßstäben verändert hatte.119 Besonders auffällig erschienen Musculus die lateinische Sprache der Messe und die Gewänder der Priester, die er als „pa pisticis indutus“ beschrieb.120 Vor dem oben dargestellten Hintergrund wird je‑ doch deutlich, dass die Beobachtungen des Wolfgang Musculus nur eine Mo‑ mentaufnahme waren und die gottesdienstliche Praxis in Wittenberg weitaus vielfältiger war. Gerade die lateinische Sprache wurde offensichtlich flexibel eingesetzt, so dass zu vermuten ist, dass Musculus hier einen Gottesdienst er‑ lebte, der gerade für die auswärtigen Gelehrten wie ihn selbst, die zum Kon‑ kordienkonvent in die Stadt gekommen waren, in großen Teilen in lateinischer Sprache gehalten wurde. Die Ordnung der Visitatoren begann, vor allen Einzelheiten über die Messe in der Stadt, mit einer grundsätzlichen Feststellung über die Bedeutung der Stadt Wittenberg in dem neuen landesherrlichen Kirchenwesen. Die Visitato‑ ren gaben Wittenberg den Rang als „hauptstadt in der chur zu Sachssen“, die darüber hinaus über eine Universität verfüge, „doraus durch gottes gnade das heilige evangelium in dieser letzten zeit revelirt“.121 Damit wurde eine Neube‑ wertung der sakralen Dignität der Stadt festgeschrieben. Die Autorität Witten‑ bergs als „Hauptstadt“ des Kurfürstentums als Ort der Wahrheit und des Heils, welche die Stadt schon in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts unter Friedrich dem Weisen besessen hatte, bezog sich nun unter Johann dem Beständigen nicht mehr auf den Gnadenschatz des Wittenberger Heiltums, sondern auf das neu entdeckte Evangelium. Die Rolle der Universität blieb nach wie vor zentral. Mit diesen besonderen Qualitäten der Stadt wurde nun in dem Visitationsbericht die Rolle der Stadt als „Metropolis“ begründet, deren Pfarrer die Aufsicht über alle anderen Kirchen im Kurfürstentum diesseits der Elbe führen sollte.122 Auch wenn Wittenberg unter Johann dem Beständigen zwar als kurfürstliche Resi‑ 118 Das Itinerar des Wolfgang Musculus (1536), ediert in: Theodor Kolde (Hg.): Ana‑ lecta Lutherana, Briefe und Actenstücke zur Geschichte Luthers. Zugleich ein Supplement zu den bisherigen Sammlungen seines Briefwechsels, Gotha 1883, S. 216–230. Die Wittenberg betreffenden Bemerkungen finden sich auf S. 220. Vgl. zu dieser Quelle allgemein Henning Reinhardt (Hg.): Das Itinerar des Wolfgang Musculus (1536), in: Archiv für Reformations‑ geschichte 67 (2006), S. 28–82. 119 Vgl. Bieritz: Lutherischer Gottesdienst, S. 86; Boes: Die reformatorischen Gottes‑ dienste, S. 11. 120 Itinerar des Wolfgang Musculus, in: Kolde (Hg.): Analecta, S. 220. 121 „Ordination der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die ver ordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Band I. Teil 1: Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna, S. 1–32, hier S. 2. 122 Ebd.
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denz an politischer Bedeutung verlor, so blieb es doch das Zentrum des Heils und Zentrum der Wahrheit im Kurfürstentum, denn ebenso wie in der Stadt kam es nach dem Tod Friedrichs des Weisen auch in der kurfürstlichen Herr‑ scherrepräsentation zu einer konfessionellen Umdeutung: Der christliche Fürst wurde zum Fürsten der Reformation, seine Residenz Wittenberg zur Stadt des wiederentdeckten Evangeliums. Dieser Prozess des Übergangs und der Umdeu‑ tung wird im Folgenden zunächst anhand des Begräbnisses Friedrichs des Wei‑ sen, welches eine gewisse Scharnierfunktion hatte, und schließlich anhand der Abschaffung des Wittenberger Heiltums untersucht.
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3. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen als Übergangsritus im doppelten Sinne Johann der Beständige befand sich als Nachfolger Friedrichs des Weisen und Förderer der Reformation im Frühjahr 1525 in einer denkbar ungünstigen Lage. Gilt die Zeit nach dem Tod eines Herrschers aufgrund des entstehen‑ den Machtvakuums schon grundsätzlich als kritisch für Land und Herrscher, so wurde dies 1525 durch die aktuelle Bedrohungssituation des Bauernkrie‑ ges noch deutlich verschärft.123 Für Johann den Beständigen erschien es daher umso stärker notwendig, seinen dynastischen Nachfolgeanspruch als legitimer Herrscher des Territoriums zu verdeutlichen. Dazu galt es, eine Kontinuität der fürstlichen Herrschaft zu inszenieren und den neuen Herrscher als legiti‑ men und geradezu natürlichen Nachfolger des verstorbenen Kurfürsten zu prä‑ sentieren.124 Besonders problematisch für eine solche Kontinuität war nun die Frage der Religion. Gerade in seiner Residenzstadt Wittenberg hatte Friedrich der Weise sein Selbstverständnis als christlicher Herrscher des Landes mit den umfang‑ reichen Stiftungen der Schlosskirche und nicht zuletzt dem bedeutsamen Wit‑ tenberger Heiltum demonstriert. Die aktive Unterstützung der Reformation, die schnelle Abwicklung des Wittenberger Allerheiligenstifts und des Heiltums durch Johann den Beständigen bedeuteten also einen Bruch mit einer wichtigen Säule der kurfürstlichen Selbstinszenierung und standen damit der notwendi‑ gen Darstellung von Kontinuität der Herrschaft über den Tod des alten Kur‑ fürsten hinaus entgegen.
123 Vgl. zur politischen Situation nach dem Herrschertod allgemein: Günther Schulz‑Bourmer: Der Tod an der Schwelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, in: Lothar Kolmer (Hg.): Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalter‑ licher Herrscher, Paderborn u.a. 1997, S. 361–372, hier S. 362. 124 Vgl. Otto Gerhard Oexle: Memoria als Kultur (Vorwort), in: Ders. (Hg.): Me‑ moria als Kultur, Göttingen 1995, S. 9–78; zum spätmittelalterlichen Reichsfürstenstand in vergleichender Perspektive: Cornell Babendererde: Sterben, Tod und liturgisches Ge‑ dächtnis bei weltlichen Reichsfürsten des Spätmittelalters, Ostfildern 2006; zum konfessio‑ nellen Zeitalter: Alexandra‑Kathrin Stanislaw‑Kemenah: Zur Dienstwartung bei der Churfürstlich-Sächsischen Begengnus zukomen: Repräsentation fürstlicher Macht in den Be‑ gräbnissen Herzog Albrechts (1501) und Kurfürst Augusts (1586) von Sachsen, in: Barbara Marx (Hg.): Kunst und Repräsentation am Dresdner Hof, München 2005, S. 72–96.
3. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen als Übergangsritus im doppelten Sinne
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Es galt daher, einen Übergangsritus zu schaffen, welcher den Übergang der kurfürstlichen Herrschaft von Friedrich auf Johann vor den Wittenbergern und den gesamten sächsischen Untertanen als eine möglichst hohe Kontinuität dar‑ stellte. Einen solchen Übergangsritus bildete das Begräbnis Friedrichs des Wei‑ sen, das am 10. und 11. Mai 1525 in Wittenberg stattfand und damit zugleich das erste Herrscherbegräbnis nach reformatorischem Ritus war.125 Als doppel‑ ter Übergangsritus diente es nicht nur zum Abschied von dem alten Kurfürs‑ ten, sondern markierte zugleich in vielen Einzelheiten des Begräbnisrituals den Übergang der Herrschaft auf den neuen Kurfürsten. Neben fürstlicher Herr‑ schaft und dynastischer Nachfolge musste mit diesen Ritualen so auch eine ge‑ meinsame konfessionelle Identität demonstriert und legitimiert werden. Da Friedrich der Weise jedoch persönlich wie politisch keineswegs ein überzeug‑ ter Anhänger der reformatorischen Lehre war,126 musste er posthum zum Fürs‑ 125 Vgl. dazu ausführlicher, unter der Fragestellung nach dem Gebrauch von Symbolik in Krisenzeiten: Natalie Krentz: Reformation und Herrschaftsrepräsentation. Das Begräb‑ nis Friedrichs des Weisen, Kurfürst von Sachsen (1525), in: Elizabeth Harding/Natalie Krentz (Hgg.): Symbolik in Zeiten von Krise und gesellschaftlichem Umbruch. Vormo‑ derne Ordnung im Wandel, Münster 2011, S. 115–130. Darüber hinaus wurde das Begräbnis in der Forschung bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen angesprochen, wobei eine historisch‑kritische Betrachtung bislang fehlt. Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 481 f. gibt den Wortlaut des Berichtes Spalatins unkommentiert wieder. Ebenfalls auf dieser Quellen‑ grundlage wurde das Ereignis im Zusammenhang mit der Geschichte der reformatorischen Begräbnisse kurz erwähnt: Craig Koslofsky: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany 1450–1700, New York 2000; ebenso im Zusammenhang mit der Totenmemoria spätmittelalterlicher Reichsfürsten vgl. Babendererde: Sterben, Tod, liturgisches Gedächtnis, S. 207; im Zusammenhang mit der Residenz Torgau vgl. Johann Christian Anton Bürger: Friedrich Joseph Grulich’s Denkwürdigkeiten der altsäch‑ sischen kurfürstlichen Residenz Torgau aus der Zeit und zur Geschichte der Reformation, nebst Anhängen und Lithographien, Torgau 21855. Im Gegensatz zu dem hier thematisierten Begräbniszeremoniell wurde das Grabmal des Kurfürsten in der Schlosskirche bereits aus‑ führlicher untersucht, vgl. Naima Ghermani: Die Grabmäler der sächsischen Kurfürsten in Wittenberg (1527/1533). Das Grabmal als Zeichen konfessioneller Identität, in: Carolin Behrmann/Arne Karsten/Philipp Zitzlsperger (Hgg.): Grab – Kult – Memoria. Stu‑ dien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 276–290, hier S. 279; Dies.: Le prince et son portrait. Incarner le pouvoir dans l’Allemagne du XVIe siècle, Rennes 2009. 126 Nach Spalatins historischem Werk „Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte“ empfing der Kurfürst auf dem Totenbett das Abendmahl unter beiderlei Gestalt: „Darnach empfingen auch Ihre Chf. Gnaden das hochwürdige Sacrament des wahren Leibs und Bluts unsers lieben Herrn und Heilands vermöge seiner heiligen Einsatzung ganz und gar in beider Gestalt mit solcher Andacht, Ernst und Innigkeit, daß wir alle weinten, soviel unser darbei waren.“ Georg Spalatin: Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte, hg. von Chris‑ tian Gotthold Neudecker und Ludwig Preller, Jena 1851, S. 65. Spalatin war als Hof‑ geistlicher in der Todesstunde des Kurfürsten anwesend. Vgl. dazu auch Ludolphy: Fried‑ rich der Weise, S. 483. Ob das Abendmahl sub utraque hier als ein bewusstes Bekenntnis zur evangelischen Lehre zu bewerten ist, lässt sich nicht entscheiden, da weitere Quellen fehlen. Vgl. zu den Kontroversen um die religiösen Überzeugungen Friedrichs des Weisen insgesamt auch oben, S. 328 f.
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IV. Landesherrliche Reformation
ten der Reformation gemacht werden, so dass Johann ihm in dieser Politik fol‑ gen konnte. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete bereits die Gestaltung sei‑ nes Begräbnisses. Um dies zu zeigen, werden die Ceremonien des Begräbnisses in drei Schritten zu untersucht: Zunächst wird die Planung durch den Hof und die Reformatoren näher betrachtet. In einem zweiten Schritt ist nach der Um‑ setzung dieser Pläne zu fragen, wobei besonders auch die Wirkung auf die An‑ wesenden berücksichtigt werden soll. Schließlich wird in einem dritten Schritt die nachträgliche Interpretation und Überlieferung untersucht.
2.1. Noch einmal zum Nutzen religiöser Ceremonien: Die Theologen planen das Begräbnis Die Planung des Begräbnisses oblag von Seiten des Hofes Georg Spalatin, der hier angesichts der beschriebenen Situation mit großer Sorgfalt vorging. Die Grundlagen seiner Planung bildeten die Traditionen der Wettiner und die An‑ weisungen im Testament des verstorbenen Kurfürsten, der den Wunsch nach einem möglichst einfachen Begräbnis geäußert hatte.127 Auf dieser Grundlage hatte Spalatin ein Formular mit der bislang üblichen Abfolge der fürstlichen Be‑ gräbnisse ausgearbeitet, welches er an Luther und Melanchthon in Wittenberg sandte, sowie an Gabriel Zwilling, der zu diesem Zeitpunkt Pfarrer von Torgau war, wo der erste Teil der Trauerfeierlichkeiten stattfinden sollte.128 Die Refor‑ matoren sollten nun diesen Ceremonien „ein christliche Aenderung zu fassen“, und „was unchristlich oder zu Äergernus angesehen, dasselb abzutun.“129 Sie er‑ hielten also explizit den Auftrag, ein Begräbnis im reformatorischen Sinne zu gestalten. Bemerkenswert ist, dass Spalatin wie selbstverständlich die Witten‑ berger Theologen, nämlich Luther, Melanchthon und Gabriel Zwilling zur Un‑ terstützung heranzog. Die Gelehrten der Wittenberger Universität waren so auch über die Grenzen der Stadt hinaus zu „Ceremonienmeistern“ der Refor‑ mation und damit neuerdings auch des Hofes geworden. Die Theologen orientierten sich in ihren Antwortschreiben eng an den Vor‑ gaben Spalatins und kommentierten diese jeweils Punkt für Punkt.130 Die Än‑ 127 Bereits 1495 hatte der Kurfürst, bevor er zu einer Pilgerreise ins Heilige Land auf‑ brach, die Einzelheiten zur Gestaltung seines Begräbnisses in einem Testament festgehalten. Die hier verfügte Form eines Pilgerbegräbnisses veränderte er jedoch nach seiner Rückkehr in einem neuen Testament von 1517 vollständig. Da sich in der letzten Version des Testamen‑ tes, die der Kurfürst kurz vor seinem Tod aufsetzte, keine Anweisungen zu seinem Begräb‑ nis finden, musste sich Spalatin nach dem Testament von 1517 richten. Vgl. Babendererde: Sterben, Tod, liturgisches Gedächtnis, S. 207. 128 Vgl. Spalatin an Luther und Melanchthon, kurz vor dem 7. Mai 1525, in: WA Br. 3, S. 487. 129 Ebd. 130 Offensichtlich hatten Luther und Melanchthon ein gemeinsames Gutachten verfasst, welches Luther an Spalatin sendete, vgl. Luther an Spalatin, 7. Mai 1525, in: WA Br. 3, S. 486–
3. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen als Übergangsritus im doppelten Sinne
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derungswünsche der Reformatoren lassen insgesamt die Grundsätze erken‑ nen, welche auch den vorangegangenen Gottesdienstreformen in Wittenberg zugrunde lagen. Beide Gutachten wollten alle Elemente streichen, die auf ein fürbittendes Verhältnis zwischen Lebenden und Toten hinwiesen, also Vigi‑ lien, Seelenmessen und Totengebete.131 Den Teilnehmern der Trauerfeierlich‑ keiten sollte auf diese Weise deutlich vor Augen geführt werden, dass durch Werke der Lebenden kein Einfluss auf das Schicksal der Toten genommen wer‑ den konnte.132 Wie auch bei den vorherigen gottesdienstlichen Reformen wurden die nun entfallenden liturgischen Elemente durch Predigten ersetzt, von denen eine am Vorabend und eine weitere am Morgen unmittelbar vor der Bestattung gehalten werden sollte. Luther schlug darüber hinaus eine lateinische Leichenrede Me‑ lanchthons vor.133 Mit den Predigten sollte die Gemeinde gleichzeitig getröstet wie auch mahnend an den eigenen Tod und die Vergänglichkeit des Lebens er‑ innert werden134. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich beide Gutachten bemühten, möglichst wenig in den traditionellen Ablauf des Geschehens einzugreifen. Dies entspricht den Prinzipien, nach denen die ersten Reformen in Wittenberg 1523 durchge‑ führt worden waren. Während Luther innerhalb Wittenbergs, etwa gegenüber dem Allerheiligenstift, inzwischen deutlich schärfere Forderungen stellte, so standen die Reformen für den Hof und das gesamte Territorium noch am An‑ fang. Es bedurfte daher auch hier eines sorgfältig gestalteten Übergangs, der ei‑ nerseits den reformatorischen Anteil deutlich werden ließ, zugleich aber das 489. Zwilling schickte ein eigenes Gutachten, vgl. Gabriel Zwillings Gutachten an Spalatin, ca. 7. Mai 1525, ediert in: Enders (Hg.): Luthers Briefwechsel, Bd. 5, S. 168–170. Während Zwilling seine Änderungsvorschläge in einem ausformulierten Schreiben Punkt für Punkt darlegte, schrieb Luther dagegen seine Kommentare, meist ein „placet“ oder „non placet“, direkt in den Text Spalatins. 131 Ebd., S. 488: „Item, wann der Leichnam an den Ort bracht wirdet, da er liegen soll, dass man das Vigilig sing – non placet“; „Item, dass ein Bischof oder großer Prälat Mess halte – non placet“; „Item ob eine Meß von der Zeit sollt und möcht bestellt werden, ob Communi canten vorhanden wären? Oder ob die Meß sollt unterlassen werden? Non placet, cum alioqui cantant horas.“ Gabriel Zwilling schrieb dazu: „Vigil und Licht lasse man außen, sonderlich die Vigil“ und weiter: „Es halt weder Bischof noch Prälat Messe; alle Messen lasse man anste hen, will man Gott nicht erzürnen“, Gabriel Zwillings Gutachten an Spalatin, ca. 7. Mai 1525, S. 169, Z. 10–11 und Z. 19–21. 132 Zum Thema der Trennung von Lebenden und Toten in der reformatorische Theologie vgl. ausführlich: Koslofsky: Reformation of the Dead, S. 34–39. 133 „potest vesperi latina funebris haberi, quam habebit Philipus“, Luther an Spalatin, 7. Mai 1525, in: WA Br. 3, S. 486–489, hier S. 488. 134 So explizit Zwilling: „Daß man aber predigt auf den Abend, das Volk des Tods zu er innern, und zu biten, daß Gott ihrem zukunftigen Herrn seinen Geist gebe und nach Gottes Willen regiere, ist wohl than“; „Die Morgenpredigt, ehe man den Leichnam begräbt, ist gut“, Gabriel Zwillings Gutachten an Spalatin, ca. 7. Mai 1525, gedruckt in: Enders (Hg.): Luthers Briefwechsel, Bd. 5, S. 168–170, hier S. 169, Z. 11–15 und Z. 17–18.
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IV. Landesherrliche Reformation
traditionelle Begräbniszeremoniell der wettinischen Fürsten in seinem äußeren Ablauf bewahrte. So wollten Luther und auch Zwilling zwar das nächtliche Sin‑ gen und Beten bei der aufgebahrten Leiche streichen, da es sich dabei eindeu‑ tig um Fürbitten und gute Werke für das Seelenheil des Toten handelte, die To‑ tenwache als solche aber beibehalten. Der Körper des Kurfürsten sollte über Nacht in der Kirche aufgebahrt und beleuchtet werden, allerdings ohne die Vi‑ gilien singen zu lassen.135 In diesen Punkten waren sich die beiden Reformato‑ ren vollkommen einig. Da die Positionen Luthers und Zwillings auch insgesamt ähnlich und häufig sogar identisch erscheinen, verwundert die in der Forschung vertretene These, Zwilling habe im Gegensatz zu Luther einen „radikaleren“ Standpunkt vertre‑ ten, indem er ein besonders schlichtes Begräbnis vorschlug und auf weltliche Herrschaftsrepräsentation verzichtete.136 Daher sollen die beiden Gutachten im Folgenden auf Grundlage der in den vorherigen Kapiteln angestellten Überle‑ gungen zu den Kennzeichen „radikaler“ und „gemäßigter“ Ceremonien mitein‑ ander verglichen werden. Zunächst fällt vor dem Hintergrund der genannten Forschungsthese auf, dass Zwilling kein einziges Element der Herrschaftsrepräsentation ablehnte, welchem Luther zustimmte. Er befürwortete sowohl den Trauerzug als auch das Läuten der Glocken, das Anbringen von Wappen in der Kirche, die Spende für die Armen und das Aufstellen von Kerzen. Einige wenige herrschaftsreprä‑ sentative Elemente wurden von beiden Reformatoren abgelehnt, wie etwa das Umrunden des Altars mit mitgeführten Hengsten und das Opfern von Waffen in der Kirche. Luther bezeichnete diese Praktiken als „ridiculum spectaculum“ und „barbara“.137 Wie bei spätmittelalterlichen Begräbnissen üblich, sollten die Pferde mit kostbaren Decken und Turnierausrüstung versehen, zusammen mit den Waffen des Verstorbenen im Trauerzug mitgeführt und anschließend im „Opfergang“ um den Altar der Kirche vermacht werden138. Dass die Reforma‑ toren dieses ablehnten, erscheint im Sinne des neuen theologischen Verständnis‑ ses von Sterben und Tod nur folgerichtig, denn das Überlassen der Pferde und Waffen an die Kirche entsprach in seiner Bedeutung den übrigen geistlichen Stiftungen, welche dem Seelenheil des Verstorbenen dienen sollten. In allen übrigen Punkten betont Zwilling sogar mehrfach, dass diese ru‑ hig bestehen bleiben könnten. Über Spalatins Vorgaben hinaus macht er so‑ gar Vorschläge zur Gestaltung des Trauerzuges: Vorangehen sollten singende Schüler, Adelige sollten den Sarg tragen, anschließend sollte das Hofgesinde 135
Vgl. Luther an Spalatin, 7. Mai 1525, in: WA Br. 3, S. 486–489, hier S. 488.
136 Vgl. Ludolphy: Friedrich der Weise, S. 485; Koslofky: Death, S. 38; Bürger: Denk‑
würdigkeiten, S. 13. 137 Luther an Spalatin, 7. Mai 1525, in: WA Br. 3, S. 486–489, hier S. 488, Z. 31–34. 138 Diese Praxis beschreibt anhand spätmittelalterlicher Fürstenbegräbnisse ausführlich Babendererde: Sterben, Tod, liturgisches Gedächtnis, S. 150.
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und schließlich das gemeine Volk folgen139. Eine solche Ordnung des Trauerzu‑ ges nach gesellschaftlichen Gruppen, wie sie schließlich auch umgesetzt wurde, kann durch die hierin enthaltene Darstellung der gesellschaftlichen Ordnung mit dem Fürsten an ihrer Spitze als eines der stärksten Elemente der Herr‑ schaftsrepräsentation gesehen werden, die bei Begräbnissen üblich waren. Von einer „radikalen“ Version Zwillings mit der Abschaffung aller herrschaftsreprä‑ sentativen Elemente kann also nicht die Rede sein. Der Unterschied zwischen den Positionen der Reformatoren muss demnach ein anderer sein. Während Luther sowohl den Trauerzug wie auch das Glocken‑ geläut in den Dörfern und das Entgegenkommen des Volkes vorbehaltlos mit ei‑ nem „placet“ beschied, äußerte sich Zwilling hier gleichgültig mit Kommenta‑ ren wie „schadet nicht“ oder „ist nichts dran gelegen“. Dieser Unterschied ist sig‑ nifikant für den Tenor der beiden Gutachten und hat im Folgenden noch weitere Entsprechungen. Deutlich häufiger als Luther, der allein die Frage, ob nachts bei der Leiche ein Licht brennen sollte, als „adiaphoron“ bezeichnete140, äußerte Zwilling sich indifferent gegenüber einzelnen rituellen Handlungen. Es scheint, als wollte er sich nur dort dezidiert zustimmend oder ablehnend äußern, wo ihm das aus Glaubensgründen unbedingt notwendig erschien. Dieses Vorge‑ hen steht ganz im Gegensatz zu dem Luthers, der Spalatins Vorgaben Punkt für Punkt sehr entschieden mit „placet“ und „non placet“ beurteilte. Dieses ist zu‑ nächst mit dem unterschiedlichen Selbstverständnis der Reformatoren erklär‑ bar: Während Zwilling wohl eher zufällig um Rat gefragt wurde, sah Luther sich schon hier ganz in der Rolle des „Wittenberger Ceremonienmeisters“, der mit großer Sicherheit beurteilen konnte und musste, welche Ceremonien für ein Begräbnis im Sinne der Reformation angemessen waren und welche nicht. Darüber hinaus zeigt dieser Vergleich jedoch auch grundsätzlichere Unter‑ schiede in den Positionen der Reformatoren. Auffällig an Zwillings Gutach‑ ten ist ein deutlich sarkastischer Tonfall, mit dem er seine Indifferenz in eini‑ gen Fragen betonte. Für die Einzelheiten des Zeremoniells zeigte er wenig Ver‑ ständnis, wollte sie aber bestehen lassen, solange sie nicht der reformatorischen Lehre widersprachen. So kommentierte er etwa die Vorgabe Spalatins, dass auf Kosten des Hofes gekleidete Arme in der Kirche mit Lichtern an der aufgebahr‑ ten Leiche stehen sollten mit den Worten: „Arme Leut kleiden ist gut, ob sie gleich auch mit Lichten umb die Bahr stehen“141. Noch knapper reagierte er auf Spalatins Frage nach der Spende: „Spend ist gut, wenn man gleich noch lebet“.142
139 Vgl. Gabriel Zwillings Gutachten an Spalatin, ca. 7. Mai 1525, ediert in: Enders (Hg.): Luthers Briefwechsel, Bd. 5, S. 168–170, hier S. 196, Z. 40–43. 140 Luther an Spalatin, 7. Mai 1525, in: WA Br. 3, S. 486–489, hier S. 488, Z. 16. 141 Gabriel Zwillings Gutachten an Spalatin, ca. 7. Mai 1525, ediert in: Enders (Hg.): Luthers Briefwechsel, Bd. 5, S. 168–170, hier S. 169, Z. 17–18. 142 Ebd., Z. 36.
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IV. Landesherrliche Reformation
Zwillings Gutachten ist demnach nicht in dem Sinne radikaler, dass er ein be‑ sonders schlichtes Begräbnis forderte und bestimmte herrschaftsrepräsentative Zeichen und Gesten ablehnte, es brachte aber seine Geringschätzung diesen ge‑ genüber überdeutlich zum Ausdruck. Eben darin liegt die Radikalität von Zwil‑ lings Position, in der eine Trennung der „bloßen Ceremonien“ als leere Gesten von den eigentlichen „wesentlichen“ Glaubensfragen deutlich wird.143 Luther war sich dagegen der gesellschaftlichen Bedeutung der Ceremonien sowohl für die territoriale Herrschaft als auch für sein Werk als Reformator bereits zu die‑ sem Zeitpunkt vollständig bewusst und handelte ganz in seiner Rolle als „Ce‑ remonienmeister“ der Reformation. Diesen Unterschied zwischen einer „radi‑ kalen“ und einer „gemäßigt‑reformatorischen“ Veränderung der Ceremonien hatte Spalatin bereits 1523 im Zusammenhang mit den städtischen Reformen in Wittenberg herausgestellt.144 Die Ceremonien als solche waren wertvoll, ihre soziale Bedeutung war nicht zu unterschätzen. Wollte man sie im reformato‑ rischen Sinne verändern, so musste man zunächst etwas Anderes an ihre Stelle setzen. Diese Wertschätzung der sozialen Bedeutung der Ceremonien durch Luther und Melanchthon, die Spalatin bereits damals herausgestellt hatte, er‑ wies sich nun in der Situation von Bauernkrieg und Herrscherwechsel als ent‑ scheidender Vorteil. Eben durch die Verknüpfung von herrschaftsrepräsenta‑ tiver und reformatorischer Symbolik, der Verbindung von Reformation und territorialer Herrschaft, konnte Luthers reformatorische Botschaft zu einem obrigkeitlich gebilligten und legitimen Bekenntnis werden.
3.2. Religiöse Ceremonien und Landesherrschaft: Die Beisetzung Friedrichs des Weisen in Wittenberg Die praktische Umsetzung der Pläne Luthers ist durch einen Bericht Spala‑ tins in vielen Einzelheiten bekannt.145 Die Begräbnisfeierlichkeiten, so berich‑ tet Spalatin, dauerten insgesamt zwei Tage. Da der Kurfürst in seinem Schloss Lochau im heutigen Annaburg verstorben war, das ca. 30 km südwestlich von Wittenberg liegt, musste er zunächst nach Wittenberg überführt werden. Dies geschah in einer Prozession, welche in den Dörfern und Städten unterwegs mit 143
Vgl. dazu auch Stollberg‑Rilinger: Magie der Promotion, S. 273–296. Vgl. oben, S. 271–275. 145 Spalatin hatte diesen Bericht unmittelbar nach dem Begräbnis für den Bruder des Ver‑ storbenen, den nachfolgenden Kurfürsten Johann von Sachsen verfasst, der sich wegen des Bauernkrieges in Thüringen aufhielt. Georg Spalatin: „Eigenhändige Nachricht, wie Kur fürst Friedrich der Weise nach vorher eingeholtem Rat Lutheri und Melanchthonis 1525 Mitt woch und Donnerstag nach Jubilate zu Wittenberg begraben worden ist, 1525“, ediert in: Johann E. Kapp: Kleine Nachlese einiger, größten Teils noch ungedruckter und sonder‑ lich zur Erläuterung der Reformations-Geschichte nützlicher Urkunden, Bd. 2, Leipzig 1727, S. 671–674 (T hHStA Weimar, Reg D 475/476, Bl. 9–12; Bl. 14–18). 144
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Lutherliedern empfangen wurde.146 In Wittenberg wurde der Zug durch Rei‑ ter empfangen, während die Wittenberger selbst sich in der Pfarrkirche ver‑ sammelt hatten, um sich dort einzureihen und so gemeinsam in die Wittenber‑ ger Schlosskirche einzuziehen, wo der Kurfürst schließlich begraben werden sollte. Der Leichnam wurde in der Mitte der Kirche platziert und von 20 Män‑ nern in „Leidkleidern“ mit brennenden Fackeln umrahmt. Hier wurde der erste Gottesdienst mit der lateinischen Leichenrede Melanchthons und der deutschen Predigt Luthers gehalten. Die lateinischen und deutschen Psalmen und Lieder wurden teilweise von Stiftsangehörigen und Schülern, teilweise von der gesam‑ ten Gemeinde gesungen. Wie von den Reformatoren vorgeschlagen, blieb der Leichnam über Nacht in der Kirche, wo er beleuchtet und bewacht wurde, auf die traditionellen Fürbittengebete und Gesänge bei der Totenwache verzich‑ tete man. Am 11. Mai versammelten sich die Wittenberger um sieben Uhr mor‑ gens erneut in der Stiftskirche zum Begräbnisgottesdienst, wiederum mit latei‑ nischen und deutschen Gesängen, und der zweiten Predigt Luthers. Anschlie‑ ßend wurde der Leichnam in den Chor der Kirche gebracht und dort begraben. Diese Beschreibung der Begräbnisfeierlichkeiten zeigt zunächst, dass die Vorschläge der Reformatoren vollständig berücksichtigt wurden. Darüber hinaus kam das gemeinsame Grundanliegen Luthers und des Hofes, nämlich die Verknüpfung von protestantischer Identität und fürstlicher Herrschaftsre‑ präsentation, in der Ausführung der Ceremonien auch in weiteren Einzelhei‑ ten zum Ausdruck. Beginnend mit dem Trauerzug wurde der fürstliche Herr‑ schaftsanspruch den Einwohnern der kursächsischen Dörfer und Städte viel‑ fach vor Augen geführt. Dies gilt bereits für die Ordnung des Trauerzuges als solche, welche die Ordnung der ständischen Gesellschaft mit dem Kurfürsten an ihrer Spitze manifestierte, was angesichts der nahen Bauernaufstände beson‑ ders notwendig erschien. Spalatin beschreibt den Trauerzug beim Einzug in die Wittenberger Schlosskirche wie folgt: Die Spitze bildeten 56 Schüler und Stifts‑ personen, die für die liturgischen Gesänge zuständig waren. Ihnen folgten acht Adelige, die den Sarg trugen.147 Ihrem adeligen Stand entsprechend waren sie in nächster Nähe zum Körper des verstorbenen Fürsten platziert. Ein weite‑ res soziales Distinktionsmerkmal stellte die Trauerkleidung dar: Die Adeligen trugen Trauermäntel und Hüte mit schwarzen, seidenen Zipfeln.148 Als Reprä‑ sentanten der unteren gesellschaftlichen Gruppen gingen neben dem Sarg 20 Arme, die vom Hof mit schwarzer Trauerkleidung ausgestattet worden waren und brennende Fackeln trugen. Zwillings Sarkasmus hatte diesem Element of‑ fensichtlich nicht geschadet. Dem Sarg folgten im Trauerzug weitere sächsische 146 Vgl.
Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 668–669. Graf von Barby, die Ritter Hans Edler von der Planitz und Hans von Minck‑ witz sowie die Herren Run Rabil, Christoph Groß, Friedrich Brandt, George von Hulda und Mathes Loser. 148 Vgl. Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 669. 147 Der
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Adelige und Vertraute des Kurfürsten.149 Danach kamen weitere im Dienste des Hofes stehende Adelige und schließlich die übrigen Landadeligen. Auch die Bürger und Einwohner Wittenbergs hatten sich dem Zug in einer festen Ord‑ nung angeschlossen. Nach Spalatins Bericht waren dies zunächst die Angehöri‑ gen der Universität, ihnen folgte der Rat, dann die Gemeinde. Den Schluss des Zuges bildeten schließlich die „Weiber und Jungfrauen“ und wiederum berit‑ tene Wachen.150 Die Spitze der Ordnung des Trauerzuges bildete der Körper des Kurfürs‑ ten, dessen Sarg deutlich sichtbar auf einer Bahre mitgeführt wurde und damit als Verkörperung der territorialen Herrschaft präsent war.151 Der Körper des Kurfürsten wurde auf diese Weise von Lochau über die Orte Jessen152 und Els‑ ter153 bis nach Wittenberg getragen. Neben der praktischen Aufgabe der Über‑ führung der Leiche kann dieses als ein Akt der symbolischen Darstellung der Herrschaftsansprüche der Dynastie über das Territorium gedeutet werden, zu‑ mal der Trauerzug hier eine Strecke von über dreißig Kilometern im Kurfürs‑ tentum Sachsen zurücklegte.154 Bei diesem Begräbnis wurde mit dem Trauerzug darüber hinaus die Herr‑ schaft über ein dezidiert reformatorisches Territorium durch einen Fürsten der Reformation inszeniert. Dazu wurden auch die Einwohner des Territoriums einbezogen. Vor dem Schloss in Lochau wurde die Prozession von den Einwoh‑ nern des Ortes mit dem Gesang von Lutherliedern empfangen.155 In den Städten und Dörfern, die der Trauerzug durchquerte, wurden die Glocken geläutet und auch hier kamen ihm die Einwohner mit dem Gesang von Lutherliedern entge‑ gen. Der Alltag in den Dörfern und Städten wurde unterbrochen und der be‑ sondere Charakter der Situation war allgemein wahrnehmbar. Auch während des Gottesdienstes am Vortag und der Beisetzung des Kurfürsten am folgen‑ den Tag wurde eine Auswahl lateinischer und deutscher Lieder gesungen, da‑ runter erneut viele Lutherlieder.156 Die gemeinschaftsstiftende Funktion des ge‑ 149 Diese waren Hans von Dolzig und Bernhard von Hirsfeld, sowie der 14-jährige Her‑ zog Franz zu Braunschweig und Lüneburg, der als nächster Verwandter des Kurfürsten an den Trauerfeierlichkeiten teilnahm. 150 Vgl. Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 669. 151 In Anlehnung an Kantorowicz’ These der zwei Körper wird die Mitführung der Lei‑ che des Herrschers im Trauerzug vielfach als Akt der Staatsverkörperung gedeutet. Vgl. im Bezug auf Fürstenbegräbnisse dieser Zeit Stanislaw‑Kemenah: Zur Dienstwartung, S. 79. 152 Jessen an der Elster, ca. 23 km südöstlich von Wittenberg. 153 Elster an der Elbe, ca. 15 km südöstlich von Wittenberg. 154 Besonders wichtig erscheint dieser Aspekt der körperlichen Präsenz und Sichtbarkeit für die Untertanen vor dem Hintergrund der auf dem Personenverband begründeten spät‑ mittelalterlichen Gesellschaftsordnung, an dessen Spitze auf Territorialebene der Kurfürst als Person stand. Der Tod des Herrschers stellte damit die Gesellschaftsordnung als Ganzes viel grundsätzlicher in Frage als dieses in strukturell differenzierten Gesellschaften der Fall ist. 155 Vgl. Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 668. 156 Spalatin nennt als Lieder am ersten Tag: „Si bona suscepimus“, „Aus tiefer Not“, latei‑
3. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen als Übergangsritus im doppelten Sinne
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meinsamen Singens, die Luther wenig später mit der Einführung der Deutschen Messe im Gottesdienst fest verankern wollte, wurde hier schon vorweggenom‑ men. Die Einwohner der kursächsischen Städte und Dörfer manifestierten hier zugleich ihre Identität als Untertanen des Kurfürsten, dem sie mit ihrer Teil‑ nahme am Trauerzug und ihrem Gesang die letzte Ehre erwiesen, wie auch ihre Zugehörigkeit zur lutherischen Reformation. Protestantische Identität und ter‑ ritoriale Herrschaft waren hier untrennbar miteinander verbunden. Dieses Prinzip ist auch in weiteren Elementen des Begräbnisses zu beobach‑ ten. Auf die Kontinuität des Herrschaftsanspruches der Dynastie über den Tod des verstorbenen Kurfürsten hinaus verwiesen die vielfach eingesetzten Wap‑ pen der Wettiner. Spalatins Bericht nach waren sowohl auf dem Sarg selbst als auch auf dem Tuch, das den Sarg bedeckte, Wappen des Kurfürsten ange‑ bracht.157 Luther hatte dem Schmuck des Sarges und der Kirche durch Wap‑ pen vorbehaltlos zugestimmt, während Zwilling sich auch hier indifferent äu‑ ßerte. Luther, der viele andere traditionelle herrschaftsrepräsentative Zeichen während des Trauergottesdienstes, wie das Opfern von Waffen und das Um‑ runden des Altars mit Pferden, durchaus abgelehnt hatte, erkannte offensicht‑ lich die Bedeutsamkeit der Wappen für die Repräsentation dynastischer Kon‑ tinuität. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen hatte hier Vorbildcharakter und begründete eine protestantische Tradition: Auch bei späteren protestantischen Herrscherbegräbnissen waren die Wappen der Territorien des Herrschers der einzige zugelassene Schmuck für Sarg und Kirche.158 Die so mühelos erscheinende Einbeziehung der Untertanen war von Spala‑ tin im Voraus sorgfältig geplant worden: In Wittenberg wurden sowohl der Rat der Stadt wie auch die Universität über den Tod des Kurfürsten informiert und aufgefordert, mit den Bürgern der Stadt bzw. den Studenten an dem Begräb‑ nis teilzunehmen.159 Der Trauerzug, die Gottesdienste und die Spende von drei Groschen, die jeder Bürger nach der Beisetzung erhielt, waren morgens in der Deutschen Lektion im Stift und in den Frühgottesdiensten der Pfarrkirche an‑ gekündigt worden.160 Zusätzlich ließ man zwischen 11 und 12 Uhr kurz vor der nisch und deutsch „Media Vita“ bzw. „Mitten im Leben“ „Wir glauben all an einen Gott“ und während der Bestattung am zweiten Tag „Si bona suscepimus“, „Aus tiefer Not“, „Wir glauben all an einen Gott“ und „Gott sei gelobt und gebenedeit“, vgl. Spalatin: Eigenhändige Nach richt, S. 671 und S. 674. Später nahm Luther die hier gesungenen Titel in seine Sammlung der Begräbnislieder von 1542 auf, welche als eine der seltenen liturgischen Vorgaben Luthers für protestantische Begräbnisse als Vorbild vieler späterer Kirchenordnungen diente, vgl. Mar‑ tin Luther: „Vorrede zu der Sammlung der Begräbnislieder“, WA 35, S. 478–482. 157 Vgl. Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 669. 158 So z.B. beim Begräbnis August von Sachsens, vgl. Stanislaw‑Kemenah: Zur Dienst‑ wartung, S. 84. 159 Vgl. die Räte des Kurfürsten an den Rat der Stadt Wittenberg, 7. Mai 1525, StAW, Ko‑ pialbuch 16 Bc 6, Bl. 429r+v. 160 Vgl. Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 671.
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Ankunft des Trauerzuges und am zweiten Tag früh um sieben Uhr vor Beginn des Gottesdienstes die Glocke in der Pfarrkirche läuten, um die Menschen zu‑ sammenzurufen. Bürger und Studenten versammelten sich in der Pfarrkirche, um sich später in die Prozession einzureihen. Spalatin hatte dies so geplant, um ein zu großes Gedränge zu verhindern. Es fällt insgesamt auf, dass er offensichtlich Unruhen erwartet hatte, denn er be‑ tonte mehrfach in seinem Bericht, dass alles ruhig blieb. Aus diesem Grund waren auch an verschieden Stellen bewaffnete Wächter eingesetzt worden161. Während die Einwohner Wittenbergs und der umliegenden Dörfer durch pas‑ sives Zuschauen als zustimmende Kulisse der kurfürstlichen Machtdemon stration dienten und diese Zustimmung durch aktive Beteiligung, etwa mit dem Singen von Liedern oder dem Mitlaufen im Trauerzug, noch verstärkt wurde, hätte eine Störung oder sogar Tumulte während der Begräbniszeremonien ge‑ nau den gegenteiligen Effekt gehabt. Durch einen solchen Zwischenfall wäre gerade die Fragilität der kurfürstlichen Herrschaftsposition und damit die Le‑ gitimierungsbedürftigkeit der dynastischen Nachfolge augenfällig geworden, was schließlich den Zusammenhalt der Gesellschaftsordnung des Territoriums mit dem Fürsten an ihrer Spitze in Frage gestellt hätte. Spalatin wusste, dass ein solcher Effekt unbedingt zu vermeiden war und hatte daher die notwendigen Vorkehrungen getroffen. Die Wittenberger selbst verhielten sich nach Spalatins Worten nicht nur ru‑ hig, sondern sogar vorbildlich. Dreieinhalb tausend Menschen waren demnach zu dem Begräbnis gekommen.162 Vorbildlich war jedoch nicht nur die Anzahl der Teilnehmer, sondern auch ihr Verhalten: Es sei an beiden Tagen „viel Folck, vnd mit betruebten gemuten, wie wol zu mercken, vorhanden gewest.“163 Da‑ mit schreibt Spalatin den Wittenbergern genau den Gemütszustand der „ruhi‑ gen Trauer“ zu, den Luther in seinen Predigten bei dem Begräbnis und später auch in anderen Schriften als angemessen für einen evangelischen Christen be‑ schrieb.164 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass der Bericht auch als ein Teil protestantischer Traditionsbildung gelesen werden muss. Spalatins Wahr‑ nehmung der Wittenberger war geprägt von den Ausführungen Luthers in sei‑ ner Predigt, die auch wenig später im Druck erschien, und zudem von seinem 161 Vgl.
ebd. „vnd seynd ob dritthalb tausend menschen da gewesen“, Spalatin: Eigenhändige Nachricht, S. 674. Die Zahl Dreienhalbtausend erscheint sehr hoch angesichts der Einwoh‑ nerzahl von Wittenberg, die auf ca. 2000 geschätzt wird. Möglicherweise waren auch Ein‑ wohner der umliegenden Dörfer nach Wittenberg gekommen. Allerdings bezieht Spalatin sich hier auf die Anzahl derer, welche nach der Beisetzung die ausgegebene Spende annah‑ men. Möglicherweise waren nicht alle diese Menschen auch beim Begräbnis selbst und Spala‑ tin nennt bewusst das Ereignis mit der größten Beteiligung. 163 Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 673. 164 So am ausführlichsten in der „Vorrede zu der Sammlung der Begräbnislieder“ von 1542, in: WA 35, S. 478–483. 162
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Wunsch, mit seiner Beschreibung ein protestantisches Musterbegräbnis abzu‑ bilden. Besonders deutlich wird die Verbindung von reformatorischer Identitätsstif‑ tung und politischer Herrschaftsrepräsentation schließlich in der Zusammen‑ stellung aus den Predigten Luthers einerseits und der lateinischen Leichenrede Melanchthons andererseits. Während Luther in seinen Predigten hauptsächlich Grundgedanken der reformatorischen Theologie thematisierte, übernahm Me‑ lanchthon mit seiner lateinischen „Rede gen der Leich“ das Herrscherlob im Stil der humanistischen „laudatio funebris“. Luther predigte in beiden Gottesdiens‑ ten in der Schlosskirche über die Verse 13–18 im vierten Kapitel des ersten Thes‑ salonicherbriefs.165 Ursprünglich hatte Spalatin der Tradition entsprechend vor‑ geschlagen, „dass ein Bischof oder großer Prälat Meß halte“. Luther hatte dieses mit einem „non placet“ beschieden und sich damit selbst an die Stelle des hohen Geistlichen gesetzt.166 Die Kirche sollte nun nicht mehr durch Repräsentanten des altgläubigen Klerus vertreten werden, sondern durch die Wittenberger Re‑ formatoren mit Luther als ihrem höchsten Vertreter. Zentrales Anliegen der Predigten war die Vermittlung des reformatorischen Verständnisses von Tod und Sterben, jedoch nicht ohne dabei den Tod des Kur‑ fürsten auch politisch zu deuten. Doch zunächst erläuterte Luther die adäquate Haltung eines Trauernden: Man dürfe die Toten zwar beweinen, im Gegen‑ satz zu den übermäßigen Gefühlsausbrüchen der Heiden solle die Trauer eines Christen jedoch maßvoll sein.167 Die Wittenberger Gemeinde sprach Luther als eine Gemeinschaft wahrer Christen an, als „ir, die jr andere gedancken, hertz und sinn habet“168 in Abgrenzung von Heiden und auch von Altgläubigen, den „werckheiligen, die eusserlich ein erbar leben fueren“169. Diese Identitätszu‑ schreibung an die Wittenberger hatte Spalatin in seinem Bericht, wie oben ge‑ zeigt, mit dem Hinweis auf die ruhige Trauer der Menschen wiederum über‑ nommen. Auf Friedrich den Weisen selbst nahm Luther dagegen eher kurz Be‑ zug, indem er ihn als Fürst des Friedens darstellte, dessen Tod ein Vorzeichen für die drohende Strafe Gottes sei. An diese Deutung schloss Luther die Mah‑ nung an die Wittenberger an „auff das wyr uns demuetigen, bessern, erschrecken und das Euangelion annemen“ und mahnte zur Achtung der Obrigkeit.170 Den Kurfürst selbst nahm er jedoch von dieser Kritik aus und stellte ihn damit im‑ plizit in den Dienst der Reformation. Das Herrscherlob, das Luther hier spen‑
165 „Zwo predigt uber der Leich des Kurfürsten Herzogen Friderichs zu Sachsen anno 1525, in: WA 17 I, S. 196–227. 166 Luther an Spalatin, in: WA Br. 3, S. 488. 167 Vgl. ebd., S. 197–199. 168 Predigt am 10. Mai, in: WA 17 I, S. 204, Z. 22–23. 169 Predigt am 10. Mai, in: WA 17 I, S. 211, Z. 37. 170 Predigt am 10. Mai, in: WA 17 I, S. 202.
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dete, war das Lob eines gottgefälligen Herrschers, der im Sinne des neu ent‑ deckten Evangeliums gehandelt hatte: „Und dieweyl er ynn dem erkentnis des Euangelij verschieden ist, von wilches wegen er disse jar viel erliden hat, so hoffen wyr, das er ynn Christo entschlaffen sey“.171
Mit den Predigten Luthers und der Rede Melanchthons wurde den Anwesenden schon während des Begräbnisses eine Interpretation des Geschehens gegeben, welche besonders die Tugenden des verstorbenen Kurfürsten als die eines re‑ formatorisch gesinnten Herrschers und das gemeinsame Selbstverständnis der Anwesenden als wahre Christen herausstellte. Sowohl die Predigten Luthers wie auch die lateinische Leichenrede Melanchthons erschienen in mehreren Drucken und machten diese Deutungen des Geschehens zeitnah auch über Wit‑ tenberg hinaus bekannt.172
3.3. Nachträgliche Umdeutungen: Wittenberg wird zum Ort der Reformation Damit wurde die Interpretation der Ceremonien des Begräbnisses Friedrichs des Weisen schon kurz nach dem Geschehen mit ihrer Interpretation durch die Reformatoren über die Grenzen Wittenbergs hinaus bekannt gemacht. Diese Interpretation, welche das Begräbnis als ein evangelisches Musterbegräbnis des christlichen Fürsten darstellte, wurde jedoch durch nachträgliche Bedeutungs‑ zuschreibungen in der späteren Überlieferung noch verstärkt. Die „Eigenhändige Nachricht“ Spalatins, welche hier bisher als Quellen‑ grundlage diente, nutzte Spalatin später als Grundlage für das Kapitel „Wie und mit was Ceremonien dieser Kurfürst […] begraben ist worden“ seines historio‑ graphischen Werkes „Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte“.173 Ei‑ nen ersten Entwurf der letzteren Schrift hatte er bereits 1526 fertig gestellt und dem Kurprinzen Johann Friedrich vorgelegt, der dem Text Spalatins erhebliche Anmerkungen und Ergänzungen hinzufügte. Durch die Umarbeitungen und Nachträge entstanden so drei verschiedene Fassungen des Werkes von 1535, 1539 und 1540.174 Vergleicht man dieses später verfasste Buchkapitel Spalatins mit dem ursprünglichen Bericht und zusätzlich mit den ursprünglichen Vorga‑ ben im Testament des Kurfürsten, so wird ein Prozess der schrittweisen protes‑ tantischen Traditionsstiftung deutlich. Friedrich der Weise hatte bereits in beiden Testamenten von 1495 und 1517 verfügt, dass sein Begräbnis möglichst einfach und „ohne alle weltlichen Ge 171
Predigt am 11. Mai, in: WA 17 I, S. 209. Zu den Drucken der Predigten Luthers vgl. WA 17, S. XXXVII‑XXXVIII. 173 Georg Spalatin: „Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte“, hg. von Chris‑ tian Gotthold Neudecker und Ludwig Preller, Jena 1851. 174 Vgl. ebd., Einleitung der Herausgeber, S. 2. 172
3. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen als Übergangsritus im doppelten Sinne
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pränge“ ausfallen sollte. Explizit abgelehnt hatte er so das Verlesen einer Fürs‑ tenbotschaft sowie das „pferd ziehen und anderes gepreng“.175 Ein solches ein faches Begräbnis galt für einen spätmittelalterlichen Herrschern und Adeligen als Ausdruck besonderer Frömmigkeit als ebenso standesgemäß wie ein prunk‑ volles Herrscherbegräbnis.176 Die später als protestantische Reinigung von heidnischen und altgläubigen Elementen dargestellte Schlichtheit des Begräb‑ nisses entsprach also einem Wunsch des Kurfürsten, der bereits vor dem Auf‑ treten Luthers und damit unabhängig von der Reformation bestanden hatte. Noch deutlicher lässt sich die Umdeutung von ursprünglich in einem ganz anderen Kontext entstandenen Anweisungen im Sinne der Reformation bei der Wahl des Begräbnisortes beobachten: Friedrich der Weise hatte in seinem Testa‑ ment von 1517 die Schlosskirche in Wittenberg gewählt und sich damit gegen ein Begräbnis nach dynastischer Tradition in der Fürstenkapelle zu Meißen ent‑ schieden, wo seine Vorfahren begraben waren.177 Mit Wittenberg entschied sich der Kurfürst für eine seiner beiden Residenzstädte, was einer allgemeinen Ten‑ denz spätmittelalterlicher Herrscher entsprach, verbunden mit der Residenz‑ bildung eine neue dynastische Begräbnistradition zu begründen.178 Grund für die Wahl der Wittenberger Schlosskirche als Begräbnisort war jedoch nicht nur das Bestreben, Wittenberg als Residenzstadt zu etablieren, sondern vor allem auch die persönliche Frömmigkeit des Kurfürsten. So verfügte Friedrich der Weise ausdrücklich, er wolle im Chor der Schlosskirche bestattet werden. Zu‑ sätzlich zur Grabplatte sollte ein Epitaph aus Bronze mit seinem Bildnis ange‑ bracht werden, welches genau „in dem dortigen Choro auf der rechten Seiten an dem Pfeiler neben dem Gestühl des Priesters und der Ministranten“ zu platzie‑ ren sei.179 Das Bildnis sollte also genau dort angebracht werden, wo die Geist lichen es beim Lesen der gestifteten Messen am besten sehen konnten. Auf diese Weise sollte ihnen der verstorbene Kurfürst als Stifter, für dessen Seelenheil sie beteten, besonders präsent sein.180 Die Wahl des Begräbnisortes und die Plat‑ zierung des Grabes und des Wanddenkmals in der Kirche waren demnach Aus‑ druck der spätmittelalterlich‑gradualistisch geprägten Frömmigkeit des Kur‑ fürsten. Gerade aus einem Vertrauen in die Wirkung der gestifteten Vigilien, Seelmessen und Fürbittengebete der Priester des Stifts wählte er seinen Begräb‑ 175 Das Original des Testamentes befindet sich im Ernestinischen Gesamtarchiv in Wei‑ mar, Reg D. Urkunden, Nr. 675; ediert in: Christian Schöttgen/Georg Christoph Kreysig: Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober‑Sachsen, 9. und 11. Teil, Dresden/Leipzig 1733, S. 50–53. 176 Vgl. Babendererde: Sterben, Tod, liturgisches Gedächtnis, S. 37, nennt als weitere Beispiele das Testament der Erzherzogin Mechthild, Landgraf Wilhelm II. von Hessen und des Grafen von Württemberg, Eberhard Barth. 177 Vgl. Babendererde: Sterben, Tod, liturgisches Gedächtnis, S. 207. 178 Vgl. ebd. 179 Zitiert ebd., S. 207. 180 Vgl. ebd.; Ghermani: Grabmäler, hier S. 279.
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nisort in der Wittenberger Schlosskirche aus, wo sich das Wittenberger Heiltum mit seiner großen Reliquiensammlung befand. Die Wahl eben dieses Ortes bildete nun aber eine glückliche Voraussetzung dafür, ein Musterbegräbnis der Reformation zu inszenieren. Spalatin nennt die‑ sen in seinem ersten Bericht, ohne den Hintergrund des Heiltums zu erwäh‑ nen, aber auch ohne weitere Erläuterungen: Im Jahre 1525 sei das Begräbnis des Kurfürsten „hie zu Wittenberg bescheen.“181 Das Grab sei „vnder dem hohen Altar vnder den stuffen“ gemacht worden.182 In dem späteren, mehrfach über‑ arbeiteten Kapitel aus „Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte“ heißt es dagegen, der Kurfürst habe sein Begräbnis „in Aller Heiligen Stiftskirchen zu Wittenberg, als in der Stadt da der allmächtige Gott als der Vater aller Gnaden und Barmherzigkeit sein liebes werthes Gnadenwort dieser Welt wiederum hat zu ewigem Trost und Heil erscheinen lassen, gewollt“.183 Auf diese Weise stellte Spalatin seine Umdeutung im Sinne der Reformation nicht als seine eigene In‑ terpretation dar, sondern ausdrücklich als den Wunsch des Kurfürsten, der die‑ ses „gewollt“ habe. Der genaue Ort des Grabes innerhalb der Stiftskirche wurde in dieser Schrift dagegen ganz ausgelassen, weil er in diesem neuen Zusammen‑ hang keine liturgische Bedeutung mehr hatte. Das Begräbnis nahe bei dem Wit‑ tenberger Heiltum als Ausdruck spätmittelalterlicher Frömmigkeit wurde so zum reformatorischen Musterbegräbnis, das selbstverständlich in Wittenberg habe stattfinden müssen, dem Ausgangspunkt und Zentrum der Reformation.
181
Spalatin: „Eigenhändige Nachricht“, S. 668. Ebd., S. 672. 183 Spalatin: „Friedrichs des Weisen Leben und Zeitgeschichte“, S. 69. 182
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4. Ende und Umdeutung von Allerheiligenstifts und Heiltum Mit dem Bekenntnis des neuen Kurfürsten zur lutherischen Lehre erfuhr auch die sakrale Ausstattung Wittenbergs eine entscheidende Umdeutung. Anhand des Umgangs mit den Stiftungen an Schlosskirche und Allerheiligenstift und schließlich auch mit der Reliquiensammlung selbst ist im Folgenden zu zeigen, wie sich dieser Prozess der Umdeutung zwischen Hof und Stadt im Einzelnen gestaltete.
4.1. Die Reintegration der Schlosskirche in die Stadtgemeinschaft In diesem Prozess der Umdeutung spielten für die Stadt Wittenberg und die Reformatoren zunächst Schlosskirche und Allerheiligenstift eine entschei‑ dende Rolle, denn diese waren in den vergangenen Jahren zu Sinnbildern des bekämpften alten Glaubens geworden und waren jedoch zugleich von einigen Wittenbergern als Alternative zur Pfarrkirche genutzt worden. 4.1.1. Die Gottesdienstordnung des Stiftes vom 24. Dezember 1524 Am 24. Dezember 1524 wurde in der Wittenberger Schlosskirche die vorläu‑ fig letzte Gottesdienstordnung verabschiedet, welche laut ihrer Präambel von „Probst, Dechant, Canonici etc. gedachter Kirche“ verfasst worden war.184 184 „Des Capitels zu Wittenberg neue Ordnung des Gottesdienstes der Stiftskirche zu Wittenberg“, 24. Dezember 1524, gedruckt in: Johann Georg Walch: Luthers Schriften, Bd. XIX, Sp. 1196–1197. Die Ordnung bestand offensichtlich nur in diesem kurzen Schrift‑ stück. Bei der von Pallas gedruckten lateinischen Gottesdienstordnung „Ordinatio cultus Dei in arce“, handelt es sich hingegen nicht, wie es bei Pallas heißt, um die Ordnung vom 24. De‑ zember 1524. Diese zweite, lateinische Ordnung findet sich im Weimarer Archiv unter der Signatur Reg. O 226, Bl. 6–8. Auf Blatt 9 r findet sich die Überschrift „wie eß itziger Zeit mit den ceremonien der kirchen gehalten wirtt zu Wittenbergk am Tag Galli übergeben 1525“. Diese zweite Ordnung wurde also ein Dreivierteljahr später, am 16. 10. 1525, verfasst. Zu der Ordnung vom Oktober vgl. unten, S. 374. Der Text enthält Zusätze in der Handschrift des Justus Jonas ebenso wie den Zusatz von Spalatins Hand: „Disse Ordenung ist durch Pomera num und D. Jonas gestellet mit rath D. Martini.“ Zur Zuordnung der Handschrift vgl. Pal‑ las (Hg.): Urkunden, S. 114. Ein weiterer Abdruck des Textes findet sich bei Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. I, S. 698–700.
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IV. Landesherrliche Reformation
Die hier festgelegten Veränderungen waren möglich geworden, nachdem die Stiftsherren sich durch die Bannandrohung der Stadt den Reformforderun‑ gen gefügt hatten. Obwohl die Ordnung nicht lange Bestand hatte, kann sie dennoch als ein Wendepunkt der Entwicklung in Wittenberg bezeichnet wer‑ den, denn hier findet sich erstmals ein neues Deutungskonzept, welches in den folgenden Jahren entscheidend werden sollte: Stellte das Stift bis dahin in der Deutung der Reformatoren den Gegenpart des Evangeliums, den Tempel des Götzendienstes und den Teufel in den eigenen Reihen dar, so wurde es nun in die Reihen derer, die am neu entdeckten Wort Gottes teil hatten, wieder auf‑ genommen. Erstmals begründeten in der Präambel dieser Ordnung nun auch die Stiftsherren die besondere sakrale Dignität Wittenbergs nicht mehr durch den Reliquienschatz des Heiltums und die vielfältigen Ablassprivilegien und Stiftungen der Schlosskirche, sondern dadurch, dass an diesem Ort „das hei lige Evangelium erstlich wieder eröffnet“ worden war.185 Das Allerheiligen‑ stift wurde damit in die Wittenberger Stadtgemeinschaft und das Selbstver‑ ständnis der Stadt Wittenberg als Ausgangsort des Evangeliums reintegriert. Dabei wurde die Tatsache, dass die Mitglieder des Stiftskapitels „durch das Licht des heiligen göttlichen Worts, so allhier zu Wittenberg durch sonderliche Gottes Gnade aufgegangen, erkannt, dass gemeldete Missbräuche […] är gerlich und voll gräulicher Gotteslästerung seien“ als Teil des göttlichen Heils‑ wirkens in der Stadt Wittenberg dargestellt. Wie schon bisher die Stadt Wit‑ tenberg insgesamt als Vorbild für andere Städte gelten wollte, sollte nun auch der Sinneswandel der Stiftsherren vorbildhaft sein und „nicht allein an diesem Ort […], sondern auch allenthalben hin und wieder, in Stiften und Klöstern sonderlich“ Nachahmer finden.186 Aus zwei konkurrierenden Konzepten, die jeweils für sich beanspruchten, Wittenberg zu einem Ort sakraler Dignität zu machen – zum einen als Stadt des Heiltums und der Ablässe, zum anderen als Stadt des wiederentdeckten Wort Gottes – war wieder eins geworden. Über die Entstehung der Ordnung heißt es in der Präambel, sie sei mit dem Rat „et licher erwürdigen hochgelehrten Personen aus der Universität“ verfasst wor‑ den, womit erneut die Autorität der Universität in geistlichen Fragen deutlich gemacht wurde.187 Inhaltlich entsprach die Ordnung in weiten Teilen den Grundsätzen, die Luther in den vorigen Jahren über die Stundengebete und Messen entwickelt hatte, namentlich in der Schrift „Vom Gottesdienst und der Gemeinde“, die auch ausdrücklich als Referenz genannt wird.188 So wurden die Heiligen‑ feste auf schriftgemäße Heilige beschränkt, die täglichen Messen wurden ab185 „Des 186 Ebd. 187 188
Capitels zu Wittenberg neue Ordnung“.
Ebd., Sp. 1196. Ebd., Sp. 1197.
4. Ende und Umdeutung von Allerheiligenstifts und Heiltum
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geschafft, ebenso alle „kindischen Ceremonien“ wie Weihrauch, das Weihen von Salz und Wasser, aber auch Prozessionen in der Kirche. Ebenfalls Luthers früheren Vorschlägen für die Pfarrkirche entsprach, dass die täglichen „Horae Canonicae“ beibehalten wurden. Auch die sonntägliche Hochmesse – in evan‑ gelischer Form ohne den Kanon – sollte zunächst bleiben, sofern Kommuni‑ kanten vorhanden waren. Der letzte Punkt zeigt, dass auch die Stiftsherren in einigen Punkten ihre Vorstellungen durchsetzen konnten, denn die Abschaf‑ fung aller Messen, auch der sonntäglichen, war eine der zentralen Reformforde‑ rungen Bugenhagens gewesen. Die reformgegnerischen Stiftsherren waren noch immer aktiv an der Diskussion um die Ceremonien beteiligt und das Stift als solches bestand auch weiterhin. 4.1.2. Die liturgische Praxis im Laufe des Jahres 1525 Wie verschiedene Berichte aus den folgenden Monaten zeigen, erwies sich die Ordnung in der Praxis als nicht haltbar. Zum einen hatte die neue Abendmahls praxis zu Unsicherheiten der am Stift beschäftigten Priester geführt. So hatte bereits am 23. Dezember 1524, also einen Tag vor dem Erlass dieser Ordnung, der entschiedene Reformgegner Christoph Blanck, der für den kleinen Chor verantwortlich war, an den Kurfürsten geschrieben, er wolle aus Gewissens‑ gründen keine Messen mehr halten.189 Doch geschah dies keineswegs aus einer veränderten Überzeugung, denn Blanck begründete diesen Schritt mit der cha‑ otischen Praxis bei den Priestern des kleinen Chors: „So ist doch solcher ungehorsam und frevel in den bestelten personen, das einer neuerung not wer. Denn ich befinde, das etlich zuweilen einer den kelch, der ander das brot nit con secrirt noch segnet.“190
Aus diesen Gründen habe er einen Teil des Chors auch bereits entlassen und bat nun darum, der Kurfürst möge erlauben, den Gottesdienst ganz abzustel‑ len, um die Gewissen der Priester zu entlasten und eine göttliche Strafe für den unwürdigen Empfang des Brotes zu vermeiden.191 Die Reformen hatten also bei den beteiligten Personen offensichtlich nicht zu einer größeren inneren An‑ dacht geführt, sondern im Gegenteil sowohl alte wie auch neue Prinzipien außer Kraft gesetzt. Der Kurfürst versprach, dieses zu bedenken und beauftragte seinen Rat Gregor Burger, sich ein Bild über die Zustände in der Schlosskirche zu ma‑ chen.192 Burger verfasste daraufhin zwei Berichte, einen Anfang Januar, also 189 Vgl. Christoph Blanck an Friedrich den Weisen, 23. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 109–110. 190 Ebd., S. 109. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. Friedrich der Weise an Christoph Blanck, 24. Dezember 1524, in: Pallas (Hg.): Urkunden, S. 110–111.
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IV. Landesherrliche Reformation
unmittelbar nach der Einsetzung der neuen Ordnung, und einen weiteren Ende April 1525. Die beiden Berichte geben Auskunft über die liturgische Praxis und zeigen in ihrem Vergleich Entwicklungstendenzen, in denen sich der Verlauf zur abschließenden, letzten Ordnung des Stiftes bereits andeutete. Dem Bericht von Anfang Januar ist zunächst zu entnehmen, dass die Ordnung vom 24. De‑ zember tatsächlich umgesetzt wurde: Die Messe wurde in deutscher Sprache und sogar mit deutschen Liedern gehalten und zwar, wie vorgesehen, nur dann, wenn Kommunikanten vorhanden waren.193 Die Privatmessen waren also tat‑ sächlich abgeschafft worden. Ebenso wurden die Horendienste in der umgestal‑ teten Form mit Lektionen und der Vermeidung von nicht‑schriftgemäßen Hei‑ ligen wie vorgesehen weitergeführt. Nach der Auflösung des kleinen Chores nahmen die verbliebenen Mitglieder an den Horendiensten des großen Chores teil. Ebenso waren Vorhänge, Bilder, Tafeln und Leuchter entfernt worden.194 Wie geplant war von der ursprünglichen Pracht der Schlosskirche nicht mehr viel übrig geblieben. Doch war Burgers Bewertung denkbar negativ: „Ich kunde nicht wissen, wie es unordenlicher in der kirche zugen möchte“, schrieb er am 9. Januar 1525 an Friedrich den Weisen.195 Gravierende praktische Probleme sah er in der Um‑ setzung der verbliebenen Gottesdienste, also der Stundengebete mit den neuen Lektionen und Predigten: „also wan die mette gesongen und aus ist, zur predigt ader lection gelautet, auch das volk vorhanden, so ist oft in einer virtl stunde kein prediger ader leser vorhanden, das das volk, so vorhanden, vordrossen ist zu harren und geht dorober davon. Wan dan nimanz do ist, der zuhoren will, so werden die prediger auch unwillig und reden dan, was in vorkumpt.“196
Ob die beanstandeten Mängel aus Unwilligkeit des Stiftspersonals oder aus organisatorischen Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die neue Aufga‑ benverteilung resultierten, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Bemerkens‑ wert ist jedoch, dass die neuen Angebote von täglichen Lektionen und Predig‑ ten offensichtlich angenommen wurden und die Wittenberger zu diesen in die Schlosskirche kamen, während man die Stiftsherren noch wenige Wochen zu‑ vor in nächtlichen Aktionen verhöhnt und ihnen die Fenster eingeworfen hatte. Doch hatten sich schon bei den vorherigen Reformen niemals alle Wittenberger vom Stift abgewendet, was nun die Reintegration der Schlosskirche in die Ge‑ samtheit sakraler Orte der Stadt sicherlich erleichterte.
193 Vgl. Gregor Burger an Friedrich den Weisen, 9. Januar 1525, in: Pallas (Hg.): Urkun‑ den, S. 114–115. 194 Vgl. ebd., S. 115. 195 Ebd. 196 Ebd.
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Nach dem zweiten Bericht Burgers zu urteilen, bestand die Ordnung trotz der organisatorischen Probleme auch im April 1525 noch: Wie schon im Januar begonnen, waren radikal alle Schmuckgegenstände wie liturgische Gewänder, Teppiche und Vorhänge entfernt worden, ebenso auch „Lichter“, d.h. auf den enormen Verbrauch an Wachskerzen, der den Besucher Herzheimer 1519 so be‑ eindruckt hatte, wurde nun verzichtet.197 Darüber hinaus wurde aber weiter‑ hin jeden Sonntag eine Hochmesse gehalten, da an jedem Sonntag Kommuni‑ kanten vorhanden waren.198 Was hier in dem Bericht Burgers vom April nun recht positiv klingt, stellte sich jedoch in den Augen Spalatins ganz anders dar. Dessen letzte Reformschrift für das Wittenberger Stift, welche hier ebenfalls in das Frühjahr 1525 datiert werden soll, wirft ein ganz anderes Licht auf die dortige Gottesdienstpraxis.199 Nach Spalatins Beobachtung kamen die Kommunikanten, für die sonntags Messe gehalten wurde, nicht etwa aus der Gemeinde, sondern die Stiftsherren selbst wechselten sich gegenseitig mit dem Spenden und Nehmen des Sakramen‑ tes ab. Da diese Praxis nach Spalatin aber einen umso größeren Missbrauch des Sakraments darstellte, da sie nur dazu diente, die Messen aufrecht zu erhalten, sollte man nun die Gottesdienste am Stift vollständig abschaffen und auch die Stiftsherren sollten das Sakrament in der Pfarrkirche nehmen. 200 Damit griff Spalatin eine Forderung Bugenhagens wieder auf, der den Stiftsherren schon im vergangenen Jahr misstraut hatte und sie in die Abendmahlsgemeinschaft der Pfarrkirche einbinden wollte. Diese Beobachtungen Spalatins lassen jedoch gleichzeitig auch einen gewissen Erfolg der Predigten gegen das Stift vermuten, denn während dem Bericht Burgers nach zu den neuen (evangelischen) Lektio‑ nen und Predigten im Stift tatsächlich Gemeindemitglieder erschienen, blieben die Wittenberger zur sonntäglichen Gemeindemesse dem Bericht Spalatins nach
197
Vgl. oben., S. 93. Vgl. Gregor Burger an Friedrich den Weisen, 24. April 1525, in: Pallas (Hg.): Urkun‑ den, S. 119–123, hier S. 120. 199 Vgl. Georg Spalatin: „Verzeichnus, wie die Ceremonien im stift zu Wittemberg sol len geordent werden. 1525“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 1–4. Pallas (Hg.): Ur‑ kunden, S. 124–129, druckt dieses Schriftstück als „Gottesdienstordnung für die Stiftskirche vom Herbst 1525“, was jedoch aus verschiedenen Gründen zweifelhaft erscheint: Zum einen liegt eine lateinische Ordnung des Stiftes, die das Datum vom 16. Oktober 1525 trägt, an an‑ derer Stelle vor, vgl. zu dieser unten, Fn. 204. Pallas selbst druckt diese Ordnung irrtümlich als „Gottesdienstordnung für die Stiftskirche vom 24. Dezember 1524“, vgl. ebd., S. 111–114. Zum anderen sprechen inhaltliche Gesichtspunkte dafür, dieses Schriftstück Spalatins in das Frühjahr 1525 einzuordnen, denn als Beispiel für einen Gottesdienst, der in der Schlosskirche stattfinden sollte, nannte Spalatin das „churfurstlich begrebnis“, welches tatsächlich Anfang Mai 1525 hier stattfand. Daher ist davon auszugehen, dass diese Schrift entweder kurz vor dem Tod Friedrichs des Weisen oder zwischen dessen Tod und Begräbnis entstand. 200 Vgl. Spalatin: „Verzeichnus“, zitiert nach Pallas (Hg.): Urkunden, S. 124–129, hier S. 127. 198
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nunmehr in der Pfarrkirche, was die Stiftsherren zu den geschilderten Maßnah‑ men greifen ließ. 4.1.3. Die letzte Ordnung des Stifts im Oktober 1525 Die Situation veränderte sich grundlegend, als im Frühjahr 1525 Friedrich der Weise verstarb. Im Herbst 1525, also knapp ein halbes Jahr nachdem der neue Kurfürst die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, begann die letzte Phase der Geschichte des Allerheiligenstiftes. Es galt nun, die verbleibende gottes‑ dienstliche Nutzung der Schlosskirche festzulegen und die Auflösung des Stif‑ tes als Institution organisatorisch und finanziell zu ordnen. Bereits im Frühjahr 1525 hatte Spalatin Leitlinien für die Weiternutzung des Stiftes entworfen und bereits damals radikal seine Ziele formuliert: „Es ist frei lich das beste, die bebstische heuchelei nur gar auszurotten.“201 Die einzigen bei‑ den Funktionen, die er dem Stift noch zubilligte, ergaben sich aus der Funktion der Schlosskirche als Hofkirche: Sie musste für Gottesdienste zur Verfügung stehen, wenn der Kurfürst nach Wittenberg kam, wobei jedoch Bugenha‑ gen, Luther oder ein anderer Prediger aus der Pfarrkirche predigen sollten. 202 Gleichzeitig sollte das Stift weiterhin der Versorgung der verbliebenen Stifts‑ herren und der Chorsänger mit ihren Familien dienen. Doch galt dies als Über‑ gangslösung „biß so lange die person ganz abstorben“. 203 Festgelegt wurden die verbleibenden Funktionen im Einzelnen schließlich in der letzten Ordnung des Allerheiligenstiftes vom Oktober 1525.204 Die Zu‑ ständigkeit für die Festlegung der Ceremonien am Stift hatte der neue Kur‑ fürst ausdrücklich Luther, Justus Jonas und Johannes Bugenhagen überlassen. Die Stiftsherren wurden angewiesen, sich nach deren Entscheidung zu rich‑ ten. 205 Auf dem Dokument selbst heißt es schließlich „Disse ordenung ist durch 201
Spalatin: „Verzeichnus“, zitiert nach Pallas (Hg.): Urkunden, S. 124–129, hier S. 128. Hier wird Spalatins Frustration dieser Zeit deutlich, im Dienste des Hofes nichts für die Reformation bewirken zu können, was einer der Gründe war, weshalb er Anfang 1525 überlegte, seinen Dienst zu quittieren. Es war damals Luther, der ihn überredete, mit Rück‑ sicht auf den kranken Kurfürsten noch bis nach dessen Tod zu bleiben. Vgl. dazu insgesamt Höss: Spalatin, S. 269 274. 202 Vgl. Spalatin: „Verzeichnus“, zitiert nach Pallas (Hg.): Urkunden, S. 124–129, hier S. 128. 203 Ebd. 204 Vgl. „Ordinatio cultus Dei in arce“, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 226, Bl. 6–9. Auf Bl. 9r findet sich die Aufschrift: „wie eß itziger Zeit mit den ceremonien der kirchen gehal ten wirtt zu Wittenbergk am Tag Galli übergeben 1525“. Demnach ist die Ordnung auf den 16. Oktober 1525 (= Tag Galli) zu datieren. Sie wurde mehrfach gedruckt und dabei teilweise unterschiedlich eingeordnet. Sehling (Hg.): Kirchenordnungen, Bd. I., S. 689 f. datiert sie ebenfalls in den Oktober 1525; Pallas (Hg.): Urkunden, S. 111–114 druckt sie (ohne nä‑ here Begründung) unter der Überschrift „Die Gottesdienstordnung für die Stiftskirche vom 24. Dezember 1524“. 205 Vgl. Instruktion des Kurfürsten an Hans von Dolzig und Hans von Gräfendorf, zwi‑
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Pomeranum und D. Jonas gestellt mit rath D. Martini“. 206 Die Ordnung zeigt, dass man sich stark an den Vorschlägen Spalatins orientiert hatte: Da das Aller‑ heiligenstift kein Pfarrvolk hatte, sollte es dort auch keine Gottesdienste mehr geben, es sei denn, der Kurfürst käme nach Wittenberg. Die Stiftsherren selbst sollten das Sakrament „cum aliis fratribus“ in der Pfarrkirche nehmen. Damit hatte man in Reaktion auf die von Spalatin beanstandeten Probleme zuletzt auch noch die sonntägliche Messe im Stift abgeschafft. Gestärkt wurden hinge‑ gen die ohnehin von den Wittenbergern stärker frequentierten Lektionen und Predigten, für die sogar ein weiterer Prediger eingestellt werden sollte. Aus‑ führlich wurde die Ordnung der einzelnen Stundengebete nach den bereits be‑ kannten Prinzipien dargelegt, wobei hinzugefügt wurde, dass schriftgemäße lateinische Gesänge zwar bleiben durften, am besten aber Lieder „quos curavit Doctor Martinus“ zu singen waren. 207 Insgesamt zielte die Ordnung mit solchen Einzelheiten noch stärker als zu‑ vor auf eine deutlich erkennbare Wiedereingliederung des Stiftes und der Stifts‑ herren in das „evangelische Wittenberg“. Auch äußerlich sollten die Stiftsherren nicht von ihren „Brüdern“ in der Pfarrkirche zu unterscheiden sein und daher auf liturgische Kleidung verzichten: „decenti tamen licet communi vestitu con veniant“. 208 Da die Stiftsherren nun ohnehin keine Messen mehr halten sollten, war ein Verzicht auf liturgische Kleidung theoretisch unkompliziert möglich, denn diese war auch nach altgläubigem Verständnis nur für die Verwaltung der Sakramente, nicht aber für den Predigtgottesdienst vorgeschrieben. Bezeich‑ nenderweise wurde diese Regelung damit begründet, dass „ne sectae sint in ter nos, dum in parrochia communibus vestibus convenitur.“ 209 Die Praxis der Pfarrkirche, wo Luther 1524 „vestibus communis“ für den Predigtgottesdienst eingeführt hatte, war nun zur Norm der ganzen Stadt geworden, Abweichun‑ gen waren als sektiererisch zu verwerfen. 210 Obwohl Luther schon 1522 und auch noch in späteren Jahren an anderer Stelle immer wieder betont hatte, dass liturgische Kleidung zu den im Evangelium frei gestellten Dingen gehörte, fiel innerhalb Wittenbergs die soziale Funktion der Kleidung offensichtlich stär‑ ker ins Gewicht. Gerade aufgrund der Erfahrungen in den letzten Jahren wollte man verhindern, dass sich zwei verschiedene Klerikereliten gegenüberstanden und das Stift von den Wittenbergern weiterhin oder erneut als Alternative zur schen vor dem 11. Oktober 1525, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 236, Bl. 7–13, in: Friedens‑ burg (Hg): Urkundenbuch, S. 138–141. 206 Pallas (Hg.): Urkunden, S. 114. 207 „Ordinatio cultus Dei in arce“, zitiert nach Pallas (Hg.): Urkunden, S. 111. 208 Ebd., S. 113. 209 Ebd. 210 Georg Rörers hatte in der Predigtmitschrift vom 9. Oktober 1524 über Luthers neue Kleidung notiert, „primum exit veste communi“ und „Da hat er die Kappen abgelegt. Da D. Lutherus das erst mal ist on die kappen gangen […] in einem rock“, vgl. WA 15, S. 408 und S. 713.
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IV. Landesherrliche Reformation
Pfarrkirche gesehen wurde. Die Veränderung der Ceremonien war damit längst, über die anfänglichen Forderungen der theologisch als unbedingt notwendig erachteten Fragen hinaus, zur Forderung nach einheitlichen Ceremonien in der Stadt geworden. Für die Abschaffung der liturgischen Kleidung versuchte man nicht einmal mehr, theologische Argumente anzuführen, stattdessen schien die Tatsache, dass es in der Pfarrkirche so gehandhabt wurde, als Begründung aus‑ reichend. Das Ende des Stiftes und die Reintegration der Schlosskirche in die Stadt Wittenberg wurde nun durch die veränderten Ceremonien und die verän‑ derte Kleidung der Stiftsherren für die ganze Stadt sichtbar. Entsprechend no‑ tierte Spalatin in seiner Chronik zum 13. September: „Sabbato post diem S. Matthei Apostoli & Evangelistae totus Papa, ut mihi D. Justus Jonas scripsit, e templo Divinorum omnium Sanctorum Wittenbergae ejectus est. Rejectis etiam stolis sive, ut vocant, superliciis & togis lineis, mutatis prioribus caerimoniis in pias & lite ris sacris consentaneas.“211
4.1.4. Das Ende des Wittenberger Allerheiligenstifts Am 1. Dezember 1525 unterbreitete Spalatin Kurfürst Johann einige Vorschläge Luthers zur praktischen Abwicklung der Angelegenheiten des Stiftes: Der Kur‑ fürst möge die Güter aller Pfarrer, Klöster und Stifte einziehen, um damit Ka‑ pläne und Kirchendiener zu bezahlen. 212 Dass es im Amt Wittenberg tatsäch‑ lich an solchen Hilfsgeistlichen mangelte, machte auch ein Bericht des Witten‑ berger Amtmanns Hans Metsch aus dem folgenden Jahr deutlich: Da es im Amt Wittenberg nur zwei Kapläne gebe, vergingen oft vier Wochen, in denen den Bauern auf den Dörfern nicht gepredigt oder das Evangelium verkündet wür‑ de. 213 Für die Stadt Wittenberg hatten Luther und Spalatin bereits konkrete Maßnahmen geplant, wie dieses zu regeln war: Der Kurfürst sollte durch seine Räte Hans von Minckwitz und Hans von Dolzig ein Register des Einkommens der beiden Chöre der Schlosskirche verzeichnen und die entsprechenden Abga‑ ben aus den inkorporierten Dörfern fleißig eintreiben. 214 Kurfürst Johann sandte kurz darauf zwei seiner Räte nach Wittenberg, die mit dem Kapitel über die Einziehung des Stiftsvermögens und die Neuordnung der Gottesdienste verhandeln sollten. 215 Diese sollten die Kirchengüter von den 211
Spalatin: „Chronicon Sive Annales“, in: Mencke (Hg.): Scriptores Sp. 647. Spalatin an Kurfürst Johann, 1. Dezember 1525, gedruckt in: Kolde: Friedrich der Weise, S. 71. 213 Vgl. Hans Metsch an Friedrich den Weisen, 1. September 1526, in: Pallas (Hg.): Ur‑ kunden, S. 129–131, hier S. 130. 214 Vgl. Spalatin an Kurfürst Johann, 1. Dezember 1525, gedruckt in: Kolde: Friedrich der Weise, S. 71. 215 Beauftragt wurden mit der Sache Hans von Dolzig und, anders als Luther und Spala‑ tin vorgeschlagen hatten, nicht Hans von Minckwitz, sondern Hans von Gräfendorf, vgl. die Instruktion des Kurfürsten an Hans von Dolzig und Hans von Gräfendorf, vor dem 11. Ok‑ 212 Vgl.
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Stiftsherren einziehen und verzeichnen und alle bestehenden finanziellen An‑ sprüche, Schulden und Pflichten von Untertanen gegenüber dem Stift bearbei‑ ten. 216 Als Verwalter des Stiftsvermögens, als „Kammervogt“, setzten die Räte wenig später den bisherigen Dekan Christoph Blanck ein. 217 Schließlich wurde ein Verzeichnis des gegenwärtigen Besitzes und Einkommens durch die Räte Gräfendorf und Dolzig in Zusammenarbeit mit dem Stift erstellt. 218 Das Stifts‑ vermögen wurde schließlich zur Versorgung der verbliebenen Stiftsherren und Chorsänger und daneben hauptsächlich für die Universität und die Besoldung zusätzlicher Universitätslektoren verwendet, was ganz im Sinne der früheren Pläne Luthers und Spalatins war, die sie Friedrich dem Weisen mehrfach erfolg‑ los unterbreitet hatten.219 Damit waren die finanziellen Verhältnisse des Stiftes geordnet und seine Auflösung vorbereitet. Über die Praxis der folgenden Jahre ist wenig bekannt, doch ist aufgrund einzelner Hinweise davon auszugehen, dass das Stift wohl wie geplant haupt‑ sächlich der Versorgung der verbliebenen drei Stiftskanoniker und des übri‑ gen Personals diente und daneben gelegentlich als Hofkirche genutzt wurde. Die Einhaltung der letzten Ordnung von 1525 erwies sich aufgrund des Perso‑ nalmangels bald als schwierig. So berichtete der Wittenberger Amtmann Hans Metsch dem Kurfürsten 1526, es würde nun nur noch an drei Tagen in der Wo‑ che im Stift gepredigt, anstatt wie bisher täglich. 220 Der Kurfürst möge ent‑ scheiden, ob man auf die Predigten verzichten wollte, oder einen neuen Predi‑ ger einstellen. 221 Der Bericht Hans Metschs verweist darauf, dass die Schloss‑ kirche weiterhin auch von Besuchern genutzt wurde, welche teilweise auf der Durchreise, teilweise aber auch für längere Aufenthalte nach Wittenberg ka‑ men. Daher sah Metsch den Bedarf an täglichen Predigten in der Stiftskirche als gegeben an und empfahl die Einstellung eines weiteren Predigers, der den Kur‑ fürsten etwa 25 Gulden kosten würde. 222 Diesem Vorschlag folgte der Kurfürst tober 1525, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 236, Bl. 7–13; gedruckt in: Friedensburg (Hg): Urkundenbuch, S. 138–141. Die Datierung ergibt sich aus einem weiteren Schreiben des Kur‑ fürsten an Spalatin, worin dieser erwähnt, er habe Dolzig und Gräfendorf mit einer Instruk‑ tion nach Wittenberg gesendet, vgl. Johann der Beständige an Spalatin, T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 368, Bl. 22; vgl. auch Friedensburg (Hg.): Urkundenbuch, S. 141. 216 Vgl. ebd., S. 139. 217 Vgl. Hans von Dolzig an Spalatin, 25. Oktober 1525, in: Friedensburg (Hg.): Ur‑ kundenbuch, S. 144 f., hier S. 145: „Der Blanck ist zu ainem camervoigt des einkomens ver ordenth“. 218 Es findet sich in T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 236, Bl. 15–20. 219 Eine Auflistung der Lektoren und ihrer Besoldung findet sich in T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 236, Bl. 27. 220 Die Predigten versah offensichtlich der Propst Justus Jonas, so dass davon auszugehen ist, dass die Predigten inhaltlich im Sinne der Reformatoren waren. 221 Vgl. Hans Metsch an Friedrich den Weisen, Sonnabend nach Augustini 1523, T hHStA Weimar, EGA, Reg. Kk 177, Bl. 2r. 222 Vgl. ebd.
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offensichtlich, denn in den Visitationsakten von 1528/1533 ist sogar von zwei Predigern die Rede, welche der Kurfürst in der Schlosskirche beschäftigte, die „alle tage predigen oder lection lesen“ .223 Diese Prediger wurden von den Visitatoren 1528 der Aufsicht der Pfarrkirche unterstellt. Der Pfarrer sollte darauf achten, dass diese „nichts anderes, denn was christlich aus Gottes wort“ lehrten. 224 Auch verzeichneten die Rechnun‑ gen des Gemeinen Kastens der Pfarrkirche noch 1528 Spendeneinnahmen, die in der Schlosskirche an den hohen Feiertagen gesammelt worden waren, wo‑ mit deutlich wird, dass hier nicht nur tägliche Lektionen, sondern auch feier‑ tägliche Gottesdienste gehalten und besucht wurden.225 Die Lehraufsicht durch den Pfarrer und die finanzielle Vereinnahmung der Spenden der Schlosskirche durch die Pfarrkirche zeigen dabei gleichzeitig, dass der Rat die mit der Pfar‑ rerwahl begonnene Auflösung des Inkorporationsverhältnisses der Pfarrkirche unter die höfische Stiftskirche mehr als gelungen war, indem faktisch nun die Schlosskirche eher der Pfarrkirche untergeordnet war. Für den Hof spielte die Wittenberger Schlosskirche in dieser Zeit allein schon deshalb kaum mehr eine Rolle, weil Johann der Beständige ab 1525 Torgau zu seiner Hauptresidenz machte und das Wittenberger Schloss kaum nutzte. Erst Johann Friedrich re‑ sidierte, nachdem er 1532 nach dem Tod Johanns des Beständigen die Regent‑ schaft übernommen hatte, wieder verstärkt in Wittenberg und baute das Schloss aufwendig um. 226
4.2. Vom sakralen zum irdischen Schatz: Das Ende des Wittenberger Heiltums Die zweimal im Jahr stattfindende Heiltumsweisung war, wie oben dargestellt, bis zum Frühjahr 1523 schrittweise immer stärker eingeschränkt worden. Ob das Heiltum nach 1523 weiterhin in der Kirche und ohne Verkündigung des Ablasses gezeigt wurde oder ob man schon vor 1525 ganz auf die Zeigung ver‑ zichtete, ist nicht bekannt. Während die Liturgie der Stiftungen und Messen in der Schlosskirche ab 1523 von Seiten der Reformatoren und ab 1524 auch von der Stadt immer schärfer kritisiert wurde, nahm offensichtlich niemand An‑ stoß an der Heiltumsweisung. Über die Gründe kann nur spekuliert werden, es 223 „Ordination
der stat Wittembergk, in der ersten und andern visitacion durch die ver ordente visitatores gemacht“, in: Pallas (Hg.): Registraturen, Bd. 1, Teil 1, S. 4. 224 Ebd. 225 Vgl. Archiv der Pfarrkirche Wittenberg, Rechnungen des Gemeinen Kastens, 1528 (unfoliiert). In der Rechnung von 1529 heißt es hingegen nur: „Innahm Geldt so des Sontages und an den Andern feirtagen in der kirchen erbethenn“, Bl. 26–28. 226 Vgl. Gabriele Wimböck: Exempla fidei: Die Kirchenausstattungen der Wettiner im Reformationszeitalter, in: Harald Marx/Cecilie Hollberg (Hgg.): Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit, Aufsätze, Dresden 2004, S. 189–204, hier S. 190 f.
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mag aus Rücksicht auf den Kurfürsten geschehen sein, möglicherweise erschien die Ausstellung der Reliquien, die ja nun in der Kirche stattfand und nur noch einen Teil des Heiltums zeigte, aber auch einfach zu unbedeutend. Viel wichti‑ ger war hingegen das Ziel der Abschaffung der Messen am Stift, denn nur diese drohten, die Einheit der Stadtgemeinschaft zu gefährden. Dafür, dass das Heil‑ tum schon 1524 nicht mehr viel beachtet wurde, spricht auch der bereits zi‑ tierte Bericht des kurfürstlichen Rates Hans von Taubenheim aus diesem Jahr. Friedrich der Weise hatte diesen im Zuge einer allgemeinen Bestandsaufnahme über den Zustand des Allerheiligenstiftes angewiesen, ein Inventar über den Be‑ sitz der Kirche und über das Heiltum zu erstellen. Taubenheim berichtete, dass viele Stücke, insbesondere die kostbaren goldenen Ornate, in einem schlechten Zustand waren und er deshalb habe Leinwand einkaufen lassen, um sie besser zu lagern. 227 Doch habe nur der Dekan Matthäus Beskau einen Schlüssel zum Heiltumshaus und sei nicht bereit, ein Inventar über die Heiligtümer erstellen zu lassen. 228 Auch hier erwies sich Beskau wieder als entschiedener und aktiver Gegner der Reformen am Stift. Was schließlich mit dem Heiltum, also den Reliquien und Kunstgegenstän‑ den geschah, war in der Forschung lange Zeit unklar. Als Paul Kalkoff 1907 vermutete, der Kurfürst habe die Reliquien „in der Stille verschwinden lassen“, brachte ihm das den süffisanten Fußnotenkommentar Paul Kirns ein, dies wolle wohl niemand „ohne jeden Beweis“ glauben. 229 Doch war Kalkoffs Vermutung erstaunlich zutreffend, viel zutreffender als die in der späteren Forschung lange Zeit zentrale Annahme, das Heiltum sei erst nach 1540 aufgrund des Finanz‑ bedarfes des Kurfürsten im Zusammenhang mit dem Schmalkaldischen Krieg eingezogen worden. 230 Tatsächlich ließ Herzog Johann nämlich schon kurz nach dem Tod seines Bruders nicht nur das Stiftsvermögen und die Einkünfte des Stiftes, sondern auch das Heiltum für die kurfürstlichen Kassen einziehen. Nachdem die Re‑ liquien selbst ihren sakralen Wert verloren hatten, waren es die Reliquiare, die aufgrund ihres materiellen Wertes von Interesse waren, da sie eingeschmolzen und verkauft werden konnten. Doch zeigt das Verhalten Herzog Johanns, dass auch der sakrale Wert der Reliquien keineswegs plötzlich aufgehoben war. Die Auflösung und Einschmelzung des Heiltums war in der Forschung deshalb so lange unbekannt geblieben, weil sie bewusst unter äußerster Geheimhaltung ge‑ schah. Erst in den 1980er Jahren fand so der Historiker Ernst Müller im Weima‑ 227 Vgl. Bericht des Hans von Taubenheim an Friedrich den Weisen, 2. Oktober 1524, hHStA Weimar, EGA, Reg. O 181, Bl. 1–5, hier Bl. 3r: „Der ornat sonderliche von den gul T den stuken woerden vfsparlich gehalten ich habe Ime gesagt das man leynwant kauffen und zwischen die guld stuk eynlegen sollte“. 228 Vgl. ebd. 229 Zitiert nach Kirn: Friedrich der Weise, S. 172. 230 Vgl. etwa Bellmann/Harksen: Denkmale, S. 260.
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rer Archiv Quellen, welche die Einschmelzung der Reliquiare und den Verkauf der daraus gewonnenen Edelmetalle an die Reichsstadt Nürnberg belegen. 231 Der Verkauf und Transport über Coburg nach Nürnberg erfolgte unter stren‑ ger Geheimhaltung. Ebenso hatte der Kurfürst die damit zusammenhängenden Dokumente bewusst an unauffälligen Stellen in der Registratur seiner Kanz‑ lei aufbewahren lassen, so dass sie auch von späteren Generationen zunächst nicht gefunden wurden. 232 Johann der Beständige hatte sich zu diesem Schritt offensichtlich aufgrund der hohen Schulden entschieden, welche die kurfürstli‑ che Kasse belasteten. Obwohl die Reliquien für Johann aufgrund seines Glau‑ bens keine sakrale Bedeutung mehr inne hatten, so musste er als neuer Kurfürst dennoch das Andenken seines Bruders wahren, für den die Reliquiensamm‑ lung nicht nur persönlich, sondern auch mit Blick auf seine Selbstdarstellung als christlicher Herrscher von hoher Bedeutung gewesen war. Erst kurz vor sei‑ nem Tod im Jahre 1532 verfasste Johann daher ein handschriftliches Bekennt‑ nis, worin er die alleinige Verantwortung dafür übernahm, dass er die von sei‑ nem Bruder gesammelten Heiligtümer in seinen Besitz genommen und „in un sern nutzs gewant“ hatte. 233 Mit diesem Dokument, welches die Vorgänge heute verdeutlicht, wollte er das mit dem Verkauf betrauten Hofpersonal, besonders seinen Kämmerer Johann Rietsel, entlasten. Was jedoch in der Forschung weiterhin unbekannt blieb, ist die Rolle der Stadt Wittenberg bei diesen Vorgängen. Denn obwohl Johann der Beständige die Einschmelzung der Reliquiare und der sonstigen Kunstgegenstände des Heiltums am Hof erfolgreich geheim gehalten hatte, war dies den Wittenber‑ gern nicht verborgen geblieben. Dies erscheint auch deshalb plausibel, da die Abholung der umfangreichen Sammlung von Kunstgegenständen, Kleidern, Teppichen und Reliquien sicherlich einigen logistischen Aufwand bedeutete und nicht ohne Aufsehen in der Stadt geschehen konnte. Offensichtlich hatte die Stadt daraufhin eine finanzielle Beteiligung an dem Erlös des Heiltums ver‑ langt, denn noch im Jahr 1526 verzeichnete der Wittenberger Rat eine Ausgabe von 300 rheinischen Gulden „von dem gelde genomen das auss dem Sylberr adir kleynodien der kirchen erkaufft“ für Befestigungsanlagen der Stadt. 234 Aus dem 231 Vgl. Ernst Müller: Die Entlassung des ernestinischen Kämmerers Johann Rietsel im Jahr 1532 und die Auflösung des Wittenberger Heiligtums. Ein Beitrag zur Biographie des Kurfürsten Johann des Beständigen von Sachsen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 80 (1989), S. 213–239, hier S. 229. 232 Vgl. ebd., S. 230. 233 Vgl. ebd., S. 231. 234 StAW, KR 1526, Rubrik „Aussgab Vor den Houbtbaw zcu befestigung der Stadt vff Befell Unsers gnedigsten herrn Hern Johansen Hertzogen zu Sachssen vnnd Churfuersten etc. angefangen Am Sontage Jubilate Im Sechsundtzwentzigsten Jhare“. Der vollständige Ein‑ trag lautet: iii C. reynische fl. von dem gelde genomen das auss dem Sylberr adir kleynodien der kirchen erkaufft, wiewoll vnserr Gnedigster Herr der churfürst solchs antzugreyffen vor botten, so ist es doch hernachmals von s. ch. f. g. vff das Heuptbaw zur befestigung der Stadt
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Eintrag in der Stadtrechnung ist zudem ersichtlich, dass Johann der Beständige das Geld zunächst nicht für die Stadtbefestigung bereitstellen wollte und erst dann auszahlen ließ, als sich der Wittenberger Rat beim Kurfürsten „vffs hoch lichst beclagt“ hatte, dass der Bau der Stadtbefestigung nicht vorangehe. 235 Der Wittenberger Rat teilte demnach die Bedenken des Kurfürsten über die Weiter‑ verwendung des Geldes aus dem Erlös der Reliquien nicht. Hier stand offen‑ sichtlich der finanzielle Nutzen im Vordergrund.
4.3. Nachträgliche Umdeutung: Das Heiltum wird zum Mahnmal Von dem prächtigen Wittenberger Heiltum, das mit seinen materiellen und geistlichen Reichtümern noch wenige Jahre zuvor maßgeblich dazu beigetra‑ gen hatte, Wittenberg zu einem überregional bedeutenden Ort des Heils zu ma‑ chen, war nun schon 1526 im wörtlichen Sinne nichts mehr übrig geblieben. Die Reliquien und anderen Gegenstände waren seit dem Frühjahr 1521 schrittweise mit der Veränderung der Heiltumsweisung von ihrem ursprünglichen Funk‑ tionskontext entfremdet worden, bis sie 1526 schließlich ganz aus dem Sakral‑ raum der Kirche und aus der Stadt Wittenberg entfernt, in ihre Einzelteile zer‑ legt, eingeschmolzen und zu neuen Gegenständen gemacht wurden. Mit dem endgültigen Ende der Stiftungen und Messen und der Entfernung des Heiltums war die Wittenberger Schlosskirche im Jahr 1525 der beiden Elemente beraubt worden, die in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich die sakrale Dignität Wittenbergs als Zentrum des Heils für die Stadt und das ganze Territorium dar‑ gestellt und hergestellt hatten. Dennoch bedeutete diese Veränderung keinen spürbaren Verlust, denn in‑ zwischen hatte sich ein neues Deutungsmuster durchgesetzt: Das sakrale Zen‑ trum Wittenbergs war längst die Pfarrkirche geworden, die Kirche, in der Luther und Bugenhagen predigten und die nach Luthers Worten das „wahre Haus aller Heiligen“ war. Auch für das Territorium war Wittenberg auch ohne die Schlosskirche mehr denn je ein Ort des Heils, der viele Besucher anzog, die jedoch schon seit Jahren in ihrer Mehrheit nicht mehr kamen, um die Reliquien zu sehen, sondern um Luther predigen zu hören. Doch auch das Wittenberger Heiltum erhielt in diesem neuen Sinngefüge weiterhin eine Rolle, wenn auch erst wesentlich später: Es wurde zum Mahn‑ als der sonderlichen seynen vortgangk haben mocht, vnnd auss eyns raths vorworungen des sich Burgermeiyster Hoendorff vnnd seyn rathsfreunde vffs hochlichst beclagt, nicht gehin dert wurde gnedichlichen vorganst vnnd nachgelassen, vnd durch die Gestrengen Ernfesten Ern Nickeln von Ende Obermarschalh, vnnd Hansen Metzsch Hauptman zu Wittenbergk als seyner ch.f.g. befehl haben antzugreiffen vnnd drey hundert gulden den baw domit zw vor legen von der Sumen wegk zu nehmen befohlen.“ Ohne weitere Interpretation wurde diese Stelle bereits zitiert bei Bruck: Friedrich der Weise, S. 265. 235 Ebd.
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mal, welches an die falsche Frömmigkeit erinnern sollte. Da das Heiltum selbst nicht mehr zur Verfügung stand, musste die Erinnerung auf anderem Wege geschehen, und zwar in Form des Heiltumsbuches, das Anfang des 16. Jahr‑ hunderts gedruckt und verbreitet worden war, um die Pracht des Wittenber‑ ger Heiltums möglichst weithin bekannt zu machen. 236 Anlässlich des Refor‑ mationsjubiläums 1617 wurde das Wittenberger Heiltumsbuch ebenso wie das Hallesche Heiltumsbuch wieder aufgelegt und zwar unter Verwendung der ori‑ ginalen Holzstöcke des Wittenberger Erstdrucks. 237 Der Titel dieses von dem Wittenberger Theologieprofessor Wolfgang Franz herausgegebenen Bandes, der von dem Wittenberger Drucker Paul Helwig vertrieben wurde, lautete: „Historische Erzehlung der Beyden Heiligthuemen / nemblich eines So in der Schlosß kirchen zu Wittenberg inm anfang der Reformation Herrn D. Lutheri vorhanden gewe sen. Das Ander / So zu Hall in Sachsen nach der anfangen Reformation Herrn D. Lutheri vollkommentlicher gemacht worden. Aus Welcher historischen Erzehlung alle fromme christen / Alt unnd Jung / Gelerten unnd Ungelert / Papisten und Lutheraner an fingern greiffen / Auch ihren Nachkommmen hinderlegen und dem selben also zu wiessen machen koennen mit was für grossen Betrug unser liebe vorfahren unter dem dicken Babstumb ge plaget worden / Dagegen was der Weise Gott durch die Reformation Herrn d. Lutheri fuer grosse Barmhertzigkeit allen Menschen erzeiget habe.“ 238
Dieser neu aufgelegte Druck gleicht, bis auf einige Hinzufügungen, vollstän‑ dig den Originaldrucken des Wittenberger und Halleschen Heiltumsbuchs, in denen die Reliquien und Kleinodien abgebildet und beschrieben wurden. Hin‑ zugefügt wurde jedoch ein Abdruck der deutschen Fassung der 95 Thesen und das Schreiben Luthers aus dem Jahr 1521 an den Erzbischof von Magdeburg und Mainz, worin er diesen aufforderte, die Ausrufung eines neuen Ablasses in seinem Land, der mit dem Halleschen Heiltum verbunden war, zu unterlas‑ sen. Die Darstellung des Heiltums diente hier also als Folie zur Darstellung von Luthers erfolgreichem Kampf gegen den Ablass. Der Abdruck des Heiltums‑ buchs als solcher erfolgte unkommentiert, wobei jedoch zusätzlich zu den ge‑ nannten Dokumenten Lutherbildnisse zwischen den Darstellungen der Reli‑ quien eingefügt wurden, wodurch bei deren Betrachtung ein Verfremdungs effekt entstand und der Betrachter immer wieder mahnend an den Zweck der Darstellung erinnert wurde. Hinzugefügt wurde außerdem eine Vorrede des Herausgebers, die zugleich eine umfassende Geschichte der Reliquienverehrung und des Ablasswesens darstellte und die erwartungsgemäß eine Geschichte des kirchlichen Missbrauchs war. Im Gegensatz zu der zweiten Auflage des Witten‑ 236
Vgl. zum Wittenberger Heiltumsbuch und seinen beiden Auflagen oben, S. 68 und 77. Eisermann: Heiltumsbücher, S. 51. Dies gilt jedoch, wie es in dem Buch selbst heißt, nur für das Wittenberger Heiltum. Aus Kostengründen wurde beim Halleschen Heil‑ tumsbuch auf die Darstellung vieler Bilder verzichtet. 238 Ein Exemplar dieses Buches findet sich in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur A:207:4 Theol (1). 237 Vgl.
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berger Heiltumsbuches fehlt hingegen jeder Hinweis auf die sächsischen Kur‑ fürsten Friedrich und Johann als Stifter, denn diesen konnten solche Hinweise auf Kontinuität nur schaden: Friedrich und Johann sollten nicht als die Stifter des Heiltums, sondern als die ersten Fürsten der Reformation erinnert werden. Auf diese Weise behielt das Wittenberger Heiltum in der Geschichte der Stadt Wittenberg als zentraler Ort des Heils dennoch einen wichtigen Stellenwert, wenn auch in einem anderen Sinne als ursprünglich geplant.
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Epilog Die Wittenberger Reformation im Archiv – Zur Entstehung eines Geschichtsbildes Die Bedeutung von Fragen der Überlieferung für das heutige Bild der Wit‑ tenberger Reformation zeigte sich in dieser Arbeit an mehreren Einzelfällen: Die Verbrennung der Bannandrohungsbulle wurde erst in ihrer nachträgli‑ chen Darstellung in Flugschriften zu einem bedeutenden Ereignis. Die studen‑ tischen Unruhen um 1520 wurden im Vergleich zu anderen, ähnlichen Vorfällen vor allem deshalb überliefert, weil die Werkstatt des bekannten Malers Lukas Cranach involviert war.1 Als besonders bedeutsam erwiesen sich Aspekte der Überlieferung für die Invokavitpredigten, deren Darstellung in der wesentlich später entstandenen Druckfassung durch die Bilderkontroverse und die Aus einandersetzungen Luthers mit Karlstadt geprägt wurde. 2 Eine bewusste Tradi‑ tionsbildung konnte auch in der Pfarrerwahl Bugenhagens festgestellt werden, die erst in ihrer nachträglichen Deutung zur geordneten Wahl gemacht und als solche überliefert wurde.3 Und schließlich trug die Überlieferung des Begräb‑ nisses Kurfürst Friedrichs des Weisen dazu bei, dass dieser als Fürst der Refor‑ mation erinnert wurde.4 Während bei den letzteren Fällen von einer bewussten Traditionsbildung auszugehen ist, so zeigt das Beispiel der studentischen Unru‑ hen und Cranachs, dass solches auch ohne bewusste Manipulationen und Inter‑ pretationen allein durch die Überlieferungsbildung im Archiv geschehen kann. Einen solchen Prozess der Überlieferung und Traditionsbildung durchlief auch die Wittenberger Reformation insgesamt.5 Wie eingangs festgestellt, weist die Forschung zur Wittenberger Reformation ein beachtliches Ungleichgewicht auf, da die Episode der Wittenberger Unruhen im Herbst und Winter 1521/22 sehr gut erforscht ist, während andere Bereiche der städtischen Reformation, besonders die Zeit vor 1521, nahezu unbekannt blieben.6 Zudem erscheint es vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Arbeit erklärungsbedürftig, warum 1
Vgl. oben, S. 107–124. Vgl. oben, S. 220–242. 3 Vgl. oben, S. 306–309. 4 Vgl. oben, S. 366–368. 5 Vgl. dazu mit der Frage nach der Konstruktion der „Wittenberger Bewegung“ als histo‑ risches Ereignis: Krentz: Erinnerung, S. 585–591. 6 Vgl. zum Forschungsstand ausführlicher oben, S. 5 f. 2
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Epilog
die Forschung durchgängig die allgemeine Radikalität der Episode der „Witten‑ berger Unruhen“, die starke Rolle Karlstadts und das Gewicht des Bilderstur‑ mes betont. Die Wurzeln dieser Bewertung und Gewichtung konnten bereits in den Invokavitpredigten gefunden werden, oder, präziser formuliert, in der heute überlieferten Fassung der Invokavitpredigten, die wiederum ihrerseits durch nachträgliche Deutungen geprägt war.7 Da sich die moderne geschichtswissenschaftliche Forschung jedoch nicht nur auf die Drucke der Invokavitpredigten stützte, sondern in historisch‑kritischer Absicht archivalische Quellen heranzog, bleibt die Frage bestehen, wie es zum Bild der Wittenberger Reformation in der heutigen Forschung kam. Wie auch diese Arbeit stützte sich die Forschung zur Wittenberger Reformation haupt‑ sächlich auf die Akten der kurfürstlichen Überlieferung im heutigen Haupt‑ staatsarchiv Weimar. Hier entstanden bereits die frühen einflussreichen Werke der Reformationsgeschichtsschreibung, wie etwa Leopold von Rankes „Deut‑ sche Geschichte im Zeitalter der Reformation“.8 Die Archivalien, die aus den kurfürstlichen Kanzleien in Wittenberg und Torgau stammten, waren 1547 in das Weimarer Archiv gelangt, nachdem Johann Friedrich in Gefangenschaft ge‑ raten war und mit großen Teilen seines Gebietes auch die Residenzen Witten‑ berg und Torgau verloren hatte.9 In Weimar wurden die Archivalien in Fässern und Kisten verwahrt, bis der protestantische Kurfürst August I. 1572 begann, das Archiv sortieren zu lassen. Acht kurfürstliche Beamte arbeiteten fast zehn Jahre daran, die Akten in eine Ordnung zu bringen, die ihnen sinnvoll erschien, und erstellten dabei 42 um‑ fangreiche Findbücher.10 Die Findbücher werden bis heute von Historikern be‑ nutzt und bilden das einzige verfügbare Findmittel zur Erschließung des Ar‑ chivs, dessen Ordnung so beibehalten wurde, wie sie Ende des 16. Jahrhunderts von den Registratoren des Kurfürsten geschaffen worden war. Diese Ordnung des Archivs formte das Bild der Wittenberger Reformation in der Geschichte maßgeblich und dauerhaft. Als bedeutsam sollte sich erwei‑ sen, dass die Archivalien von den Registratoren, wie damals üblich, nicht nach Provenienzen, sondern nach dem Pertinenzprinzip geordnet wurden. Entspre‑ chend stellten die Registratoren Dokumente aus ganz unterschiedlichen Prove‑ 7
Vgl. oben, S. 220–242. T hHStA Weimar, A 10765: „Benutzung des Archivs durch Prof. Leopold von Ranke aus Berlin zur ‚Geschichte Deutschlands im Zeitalter der Reformation‘ 1837“. 9 Vgl. Walter Schmidt‑Ewald: Die drei kursächsischen Archive zu Wittenberg, in: Hans Beschorner (Hg.): Archivstudien. Festschrift für Woldemar Lippert, Dresden 1931, S. 210–224, bes. S. 211–212. 10 Die Geschichte des Archivs hat im späten 19. Jahrhundert der Weimarer Archivar Carl August Hugo Burkhardt aufgearbeitet. Sein unveröffentlichtes Manuskript findet sich im Archiv unter der Signatur F 886; eine Kurzfassung bietet der folgende Aufsatz: Carl August Hugo Burkhardt: Abriss der Geschichte des S. Ernestinischen Gesammt-Archives in Wei‑ mar, in: Archivalische Zeitschrift 3 (1878), S. 80–109. 8 Vgl.
Epilog
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nienzen zusammen und ordneten diese jeweils bestimmten Sachbetreffen zu, die ihnen relevant erschienen. Damit handelten sie nach einer im 16. Jahrhun‑ dert und noch weit darüber hinaus gängigen Ordnungsweise von Archivbestän‑ den, die heute jedoch kaum noch verwendet wird. Für die Wittenberger Reformation bedeutet das Folgendes: Die beiden für die Episode der „Wittenberger Unruhen“ hauptsächlich relevanten Aktenkon‑ volute beinhalten Archivalien ganz unterschiedlicher Herkunft, die über städ‑ tische Unruhen Auskunft geben. Sie sind chronologisch geordnet, beginnen plötzlich im Herbst 1521 und brechen im März 1522 mit Luthers Rückkehr von der Wartburg ebenso plötzlich ab.11 Es ist anzunehmen, dass auch über diesen Zeitraum hinaus ebenso umfangreiche Akten zu städtischen Unruhen zu fin‑ den waren. Tatsächlich finden sich solche Schriftstücke teilweise, sofern sie un‑ ter anderen Sachbetreffen relevant erschienen, wie etwa im Falle Cranachs und der Studentenunruhen. So konnten die städtischen Unruhen hier etwa auch aus den Universitätsak‑ ten, den Akten über den Bischof von Brandenburg oder den Akten zur Schloss‑ kirche teilweise rekonstruiert werden. Dank dieser in anderen Zusammenhän‑ gen mit überlieferten „Überreste“ konnten die Konflikte der „Wittenberger Unruhen“ in die Zusammenhänge allgemeiner städtischer Konflikte eingeord‑ net und damit in ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit relativiert werden.12 Der größte Teil der Akten wurde jedoch bei der Sortierung durch die kurfürstlichen Beamten wohl nicht für relevant gehalten und daher kassiert. Die Akten über die Konflikte im Herbst und Winter 1521/22 als „Wittenberger Unruhen“ er‑ hielten damit unwiederbringlich eine Sonderstellung gegenüber anderen, ähnli‑ chen Konflikten in früheren und späteren Jahren. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass die kursächsischen Registra‑ toren hier bewusst ein bestimmtes Geschichtsbild konstruieren wollten, wa‑ ren ihre Entscheidungen über Auswahl und Anordnung dennoch unbewusst von ihrer eigenen Sichtweise auf die Wittenberger Reformation geprägt. Für das lutherisch geprägte Kursachsen des späten 16. Jahrhunderts ist gut denkbar, dass die Darstellung in den verbreiteten Drucken der Invokavitpredigten eine wichtige Rolle spielte. Wer sich seit dem späten 16. Jahrhundert mit der Wittenberger Reforma‑ tion beschäftigen wollte, musste sich an der Ordnung des Weimarer Archivs orientieren. So wird die Geschichte der Wittenberger Reformation auch in wis‑ senschaftlichen Darstellungen bis heute fast ausschließlich als eine Geschichte der „Wittenberger Unruhen“ zwischen Oktober 1521 und März 1522 erzählt, welche durch Radikalität und Aufruhr mit dem Bildersturm als Höhepunkt gekennzeichnet ist. Die kulturellen Werte und impliziten Interpretationen des 11 12
Vgl. T hHStA Weimar, EGA, Reg. O 224 und Reg. O 225. Vgl. oben, S. 170–217.
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protestantischen Sachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirken so über die Ordnung des Archivs in der modernen wissenschaftlichen Forschung fort. Die Geschichte der Wittenberger Reformation steht damit auch für die machtvolle Rolle der Archive, die kulturelle Erinnerungen nicht nur als neu‑ trales Rohmaterial aufbewahren, sondern bereits im Überlieferungsprozess mit Deutungen versehen.13
13 Vgl. dazu allgemein Martina Kessel: Archiv, Macht, Wissen. Organisieren, Kontrol‑ lieren und Zerstören von Wissensbeständen von der Antike bis zur Gegenwart, in: Auskunft 27 (2007), S. 17–47.
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Zusammenfassung und Fazit Diese Arbeit zeigt, wie sich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts im städtischen Kontext Wittenbergs erstmals die Reformation durchsetzte, in‑ dem zunächst die Deutungshoheit über die kirchlichen Ceremonien erstritten wurde, diese Ceremonien im Wechselspiel mit politischen Akteuren ausgehan‑ delt, den Reaktionen der Bevölkerung angepasst und schließlich mit einer be‑ wussten Traditionsstiftung auf Dauer gestellt wurden. Der erste Teil der Arbeit beleuchtete die Situation Wittenbergs Anfang des 16. Jahrhunderts. Als strukturelle Bedingungsfaktoren wurden zunächst die po‑ litisch schwache Stellung des brandenburgischen Bischofs sowie die Residenz‑ gründung des sächsischen Kurfürsten herausgearbeitet, dem es gelang, die Stadt mit der Gründung von Universität, Allerheiligenstift und Heiltum innerhalb we‑ niger Jahre zu einem sakralen und gelehrten Zentrum seines Landes zu machen. Bei der Untersuchung der geistlichen Machtverhältnisse zeichnete sich ein komplexes Gefüge von Akteuren ab, die Macht in geistlichen Dingen bean‑ spruchten, wobei sie sich auf ein ebenso komplexes Gefüge behaupteter und tatsächlicher Rechtsnormen stützten, die auch den Beteiligten selbst oft in ho‑ hem Maße unklar waren. Da der Bischof seine geistlichen Herrschaftsansprü‑ che durchzusetzen versuchte, indem er häufig, doch zunehmend erfolglos, das Interdikt über die Stadt verhängte, stellte sich auch für die Wittenberger Bevöl‑ kerung die Geltung kirchlicher Rituale und Symbole nicht als natürlich gege‑ ben, sondern als unsicher und verhandelbar dar. War die Lage des Bischof von Brandenburg aufgrund seiner geographischen und politischen Entfernung gegenüber den Wittenbergern von Anfang an un‑ günstig, so verschlechterte sie sich in dem untersuchten Zeitraum stetig. Bereits in den ersten Jahren des 16. Jahrhundertes entstand eine enge Zusammenarbeit von Hof, Stadt, Universität und Klerus, wobei die Universität schnell zu einer wichtigen Instanz der Wahrheitsfindung wurde, die auch in geistlichen Fra‑ gen Autorität besaß. Vor diesem Hintergrund gelang es dem Rat, auch genuin geistliche Fragen, wie etwa das Klerikat eines bestimmten Geistlichen oder den korrekten Vollzug des Interdiktes selbst, zu verhandelbaren Gegenständen zu machen. Mit der Verringerung der Anzahl konkurrierender Akteure und der Etablierung der Universität als Zentrum der Wahrheit in geistlichen und weltli‑ chen Dingen erlebte Wittenberg damit schon in den ersten Jahren des 16. Jahr‑ hunderts einen Prozess „normativer Zentrierung“. Den entscheidenden Schub
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in diesem Prozess, der die ambivalente Situation schließlich auflöste, bildete je‑ doch die beginnende reformatorische Predigt, welche die Diskussion um die bi‑ schöfliche Gewalt in radikaler Weise auf eine neue Argumentationsbasis stellte, indem die Verweigerung der Sakramente durch den Bischof insgesamt bedeu‑ tungslos wurde. Dieser Prozess der Zentrierung geistlicher Definitionsmacht in der Stadt kam auch in der gottesdienstlichen Praxis zum Ausdruck. Durch die Ausge‑ staltung des Allerheiligenstiftes und der Schlosskirche mit zahlreichen litur‑ gischen Stiftungen zur Fürbitte für Land und Kurfürst und mit ebenso zahl‑ reichen Ablässen wurde Wittenberg so Anfang des 16. Jahrhunderts zu einem überregional bekannten Ort des Heils, während sich gleichzeitig innerhalb der Stadt das religiöse Leben ebenfalls auf Universität und Stift hin zentrierte. So wurde die Gesamtheit der städtischen Institutionen in einzelnen performativen Akten, wie etwa in der Palmsonntagsprozession oder in den Ceremonien des Karfreitags, als Einheit inszeniert und zugleich auf die Schlosskirche als „sakra‑ les Zentrum“ der Stadt hin ausgerichtet. Ebenso wurden die Gottesdienste in der Stadt geordnet und mit Vorrang des Stiftes in einer umfassenden Ordnung zusammengefügt. Entgegen der gängigen Forschungsmeinung konnte gezeigt werden, dass die wenige Jahre später in der reformatorischen Predigt kritisier‑ ten ununterbrochenen Messen oder die dingliche Verkörperung des Heils in den Reliquien in Wittenberg keineswegs „mittelalterliche“ Überreste darstell‑ ten, sondern eine neuartige Entwicklung waren, die eng mit der spezifischen Selbstdarstellung Friedrichs des Weisen als christlichem Herrscher verknüpft war. Erstmals wurde dabei auch Luther zur Gestaltung der Ceremonien um Rat gefragt, der bereits hier Kriterien entwickelte, die für die spätere Umgestaltung der Ceremonien entscheidend werden sollten. Der Universität kam in dieser Entwicklung eine zwiespältige Rolle zu: Zum einen ermöglichte sie der Stadt durch ihre schon in den Statuten festgeschriebe‑ nen Funktion als „Oraculum“, in wichtigen, auch geistlichen Fragen eine eigene Deutungshoheit innerhalb Wittenbergs zu entwickeln. Durch eine geschickte Regelung der geistlichen Gerichtsbarkeit gelang es zudem, den Zugriff des Bi‑ schofs auf die Stadt noch weiter zu verringern. Gleichzeitig stellte diese Rege‑ lung jedoch auch einen weiteren Konfliktherd dar und verschärfte das struktu‑ relle Problem des Aufeinandertreffens mehrerer Rechtsbereiche in einer kleinen Stadt wie Wittenberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts massiv. Während die Un‑ ruhen zwischen Studenten und Bürgern bislang als punktuelle Konflikte galten, belegt die hier herangezogene Überlieferung die Kontinuität solcher Konflikte seit der Gründung der Universität. Ihre Ursachen reichten von den üblichen Beschwerden wie nächtlichen Ruhestörungen bis hin zu Auseinandersetzun‑ gen um adelige Standesprivilegien, wie besonders das Tragen von Waffen in der Stadt. Ebenso scheint der hohe Anteil geistlicher Studenten ein Konfliktpunkt gewesen zu sein, wie antiklerikale Äußerungen zeigen.
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Den Höhepunkt und zugleich den vorläufigen Abschluss der in diesem ersten Teil dargestellten Prozesse der Zentrierung geistlicher Macht in der Stadt bil‑ dete schließlich die Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch einige Wit‑ tenberger Professoren und das anschließende „Spectaculum“, bei dem Studen‑ ten und Bürger mit karnevalesken Verkehrungs‑ und Schandritualen den Bruch mit der römischen Kirche rituell vollzogen. Damit vertrieben die Wittenberger nun nach dem Bischof schließlich auch den päpstlichen Einfluss aus der Stadt und lösten sich von der letzten außerstädtischen geistlichen Autorität. Die Verbrennung der Bannandrohungsbulle bildet so auch ein erstes Beispiel für das Phänomen der nachträglichen Interpretation und Bedeutungsstiftung: Während Luther bei der insgesamt wenig beachteten Verbrennungsaktion eher eine Nebenrolle spielte, erkannte er die Bedeutung des Ereignisses am nächsten Tag und brachte es wieder unter seine Deutungshoheit, indem er es zunächst in einer Vorlesung und anschließend in einer Flugschrift bekannt machte und in‑ terpretierte. Im zweiten Teil der Arbeit wurde die in der Forschung vielfach diskutierte Episode der „Wittenberger Unruhen“ mit den ersten Reformen der gottes‑ dienstlichen Ceremonien in der Stadt und deren Widerrufung nach der Rück‑ kehr Luthers untersucht. Dabei ging es sowohl um die Frage nach der Wahrneh‑ mung und Aneignung dieser Veränderungen als auch nach der Rolle der von der Forschung stark betonten städtischen Konflikte. Anhand der einzelnen symbolischen Handlungen der Wittenberger Studen‑ ten und Bürger, welche bislang eher pauschal als „Unruhen“ betrachtet wur‑ den, konnte gezeigt werden, dass diese größtenteils noch nicht als Ausdruck der allgemeinen kulturellen Neubewertung gelten können, für die der reforma‑ torische Ritualwandel insgesamt steht. Während die Forschung spätere ikono‑ klastische Handlungen als praktischen Vollzug einer „Ritualrevolution“ deuten konnte, in der heilige Orte, Gegenstände und Riten ihrer immanenten Sakrali‑ tät enthoben wurden, greift diese Deutung für die Wittenberger Ereignisse zu‑ nächst noch nicht. Diese Praktiken lassen keinen Angriff auf die immanente Heiligkeit der Dinge und Handlungen erkennen, sondern verhinderten viel‑ mehr deren nunmehr als falsch angesehenen Vollzug durch Geistliche, deren Autorität man nicht mehr anerkennen wollte. Ein ähnliches Verständnis kommt auch in den Reaktionen auf die erste öf‑ fentliche Neubestimmung der Liturgie in Karlstadts Abendmahlsfeier Weih‑ nachten 1521 zum Ausdruck: Während Karlstadt in Predigt und Gesten eine vehemente Ritualkritik übte und den Wert der äußeren Gesten gegenüber dem inneren Glauben abwertete, zeugten die Reaktionen der Laien von einer be‑ wussten, ja eher verstärkten Wertschätzung der materiellen Heilsträger. Die äußerste Konsequenz dieses – im Sinne der reformatorischen Theologen – Miss verständnisses war das Verlangen der Laien nach dem Berühren von Kelch und Hostien. Als Reaktionen auf den reformatorischen Ritualwandel interpretiert,
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Zusammenfassung und Fazit
zeigen die ersten Veränderungen der Ceremonien in Luthers Abwesenheit da‑ mit eine Vielfalt der Wahrnehmungsweisen und verweisen auf die Ambivalenz und Interpretationsbedürftigkeit der reformatorisch veränderten Ceremonien, die von den Menschen jeweils innerhalb ihres eigenen Erfahrungs‑ und Erwar‑ tungszusammenhanges gedeutet wurden. Die Untersuchung der Ereignisse vor dem Hintergrund der spezifischen Si‑ tuation der jungen Residenzstadt führte zugleich zu einer neuen Bewertung der „Wittenberger Stadtreformation“. Zunächst macht die Einordnung der als „Wit‑ tenberger Unruhen“ bekannten Ereignisse von 1521/22 in den Kontext allgemei‑ ner Unruhen deutlich, dass auch hier die üblichen Konfliktpunkte zwischen Stu‑ denten, Geistlichen und Bürgern prägend waren. Anhand der Argumentation der Akteure konnte gezeigt werden, dass sich diese nahtlos in die üblichen Aus einandersetzungen zwischen den städtischen Konfliktparteien einfügten. Sie stellten im Gegensatz zu den Studentenunruhen 1520, als der Kurfürst die Stadt mit seinen Truppen besetzen ließ, noch nicht einmal eine besondere Eskalation der Situation dar. Während in der Forschung bislang die Frage als zentral galt, ob es der Kurfürst oder Luther selbst war, der die Unruhen beendete, konnte hier gezeigt werden, dass es überhaupt keine über das übliche Maß hinausgehenden Unruhen gab und auch der Kurfürst die Situation nicht als außergewöhnlich ein‑ schätzte. Auch der viel diskutierte „Wittenberger Bildersturm“ ist in den zeitge‑ nössischen Quellen nicht zu belegen und erscheint eher als Produkt späterer Tra‑ ditionsstiftung, die mit den so genannten Invokavitpredigten Luthers nach sei‑ ner Rückkehr von der Wartburg und deren Überlieferung begann. Auch für die politischen Verhandlungen zwischen Rat der Stadt und kur‑ fürstlichem Hof um die neue Stadtordnung erscheinen andere strukturelle Fak‑ toren prägend, als die bislang von der Forschung zu Reichsstädten und auch halbautonomen Landstädten herausgestellten: In Wittenberg dienten die re‑ formatorischen Forderungen weder der Verwirklichung von Autonomiebe‑ strebungen der Stadt gegenüber dem Kurfürsten noch dem Vordringen einer Zunftbewegung in das Ratsregiment. So war erstens der Interessengegensatz zwischen den Bürgern der Stadt und dem Kurfürsten von kurzer Dauer, situa‑ tionsbezogen und im Vergleich zu früheren Auseinandersetzungen von gerin‑ gem Ausmaß. Zweitens fand in Wittenberg mit der Reformation kein Elitenaus‑ tausch im Ratsregiment statt, an dem die Zünfte zudem bereits beteiligt waren. Die langfristige Entwicklung weist vielmehr residenz‑ und universitätsstadtty‑ pische Faktoren auf, wie den Aufstieg von hofnahen Beamten in den Rat und die immer wichtigere Rolle der Universität in der Stadt. Als problematisch für den städtischen Frieden erwies sich daher vielmehr, dass die Universität in ihrer Rolle als Zentrum der Wahrheitsfindung für Hof und Stadt nun mit dem Streit um die Messe zu scheitern drohte: Eine einheit‑ liche Entscheidung der Universität, die Kurfürst und Rat mehrfach forderten, war in dieser Sache nicht zu erlangen, denn die Gelehrten waren sich uneinig.
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Auch die folgenden Verhandlungen um eine neue Stadtordnung im Januar 1522 waren von dem gemeinsamen Bemühen von Rat und Kurfürst um den Bestand einheitlicher Ceremonien in der Stadt und um den Fortbestand des etablierten Systems der innerstädtischen Entscheidungsfindung zwischen Universität, Rat und Kurfürst geprägt. Entgegen der bisherigen Darstellung der Forschung war diese Stadtordnung gerade nicht das Produkt von Autonomiebestrebungen des Rates, sondern zeigt vielmehr den Versuch, die soziale Funktion der Liturgie, etwa in den kurfürstlichen und städtischen Messstiftungen, so weit wie möglich zu erhalten. Damit stand die Ordnung in der Kontinuität der vom Hof angesto‑ ßenen und von der Stadt mitgetragenen Etablierung einer liturgischen Einheit, die alle Rechtsbereiche und Kirchen umfassen sollte. Der Vergleich des Standes der Reformen in Wittenberg mit den einzelnen Veränderungen nach Luthers Rückkehr macht jedoch deutlich, dass Luther nach seiner Rückkehr von der Wartburg weder das „Rad der Reformen“ (Go‑ ertz) zurückdrehte noch Wittenberg von Aufruhr und Unruhen befreite, denn die vorgenommenen Veränderungen waren sehr gering. Dennoch waren die In‑ vokavitpredigten, in denen Luther erstmals öffentlich und grundsätzlich Stel‑ lung zu einer „evangelischen“ Reform der kirchlichen Ceremonien bezog, für den Verlauf der Wittenberger Reformation und noch mehr für deren spätere Deutung von entscheidender Bedeutung. Als zentrale Leitlinien, die auch für weitere Liturgiereformen gelten sollten, stellte er hier die Prinzipien der Scho‑ nung der Schwachen im Glauben und der Selbstwirksamkeit des Wortes auf. Anhand der einzelnen Kritikpunkte konnte gezeigt werden, dass er sich da‑ bei an den praktischen Erfahrungen in seiner Gemeinde orientierte. Im Mittel‑ punkt seiner Kritik standen so gerade diejenigen Elemente der Liturgiereform, die in der Gemeinde zu Missverständnissen im Sinne einer dinglichen Fröm‑ migkeit geführt hatten, namentlich das Berühren des Sakramentes, das Abend‑ mahl unter beiderlei Gestalt, die fehlende Vorbereitung auf den Abendmahls empfang sowie die nicht‑sakrale Kleidung der Priester. Die Invokavitpredigten dienten damit zwar nicht der Beendigung von Un‑ ruhen, doch bildeten sie selbst einen Akt der Distinktion, indem sie die späteren Reformen Luthers von den „radikalen“ Reformen im Winter 1521/22 abgrenz‑ ten. Dies erwies sich als notwendig, da gerade diese (miss)verstandenen Ele‑ mente eine hohe Identifikationskraft entwickelt hatten. Nicht aufgrund äußer licher Zeichen sollten die Wittenberger als diejenigen, welche das neu entdeckte Evangelium auf ihrer Seite hatten, erkennbar sein, sondern aufgrund ihrer in‑ neren Überzeugung. Luther markierte in den Predigten eine Zäsur zu dem Ge‑ schehen in seiner Abwesenheit und inszenierte sich dabei zugleich selbst als der‑ jenige, der legitimer Weise über die kirchlichen Ceremonien in Wittenberg be‑ stimmte. Diesen hier erstmals gegen Widerstände durchgesetzten Anspruch verfolgte er auch in den weiteren Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Wittenberger Akteuren.
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Anhand der Rezeptions‑ und Überlieferungsgeschichte dieser erst wesent‑ lich später gedruckten Predigten konnte gezeigt werden, dass der bis heute ver‑ wendete gedruckte Text nicht nur stark überarbeitet, sondern auch in seinen Aussagen verändert wurde. Gerade die Ereignisse der Jahre 1522–1524, in denen sich die Bilderkontroverse und der Konflikt Luthers mit Karlstadt zuspitzten, hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Druckfassung der Predigten. Mit ihnen rückten der Bildersturm und die Rolle Karlstadts als Anstifter der Unru‑ hen in den Mittelpunkt der Darstellung, während diese in früheren Berichten kaum eine Rolle gespielt hatten. Im dritten Teil der Arbeit wurden anhand der ersten erneuten Liturgierefor‑ men in der Stadt und am Allerheiligenstift unter der Regie Luthers Prinzipien der reformatorischen Veränderung der Ceremonien herausgearbeitet und deren Zusammenhänge mit der Wittenberger Praxis verdeutlicht. Unter dem Stich‑ wort der städtischen Reformation wurde gezeigt, wie es den Reformatoren bis Ende des Jahres 1524 schließlich gelang, die Veränderung der Ceremonien in der ganzen Stadt durchzusetzen. Als entscheidend für die ersten Reformen der Ce‑ remonien 1523 konnte der Grundsatz der Abgrenzung herausgestellt werden: Die Reformen Luthers und später auch Bugenhagens mussten deutlich von den nunmehr als „radikal“ gekennzeichneten Reformen des Jahres 1521/22 zu un‑ terscheiden sein, zugleich jedoch ebenso von den „altgläubigen“ Ceremonien der Schlosskirche. Untersagt wurde insbesondere das Berühren von Kelch und Hostien, was besonderen Anstoß erregt hatte und von den Laien im Sinne ei‑ ner erneuten dinglichen Frömmigkeit missverstanden worden war. Auch das Abendmahl unter beiderlei Gestalt, bei dem sich ähnliche Tendenzen gezeigt hatten, wurde erst Ende 1523 mit der Formula Missae wieder eingeführt, als eine verstärkte Abgrenzung gegen die altgläubigen Kräfte notwendig erschien. Zwei weitere Prinzipien der Reformen Luthers werden in den erneuten Re‑ formen deutlich: Zum einen wurde hier Luthers schon 1519 im Zusammen‑ hang des Allerheiligenstiftes geplante Umdeutung der Ceremonien als geist‑ liche Übungen der Verinnerlichung weiterentwickelt. Zum anderen zeigen die Reformen der täglichen Gebete, der sonntäglichen Messe, des Fronleichnams‑ festes und des Festes der Heiltumsweisung jeweils, dass die sozialen Funktio‑ nen der Ceremonien hier sehr weitgehend beibehalten werden sollten, wie etwa bei einer Prozession ohne Sakrament oder einer Heiltumsweisung ohne Ablass. Ebenso wie in der Pfarrkirche versuchte Luther mit Unterstützung Spala‑ tins auch am Allerheiligenstift den Gottesdienst nach den genannten Prinzi‑ pien umzugestalten, indem die äußeren Strukturen der täglichen Messen und Horen weitgehend beibehalten und diese als geistliche Übung umgestaltet wur‑ den. Doch hier wurden die Grenzen der Reformierbarkeit des Stiftes deutlich, denn auch die erneuerten Gebete und Gesänge mussten letztlich noch immer als Erfüllung eines Offiziums, eines Dienstes im Auftrag des Stifters, vollzo‑ gen werden.
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Im Jahr 1524 kam es in Wittenberg schließlich zu einer „städtischen Reforma‑ tion“, die zu einer grundlegenden Umverteilung geistlicher Macht in der Stadt führte. Ähnlich wie bei den ersten Reformen war der Anlass erneut die Unein‑ heitlichkeit der Ceremonien, die seit der Einführung des Abendmahls unter bei‑ derlei Gestalt an der Pfarrkirche Ende 1523, die das Stift nicht mitvollzog, be‑ sonders augenfällig wurde. Zunächst mit der Ernennung Johannes Bugenha‑ gens zum Wittenberger Pfarrer und schließlich mit einer Bannandrohung gegen das Stift stellten Luther und die städtischen Akteure ihren Einfluss in geistli‑ chen Dingen auf die Probe. Im Gegensatz zum Vorgehen des Bischofs verlief die Bannandrohung Luthers gegen das Stift ungleich erfolgreicher, denn das Stift er‑ klärte sich zu umfangreichen Reformen bereit. Erleichtert wurde das Vorgehen der städtischen Akteure dadurch, dass die Partei der Reformgegner am Stift auf‑ grund von personellen Veränderungen des Stiftskapitels sowie wegen finanzieller Probleme des Stifts in einer sehr schwachen Stellung war. Ebenso hatte bereits die erfolgreiche Ernennung Bugenhagens zum Pfarrer, die sich über alle Rechte und Wahlmodalitäten hinwegsetzte und dennoch von allen Akteuren als legitim anerkannt wurde, die Stellung Luthers in der Stadt befestigt und bestätigt. Ge‑ rade die Ereignisse von 1524 zeigen jedoch sein Bemühen, dauerhafte Struktu‑ ren geistlicher Autorität in der Stadt, die unabhängig von seiner Person waren, zu etablieren. Dies geschah etwa, indem die Ernennung Bugenhagens zum Stadt‑ pfarrer durch Luther nachträglich zu einer Wahl mit einem festen, aus bestimm‑ ten Vertretern von Rat und Universität bestehenden Wahlausschuss umgedeu‑ tet wurde. Besonders, da die Pfarrerwahl zugleich faktisch die Lösung der Pfarr‑ kirche aus dem Inkorporationsverhältnis des Stiftes bedeutete, konnte auf diese Weise durch die Stiftung einer (unzutreffenden) Tradition die veränderten Struk‑ turen geistlicher Herrschaft in der Stadt auf Dauer gestellt werden. Eine erste praktische Bewährungsprobe bestand diese neue Konstellation der städtischen Akteure in der gemeinsamen Bannandrohung gegen das Stift, die von demselben Ausschuss verhängt wurde, dem später die angebliche Pfar‑ rerwahl zugeschrieben wurde. Dabei wurde besonders die Rolle Bugenhagens als neuer geistlicher Autorität betont, indem dieser die Bannandrohung verlas und dem Stift später Vorschläge zu neuen Ceremonien unterbreitete. Damit ge‑ lang es den städtischen Akteuren Ende 1524 nicht nur, einen neuen Stadtpfarrer und Reformen am Stift durchzusetzen, sondern damit zugleich auch eine dau‑ erhafte neue Zuständigkeit von Universität, Rat und Stadtpfarrer in geistlichen Dingen zu etablieren. Die „städtische Reformation“ konnte dabei an Strukturen anknüpfen, die in den Prozessen der Zentrierung geistlicher Macht in der Stadt in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts etabliert worden waren, wie die Autorität der Universität in geistlichen Dingen und deren enge Zusammenar‑ beit mit dem Rat der Stadt. Die Reaktionen der Wittenberger Bevölkerung auf die Liturgiereformen die‑ ser Zeit zeigen, dass die städtischen Reformforderungen hier einigen Rückhalt
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hatten, doch verweisen sie gleichzeitig auch auf eine Vielfalt der Wahrnehmun‑ gen der Liturgiereformen in der Stadt. Während einige Bürger durch die Hin‑ wendung zum Stift eine bewusste Ablehnung der Veränderungen in der Pfarr‑ kirche demonstrierten, deuten andererseits die rituellen Aktionen von Bürgern und Studenten auf eine verstärkte Rezeption der reformatorischen Predigten hin. Damit können die im dritten Teil der Arbeit dargestellten Veränderungen der Ceremonien insgesamt als ein wechselseitiger Prozess beschrieben werden, in dem die ersten praktischen Erfahrungen und die Reaktionen der Wittenber‑ ger auf die Veränderungen der Ceremonien auf die Diskussion der Theologen rückwirkten, was dazu führte, dass neben theologischen Argumenten beson‑ ders die soziale Funktion der Cermonien in der Stadt bei neuen Reformen be‑ rücksichtigt wurde. Der letzte Teil der Arbeit thematisiert schließlich den Übergang von der städ‑ tischen zur landesherrlichen Reformation und damit zugleich den vorläufigen Abschluss der Liturgiereformen in Wittenberg. Mit dem Wechsel der Landes‑ herrschaft zu dem reformatorisch gesinnten Kurfürsten Johann I. kam schnell die Forderung nach einheitlichen Ceremonien im ganzen Territorium auf, die häufig als eine Reaktion auf den Bauernkrieg dargestellt wurde. Obwohl der Bauernkrieg als göttliche Strafe 1525 tatsächlich zur Begründung herangezo‑ gen wurde, konnte gezeigt werden, dass die Einbeziehung der Landstände zur Durchsetzung einer Einheit der Ceremonien von Spalatin schon 1523 geplant worden war. Während Luther die Forderung nach einer Einheit der Ceremo‑ nien damals noch abgelehnt hatte, erschien sie ihm 1525, möglicherweise auf‑ grund seiner Erfahrungen in Wittenberg und wegen des Bauernkrieges, eben‑ falls als notwendig. Die Etablierung einer solchen einheitlichen Gottesdienstordnung, die in Sachsen Anfang 1526 mit dem kurfürstlichen Befehl an Adelige und Amtsleute zur Einführung der Deutschen Messe geschah, diente dem neuen Kurfürsten zur ersten Demonstration seines neuen Selbstverständnisses eines christlichen Fürsten. In der Liturgie der Deutschen Messe ist im Einzelnen eine Orientie‑ rung an der Wittenberger Praxis erkennbar: Weiterhin im Mittelpunkt stand das Abendmahl unter beiderlei Gestalt, welches sich zum zentralen Identifika tionskriterium herausgebildet hatte, während das Berühren von Kelch und Hostien implizit ausgeschlossen wurde. Die Praxis der Messe in den nächsten Jahren in Wittenberg zeigt jedoch, dass die Deutsche Messe nur teilweise umgesetzt wurde und noch viele Teile des Gottesdienstes lateinisch blieben. Hier ist ein starker Einfluss Bugenhagens zu vermuten, was dessen 1524 etablierter Stellung als Stadtpfarrer entspricht. Es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass die Messe in Wittenberg dennoch we‑ niger konservativ und diese vor dem Hintergrund der vielfältigen Bedürfnisse von Universitäts‑ und Stadtbevölkerung vielmehr flexibler gestaltet wurde als bislang angenommen.
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Mit dem Wechsel der Kurwürde zu Johann als einem Fürsten der Refor‑ mation stellt sich die Frage nach dessen Umgang mit dem altgläubigen Erbe seines Bruders, das gerade in Wittenberg auch eine wichtige Funktion zu des‑ sen Selbstdarstellung als christlicher Fürst erfüllte. Die Darstellung einer Kon‑ tinuität der Landesherrschaft, die in der Situation des Bauernkrieges umso stär‑ ker notwendig erschien, begann beim Begräbnis Friedrichs des Weisen. In den Ceremonien dieses ersten reformatorischen Herrscherbegräbnisses, noch stär‑ ker aber in ihrer nachträglichen Darstellung durch Spalatin, wurde eine Tradi‑ tion der protestantischen Landesherrschaft geschaffen, die Friedrich den Wei‑ sen nachträglich zum Fürsten der Reformation umdeutete. Zugleich zeigt die Diskussion um die Ceremonien des Begräbnisses zwischen Spalatin, Gabriel Zwilling und Luther noch einmal die besondere Eignung des lutherischen Ver‑ ständnisses der Ceremonien auch für herrschaftsrepräsentative Zwecke, denn wie schon in der Wittenberger Diskussion mit Spalatin zeigte Luther hier wie‑ derum eine deutliche Wertschätzung der soziale Bedeutung der Ceremonien. Im Sinne der Reformation umgedeutet wurde schließlich nicht nur die Reli‑ gion des Kurfürsten, sondern auch deren Repräsentationsformen in Wittenberg. So zeigt der letzte Teil der Arbeit, wie schließlich auch das Stift und die Schloss‑ kirche, die schon 1524 dem Druck der städtischen Akteure nachgegeben und Reformen zugestimmt hatten, im Jahr 1525 in das Deutungskonzept der Stadt Wittenberg als Stadt des neu entdeckten Evangeliums reintegriert wurden. Die Bekehrung des Stiftes wurde als Teil des göttlichen Heilswirkens in Witten‑ berg dargestellt. Der sakrale Schatz des Wittenberger Heiltums wurde in der Umdeutung der Reformatoren zu einem nur noch irdischen Schatz, denn auch ohne den Ablass waren die Fassungen der Reliquien von einigem Wert. Doch zeigt das Verhalten Herzog Johanns, der die Reliquiare und anderen Wertge‑ genstände aus Geldnot einschmelzen ließ und verkaufte, dass diese Umdeu‑ tung keineswegs als selbstverständlich und allgemeingültig angesehen werden kann, denn der Verkauf geschah unter größter Geheimhaltung. Schließlich er‑ hielt viele Jahre nach der Einschmelzung der Reliquien auch das Heiltum selbst noch eine Umdeutung und wurde durch die Neuauflage des Heiltumsbuches im Jahre 1617 anlässlich des ersten Reformationsjubiläums zu einem Mahnmal der falschen Frömmigkeit und diente als Folie für die Darstellung von Luthers er‑ folgreichem Kampf gegen den Ablass. Die vorliegende Arbeit konnte Wittenberg als „unbekannte Konstante“ der Reformationsgeschichte erhellen und auf diese Weise einige Gewissheiten hin‑ terfragen und problematisieren. Vieles von dem, was uns als „die Reformation“ und als eindeutig reformatorisch erscheint, erweist sich im genauen Blick auf Wittenberg als „Laboratorium der Reformation“ als situative Lösung, als Er‑ gebnis von Aushandlungsprozessen verschiedener Akteure. Als entscheidend für die Durchsetzung der reformatorischen Deutungsweise erwies sich einer‑ seits besonders die spezifische Konstellation in der Residenzstadt Wittenberg,
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welche die Durchführung einer städtischen Reformation zunächst 1522 und er‑ neut 1524 besonders begünstigte. Neben diesen strukturellen Voraussetzungen erwies sich in vielen Situationen die Selbstinszenierung der Akteure oder Grup‑ pen und deren dauerhafte Behauptung im städtischen Diskurs als entscheidend. So gilt es einerseits, die Deutungen der Akteure und ihre Wechselwirkungen ernst zu nehmen, andererseits jedoch auch, die Bedeutung nachträglicher Tra‑ ditionsstiftungen zu beachten. Dass solche nachträglichen Bedeutungsverschie‑ bungen auch in vermeintlich neutralen Überresten in den Archiven zu finden sind, ja selbst in der bloßen Anordnung der Akten, zeigt schließlich der Epilog der Arbeit, der auf die Herkunft des heutigen Geschichtsbildes der Wittenber‑ ger Reformation verweist.
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Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel HAB Wolfenbüttel, Yv1648.8.Helmst. HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 19.15 Aug. 4. HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 11.10. Aug. 2. HAB Wolfenbüttel, Signatur A: 131.2 Theol. (21) HAB Wolfenbüttel, Signatur A: 207.4 Theol. (1).
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Sachregister Abendmahl 4, 35, 154, 157–165, 168, 175, 183 f., 192–202, 207, 225–231, 241, 244, 250–260, 269, 273 f., 298, 310–315, 320, 340, 344–351, 355, 373, 391–396 Ablass 37, 40, 60–61, 66–68, 94, 104, 148 f., 184, 262–267, 311, 326, 370, 378, 382, 390, 394, 397 Allerheiligenstift 16–18, 21, 28–33, 37, 51, 70 f., 78, 82, 91, 94, 97–105, 127, 148, 151–154, 160, 163, 179–184, 187, 190, 213, 2107, 225, 237, 243, 251, 257–258, 267, 269–271, 275–277, 282–284, 288–292, 298, 305, 309–312, 317, 323–324, 329, 331, 345, 354, 357, 369–383, 389 f., 394 Archiv 5, 16–19, 38, 71 f., 89, 108, 112, 114, 142, 156, 262–264, 350, 380, 385–388 Bann 20, 38, 58–60, 65, 88, 115, 124–126, 136–138, 149, 157, 159 f., 175, 224, 264, 266, 272 f., 279 f., 298, 310, 312–317, 320–324, 370, 385, 391, 395 Bauernkrieg 287, 308, 325–327, 333, 337, 339, 354, 360, 396 f. Begräbnis 4, 22, 29, 35, 82, 133 f., 274, 326, 330, 347, 353, 354–368, 373, 385, 397 Beichte 35, 78, 84, 90, 161, 166, 192, 226–230, 236, 344, 350 Bilder(-kontroverse) 134, 142 f., 153 f., 165, 168, 186, 189, 191, 200, 203–207, 221, 234–238, 385–387, 392, 394 Bildersturm, Wittenberger 134, 136, 142, 153 f., 165, 188, 200–214, 235–242, 386–387, 392, 394 Bulle „Exsurge Domini“ 124–139 Ceremonien 5, 12 f., 18, 20 f., 23, 84, 94–96, 101 f., 142, 147 f., 150–152, 160, 162, 170, 179, 185 f., 194–198, 220,
227 f., 231 f., 237 f., 243–245, 252, 258–261, 271 f., 275 f., 278, 280 f., 283–297, 307 f., 310, 313 f., 317 f., 323 f., 326 f., 329–342, 347, 356, 358–361, 368, 371, 373 f., 376, 389–394 Einsetzungsworte/„verba consecrationis“ 154, 162, 164, 226, 251–253, 320, 344 f. Elevation 154, 162, 168, 192, 207, 226 Exemption 32, 48, 57, 70, 78, 273 Fasten 89, 105, 161, 166, 192, 207, 226–228, 234–236, 254, 344 Fronleichnam 244, 258–263, 266, 394 Geistliches Spiel 23, 86–96, 132–136, 144–147 Glocken(-geläut) 358–362 Grab(-denkmal)/Epitaph 73, 82, 86, 88–93, 367 f. Gründonnerstag 90–93, 256 Heiltum – Wittenberger 16, 32, 40, 48 f., 66–101, 184 f., 244, 258, 261–266, 326, 352–383, 389, 394, 397 – Hallesches 67, 79, 382 Höllenfahrt/„descensus ad inferos“ 87, 135, Interdikt 32–47, 50–65, 78, 127–130, 137, 180, 232, 273, 389 Invokavit(predigten) 21, 156, 208 f., 216–226, 231–234, 236, 243, 247, 251, 259, 265, 271, 283 f., 310, 385–393 Kämmereirechnungen, Wittenberger 18, 36–44, 49, 87–91, 204, 232, 260, 350 Kanzlei, kurfürstliche 32, 52, 108, 173, 267, 336, 380, 386
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Sachregister
Karwoche 86–95, 135 (Kirchen-)lied 133 f., 153, 354–351, 361–364, 372, 375 Kirchenregiment, landesherrliches 211, 328–334 Kleidung 57, 90, 92, 135, 151, 225, 231 f., 254 f., 334, 361, 375 f., 393 Konzil 71, 157, 185, 275, 278 f., 332, 338 Küster 83, 91, 349 Landstände 21, 331–339, 396 Landtag zu Altenburg (1523) 331–336 Leichenpredigt 330 Leipziger Disputation 123, 129, 301 Liturgie 12 f., 17, 19, 21, 26, 82–96, 100 f., 155, 162 f., 167–169, 186, 189, 191, 195, 201, 215, 220, 222, 224–227, 230 f., 238, 241, 243, 245–253, 260, 270–272, 277 f., 280, 283, 288 f., 307 f., 310, 313, 324, 331, 340–342, 378, 391, 393 Messordnungen Luthers – „Formula Missae“ (1523) 250–254, 310, 314, 338, 343–348, 351, 356, 394 – „Deutsche Messe“ (1526) 340–353 Normative Zentrierung 20, 24, 65, 74, 86, 98 f., 103, 137, 160, 184, 197, 323, 389–395 Orden – Antoniter 27, 29, 115, 144–146, 172, 282 – Augustiner 27 f., 60 f., 83, 101, 128, 151–153, 165, 180 f., 235 f., 302 – Franziskaner 27 f., 44, 57, 83, 101, 117 f., 122, 150, 172 Ordination 299, 307 f., 316, 324 Papst 32 f., 59, 66, 69 f., 77, 79, 82, 98, 106, 127, 129–131, 160, 179, 224, 259, 273, 285 Passion(-sfrömmigkeit) 40, 83–102, 251 Pest 347 Pfarrkirche/Stadtkirche zu Wittenberg 16, 27, 31, 33, 36, 40, 46, 49, 51, 60, 62, 98, 101 f., 123 f., 128, 131, 146, 165, 203, 235 f., 244–251, 257 f., 261, 266, 270,
272, 281, 289, 298, 301, 304 f., 309 f., 314–318, 322–324, 330, 338, 340, 345, 350, 361, 363 f., 369–381, 394–398 Privatmesse 175, 181, 193–196, 200, 226, 245 f., 269, 311, 313, 372 Prozession 82, 91, 102, 258–261, 266, 360, 362, 364, 371, 390, 394 Rat der Stadt Wittenberg 25, 33, 37–42, 46, 64, 78, 103, 110, 115, 124, 130, 171–173, 186‑191, 200 f., 217, 225, 232, 235, 238, 250, 259, 266, 270, 309, 314–323 Rechtfertigungslehre (Luther) 7, 222, 266, 277 f., 285, 301 Reichsregiment 202–219, 275, 335 Reichstag – zu Worms (1521) 127 – Konstanz (1507) 74 Reliquien 16, 32, 66–82, 91, 172, 186, 228, 261–268, 368–370, 379–382, 390, 397 Residenz(stadt) 9–16, 20 f., 23, 25, 32, 64–67, 69, 72–74, 82, 88, 94, 171, 177 f., 184, 196, 202, 211, 227, 262, 290 f., 323, 325 f., 353 f., 367, 378, 389, 392, 397 Ritus/Ritual 1, 3–12, 15, 23, 35, 40, 58, 65, 96, 98, 143–169, 170–213, 215, 224–231, 255, 262, 284 f., 307 f., 313, 344, 354–389, 391 Schlosskirche zu Wittenberg 16, 21, 27, 29, 32 f., 48, 66–101, 129, 152, 154, 162, 168 f., 245, 250, 262 f., 265 f., 269–298, 311, 323 f., 354, 361, 365, 367 f., 381, 387, 390, 394, 397 Schmalkaldischer Krieg (1546–1547) 274, 379 Stiftung 4, 28, 31, 66, 69, 72, 74, 76, 80–100, 108, 136, 141, 159, 163, 178, 182, 184–186, 196, 231, 244, 246, 257, 262, 269 f., 277–281, 288 f., 300 f., 345, 354, 358, 365–381, 389–393 Studenten 16, 18, 27 f., 39, 73, 89 f., 96, 105–109, 125, 128–144, 146–154, 165, 170–172, 188, 196, 199, 206, 208, 224 f., 236, 240, 244 f., 266, 269, 282, 313 f., 330, 363 f., 387, 390–396
Sachregister
Stundengebet 85, 96, 245–248, 289, 370–375 Synode 42, 45 f.
427
286, 291, 293 f., 299, 306, 309 f., 315, 317–324, 337, 341, 347 f., 351 f., 356, 362 f., 370, 377, 387, 389–394
Taufe 4, 35, 205, 337 Teufel 87 f., 97, 123 f., 218 f., 257, 285, 330, 370 Thesenanschlag 75
Wittenberger Bewegung/Wittenberger Unruhen 6, 10 f., 17, 20, 107, 141 f., 385–392 Wormser Edikt 210, 212, 328, 332
Übergangsritus (rite de passage) 4, 12 Universität Wittenberg 1, 5 f. 9, 14, 16–18, 25, 28, 40, 49 f., 67, 73, 95, 98–107, 126, 128–137, 160, 164, 174–178, 187 f., 199–213, 224–226, 244, 260, 269, 283,
Zorn Gottes 331–337 Zunft 8–12, 30 f., 170 f., 174–176, 187–191, 208, 397 Zwickauer Propheten 205
428
429
Ortsregister Augsburg 26, 64, 123, 234, 352
Orlamünde 99, 141, 237, 291
Eisleben 308, 330 Elstertor (Wittenberg) 20, 130 f., 133, 139, 266 Elster an der Elbe 362 Erfurt 123, 129, 130
Rom 59–62, 71–79, 106, 125–127, 335, 391
Halle an der Saale 18, 67, 71, 79–81, 93, 382 Jessen an der Elster 362 Leipzig 123, 125, 130, 132 Leisnig (Stadt) 247, 249 Lochau (heutiges Annaburg) 360 Nürnberg 8, 147, 171, 202, 211, 264, 336 f., 343, 380
Straßburg 220 f. Torgau 32, 282, 288, 292, 338, 356, 378, 386 Warburg in Westfalen 290, 294 Wartburg bei Eisenach 21, 27, 141, 156, 215, 217–221, 258, 269, 330, 387, 392 f. Weimar 16 f., 38, 386 f. Wolfenbüttel 223, 239 Zeitz 130, 154, Ziesar 26, 37, 39, 42, 46, 54 Zürich 245 Zwickau 191, 205 f., 222, 249, 318, 337
430
431
Personenregister Agricola, Johann 131, 136 Amsdorf, Nikolaus von 164, 187, 205 f., 290 f., 293–302, 321 Angenendt, Arnold 84 Baumgartner, Hieronymus 224, 233, 235 f., 240 Beckmann, Otto 185, 269, 290 f., 294 f. Bei der Wieden, Susanne 221–224, 240 Beskau, Matthäus 276, 278–291, 294–312, 379 Betzschitz, Wilhelm von 54 Beyer, Christian 47, 191, 197 Bischöfe von Brandenburg – Joachim von Bredow (1485–1507) 27, 36, 38 – Hieronymus Schulz (1507–1520) 27, 38, 42 f., 45, 47, 51–55, 59–62 – Dietrich von Hardenberg (1520–1526) 62 Boehmer, Heinrich 128, 130 Brück, Gregor 145, 148, 180, 298 Brumnitz, Balthasar von 118 f. Bubenheimer, Ulrich 122 f., 170, 223, 235, 239 Bugenhagen, Johannes 18, 118, 270, 276, 298 f., 301–309, 313–315, 322 f., 337 f., 347, 349, 371–374, 381, 385, 394–398 Bürer von Brugg, Albert 224, 233, 235, 240 Burkhard, Peter 122, 125 Cajetan, Thomas 123, 218 Camerarius, Joachim 224 Capito, Wolfgang 155, 221 Clemen, Otto 265 Cranach, Lukas 116, 120 f., 340, 385, 387 Crotus, Johannes 294
Dölsch, Johannes 126, 184, 199, 201, 203, 290 f. Dolzig, Hans von 119, 376 Drechsel, Thomas 205 Dungersheim von Ochsenfahrt, Hieronymus 133 Düring, Christian 157 Eck, Johann 123, 125 f., 129–135, 218 Einsiedel, Hugold von 197–201, 203, 206, 211–217 Eisermann, Johannes 187 Elner, Georg 280, 290 f. Emser, Hieronymus 131, 236 Erbar, Ulrich 112 Erzbischöfe von Magdeburg – Ernst II. von Sachsen „Ernst von Wettin“ (1476–1513) 10, 27, 39, 44, 46, 60, 75, 79 – Albrecht IV. von Brandenburg (auch Erzbischof von Mainz), Erzbischof von Magdeburg (1513–1545) 25–29, 44, 46, 50, 58, 60, 69, 79, 93, 212, 382 Eschenhagen, Edith 6, 177 Fabri, Balthasar 112 Foucault, Michel 13 Froeschl, Sebastian 224, 238 Georg, Herzog von Sachsen (albertinisch) (1471–1539) 157, 202, 206, 210, 213 Gräfendorf, Hans von 374–377 Goertz, Hans-Jürgen 7, 393 Gunckel, Johann 291 f. Hamm, Berndt 24, 65, 86, 171 Häußling, Angelus 100 Hausmann, Nikolaus 338
432
Personenregister
Heins von Brück, Simon 246, 298, 300 Helmann, Johannes 244 Herzheimer, Hans 75, 81, 83 f., 89, 91, 93, 98, 101 f., 373 Heyde, Thomas von der 157, 163, 166 Joachim I., Kurfürst von Brandenburg (1499–1535) 41, 53 Johann VII. von Schleinnitz, Bischof von Meißen (1518–1537) 79, 211 f. Jonas, Justus 151, 157, 187, 239, 267, 270–279, 289–293, 298, 306, 312, 320, 323, 374–378 Junghans, Helmar 193, 239 Kalkoff, Paul 74, 262–293, 265, 379 Kaiser des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation – Karl IV. (1316–1378) 70 – Maximilian I. (1459–1519) 75, 98, 104 – Karl V. (1500–1558) 210 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 99, 126, 129, 154–159, 181, 187, 192, 198–201, 213, 215, 222 f., 226, 228, 230, 234–238, 254, 259, 269–271, 290 f., 385 f., 391, 394 Kessler, Johannes 139, 224, 237, 240, 266 Kirn, Paul 34, 76, 129–138, 224, 227, 259, 263, 273, 285, 379 Knodel, Leonard 204 Köpfel, Wolfgang 221 Korn, Gregor 154, 158, 166–167, 300 Kurfürsten von Sachsen (wettinischernestinische Linie) – Friedrich I. „der Streitbare“ (1370–1428) 31, 177 – Friedrich III. „der Weise“ (1486–1525) 21, 27 f., 32, 43 f., 51 f., 67 f., 70, 72–77, 93 f., 102 f., 126, 202, 210, 218, 233, 258, 260–264, 292, 298 f., 303–321, 325, 328, 333, 335, 354 f., 366 f., 374, 379 – Johann „der Beständige“ (1525–1532) 126 f., 258, 321, 329, 332 f., 338 f., 379, 381, 397 – Johann Friedrich „der Großmütige“ (1532–1547) 228 f., 339, 366, 378, 386 Linck, Wenzeslaus 61, 302
Lotter, Melchior 340 Magenbuch, Johannes 224, 236, 240 Meinhard, Andreas 73 Melanchthon, Philipp 128, 136, 157, 164, 180, 183, 187, 198, 205 f., 215–218, 234, 241, 309, 316, 337, 356 f., 360 f., 365 f. Metsch, Hans 376 f. Minckwitz, Hans von 361, 376 Musculus, Wolfgang 352 Moeller, Bernd 7, 69, 216 Mühlpfort, Hermann 172 Müller, Nikolaus 17, 156 Müntzer, Thomas 308 Niemeck, Anton 316 Odenthal, Andreas 278 Oehmig, Stefan 170, 172, 328 Pallas, Karl 17, 347 Pauli, Benedikt 314, 321 Paulus, Nikolaus 263 Penckau, Paul 106 Peraudi, Raymundo 37, 66, 69, 72, 76, 79 f., 104 Philipp IV., König von Frankreich (1268–1314) 70 Pigito, Bartholomäus 59 Mellerstedt, Martin Polich von 113 Preus, James 171 Ranke, Leopold von 216, 386 Rauch, Urban 189 Reißenbusch, Wolfgang 77 f., 115, 145–149, 282 f., 288, 314 Reuber, Johannes 291 f. Rietsel, Johann 380 Rörer, Georg 252, 307 f., 316, 322, 324, 340 f. Rublack, Ulinka 5, 127, 132, 136 f., 216 Sachsen, Rudolf von 32 f., 68–71 Schenk von Simau, Burkhard 263 Scheuerl, Christoph 103, 109, 264 Schlamau, Lourenz 53, 290–294 Schnitzler, Norbert 64, 133 f., 165, 188, 203
Personenregister
Schurf, Hieronymus 53, 126, 218, 224, 229, 233, 236, 239, 275, 293, 314, 321, 333 Scribner, Robert W. 4, 135, 143, 153, 159 Simau, Burkhard Schenk von 263 Simon, Wolfgang 170, 194 Spalatin, Georg 19, 74 f., 83, 94–98, 122–126, 128–138, 157, 218, 250 f., 263, 265, 269–271, 277, 281 f., 285–294, 324, 329–334, 340–343, 355–362, 373–394, 397 Staupitz, Johann von 28, 39, 61 Storch, Nikolaus 205 Stutternheim, Alexander von 116–117, 119 Taubenheim, Hans von 288 f., 291 f., 296, 379 Tetzel, Johannes 66, 75
433
Teuschel, Caspar 117, 119 Thomae, Markus (Stübner) 205 Tulken, Hermann 291–292 Tyler, Jeffery 26, 64 Ulscenius, Felix 154, 158 Vogt, Jacob 94–98 Volmar, Johann 280, 290 Von der Straßen, Michael 287 Weber, Max 13 Wulfer, Wolfgang 236 Zwingli, Huldrych 8, 245 Zwilling, Gabriel 151, 153, 198–201, 213, 217, 239 f., 269–271, 337, 356–358